Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft: Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor [1 ed.] 9783428522026, 9783428122028

Die Sozialwirtschaft steht unter erheblichem Veränderungsdruck. Unter dem Eindruck fiskalischer Probleme und der Entwick

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Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft: Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor [1 ed.]
 9783428522026, 9783428122028

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Volkswirtschaftliche Schriften Heft 551

Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

DETLEF AUFDERHEIDE / MARTIN DABROWSKI (Hrsg.)

Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann

Heft 551

Anschriften der Herausgeber: Priv.-Doz. Dr. Detlef Aufderheide

Dr. Martin Dabrowski

Institut für Anlagen und Systemtechnologien Westfälische Wilhelms-Universität Münster Am Stadtgraben 13 – 15

Akademie Franz Hitze Haus Fachbereich Wirtschaft, Sozialethik, Umwelt Kardinal-von-Galen-Ring 50

D-48143 Münster

D-48149 Münster

Die Tagungsreihe „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ wird in Kooperation zwischen der katholisch-sozialen Akademie FRANZ HITZE HAUS und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster durchgeführt.

Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 978-3-428-12202-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Sozialwirtschaft steht unter erheblichem Veränderungsdruck. Forciert durch fiskalische Probleme und die Entwicklung einer europäischen Wettbewerbsordnung, zieht sich der Staat zunehmend aus der (Zuwendungs-)Finanzierung zurück. Die traditionellen Anbieter sozialwirtschaftlicher Leistungen sehen sich wachsendem marktwirtschaftlichen Wettbewerbsdruck durch gewinnorientierte private Unternehmungen ausgesetzt. Wie gut aber kann dieser Wettbewerb funktionieren auf einem Markt, der sich im Vergleich zu anderen Märkten durch eine Reihe von Eigenheiten abgrenzt? Welche Auswirkungen hat beispielsweise die häufig fehlende Identität von Leistungsempfängern und Zahlern von Leistungen? Wie steht es um die enormen Schwierigkeiten der Leistungsmessung dort, wo emotionale Aspekte, Vertrauen und individuelle Zuwendung von großer Bedeutung für das Gelingen der individuellen Versorgung sind? Optimisten gehen davon aus, dass dieser Markt grundsätzlich wie jeder andere funktioniere, während Skeptiker meinen, dass ein wettbewerbliches Angebot scheitern müsse. Der vorliegende Band geht einen dritten Weg. Er geht der grundlegenden Frage nach, unter welchen Voraussetzungen der Wettbewerb in ausgewählten Bereichen der Sozialwirtschaft funktionieren kann und unter welchen Bedingungen dabei die traditionellen Träger sozialwirtschaftlicher Leistungen gerade angesichts der erwähnten Besonderheiten möglicherweise sogar Wettbewerbsvorteile ausspielen können. Der vorliegende Sammelband gibt die Ergebnisse einer disziplinenübergreifenden Tagung wieder, die im Dezember 2005 in der Akademie Franz Hitze Haus in Münster stattfand. In sieben Beiträgen werden zu ausgewählten Bereichen aktuelle Forschungsergebnisse präsentiert und von je zwei Korreferaten, nicht zuletzt mit Blick auf ihre praktische Anwendbarkeit, diskutiert. Dabei steht vor allem die Leistungsfähigkeit moderner ökonomischer Lösungsvorschläge im Dialog mit Praktikern aus der Sozialwirtschaft sowie mit Theologen, Juristen und Philosophen auf dem Prüfstand. Mit den nunmehr vorliegenden Arbeiten wird eine Reihe fortgesetzt, die unter dem Rubrum „Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ im Jahre 1996 begann. Die vier vorangegangenen Sammelbände tragen die folgenden Titel und Untertitel:

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Vorwort

„Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“; „Internationaler Wettbewerb – nationale Sozialpolitik? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Globalisierung“; „Gesundheit – Ethik – Ökonomik. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven des Gesundheitswesens“; „Corporate Governance und Korruption. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Bestechung und ihrer Bekämpfung“. Sie sind in den „Volkswirtschaftlichen Schriften“ als Nr. 478, Nr. 500, Nr. 524 und Nr. 544 im selben Verlag erschienen. Ausgangspunkt und Basis dieser Reihe ist eine Kooperation zwischen der Akademie Franz Hitze Haus und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster. Deren vorrangiges Ziel liegt darin, dem Diskurs zwischen Ethik und Ökonomik, zwischen Ökonomen und Theologen bzw. Moralphilosophen sowie Vertretern anderer Disziplinen ein Forum zu bieten, um sich über aktuelle Forschungsergebnisse ebenso wie über die sich ergebenden Implikationen für die Praxis auszutauschen. Hervorragende Voraussetzungen zum Gelingen dieses Vorhabens bietet das Franz Hitze Haus in Münster. Wir sind dem Leiter des Hauses, Herrn Prof. DDr. Thomas Sternberg, für die wieder außerordentlich harmonische Zusammenarbeit und großzügige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung sehr dankbar. Wie gewohnt konnten wir erneut in der inhaltlichen Vor- und Nachbereitung auf guten Rat aus dem disziplinenübergreifend besetzten Beraterkreis zurückgreifen: Den Herren Prof. Dr. Dr. Karl Homann, Prof. Dr. Dr. Christian Kirchner, LLM., Prof. Dr. Michael Schramm, Prof. Dr. Dr. h.c. Jochen Schumann, Prof. Dr. Viktor Vanberg und Prof. Dr. Josef Wieland danken wir an dieser Stelle sehr herzlich. Die zügige Veröffentlichung wurde auch deshalb möglich, weil die Autorinnen und Autoren ihre überarbeiteten Beiträge wie selbstverständlich im vereinbarten Zeitrahmen beigesteuert haben. Dafür sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt. Bastian Mell brachte auch dieses Mal wieder die Autorenvorlagen mit größter Sorgfalt und Zuverlässigkeit in die vorliegende Form, und es gelang ihm erneut souverän, die Vielfalt der Vorlagen in ein einheitliches Layout zu überführen. Auch ihm gebührt unser besonderer Dank. Münster, im August 2006

Detlef Aufderheide Martin Dabrowski

Inhaltsverzeichnis Michael Schramm Der Sozialmarkt im normativen Konflikt: Sozialethische Erörterung des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft ....................................................... 11 Alexander Brink Sozialmarkt und Wettbewerb (Korreferat) ............................................................................................................ 33 Bernhard Emunds Die Sozialwirtschaft ist nicht einfach ein Sozialmarkt (Korreferat) ............................................................................................................ 43 Nils Goldschmidt Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden, und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen ,sozialethischer‘ und ,ökonomischer‘ Perspektive? ............................................... 53 Anne van Aaken Rationale Sozialpolitik: Effizienz und das Verfassungsprinzip des Sozialstaates (Korreferat) ............................................................................................................ 83 Jens Kreuter Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden, und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen ,sozialethischer‘ und ,ökonomischer‘ Perspektive? (Korreferat) .......................................... .................................................................. 93 Frank Nullmeier Vermarktlichung des Sozialstaates? ...................................................................... 97 Andreas Lob-Hüdepohl Vermarktlichung des Sozialstaates? – Anmerkungen aus sozialethischer Sicht (Korreferat) ............................... ............................................................................. 109

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Inhaltsverzeichnis

Christoph Lütge Zwei Argumentationen pro Wettbewerb (Korreferat) ............................................................................................................ 121 Joachim Wiemeyer Besonderheiten der Sozialwirtschaft – Grenzen des Wettbewerbs? ..................... 125 Johannes Eurich Sozialwirtschaft und gesellschaftliche Wohlfahrtspflege (Korreferat) ............................... ............................................................................. 149 Stefan Voigt Besonderheiten der Sozialwirtschaft – Grenzen des Wettbewerbs? (Korreferat) ............................... ............................................................................. 163 Dirk Sauerland Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor ............................... ..... 169 Tobias Jakobi Chancen und Probleme im Pflegesektor: Qualität in der Pflege durch Wettbewerbsdruck? (Korreferat) ............................... ............................................................................. 195 Torsten Sundmacher Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor – Probleme mit Konsumentensouveränität und Prinzipal-Agenten-Beziehungen als Hindernis? (Korreferat) ............................... ............................................................................. 203 Karl Gabriel Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie .......................................... 215 Andrea Clausen Kooperation erfordert Solidarität und Vertrauen – Eine entscheidungstheoretische Rekonstruktion (Korreferat) ............................................. ............................................................... 233 Alexander Spermann Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie (Korreferat) ............................................. ............................................................... 245

Inhaltsverzeichnis

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Georg Cremer Ausschreibung sozialer Dienstleistungen als Problem – Wie lassen sich Transparenz, Wirtschaftlichkeit und das Wahlrecht der Hilfeberechtigten sichern? .................................................................................................................. 249 Alfred Jäger Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft (Korreferat) ............................................ ................................................................ 271 Rüdiger Wilhelmi Spielräume der Ausschreibung sozialer Dienstleistungen im deutschen und europäischen Vergaberecht (Korreferat) ............................................. ............................................................... 279

Autorenverzeichnis ..................................................................................................... 289

Der Sozialmarkt im normativen Konflikt Sozialethische Erörterung des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft Von Michael Schramm „Marktwirtschaftliche Systeme haben nun mal einen Hang zur Effizienz“. Dan Brown (2001/2004), S. 224.

Es herrscht zwar keine Einigkeit darüber, welche ökonomischen Aktivitäten zur Sozialwirtschaft zu zählen sind und welche nicht1, doch kann man in jedem Fall sagen: Der Markt der Sozialwirtschaft, also der Bereich der ,Produktion‘ sozialer Dienstleistungen, der vor allem Produzenten und Kostenträger von Dienstleistungen im Gesundheitssystem und der Wohlfahrtspflege umfasst2, ist kein ökonomischer Nebenschauplatz, sondern sowohl im Hinblick auf den Beitrag sozialer Dienstleistungen zum Bruttosozialprodukt als auch hinsichtlich des Beschäftigungsangebots ein volkswirtschaftlich erheblicher Megamarkt3. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass seine Bedeutung eher zu- als abnehmen wird: Die Sozialwirtschaft ist eine Wachstumsbranche. 4 Grund genug also, sich über die Logik ihrer geregelten Ausgestaltung Gedan___________ 1 „Die Frage, was genau zur Sozialwirtschaft zu rechnen ist, ist bislang [...] nicht geklärt“ (Zimmer/Nährlich 2003, S. 65). 2 (a) Das heterogene Anbieterspektrum (,Leistungsträger‘) umfasst vor allem 1. freigemeinnützige Einrichtungen (Nonprofit-Organisationen), 2. private Anbieter und 3. öffentliche Institutionen und Organisationen. (b) Auf der Finanzierungsebene sind als ,Kostenträger‘ die Gesetzlichen Sozialversicherungen und die privaten Krankenversicherungen zu nennen. (c) Zum Bereich der sozialen Dienstleistungen gehören u.a. medizinische Einrichtungen (Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen, Arztpraxen usw.), Einrichtungen der Jugend-, Familien, Alten- und Behindertenhilfe (Kindergärten und Kindertagesstätten, Alten-, Altenwohn- und Altenpflegeheime, Behindertenheime), ambulante Pflege-, Versorgungs- und Beratungsdienste (z.B. Sozialstationen, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, Aids-Beratungsstellen), Rettungsdienste, Fort- und Weiterbildungsstätten für soziale (z.B. pflegerische) Berufe sowie auch seelsorgerische Angebote. 3 Einführend zum Komplex der Sozialwirtschaft: Arnold/Maelicke (2003). 4 Zimmer/Nährlich (2003), S. 69 ff.

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ken zu machen. Dass diese umstritten ist, ist angesichts der sensiblen Güter, um die es im Bereich der Sozialwirtschaft geht (z.B. Vertrauensgüter), nicht verwunderlich.

I. Die Sozialwirtschaft in der ,Sozialwirtschaft‘ oder: Was ist eigentlich ,sozial‘? Wenn über eine ,sozialethische Erörterung des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft‘ gesprochen werden soll, so muss sich m. E. eine erste Bemerkung der (ethisch erwünschten) sozialen Funktion des Marktwettbewerbs und den sozialethisch nicht unproblematischen Konnotationen des eingebürgerten Begriffs der ‚Sozialwirtschaft‘ widmen. Es fällt zunächst auf, dass der Begriff ,Sozialwirtschaft‘ in der sozialethischen Literatur nicht nur als Bezeichnung für den Gegenstandsbereich der ‚Produktion‘ sozialer Dienstleistungen dient, sondern auch in einer anderen, deutlich grundlegenderen Weise Verwendung findet. Exemplarisch sei der katholische Soziallehrer Johannes Messner zitiert: Messner spricht bereits in seiner Habilitationsschrift von 1927 vom „System der heutigen Sozialwirtschaft“.5 Hier wird der Terminus ‚Sozialwirtschaft‘ nicht nur als Bezeichnung eines partiellen Gegenstandsbereichs (etwa der ‚sozialen‘ Dienstleistungen) verwendet, sondern als allgemeiner Begriff, der die (ethische erwünschte) ‚soziale‘ Funktion der gesamten (Markt-)Wirtschaft signalisiert. Messner notiert, dass das bundesdeutsche Konzept der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ nur dann seinem eigenen Begriff einer (geordneten) ‚Sozialwirtschaft‘ entspreche, „wenn ‚sozial‘ nicht nur äußerlich mit ‚Marktwirtschaft‘ in Verbindung gebracht wird, sondern die Marktwirtschaft als Teil der gesellschaftlichen Kooperation verstanden wird“.6

Messner versteht nicht nur die Gesellschaft allgemein, sondern auch die (Markt-)Wirtschaft als ein Unternehmen gesellschaftlicher Kooperation: „Die Sozialwirtschaft ist die wirtschaftliche Kooperation“7, wobei der „Markt als Organ der gesellschaftlichen Kooperation“8 zu sehen ist. In diesem sind Markt und „Wettbewerb wesentlicher Teil der Ordnung der Sozialwirtschaft [...]: Die Kooperation erfolgt durch die Konkurrenz“.9

___________ 5

Messner (1927/1929), S. 39. Messner (1960), S. 1021. 7 Messner (1960), S. 865. 8 Messner (1960), S. 876. 9 Messner (1960), S. 875. Nicht nur die inhaltlichen, sondern auch die sprachlichen Parallelen der Position Messners zum Ansatz der ,normativen Interaktionsökonomik‘ 6

Der Sozialmarkt im normativen Konflikt

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Die Konkurrenz des Marktwettbewerbs ist – falls zweckmäßig – ein geeignetes Instrument zu einem kooperativen = ‚sozialen‘ Zweck.10 Aufgrund der einschlägigen Anreizaspekte könne, so Messner, „[i]n der nach naturrechtlichen Prinzipien geordneten Gesellschaft [...] die sozialwirtschaftliche ,Kooperation‘ nur die Form der ,Konkurrenz‘ haben“.11

Allerdings sei die ,Sozialwirtschaft‘ nur dann Sozialwirtschaft, wenn sie ihre soziale Funktion auch tatsächlich erfülle, und dies wiederum setze einen ,geordneten‘ Wettbewerb (= einen gestalteten, geregelten Wettbewerb) voraus: „Der Wettbewerb hat die Funktion eines fundamentalen Ordnungsprinzips der Sozialwirtschaft; er bedarf aber selbst eines ordnenden Prinzips, damit die Erfüllung seiner Funktion im Dienste des Zweckes der Sozialwirtschaft gewährleistet ist. Das Ziel ist demnach der geordnete Wettbewerb“.12

Wird der Notwendigkeit einer Gestaltung des Wettbewerbs Rechnung getragen, so wird die ,Sozialwirtschaft‘ als gesellschaftliche Veranstaltung dann tatsächlich das, was sie sozialethisch sein sollte: Sozialwirtschaft (= Marktwirtschaft mit sozialer Funktion).13 Verwendet man den Begriff ‚Sozialwirtschaft‘ nun nicht nur im engeren Sinn als Bezeichnung für den Gegenstandsbereich der ,Produktion‘ sozialer Dienstleistungen, sondern auch in der grundlegenderen Weise als Bezeichnung dafür, dass die Wirtschaft 1. ein Teil der gesellschaftlichen (= ‚sozialen‘) Kooperation ist, und dass ihr 2. eine ethisch qualifizierte (= ‚soziale‘) Funktion ___________ fallen ins Auge: „Für den Ansatz konstitutioneller Ökonomik – oder [...] normativer Institutionenökonomik – ist Gesellschaft ein im Kern kooperatives Unternehmen, ein Projekt der wechselseitigen Zusammenarbeit. In diese Zusammenarbeit eingelassen sind Sphären der Konkurrenz. Diese Perspektive weist dem Wettbewerb eine wichtige, systematisch jedoch sekundäre Rolle zu: als Instrument gesellschaftlicher Kooperation. Konkurrenz ist kein Selbstzweck, kein genuines Ziel, sondern vielmehr ein Mittel, dessen man sich bedienen kann, um bestimmte Ergebnismuster hervorzubringen, die letztlich gesellschaftlicher Kooperation förderlich sind“ (Pies 1996, S. 16). 10 In diesem Sinn hatte auch der Erfinder des Ausdrucks ,Soziale Marktwirtschaft‘, Alfred Müller-Armack, von der „Solidaritätsfunktion des Wettbewerbs“ (MüllerArmack 1974, S. 127) gesprochen und hervorgehoben, es ginge darum, „das Instrumentarium der Konkurrenz sozial funktionsfähig zu machen“ (Müller-Armack 1966, S. 246*). 11 Messner (1960), S. 1023. 12 Messner (1960), S. 1024. 13 Als solche genügt sie ökonomischen wie ethischen Kriterien: „Hat sich uns die Sozialökonomik als empirisch-theoretische [= positive] Wissenschaft von der Sozialwirtschaft erwiesen, so ist die Sozialethik in dem hier verstandenen Sinne als Ethik der heutigen Sozialwirtschaft eine normativ-praktische Wissenschaft von dem gleichen Gegenstand. Im gleichen Materialobjekt [= Gegenstandsbereich] sieht erstere auf das tatsächliche Sein, die letztere auf die richtige Ordnung (das Seinsollende)“ (Messner 1927/1929, S. 28).

Michael Schramm

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zukomme, dann wird deutlich, dass das Wort ‚sozial‘ ganz unterschiedlich verwendet werden kann: Bedeutung

Gegensatz

Beispiele

sozial1

gesellschaftlich

individual

‚soziale Gerechtigkeit‘; ‚soziales Handeln‘; ‚Sozialwirtschaft‘ (Messner); Sozialethik’

sozial2

Gegenstandsbereich der Dienstleistungen im Gesundheitssystem und der Wohlfahrtspflege

alle anderen Gegenstandsbereiche (Märkte)

‚Sozialökonomie‘ = ‚Sozialwirtschaft‘ (im üblichen Sinn); Sozialstaat

sozial3

solidarisch und gerecht (ethisch)

unsozial

soziale Gesinnung; ‚Sozialwirtschaft‘ (Messner)

Abbildung 1: Bedeutungsvarianten von ‚sozial‘

Nun geht es mir in diesem ersten Punkt nicht (vornehmlich) um Begriffsklauberei, sondern darum, dass ein problematischer Effekt der üblichen Begriffsverwendung von ‚Sozialwirtschaft‘ darin liegt, dass die an sich neutrale Begriffsverwendung im Sinn der Beschreibung eines Gegenstandsbereichs der Dienstleistungen im Gesundheitssystem und der Wohlfahrtspflege (sozial2) tendenziell auch eine moralische Wertung mit sich führt, die implizit eine moralische Abwertung aller marktwirtschaftlichen Bereiche, die nicht zur ‚Sozial‘Wirtschaft gehören, als (tendenziell) unsozial (Gegensatz von sozial3) nahelegt. Hierbei handelt es sich um eine Begriffsverfehlung, die mit dazu beiträgt, die gesellschaftliche (= soziale1) Akzeptanz von Markt und Wettbewerb zu untergraben. Im Ergebnis werden Wettbewerb und Solidarität als grundsätzlich unversöhnliche Gegensätze betrachtet, so etwa der Gesundheitspolitikexperte Rolf Rosenbrock: „Wettbewerb ist in der Marktwirtschaft das Wetteifern der einzelnen am Wirtschaftsprozess beteiligten Subjekte mit dem Ziel des größten Gewinns. Einen ‚solidarischen Wettbewerb‘ wird es nicht geben“.14

Und das hieße, dass wir in einem Land mit einem Wirtschaftssystem lebten, dessen moralische Verwerflichkeit lediglich durch den (sozialen3) Sozialstaat etwas abgemildert würde. ___________ 14

Rosenbrock (1994), S. 47.

Der Sozialmarkt im normativen Konflikt

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Wenn man also von Sozialwirtschaft spricht (im Sinn eines Gegenstandsbereichs der sozialen2 Dienstleistungen), dann sollte man sich zunächst einmal vor impliziten ethischen Wertungen hüten und sich vergegenwärtigen, dass diese Sozial2wirtschaft einen Teil der umgreifenden ‚Sozialwirtschaft‘ verkörpert, also Teil einer sozialen1 Veranstaltung ist, deren Sinn und Zweck insgesamt in einer sozialen3 Funktion besteht.

II. Nicht im ‚luftleeren‘ Raum, aber in welcher ‚Luft‘? Der Streit um die erwünschten Rahmenbedingungen des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft So weit ich sehe gibt es innerhalb der wirtschaftsethischen Diskussion einen grundsätzlichen Konsens darüber, dass ein gesellschaftlich erwünschter Marktwettbewerb niemals im ‚luftleeren‘ Raum, sondern nur im Rahmen gestalteter Spielregeln gemeinwohldienlich funktionieren kann. Einige herausgegriffene Belege: • „Wettbewerb findet nie im luftleeren Raum statt. Vielmehr ist sein Ergebnis immer abhängig von der wettbewerblichen Rahmenordnung, die das Handeln der Marktteilnehmer in gesellschaftlich erwünschte Bahnen lenkt“.15 • „Märkte sozialer Dienste [...] müssen politisch gestaltet werden“.16 • „Natürlich ist der Wettbewerb kein universales Gesellschaftssystem. Er bringt seine vorteilhaften, guten Wirkungen nur unter Rahmenbedingungen; und Rahmenbedingungen sind nichts anderes als partielle Stilllegung von Wettbewerb. Mit vorgehaltener Pistole wird kein Wettbewerb gemacht, [...] das schalten wir aus über das Strafrecht [...]. Es ist immer diese Mischung von Wettbewerb unter Regeln. [...]“ (Karl Homann). „Aber dagegen widerspricht doch niemand. Die Frage ist: Welche Regeln?“ (Peter Ulrich).17 Obgleich ich allgemein mit dem Ansatz von Karl Homann viel, mit dem Konzept von Peter Ulrich dagegen allgemein nicht so sehr viel anfangen kann, finde ich die Nachfrage von Peter Ulrich völlig berechtigt, insbesondere im Hinblick auf den Sozialmarkt: Denn nur (noch) sporadisch wird die Meinung vertreten, dass soziale Dienstleistungen und Marktwettbewerb grundsätzlich völlig unverträgliche Größen seien, ein recht vitaler Streit ist hingegen bezüglich der Frage zu diagnostizieren, wie viel Wettbewerb oder welcher Wettbewerb dem Bereich der Sozialwirtschaft angemessen ist. So sehr man sich (wei___________ 15

Sauerland (2004), S. 3. Cremer (2003), S. 14. 17 Ein mp3-Mitschnitt ist downloadbar unter: http://www.uni-oldenburg.de/ute/1377. shtml, Datei 16. 16

Michael Schramm

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testgehend) einig ist, dass ein Marktwettbewerb nur im Rahmen ordnender Regeln zum Nutzen aller funktionieren kann, so sehr ist man sich jedoch uneins hinsichtlich der Frage Peter Ulrichs: ‚Welche Regeln?‘. Ich möchte in den folgenden beiden Abschnitten versuchen, die wesentlichen Argumente zum Thema Marktwettbewerb in der Sozialwirtschaft zu kommentieren, um dann im dritten Abschnitt meine Vermutung zu erläutern, dass der tiefere Grund im Streit um den Sozialmarkt in einem ‚normativen Konflikt‘ liegt.

1. Die Governance des Sozialmarkts – Regelungsnotwendigkeiten aufgrund von Eigenheiten des Produkts Eine grundsätzliche (= kategorische) Ablehnung des Wettbewerbsinstruments auf dem Gebiet der Sozialwirtschaft wird heute nur noch selten explizit vertreten.18 Der Grund hierfür dürfte in der Tatsache liegen, dass die einschlägigen Fundamentaleinwände gegen einen Sozialmarkt zumindest zu einem guten Teil durch plausible Gegenargumente entkräftet werden können. Allerdings lassen sich bestimmte Eigenheiten des Produkts ‚Soziale Dienstleistung‘ ausmachen19, die eine besondere Ausgestaltung des Sozialmarkts unabdingbar machen:20 a) Die Frage der Kaufkraft Ein erster Einwand macht geltend, dass soziale Dienstleistungen (auf die alle zumindest dann angewiesen sind, wenn es sich um Dienste der existenziellen Daseinsvorsorge handelt) insofern nicht über marktwettbewerbliche (= gewinnorientierte) Mechanismen angeboten werden könnten (sollten), da es gerade sozial bedürftigen Menschen oftmals an der entsprechenden Kaufkraft mangele. Beispielsweise diagnostizierte der Sozialpädagoge Wolfgang Klug schon vor Jahren hier ein ‚Dilemma‘: Es bleibe „das Dilemma [...] bestehen: Die Versorgung der ganzen Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen ist integraler Bestandteil des Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft – und eben auch derjenigen, die sich diese Leistungen nicht ‚kaufen‘ können. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Lösung dieses Problems nicht unmittel-

___________ 18

Eine Ausnahme wäre Broß (2003). Eine ausführliche Typologie von Dienstleistungsgütern allgemein findet sich bei Arnold (2003). 20 Hierzu: Meyer (1999), S. 24-31; Arnold (2003); Sauerland (2004); Cremer (2005), S. 40-44. 19

Der Sozialmarkt im normativen Konflikt

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bar und ausschließlich von Marktmechanismen zu erwarten ist“.21 „Bei Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft Leistungen ‚kaufen‘ können, weil Ihnen das Geld, die Gesundheit oder das psychische Vermögen fehlt, versagen offenbar die Marktgesetze“.22

Da soziale Dienstleistungen nicht eo ipso öffentliche Güter sind, das Ausschlussprinzip – das eine der notwendigen Bedingungen für das Operieren privater Anbieter darstellt – grundsätzlich also anwendbar ist, stellt sich in der Tat die Frage, wie für alle Bedürftigen der Zugang zu sozialen Dienstleistungen gewährleistet werden kann. Der Verweis auf das Kaufkraftproblem ist vollkommen korrekt (und unabdingbar), nicht korrekt wäre aber die Schlussfolgerung, dass damit die Nutzung von Marktmechanismen schon von vornherein ausgeschlossen wäre. Wenn man die Effekte des Ausschlussprinzips eines ‚reinen‘ Marktes (= distributives Markt‚versagen‘) aus gesellschaftsethischen Gründen nicht zu akzeptieren gewillt ist, muss das Kostenproblem durch sozialstaatliche Transfers an die Bedürftigen gelöst werden. Es ist über das reine Kostenproblem hinaus aber auch notwendig, sich den weiteren Zugangsproblemen zu stellen, die daraus resultieren, dass auch im Fall der Kostenübernahme bei behinderten oder minderbemittelten Bedürftigen die faktische Versorgung mit sozialen Leistungen noch nicht eo ipso gewährleistet ist.23 Da umgekehrt aber auch dem Schmarotzerproblem – dass also das sozialethisch gewollte Abrücken vom rein marktgesteuerten Ausschlussprinzip von Leuten ausgebeutet werden kann, die selber in der Lage sind oder wären, den Zugang zu sozialen Dienstleistungen aus eigenen Kräften zu gewährleisten – begegnet werden muss, ergibt sich als Erfordernis der politischen Gestaltung der Sozialmärkte die Installation einer Versicherungs- und Vorsorgepflicht.24 All diese Probleme sind also in den Griff zu bekommen und ergeben auch für den Bereich der Sozialwirtschaft keinen Grund, auf die Effizienzeffekte der Marktlogik zu verzichten. b) Das Bereitstellungsargument Zum Zweiten ist da die Gefahr einer allokativen Unterversorgung. Es ist unvermeidlich, etwa bei Rettungsdiensten oder der Unfallchirurgie, trotz der an___________ 21

Klug (1995), S. 41. Klug (1995), S. 38. 23 Die bloße Ersetzung des Selbstkostendeckungs- und Sachleistungsprinzips durch eine Kaufkraft stärkende Subjektförderung würde bei Menschen, denen die volle Kundensouveränität abgeht, noch nicht sicherstellen, dass sie ihre Leistungsansprüche selbständig geltend machen. „Es ist am hohen Prozentsatz der ,verdeckten Armut‘ ersichtlich, dass ein subjektiver Rechtsanspruch häufig genug nicht zur Realisierung des Rechts führt“ (Klug 1995, S. 41). 24 Cremer (2005), S. 41 und S. 43. 22

Michael Schramm

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fallenden Kosten ausreichende25 Kapazitäten für Eventualfälle bereitzustellen (Sicherstellungsauftrag). Da hier entsprechende soziale Dienstleistungen tendenziell den Charakter eines öffentlichen Guts annehmen, ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Rahmenregeln, um eine hinreichend kontinuierliche ‚Produktion‘ dieser Güter sicherzustellen. Gleichwohl aber spricht dann aber nichts mehr dagegen, die Bereitstellung dieser Güter über privat-gewerbliche Anbieter in einem wettbewerblichen Marktprozess erfolgen zu lassen. c) Fehlende Konsumentensouveränität I: Informationsasymmetrien bei Vertrauensgütern So schreibt z.B. der Medizinsoziologe Hans-Ulrich Deppe über diese Besonderheit des Gutes Gesundheit: „Die Nachfrage des Patienten als Konsument erfolgt zunächst unspezifisch und wird erst durch die Kompetenz eines medizinischen Experten spezifiziert und definiert. Der Patient ist nicht in der Lage, die ärztliche Tätigkeit fachkundig beurteilen oder kontrollieren zu können, was durch seinen emotionalen Zustand vor allem bei ernsthafteren Erkrankungen noch verstärkt wird. Auch ist umgekehrt der rationale Zugang zum Patienten nicht immer gewährleistet. Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen ist nicht preiselastisch, d.h. dass sie mit sinkenden Preisen steigt bzw. mit steigenden Preisen sinkt. Es spricht also viel dafür, dass die Versorgung von Krankheit sich nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage unterwerfen lässt. Das Gesundheitswesen gilt deshalb auch als ein Beispiel für die Theorie des Marktversagens“.26

In diesem Zitat sind zwei unterschiedliche Typen von Informationsasymmetrien angesprochen. 1. Auch der ‚normale‘, also im Hinblick auf seine Urteilsfähigkeit nicht eingeschränkte Nutzer sozialer Dienste kann die Angemessenheit (Qualität und/oder Quantität) bestimmter (etwa medizinischer oder therapeutischer) Dienstleistungen nicht abschließend beurteilen. Aufgrund der asymmetrischen Informationsverteilungen handelt es sich bei sozialen Gütern zu einem guten Teil um ‚Vertrauensgüter‘27, um Güter also (beispielsweise Autoreparaturen oder eben ärztliche Dienstleistungen), bei denen die Konsumen___________ 25 Die Quantifizierung, was genau nun ,ausreichend‘ ist und was nicht (z.B. bezüglich der Anzahl zur Verfügung stehender Rettungshubschrauber), bedingt allerdings unvermeidliche Rationierungsnotwendigkeiten, die oftmals den Charakter von tragic choices annehmen und die vollmundige Proklamation des Menschenrechts auf Gesundheit und Lebensrettung in arge Bedrängnis bringen. 26 Deppe (1997), S. 36. 27 Vgl. hierzu m.W. erstmals Darbi/Karni (1973).

Der Sozialmarkt im normativen Konflikt

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ten zum einen nicht (genau) wissen, welche Nachfrage qualitativ und quantitativ angemessen ist, und/oder sie zum anderen im Nachhinein oft nicht feststellen können, ob sie eine qualitativ und quantitativ optimale Dienstleistung erhalten haben.28 2. Verschärft tritt dieses Problem bei ‚Kunden‘ auf, die von Hause aus nur eingeschränkt urteilsfähig sind, bei denen also noch nicht, vorübergehend nicht oder nicht mehr von einer angemessenen Konsumentensouveränität im Sinn einer rationalen Beurteilungskompetenz ausgegangen werden kann. Auch diese Problemlagen29 begründen lediglich zielgenaue Ausgestaltungen der Marktbedingungen sozialer Dienstleistungen, nicht aber bereits eine Marktschließung. So kann den unvermeidlichen Informationsasymmetrien durch institutionalisierte Qualitätskontrollen begegnet werden: u.a. durch definierte Qualifikationsbedingungen für das Ausüben von Berufen im sozialwirtschaftlichen Bereich, durch Gütesiegel zur Qualitätssicherung (möglicherweise auch privat initiiert) und durch intensivierte Verbraucherberatungen. Die persönlich bedingten Einschränkungen der Konsumentensouveränität lassen sich etwa durch (spezifisch definierte) Treuhänderaktivitäten kompensieren. d) (Zer-)Teilung der Ergebnisverantwortung für den Erfolg sozialer Dienstleistungen Hängt die in Punkt 3 erörterte Einschränkung der Möglichkeit, suboptimale Sozialdienstleistungen zu identifizieren und entsprechend darauf zu reagieren, an nachfrageseitigen Informationsdefiziten (also an Einschränkungen der Fähigkeit des Nachfragers, die Angemessenheit einer Dienstleistung zu beurteilen), so kann der Erfolg sozialer Dienstleistungen auch an angebotsseitigen Informationsdefiziten und an der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft des Kunden scheitern. Der Ökonom Ulli Arnold schreibt hierzu: ___________ 28 Hieraus ergeben sich die einschlägigen Missbrauchspotenziale (Stichwort: ,angebotsinduzierte Nachfrage‘). 29 Das Problem (z.B. die angebotsinduzierte Nachfrage) lässt sich als typisches Principal-Agent-Problem rekonstruieren: „Im traditionellen Austauschdesign ist der Dienstleistungsanbieter der Agent, der gegenüber dem ,Auftraggeber‘, dem Prinzipal also, einen Informationsvorsprung auf Grund seiner fachlichen Überlegenheit hat. Ein Arzt hat bspw. gegenüber seinem Patienten die Definitionshoheit für eine Diagnose. Den Informationsvorsprung, der vom Prinzipal regelmäßig nur unter Inkaufnahme prohibitiv hoher Kontrollkosten reduziert werden könnte, kann der Agent auch dazu nutzen, um dem Prinzipal Leistungen zu ,verkaufen‘, die dieser eigentlich nicht benötigt oder die für das angestrebte Ergebnis irrelevant sind (aber zur individuellen Zielerreichung des Agenten, bspw. Erhöhung seines Einkommens, Reduzierung seines Aufwands, beitragen). Wird das angestrebte Ergebnis (bspw. ein Heilerfolg) nicht erreicht, dann hat es eben am ,besonderen Fall‘ des Patienten (Prinzipal) gelegen“ (Arnold 2003, S. 230).

Michael Schramm

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„[D]er eigentliche Leistungsoutput entsteht durch Integration des externen Faktors. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die Integration des externen Faktors für den Dienstleistungsanbieter eine Unsicherheitskomponente darstellt. Die Effizienz des Produktionsprozesses sowie der Erfolg der erbrachten Dienstleistung stehen nicht allein in der Verantwortlichkeit des Anbieters, sondern werden wesentlich von den individuellen Gegebenheiten des Dienstleistungsnachfragers beeinflusst. In diesem Zusammenhang entsteht ein ökonomisch interessantes Phänomen, das mit Hilfe der Principal-Agent-Theory analysiert werden kann. Wenn das Dienstleistungsergebnis auch von der Mitwirkung des Dienstleistungsempfängers abhängig ist (bspw. eine medizinisch-soziale Rehabilitationsmaßnahme), dann entsteht ein nicht zu lösendes Zurechnungsproblem für die Ergebnisverantwortung. [...] [In diesem Sinn] befindet sich [...] der Dienstleistungsempfänger [...] in einer Art Agentenrolle gegenüber dem Dienstleistungsanbieter; mit anderen Worten: es gibt eine wechselweise Rollenbesetzung. Der Arzt ist bei der Erstellung einer Diagnose auf die validen Auskünfte [sowie auf die aktive und ehrliche Mitwirkung] seines Patienten angewiesen“30.

Da soziale Dienstleistungen in vielen Fällen „Beziehungsarbeit“31 sind, die Ergebnisverantwortung für den Erfolg sozialer Dienstleistungen oftmals (zer-) teilt ist, wird eine Überprüfung der vom Dienstleistungsanbieter gelieferten Produktqualität erschwert. Die Antwort auf dieses Problem kann nur in definierten Qualifikationsbedingungen für das Anbieten sozialwirtschaftlicher Dienstleistungen sowie in institutionalisierten Qualitätskontrollen bestehen. Da dieses Problem aber bei jedweder Ausgestaltung des Sozialsektors auftritt, kann man daraus kein Argument gegen eine wettbewerbliche Strukturierung der Sozialwirtschaft destillieren. e) Fehlende Konsumentensouveränität II: Lock-in-Effekte Wettbewerbsmärkte sind von der Sache her grundsätzlich kundenorientiert strukturiert. Dies setzt jedoch voraus, dass der Kunde auch in der Lage ist, attraktive Wettbewerbsleistungen zu honorieren und Minderleistungen zu sanktionieren (z.B. durch Anbieterwechsel). Von dieser Art der Konsumentensouveränität kann man aber nur bei einem (vermutlich eher kleinen) Teil sozialer Dienstleistungen ausgehen: Sie ist bei einfachen Gütern (wie Essensdiensten oder Obdachlosenunterkünften) – mehr oder weniger – gegeben, bei den meisten sozialen Dienstleistungen jedoch aufgrund von Lock-in-Effekten nicht (wirklich):

___________ 30 31

Arnold (2003), S. 230. Meyer (1999), S. 27.

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„Häufig sind [...] die psychischen Kosten für den Anbieterwechsel hoch, etwa bei Menschen, die hochbetagt in ein Heim der stationären Pflege gezogen sind“.32

Auch dieses Problem lässt sich nur durch spezifizierte Qualifikationsbedingungen und -kontrollen in den Griff bekommen. Wiederum aber ergibt sich kein Argument gegen eine Wettbewerbsstrukturierung der Sozialwirtschaft, da das Phänomen in jedem Fall auftritt und angegangen werden muss. Hält man sich nun insgesamt die mit den Produkteigenheiten sozialer Dienstleistungen einhergehenden Probleme zusammen mit den erörterten Regelungsmöglichkeiten vor Augen, so erscheinen mir persönlich die Schlussfolgerungen, die Georg Cremer zum Thema Marktwettbewerb in der Sozialwirtschaft zieht, von der Sache her völlig plausibel. Er schreibt: „Die – heute nur noch selten offen vertretene, aber weiter latent wirkende – Behauptung, soziale Dienstleistungen könnten bzw. sollten nicht in einem wettbewerblichen Rahmen erbracht werden, ist in ihrer Allgemeinheit wenig überzeugend [...]. Soziale Dienstleistungen können [...] über Märkte bereitgestellt werden, bei denen Anbieter im Wettbewerb stehen. Wir brauchen [allerdings] [...] eine differenziertere Betrachtung dazu, was das Besondere sozialer Dienstleistungen ist, um daraus gegebenenfalls Besonderheiten abzuleiten, die bei der politischen Gestaltung dieser Märkte zu berücksichtigen sind. [...] Welche Konsequenzen sind aus diesen Besonderheiten sozialer Dienstleistungen zu ziehen? Die Märkte sozialer Dienstleistungen müssen – stärker als dies bei vielen anderen Märkten für Dienstleistungen gegeben ist – politisch gestaltet werden“.33

Es gibt zwar in der Tat im Bereich der sozialen Dienstleistungen – wie auf jedem Markt – bestimmte Besonderheiten, die man im Hinblick auf eine zweckmäßige Gestaltung der Rahmenregeln beachten sollte, doch erscheinen auch mir Fundamentaleinwände gegen jedwede Wettbewerbskoordination sozialer Dienstleistungen kaum überzeugend zu sein. Eine sozialethischen Kriterien genügende Governance des Sozialmarktes ist grundsätzlich durchaus möglich. Doch dies sehen eben nicht alle so, und die Frage ist: Warum nicht?

2. Marktwettbewerb als ‚Ellbogen‘-Logik? Normative Konflikte in der Diskussion um den Sozialmarkt Mein Versuch, auf diese Frage eine Antwort zu finden, führt zurück auf die – oben zitierte – Bemerkung Peter Ulrichs, der Formel ‚Wettbewerb unter Regeln‘ widerspreche in dieser Allgemeinheit doch gar niemand; vielmehr sei die relevante und umstrittene Frage: ‚Welche Regeln?‘, oder: ‚Welcher Wettbe___________ 32 33

Cremer (2005), S. 43. Cremer (2005), S. 40f. 43.

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werb (oder wie viel Wettbewerb) ist dem Bereich der Sozialwirtschaft angemessen?‘ Ich neige zu der Vermutung, dass der Streit um den Sozialmarkt letztendlich kein Streit um die ‚ökonomische‘ (bzw. ‚technische‘) Zweckmäßigkeit bestimmter Spielregeln für die Sozialwirtschaft ist, sondern dass seine Wurzeln in einem (genuin) ‚normativen Konflikt‘ liegen.34 Mit dem Terminus des ‚normativen Konflikts‘ sollen hier Meinungsdifferenzen bezeichnet werden, in denen es nicht nur um das Konfligieren von Eigeninteressen geht (das normalerweise durch ‚technische‘ = ‚ökonomische‘ Zweckmäßigkeitsargumente gelöst werden kann), sondern um unterschiedliche moralische Hintergrundüberzeugungen, um divergierende Wertegrundlagen, ‚Menschenbilder‘, um weltanschauliche = ethische Grundsatzfragen, kurz eben: um normativ ‚Grundsätzliches‘. 35 Einige Beispiele aus dem sozialwirtschaftlichen Bereich: • Finanzierung des Gesundheitssystems. Joschka Fischer kennzeichnete im Wahlkampf 2005 die Ausgestaltung der Finanzierung des Gesundheitssystems als normativen Konflikt: „Ich bin freiwillig gesetzlich versichert. [...] Ich bin dort aus Überzeugung. [...] Ich möchte nicht, dass wir eine zweigeteilte Medizin bekommen. [...] Für mich ist dies Solidarität und damit auch keine Kopfpauschale, sondern ein Festhalten daran, dass ich als Minister Maximalbetrag bezahle und mein Fahrer eben wesentlich weniger – wir sind dieselbe Altersgruppe –, das ist für mich mehr als nur ein Effizienzkriterium. Das ist für mich eine Grundsatzfrage unserer Gesellschaft: ob wir bei aller Individualität auch in Zukunft zusammenhalten wollen. Und dieses aufzukündigen, das ist der Kern dessen, was Herr Westerwelle vorgeschlagen hat“.36

___________ 34

Ich übernehme diesen Ausdruck (nicht unbedingt den Begriff) aus Berger (1997). In diesem voluminösen Werk werden unterschiedliche Begriffsdefinitionen angeboten, deren Gemeinsamkeit allerdings darin liegt, dass ,normative‘ Konflikte nicht auf ökonomische, juristische usw. Konflikte reduziert werden können. 35 „Als ,normativ‘ seien hier Konflikte bezeichnet, bei denen es nicht allein um konfligierende Interessen, sondern um ,Grundsätzliches‘ geht“ (Kaufmann 1997, S. 156). Kaufmann verwendet den Begriff der Interessen hier im üblichen Sinn von Eigeninteressen. Ich selber plädiere dafür, dass diese Begriffsverwendung zu eng ist, dass es also auch Interessen gibt, die nicht Eigeninteressen (im üblichen Sinn des Wortes) sind. Kaufmann fährt dann fort: „Normative Konflikte sind [...] grundsätzlich unlösbar, sie lassen sich nicht in direkten Auseinandersetzungen beilegen, sondern bestenfalls umgehen, entschärfen, durch Dritte schlichten oder unterdrücken“ (Kaufmann 1997, S. 156). Die These von der grundsätzlichen (= ,prinzipiellen‘) Unlösbarkeit würde ich so nicht vertreten, wohl aber ist daran richtig, dass man bei normativen Konflikten nicht einfach Pro und Contra bilanzieren und einen für alle nunmehr konsensfähigen Saldo errechnen kann. 36 Joschka Fischer in der Sendung ,Berlin Mitte spezial‚ politische Talkshow mit Maybrit Illner: Der TV-Dreikampf mit Joschka Fischer, Guido Westerwelle und Oskar Lafontaine‘, ZDF am 8. September 2005, 21.00-22.00 Uhr.

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Nun kann und muss man über Fischers normative Position natürlich streiten, auf jeden Fall jedoch brechen hier jenseits ökonomischer Zweckmäßigkeitsargumente grundsätzliche normative Konflikte auf: Ist Ausgestaltung und Finanzierung des Gesundheitssystems (z.B.: ‚Bürgerversicherung‘ vs. ,Gesundheitsprämie‘) nur eine Effizienzfrage (eine Frage der individuell geringsten Kosten) oder inwiefern ist sie nicht zugleich auch eine (genuin) ethische Frage, in der sich die normativen Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auswirken – und über die man sich daher eben auch ethisch streiten muss. • Vergabekriterien bei Transplantationsorganen. In Deutschland herrscht ein eklatanter Mangel an Transplantationsorganen.37 Dieser Mangel macht es erforderlich, Kriterien für die Vergabe der Organe festzulegen. Das deutsche Transplantationsgesetz nennt (in § 12, Abs. 3) nur zwei medizinische Kriterien für die Verteilung des knappen Gutes Organ (Dringlichkeit und Erfolgsaussicht).38 Der diesbezüglich schon seit Jahren diskutierte normative Konflikt betrifft die Frage, ob es ethisch tatsächlich angebracht ist, nur von medizinischen Kriterien auszugehen oder ob nicht vielleicht auch andere Kriterien angemessen wären. So hat etwa hat der Philosoph Hartmut Kliemt den Vorschlag vorgebracht, dass vorrangig diejenigen Leute ein Transplantationsorgan erhalten sollten, die zuvor in unbedürftigem Zustand die eigene Spendenbereitschaft erklärt haben.39 Diese Frage der angemessenen Vergabekriterien stellt einen genuin normativen Konflikt dar, der nicht durch Zweckmäßigkeitsargumente allein aus der Welt geschafft werden kann. • Personstatus von Embryonen. Zum Bereich der Sozialwirtschaft gehören auch die unterschiedlichen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen. Ein normativ entscheidendes Hintergrundproblem betrifft diesbezüglich die Frage, ob ein Embryo (‚Morula‘) im 32-Zell-Stadium (ca. 60 Stunden alt) eine Person (mit der entsprechenden Menschenwürde) ist oder eben nicht. Auch hier wüsste ich nicht, welche positiven Zweckmäßigkeitsargumente eine Klärung des umstrittenen Problems herbeiführen könnten. • Altersrationierung von Gesundheitsleistungen. Es wird insbesondere im angloamerikanischen Raum aktuell diskutiert, ob es bei der (in Zukunft wohl unvermeidlichen) expliziten Rationierung von Gesundheitsleistungen gerechtigkeitstheoretisch, also normativ (!) angemessen ist, auch das Alterskriterium zu berücksichtigen, also etwa jenseits eines Alters von – sagen wir – 80 Jahren nur noch leidenslindernde (palliative), nicht aber mehr lebensver___________ 37 Im Hintergrund steht für Deutschland die Bestimmung des Transplantationsgesetzes (1997), das für die Entnahme von Organen Hirntoter eine erweiterte Zustimmungslösung vorsieht. In Österreich dagegen gilt eine Widerspruchslösung, die den Mangel an Transplantationsorganen drastisch reduziert. 38 Entsprechendes hat auch die Bundesärztekammer beschlossen. 39 Kliemt (1993).

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längernde Maßnahmen im anspruchsbegründenden Regelleistungsbereich vorzusehen. Meines Erachtens ist eine echte Altersrationierung aus gerechtigkeitstheoretischen Gründen nicht konsensfähig und daher ethisch inakzeptabel40, dennoch gibt es entsprechende gerechtigkeitstheoretische Positionen, die für eine Altersrationierung argumentieren41, was einen eben normativen Konflikt in dieser Frage dokumentiert. Die Tatsache, dass unterschiedliche Wertungen zum Thema ,Marktwettbewerb in der Sozialwirtschaft‘ vorliegen, und zwar – wohlgemerkt – nachdem sich die streitenden Diskutanten gegenseitig über die eben dargelegten ,technischen‘ Problemlösungsmöglichkeiten ,aufgeklärt‘ haben, lässt – so weit ich sehe – nur zwei Erklärungsmöglichkeiten zu: • Eine erste – und m.E. nur wenig wahrscheinliche – Erklärungsmöglichkeit wäre die, dass die streitenden Parteien geistig zu beschränkt sind, um die Argumente der jeweils anderen Seite sachlich nachvollziehen zu können, und dass daher noch mehr ,Aufklärung‘ über die Sachlage angesagt sei. • Die zweite – und m.E. deutlich wahrscheinlichere – Erklärungsmöglichkeit verweist auf (genuin) ,normative Konflikte‘, also auf unterschiedliche moralische Hintergrundüberzeugungen im Hinblick auf normativ ,Grundsätzliches‘. Um diese normative Unterschiedlichkeit im Hinblick auf die Ausgestaltung der Sozialwirtschaft zu illustrieren, möchte ich zwei Sichtweisen kontrastieren: • Da ist auf der einen Seite die einschlägige Arbeit von Dirk Meyer zur ‚wettbewerblichen Neuorientierung der Freien Wohlfahrtspflege‘. Hier wird von Anfang an und völlig stringent der ökonomische Blickwinkel eingenommen. Nach einigen einleitenden Worten zur Vorgehensweise beginnt der eigentliche Text gleich mit dem Satz: „Soziale Dienstleistungen wie Pflege, Krankenbehandlung, Beratungsgespräche usw. sind ökonomische Güter. Produktionstechnisch liegt ein Erstellungsprozess vor, bei dem Inputfaktoren (Sachkapital, Humankapital) kombiniert und zu einem Output (soziale Dienstleistung) transformiert werden. Ihr Angebot ist mit Alternativkosten verbunden und die Nachfrage bzw. die Leistungsempfänger erwarten eine Nutzenstiftung“.42

Dieses konsequente Arbeiten mit der ökonomischen ‚Brille‘ setzt sich in der gesamten Arbeit fort.

___________ 40

Näher hierzu: Schramm (2004), S. 18-20. Hierzu erneut etwa: Kliemt (1996). 42 Meyer (1999), S. 24*. 41

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• Eine völlig andere Tonlage findet sich – wohlgemerkt: bei gleicher ‚Aufgeklärtheit‘ über die ‚technischen‘ Regelungsmöglichkeiten – beispielsweise in einem Artikel des Juristen und Bundesverfassungsrichters Siegfried Broß. Man beachte die Wortwahl, wenn Broß erklärt, dass „die Auslieferung vieler Bereiche an einen Wettbewerb das Sozialstaatsprinzip verletzt“43, dass das „Verfassungsverständnis des Grundgesetzes [...] eine Distanzierung von ungezügeltem Wettbewerb“44 und insofern eine „verfassungskräftige Absage an den Ellbogen-Menschen“45 darstelle; demgegenüber könne „[e]in redlicher Wettbewerb [...] nur durch ausufernde Regeln und Instrumente zur Überwachung sichergestellt werden“46.

Während Meyers Sprachduktus der Sichtweise entspringt, dass eine ökonomische = marktwirtschaftliche Rekonstruktion der sozialwirtschaftlichen Probleme nicht nur methodisch, sondern auch normativ angemessen ist, spiegelt sich in der Wortwahl von Broß von vornherein eine normativ motivierte Gegenposition. In normativen Konflikten dieser Art geht es nicht (nur) um Konflikte widerstreitender Eigeninteressen, sondern um normativ grundsätzliche (Hintergrund) Überzeugungen. Normative Konflikte sind ‚anders gestrickt‘ als ‚ökonomische‘ (Opportunitäts)Kostenkonflikte, die durch instrumentelle Zweckmäßigkeitskalkulationen geschlichtet werden können (‚Ihr fahrt allesamt folgendermaßen am besten: ...‘).47 Insoweit es bei normativen Konflikten tatsächlich um Konflikte hinsichtlich des (genuin) Normativen geht, sind auch ethische Diskussionen unvermeidbar. Ich sehe nicht, worin hier funktionale Äquivalente bestehen könnten. Im Fall normativer Konflikte lässt sich der normative Aspekt des Problems nicht ökonomisch, sondern (vermutlich) nur ethisch bearbeiten48; ich ___________ 43

Broß (2003), S. 874*. Broß (2003), S. 875*. 45 Broß (2003), S. 875*. 46 Broß (2003), S. 876*. 47 Die Möglichkeit einer solchen genuin (!) normativen Basis der Kritik an bestimmten Formen des Marktwettbewerbs bzw. des ,Kapitalismus‘ wird unterschätzt bei: Pies (2005), der die Diskussion konsequent auf ökonomische Zweckmäßigkeitsargumente reduziert. 48 In solchen ethischen Diskursen besitzen normative Grundsätze eine ,grammatische Funktion‘: „Normative Grundsätze haben eine grammatische Funktion; ihre Aufgabe besteht darin, Begründung zu ermöglichen [= zu argumentieren]. Wir begründen mit Bezug auf sie; gute Gründe sind für uns solche, die in diesen Grundprinzipien wurzeln. Wir streiten darüber, ob etwas der Menschenwürde entspricht, [...] wir streiten aber nicht darüber, ob das Prinzip der Menschenwürde eine legitime Orientierung bietet oder eine begriffliche Chimäre ist. Eine derartige begründungstheoretische Grundsätzlichkeit ist den moralischen Deliberationen der Gesellschaft fremd; wir streiten allenfalls darüber, was Menschenwürde eigentlich bedeutet [...]. Aber dieser Streit ist eben nicht unabhängig von unseren Überlegungen, ob dieses oder jenes eine in der Menschenwürde be44

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sehe nicht, worin hier funktionale Äquivalente bestehen könnten. Ich neige also zu der Vermutung, dass man normative Konflikte nicht nur ökonomisch lösen kann, sondern – auch (!) – normativ diskutieren muss.

III. Barmherzigkeitsunternehmen Das Werteprofil (Markenprofil) religiöser Anbieter auf dem Markt der Sozialwirtschaft49 Nur vordergründig erscheinen die ‚unternehmerische‘ Wettbewerbsorientierung einerseits50 und die spezifisch christliche Wertorientierung der beiden mitarbeiterstärksten ‚Konzerne‘ Europas, Caritas und Diakonie51, als unvereinbare Gegensätze. Denn die Tatsache, dass soziale Dienstleistungen zu einem guten Teil ‚Vertrauensgüter‘ sind, eröffnet für die traditionsreichen kirchlichen Barmherzigkeitskonzerne52 spezifische Chancen. Ich zitiere den Generalsekretär des Deutschen Caritas-Verbandes, Georg Cremer: ___________ gründete Pflicht ist [...]. Wir müssen den Begründungsbegriff demystifizieren. Es ist keinesfalls so, dass etwas nur dann stark ist, wenn es begründet ist. Wir haben viele unbegründete Überzeugungen, und wenn uns ihre Unbegründetheit vorgerechnet wird, denken wir gleichwohl nicht daran, von ihnen abzulassen [...]. Auch die Menschenrechte gehören – zumindest für uns, die wir durch die westliche Kultur geprägt sind –, zu solchen ,groundless beliefs‘; sie sind uns in Fleisch und Blut übergegangen“ (Kersting 1998, S. 137 f.). Die grammatische Funktion besteht darin, dass wir uns (mehr oder weniger) an solchen Leitprinzipien (wenn man so will: Leerformeln) orientieren und versuchen zu klären, was sie im Prinzip bedeuten und welche Rolle sie auf der vieldimensionalen Anwendungsebene spielen können. Grundsätzlich scheint mir diese Ebene der ethischen Begründungsstrategien zwar weniger dominant zu sein als einschlägige Moralapostel meinen, sie ist aber relevanter als einschlägige ,Kostenapostel‘ meinen. 49 Hierzu Öhlschläger/Brüll (1996); Ottnad/Wahl/Miegel (2000); Wiemeyer (2001); Cremer (2003). 50 „Der Deutsche Caritasverband arbeitet unternehmerisch“ (Leitbild des Deutschen Caritasverbandes IV, 5; http://www.caritas.de/2230.html). 51 So die Bezeichnung bei Willeke (1996) oder Öhlschläger/Brüll (1996). Streng genommen handelt es sich allerdings etwa beim DCV nicht um einen Konzern, sondern eben um einen ,Verband‘. 52 Was das Markenprofil der kirchlichen Verbände angeht, so kann man durchaus von der frommen und ganz traditionellen Bestimmung als einer Diakonie der Barmherzigkeit ausgehen (vgl. hierzu etwa: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1999, S. 6 f. 16.19). Näherhin werden in der christlichen Tradition (vgl. Mt 25, 31-46) zwei Dimensionen dieser Barmherzigkeit unterschieden: die spirituelle Dimension (in den ,sieben geistigen oder geistlichen Werken der Barmherzigkeit‘: den Sünder zurechtweisen, Unwissende lehren, Zweifelnde beraten, Traurige trösten, dem Beleidiger verzeihen, Lästige und Schwierige geduldig ertragen; für Lebende und Tote beten) und die konkrete körperliche Dimension (in den ,sieben leiblichen Werken der Barmherzigkeit‘: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde und Obdachlose beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote begraben).

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„Marken schaffen Vertrauen. Soziale Dienste sind Vertrauensgüter“. „Die Caritas braucht diesen Wettbewerb [daher] nicht zu scheuen. Sie hat eine Position, bei der jeder Marketing-Stratege eines Unternehmens neidisch werden könnte: Einen kaum mehr steigerbaren Bekanntheitsgrad, hohe Marktanteile in den verschiedenen sozialen Arbeitsfeldern, jahrzehntelange Erfahrung, Konzepte und Qualitätsstandards, Mitarbeiter(innen) mit hoher Fachlichkeit und Qualifikation, in der Regel eine solide wirtschaftliche Basis, die Unterstützung durch kirchliche Strukturen und die Chance, ehrenamtliches Engagement in die Arbeit einzubinden. All dies sind – ökonomisch gesprochen – Wettbewerbsvorteile“. „Wenn wir scheitern, scheitern wir an uns selbst“.53

Die Ausgangslage ist also gar nicht schlecht, was auch einschlägige Umfragen zum Ausmaß des Vertrauens und zur Dringlichkeit des Verbesserungsbedarfs in den beiden kirchlichen Wohlfahrts-Unternehmen belegen54. Das Vertrauen in Caritas und Diakonie ist relativ groß, der Verbesserungsbedarf wird als eher gering eingeschätzt; beide Barmherzigkeits-Unternehmen befinden sich im ‚grünen Bereich‘. Die Ausgangsposition auf dem Imagemarkt ist also gut. Trotzdem kann man im Wettbewerb auch scheitern. Dies wird nur dann nicht geschehen, wenn es nachhaltig gelingt, die unabdingbare Professionalität mit einem glaubwürdig praktizierten Werteprofil zu verbinden. Daher abschließend zwei Anmerkungen zur Glaubwürdigkeit des christlichen Markenprofils der konfessionellen Wohlfahrtsverbände: • Im Hinblick auf das soziale Markenprofil (= die fachliche Qualität der sozialen Dienstleistungen) dürfte die Herausforderung weniger in der Professionalität (etwa der ‚technischen‘ Pflegequalität55) zu suchen sein (von der man ausgehen kann), sondern im Wesentlichen in dem, was man eine ‚ganzheitliche‘ Dienstleistung nennen kann. So weit ich sehe, sind hier grundsätzlich zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder man setzt darauf, dass die kirchlichen Mitarbeiter(innen) von einer ganz besonderen christlichen Motivation durchdrungen sind und sich aus dieser Motivation der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit mehr Zeit z.B. für eine ganzheitlichere Pflege nehmen. Im Hinterkopf hat man hier das traditionelle Leitbild der aufopferungsvollen Ordensschwester, die ohne Wochenende und ohne Familienrücksichten ganz im Dienst am Nächsten aufgeht. Nun mag diese grundsätzliche religiöse Motivation auch heute bei dem kirchlichen Pflegepersonal anzutreffen sein, aber die Bedingungen sind insofern doch schwieriger geworden, als ‚normale‘ Pflegepersonen heute z.B. Familienpflichten haben ___________ 53

Cremer (2003), S. 13 f. 11. 15. Man vergleiche etwa die reichlich ernüchternden Umfrageergebnisse für die Kirchen einerseits und die doch sehr positiven Ergebnisse für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände andererseits: http://www.perspektive-deutschland.de. 55 Kritisch zur Messung dieser Qualität Braun (1999), S. 326. 54

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und gar nicht einfach 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen können. Ein Mediziner einer Uniklinik berichtet etwa, dass man eine traditionelle Ordensschwester heute durch zweieinhalb ‚normale‘ Beschäftigte ersetzen müsse. Das heißt, dass die Strategie, das Ziel eine ganzheitlichere Betreuung und Pflege mit weniger Zeitdruck nur über den ‚Mehrwert‘ einer besonderen christlichen Motivation zu erreichen, hier schlicht und ergreifend an Grenzen stößt.56 Somit bleibt eigentlich nur noch die second-best-Möglichkeit, dass die Kirchen durch zusätzliche Finanzmittel, die sie – über die öffentlichen Mittel aus den Pflegekassen, Krankenkassen und Sozialhilfe sowie Privatzahlungen hinaus – etwa in ihren Betreuungs- und Pflegebereich stecken, die Zerstückelung pflegerischer Leistungen und den entsprechenden Zeitdruck abfedern. Wenn mehr Zeit und Zuwendung entscheidende Faktoren einer ganzheitlicheren Pflege sind, dann „wird der Caritasverband in Zukunft nicht darum herumkommen, zu klären und zu entscheiden, welche seiner Dienstleistungen marktkonform [bzw. im Rahmen der gegebenen öffentlichen Finanzierungsmodalitäten] angeboten werden sollen [...] und welche nicht“.57 Und das heißt, dass der nicht-kommerzialisierbare ‚Mehrwert‘ mit kirchlichen Finanzmitteln gedeckt werden muss. • Eine spirituelle Markenprofilierung besteht in der religiösen Qualifizierung der sozialen Dienstleistungsangebote: Eine auch religiös qualifizierte Erziehung in Kindergärten oder Schulen (hier sind allerdings nicht Caritas oder Diakonie die Träger), religiöse Gespräche und Rituale in Krankenhäusern über Grenzfragen nach dem Woher und Wohin des Menschen, nach dem Tod oder dem Sinn des Daseins sowie entsprechende Rituale usw. können von kirchlichen Anbietern naheliegenderweise kompetenter als von anderen Dienstleistern angeboten werden.58 In solchen religiösen Profilierungen liegt grundsätzlich eine Marktchance der kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Allerdings sollten sich die spirituellen Profilierungsbemühungen primär auf die Organisationsgovernance (= auf das Alltagsgeschäft im Kindergarten, im Krankenhaus, im Altersheim) konzentrieren und nicht so sehr auf die formale Engführung konfessioneller Einstellungsvoraussetzungen (Konfessionszugehörigkeit, konfessionell ‚passende‘ Trauung und Taufe der eigenen Kinder).

___________ 56 „Die Behauptung, Wohlfahrtsverbände [einschließlich der kirchlichen Wohlfahrtsverbände] seien schon deshalb nicht mit einem marktwirtschaftlich geführten Unternehmen zu vergleichen, weil die Mitarbeiter eine – wie auch immer geartete – ,höhere‘ Motivation hätten, erweist sich allzu häufig als Zweckoptimismus“ (Klug 1995, S. 40). 57 Hilpert (2000), S. 205. 58 Das impliziert natürlich, dass eine spirituelle Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu kurz kommen darf.

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IV. Schluss Wie wir bei Dan Brown erfahren können, haben marktwirtschaftliche Systeme einen Hang zur Effizienz. Märkte funktionieren, aber dabei kann der Konkurrenzmechanismus sowohl produktive (gesellschaftsethisch erwünschte) als auch ruinöse (gesellschaftsethisch unerwünschte) Effekte hervorbringen – je nachdem, wie die Rahmenregeln die Situationslogik strukturieren. Da also jeder Marktwettbewerb, auch der Marktwettbewerb im Bereich der Sozialwirtschaft, immer ein ‚Wettbewerb unter Regeln’ (Karl Homann) ist, nimmt uns niemand die Entscheidung über diese Rahmenregeln ab.

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Sozialmarkt und Wettbewerb – Korreferat zu Michael Schramm – Von Alexander Brink

I. Einleitung Der Sozialmarkt ist „kein ökonomischer Nebenschauplatz“.1 Diese Botschaft teile ich mit Michael Schramm. Der Autor nennt in seinem Beitrag „Der Sozialmarkt im normativen Konflikt. Sozialethische Erörterung des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft“ zwei Argumente, die seine Aussage stützen: (1) den „Beitrag sozialer Dienstleistungen zum Bruttosozialprodukt“2 und (2) das bedeutsame Beschäftigungsangebot. Darüber hinaus gibt es meines Erachtens mindestens zwei weitere Aspekte, die eine solche Aussage stärken. Zum einen die starken Ökonomisierungstendenzen, die wir in den sozialen Institutionen Krankenhaus, Behinderteneinrichtung und Altenpflege seit geraumer Zeit beobachten.3 Zum anderen Nefiodows Hinweis auf einen neuen großen volkswirtschaftlichen Zyklus, der den K5 (Informationszyklus) ablöst: Psychosoziale Gesundheit mit der Biotechnologie als Basisinnovation.4 Der erste Aspekt ist sozusagen eine Art Wechsel der Methode (Tendenz zur Ökonomik), der zweite bezieht sich auf einen neuen inhaltlichen Megatrend. Zusammen mit der bruttosozialproduktrelevanten und beschäftigungsintensiven Dimension des Sozi___________ 1

Schramm (2007), S. 11. Schramm (2007), S. 11. 3 Vgl. Brink et al. (2002), Eurich et al. (2005) sowie Brink et al. (2006). 4 Unter psychogener Gesundheit versteht man u.a. die „Bekämpfung von Volkskrankheiten sowie das in das Bewusstsein der Menschen tretende Bedürfnis nach psychosozialer Regeneration“ (Brink/Eurich/Langer/Schröder 2002, S. 3). So schreibt Nefiodow: Aufgrund dessen, dass „die Komplexität des modernen Lebens […] hohe Ansprüche an die körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte des Menschen“ stellt und die Familien durch diverse Faktoren bedingt immer mehr zerfallen, „ist der private Bereich immer seltener in der Lage, die benötigte Ruhe und Regeneration zu bieten.“ Deshalb „ist Gesundheit – ganzheitlich und präventiv gesehen – zu einem großen Bedarfsfall geworden“ (Nefiodow 2001, S. 124), der nachhaltig unsere Märkte und Gesellschaft prägen wird. 2

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almarktes kann man also nicht mehr von einem „ökonomischen Nebenschauplatz“ sprechen. Daher bietet sich eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik unbedingt an. Ich möchte mich in meinem kritischen Korreferat eng an dem Primärtext orientieren, indem ich (1) bestimmte – mir wichtig erscheinende – Aspekte fokussiere und (2) den einen oder anderen kritischen Hinweis anmerke. Schramm diskutiert in seinem Beitrag im Wesentlichen vier Themenkreise: (1) Sozialwirtschaft und Bedeutungsvarianten des Begriffs „sozial“ (Kapitel II.); (2) Governance des Sozialmarktes (Kapitel III.); (3) Normative Konflikte im Streit in der Sozialwirtschaft (Kapitel IV.); (4) Barmherzigkeitsunternehmen zwischen Markt und Moral (Kapitel V.). Im Folgenden möchte ich zu jedem dieser vier Themenkreise gesondert in einem Kapitel Stellung beziehen.

II. Sozialwirtschaft und Bedeutungsvarianten des Begriffs „sozial“ Marktwirtschaft ist – wenn wir mit Schramm Johannes Messner um Rat fragen – ein „Teil der gesellschaftlichen Kooperation“5. Diese Kooperation erfolgt auf Märkten innerhalb einer Marktwirtschaft u.a. durch Konkurrenz nach Regeln im Rahmen eines „geordnete(n) Wettbewerb(s)“6. Nur in einer solchen grundlegenden Interpretation als „Marktwirtschaft mit sozialer Funktion“7 bekommt Sozialwirtschaft nach Schramm eine sozialethische Dimension. Der Autor stellt heraus, dass in der gegenwärtigen Debatte unterschiedliche Verständnisse von sozial Verwirrung stiften können, z.B. dann, wenn damit eine „moralische Abwertung aller marktwirtschaftlichen Bereiche“8 einhergeht. Sozialwirtschaft in einer Interpretation, die sich auf den Gegenstandsbereich bezieht, hat also keinerlei ethische Implikationen. Ich möchte den Gedanken hier gerne aufgreifen und neben den drei genannten Interpretationen von sozial i.S.v. (1) gesellschaftlich, (2) einen bestimmten Teil des Gesundheitssystems und der Wohlfahrtspflege betrachtend und (3) solidarisch und gerecht (also ethisch) einen vierten – in der aktuellen Diskussion zunehmend bedeutsam werdenden – Aspekt hinzufügen: (4) arbeits- und kapitalbezogen, also im Sinne von sozial als das, was Arbeit schafft und nicht sozial als das, was keine Arbeit schafft oder gar Arbeit vernichtet (z.B. die Zunahme der Kapitaleffizienz bzw. durch das Erzielen von Gewinnen). ___________ 5

Messner (1960), S. 1021. Messner (1960), S. 1024. 7 Schramm (2007), S. 14. 8 Schramm (2007). S. 14. 6

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Oft wird Arbeit als etwas Soziales gesehen, Kapital hingegen eher als unsozial beschrieben. Zum Beispiel könnte man die Meinung vertreten, sozial in einer Marktwirtschaft sei das, was Arbeit schafft oder aber unsozial sei es, wenn Unternehmen Gewinne erzielen bzw. maximieren und dies zum Beispiel auf Kosten der Belegschaft erreichen, also konkret: durch die Entlassung von Mitarbeitern. Ganz schlimm sei es dann, wenn sich – wie das Beispiel Deutsche Bank gezeigt hat – Arbeitsplatzabbau und Renditesteigerung gegenseitig positiv beeinflussen. In einem solchen Verständnis möchte ich den vierten Aspekt verstanden wissen. Zur Gewinn(Kapital)orientierung in einem solchen Sinne bieten sich vier klassische Unterpositionen an: (a) gewinnsteigernd (Friedman: „the only responsibility of business is to increase its profits“9, (b) gewinnreduzierend/gewinnkorrigierend (Steinmann: Ethik ist ein Korrektiv zur Gewinnbegrenzung10), (c) gewinnaussetzend/gewinnersetzend (Ulrich: Gewinn und Ethik gehen Hand in Hand, die Zwei-Welten-Theorie der ökonomischen und außerökonomischen Welt muss überwunden werden11), (d) gewinnfunktionalisierend (Homann: Moral kann zur Erzielung von Gewinn eingesetzt werden12). Es bietet sich also an, Schramms Einteilung um eine weitere wichtige Bedeutungsvariante von sozial, die des Bezugs zur Arbeit und zum Kapital, zu ergänzen.

III. Governance des Sozialmarktes „Eine sozialethischen Kriterien genügende Governance des Sozialmarkts ist grundsätzlich durchaus möglich.“13 So lautet die zustimmungsfähige zweite Kernaussage des Autors. Fünf Fundamentaleinwände gegen eine solche Position werden zunächst von Schramm vorgetragen und sodann entkräftet. Auch hierzu einige kritische Anmerkungen.

1. Das Kaufkraftargument Soziale Dienstleistungen, die die existenzielle Daseinsvorsorge des Einzelnen betreffen, können z.B. von sozial Bedürftigen bei schwacher Kaufkraft nicht entsprechend nachgefragt werden. So muss der Zugang zur lebensnotwendigen Versorgung mit medizinischen Produkten und Dienstleistungen gewährleistet sein. Lösungen wären (1) Sozialtransfers, (2) eine medizinisch staatliche Grundversorgung, (3) andere Preisstrukturen im Sozialmarkt und ___________ 9

Friedman (1970). Steinmann (1994a/b). 11 Ulrich (2001 und 2002). 12 Homann/Blome-Drees (1992). 13 Schramm (2007), S. 22. 10

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(4) ein verändertes Gesundheitsbewusstsein des Einzelnen. Zugleich sei an dieser Stelle auf Gefahren des rent seeking verwiesen: der Einzelne wird seine Ausgangssituation und Zugangsmöglichkeit schlechter darstellen als sie de facto ist, um möglichst viel Leistung vom Staat zu empfangen (Schmarotzerproblem, Trittbrettfahrer, gelernte Hilflosigkeit). Gerade das Kaufkraftargument kann aber auch gegen sich selbst gewendet werden, nämlich dann, wenn man argumentiert, dass gerade wegen der hohen Preise und der damit verbundenen erschwerten Kaufkraft keine weiteren Ressourcen verschwendet werden dürfen, um die Preise nicht noch höher zu treiben. Sozialwirtschaftliche Transaktionen haben also effektiv und effizient zu erfolgen.

2. Das Bereitstellungsargument Der Staat muss der „Gefahr einer allokativen Unterversorgung“14 entgegenwirken. Auch hier könnte man über marktliche Lösungen nachdenken, wobei der Staat entsprechende Rahmenbedingungen aufstellen, bestimmte Bereiche subventionieren oder aber Finanztransfers leisten könnte. Es sollten also ausreichend Anreize gegeben werden, dass der Markt von sich aus bereit ist, ein ausreichendes Angebot bereitzustellen.

3. Das Informationsasymmetrienargument Bei Vertrauensgütern bestehen Informationsasymmetrien. Allerdings spricht dies nicht für eine „Marktschließung“, sondern verlangt nach intelligenten Lösungen, die auch z. B. durch den Wandel im Arzt-Patient-Verhältnis, also vom paternalistischen Modell hin zum partnerschaftlichen Modell, eingeleitet werden können. Der Patient gilt oftmals als gut informiert – das Internet spielt dabei eine gesonderte Rolle (gesundheitsmündiger Infonaut). Gütesiegel, Treuhänderaktivitäten oder andere Signalingmaßnahmen sind hier – Schramm folgend – angebracht.

4. Das Verantwortungsargument Der Erfolg einer Therapie ist nicht nur von der Professionalität des Arztes abhängig (wie dies z.B. eher bei einer Blinddarm-Operation der Fall ist), sondern zum Großteil – gerade bei chronischen Leiden wie etwa Bluthochdruck oder Diabetes – auch vom Verhalten des Nachfragers. In anderen Fällen ist das ___________ 14

Schramm (2007), S. 18.

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Ergebnis einer Handlung nicht genau auf den Verursacher zurückzuführen. Um diesen Problemen entgegenzutreten, sollte ein umfassendes Qualitätsmanagement eingeführt werden. Neuere Formen des professionalisierten Managements wie z.B. das Total-Quality-Management würden sich anbieten, um die volle Verantwortungsübernahme zu sichern (Beispiel: Organisationssysteme weg vom Pflegerotationssystem, hin zu einer umfassenden und ganzheitlichen Pflege). Andere Managementoptionen versagen wie etwa die Kundenbefragung (Demente oder Schwerstkranke können nur bedingt Präferenzen äußern). Daraus ergibt sich institutionenökonomisch gesprochen eine Besonderheit, auf die wir an anderer Stelle im Rahmen des so genannten Doppelten PrinzipalAgenten-Modells (DOPAM) hingewiesen haben.15

5. Das Lock-In-Argument Die von Schramm skizzierten Lock-in-Effekte beziehen sich auf die Abhängigkeit des Prinzipals vom Agenten, den hohen Wechselkosten und einer schwachen Exit-Option.16 Auch hier wird Qualität und Professionalisierung gefordert. Wenn die Pflege sich als Profession entwickelt, dann kommen z.B. freiwillige Selbstverpflichtungen, Stellvertreterdiskurse und Third-PartyEnforcement in den Blick (Professionsethik). Die Ausgangsthese war: Eine sozialethischen Kriterien genügende Governance des Sozialmarkts ist grundsätzlich durchaus möglich. Allerdings gibt es – trotz eines Konsenses über die Sinnhaftigkeit von Spielregeln – ja immer noch genügend Diskussionsbedarf. Art und Ausprägung solcher Regeln liefern ausreichend Zündstoff. Eine Zunahme an Regeln kann den Sozialmarkt unterminieren, der ja auch auf intrinsische Motivation angewiesen ist (Ehrenamt). Gerade Vertrauensgüter können institutionenökonomisch untergraben werden. Ulrichs Frage: „welche Regeln?“ könnte umgewandelt werden in eine Frage der Art „wie sollen Regeln implementiert werden?“ Eine Implementierung von freiwilligen Regeln auf der Mesoebene sollte vorangetrieben werden: dadurch würden sich die eher erzwungenen Vorgaben durch den Staat reduzieren. Sozialwirtschaftliche Unternehmen werden als moralische Akteure im Sinne z.B. Wielands rekonstruiert.17 Die zunehmende Ökonomisierung im Sozial- und Gesundheitsbereich hat in der Wissenschaft dazu geführt, dass ökonomische Theorien als Erklärungsmuster sozialer Prozesse herangezogen werden. In diesem Zusammenhang steht die ___________ 15

Vgl. Brink/Eurich/Langer/Schröder (2002), aber auch Langer (2002). Vgl. zur Exit-Option Hirschman (1970). 17 Vgl. Wieland (2001). 16

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Neue Institutionenökonomik als Erklärungsheuristik.18 So könnte man sich sehr gut vorstellen, dass auch im Sozialmarkt zunehmend Corporate GovernanceKodizes entwickelt und umgesetzt werden.19 Ferner sind andere institutionenökonomische Faktoren hier relevant wie etwa hidden characteristics, hidden action, hidden information und hidden intention.20

IV. Normative Konflikte im Streit in der Sozialwirtschaft Streit liegt nicht in ökonomischen bzw. technischen Fragen, sondern „in einem (genuin) ,normativen Konflikt‘“.21 Normative Konflikte lassen sich nicht ökonomisch lösen, sondern müssen normativ diskutiert werden.22 So lautet die dritte Botschaft, die Schramm vermittelt. Neu ist die Formulierung, der Inhalt längst Kernbestandteil der wirtschafts- und unternehmensethischen Diskussion der 80er und 90er Jahre. Gegen Steinmanns korrektive Wirtschafts- und Unternehmensethik und Homanns funktionalistischen Ansatz – beide setzten jeweils ein Primat der einen über die andere Wissenschaft – brachte Peter Ulrich gerade den integrativen Charakter seiner Transformation der ökonomischen Vernunft und der integrativen Wirtschaftsethik.23 Dies gilt für das Verhältnis von Ethik und Ökonomik im Allgemeinen und damit auch für die Frage nach den Spielregeln für die Sozialwirtschaft. Wichtige Impulse könnte auch die Forderung Wielands nach einer Governanceethik liefern, auch wenn diese zurzeit theoretisch noch nicht zu einem umfassenden Ansatz ausgebaut wurde.24 Schramm spricht bei normativen Konflikten von „Meinungsdifferenzen“.25 Hier kann man durchaus einen Schritt weiter gehen: geht es doch weniger um Meinungen als um grundsätzlich theoretische, systematische und wissenschaftstheoretische Fragen zweier großer Disziplinen, die – zusammen mit der Politik – bei Aristoteles noch in der aristotelischen Trias vereinigt, dann spätestens mit Adam Smith separat geführt wurden.26 Auch Adam Smith formuliert im ersten Satz der Theory of Moral Sentiments Folgendes: „Für wie egoistisch man den Menschen auch immer halten mag, so ist er doch offenkundig von Natur aus so veranlagt, dass er sich für das Schicksal anderer interessiert

___________ 18

Vgl. z.B. Richter/Furubotn (1999). So wie kürzlich etwa vom Diakonischen Werk verabschiedet. 20 Vgl. hier grundlegend Richter/Furubotn (1999) sowie Göbel (2002). 21 Schramm (2007), S. 16. 22 Schramm (2007), S. 23. 23 Vgl. Homann/Blome-Drees (1992) und Ulrich (2001 und 2002). 24 Vgl. Wieland (1999 und 2001). 25 Schramm (2007), S. 23. 26 Smith (1977 und 1996). 19

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und er deren Glück und Wohlbefinden als für sich wichtig betrachtet, obwohl er davon keinen Nutzen hat, außer der Freude, die anderen so zu sehen.“27

Nach Adam Smith hat sich aber die Ökonomie von der Philosophie abgespalten. Ökonomie ist wieder eine autonome und zweckrationale Wissenschaft. Das „konsequente Arbeiten mit der ökonomischen ,Brille‘“28, von der Schramm lobend spricht, birgt allerdings auch Gefahren, wie McKenzie/ Tullock betonen: „Wenn man diese Fragen mit der Brille des Ökonomen betrachtet, dann muss man sich stets vor Augen halten, dass man nur einen ganz besonderen Gesichtspunkt herausgreift, der durch viele der Forschungsergebnisse anderer Disziplinen ergänzt werden kann.“29

Und Hans G. Nutzinger greift diese Bemerkung auf mit den Worten: „Wenn sie nicht mehr bereit sind, diese Brillen auch einmal abzusetzen, dann werden sie den Umstehenden, die insistieren, dass es noch viel andere Farben gebe, die für die Erfassung der Wirklichkeit nicht minder wichtig seien, in einer Mischung aus Stolz und Mitleid entgegenhalten: Um wieviel Erkenntnis sich doch jene Unglücklichen brächten, die weiterhin mit bloßen Augen orientierungslos in einem Farbenchaos herumstolperten! Sie sollten sich doch selber einmal die bereitliegenden Brillen des ökonomischen Verhaltensmodells aufsetzen, denn dann, und nur dann, würden sie endlich sehen, wie die Welt wirklich ist – nämlich grün.“30

Damit geht es um Fragen der pre-effektiven bzw. pre-effizienten Phase, nämlich die der Legitimation der Zielsetzung, und damit um Fragen jenseits der Ökonomik. Das von Peter Ulrich in früheren Schriften eingeforderte grundsätzliche Infragestellen des Gewinnprinzips ist ein Angriff auf das Herz der Ökonomik. Hier greift die von Ulrich kritisierte Metaphysik des Marktes, die zu einer Überhöhung des Gewinnprinzips und damit in der diskursethischen Argumentation zu einem dogmatischen Abbruch bzw. zu einem Reflexionsstopp führt. Auch der Rahmen „Gewinn“ muss immer wieder kritisch hinterfragt werden: man darf nie verlernen, gute und vernünftige Begründungen für Rahmenordnung zu suchen.

___________ 27

Smith (1977), S. 1. Schramm (2007), S. 26. 29 McKenzie/Tullock (1984), S. 24, zit. nach Nutzinger (1997), S. 96. 30 Nutzinger (1997), S. 97. 28

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V. Barmherzigkeitsunternehmen zwischen Markt und Moral Sozialethik darf das institutionelle Design nicht ignorieren. Vermutlich wird es zu einer Angleichung der institutionellen Designs von Profit- und Non-Profit bzw. sozialwirtschaftlichen Unternehmen kommen. Diakonie und Caritas müssen daher als Wirtschaftsunternehmen der sozialen Variante geführt werden. Sie müssen sich auch den ökonomischen Kategorien öffnen: Effektivität und Effizienz.31 Zunächst sind die Ziele von Diakonie und Caritas neu zu diskutieren. Denn der Anspruch, den wir an die Ökonomie stellen (überdenke bzw. legitimiere deine Zielfunktion!), sollte auch für die Sozialwirtschaft Gültigkeit haben. Sind die Ziele dann neu formuliert, gegebenenfalls auch unter Nebenbedingungen, dann könnte Effizienz vor diesem Hintergrund als Vermeidung von Ressourcenverschwendung auch eine ethische Bedeutung haben. Diakonie und Caritas müssen sich neuen Managementkonzepten wie Balanced-ScorecardModellen oder Stakeholdermanagement32 öffnen. Intelligentes Management ist gefragt: Initiativen wie „Seitenwechsel“, Partnerschaften mit Konzernen, Corporate Social Responsibility-Aktivitäten (z.B. Gesundheitsberatung), Fundraising, Stakeholderdiskurse und -analysen oder Total Quality Management (ganzheitliche Pflege). Soziale Institutionen wie das Diakonisches Werk und die Caritas haben nicht nur eine Marke – sie sind eine Marke. Sie haben ein Image, eine Corporate Identity, eine Reputation, ja sogar einen Goodwill im doppelten Sinn: also bilanziell (im immateriellen Anlagevermögen) und kantisch als good will (guter Wille). Darin liegt ihre Stärke: im Markt.

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___________ 31 32

Vgl. Fleßa (2003). Vgl. Freeman (1984 und 2004).

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Friedman, M. (1970): The social responsibility of business is to increase its profits, in: New York Times Magazine, September 13. Göbel, E. (2002): Neue Institutionenökonomie. Konzeptionen und betriebswirtschaftliche Anwendungen, Tübingen. Hirschman, A. O. (1970): Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, MA. Homann, K. / Blome-Drees, F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen. Kaplan, R. S. / Norton, D. P. (1997): Balanced Scorecard, Stuttgart. Langer, A. (2002): Doppelte Prinzipal-Agent-Beziehungen in Handlungsstrukturen organisierter Sozialer Arbeit. Das Organisationsproblem und die Analyse professionellen Handelns, Bochumer Graue Reihe „Gerechtigkeit praktisch“ Bd. 1, Bochum. McKenzie, R. B. / Tullock, G. (1984): Homo Oeconomicus. Ökonomische Dimension des Alltags, Frankfurt/New York. Messner, J. (1960): Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 4. Aufl., Innsbruck/Wien/München. Nefiodow, L. A. (2001): Der sechste Kondratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information, 5. Aufl., Sankt Augustin. Nutzinger, H. G. (1997): „Homo oeconomicus“: Reichweite und Grenzen der ökonomischen Verhaltenstheorie, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik (ZEE), 41 (2), S. 8498. Richter, R. / Furubotn, E. G. (1996): Neue Institutionenökonomik: Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen. Schramm, M. (2007): Der Sozialmarkt im normativen Konflikt. Sozialethische Erörterung des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft, in: Aufderheide, D. / Dabrowski, M. (Hrsg.): Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft, Reihe: Volkswirtschaftliche Schriften, Berlin, S. 11-33. Smith, A. (1977): Theorie der ethischen Gefühle, herausgegeben und übersetzt von W. Eckstein, Hamburg. — (1996): Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, herausgegeben und übersetzt von H. C. Recktenwald, München. Steinmann, H. / Löhr, A. (1994a): Grundlagen der Unternehmensethik, Stuttgart. — (1994b): Unternehmensethik – Ein republikanisches Programm in der Kritik, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Markt und Moral. Die Diskussion um die Unternehmensethik, Bern/Stuttgart/Wien, S. 145-180. Ulrich, P. (2001): Integrative Wirtschaftsethik – Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 3. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien. — (2002): Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft, 3. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien. Wieland, J. (1999): Die Ethik der Governance, Institutionelle und Evolutorische Ökonomik, Marburg. — (2001): Die moralische Verantwortung kollektiver Akteure, Heidelberg.

Die Sozialwirtschaft ist nicht einfach ein Sozialmarkt – Korreferat zu Michael Schramm – Von Bernhard Emunds In meinem Beitrag möchte ich in sieben Thesen aufzeigen, dass man die Sozialwirtschaft nicht einfach als Sozialmarkt begreifen kann. Vor allem erfasst man die Sozialwirtschaft, also den Teilbereich der Gesellschaft, in dem soziale Dienstleistungen bereitgestellt werden, nur unzureichend, wenn man ihn als einen Zusammenhang wettbewerblich organisierter Märkte versteht, auf denen zahlreiche individuelle Akteure soziale Dienstleistungen anbieten und nachfragen. Eine sozialethische Reflexion, die von einem solchen Referenzmodell ausgeht, kann der Aufgabe, die politische Gestaltung dieses Teilbereichs ethisch zu orientieren, nicht gerecht werden. Mit dieser Zuspitzung der Fragestellung wird deutlich, dass ich mich in meinem Korreferat zu dem Beitrag von Michael Schramm auf den Abschnitt II.1. seiner Ausführungen („Die Governance des Sozialmarkts“) beschränke. These I Markt und Wettbewerb sind nicht das Gleiche. Die Sozialwirtschaft ist mehr als nur der Markt für soziale Dienstleistungen. In seinem Beitrag unterscheidet Michael Schramm weder zwischen Markt und Wettbewerb, noch zwischen Sozialmarkt und Sozialwirtschaft. Damit klar ist, wer wovon spricht, scheint es notwendig zu sein, mit einigen Begriffsdefinitionen zu beginnen. Markt bezeichnet das Zusammentreffen des Angebots an und der Nachfrage nach einem Gut, wenn Anbieter und Nachfrager im Augenblick des Zusammentreffens unterschiedliche Akteure sind. Als Wettbewerb möchte ich eine Interdependenz von Handlungsstrategien verschiedener Akteure bezeichnen, bei der – zumindest in einer kurzfristigen Betrachtung – ein Akteur seinen Zielerreichungsgrad nur auf Kosten des Zielerreichungsgrades eines anderen Akteurs verbessern kann. Bei Gütermärkten, also bei Märkten für Waren und Dienstleistungen, bezeichnet Wettbewerb das Werben mehrerer oder vieler Anbieter um die begrenzte kaufkräftige Nachfrage nach einem Gut (oder einer Gütergruppe), von der jeder einen großen Teil für sich gewinnen will.

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Konkurrieren auf einem Gütermarkt viele Anbieter um die Kaufentscheidungen vieler Nachfrager, dann spricht man von einem bilateralen Polypol; dieses ist aber nur eine von neun möglichen Marktformen1. Von einem Markt kann selbst dann gesprochen werden, wenn auf jeder der beiden Marktseiten nur ein Akteur auftritt (bilaterales Monopol). Markt und Wettbewerb sollte man also nicht synonym verwenden. Außerdem: Wirtschaft besteht nicht nur aus Märkten. Selbst in dem engen alltagssprachlichen Verständnis von „Wirtschaft“ gehören neben den Märkten zumindest auch noch die Unternehmen dazu. Bei unserem Thema, der Sozialwirtschaft, wird man den Begriff „Wirtschaft“ noch etwas weiter fassen und nicht nur die gewinnorientiert wirtschaftende2, sondern alle Güteranbieter einbeziehen. Entscheidend ist, dass Wirtschaft mehr ist als Tausch, mehr ist als Märkte, auf denen Menschen, die eigentlich nicht darauf angewiesen sind, zum gegenseitigen Vorteil interagieren. Zur Wirtschaft gehören vielmehr auch die produzierenden Organisationen. Darin sind im allgemeinen Menschen tätig, die sich aus Gründen des Lebensunterhalts für die vereinbarte Arbeitszeit dem Direktionsrecht eines Vorgesetzten unterstellt haben. Aus diesem Grunde hat die solidaristische Wirtschaftsethik das in der Neoklassik naheliegende Selbstverständnis der Ökonomie als Tauschlehre („Katallaktik“) zurückgewiesen3. Es ist insofern nicht sinnvoll, die Begriffe „Sozialwirtschaft“ und „Sozialmarkt“ synonym zu verwenden oder den „Markt der Sozialwirtschaft“ als den „Bereich der ,Produktion‘ sozialer Dienstleistungen“ zu definieren.4

___________ 1

In der Marktformenlehre, die in den Lehrbüchern der Mikroökonomie üblich ist, kommt man zu diesen neun Marktformen, in dem man jeweils auf der Anbieter- und der Nachfragerseite des Marktes unterscheidet, ob es dort viele, wenige oder nur einen Marktteilnehmer gibt. 2 Unternehmen werden hier als gewinnorientierte Organisationen begriffen. Das bedeutet lediglich, dass bei der organisationsinternen Steuerung die Orientierung an einem zumindest langfristig zu erzielenden Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben eine zentrale Rolle spielt. Damit ist nicht ausgesagt, dass sich die Organisationsleitung in jedem Fall um Gewinnmaximierung – wie etwa um einen möglichst hohen „shareholder value“ – bemühen würde. 3 So z.B. Nell-Breuning (1953), Sp. 5: „Nicht das bloße Tauschgeschehen, die ,Katallaktik‘, macht den Inhalt der Wirtschaft aus. Nur der – allerdings durch das Tauschgeschehen vermittelte – Zusammenhang von Erzeugung, Verteilung und Verbrauch ist (...) Wirtschaft.“ Vgl. aber auch Johannes Berger (1992), S. 157, der die „Eliminierung von Wirtschaftsorganisationen (...) aus der Wirtschaft“ kritisiert, die „in Luhmanns (...) Reduzierung der Wirtschaft auf Zahlungen“ auf „die Spitze getrieben“ sei. 4 Schramm (2007), S. 11.

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These II Das Referenzmodell für Michael Schramms Überlegungen zur besten Steuerung der Sozialwirtschaft ist ein Markt, auf dem viele Individuen als Nachfrager sozialer Dienstleistungen auftreten, um deren Kaufentscheidungen eine Vielzahl von Anbietern konkurriert. In Abschnitt II.1. seines Beitrags geht Michael Schramm der Frage nach, wie die als Sozialmarkt begriffene Sozialwirtschaft geregelt bzw. gesteuert werden soll. Dabei geht er so vor, wie ein neoklassischer Ökonom die Fragestellung untersuchen würde. Als Ausgangspunkt der Überlegungen wählt er einen Markt mit vielen Nachfragern und mit vielen um deren Gunst – d.h.: um deren Kaufentscheidung – konkurrierenden Anbietern. Die vielen Nachfrager werden dabei erst einmal als Kunden, als souverän entscheidende Individuen gedacht. In mehreren klar entfalteten Argumentationsschritten fragt er dann danach, inwiefern der Sozialmarkt von diesem Referenzmodell abweicht. Diese Abweichungen – so hebt Michael Schramm hervor – bedingen einen staatlichen Regulierungsbedarf (z.B. Einführung einer Versicherungspflicht oder von Qualitätskontrollen); sie seien aber nicht so gravierend, dass sie eine Abschaffung des Wettbewerbs legitimieren würden. These III Auch dann, wenn es um die Bereitstellung von Gütern geht, sollte die Gesellschaft aus den verschiedenen möglichen Formen der Handlungskoordination diejenige auswählen, deren voraussichtlichen Folgen ihren Zielvorstellungen am nächsten kommen. Die Anbieterkonkurrenz auf Gütermärkten ist nicht bei allen Gütern die beste Koordinationsform, geschweige denn die einzige. Reflexionen der Christlichen Sozialethik bestehen im Allgemeinen nicht nur darin, neoklassische Analysen in eine ethische Sprache zu übersetzen. So sollte wohl auch die sozialethische Reflexion der Sozialwirtschaft nicht darauf beschränkt bleiben, prinzipielle Abweichungen vom Idealbild des Wettbewerbsmarktes zu bestimmen und nach den besten Regelungen zur Eindämmung der negativen Wirkungen dieser Marktunvollkommenheiten zu fragen. Eine solche Argumentation unterstellt nämlich, dass Wettbewerbsmärkte immer die beste Form der Handlungskoordination sind. Nur weil die Wirklichkeit dem Idealbild der Theorie nicht ganz entspricht, kann der Wettbewerb nicht rein verwirklicht werden, bedarf es einer Steuerung durch staatliche Regelungen. In der neoklassischen Theorie, die ja eine allgemeine Handlungstheorie sein will, liegt dieser Argumentationsfigur ein bestimmtes Bild der Gesellschaft zu Grunde: Die Gesellschaft besteht aus souverän und eigennützig entscheidenden Individuen, die nur deshalb etwas miteinander zu tun haben, weil sie sich aus eigenem Vor-

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teilskalkül heraus dazu entschlossen haben und nun Märkte als Möglichkeiten der wechselseitigen Besserstellung nutzen. Es erscheint fraglich, ob sich die Christliche Sozialethik auf ein solches Bild der Gesellschaft festlegen sollte und ob es aus ihrer Sicht einen allgemeinen Vorrang für Wettbewerb geben kann. Meines Erachtens entspricht es der Christlichen Sozialethik eher, Menschen als Individuen zu verstehen, die sich nicht erst aus einem Eigeninteresse heraus zur Zusammenarbeit entschließen, sondern immer schon in kommunikative Zusammenhänge und – nicht nur marktförmig organisierte – Kooperationen eingebunden sind5, und die Gesellschaft grundlegend als eine politische Gemeinschaft zu begreifen. Die Bürgerinnen und Bürger dieser politischen Gemeinschaft haben sich entschlossen, die Institutionen ihrer Interaktionen gemeinsam zu gestalten; sie legen zusammen fest, wie sie die Erledigung der verschiedenen Aufgaben, die für die Reproduktion ihrer Gesellschaft notwendig sind, möglichst effizient und ihren eigenen ethischen Vorstellungen gemäß organisieren. In vielen Fällen, in denen es um die Versorgung der Gesellschaftsglieder mit Waren und Dienstleistungen geht, hat es sich bewährt, deren Produktion einer Vielzahl von gewinnorientierten Organisationen zu überlassen, die auf Märkten um die Nachfrage der Gesellschaftsglieder konkurrieren. Daraus folgt aber nicht, dass diese Form der Handlungskoordination prinzipiell die überlegene wäre. These IV Soziale Dienstleistungen sind so zu organisieren, dass sie für alle Bewohner des Landes bei Bedarf zugänglich sind, dauerhaft hohen Qualitätsstandards genügen und kostengünstig erbracht werden. Überzeugende Kriterien für die Frage nach der ethisch gebotenen Organisation der Sozialwirtschaft kann man im Ausgang von Ordnungsvorstellungen gewinnen, die in der eigenen Gesellschaft weithin akzeptiert sind und in einem Universalisierungstest voraussichtlich nicht scheitern würden. In der Bundesrepublik dürfte die folgende Skizze für eine gerechte Gesellschaftsordnung weithin als plausibel gelten: So weit es an den Strukturen der Gesellschaft liegt, soll nicht nur das Überleben eines jeden Gesellschaftsglieds gesichert sein. Vielmehr soll jeder auch die Möglichkeit haben, seine Persönlichkeit zu entfalten, einen eigenen Entwurf guten Lebens zu entwickeln und zu verfolgen, sowie zur Gesellschaft beizutragen und insofern als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. ___________ 5

Vgl. Kernaussagen der solidaristischen Sozialethik, z.B. Pesch (1924), S. 28-74; Pesch (1922), S. 1-7; Nell-Breuning (1990), S. 15-76. Zur Einordnung vgl. Große Kracht 2003.

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Für den Gesundheitsbereich bedeutet dies, dass jeder Mensch, der in unserer Gesellschaft lebt, mit dem medizinisch Notwendigen und dem wirklich medizinisch Sinnvollen versorgt werden muss. Der Zugang zu den entsprechenden Gesundheitsdienstleistungen darf nicht vom Einkommen des Einzelnen abhängen und sollte ihn nicht in materielle Schwierigkeiten stürzen. Gesundheit ist in unserer Gesellschaft ein derart hohes Gut, dass dem Menschen, dem eine medizinisch sinnvolle Leistung verweigert wird, letztlich die Anerkennung als gleichwertiges Mitglied unserer Gesellschaft verweigert wird6. Im Pflegebereich bedeutet das angedeutete Zielbild einer gesellschaftlichen Ordnung, dass jedem pflegebedürftigen Menschen in unserer Gesellschaft der Zugang zu einer bedarfsgerechten und menschenwürdigen Pflege garantiert sein muss. Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe sollen den Betroffenen ein menschenwürdiges Leben mit den eigenen Einschränkungen ermöglichen und – so weit möglich – die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und eine Beteiligung am gesellschaftlichen Leben fördern. Einrichtungen der Jugendhilfe sollen Jugendliche, die nicht über ein entsprechendes familiäres Umfeld verfügen, auf ein selbstbestimmtes und partizipatives Leben vorbereiten. Beratungseinrichtungen der Familien- und Jugendhilfe, die Schuldnerberatung etc. sollen Menschen vor großen Herausforderungen und in Krisensituationen stärken, damit sie es aus eigener Kraft schaffen, ihr Leben wieder nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Dass Betroffene Zugang zu leistungsfähigen Hilfeeinrichtungen finden, sollte nicht von ihrem Einkommen abhängen. Damit die sozialen Dienstleistungen, die allen bei Bedarf zugänglich sein sollen, auch wirklich helfen, ist allgemein ein hoher Qualitätsstandard sicherzustellen. Abstriche beim universalen Zugang oder bei der Qualität der Dienstleistungen sind ethisch in jenen Gesellschaften zu vertreten, die durch die damit verbundenen Kosten überfordert wären. Angesichts des Reichtums der Bundesrepublik ist unsere Gesellschaft jedoch weit von der Notwendigkeit einer solchen ökonomischen Rationierung entfernt. Dass derzeit die Finanzierung über lohn- und gehaltsbezogene Sozialabgaben an Grenzen stößt, ist deshalb aus ethischer Perspektive bei weitem kein hinreichender Grund für Einschränkungen bei Zugang oder Qualität sozialer Dienstleistungen, sondern begründet ausschließlich die Notwendigkeit, deren Finanzierungsbasis umzubauen. Zwar handelt es sich bei den sozialen Dienstleistungen um eine Wachstumsbranche mit einem erheblichen Potenzial an hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Da das Gros der Finanzierungslasten aber voraussichtlich vom Staatshaushalt bzw. von den Sozialversicherungen zu tragen sein wird, ist bei der Organisation der Sozialwirtschaft auch dafür zu sorgen, dass die Dienstleistungen – soweit ___________ 6

Vgl. Walzer (1992), S. 134-145.

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dies ohne Beeinträchtigung des universalen Zugangs und unter Sicherstellung des hohen Qualitätsniveaus möglich ist – kosteneffizient bereitgestellt werden. These V Der direkte Dienstleistungsgeber erbringt seine Dienstleistung innerhalb einer Organisation. Deshalb können eine Diskussion pro und contra Wettbewerb und eine Reflexion der Alternative Wettbewerb mit oder ohne staatlich durchgesetzte Regeln keine ausreichende Orientierung für die Aufgabe bieten, die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen zu ordnen. Im Folgenden bezeichne ich jene Personen, die auf eine soziale Dienstleistung angewiesen sind, also die Patienten, Klienten oder auch Kunden, als die Dienstleistungsnehmer. Die direkten Dienstleistungsgeber (oder: die direkten Dienstleister) sind diejenigen, die im Zusammenspiel mit den Dienstleistungsnehmern die soziale Dienstleistung erbringen, also die Kranken- und Altenpfleger, Ärztinnen, Sozialarbeiter usw. Michael Schramm geht bei der Steuerung der Sozialwirtschaft von der pauschalen Alternative Befürwortung oder Ablehnung des Wettbewerbs aus. Als Lösung bietet er an, dass es richtig sei, Wettbewerb einzuführen oder beizubehalten, dass dieser aber durch staatliche Regelungen so zu steuern sei, dass der Wettbewerb nicht zu unerwünschten Ergebnissen führe. Nun ist aber die Sozialwirtschaft mehr als nur der Markt für soziale Dienstleistungen. Es geht bei der Steuerung der Sozialwirtschaft also nicht nur um die Frage, wie viel Wettbewerb es auf dem Sozialmarkt geben solle, sozusagen: ob man auf der Anbieterseite ein Monopol, Oligopol oder Polypol installieren und wie man gegebenenfalls eine Konkurrenz der Anbieter regulieren soll. Bei der Steuerung der Sozialwirtschaft geht es vielmehr darum, dass soziale Dienstleistungen von direkten Dienstleistungsgebern (unter Mitwirkung der Dienstleistungsnehmer) innerhalb von Organisationen erbracht werden sollen. Diese Organisation kann eine staatliche Behörde, eine freigemeinnützige Einrichtung oder ein privatwirtschaftliches Unternehmen sein. Die Aufgabe der Organisationen – insbesondere der Organisationsleitung – besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Bedarf an bestimmten sozialen Dienstleistungen gedeckt wird und dass der direkte Dienstleister seine Dienstleistungen mit hoher Qualität und bei möglichst geringer Ressourcenverschwendung erbringt. Bei der Steuerung der Sozialwirtschaft geht es folglich nicht darum, ob zwischen einzelnen direkten Dienstleistungsgebern ein Wettbewerb hergestellt werden soll. Es geht also nicht einfach nur um eine Steuerung der Handlungen von Individuen, die alle als Einzelanbieter auf dem Markt für soziale Dienstleistungen auftreten würden. Vielmehr ist, weil diese Individuen fast alle in größere Organisationen eingebunden sind, zwischen der organisatorischen und der interorganisatorischen Ebene der Steu-

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erung zu unterscheiden7. So geht es bei der Ordnung der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen zum einen darum, welche Organisationsform(en) gewählt werden soll(en), und zum anderen um die Frage, wie die Organisationen dazu gebracht werden können, die direkten Dienstleister wirklich zu Qualität und Effizienz anzuhalten. Idealtypisch kann man drei mögliche Konstellationen unterscheiden, zwischen denen die Gesellschaft wählen kann, wenn sie soziale Dienstleistungen, die innerfamiliär nicht (mehr) erbracht werden (können), zu steuern sucht:8 (1) Die etatistische Konstellation: Die Organisation, in der der direkte Dienstleistungsgeber arbeitet, ist eine staatliche Behörde. Im hierarchischen Gehäuse staatlicher Verwaltungen wird die Behörde von höheren Verwaltungsebenen durch bürokratische Steuerung dazu angehalten, dafür zu sorgen, dass die sozialen Dienstleistungen qualitätsvoll und effizient erbracht werden können9. (2) Die Konstellation des pluralen Korporatismus: Die staatlichen Organe (vor allem die Kommunen) gewährleisten, dass bestimmte soziale Dienstleistungen erbracht werden, übertragen das Erbringen dieser Dienstleistungen und das Vorhalten entsprechender Kapazitäten aber den Wohlfahrtsverbänden. Diese sind ihnen gegenüber immerhin so selbständig, dass sie in einem Aushandlungssystem als in etwa gleichberechtigte Verhandlungspartner auftreten können. Die für die Qualität und die Effizienz der sozialen Dienstleistungen zuständigen Organisationen sind dann freigemeinnützige Einrichtungen. Damit diese Einrichtungen ihre Aufgabe wahrnehmen, gibt es eine staatliche Aufsicht. Dem gleichen Zweck dient aber auch die Einbindung der Einrichtungen in einen Wohlfahrtsverband und die Pluralität dieser Wohlfahrtsverbände, die einen – allerdings sehr begrenzten – Wettbewerb bedingt. (3) Die Konkurrenzkonstellation: Hier gibt es besonders viele Organisationen, die für qualitätsvolle und effizient erbrachte Dienstleistungen sorgen sollen. Neben freigemeinnützigen Einrichtungen sind dies privatwirtschaftliche, gewinnorientiert wirtschaftende Anbieter. Dass diese Organisationen auf effiziente und qualitativ hochstehende Dienstleistungen dringen, dafür soll hier (neben staatlichen Kontrollen) der Wettbewerb sorgen. Bei der Steuerung der Sozialwirtschaft geht es also nicht einfach um die Frage, ob eine Vielzahl von individuellen Akteuren als direkte Dienstleistungsgeber um die kaufkräftige Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen konkurrie___________ 7

Vgl. Kaufmann (2005), S. 207 f., der unterhalb der organisatorischen auch noch die interaktive und die individuelle Ebene der Handlungskoordination benennt. 8 Vgl. Hierarchie, Korporatismus und Markt bei Kaufmann (2005), S. 211-216, der mit Professionalität und Solidarität allerdings auch noch zwei andere Typen der Handlungskoordination kennt. Weiterführend vgl. auch Geller/Gabriel (2004), S. 9-29. 9 Im Übrigen sei daran erinnert, dass sich in einer Demokratie die Verantwortlichen ab einer gewissen Verwaltungsebene in Wahlen regelmäßig dem politischen Wettbewerb stellen müssen.

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ren soll. Vielmehr geht es vorrangig um die Wahl von Organisationsformen und um die Steuerung dieser Organisationen durch ihre Einbindung in ein bestimmtes institutionelles Umfeld. Dass Michael Schramm in seinem Beitrag die Anbieterseite der sozialen Dienstleistungen nicht adäquat erfasst, erklärt vermutlich auch, dass in seinem Beitrag Alternativen zum (geregelten oder nicht geregelten) Wettbewerb gar nicht beschrieben werden. Für ihn gibt es immer nur Wettbewerb (mit oder ohne Regeln) oder keinen Wettbewerb; was sich aber hinter der Abwesenheit von Wettbewerb verbirgt, bleibt unklar! These VI Die Alternative pro und contra Wettbewerb in der Sozialwirtschaft ist auch deshalb zu einfach gestellt, weil die sozialen Dienstleistungen zu unterschiedlich sind. Zu klären ist, in welchen Bereichen mehr oder weniger Wettbewerb angezielt werden soll. Bei der Frage, ob die Sozialwirtschaft wettbewerblich organisiert werden soll, ist zudem zu beachten, dass es um eine Vielzahl sozialer Dienstleistungen geht, die sich z.T. ganz erheblich voneinander unterscheiden: z.B. in Bezug auf die Standardisierung der Leistung, die Überprüfbarkeit ihrer Qualität, den Grad der Asymmetrie zwischen direktem Dienstleister und Dienstleistungsnehmer. Zudem: Ist ein Qualitätswettbewerb, also eine Konkurrenz um möglichst gute soziale Dienstleistungen, überhaupt möglich10? Kann vielleicht nur ein Preiswettbewerb implementiert werden oder – wenn die Preise vorgegeben sind – ein Kostensenkungswettlauf zwischen gewinnorientierten Anbieterorganisationen? Sind Effizienzreserven, die früher einmal vorhanden waren, nicht vielleicht mittlerweile ausgeschöpft, so dass heute Kosten nur noch unter Inkaufnahme von Qualitätseinbußen gesenkt werden können? Insofern ist die Frage, ob die Sozialwirtschaft wettbewerblich organisiert werden soll, auch in dieser Hinsicht zu einfach gestellt: Eine solide sozialethische Reflexion der Sozialwirtschaft wird sich nicht einfach pro oder contra Wettbewerb entscheiden. Sie wird vielmehr Fragen wie diese zu beantworten suchen: In welchen Bereichen bzw. bei welchen sozialen Dienstleistungen ist es sinnvoll, Wettbewerb zwischen den Organisationen des Dienstleistungsangebots einzuführen bzw. den vorhandenen Wettbewerb zu intensivieren? Bei welchen Dienstleistungen ist Wettbewerb prinzipiell nicht möglich? In welchen Bereichen wäre er einer etatistischen oder einer korporatistischen Steuerung voraussichtlich unterlegen? Und bei welchen sozialen Dienstleistungen sollte man den bereits eingeführten Wettbewerb besser bremsen oder einschränken?

___________ 10

Vgl. mit Blick auf die Pflege den Beitrag von Tobias Jakobi in diesem Band.

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These VII Bei der sozialethischen Reflexion der Frage, wie die Bereitstellung von Gesundheits- und Pflegedienstleistungen geordnet werden sollen, müssen auch die Versicherungen als Kostenträger berücksichtigt werden. Michael Schramm verwendet in seiner sozialethischen Reflexion das Referenzmodell eines Marktes, auf dem auch auf der Nachfrageseite eine Vielzahl von Nachfragern, eben die Individuen als Dienstleistungsnehmer, agieren. Seine sozialethische Reflexion beschränkt sich hier darauf, die Gruppen der Klienten oder Patienten daraufhin zu befragen, ob sie dem Leitbild der souveränen Kunden entsprechen bzw. in welchen Punkten sie davon abweichen. Natürlich ist Michael Schramm in seiner Analyse recht zu geben, dass es zwischen den (direkten) Dienstleistungsgebern und den Dienstleistungsnehmern massive Asymmetrien gibt.11 Aber die Lösung dieser Probleme liegt eben vielfach nicht in einer geschickten Regulierung des entsprechenden Marktes für soziale Dienstleistungen, sondern in einer Stärkung der Kostenträger, im Gesundheitsund Pflegesektor: der Versicherungen, gegenüber den Leistungserbringern. Weil Michael Schramm auch die Nachfrageseite der Märkte für soziale Dienstleistungen nur atomistisch begreift, eben nur die Dienstleistungsnehmer berücksichtigt, bleibt diese wichtige Lösungsmöglichkeit außen vor. Dabei dürften die Versicherungen auf den Märkten für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen die wichtigsten Akteure der Nachfrageseite sein. Diese sind einerseits Agenten der Versicherten und treten andererseits als Prinzipale der Leistungserbringer auf. Zumeist sind deshalb bei der ethischen Reflexion von Märkten in der Sozialwirtschaft zwei Märkte zu untersuchen: einerseits der Markt zwischen den Versicherungen als Kostenträger und den Organisationen der Leistungserbringung und andererseits der Markt zwischen den Versicherungen und den Versicherten. Inwiefern es auf dem letzteren dieser beiden Märkte mehr oder weniger Wettbewerb bedarf bzw. in welcher Form es hier des Wettbewerbs bedarf, diese Fragen bedürfen einer eigenen ethischen Reflexion, die nicht auf Effizienzfragen beschränkt, sondern – ähnlich wie in These VI angedeutet – auf ein breiteres Spektrum an Kriterien gestützt werden sollte.

Literatur Berger, J. (1992): Der Konsensbedarf der Wirtschaft, in: Giegel, H.-J. (Hrsg.), Kommunikation und Konsens in modernen Gesellschaften (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1019), Frankfurt/Main, S. 151-196.

___________ 11

Vgl. Schramm (2007), S. 17 f. und S. 21.

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Geller, H. / Gabriel, K. (2004): Ambulante Pflege zwischen Familie, Staat und Markt, Freiburg/Breisgau. Große Kracht, H.-J. (2003): Solidarität: „die bedeutendste Entdeckung unserer Zeit“ (Heinrich Pesch). Unvollständige Spurensuche zu einem Leitbegriff der europäischen Moderne, in: ders. (Hrsg.): Solidarität institutionalisieren (FS Karl Gabriel; ICSSchriften 50), Münster/Westf., S. 23-45. Kaufmann, F.-X. (2005): Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Analysen (2., erweiterte Auflage), Wiesbaden. Nell-Breuning, O. von (1953): Art. Wirtschaft, in: Wörterbuch der Politik, Bd. 4 (2. Auflage), Sp. 1-24. — (1990): Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg/Breisgau (11968). Pesch, H. (1922): Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 4: Der volkswirtschaftliche Prozeß, Freiburg/Breisgau (2. Auflage). — (1924): Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 1: Grundlegung, Freiburg/Breisgau (3. und 4. Auflage). Schramm, M. (2007): Der Sozialmarkt im normativen Konflikt: Sozialethische Erörterung des Marktwettbewerbs in der Sozialwirtschaft, in: Aufderheide, D. / Dabrowski, M. (Hrsg.): Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft, Berlin, S. 11-33. Walzer, M. (1992): Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/Main u.a. (engl. 11983).

Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen ‚sozialethischer‘ und ‚ökonomischer‘ Perspektive?* Von Nils Goldschmidt

I. „Der garstig breite Graben“ Mit dem „garstig breiten Graben“ beschrieb Gotthold Ephraim Lessing sein Unbehagen über den Hiatus von zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten, den zu schließen er sich außer Stande sah: „Das, das ist der garstig breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüber helfen, der tue es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir ...“1 Diese Scheidelinie zwischen historisch-bedingten und historisch-vermittelten „Wahrheiten“ und einer „erstphilosophisch“ begründeten objektiven Wahrheit 2 scheint – freilich in profanisierter Form – auch das Verhältnis von Marktwirtschaft und Sozialpolitik bzw. Sozialwirtschaft3 zu belasten.4 Ist nicht letzt___________ * Werner Schönig, Gerold Blümle und Anne van Aaken gilt mein Dank für die Diskussion des Textes, kritische Anmerkungen und weiterführende Hinweise. 1 Lessing (1777/1979), S. 12. 2 Zur Debatte um den „garstig breiten Graben“ in Philosophie und Theologie siehe vor allem Verweyen (2002) und Ohlig (1996). 3 Im Folgenden soll nicht zwischen Sozialpolitik, dem hier zumeist benutzten Begriff, und Sozialwirtschaft unterschieden werden, zumal beide Begriffe kaum eindeutig definiert sind. Entsprechend steht hier auch nicht das organisatorische Verhältnis von staatlichen, privaten und freien Trägern sozialer Dienstleistungen im Mittelpunkt, sondern die dahinter stehende Frage nach dem generellen Zusammenspiel von „sozialer“ und „ökonomischer Sphäre“. 4 Mit Max Weber hat die Idee eines „hiatus irrationalis“ zwischen Begriff und Wirklichkeit Eingang in die sozialwissenschaftliche Debatte gefunden; vgl. Weber (1922), S. 15 ff. Max Weber selbst übernimmt die Idee des „hiatus irrationalis“ wohl von Heinrich Rickert. Siehe zum Ganzen: Oakes (1990). Philosophiegeschichtlich finden sich Bezüge vor allem zur Wissenschaftslehre Fichtes (Riedel 1999). Zur Bedeutung des „hiatus irrationalis“ für die erkenntniskritische Grundlegung der Ökonomie im frühen 20. Jahrhundert siehe jetzt auch Rauchenschwandtner (2005), S. 492.

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lich die „soziale Not“ jedes Einzelnen, in seiner je historischen und kulturellen Ausprägung, ein unüberbrückbarer Widerspruch, ein „garstig breiter Graben“, zur inneren Stringenz und Allgemeingültigkeit vernunftgeleiteten, ökonomischen Handelns und der von Ökonomen oft als objektiv erachteten Gesetze des Marktes? Oder allgemeiner formuliert: Wenn es ein „reines“, idealtypisches System des Marktes gibt, welcher Weg führt dann von dort zur sozialen Lebenswelt? Andererseits: Warum überhaupt sollten einzelne Bereiche dem Markt entzogen werden, wenn doch nur Märkte effizient im Sinne einer optimalen Ressourcennutzung sind und so dem Nutzen aller und jedes Einzelnen dienen? Die folgenden Überlegungen wollen diesen Fragen eine systematische Antwort geben und dabei versuchen, einige Grundelemente einer Theorie der Sozialpolitik offen zu legen, die den Bedingungen einer modernen Gesellschaft und Marktwirtschaft entsprechen. Hierbei werden aber nicht die einzelnen, konkreten Problemfelder einer modernen Sozialpolitik angesprochen. Vielmehr erscheint mir die Einsicht unausweichlich, dass konkrete Lösungen in den Bereichen Krankheit/Pflege, Arbeitslosigkeit und Ausbildung nur dann gelingen werden, wenn ihnen zunächst eine systematische Gesamtkonzeption gesellschaftlicher Prozesse zugrunde gelegt wird. Für eine solche Gesamtkonzeption und ihren Begründungsstrukturen sollen hier Denkanstöße geliefert werden. Dabei werden zunächst einige Vorschläge zum Verhältnis von Wirtschaftsund Sozialpolitik kritisch betrachtet, wie sie im Gefolge der Debatte um eine „rationale“ Sozialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute diskutiert werden (Abschnitt II.). Dass eine einheitliche Gesamtkonzeption von Wirtschafts- und Sozialpolitik sich nur auf der gesamtgesellschaftlichen bzw. konstitutionellen Ebene verwirklichen lässt, soll unter der Idee einer „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“ erörtert werden (Abschnitt III.). Für die Konzeption einer integrativen Wirtschafts- und Sozialpolitik wird sodann der Entwurf einer „Sozialpolitik mit dem Markt“ vorgestellt, wie er sich aus dem Ansatz der Freiburger Schule ergibt (Abschnitt IV.). Zielgröße und Legitimationsgrund einer so verstandenen Sozialpolitik ist der Einzelne. Folglich ist die Inklusion des Einzelnen in die Gesellschaft und in das ökonomische System die vordringliche Aufgabe der Sozialpolitik gegenüber einer rein materiell verstandenen Fürsorge (Abschnitt V.). Zum Abschluss soll die Frage nach dem „garstig breiten Graben“ nochmals aufgegriffen und im Licht der vorgelegten Überlegungen bedacht werden (Abschnitt VI.). Durchgängig werden dabei im „Hintergrund“ der folgenden Ausführungen die Fragen mitgeführt, die im Titel des Beitrags angesprochen sind. Kann oder soll es unter den Bedingungen der Moderne Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden? Gibt es einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen sozial-

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ethischer (moralischer?) und ökonomischer Perspektive? Es wird sich zeigen, dass zur Beantwortung dieser Fragen einige Differenzierungen und inhaltliche Klärungen nötig sind. Zudem fallen die Antworten auf die beiden Fragen keineswegs einheitlich aus.

II. Von der Kunst des sozialen Wollens zur Technik der Sozialpolitik In dem tiefen Graben zwischen sozialer und ökonomischer Welt scheint die Debatte um das Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik, zumal die deutschsprachige, seit langen Jahrzehnten verschüttet zu sein. Mit dem Ende wohlmeinender, aber gleichwohl sozialpaternalistischer Vorstellungen der Historischen Schule um Gustav von Schmoller und dem gleichzeitigen Aufstieg einer ökonomischen und rationalen Theorie der Sozialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts5 war die Hoffnung verknüpft, sich gleichsam auf die eine Seite des Grabens zu retten und auch die soziale Frage unter dem Primat ökonomischer Vernunftwahrheiten anzugehen. Heinrich Herkner, Nachfolger Schmollers auf dessen Berliner Lehrstuhl und im Vorsitz des Vereins für Sozialpolitik, beschwor seine Kollegen bereits fünf Jahre nach dem Tod seines Lehrers auf der Tagung zum 50. Jubiläum des Vereins im Jahr 1922, dass eine „Absonderung der Sozialpolitik von der Wirtschaftspolitik heute weniger denn je möglich erscheint. Eine erfolgreiche Produktions- und Valutapolitik ist unter gegenwärtigen Verhältnissen die weitaus beste Sozialpolitik, die überhaupt getrieben werden kann“6. In ähnlicher Richtung argumentierte auch Joseph Schumpeter in seiner Würdigung Schmollers aus dem Jahr 1926: „[I]mmer näher kommt die Zeit, in der das soziale Wollen einheitlich genug sein wird, um in jeder gegebenen Situation Zielsetzung mit den Mitteln der Wissenschaft möglich zu machen. … Das ist auch der Sinn, in welchem Schmoller Werturteile ausgesprochen und Ziele gesetzt hat. … Nur dass zu dieser Zeit eine Kunst war, was einmal eine Technik werden wird.“7 Der junge Götz Briefs, 1923 auf den Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie in Freiburg berufen, verortete in dieser Neuausrichtung der Sozialpolitik als Sozialtechnik gar einen „geistesgeschichtlichen Wendepunkt“8 und sah sich zu der Frage veranlasst: „Hat Sozialpolitik als von der Wirtschaftspolitik getrenntes System von Zwecken, Handlungen und Einrichtungen überhaupt noch Daseinsberechtigung?“9 – eine rhetorische Frage freilich, die er damals mit einem klaren „Nein“ beant___________ 5

Zu dieser Entwicklung siehe Blümle/Goldschmidt (2003). Herkner (1923), S. 93. 7 Schumpeter (1926), S. 351 f. 8 Briefs (1923), S. 136. 9 Briefs (1924), S. 10. 6

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wortete.10 Die von Götz Briefs aufgeworfene Frage ist bis in die jüngste Zeit virulent.11 Für die jüngere Diskussion um eine an marktlichen Prämissen ausgerichtete Sozialpolitik kann der viel beachtete Artikel „Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung“ von Armin Gutowski und Renate Merklein aus dem Jahr 1985 gelten, der rückblickend gar „als Vorläufer einer wirtschafts- und sozialpolitischen Neuorientierung“12 eingeschätzt wird, wiewohl die Argumentation des Textes stellvertretend für viele ähnliche Beiträge seit Mitte der 1980er Jahre ist: „Ludwig Erhard und der Kreis um ihn fußten … sehr wohl auf einer konsistenten Theorie, auf der Theorie des dynamischen, von Marktmacht nicht verzerrten Wettbewerbs. Es fehlte aber eine der Marktwirtschaft adäquate Theorie des Sozialen. Es fehlte ihnen an theoretischer Fundierung dafür, was genau unter dem Rubrum ‚Arbeit und Soziales‘ alles erforderlich sein sollte und wie es zu verwirklichen sei, ohne die Effizienz und die sonstigen Vorteile von Marktwirtschaft und Rechtsstaat auf Dauer zu untergraben.“13 Gutowski und Merklein legten mit ihrer Diagnose sicher den Finger in eine offene Wunde – eine konsistente Theorie der Sozialpolitik fehlte und war aufgrund der jahrelang betriebenen „Schönwetter-Programmatik“14, die es erlaubte, steigenden Wohlstand mit steigenden sozialen Ausgaben zu verknüpfen, auch nicht im Blickpunkt des Interesses. Die sich ankündigenden Finanzierungsschwierigkeiten erforderten ein Umdenken und entsprechend lag es nahe, auch die Sozialpolitik durch den marktlichen Anreizmechanismus zu „disziplinieren“: „Ziel und Art der zu einer Marktwirtschaft passenden, zugleich nötigen Eingriffe im Bereich Arbeit und Soziales sind aus dem marktwirtschaftlichen Prozess selbst herzuleiten.“15 Jedoch wurde so das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die positiven Funktionseigenschaften von Markt und Wettbewerb wurden zum Maßstab der Legitimität der Sozialpolitik. Oder sogar vielmehr: Die Frage nach der Legitimität einer eigenständigen Sozialpolitik wurde gar nicht mehr gestellt. Die unbedingte Anerkenntnis marktlicher Prozesse sichere die Funktionsfähigkeit marktlicher Prozesse – eine Einsicht mit tautologischem Wert. ___________ 10 Wobei Briefs keinesfalls einer lediglich „ökonomisierten“ Sozialpolitik das Wort redete. Zu Briefs’ sozialpolitischer Konzeption, die bis heute auch aus einer sozialethischen Perspektive gewinnbringend ist, vgl. Amstad (1985). 11 Siehe hierzu Schönig (2001), S. 185-202. 12 Lampert (2005), S. 13. 13 Gutowski/Merklein (1985), S. 50. Zur Kritik an der Position und an einer einseitigen Ausrichtung an einer „Ökonomischen Theorie der Sozialpolitik“ generell, z.B. Lampert/Bossert (1987), Lampert (1990) und (1992) sowie Kleinhenz (1989) und (1997). 14 Pies (1998b), S. 107. 15 Gutowski/Merklein (1985), S. 55.

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Einen wichtigen Schritt zur Versachlichung der Debatte und zu einer erneuten begründungstheoretischen und ordnungspolitischen Diskussion ist den Arbeiten von Karl Homann aus den 1990er Jahren zu verdanken.16 Homann hat in einer Vielzahl von Beiträgen klar herausgearbeitet, dass eine moderne industrialisierte Gesellschaft nicht auf einer individuellen Handlungsmoral beruhen kann, sondern sich in Folge der gesellschaftlichen Differenzierung an den Bedingungen des Handelns zu orientieren habe. Gefordert ist also weniger eine „Theorie des sittlichen Handelns“, sondern eine an den Rahmenbedingungen ausgerichtete Moral: „Der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung.“17 Hiermit erhalten aber auch die konkreten Normen der Ethik selbst einen anderen Status. Gegen eine „normative Aufrüstung“18 plädiert Homann für eine mittels Anreizbedingungen verstandene Moral: „Menschliches Handeln wird grundsätzlich nicht – und in der modernen Gesellschaft schon gar nicht – durch Werte oder Ideale unmittelbar gesteuert. Bestimmt wird Handeln durch ‚Anreize‘, also durch Vorteilserwartungen.“19 Der Dualismus von Ethik und Ökonomik ist nach Homann folglich am besten dadurch zu überwinden, dass sie als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden: „Die Konzeption besteht nur darauf, dass alle Ethik bis in ihre Prinzipien wie Menschenwürde und Goldene Regel, aber auch Konsens und Veto, ökonomisch i.w.S. rekonstruierbar sein muss.“20 Der Diagnose Homanns, d.h. die Schwierigkeit, moderne Gesellschaften mittels Moral und Sittlichkeit zu ___________ 16 Gleichwohl sich auch bei anderen deutschsprachigen Wirtschaftsethikern Bezüge zur Sozialpolitik finden, sind diese vor allem im Ansatz von Homann systematisch ausgearbeitet. Da Homann zudem ordnungsökonomisch argumentiert, bietet es sich an, seine Vorschläge hier näher zu untersuchen. Zur Kritik an einer solchen ordnungsökonomischen Konzeption der Sozialpolitik, auch im Sinne der Freiburger Schule, siehe aber z.B. Ulrich (2001), S. 333 ff. Ohne Ulrichs Überlegungen hier näher erläutern zu wollen, scheint mir Ulrich jedoch die integrative Perspektive, die den Freiburgern zu eigen ist und die in Abschnitt D. vorgestellt werden soll, nicht in ihrer systematischen Bedeutung zu erkennen. Dies ist umso verwunderlicher, da auch Ulrich eine „integrative Wirtschaftsethik“ favorisiert, die er aber gerade nicht integrativ, sondern aufgrund eines Primats einer „humanistischen Vernunftsethik“ entwickelt. 17 Homann/Blome-Drees (1992), S. 35. 18 Homann (2001/2003), S. 70. 19 Homann (2001/2003), S. 70. Als Beispiel nennt Homann an gleicher Stelle eine erwünschte Reduzierung des Autoverkehrs „im Interesse des Umweltschutzes“. Dieses Ziel ist laut Homann besser durch eine entsprechende Änderung des Benzinpreises und dem daraus veränderten Verhalten entlang des Eigeninteresses zu erreichen denn durch Appelle und erhoffte Bewusstseinsänderungen. Auf der Ebene der funktionalen Durchsetzung des Ziels „Reduzierung des Autoverkehrs“ ist Homann sicherlich zuzustimmen, unbestimmt bleibt aber im Rahmen einer solchen Überlegung, wie die Maxime „im Interesse des Umweltschutzes“ selbst (als „moralisches“ Postulat) erklärt werden kann. Auf den sich hier abzeichnenden Unterschied zwischen funktionaler Ausgestaltung und Bestimmung einerseits und Erklärung von wirtschaftsethischen bzw. sozialpolitischen Vorstellungen andererseits wird zurückzukommen sein. 20 Homann (1994), S. 19.

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steuern, ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die systematische Begründung von Sozialpolitik einer modernen Gesellschaft kann nicht handlungsethisch fundiert sein. Hieraus aber abzuleiten, dass die Ökonomik die Fortsetzung der Ethik mit anderen, und bei Homann wohl besseren Mitteln ist21 oder zumindest sein sollte, ist erkenntnistheoretisch zumindest prekär22 und zugleich ein kühner Sprung über den breiten Graben von Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sozialpolitik erhält bei Homann letztlich eine ökonomische Funktion: „Eine klug geschnittene Sozialpolitik soll die Menschen bereit machen, risikoreicher in Sach- und Humankapital zu investieren, als sie dies ohne soziale Absicherung tun könnten. … Das bedeutet, dass der Fokus in der volkswirtschaftlichen Betrachtung weniger auf die Schadensfälle zu richten ist als auf die Nichtschadensfälle und ihre durch soziale Sicherung induzierten produktiven Verhaltensänderungen.“23 Gleichwohl man der Idee des „aktivierenden Sozialstaates“ durchaus in ihrer funktionalen Orientierung auf den Markt hin einiges abgewinnen kann, greift eine solche Perspektive hinsichtlich ihrer Problemorientierung zu kurz: Sozialpolitik hat bei Homann und seinen Schülern nichts mehr mit „sozialen Problemlagen“ zu tun, sondern ist lediglich ein integrativer Bestandteil produktiver Marktpolitik. In den Worten von Ingo Pies: „Eine … produktive, weil investive Sozialpolitik beeinträchtigt die Funktionsweise von Märkten nicht, sondern fördert sie. Sie erhöht die Sicherheit, insbesondere auch die Rechtssicherheit; sie erhöht die Chancen jedes einzelnen, zu einem potenten Marktteilnehmer zu werden, und sie erhöht die Risikobereitschaft, diese Chancen auch zu nutzen.“24 Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die von Homann und seinen Schülern vorgetragenen Konsequenzen einer „Sozialpolitik für den Markt“25 für die konkreten Maßnahmen einer modernen Sozialpolitik sind bedenkenswert und in der generellen Ausrichtung nicht den hier vorgestellten Überlegungen entge___________ 21

Homann (2001). Homann (2001). Letztlich bleibt bei Homann der Status der Moral unbestimmt. Sein Versuch zwischen konkreten Normen und grundlegenden Prinzipien zu unterscheiden (z.B. Homann 2000/2003), mag philosophisch einen gewissen Reiz besitzen, vergrößert aber die Schwierigkeit, eine realitätsnahe Erklärung von Moralentstehung und -entwicklung zu bieten. Dies schlägt sich dann auch darin nieder, dass Homann immer wieder einen „Restbestand“ von (Handlungs-)Moral und Ethik einfordert, der aber kaum eine systematische Erklärung findet (vgl. z.B. Homann 1997, S. 29 ff.). Zudem verschleiert die Differenzierung zwischen konkreten Normen und grundlegenden Prinzipien den kategorialen Unterschied zwischen der notwendigen Herausbildung von moralischen Vorstellungen in familiären Bezügen und in Kleingruppen und der a-moralischen Organisation moderner Marktgesellschaften. Ganz im Gegensatz zu Homann (so z.B. explizit in Homann 2004) muss eine moderne Sozialwissenschaft bei der Anthropologie ansetzen und die Bedingungen von Moral und Gerechtigkeit als Elemente menschlicher Kultur analysieren. Dies soll später weiter untersucht werden. 23 Homann (2003), S. 112. 24 Pies (1998a), S. 112. 25 Homann/Pies (1996). 22

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gengesetzt – gerade mit Blick auf eine „Teilnahme am Markt“ als Ziel der Sozialpolitik.26 Jedoch bleibt die Begründungsstruktur bei Homann et al. defizitär. Es reicht nicht aus, die begründete Forderung aufzustellen, Sozialpolitik so zu gestalten, dass sie selbst den Bedingungen einer Marktgesellschaft genügt. Wo dies gelingt (und hierauf sollte das Bemühen des Sozialpolitikers immer zuerst gerichtet sein), wo also „win-win-Situationen“27 im Rahmen der Sozialpolitik gefunden werden können, sind diese zu begrüßen und – da sie eben „win-winSituationen“ sind – letztlich auch nicht strittig.28 Die Hoffnung aber allein darauf zu setzen, dass mit der „Übersetzung von Ethik in Ökonomik“29 ein durchgängiges Leitmotiv sozialpolitischen Begründens und Handelns gefunden ist, ist trügerisch. Das eigentliche Feld der Sozialpolitik sind die verbleibenden Konflikte zwischen widerläufigen Ansprüchen einerseits und zwischen marktlicher und nicht-marktlicher Koordination andererseits. Hierauf wird zurückzukommen sein. Zunächst aber gilt es, den Blick auf einen anderen Begründungszusammenhang von Wirtschaft- und Sozialpolitik zu werfen.

III. Sozialpolitik zur Erreichung der Gesellschaftszwecke und Achingers „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“ Bereits im Ausgang der Historischen Schule deutete sich ein methodischer Ausweg aus dem Dilemma zwischen paternalistischem Sozialstaat hier und ökonomischer Notwendigkeit und Funktionalität dort an. Es war vor allem Otto von Zwiedineck-Südenhorst, der – in Abkehr von einer alleinigen Konzentration auf die Arbeiterfrage – die Grundlagen der Sozialpolitik in „einer Auseinandersetzung über das, was in sozialen Dingen sein soll“30 sah, um „das krampfhafte Denken in dem allzu tief verwurzelten Dualismus endlich zu überwinden“31. Es ging Zwiedineck-Südenhorst dabei um eine Zielbestimmung und damit um die notwendigen Begründungsstrukturen, „also Ideen von der gesellschaftlich richtig gestalteten Politeia und von dem, was zur ihrer Herbeiführung zu geschehen habe“32. An die Stelle einer „Fürsorgepolitik“ rückte damit eine ___________ 26

Siehe Homann/Pies (1996), S. 221. Im Mittelpunkt steht die Suche nach solchen gesellschaftlichen Arrangements, die Personen durch die gemeinsame Bindung an geeignete Regeln – analog zum Gedanken der „mutual gains from trade“ der klassischen Ökonomik – wechselseitige Vorteile, jetzt als „mutual gains from joint commitment“ (Vanberg 2004c, S. 154), realisieren lassen. 28 Siehe Goldschmidt (2004). 29 Homann (1997), S. 28. 30 Zwiedineck-Südenhorst (1911), S. III, eigene Hervorhebung. Vgl. zum Folgenden auch: Kaufmann (2003), S. 108 f. 31 Zwiedineck-Südenhorst (1955), S. 33. 32 Zwiedineck-Südenhorst (1911), S. III. 27

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Ausrichtung der Sozialpolitik im Kontext der Gesellschaft in den Vordergrund: „Die Gesellschaft haben wir als ein Ergebnis von wesentlich wirtschaftlichen Zweckverfolgungen erkennen gelernt, das aber selbst Voraussetzung der weiteren Zweckerreichungen geworden ist, so dass die Gesellschaft selbst Zweckinhalt für das Wirtschafts- und damit auch für das Kulturleben gewonnen hat. Und dieses Moment steht im Begriffe, in der Sozialpolitik in den Vordergrund gerückt zu werden, sollte daher auch in der Definition der Sozialpolitik eine Stelle finden, und man kann dann sagen: Sozialpolitik ist die auf Sicherung fortdauernder Erreichung der Gesellschaftszwecke gerichtete Politik.“33

Zwiedineck-Südenhorst gibt damit eine auf die Integration von Wirtschaftsund Sozialpolitik ausgerichtete Perspektive vor, die auf den Gesamtzusammenhang der jeweiligen Volkswirtschaft gerichtet ist. Bestenfalls können so Konflikte zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik vermieden werden (und zwar durch eine Integration auf der Gesellschaftsebene). Im Konfliktfall ist es wiederum die gesellschaftliche Abwägung, die die jeweilige Gewichtung zugunsten oder zulasten der Sozialpolitik vorgibt: „So steht also doch auch sozialpolitisches Zweckverfolgen durchaus nicht schlechthin im Gegensatz zur Wirtschaft, sondern liegt völlig eingebettet in dem Gesamtkomplex von Zweckverfolgung und Mitteleinsatz, als der uns die Volkswirtschaft erscheint. Nur soweit der Staat durch sozialpolitische Maßnahmen die Produktivkraft in ihrer Auswirkung so beeinträchtigt, dass das Sozialprodukt verkleinert wird, steht die Sozialpolitik mit der materiellen Güterproduktion derart im Widerstreit, dass es eben auf die Alternative ankommt, ob die Zwecke sozialer Befriedung, die die Sozialpolitik verfolgt, der Gesamtheit wertvoller erscheinen als die Bereicherung der materiellen Lebensführung gerade der unteren Schichten.“34

___________ 33

Zwiedineck-Südenhorst (1911), S. 38, Hervorhebungen im Original. Schon Franz Hitze hatte die soziale Frage als die „Frage der Vergesellschaftung“ bestimmt; vgl. Kaufmann (2003), S. 108. Die Fokussierung auf die gesellschaftliche Dimension ist natürlich vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu sehen, wie sie von Ferdinand Tönnies in klassischer Form beschrieben worden ist (Tönnies 1887). Folglich überrascht es nicht, dass ZwiedineckSüdenhorst sein Lehrbuch mit dem Kapitel „Vergesellschaftung und Gesellschaft“ beginnen lässt. Dass eine moderne Sozialpolitik dieser Unterscheidung geschuldet ist, scheint bei vielen Sozialpolitikern und Ökonomen jedoch noch nicht angekommen zu sein. In der Sozialpolitik die Bastion des „Menschlichen“ bzw. „Moralischen“, also die Ebene der Gemeinschaft, in Verteidigung gegenüber dem Markt und der gesichtslosen Gesellschaft zu sehen, greift in beiderlei Hinsicht zu kurz. Sozialpolitik und Wirtschaftpolitik bilden sich als Phänomene der modernen Gesellschaft parallel aus – wie sogleich gezeigt werden soll. 34 Zwiedineck-Südenhorst (1932), S. 248, Hervorhebungen im Original.

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Gleichwohl Zwiedeneck-Südenhorst bereits eine Lösungsrichtung – die Ausrichtung einer integrativen Wirtschafts- und Sozialpolitik an (den Interessen) der Gesellschaft – vorgegeben hatte, blieben seine Überlegungen noch undifferenziert und in der Idee der Klassengegensätze verhaftet: „Die Grundlegung der Sozialpolitik ist … durch die Auffassung über die Ursachen der Klassengegensätzlichkeit, ja, geradezu auch der Klassenbildung bedingt.“35 Erst mit der Verschiebung des Blickwinkels von Klassenlagen zum Vergleich individueller Lebenslagen „quer durch die ‚alten‘ Klassenschichtungen“36 konnte eine Theorie von sozialer Ordnung und Sozialpolitik einen neuen Anlauf erleben.37 Einen durchgreifenden Aufschwung erlebte die Diskussion um eine an den „Gesellschaftszwecken“ ausgerichtete Theorie der Sozialpolitik mit dem Buch „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik – Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat“ von Hans Achinger aus dem Jahr 1958. Der Wert von Achingers Überlegungen liegt vor allem darin, dass Sozialpolitik nicht „irgendein Anhängsel“ oder „ethischer Rest“ einer modernen Gesellschaft ist, sondern – ganz im Gegenteil – als integraler Bestandteil eben einer modernen Gesellschaft zu verstehen ist: „Die Entstehung der Sozialpolitik ist also auf das genaueste mit den modernen Entdeckungen und Fertigungen verbunden, die die Produktivität der Arbeitsstunde im stetigen Fortschritt weiter heben und die es erst möglich machen, bisher irreparable Leiden und Übelstände zu heilen oder wenigstens durch Hilfskonstruktionen abzumildern.“38 Alexander Rüstow sprach in diesem Zusammenhang von der „staatspolitischen Notwendigkeit“39 der Sozialpolitik. Zugleich entstehen nach Achinger in modernen Gesellschaften neue Notwendigkeiten sozialpolitischen Handelns: „Je geringer der Anteil [der] Selbstversorgung ist, desto höher sind in der Regel auch die Ansprüche an eine durch Staatseingriffe zu stützende soziale Sicherung.“40 Lässt man zunächst einmal die Formulierung „eine durch Staatseingriffe zu stützende soziale Sicherung“ außer Acht (die auf die Schwierigkeit einer integrativen Konzeption von Wirtschafts- und Sozialpolitik verweist, die im nächsten Abschnitt behandelt werden soll), macht diese Aussage von Achinger vor allem eines klar: Sozialpolitik ist ein Phänomen, das historisch und damit aber auch systematisch eng gebunden ist an die Industrialisierung, an „[n]eue Lebensformen, eine neue Gesell___________ 35

Zwiedineck-Südenhorst (1911), S. 16. Pütz (1954), S. 9. 37 Hierzu Kaufmann (2003), S. 153 f. 38 Achinger (1958), S. 44. 39 Rüstow (1959/1971), S. 25. 40 Achinger (1955/1971), S. 200. Das Unbehagen über diesen Umstand mag für Ökonomen wie Wilhelm Röpke der Grund gewesen sein, sich – gleichsam als Gegenstück zur modernen Industriegesellschaft – für eine Stärkung kleinbäuerlicher, autarker Lebensformen einzusetzen. 36

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schaft, nämlich die spezifisch moderne Wirtschaftsgesellschaft, eine neue Interessenlage“41. Hieraus lässt sich ableiten: 1. Die Entstehung der Marktwirtschaft (i.e. der Kapitalismus) ist entwicklungslogisch verknüpft mit der Entstehung einer systematischen und gesellschaftlichen Sozialpolitik; 2. Die funktionale Effizienz des marktwirtschaftlichen Teilsystems erfordert die Komplementarität durch eine Sozialpolitik auf gesellschaftlicher Ebene; 3. Solange Marktwirtschaften existieren, solange wird eine systematische Sozialpolitik unerlässlich sein. Um es zusammenzufassen: Mit Zwiedineck-Südenhorsts Idee einer Sozialpolitik entlang der Gesellschaftszwecke und Achingers „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“ verändert sich der Blickwinkel auf den „garstig breiten Graben“. Lösungen, d.h. Brückenschläge zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, sollten nicht unabhängig vom gesamtgesellschaftlichen Gefüge in Richtung „Markt“ oder „Soziales“ aufgelöst bzw. verschleiert werden, sondern müssen auf der Ebene der Gesellschaft (und ihrer Mitglieder) selbst gelöst werden42 – ein Aspekt der auch für die ordoliberale Sichtweise zentral ist, wie später ausgeführt werden soll. Der besondere Vorteil der Argumentation von Achinger liegt zudem darin, dass bei ihm Sozialpolitik eine dynamische Größe wird, die sich an den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Lebenslagen orientiert.43 Folglich kann Sozialpolitik nicht mehr nur „Armenfürsorge“ sein, sondern ist ausgerichtet an der Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. Inhaltliche Konkretisierungen sozialpolitischer Arrangements sind somit notwendigerweise zur Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation und ihren historischen Bedingungen gezwungen. Hiermit ebnet Achinger einer Theorie der Sozialpolitik den Weg, die nicht mehr nur auf materielle Bedingungen abstellt, sondern die Inklusion des Individuums in die Gesellschaft in den Vorder___________ 41

Achinger (1958), S. 18. „Es geht nicht nur darum festzustellen, was die heutigen Leistungen bei denen bewirken, die sie erhalten, und wie die Einrichtungen dafür vielleicht verbessert werden könnten. Es geht auch darum festzustellen, was diese Leistungen bei denen bewirken, denen sie durch Gesetz abverlangt werden. Und es geht neben diesen wirtschaftlichen, vielleicht noch in Zahlen ermeßlichen Vorgängen, um die sozialpsychologische, um die gesellschaftliche Attitüde der Menschen, die aus solchen Dauersystemen, wie wir sie haben, hervorgehen.“ Achinger (1959), S. 62. 43 In ähnlicher Weise sucht z.B. auch das von Gerhard Weisser entwickelte einflussreiche Konzept der „Lebenslagen“ eine Diversifizierung der sozialen Problemlagen: „Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen bieten für die Erfüllung der Grundanliegen, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung für den Sinn seines Lebens ansieht.“ Weisser (1959), S. 635. Eine Parallele kann man auch zu der Idee der „sozialpolitischen Bedarfe“ ziehen, wie sie sich bei Heinz Lampert findet. Lampert macht deutlich, dass verschiedene Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme im historischen Ablauf unterschiedliche sozialpolitische Bedarfe entwickeln und um ihre jeweils interessengeleitete Durchsetzung ringen. Vgl. z.B. Lampert (1990), S. 21-30. 42

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grund rückt: „Nicht die Frage nach den Ärmsten der Armen im Sinne des Geldeinkommens ist entscheidend, sondern die Frage nach dem am meisten veränderten Zustand.“44 Jedoch bleiben Zwiedineck-Südenhorsts und Achingers Überlegungen dahingehend ergänzungsbedürftig, dass der Rekurs auf einen „Gesellschaftszweck“ ohne die explizite Rückbindung auf das Individuum Gefahr läuft, sich im Allgemeinen zu verlieren. Für den „Gesellschaftszweck“ gilt das Gleiche, was Franz Böhm für die Privatrechtsordnung allgemein klar gemacht hat: es geht um die „Verantwortung für die Lenkung des gesellschaftlichen Kooperierens oder Koexistierens von Individuen“ und um „die Beziehungen, die Befugnisse und den Verkehr zwischen Gleichberechtigten“45. Zielgröße und Legitimationsgrund jeder Sozialpolitik ist das Individuum. Hierauf wird später unter dem Begriff der Inklusion zurückzukommen sein. Dennoch ergeben die Überlegungen Achingers bereits folgende Quintessenz, die auch für den aktuellen Diskurs unerlässlich ist: Aus der realistischen Sicht einer an der Gesellschaft orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik kann die Integrationsleistung, der Brückenschlag zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, nicht mittels der Ökonomik allein gelingen (wie Homann erhofft), sondern es bedarf eines gesellschaftlich zu bestimmenden Rahmens. Die Ökonomik ist dann ein notwendiges Instrument zur effizienten Ausgestaltung des Rahmens und der einzelnen Teilsysteme. Eine Erwägung, die auch Achinger herausgestellt hat: „Gerade weil die Nationalökonomie bewiesen hat, was ihre Theorie vermag, muss sich jeder wissenschaftliche Betrachter der Sozialpolitik eingestehen, was er in dieser Hinsicht nicht leisten kann. … Es kann keine der Wirtschaftstheorie ähnliche sozialpolitische Theorie geben. … Der entscheidende Nutzen, den die wissenschaftliche Betrachtung der Sozialpolitik von der Nationalökonomie erwarten kann, ist die Klarheit darüber, was ihre Eingriffe an wirtschaftlichen Folgen nach sich ziehen. … Und neuestens müssen sie sich auch wegen ihres Einflusses auf die Komponenten der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung ständig konkretere Aufklärung gefallen lassen, ohne dass sie deshalb aufhören könnten, nach ihren eigenen Normen zu intervenieren.“46

___________ 44

Achinger (1958), S. 24. Böhm (1966/1980), S. 108 bzw. S. 105. Vgl. hierzu im Kontext einer Sozialpolitik: Vanberg (2002), S. 235. 46 Achinger (1963), S. 67. An dieser Stelle setzt sich Achinger ausdrücklich mit der „Ökonomischen Theorie der Sozialpolitik“ von Elisabeth Liefmann-Keil (1961) auseinander, die zu Beginn der 1960er Jahre den Diskurs über die Sozialpolitik nachhaltig beeinflusst hat. Die sich an Liefmann-Keil anschließende Entwicklung kann als paradigmatisch für den Diskurs über eine Theorie der Sozialpolitik angesehen werden. Die notwendige Versachlichung der Debatte war bei Liefmann-Keil noch eingebunden in die Einsicht, dass eine Wirtschaftstheorie nicht die Ziele der Sozialpolitik vorgeben kann, sondern lediglich die ökonomischen Folgen sozialpolitischer Maßnahmen abschätzen hilft. In der Folgezeit beschränkte sich die Diskussion mehr und mehr auf diese Folgen45

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Doch gibt es eine Möglichkeit, eine von der Gesellschaft her gedachte Wirtschafts- und Sozialpolitik auch konzeptionell zusammenzuführen oder muss man „intervenieren“ und sich – wie Achinger es beschrieben hat – mit einem „Verschwimmen aller Linien“47 zufrieden geben?

IV. Sozialpolitik mit dem Markt48 Die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft beruht auf dem Gedanken, mittels einer zureichenden Gesamtordnung den wirtschaftlichen Prozess so zu lenken, dass er sich zum Wohle aller, im Sinne der Gerechtigkeit, auswirkt. Hierin treffen sich die pragmatischen Gedanken Ludwig Erhards mit den systematischen Überlegungen der Freiburger Schule um Walter Eucken. In der ordoliberalen Metapher von den „Spielregeln“ weiß Erhard entsprechend zu formulieren: „Was ich mit einer marktwirtschaftlichen Politik anstrebe, das ist … die Ordnung des Spiels und die für dieses Spiel geltenden Regeln aufzustellen.“49 Hierin findet sich sozusagen die „differentia specifica“ aller Ordoliberalen im weiteren Sinne: der Staat ist Gestalter und Träger der Wirtschaftsordnung, nicht Lenker des Wirtschaftsprozesses. Der Staat als ordnende Potenz ermöglicht so den freien und fairen Wettbewerb, so dass den Staat – in einer Formulierung Röpkes – „die Unabhängigkeit von Interessengruppen und die unbeugsame Geltendmachung seiner Autorität und seiner Würde als Vertreter der Allgemeinheit kennzeichnen“50. Die Funktion des Staates als „Vertreter der Allgemeinheit“ findet seinen Ausdruck in der ordoliberalen Konzeption auch darin, dass wirtschaftliche Freiheit und Wettbewerb – als Schutzbereiche des Staates – zwar notwendige Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung sind, sie aber keinen Selbstzweck darstellen. So ist Erhard in „Wohlstand für alle“ der Ansicht, dass „[a]uf dem Wege über den Wettbewerb ... – im besten Sinne des Wortes – eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt“51 wird. Der Wettbewerb kann also dienstbar gemacht werden – er ist ein Mittel und nicht das Ziel der gesellschaftlichen Gestaltung.52 Der Ausgangspunkt bleibt die „soziale“, also ___________ abschätzung. Liefmann-Keil stand hingegen dem umfassenden, ordoliberalen Denken nahe; vgl. Goldschmidt/Klinckowstroem (2005). 47 Achinger (1963), S. 107. 48 Zum Konzept einer „Sozialpolitik mit dem Markt“ siehe Blümle/Goldschmidt (2004). 49 Erhard (1957), S. 135. 50 Röpke (1979), S. 157. 51 Erhard (1957), S. 8. 52 Im Anschluss an Eucken hat Siegfried Wendt hierzu angemerkt: „Vielleicht kann man sagen, dass die Wirtschaftspolitik sich vornehmlich im Bereich der Mittel bewegt,

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die gesellschaftliche Gestaltung der Beziehungen der Individuen untereinander. In den Worten Euckens: „Es gibt nichts, was nicht sozial wichtig wäre.“53 Programmatisch zusammengefasst findet sich diese Einsicht im ersten Band des von Eucken und Böhm gemeinsam herausgegebenen Jahrbuchs „ORDO“. Dort heißt es: „Unsere Forderung beschränkt sich auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Sozialordnung, in der wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet sind. Weil der Wettbewerb diesem Ziel dienstbar gemacht werden kann, das ohne ihn sogar unerreichbar bleibt, deshalb fordern wir ihn. Er ist Mittel, nicht letzter Zweck.“54

In der Verbindung dieser beiden Grundprämissen des Ordoliberalismus – die Anerkenntnis staatlicher Spielregeln als Vorbedingung marktwirtschaftlichen Handelns sowie die Ausrichtung der wirtschaftlichen Mittel auf die sozialen Zwecke – ist auch die konzeptionelle Zuordnung von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinne der Freiburger zu finden. Die soziale Frage ist für Eucken nur mittels der Einsicht lösbar, dass eine „Koordination aller Teile der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik aufeinander … sich aus dem Zusammenhang alles wirtschaftlichen Geschehens mit sachlicher Notwendigkeit ergibt“55. Somit rückt die Integration von Wirtschafts- und Sozialpolitik auf der Ebene der Spielregeln als entscheidende Ordnungsaufgabe in den Vordergrund, die aus der „Interdependenz der Ordnungen“ abgeleitet ist: „Infolge der allgemeinen Interdependenz aller Märkte kann die soziale Frage nur durch eine zureichende Gesamtordnung gelöst werden. Und so ist die soziale Frage ein Teil der großen Frage nach einer zureichenden freien Wirtschaftsordnung. Gerade soziale Gründe zwingen dazu, diese Linie der Wettbewerbsordnung zu verfolgen.“56 Im Mittelpunkt der Euckenschen Überlegungen steht damit anstelle punktueller Ansätze und interventionistischer Eingriffe die Suche nach allgemeinen Regeln im Rahmen einer gesellschaftlichen Gesamtordnung. Dieser Leitgedanke ist aber nur zu verwirklichen, wenn „Sozialpolitik nicht als Anhängsel der übrigen Wirtschaftspolitik betrachtet [wird], sondern in erster Linie Wirtschaftsord___________ dass sie bestrebt ist, dafür zu sorgen, dass die vorhandenen Mittel möglichst zweckvoll angewendet werden, während es Aufgabe der Sozialpolitik ist, die vorhandenen Mittel bestimmten Zielen zuzuordnen. Die Wirtschaftspolitik ist in erster Linie durch den Gedanken bestimmt, die formalen Entsprechungen im Gefüge der Leistungen zu sichern. Die Sozialpolitik wird dagegen durch den Willen beherrscht, eine bestimmte sachliche Zuordnung der Erträge zu ermöglichen.“ Wendt (1959/1971), S. 90. 53 Eucken (1952/2004), S. 313. 54 Vorwort, in: ORDO 1 (1948), S. XI. 55 Eucken (1949), S. 11. 56 Eucken (1948), S. 131.

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nungspolitik“57 ist. Nur auf diese Weise kann einer modernen Sozialpolitik tatsächlich zur Geltung verholfen werden: „Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass die eigentliche Sozialpolitik etwas ganz anderes ist, als was man früher häufig darunter verstand. Hier Löhne erhöhen, dort Unfälle in den Betrieben verhindern oder Wohlfahrtseinrichtungen schaffen usw., ist zwar wichtig, aber es genügt nicht. Diese punktuelle Behandlung der Probleme muss zurücktreten. Aber nicht, weil das Anliegen der Sozialpolitik im bisherigen Sinne nebensächlich geworden wäre. Im Gegenteil. Weil es so vordringlich ist, muss es für das gesamte Denken über die Wirtschaftsordnung mitbestimmend sein.“58

Diese Sichtweise kann als der zentrale Punkt in der ordoliberalen Konzeption einer wettbewerbskonformen Sozialpolitik verstanden werden: Sozialpolitik ist weder gegen noch für den Markt, sie ist als Sozialpolitik mit dem Markt zu verstehen. Eine so verstandene Wettbewerbsordnung im Rahmen einer Wirtschaftsordnungspolitik verwirklicht neben „der ökonomischen Sachgesetzlichkeit ... gleichzeitig ein soziales und ethisches Ordnungswollen“59. Folglich kann man Heinz Lampert nur zustimmen: „Aus dieser ordnungspolitischen Perspektive erscheint es verfehlt ... einseitig eine Ordnungs- bzw. Marktkonformität der Sozialpolitik einzufordern, vielmehr ist es auch erforderlich, den prinzipiell anzuerkennenden Grundsatz der Wirtschaftsordnungskonformität der Sozialpolitik durch den Grundsatz der möglichst weitgehenden Sozialordnungskonformität der Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftspolitik zu ergänzen.“60 Gilt die Lösung sozialer Fragestellungen als Zielpunkt der Sozialen Marktwirtschaft, kann ihre theoretische Konzeption weder auf eine Gegenüberstellung oder einen Kompromiss von ökonomischem und sozialem Anspruch reduziert werden, noch ist dieser Anspruch durch eine Über- oder Unterordnung aufzulösen. Hingegen gilt es, eine „Sozialpolitik mit dem Markt“ zu formulieren, die den Gegensatz zwischen sozialem Wollen und ökonomischer Sachnotwendigkeit auf der konstitutionellen Ebene aufhebt. So betont auch Lampert: Es ist „geboten, Sozialordnung und Wirtschaftsordnung als Teilordnungen der Gesellschaftsordnung zu verstehen, wobei – rein logisch – Sozialordnung und Wirtschaftsordnung unterhalb der Gesellschaftsordnung auf derselben Ebene angesiedelt werden müssen“61. Das sozial Wünschenswerte ist der legitimatorische Grund gesellschaftlicher Gestaltung im Rahmen einer ordnungsökonomischen Konzeption. ___________ 57

Eucken (1952/2004), S. 313. Eucken (1952/2004), S. 313, eigene Hervorhebung. 59 Eucken (1952/2004), S. 370. 60 Lampert (2001), S. 188. 61 Lampert (2003), S. 42. 58

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Diese Überlegungen – dies sei hier nur angedeutet – lassen sich problemlos in die moderne Konzeption der Konstitutionenökonomik übertragen.62 Mit der Einsicht in den Unterschied zwischen „choices within constraints“ und „choices among constraints“63 wird die Frage, wie die Ausgestaltung des rechtlichinstitutionellen Rahmens auf die sozialen Handlungsmuster wirkt, zentral.64 Die Wahl des institutionellen Rahmens ist als Kollektiventscheidung der Individuen als Souveräne der gesellschaftlichen Gestaltung anzusehen. Eine bestimmte Ausgestaltung sozialpolitischer Regeln ist dann aber nicht unabdingbar notwendig. Vielmehr gilt es herauszustellen, dass unterschiedliche sozialpolitische Arrangements unterschiedliche Auswirkungen haben werden und unterschiedlichen Interessen dienen. Ob diese dann erwünscht sind (auch in ihren jeweiligen ökonomischen Folgen), ist dann der Wahl und Entscheidung der Betroffenen zuzubilligen: „Aus dieser Sicht ist die entscheidende Frage nicht, wie viel Sozialpolitik die Marktwirtschaft verkraften kann, sondern wie Sozialpolitik betrieben wird.“65 Dem demokratischen Gemeinwesen obliegt dann die Förderung gemeinsamer Bürgerinteressen als Leistungsmaßstab.66 Im Umkehrschluss ist auch die Wettbewerbsordnung nicht aus sich heraus sakrosankt: „Was eine marktliche Wettbewerbsordnung ... legitimiert, sind nicht die von ihren Befürwortern zu Recht betonten positiven Funktionseigenschaften, sondern die freiwillige Zustimmung, die sie von den unter ihr lebenden Menschen erfährt.“67 Hieraus folgt aber, dass sich eine ordnungsökonomische Sozialpolitik zunächst nicht mit der spezifischen Ausgestaltung sozialpolitischer Arrangements beschäftigt, sondern mit dem Prozess der Entscheidungsfindung für bestimmte Arrangements68, gemessen an den Kriterien der Privilegienfreiheit und Rechtsgleichheit.69 Beide Kriterien verweisen darauf, dass eine Ausrichtung an Sonderinteressen bei der Gestaltung sozialer Arrangements – vor allem mit Blick auf eine sozialpolitisch motivierte Umverteilung – kaum im Interesse aller Bürger sein wird. Der Abbau von Privilegien durch einen handlungsfähigen, wirkmächtigen Staat als Voraussetzung marktlichen Handelns ist somit der erste Grundsatz ordnungsökonomischer Sozialpolitik. Damit verschiebt sich aber der Blickwinkel. Sozialpolitik muss sich mit der (privilegienfreien) Koordination ___________ 62

Siehe Goldschmidt (2004). Buchanan (1990), S. 2 f. 64 Siehe z.B. Vanberg (2000), S. 252. 65 Vanberg (2002), S. 252, Hervorhebung im Original. 66 Vanberg (2003), S. 58. 67 Vanberg (2001), S. 57 f. 68 Folglich kann man mit Vanberg (2004b) auch sozialstaatliches Handeln als ein „kooperatives Unternehmen“ deuten. 69 Die beiden Kriterien gehen vor allem auf die Arbeiten von Franz Böhm zurück; siehe hierzu z.B. Vanberg (2002). 63

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individueller, sozialer Interessen beschäftigen, sozusagen mit den Konstruktionsplänen der Brücke über den Graben von Wirtschafts- und Sozialpolitik.

V. Von „all inclusive“ zu „all included“ Das Projekt Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ als vordringliche Aufgabe der jungen Sozialen Marktwirtschaft der frühen Nachkriegsjahre ist weitgehend erfolgreich abgeschlossen. Der Schlachtruf heutiger Reiseveranstalter „All inclusive“ kann als Symbol für die preisgünstige Versorgung mit materiellen Gütern in allen Lebenslagen gelten. Materielle Armut – gleichwohl sie in Einzelfällen durchaus auftritt – ist nicht das systematische Problem der (europäischen und nordamerikanischen) Gegenwart. Sozialstaatliche Absicherung wird gerade auch durch die tendenziell sinkenden Preise von Lebens- und Arzneimitteln erreicht – eine Entwicklung, die unter dem Eindruck leerer Staatskassen an Bedeutung gewinnen wird. Das „demokratische Grundrecht der Konsumfreiheit“70 hat sich Geltung verschafft und prägt den Lebensstil jetziger Generationen. Das zentrale Problem einer aktuellen Sozialpolitik scheint mir anders gelagert zu sein, als es eine materielle Sichtweise zu Zeiten Erhards zunächst nahe gelegt hat. Die Notwendigkeit einer quantitativen Sozialpolitik war mit Beginn der Industrialisierung und zumal nach Ende des 2. Weltkrieges derart vordringlich, da nur über eine basale materielle Sicherung eine Inklusion in die Gesellschaft möglich wurde. Wohlstand war der entscheidende Zugangsschlüssel zu den Errungenschaften der modernen Industrialisierung. Der Zugangscode hat sich jedoch verändert.71 Zwar ist eine materielle Mindestausstattung nach wie vor eine Voraussetzung zur Inklusion in die Gesellschaft, jedoch ist dies weitgehend durch den verstetigten Wohlstand und die vorherrschenden Sicherungssysteme und Einrichtungen der Sozialwirtschaft gegeben. Ihre Ausgestaltung und ihr notwendiger Umbau sind Fragen ökonomischer Klugheit (unter der Vorgabe der Effizienz)72, nicht aber eine Aufgabe einer erneuerten sozialpolitischen Theorie und ihrer Prämissen.

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Erhard (1957), S. 14. Eine Tatsache, der sich bereits Ludwig Erhard durchaus bewusst war: „Die Soziale Marktwirtschaft brachte die Befreiung unseres Volkes von wirtschaftlicher Not und sozialem Zwang. Das Programm Wohlstand für alle wurde Realität.“ (Erhard 1965/1988, S. 915, Hervorhebungen im Original). Erhards Projekt der „formierten Gesellschaft“ gleichwie seine „Maßhalteappelle“ können als Reaktion auf die gesicherte materielle Situation Mitte der 1960er Jahre gesehen werden, die zugleich die Frage nach einer umfassenden Gesellschaftspolitik wieder umso vordringlicher erschienen ließ. 72 Siehe hierzu Vanberg (2004b) und Eith/Goldschmidt (2005). 71

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Favorisiert man jedoch eine an den „Gesellschaftszwecken“ ausgerichtete Theorie der Sozialpolitik verschiebt sich der Blickwinkel. Ist der systematische Ort einer Wirtschafts- und Sozialpolitik die gesellschaftliche, konstitutionelle Ebene, so ist die Möglichkeit zur Teilhabe an den Entscheidungsprozessen dieser Ebene das vordringliche Problem einer modernen Sozialpolitik. Wilfrid Schreiber hat hierzu schon Ende der 1950er Jahre in recht optimistischer Weise ausgeführt: „Wenn wir heute noch Sozialpolitik brauchen – und wir brauchen sie in der Tat –, dann müssen wir zumindest eine saubere Zweiteilung vornehmen. Es gilt zu sorgen für eine Fülle von schuldlos Darbenden, von schuldlos in Not Geratenen, von Menschen, die sich tatsächlich nicht selber helfen können. … Das wollen wir tun. Aber ich würde das nicht mehr Sozialpolitik nennen. Zumindest würde ich sagen, das ist nicht mehr der Kernpunkt und das Wesen der Sozialpolitik. Man wird einen deutlichen und sauberen Strich machen müssen zwischen Versorgung und Fürsorge auf der einen Seite und konstruktiver Sozialpolitik auf der anderen. Zukünftige Sozialpolitik wird zu tun haben mit wirtschaftlich gesunden, nicht mehr armen, nicht mehr hilfsbedürftigen Existenzen, die durchaus imstande sind, mit ihrem Lebenseinkommen ihre gesamten Lebensbedürfnisse vom Jahre 0 bis zum Jahre X des Todes zu decken; mit einer Gesellschaft also, die im Grunde die Not, den Mangel, die Armut nicht mehr kennt. Zum Lebensstil der entwickelten industriellen Gesellschaft gehört aber eine Reihe von zweckmäßigen Gemeinschaftsveranstaltungen, und die würde ich als den Kern der zukünftigen Sozialpolitik bezeichnen.“73

Die gesicherte materielle Basis bedeutet also nicht das Ende der Sozialpolitik. Ganz im Gegenteil: Sozialpolitik ist immer politisches Handeln und bedarf der politischen Aktion, der „Gemeinschaftsveranstaltungen“. Die Inklusion jedes Einzelnen war zwar seit jeher die Aufgabe der Sozialpolitik, erlangt aber nach Abschluss des Projektes „Wohlstand für alle“ eine andere Dimension. Gefordert ist weniger eine quantitative als vielmehr eine qualitative Sozialpolitik. In einer modernen Gesellschaft erreicht man die Inklusion in die Gesellschaft nicht allein durch die Sicherung der materiellen Existenz, sondern es bedarf auch der Sicherung der kulturellen Existenz. Qualitative Sozialpolitik geht über die quantitative, rein materielle Absicherung hinaus und muss an den Bedingungen der kulturellen Verfasstheit der Gesellschaft ansetzen. Ziel einer qualitativen Sozialpolitik sollte es sein, jedem Einzelnen die Einbeziehung in die politischen Entscheidungsprozesse zu ermöglichen und ihm/ihr die Chancen, aber auch den Freiraum für ein selbstbestimmtes Leben zu geben. Hierfür gibt es gute sozialwissenschaftliche Gründe.

___________ 73 Schreiber (1959), S. 72 – ohne die von Schreiber vorgelegten Überlegungen hier näher beurteilen zu wollen.

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Die von Tönnies im Generellen und von Zwiedineck-Südenhort für das Feld einer sozialpolitischen Theorie so treffend beschriebene Vergesellschaftung durch den Markt in der Moderne ermöglichte überhaupt erst die angeführten Wohlfahrtssteigerungen. Die Möglichkeit, sich über den Markt zu versorgen, ist aber gebunden an die Möglichkeit, Teil des ökonomischen Systems zu sein: „Jeder muss sich über den Markt versorgen; jeder kann sein Dasein nur durch Einbindung in das ökonomische System sichern. … Der systemischen Verfassung des Marktes fehlt aber, worauf das Subjekt unter dieser Verfassung bei Strafe seines Untergangs angewiesen ist: die Garantie der Inklusion in das ökonomische System. Darin liegt das Problem.“74 Die Inklusion in das ökonomische System gegenüber der Gesellschaft einzufordern ist aber problematisch, weil gegenüber dem a-moralischen, ökonomischen System selbst die Forderung nach Integration nicht moralisch begründet und durchgesetzt werden kann. Hayeks Diktum, dass die „Moral der kleinen Horde“ für die „erweiterte Ordnung“ ungeeignet ist75, ist insofern zuzustimmen, da die Funktionsfähigkeit marktlicher Systeme nicht notwendigerweise auf intersubjektiven, persönlichen Beziehungen und den moralischen Empfindungen der Individuen innerhalb kleiner Gruppen beruht, sondern die Organisation komplexer, moderner Marktgesellschaften weitestgehend systematisch und a-moralisch ist.76 Das Dilemma der modernen Gesellschaft ist gerade in diesem gegenläufigen Befund zu sehen: Zum einen findet die Ausbildung von Moralität zwar im sozialen Prozess der Interaktion immer wieder in der Ontogenese jedes Einzelnen innerhalb der Familie und innerhalb von kleinen Gruppen statt und ist damit ein konstitutiver Bestandteil menschlicher Existenz77, jedoch ist die so ausgebildete (weitgehend auf Gemeinschaft beruhende) Moral kaum ein Strukturelement der Gesellschaft: „Ohne Einbildung der Alterität in die Subjektivität wäre ein soziales Zusammenleben nicht denkbar, ohne soziale Vernunft, Bedingungen des Zusammenlebens Rechnung tragen zu wollen, wäre jede öffentliche Kommunikation sinnlos. Nur, was sich derart der Lebensform des Subjekts eingeschrieben hat, setzt sich nicht deshalb auch schon in die Organisationsform der Gesellschaft um. Die bestimmt sich über ganz andere strukturelle Bedingungen, formiert sich durch Regeln des Marktes und läßt den Subjekten das Nachsehen, sich mit ihrer Moralität in der Gesellschaft wiederzufinden.“78 Die Subjekte können somit als Grenze der Gesellschaft beschrieben werden79, da die Ausbildung des Einzelnen und seiner Subjektivität gebunden ist an die direkte Kommunikation ___________ 74

Dux (2004), S. 292. Vgl. z.B. Hayek (1996), S. 7-26 und (1973-9/2003), insb. S. 239-242. 76 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Dux (2001). 77 Für einen ersten Überblick siehe Dux (2003b). 78 Dux (2001), S. 427. Zu den möglichen Konsequenzen einer solchen Sichtweise für die ökonomische Theorie siehe Goldschmidt/Remmele (2005). 79 Vgl. Dux (2000), S. 92 ff. 75

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und Interaktion mit dem (konkreten) Gegenüber, aber zugleich eingebunden ist in ein umfassenderes soziokulturelles und vor allem ökonomisches System, das den Einzelnen zwar prägt, ihm aber nicht in der Gesamtheit zur Verfügung steht. Andererseits geht das Subjekt nicht in den vorfindlichen Formen und Strukturen auf, sondern ist der eigentlich Handelnde im jeweils historisch und kulturell etablierten System der Gesellschaft.80 Den Vermittlungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft und vornehmlich dem ökonomischen System zu gestalten, ist die Aufgabe einer modernen Sozialpolitik. In concreto bedeutet dies: Die Inklusion in die moderne Gesellschaft ist gebunden an die Teilhabe am Markt. Der Markt als ökonomisches System kann aber gerade diese individuelle Teilhabe nicht garantieren. In der daraus abgeleiteten Kategorie der Inklusion in die Gesellschaft und in das ökonomische System liegt das eigentliche Projekt der Aufklärung und diese Kategorie ist nicht lediglich eine „Notwendigkeit soziologischer Theorie, sondern ein Postulat gesellschaftlicher Praxis“81. Das gesellschaftliche Band der Moderne, die Brücke über unseren „garstig breiten Graben“, ist dann aber nicht die gemeinschaftliche Solidarität der kleinen Gruppe, sondern die strukturelle Inklusion in die Gesellschaft: „Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte.“82 Aus „All inclusive“ wird „All included“. Aus Solidarität wird Gerechtigkeit. Eine Einsicht, die schon Gerhard Weisser treffend beschrieben hat: „Ohne Zweifel hat eine Gesellschaft solidarisch Handelnder einen hohen kulturellen Rang. Aber niemand wird behaupten können, dass unsere prinzipiell marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung auf der Erwartung eines allgemein solidarischen Verhaltens aufgebaut ist. Es läßt sich nur sagen, dass auch der extremste Liberalist diese Ordnung an dem Gebot der Gerechtigkeit mißt. … Die Forderung ‚handele gerecht‘ hat eben einen ganz anderen Inhalt als die Forderung ‚handle solidarisch‘. … Der Staat sollte nur das erzwingen, was die Gerechtigkeit gebietet.“83

Hiermit kommt die Politik ins Spiel, die ihrerseits eben nicht auf Solidarität und Moral aufbaut, sondern den Anforderungen der Gerechtigkeit unterworfen ist bzw. sein sollte. Es muss das Ziel einer integrativen Wirtschafts- und Sozialpolitik in einer modernen Marktwirtschaft sein, Strukturen der Gerechtigkeit, nicht der Moral, in den Rahmenbedingungen systematisch zu verankern. Um ___________ 80

Siehe Dux (2003a), S. 263 f. Kaufmann (1997/2002), S. 250. Hier findet sich auch eine ausführliche Herleitung des Begriffs der Inklusion, insbesondere auch in den Bezügen zu den Soziologien von Parsons und Luhmann. 82 Luhmann (1980), S. 31. Siehe auch Kaufmann (2003), S. 170. 83 Vgl. Dux (2004), S. 274. Für die Genese einer Idee der Gerechtigkeit siehe Dux (2003c). 81

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Karl Homann neu zu formulieren: „Der systematische Ort der Gerechtigkeit in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung.“ Diese Differenz zwischen Moral und Gerechtigkeit hat mehr als nur eine semantische Bedeutung. Die Differenz von Moral und Gerechtigkeit macht es einsichtig, dass es um unterschiedliche Bedingungen und Anforderungen geht, unter denen sich Normativität als Moral einerseits und als Gerechtigkeit andererseits bildet. Der Verpflichtungscharakter von Moral ergibt sich eben nicht aus der rationalen Einsicht in die Vorteilhaftigkeit moralischer Bindungen und kann so auch nicht einfach in eine Anreizethik umgesetzt werden84, sondern Moral ist – wie oben angesprochen – ein notwendiges Phänomen des je individuellen Entwicklungsprozesses im Kontext überschaubarer Beziehungen. Die Forderung nach Gerechtigkeit hingegen beruht gerade auf der aufgeklärten Einsicht, dass moderne gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen nicht auf einen „metaphysischen Rest“ von Moralität gründen, sondern auf Systemzusammenhängen.85 Diese Systemzusammenhänge zu strukturieren und – wo möglich – dem Interesse der Bürger entsprechend zu gestalten, ist die Anforderung einer modernen Gerechtigkeitskonzeption. Mit den Anforderungen der Gerechtigkeit an die Politik ist aber die Strukturebene der gesellschaftlichen Verfassung angesprochen. 86 Die staatliche Aufgabe (ganz im Sinne der ordoliberalen Tradition) liegt dann aber hierin: „Der Staat muss in der Lage sein, dem ökonomischen System von außen Bedingungen seiner Operationalität zu setzen.“87 Dass dies in der Moderne, zumal unter den Bedingungen der Globalisierung, zunehmend schwieriger geworden ist, ist unbestritten. Nichtsdestotrotz bleibt es die zentrale Aufgabe des Sozialstaats. Mittels der Integration in die Gesellschaft, lässt sich nun der Konstruktionsplan für die Brücke von der Sozial- zur Wirtschaftspolitik näher beschreiben. Gelingt es, gesellschaftliche Steuerung eben auch als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und sie nicht in juristisch-etatistische Lösungsansätze einerseits oder in einem universellen Wettbewerbsfideismus andererseits aufzuheben88, ___________ 84

Hier in deutlicher Abgrenzung zu Pies (2000b). Anders als in der Konzeption von Karl Homann ist dann nicht mehr eine als Eigeninteresse rekonstruierte Moral die „Kontrollinstanz“ des Marktes, sondern die aufgeklärte Einsicht in die Forderung nach Gerechtigkeit. Folglich ist es auch nicht die Aufgabe von Institutionen „moralisches Verhalten zu prämieren und unmoralisches Verhalten zu sanktionieren“ (Homann 2004, S. 54) – wobei auch bei Homann ungeklärt bleibt, nach welchem Bewertungsmaßstab dies überhaupt möglich ist –, sondern Institutionen sollten solche Rahmenbedingungen hervorbringen, die es tendenziell jedem Mitglied der Gesellschaft ermöglichen, entsprechend seinen eigenen Zielen und Zwecken zu handeln. 86 Folglich wird ersichtlich, dass die Reformen der sozialen Sicherungssysteme zugleich mit der Reform der politischen „Spielregeln“ verknüpft sind. Siehe hierzu: Wohlgemuth (Hrsg.) (2005). 87 Dux (2001), S. 491. 88 Siehe zu diesem Widerspruch: Kaufmann (1999/2002), S. 262. 85

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sondern im Zusammenwirken verschiedener Steuerungs- und Ordnungsprinzipien anzugehen, können Potentiale für eine umfassende Integration in die Gesellschaft gewonnen werden: „Die ordnungspolitische Fragestellung bezieht sich … auf die Ordnung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen – oder institutionentheoretisch formuliert: sie bezieht sich auf die Klärung des Verhältnisses unterschiedlicher Regelungskomplexe moderner Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt ihrer wechselseitigen Verträglichkeit.“89 Die Instrumente hierfür sind zwar plural (öffentlich-rechtlich, marktwirtschaftlich oder assoziativ), ihre Zielperspektive (die Inklusion des Einzelnen) ist aber einheitlich. Zentrale „Stellschraube“ der Inklusion der Einzelnen in einer modernen Marktwirtschaft ist natürlich die Integration in den Arbeitsmarkt als Zugangsweg zum ökonomischen System. Ohne hier dauerhaft Lösungen anzubieten, wird jede Sozialpolitik scheitern müssen. Darüber hinaus sind es vor allem Fragen der politischen Teilhaberechte, der inneren Befriedung sowie der politischen und schulischen Bildungsmöglichkeiten, die konkret beantwortet werden müssen, um eine Integration des Einzelnen in die Gesellschaft zu ermöglichen.90

VI. Schlussbetrachtungen „Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden?“ – hierauf kann man nur mit einem klaren „Nein“ antworten. Der Versuch, einzelne gesellschaftliche Sektoren wie die Produktion oder den Konsum sozialer Dienstleistungen beharrlich den Bedingungen der Moderne (und das ist das ökonomische System) zu entziehen, würde dauerhaft zu Verwerfungen führen. Auch die soziale Leistungsfähigkeit der Gesellschaft im Sinne gesellschaftlich organisierter Wohlfahrt ist gebunden an die Effizienz des ökonomischen Systems. Entsprechend ist die Durchsetzung dieser Effizienz geradezu die Voraussetzung für ein gesellschaftlich hohes Niveau sozialer Dienstleistungen. Das Zusammenspiel zwischen Leistungsträgern, Kostenträgern und Leistungsempfängern in der Sozialwirtschaft erfordert die Anerkenntnis dieser funktionalen Effizienz. Jedoch ist dieser funktionalen Effizienz der Ökonomie der „Gesellschaftszweck“ entgegenzustellen. Das Argument für eine ökonomisch effiziente Ausgestaltung sozialer Dienstleistungen ergibt sich eben nicht aus der ökonomischen Effizienz selbst („Effizienz als Norm“), sondern aus der Möglichkeit, dem Einzelnen bestmöglich zu dienen („Effizienz als Instrument“). Wo sich Widersprüche zwischen diesen Rationalitäten auftun, gilt es zunächst, ___________ 89 90

Kaufmann (1999/2002), S. 287. Siehe z.B. Zintl (2000).

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den Widerspruch wahrzunehmen und ihn schöpferisch zu erörtern. „Wissenschaftsökonomisch“ ist eine solche Vorgehensweise – im Vergleich zur Eleganz einer „produktiven Sozialpolitik“ und „orthogonalen Positionierung“91 – sicherlich enttäuschend, für eine realistische Konzeption von Sozialpolitik und Sozialwirtschaft aber wohl unausweichlich. „Gibt es einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen ‚sozialethischer‘ und ‚ökonomischer‘ Perspektive?“ – hierauf kann man nur mit einem klaren „Ja“ antworten, zumindest solange man mit der sozialethischen Sicht eine explizit moralische Dimension verbindet. Unter den Bedingungen der Moderne haben sich der moralische Anspruch, jeweils ausgebildet in den kleinen Gemeinschaften des alltäglichen Lebens, und die systemischen Anforderungen der Marktgesellschaft auseinander entwickelt. Wirtschaft und Moral finden sich in verschiedenen Lebensbereichen wieder, ihr Zusammentreffen ist nicht mehr mit Notwendigkeit gegeben. An die Stelle der Moral tritt die Gerechtigkeit als normatives Postulat und aufgeklärte sozialethische Perspektive. In der Forderung nach Gerechtigkeit liegt der Vermittlungsprozess zwischen den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hierfür gilt es, vermehrt die Strukturen der Gesellschaft und ihre Begründungsstrukturen in den Blick zu nehmen und sie zur Zielgröße des politischen Prozesses werden zu lassen. So wie im Rahmen einer quantitativen Sozialpolitik soziale Sicherung gerade durch die politische Sicherung der Effizienz des ökonomischen Systems gewonnen wurde, können die Bedingungen des ökonomischen Systems (namentlich Rechtsgleichheit und Privilegienfreiheit) nur durch eine dauerhaft qualitative Sozialpolitik und die Inklusion des Einzelnen in das ökonomische System sichergestellt werden. Hierbei mag eine Perspektive helfen, die – im Anschluss an das Projekt der Freiburger Schule – als „Sozialpolitik mit dem Markt“ vorgestellt wurde. Diese Sichtweise scheint im Übrigen mittlerweile auch im Rahmen einer theologischen Sozialethik ihren Platz gefunden zu haben. Das im Jahr 2003 von der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der deutschen Bischofskonferenz vorgelegte Impulspapier unterstreicht den hier skizzierten Ansatz: „Ein integrales Verständnis von sozialer Politik bedeutet zweierlei: Erstens muss alles, was gegenwärtig als ‚Sozialpolitik‘ verstanden wird, an seinen Folgen für die Menschen, vor allem für die Ausgeschlossenen und kommenden Generationen, gemessen werden – und nicht nur an der guten Absicht oder an der Binnenlogik der Systeme. … Zweitens müssen alle jene Politikfelder zur Sozialpolitik in Bezug gesetzt werden, die außerhalb der traditionellen Sozialpolitik angesiedelt sind, die aber

___________ 91

Siehe Pies (2000a).

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für die soziale Entwicklung viel entscheidender sein können als vieles, was innerhalb der Sozialpolitik mit viel Aufwand gepflegt wird.“92

Auf Seiten der Sozialethik wäre damit ein Ansatz eingefordert, der als Ordnungsethik zu entwickeln wäre. Ein Projekt, dem ich hier freilich nicht weiter nachgehen kann.93 Um es zusammenzufassen: Eine Brücke über den „garstig breiten Graben“ wird nur dann gesellschaftliche Stabilität besitzen, wenn sie sich der sorgsamen Analyse des sozialwissenschaftlichen „Ingenieurs“ sicher sein kann und weder den moralisierenden Propheten noch den ökonomistischen Demagogen folgt: „Die Mannigfaltigkeiten der Ordnungsformen, der Zusammenhang aller ökonomischen Erscheinungsformen und die Interdependenz der Ordnungen sind bei jedem wirtschaftspolitischen Akt wesentlich. Sie durch ‚Propheten‘ oder ‚Demagogen‘ lösen zu lassen, ist ebenso klug, wie den Bau von Brücken oder Maschinen ‚Propheten‘ oder ‚Demagogen‘ zu übertragen.“94

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___________ 92

Deutsche Bischofskonferenz (2003), S. 22. Für einen ersten Entwurf siehe Glatzel (2000). 94 Eucken (1952/2004), S. 341. 93

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Rationale Sozialpolitik: Effizienz und das Verfassungsprinzip des Sozialstaates – Korreferat zu Nils Goldschmidt – Von Anne van Aaken

I. Einleitung Nils Goldschmidt spricht in seinem Aufsatz ein in der aktuellen politischen Diskussion überaus brisantes und konfliktträchtiges Thema an: In der Tat scheint es manchmal so, als ob es einen unüberbrückbaren Graben zwischen den Verfechtern einer marktwirtschaftlich geordneten Sozialpolitik und den Verfechtern einer „sozialethischen“ und solidarischen Sozialpolitik gebe. Zugespitzt kann der Konflikt so formuliert werden: Wie viel lassen wir uns das Sozialsystem kosten? Eine solche Frage ist zwar berechtigt, aber nicht zielführend gestellt – dies macht der Beitrag von Goldschmidt überaus deutlich. Denn eine unversöhnliche und statische Gegenüberstellung solidarischer und ökonomischer Ziele und/oder Mittel ist nicht konstruktiv. Die Problematik wird erheblich entschärft – wenn auch nicht völlig gelöst – wenn, wie Goldschmidt es vorschlägt, eine Sozialpolitik mit dem Markt angestrebt wird. Dies bedeutet für ihn, dass sowohl eine sozialethische als auch eine ökonomische Perspektive in der Sozialpolitik vertreten sein sollte. Die von Goldschmidt geforderte Rückbindung der praktischen Diskussion zur Sozialpolitik etwa in den Bereichen Pflege, Gesundheitsversorgung oder Ausbildung an methodische Grundlagen ökonomischen, staats- und sozialphilosophischen und verfassungsrechtlichen Denkens erlaubt es, systematisch über Gemeinsamkeiten und Dissens zu reflektieren und Lösungen zu finden. Der Kommentar will die Thesen Goldschmidts teilweise kritisch beleuchten, teilweise weiterführende oder präzisierende Vorschläge machen und Brücken zur verfassungsrechtlichen Diskussion schlagen. Daher soll in diesem Kommentar zunächst auf die Nutzung von Marktmechanismen als Sozialtechnik (Effizienz als Instrument) und die zugrunde liegenden Verhaltensannahmen (II.) eingegangen werden, um dann die Frage der Zielbestimmung der Sozialpolitik über die Regelsetzungsebene in einen verfassungsrechtlichen Rahmen einzubetten.

Anne van Aaken

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In diesem Rahmen wird auch das Anliegen Goldschmidts des „all included“ statt „all inclusive“ diskutiert (III.). Der letzte Abschnitt zieht ein Fazit (IV.).

II. Marktmechanismen als Sozialtechnik oder „Effizienz als Instrument“: Ja, aber welches Verhaltensmodell? Sozialpolitik – so Goldschmidt – sollte weder für noch gegen den Markt, sondern mit dem Markt gemacht werden; sozialethische und ökonomische Perspektive sollten beide gleichermaßen in der Sozialpolitik vertreten sein. Dies ist – unter den Bedingungen der Knappheit – wohl Konsens, der genaue Stellenwert der jeweiligen Perspektiven bleibt jedoch weiterhin umstritten. Goldschmidt schlägt nun vor, den Marktmechanismus als Sozialtechnik zu verwenden, also „Effizienz als Instrument“ einzusetzen bei gleichzeitiger Zielbestimmung der Sozialpolitik über die Regelsetzungsebene. Bei dieser Forderung lehnt er sich an Karl Homann an,1 der die Rahmenordnung als den systematischen Ort der Moral in einer Marktwirtschaft nennt, während auf der reinen Handlungsebene Anreizkompatibilität gefordert wird, so dass auf Individualmoral im Idealfall nicht zurückgegriffen werden muss. Grundlegend dafür ist die Aufdeckung und Behebung von Dilemmastrukturen in den Handlungssituationen der Individuen.2 An dieser Stelle bleiben Homann wie auch Goldschmidt jedoch stehen: weder die Handlungssituationen noch die Verhaltenstheorie werden genauer spezifiziert. Genau dies aber kann für eine rationale Sozialpolitik problematisch sein. Denn m.E. ist Homann nicht uneingeschränkt beizupflichten, wenn er zur Abschätzung der Effektivität der Moral bzw. (in der Sozialpolitik) des Sozialrechts allein die Anreizmethode, die als relevantes Verhaltensmodell ein vollständig rationales Individuum im Sinne von „rational choice“ als Heuristik annimmt, als adäquat ansieht.3 Zwar ist ein Abstellen auf Anreizkompatibilität von Regeln ein erster notwendiger Schritt, jedoch ist er gerade in der Frage der Sozialpolitik nicht hinreichend und kann zu Fehlern im „Design“ führen. Denn die Frage nach der Anreizkompatibilität von Regeln wird damit primär zu einer positiven Frage nach dem zweckmäßigen Verhaltensmodell zur Untersuchung der Anreizkompatibilität von sozialpolitischen Regeln. Eine reine Heuristik von ___________ 1

Goldschmidt (2007), Abschnitt II. Homann (1999), S. 87: „Kooperationsgewinne werden in Dilemmastrukturen also über die (Um-)Gestaltung der Situation und der von ihr ausgehenden Anreize angeeignet. Recht und Moral lassen sich in Dilemmastrukturen nur über situative Bedingungen sicherstellen und nicht über persönliche Qualitäten der einzelnen Akteure.“ (Hervorhebung im Original). 3 Aaken (2003), S. 73 ff., 82 ff. sowie 238 ff. zur Ordnungsökonomik. 2

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Rationalität wird dem nicht gerecht; notwendig ist ein realistisches Verhaltensmodell. In der Sozialpolitik, so steht zu vermuten, kommen neben klassischen Marktversagensgründen viele der sog. Anomalien4 zum Tragen, die mittlerweile experimentell gut untersucht und auch unter dem Stichwort der Verhaltensökonomik bekannt sind, die sich auf Erkenntnisse der experimentellen Ökonomik und der kognitiven Psychologie stützt. Solche Anomalien können sowohl die Leistungserbringer als auch die Leistungsempfänger auf dem Sozialmarkt betreffen, wobei jeweils die genauen Rahmenbedingungen des Marktes sowie typischerweise auftretende Anomalien zu eruieren sind, um so die Anreizkompatibilität von Regeln zu ermitteln.5 Dabei können grob zwei Abweichungen vom Standardmodell der rationalen Wahl unterschieden werden: zum einen kognitive Abweichungen, zum anderen motivationale Abweichungen. 6 Beide, so steht zu vermuten, sind bei Sozialmarktteilnehmern zu beobachten. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass bei einer Sozialpolitik, die den Marktmechanismus nutzt, eine Berücksichtigung anzumahnen ist, da sonst möglicherweise die Ziele der Sozialpolitik gerade nicht erreicht werden. Dies aber würde ihre Rationalität reduzieren. Hier sollen nur einige Anomalien kurz erwähnt werden. Kognitive Defizite wie die systematische Schwierigkeit vieler Individuen, objektive Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren sowie Entscheidungen unabhängig von der spezifischen Beschreibung und Darstellung der Entscheidungsalternativen (sog. „Framing-Effekt“) zu treffen, können gerade im Pflegebereich relevant sein. Entscheidungen hängen insbesondere davon ab, ob Situationen negativ oder positiv dargestellt werden. So sind denn auch die Entscheidungen bei ärztlichen Eingriffen ein prominentes und gut untersuchtes Beispiel.7 Auch sog. Referenzpunkte beeinflussen individuelle Entscheidungen. Der Unterschied zur klassischen Erwartungsnutzentheorie liegt darin, dass Gewinne und Verluste und damit Nutzen und Kosten nicht absolut, sondern nur in Bezug auf einen Referenzpunkt wahrgenommen werden.8 Menschen bewerten negative Abweichungen vom Referenzpunkt signifikant höher als positive Ab___________ 4

Der Begriff der Anomalie wird hier im Kuhnschen Sinne verwendet, d.h. damit werden Beobachtungen bezeichnet, die im Widerspruch zum herrschenden Paradigma des vollständig rationalen, ausschließlich am Eigeninteresse orientierten Individuum stehen. 5 Frey/Eichenberger (1989); Frey/Eichenberger (1994). 6 Zu einem Literaturüberblick der Verhaltensökonomik, siehe Englerth (2004) m.w.N. 7 Siehe dazu näher Rabin (1998), 36f. mit Darstellung der Experimente und w.N. Siehe die Experimente mit Medizinstudenten bei Tversky/Kahnemann (1981) und Tversky/Kahnemann (1987). 8 Kahnemann/Tversky (1979) sowie Tversky/Kahnemann (1981).

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weichungen (sog. Verlustaversion).9 Dies ist in zweierlei Hinsicht erheblich. Zum einen stellt sich die Frage, welche Situationen oder Ereignisse den Referenzpunkt bestimmen und zum anderen stellt sich die Frage, wie sich ein Referenzpunkt ändert. Denn Menschen reagieren mithin mehr auf eine Veränderung des status quo als auf ein absolutes Niveau. Primärer Nutzenträger sind Ereignisse in einem dynamischen Prozess, nicht Zustände. Probleme der Selbstkontrolle, also zeitinkonsistentes Verhalten10 ist, wird das formale Rationalitätsmodell zugrunde gelegt, zwar keine Anomalie im engeren Sinne, da immer nur die Rationalität einer Entscheidung in einem Zeitpunkt betrachtet wird. Dennoch ist dieses Phänomen gerade im Sozialmarkt relevant, da es oftmals um zukunftsorientierte Vorsorgeentscheidungen geht. Auch motivationale Abweichungen von der Heuristik des Rational-ChoiceModells können relevant werden. Fairnesspräferenzen von Menschen und altruistisches Verhalten sind experimentell bestens untersucht.11 Wenn diese gerade im sozialpolitischen Bereich erwünscht sind, dann muss etwa gefragt werden, wie Eigennutzverhalten und Mangel an Vertrauen12 gemildert und die (strategische) Interaktion der Marktteilnehmer dadurch verändert wird. Ein beobachtbarer „crowding out“-Effekt von Fairnesspräferenzen und altruistischen Motiven durch Marktmechanismen ist nur ein Beispiel für die mögliche falsche Setzung von Anreizen im Sozialmarkt.13 Schon diese kurze ad hoc Auswahl an Anomalien zeigt deutlich, wie diese die Anreizkompatibilität von Regeln beeinflussen können. Ohne hier im Detail darauf eingehen zu können, soll nur dafür plädiert werden, bei der Frage der Effizienz als Instrument bzw. der Nutzbarmachung des Marktmechanismus eine Verständigung über adäquate Verhaltensannahmen herbeizuführen, um so Anreizkompatibilität von Regeln marktangemessen herbeiführen zu können.

III. Zielbestimmung auf der Regelsetzungsebene: Was sagt das Verfassungsrecht? Aus juristischer Perspektive, die durch Normenhierarchien geprägt ist, erscheint es ganz natürlich, Zielbestimmungen – juristisch gesprochen: Prinzipien14 – auf einer obersten Regelebene zu verorten. Dies verlangt von Juristen ___________ 9

Tversky/Kahnemann (1991). Zu einer Übersicht, siehe O’Donoghue/Rabin (1999). 11 Falk (2003). 12 Zu Vertrauen in der Ökonomik und im Recht, siehe Engel (1999). 13 Frey/Bohnet (1994); Frey/Jegen (2001). Das Beispiel des Blutmarktes ist hierbei gut bekannt, vgl. Arrow (1972) mit Hinweis auf die originäre Studie von Titmuss. 14 Zur Prinzipienlehre in der Rechtswissenschaft siehe Alexy (1995, 1996, 2003). 10

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den Blick auf die Verfassung. An dieser Stelle soll daher von der ordnungsökonomischen und gesellschaftsphilosophischen Zieldiskussion in der Sozialpolitik (I.) eine Brücke zur verfassungsrechtlichen Ebene geschlagen werden und erstere auf ihre verfassungsrechtliche Kompatibilität kursorisch geprüft werden. In diesem Rahmen wird auch die Forderung von Goldschmidt, von „all inclusive“ zu „all included“ überzugehen, auf ihre verfassungsrechtliche Kompatibilität geprüft (II.).

1. Die privilegienfreie Sozialpolitik: Utopie oder Wirklichkeit? Goldschmidt ist zuzustimmen, wenn er Homann für die erkenntnistheoretisch unzureichende Begründung der Ziele der Sozialpolitik kritisiert, jedoch bleiben auch bei der von ihm präferierten Prozeduralisierung der Zielerkenntnisgewinnung einige Fragen offen. Die Zielbestimmung der Sozialpolitik – so Goldschmidt – ist auf der Regelsetzungsebene vorzunehmen, allerdings ist eine bestimmte Ausgestaltung der Sozialpolitik damit nicht vorgegeben.15 Vielmehr verschiebt sich der Blick auf die Wahl des institutionellen Rahmens, die durch gesellschaftliche Kollektiventscheidung erfolgt und damit weg von materiellen Zielvorgaben der Sozialpolitik hin auf zieloffene Verfahren, die bestimmten Bedingungen genügen müssen. Goldschmidt nennt in Anlehnung an Vanberg Privilegienfreiheit und Rechtsgleichheit als Vorraussetzung, um Sonderinteressen auszuschließen. Hier aber stellen sich sogleich zwei Fragen. Erstens: Ist diese formale Auffassung von gleichen Teilnahmebedingungen an dem Verfahren zur Regelsetzung tatsächlich hinreichend, um Privilegieninteressen auszuschließen? Zumindest de lege lata ist die formale Rechtsgleichheit gegeben und formal liegt Privilegienfreiheit ebenfalls vor. Wenn also diese Voraussetzungen hinreichend seien sollen, um eine Sozialpolitik im Interesse aller herzustellen, dann müsste ganz panglossianisch darauf geschlossen werden, dass eine solche Sozialpolitik bereits besteht: denn andere Kriterien haben wir dann nicht, um die Sozialpolitik zu beurteilen. Hier sollte daher die Frage gestellt werden, ob eine reine Prozeduralisierung ohne irgendein substantielles Kriterium ausreicht, um eine „gerechte“, zum Wohle aller wirkende Sozialpolitik16 zu sichern. Dies kann hier ebenfalls nicht weiter ausgeführt werden, verwiesen sei aber auf die Diskussion dieses Problems bei Vanberg17 und in der Diskurstheorie als proto___________ 15

Goldschmidt (2007), Abschnitt IV. So die wohl implizite Definition von Gerechtigkeit, die Goldschmidt (2007), Abschnitt IV verwendet. Hier hätte man sich eine genauere Begriffsdefinition gewünscht. Unklar bleibt auch, wie Gerechtigkeit von Moral unterschieden wird, wenn Goldschmidt in Abschnitt V Karl Homann umformuliert und die Moral in der Rahmenordnung durch Gerechtigkeit ersetzt wissen möchte. 17 Vanberg (1994), S. 214: „(O)ne cannot give normative content to the notion of voluntary choice without introducing at some point in the chain of procedural argument, 16

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typische prozedurale Gerechtigkeitstheorie.18 Klar ist jedenfalls, dass eine Prozeduralisierung sehr voraussetzungsreich sein kann, um die gewünschte Sozialpolitik zum Wohle aller herbeizuführen. Diese Voraussetzungen müssten dann genauer thematisiert werden.

2. Sozialstaatsprinzip und Inklusion Trotz der erkenntnistheoretisch inhaltlichen Unbestimmtheit der Ziele der Sozialpolitik wird im nächsten Abschnitt Inklusion als Ziel der Sozialpolitik (Übergang zu „all included“) von Goldschmidt gesetzt. Ohne diese m.E. sinnvolle Zielbestimmung angreifen zu wollen, hätte man sich dennoch gewünscht, zu erfahren, auf welcher Basis diese Inklusionsforderung beruht. Alternativ für diese Basis, aber nicht prinzipiell ersetzend, möchte ich hier die Brücke zum verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG schlagen, welches die Forderung nach Inklusion im Grundsatz unterstützt. Zudem leistet der Rückgriff teilweise Hilfestellung bei der Beantwortung von Fragen, die bei Goldschmidt offen bleiben. Ziel einer qualitativen Sozialpolitik, so Goldschmidt, sollte die Ermöglichung des Einbezugs des Einzelnen in politische Entscheidungsprozesse sein. Juristisch betrachtet handelt es sich hierbei um das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Beteilung an politischen Entscheidungsprozessen vollzieht sich in der repräsentativen Demokratie durch Wahlen und wäre damit eher der Frage der Regelsetzung („choice among constraints“) zuzuordnen. Dies allein wäre daher wohl eine unzureichende Sozialpolitik; vielmehr hätte hier eine genauere Präzisierung des Einbezugs (auf welche Weise?) in Entscheidungsprozesse (welche genau?) hilfreich sein können. Auch die Inklusion des Einzelnen in das ökonomische System wird von Goldschmidt genannt. Wenn Sicherung des Zugangs zur Gesellschaft die Sicherung des Zugangs zum ökonomischen System ist, ist dann Sozialpolitik gleichzusetzen mit Arbeitsmarktpolitik? Was aber geschieht dann mit Menschen, die keinen Zugang mehr haben, also endgültig aus dem System Ausgeschiedene (Alte, dauerhaft Kranke)? Oder meint Goldschmidt die Teilnahme als Konsument? Ist es dann mehr als „Wohlstand für alle“ und doch wieder eine Rückkehr zu quantitativer Sozialpolitik? Ebenfalls aufgeführt als Teil der qualitativen Sozialpolitik wird die Sicherung der kulturellen Existenz: bedeutet dies die Ausweitung der Mittel zur Ermöglichung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben? Wenn dem aber so ist, ___________ some substantive criterion of ,goodness‘, a criterion that is more than a reiteration of the argument that the process is good to the extent that it is in accordance with rules that are the outcome of a ,good process‘.“. 18 Zu prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, siehe Tschentscher (2000), zu der Problematik in Verbindung mit der Ordnungsökonomik, siehe Aaken (2004).

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kann dies eine sehr weitgehende Sozialpolitik bedeuten, die über das Existenzminimum weit hinausgeht. Auch hier wäre ein Rückgriff auf philosophische Positionen, etwa aristotelische Ansätze,19 zur Begründung notwendig gewesen. Das verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip ist in dem Sinne umfassend, dass es in alle Lebensbereiche und daher auch in alle Rechtsbereiche hineinreichen kann. Es bleibt aber Prinzip und kann daher mehr oder weniger realisiert werden: in erster Linie ist es ein Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber im Hinblick auf die Schaffung der existentiellen Voraussetzungen für die Entfaltung von Freiheit.20 Typische Erscheinungsformen des Prinzips sind die Leistungsverwaltung und die Daseinsfürsorge,21 insoweit also auch der Pflegebereich. In einem ersten Schritt gibt das Prinzip, weil Prinzip, jedoch keine individuellen Rechtsansprüche. Das Grundgesetz verzichtet auch auf soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Wohnung, die weithin als Staatszielbestimmungen verstanden werden.22 Stattdessen liest das Bundesverfassungsgericht, sollen Individualansprüche begründet werden, das Sozialstaatsprinzip im Zusammenhang mit Grundrechten.23 Zielgröße des Sozialstaatsprinzips ist unter dem Grundgesetz insoweit das Individuum als Grundrechtsträger: Hier kann eine Kongruenz der Goldschmidt’schen Argumentation mit dem verfassungsrechtlichen Prinzip festgestellt werden. Gleiches gilt, zumindest teilweise, für das Plädoyer Goldschmidts für den Übergang von einer quantitativen („all inclusive“) zu einer qualitativen Sozialpolitik.24 Zuzustimmen ist ihm bei der Aussage, dass eine reine materielle Grundsicherung des Existenzminimums nicht ausreichen mag, denn diese bleibt jedenfalls conditio sine qua non für die Inklusion des Einzelnen in die Gesellschaft.25 Wenn Sozialpolitik aber mehr sein soll als diese Grundsicherung, dann stellt sich die Frage, was genau qualitative Sozialpolitik bedeutet. ___________ 19

Ein Hinweis auf Sen (1997); Sen (1999) hätte nahe gelegen. BVerfGE 1, 97 (105). 21 BSGE 10, 97 (100): Schutz der sozial und wirtschaftlich Schwächeren; BVerfGE 5, 85 (198): Abbau sozialer Ungleichheit. Die genaue Ausgestaltung bleibt aber der legislatorischen Ausgestaltung überlassen; BVerfGE 8, 274 (329); 27, 253. 22 Statt vieler Hesse (1995), Rdnr. 208. 23 Etwa BVerfGE 82, 60 (80). 24 Goldschmidt (2007), Abschnitt V: „Gefordert ist weniger eine quantitative als vielmehr eine qualitative Sozialpolitik. In einer modernen Gesellschaft erreicht man die Inklusion in die Gesellschaft nicht allein durch die Sicherung der materiellen Existenz, sondern es bedarf auch der Sicherung der kulturellen Existenz.“ 25 BVerfGE 82, 60 (80): „Angesichts seiner (des Sozialstaatsprinzips; Anm. d. Verf.) Weite und Unbestimmtheit lässt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in deinem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft.“. 20

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Trotz aller Unbestimmtheit des Sozialstaatsprinzips, möchte ich hier auf die Auslegung durch das BVerfG zurückgreifen, um dem Begriff der qualitativen Sozialpolitik ein wenig mehr Kontur zu geben. Wie bereits oben ausgeführt, ist die Sicherung des Existenzminimums conditio sine qua non. Sozialstaatsprinzip kann aber auch als Herstellung von Chancengleichheit verstanden werden. Chancengleichheit aber soll gerade die Möglichkeit der Inklusion oder Teilhabegewährung sichern. Dies betrifft gerade auch die Chancengleichheit in der Bildung und den Zugang zu Bildungsstätten.26 Inklusion wird auch gesichert, wenn das Gericht minimalen Mieterschutz oder Prozesskostenhilfe auf das Sozialstaatsprinzip stützt. Prozesskostenhilfe etwa sichert die Möglichkeit der Teilnahme an Marktprozessen durch Herstellung von Waffengleichheit bei der Rechtsausübung. Eine ganz andere Art der Teilhabegewährung und Inklusion im Sozialmarkt ist die Möglichkeit der Betroffenenbeteiligung, insbesondere der Leistungsempfänger. Dabei geht es nicht um Teilhabe an politischen Prozessen, sondern vielmehr um die Teilhabe und die Möglichkeit der Stimmerhebung in dem Marktprozess bzw. dem Prozess der Leistungserstellung selbst. Hier kann es nur darum gehen, den Individuen, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen müssen, die Möglichkeit zu geben, Widerspruch zu erheben, da sie in aller Regel nicht abwandern können. Dies ist mehr als ein politisches Partizipationsrecht welches sich in Wahlen realisiert (und den Rahmen setzt), Konsumentenpräferenznachfragemöglichkeiten sind Wahlmöglichkeiten innerhalb des Rahmens der Sozialpolitik.

IV. Fazit Eine rationale Gestaltung von Sozialpolitik setzt die Aufarbeitung methodischer Grundfragen voraus. Eine solche Aufarbeitung ist auch notwendig, um sich Klarheit über Dissens und Konsens im Bereich der Sozialpolitik zu verschaffen. Dafür bietet der Beitrag von Goldschmidt einen ersten Schritt, dessen Grundanalyse ich teile. Jedoch bleiben einige Fragen offen, die weiterer Klärung bedürfen. Dies betrifft sowohl die Frage nach der Sozialtechnik; eine primär positive Frage, bei der der Einbezug der neueren verhaltensökonomischen Erkenntnisse gerade im Sozialmarkt als notwendig erscheint, um eine rationale Sozialpolitik durch angemessene Anreizsysteme zu sichern. Im Bereich der Zielbestimmung der Sozialpolitik kann ein Blick auf das Verfassungsrecht, wenn auch nur in gewissem Umfang, zur Klärung beitragen. Sozialpolitik ist ___________ 26 So BVerfGE 33, 303 in dem Numerus Clausus Urteil. Vgl. auch Jarass/Pieroth (2004), Art. 20, Rdnr. 107a.

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dann rational, wenn die gesellschaftlich konsentierten und verfassungsrechtlich festgeschriebenen Ziele durch den Einsatz adäquater Instrumente verfolgt werden.

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Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen ,sozialethischer‘ und ‚ökonomischer‘ Perspektive? – Korreferat zu Nils Goldschmid – Von Jens Kreuter

I. Gibt es einen unüberbrückbaren Graben zwischen ‚sozialethischer‘ und ‚ökonomischer‘ Perspektive? Wenn eine verengte Perspektive sowohl von Sozialethik als auch von Ökonomik zugrunde gelegt werden würde, dann gäbe es diesen unüberbrückbaren Graben. Beide Disziplinen haben sich aber über solche verengten Formen hinausentwickelt und liegen heute in gereifteren Formen vor, so dass es an der Voraussetzung des formulierten Konditionalsatzes und damit auch an seiner Konsequenz fehlt. Zum Konsens jedenfalls in der theologisch begründeten Sozialethik zählt heute die Forderung, unter möglichst optimalem Ressourceneinsatz das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Dieser Satz dürfte gleichzeitig ein Grundanliegen der Ökonomik formulieren. Die Begründung kann sich beschränken auf einen Hinweis auf die biblischen Schöpfungsgeschichten mit den Verweisen auf den Auftrag an den Menschen, den Garten und die Welt insgesamt zu bebauen und damit auch zu pflegen. Unter möglichst optimalem Ressourceneinsatz das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, ist ein ethischer Wert. Während kein Theologe, kein Sozialethiker diesem Ziel widersprechen wird, wird auch kein Ökonom mehr die Frage, welche Ressourcen für ein Ziel eingesetzt werden, auf Produktionsmittel in einem ganz klassischem Sinne, also auf Kohle, Stahl und Arbeit verengen, sondern ohne weiteres zugestehen, dass auch gesellschaftliche Ressourcen eine Rolle spielen. Damit deckt sich der Graben von beiden Seiten soweit zu, dass er ohne größere Gefahren auch überschritten werden kann.

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II. Kann beziehungsweise soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden? Auch der Begriff des Marktes hat sich gewandelt, ist gereift. Einen völlig freien, unkontrollierten Markt gibt es in so gut wie keinem Bereich – wenn es ihn je gegeben haben sollte. Im Gegenteil werden Problemanzeigen vielfach von der entgegen gesetzten Seite des Spektrums formuliert: Der Markt sei überreguliert. Jeder Markt hat und braucht nicht nur Regeln und Regulierungen, sondern auch eine Ethik. Insofern ist es keineswegs nur eine sozialethische oder gar nur theologische Forderung, dass einem liberalistisch freien, unregulierten, ungeregelten, ethikfreien Markt Sektoren entzogen werden müssen. Einen solchen Markt gibt es aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Europas nicht, so dass die eigentlich spannende Frage ist, wie differenziert dieses Regelwerk, diese Ethik sein muss. Ein zentrales Problem in diesem Zusammenhang ist die internationale Dimension. Die politische Diskussion ist wegen der gegebenen Regulierungsmöglichkeiten in sozialpolitischen Fragen ganz auf den Nationalstaat bezogen, die Handlungsmöglichkeiten der Akteure auf beiden Seiten transzendieren diesen Raum jedoch schon heute. In den Handelsmärkten ist die Internationalisierung schon viel weiter fortgeschritten als bei den für die Strukturierung dieser Märkte eigentlich vorgesehenen Instrumenten und Institutionen. Es ist dringlich zu klären, wie es nicht nur im Bereich des Sozialen zu Regeln und Regulierungen kommen kann, die nicht auf nationalstaatliche Mechanismen oder Strukturen beschränkt sind.1 Unabhängig von der genauen Ausgestaltung des Marktes wird der Wettbewerbsgedanke als eine Methode zur Verbesserung der Strukturen und zur Motivation von Akteuren stets eine große Rolle spielen. Insofern wird kaum ein Sektor dem Markt als Methode entzogen bleiben können, wohl aber einem ungeregelten Markt als Institution.

III. Zur kirchlichen Perspektive 1. Ausgangspunkt einer kirchlichen Positionierung muss die ethische Perspektive sein, und insofern die Definition eines sozialpolitischen Zieles. Auf welchem Weg dieses Ziel erreicht wird, ist nicht die primäre Frage kirchlichen Redens und Handelns. Die Methode des Wettbewerbs kann daher durchaus ein möglicher Weg zur Erreichung sozialer Ziele sein. Welches diese Ziele im Einzelnen sind, wäre ausführlich zu diskutieren und kann hier nicht dargestellt ___________ 1 Über eine exzellente Problembeschreibung enthält der Bericht der COMECE (2001) sehr bedenkenswerte Lösungsansätze.

Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden?

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werden. Die Formulierung der Forderung des Schutzes der Schwachen dürfte eine Zusammenfassung und Zuspitzung sein, die eine grobe Richtung weist. 2. Aus ecclesiologischen Gründen braucht Kirche als Wesens- und Lebensäußerung diakonisches und caritatives Handeln.2 In dieser Feststellung steckt allerdings heute für die innerkirchliche Diskussion beachtliches Konfliktpotential, denn kirchliche Strukturen auf allen Ebenen hatten in den letzten Jahren eine klare Tendenz, sich aus haftungsrechtlichen Gründen und Gründen der Kompetenz von ihren diakonischen Einrichtungen formal zu trennen. Die Einrichtungen und Werke sind inzwischen fast alle in die Selbständigkeit entlassen und geschickt worden. Es wird nur noch wenige Jahre dauern, bis die „verfasste“ Kirche erstaunt und erschreckt feststellen wird, dass sie keine diakonische Einrichtung mehr in eigener Trägerschaft hat, sondern dass es nur noch gGmbHs etc. gibt, bei denen ein kirchlicher Vertreter in einem Kuratorium sitzt. 3. Hauptgegenstand der zur Zeit sehr intensiv geführten Diskussion ist das unternehmerische Handeln der Kirche. Meine persönliche Überzeugung ist es, dass die Existenz eines einzelnen diakonischen oder caritativen Unternehmens als solches kein kirchliches Anliegen sein kann und darf. Wenn es so kommen sollte – und das scheint für den Pflegesektor in Ballungsräumen nicht auszuschließen zu sein –, dass andere Anbieter eine mindestens ebenso gute Leistung zu einem ebenso guten Preis erbringen, wäre es in erhöhtem Maße begründungsbedürftig, wenn Kirche Steuergelder oder Sozialtransfergelder oder auch Kirchensteuergelder nur zur Bestandssicherung ihrer nicht besseren aber teureren Einrichtungen einfordert. Gegen diese Überlegung gibt es allerdings zwei gewichtige Gegenargumente: Das erste ist die Fürsorge für die Mitarbeitenden. Auch mit Blick auf die öffentliche Diskussion darf dies nicht unterschätzt werden. Wenn Kirche Pflegeeinrichtungen schließt und Mitarbeitende entlässt, führt dies in der Regel zu erheblichen Protesten. Wird diese Schließungsmöglichkeit aber ausgeschlossen, wird damit faktisch der BAT auf einen gewissen Bekenntnisstand erhoben und werden einseitig diejenigen Mitarbeitenden geschützt, die jetzt eine Stelle haben. Das zweite Gegenargument ist die Erwartungshaltung der Mitglieder, der Glieder der Kirche. Es gibt gar nicht so wenig Menschen, die sagen: „Ich habe mein Leben lang Kirchensteuer gezahlt, ich will im Alter jetzt auch vernünftig von der Kirche gepflegt werden. Warum habt ihr das, was bei mir in der Straße war, für das ich meine ‚Anzahlung‘ geleistet habe, warum habt ihr das zugemacht?“ Und selbst das Argument; dass für weniger Geld eine bessere Leistung bereitstünde, überzeugt dann nicht. Unter dem Aspekt der Mitgliederbindung könnte es hier also doch einen guten Grund für die Unterstützung eines defizitären „Unternehmensbereichs“ mit Kirchensteuern geben. Dass diejenigen Einrichtungen, die eine wichtige diako___________ 2

Ausführlich begründet in Diakonie-Denkschrift der EKD (1998).

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nische Aufgabe alleine wahrnehmen, auch zukünftig auf die Unterstützung der Kirche zählen können müssen, versteht sich ohnehin von selber. Auch an diesen Aspekten aus der aktuellen kirchlichen Diskussion zeigt sich, dass Markt und Wettbewerb für Sozialethik und Sozialwirtschaft nicht auf der anderen Seite eines unüberbrückbaren Grabens liegende Fremdkörper sind, sondern dass gerade durch die wechselseitige Bezogenheit interessante und für beide Aspekte weiterführende Perspektiven entstehen können.

Literatur COMECE (Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (2001): Global Governance, Brüssel. Diakonie-Denkschrift der EKD (1998): Mit Herz und Mund und Tat und Leben, Hannover.

Vermarktlichung des Sozialstaates? Von Frank Nullmeier

I. Vermarktlichungsbestrebungen in der deutschen Sozialpolitik Traditionell gelten wohlfahrtsstaatliche Regelungen als Kompensation für Schwächen des Marktes. Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat wurden daher als Gegenüber des Marktes verstanden. Mit dem Vordringen einer differenzierten Sicht auf die Wohlfahrtsproduktion wurde jedoch erkennbar, dass soziale Sicherheit und Wohlfahrt keineswegs allein durch öffentliche bzw. staatliche Arrangements produziert werden. Neben der Familie und sozialen Netzwerken, neben Initiativen der Zivilgesellschaft, insbesondere aus dem kirchlichen Feld, ist es auch der Markt, der Leistungen sozialer Sicherheit bereitstellt. Folglich konzentriert sich heute die Betrachtung auf den relativen Anteil, den Familie, Zivilgesellschaft, Staat und auch der Markt an der Bereitstellung sozialer (Dienst-)Leistungen innehaben. Der empirische Befund für die Entwicklung der letzten Jahre ist dabei recht eindeutig: Seit den 1980er Jahren haben sich marktliche Elemente in der bundesdeutschen Sozialpolitik (z.B. Kania/Blanke 2000; Gohr/Seeleib-Kaiser (Hrsg.) 2004) ebenso wie in der Politik sozialer Sicherung anderer OECD-Staaten (vgl. u.a. Rice et al. 2000; Pierson (ed.) 2001; Giaimo 2002; Rothstein/Steinmo (eds.) 2002) deutlich verstärkt. Die Wohlfahrtsstaatsforschung hat darauf mit der Nutzung des Begriffs „Wohlfahrtsmärkte“ reagiert. Unter „Wohlfahrtsmärkten“ (vgl. Taylor-Gooby 1999) können alle marktförmigen wirtschaftlichen Strukturen verstanden werden, die auf die Produktion und Verteilung solcher Güter und Dienste gerichtet sind, die traditionell unter dem Schutz des Sozialstaates als Leistungen zur Schaffung sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit standen und nunmehr teilweise oder in Gänze als Märkte nicht nur einer wettbewerbspolitischen sondern auch einer spezifisch sozialpolitischen Regulation unterliegen. Wohlfahrtsmärkte stellen soziale Leistungen bereit, aber sie sind keine reinen Märkte, auf denen zahlungsfähige private Nachfrage von privatwirtschaftlichen Anbietern befriedigt wird. Meist tragen sich diese Märkte nicht selbst. Ihnen fehlt eine hinreichend finanzkräftige private Nachfrage. Sie bedürfen der finanziellen

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Förderung durch steuerliche Erleichterungen oder staatliche Zuschüsse. Wohlfahrtsmärkte sind daher meist staatlich subventionierte oder durch (partielle) Zahlungspflichtigkeit – also durch ein staatliches Zwangsmoment – konstituierte Märkte. Auf der Anbieterseite vollzieht sich die Vermarktlichung als Übertragung der Wohlfahrtsproduktion auf privatrechtlich verfasste und von Privaten getragene Organisationen. Nicht selten tritt an die Stelle dieser materialen Privatisierung aber auch nur eine formelle, bei der die Sozialleistungen zur Verfügung stellenden Organisationen zwar privatrechtlich verfasst, aber eigentumsrechtlich von Staat oder öffentlichen Trägern dominiert werden. Privatisierungen allein schaffen aber noch nicht Wohlfahrtsmärkte. Erst wenn die Wohlfahrtsproduktion von einer Mehrzahl miteinander konkurrierender Unternehmen getragen wird und es Formen der sozialpolitischen Regulierung dieser Unternehmen gibt (z.B. Qualitätsaufsicht), kann von einem Wohlfahrtsmarkt die Rede sein. Nicht jede Vermarktlichung von Sozialpolitik führt mithin zu Wohlfahrtsmärkten. Eine rein marktpreisgesteuerte Wohlfahrtsproduktion ist eine Privatisierung des Problems der Absicherung sozialer Risiken. Nur wenn irgendwelche Formen der sozialpolitischen Regulierung eines solchen Marktes existieren, kann noch von einem Wohlfahrtsmarkt die Rede sein. Dort, wo die Bürger als Konsumenten mit regulierten (Einheits-)Preisen konfrontiert, mit Subventionen oder Anrechten (z.B. in Form von Gutscheinen) ausgestattet werden, hat sich der Staat noch nicht von der Aufgabe sozialer Sicherung zurückgezogen. Es ist etwas gänzlich anderes, ob die Bürger individuell Prämien oder Preise zahlen müssen für soziale Leistungen, die sie nunmehr bei Unternehmen erwerben können, oder ob über öffentliche Abgabensysteme die Kosten für soziale Leistungen erhoben werden, während jedem einzelnen Bürger ein Anrecht auf Leistungen zusteht, die von privaten Unternehmen bereit gestellt werden. Wenn die Bürger für die möglichen sozialen Risiken, die sie betreffen können, vollständig selbst sorgen müssen, also auf private Versicherungen mit individuell zu erbringenden Prämien angewiesen sind oder nur über Marktpreise Zugang zu sozialen Leistungen erhalten, hebt sich Sozialstaatlichkeit selbst auf. Bemühungen der Vermarktlichung der Sozialpolitik mit dem Ziel der Schaffung von Wohlfahrtsmärkten sind meist so ausgerichtet, dass Transfers für Niedrigeinkommensbezieher, Subventionen für Familien oder Steuervorteile als Anreizmechanismus die reine Preisregulation überformen und Sozialpolitik sich nunmehr im Modus der Regulierungsstaatlichkeit vollzieht (vgl. Grande/Eberlein 2000, Müller 2002). In rudimentärer Form existieren Wohlfahrtsmärkte bereits seit längerem, aber nur als asymmetrische Märkte. Bestes Beispiel dafür ist das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung, von den Interessenten als „Systemwettbewerb“ bezeichnet (Fuchs 2000). Zwar finden mindestens seitens der privaten Krankenversicherung Wettbewerbshandlungen statt, die auf

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Marktanteilsicherung und -expansion ausgerichtet sind, doch können die gesetzlichen Krankenkassen als öffentliche Körperschaften nicht im gleichen Maße Wettbewerbsstrategien entwickeln. Zudem sind die Wettbewerbsbedingungen politisch gesetzt – insbesondere durch die Versicherungspflichtgrenze, die einen strukturellen Vorteil für die privaten Krankenversicherer setzt. Ein Beispiel für asymmetrische Wohlfahrtsmärkte ist auch der Alterssicherungsmarkt, der die nicht-marktlich agierende gesetzliche Rentenversicherung und die Unternehmen der Finanzbranche umfasst, soweit sie Altersvorsorgeprodukte anbieten (Banken, Versicherungsunternehmen, Fondsgesellschaften). Während die Finanzdienstleister alle Formen von Marktstrategien anwenden können, ist die gesetzliche Rentenversicherung nicht Herr ihrer Produktpalette und deren „Vermarktung“. Den privaten Anbietern auf derartigen asymmetrischen Märkten steht zudem neben den eigenen Wettbewerbshandlungen noch die Möglichkeit der politischen Intervention offen – so als Einflussnahme der Versicherungsbranche auf die Renten- und Gesundheitspolitik der jeweiligen Regierung. Die Gesetzgebung wird dahingehend zu verändern gesucht, dass den potentiellen Kunden der Finanz- und Versicherungsbranche mehr Spielraum für alternative, private Vorsorgestrategien verbleibt und Anreize gesetzt werden, eine derartige Strategie auch einzuschlagen. Kürzungen der gesetzlichen Rentenleistungen sind von der Finanzbranche als Werbeargument zu nutzen und finden folglich auch Unterstützung. Die öffentlichen Sozialleistungsträger versuchen zwar dort, wo ihnen die Gesetzgebung Spielräume lässt, ihrerseits Wettbewerbsvorteile gegenüber den Privaten zu erreichen, doch sind diese Gelegenheiten rar gesät. Allerdings können sie über ihre Verbände (Deutsche Rentenversicherung Bund, bisher: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger; Verbände der gesetzlichen Krankenkassen) auf jene Gesetze einwirken, die Privatunternehmen und einzelne Branchen regulieren: Steuervorteile der Lebensversicherer werden sowohl von der Konkurrenz der Banken und Fondsgesellschaften als auch von Vertretern der öffentlichen Rentenversicherung bekämpft. Asymmetrische Märkte sind jedoch im besonderen Maße geeignet, Sozialleistungsreduktion herbeizuführen und die Legitimationsressourcen öffentlicher sozialer Sicherung zu zerstören, lassen sie die Privatunternehmen doch an den Schwierigkeiten und dem negativen Image der gesetzlichen Sozialversicherungen interessiert sein. Auf asymmetrischen Wohlfahrtsmärkten wird in hohem Maße „negative campaigning“ betrieben. Das Versagen der Politik oder die Verminderung von öffentlichen Leistungen wird zum besten Verkaufsargument der Privatunternehmen. Um gleiche Handlungschancen zu erhalten, drängen mittlerweile Teile der öffentlich-rechtlichen Sozialleistungsträger ihrerseits auf eine Vollvermarktlichung. Erst in einem symmetrisch angelegten Wohlfahrtsmarkt kann jener Wettbewerb stattfinden, der vielleicht die behaupteten positiven Effizienz-Wirkungen erzeugt. Jedoch sind die Versuche der Vermarktlichung der Sozialpolitik, der Schaffung symmetrischer Wohlfahrtsmärkte, auf denen auch den öffentlichen Trä-

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gern die Fähigkeit zu Wettbewerbshandlungen verschafft wird, seit 2002 in etlichen Feldern nicht intensiv weiterverfolgt worden – aus höchst unterschiedlichen Gründen. In der Sozialpolitik hat die Schaffung der Riester-Rente durch das Altersvermögens(ergänzungs)gesetz von 2001 als staatlich geförderte zweiter bzw. dritter Säule der Alterssicherungspolitik nicht die erhofften Erfolge gebracht. Ende 2004 verfügten erst 4,2 Millionen Bürger über einen RiesterVertrag. Die Reformen zur Vereinfachung der Auszahlung des staatlichen Zuschusses und zur Verringerung bzw. Lockerung der Zertifizierungskriterien für Finanzprodukte, die Riester-förderungsfähig sein wollen, haben zwar im Jahre 2005 einen Nachfrageanstieg ausgelöst (ebenso wie die keineswegs ‚genderkorrekte‘ Werbung mit der Einführung von Unisex-Tarifen ab 01.01.2006), jedoch bleibt insbesondere die dritte Säule der individuellen privaten Vorsorge viel zu schwach, um auch nur in die Nähe einer Versorgung zu kommen, die erforderlich wäre, wollte man dem Ziel der Lebensstandardsicherung weiterhin gerecht werden – nur bei einer anderen Verteilung zwischen privaten und öffentlichen Leistungen. In der Krankenversicherung ist nicht die mangelnde Zahlungsfähigkeit der Nachfrager ausschlaggebend für die geringe Expansionsdynamik der Wohlfahrtsmärkte. Vielmehr sind es Verteilungskämpfe zwischen Leistungsanbietern und Versichertenvertretungen darüber, wer die negativen Folgen einer Vermarktlichung tragen soll. Die Einführung individueller Verträge zwischen Kassen und Ärzten stößt auf Widerstände der Leistungsanbieter, die im System der gemeinsamen Selbstverwaltung mit ihren Kollektivvertragsregelungen vor Konkurrenz gerade geschützt sind. Jene politischen Kräfte, die ansonsten als Marktbefürworter bis -apologeten auftreten, fungieren in diesem Feld meist als Vertreter von Partikularinteressen, die gegen Wettbewerb und individuelle Konkurrenz gerichtet sind. Allein die Übernahme erhöhter Kosten durch die Patienten und Versicherten – bei weiterhin kollektiv regulierter Konkurrenzminderung zwischen den Leistungsanbietern – erscheint den Kassenärzten als Weg zu mehr Markt. Die Ausdehnung der privaten ambulanten Pflegedienste, entstanden im Gefolge der Einführung der Pflegeversicherung, hat einen Pflegemarkt entstehen lassen, dessen Expansion jedoch zunehmend an bürokratische Grenzen der Taylorisierung der Pflegearbeit und eine daran orientierte Entlohnung bzw. Finanzierung stößt. So unterschiedlich die Gründe sein mögen, es kann keine Rede davon sein, dass die bundesrepublikanische Politik konsequent einen Weg der Vermarktlichung beschreiten würde. Die im Koalitionsvertrag der neuen Großen Koalition Ende 2005 verankerten Zielsetzungen und Gesetzgebungsvorhaben deuten eher auf eine Rückkehr zu ‚klassischen‘ Instrumenten und einer bloß haushaltspolitischen Sicht auf die Sozialpolitik hin. Barrieren der Marktentfaltung wie der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen oder der „faire“ – asymmetrische, und das heißt gerade nicht freie – Wettbewerb zwischen PKV

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und GKV werden festgeschrieben, während man sich ansonsten auf Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen verlässt. Nach dem Alterseinkünftegesetz und dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz scheinen die Energien einer schrittweisen Vermarktlichungspolitik eher erschöpft denn gestärkt.

II. Sozialpolitische Argumente für Vermarktlichungsstrategien Es gibt gute Gründe, Vermarktlichungstendenzen zunächst eher kritisch zu beurteilen, gingen Vermarktlichungen doch in der Regel mit Leistungskürzungen und Verschlechterungen für die Betroffenen einher. Zudem ist die begleitende Rhetorik der ‚Eigenverantwortung‘ stark irreführend. Sie begleitet in der Regel die Überantwortung von Sozialpolitik an die Marktökonomie, ohne jene Regulative zu benennen, die erforderlich sind, damit eine marktliche Politik noch Sozialpolitik bleibt. Statt für das eigene Leben in direkter Eigenbetätigung verantwortlich sein zu können, muss sich der eigenverantwortliche Einzelne den Möglichkeiten und Risiken von Marktprodukten aussetzen. Die imaginierte oder reale Fremdbestimmung durch Politik wird ersetzt durch Abhängigkeiten von Marktentwicklungen in qualitativer wie geldlich-quantitativer Hinsicht. Die Überführung von politischer Verantwortung in Eigenverantwortung heißt auf Seiten der Betroffenen faktisch die Umschichtung von Beitragszahlungen an Sozialversicherungen in Prämienzahlungen an Privatversicherungen. Angesichts der Unsicherheiten, die eine marktliche Versorgung mit sich bringt, wird politische ‚Fremdbestimmung‘ durch marktliche Fremdbestimmung ersetzt. Wenn im Folgenden dennoch für eine Vermarktlichung zur Schaffung von Wohlfahrtsmärkten Argumente angeführt werden, dann deshalb, weil eine Strategie der Verteidigung der tradierten Formen von Sozialpolitik nicht als dauerhaft erfolgversprechend angesehen wird. Leistungskürzungen werden auch im Rahmen tradierter Renten-, Pflege- und Gesundheitspolitik erfolgen, nur könnten sie ein Ausmaß erreichen, das die Legitimationsressourcen des Sozialstaates auch von innen her erschöpft. Es ist daher nach Strategien zu suchen, die die Art der Veränderung des Sozialstaates zu gestalten helfen. Daher geht es nachstehend darum, Anforderungen an eine wettbewerblichere Sozialpolitik zu entwickeln, die gewährleisten, dass Sozialpolitik als soziale Politik weiterhin denkbar ist. Will man diesen alternativen Weg der Verteidigung von Sozialstaatlichkeit gehen, kommt alles auf die Art der Strukturierung und Regulation von Wohlfahrtsmärkten an. Zuvor seien jedoch Argumente angeführt, die die Annäherung an eine Strategie marktlicher Sozialpolitik in generalisierter Form motivieren sollen: 1. Trotz aller Marktrhetorik werden meist nur Strategien partieller und asymmetrischer Vermarktlichung verfolgt. Ein zentrales Potential von Marktlichkeit wird jedoch gerade nicht genutzt: die Universalisierung sozialer Beziehungen

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bei Auflösung von Privilegierungen und Grenzziehungen. Vermarktlichung heißt Universalisierung – und gerade die ist oft von Interessenverbänden nicht gewollt. Hält man die Beseitigung all jener sozialstaatlicher Privilegierungen und Sonderregelungen für zentral, um zu einem System allgemeiner sozialer Rechte – einem allgemeinen sozialstaatlichen Sicherungssystems jenseits berufsständischer Differenzierung – vorzustoßen, dann kann die Vermarktlichung der sozialen Sicherungsproduktion diesen Umstellungsprozess stark fördern. Die schrittweise Überführung bestehender Sicherungssysteme, insbesondere im Gesundheitssektor, in eine universelle Bürgerversicherung, wird durch eine marktliche Gestaltung auf Anbieter- wie Nachfragerseite innerhalb eines für alle geltenden staatlichen Regulationsrahmens nur erleichtert. 2. Will man zudem Grenzziehungen überwinden und eine Transnationalisierung bzw. Europäisierung der Sozialpolitik betreiben, ist dies unter Beibehaltung nationaler Sicherungsniveaus weit eher mit marktregulativen Politiken möglich als mit Politiken der Harmonisierung oder Koordinierung öffentlichstaatlicher Wohlfahrtsproduktion, die eher auf eine deutliche Niveauabsenkung hinauslaufen würden. Vermarktlichung kann eine Strategie sein, unterschiedliche nationalstaatlich gewährleistete Sicherungsniveaus in einem europäischen Rahmen auf der Leistungsebene miteinander kompatibel zu machen. Sozialpolitik, die mit nationalstaatlicher Gesetzgebung nationalen Behörden und nationalen öffentlichen Trägern die Aufgabe der Wohlfahrtsproduktion zuweist, kann durchaus als protektionistisch bezeichnet werden, verhindert sie doch die Möglichkeit, dass externe Anbieter überhaupt tätig werden können. Vermarktlichung bedeutet daher auch Durchbruch zur Transnationalisierung der Sozialpolitik – in Gestalt marktregulativer Sozialstaatlichkeit. 3. Soll Sozialpolitik auch als Wachstumspolitik fungieren können, lässt sich das nur in regulierten Wohlfahrtsmärkten realisieren, nicht dagegen in politisch überformten und beitragsfinanzierten Kollektivvertragssystemen. Staatliche Beitragssenkungspolitiken ruinieren die Möglichkeit einer wachstumsorientierten Politik auf dem Gebiet der Gesundheits- und Sozialleistungen. So besteht die Aufgabe darin, Versorgungsniveaus unabhängig von der individuellen Zahlungsfähigkeit staatlich abzusichern und zugleich Sozialleistungssträgern Expansionschancen zu bieten. Unternehmen als Trägerorganisationen der Wohlfahrtsproduktion können und müssen Expansionsstrategien einschlagen können. Zu unterscheiden sind Binnenmarkt- und Weltmarktstrategien. Eine Weltmarktstrategie von Sozialleistungsunternehmen beruht auf der Voraussetzung, dass es in anderen Ländern Personengruppen gibt, die über hinreichende private Einkommen verfügen, um sich qualitativ hochwertige Sozialleistungen im Ausland zu kaufen, oder öffentliche Finanzierungssysteme, die es erlauben, Sozialleistungen bei nicht-inländischen Anbietern einzukaufen. Soziale Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Regel in Koproduktion von Konsument und Produzent erbracht werden können. Das setzt voraus, dass

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sich Konsument und Produzent am selben Ort befinden. Will man im Feld sozialer Dienstleistungen eine internationale Expansionsstrategie einschlagen, heißt dies entweder, einen „Import“ von Sozialleistungsbedarfen anzuregen oder Filialen in anderen Ländern zu gründen. In der Bundesrepublik Deutschland wird eine sozialpolitische Wachstumsstrategie jedoch nur dann arbeitsplatzrelevant, wenn „Import“strategien verfolgt werden. Eine nationale Sozialpolitik, die Sozialleistungsunternehmen Derartiges erlaubt, wird allerdings nicht umhin können, auch den „Export“ der Sozialleistungserbringung – ohnehin von der Europäischen Union auferlegt – zuzulassen und aktiv zu fördern. Das könnte allerdings wiederum Arbeitsplätze kosten. Die Arbeitsplatzbilanz einer konsequenten Vermarktlichungsstrategie ist daher abhängig von den näheren Ausgestaltungsformen und von der Qualität des Sozialleistungsangebots der bundesdeutschen Anbieter.

III. Formen der Vermarktlichung Wie kann aber eine sozialstaatsförderliche Vermarktlichungsstrategie aussehen und wie unterscheidet sie sich von neoliberaler Marktideologie und Sozialleistungsabbau? Will man verschiedene Vermarktlichungsstrategien differenzieren, ist zu unterscheiden zwischen 1. 2. 3. 4. 5.

der Produktion sozialer Sicherungsleistungen, der Regulation dieser Produktion, den Anrechten auf soziale Sicherungsleistungen, der Finanzierung der Anrechte bzw. Leistungen und dem Konzept von Marktbürgerschaft.

Eine neoliberale Strategie liegt vor, wenn die Produktion sozialer Sicherungsleistungen Unternehmen überlassen wird bei möglichst geringer politischer Regulation, wenn Anrechte auf soziale Leistungen an die individuelle Finanzierungsbereitschaft (und – immer unterstellt – Finanzierungsfähigkeit) gebunden werden und die Erziehung zum Marktbürger auf den marktanpassungsbereiten Konsumenten zielt. Eine weiterhin marktliberale, aber doch stärker sozial geprägte Strategie, man könnte sie sozialliberal nennen, besteht darin, die marktliche Produktion sozialer Leistungen stärker politisch zu regulieren und die Finanzierungsfähigkeit der Bürger durch staatliche Subventionen zu erhöhen, aber das Ausmaß und den Umfang sozialer Anrechte zu verringern. Diese Strategie ist mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Marktbürgerverhalten vereinbar. Der entscheidende Nachteil der sozialliberalen Strategie besteht in der Reduktion der Anrechte, weil die Finanzierung durch Beiträge Probleme bereitet und den

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Arbeitsmarkt belastet. Es ist gerade nicht die Übertragung der Sozialleistungsbereitstellung auf Unternehmen und auch nicht die Steuerung des Leistungsgeschehens primär durch Märkte, die Sozialstaatlichkeit negativ tangiert. Sozialstaatsabbau findet dagegen dort statt, wo Anrechte auf Leistungen beschnitten werden, wo die individuelle Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft zum Kriterium des Zugangs zu sozialen Leistungen wird. Soweit die sozialliberale Strategie Beiträge und Steuern nur durch Senkung der Anrechte und Leistungen relativ konstant halten oder senken kann, bleibt sie Teil eines Rückbaus des Sozialen. Eine Vermarktlichungsstrategie ist dagegen dann sozialstaatsfördernd, wenn sie mit einer die Wohlfahrtsmärkte gestaltenden Regulationspolitik (vgl. Baldwin/Cave 1999), einer erneuerten Anrechte- und einer verbreiterten Finanzierungspolitik einhergeht. In einer solchen Strategie, sie heiße sozialregulativ, ist nur ein wichtiges Element, nämlich die Produktion und Bereitstellung sozialer Leistungen, Sache von Unternehmen und Märkten. Staatliche Regulation hat in dieser Strategie die marktkonstituierende Aufgabe, Wohlfahrtsmärkte als symmetrische zu entfalten, den Unternehmen Expansionschancen zu bieten – und sie insbesondere durch ein bestimmtes Finanzierungssystem nicht daran zu hindern. Staatliche Politik muss zudem ein sozialpolitisches, d.h. von Bedarfs- und Qualitätsgesichtpunkten getragenes Regulationsregime errichten, das den Wohlfahrtsmarkt in einer hochwertigen Form zur Entfaltung kommen lässt und Konkurrenzstrategien verhindert, die auf Preiswettbewerb und Qualitätssenkung beruhen. Das erfordert – wie die Erfahrungen von Regulationspolitiken in Infrastruktursektoren zeigen (Grande 2005) – in der Regel eine Mehrzahl von möglichst miteinander kooperierenden Agenturen und Regulierungsbehörden, die jeweils einzelne Aspekte des wohlfahrtsmarktlichen Geschehens einer politischen Steuerung unterziehen. Mit der Etablierung eines sozialpolitischen Regulationsregimes soll es möglich werden, die Effizienz- und Effektivitätsvorteile marktlicher Allokation mit den Vorteilen einer bedarfsorientierten sozialpolitischen Gestaltungspolitik zu verbinden. Dies kann nur gelingen, wenn die Regulation nicht erdrückend und expansionsverhindernd wirkt und andererseits die Sozialunternehmen ihre Zukunft nicht in Unterbietungswettbewerben und einer Zurückdrängung staatlicher Politik sehen. Die Balancierung zwischen Marktentfaltung und Marktkorrektur wird daher eine dauerhaft problematische und immer strittige Aufgabe eines derartigen politischen Konzepts sein.

IV. Universelle soziale Rechte und Finanzierungsformen Zentral für eine sozialregulative Strategie ist zudem die politische Sicherung von sozialen Rechten als Anrechten auf ein angemessenes Niveau sozialer Leistungen, die gewährleistet sind unabhängig von der individuellen Zahlungsfähigkeit. In der Zusicherung dieser Rechte erweist sich der Sozialstaat als so-

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zialer Gewährleistungsstaat, während die Aufgabe der Bereitstellung sozialer Sicherung bzw. der Einlösung dieser Rechte (z.B. via Voucher) keiner staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Organisationen bedarf. Das Grundproblem besteht dabei in der Relationierung von Rechten und Finanzierungsbeiträgen. Mit der (neoliberalen) Kopplung von Anrechten an individuelle Zahlungsfähigkeiten in Preisen, Prämien und Gebühren ist die Idee von universellen sozialen Rechten aufgegeben. In der dem deutschen Alterssicherungssystem zugeschriebenen Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung, die real jedoch eine recht komplex vermittelte Teilhabeäquivalenz darstellt, ist die Kopplung von Anrechten an Zahlungen in ein Sozialversicherungssystem projiziert. Den Kern von Sozialstaatlichkeit bildet jedoch in Analogie zum freiheitlichen Rechtsstaat ein System der sozialen Rechte, ein System der von individueller Zahlungsfähigkeit abgekoppelten Anrechte auf soziale Sicherungsleistungen. Ebenso wie die Freiheitsrechte und die politischen Rechte für jede Bürgerin und jeden Bürger gleichermaßen gelten, so müssen soziale Rechte universell gelten. Dieser demokratische Kern war im Sozialversicherungssystem solange enthalten, wie der Zugang zum Arbeitsmarkt für alle mehr oder weniger offen stand und ein Lebensweg im Status des Arbeitnehmers wahrscheinlich war. Diese Voraussetzung ist heute nicht mehr gegeben. Soziale Rechte können aber nur universell begründet werden. Mithin muss der Bürger als Gesamtheit der Arbeits-, Wohn- oder Staatsbürger Anknüpfungspunkt für die Zuerkennung sozialer Rechte sein. Entsprechend ist eine Ablösung der Rechtezuweisung vom Status des lohnabhängigen Arbeitnehmers erforderlich – und statt der Beitrags- ist die Steuerfinanzierung die angemessene Form der Kostendeckung sozialer Leistungen. Universelle Rechte stehen in einem solchen Modell einer allgemeinen Finanzierungspflicht ökonomischer Leistungsfähigkeit gegenüber. In pragmatische Politikstrategien übersetzt hieße dies die Abschmelzung der Beitragsfinanzierung bei einem Übergang zu einem weit höheren Maß an Steuerfinanzierung. Denkbar ist auch eine konsequent leistungsfähigkeitsorientierte Bürgerversicherung, was am Beispiel der Krankenversicherung näher erläutert werden kann. Eine strikt leistungsfähigkeitsorientierte Finanzierung machte nicht nur eine Einbeziehung aller Einkommensarten, sondern auch eine Abkehr von der Bruttobeitragssatzerhebung bei den Arbeitseinkommen erforderlich. Die Bürgerversicherung würde zu einem Parallelsystem zur Einkommenssteuer, auch wenn nicht alle Sonderregelungen (Ungereimtheiten und Privilegierungen) des Steuerrechts zu übernehmen wären. Ein Gegenargument liegt damit sehr nahe: Warum sollte es ein so kompliziertes, der Einkommensteuer sehr ähnliches System der Bürgerversicherung als eigenständiges System geben? Warum nicht gleich alles über die Einkommenssteuer regeln? Die Differenz zwischen zwei Arten der Einkommenssteuer ließe sich vermeiden, wenn der Beitrag zur Bürgerversicherung auf der Grundlage der Einkommenssteuerbescheide erfolgte. Wenn man aus Gründen der genauen Abbildung der Leistungsfähigkeit befürwortet,

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dass alle Einkommensarten miteinander verrechnet werden, und wenn man zudem (kontrafaktisch) unterstellt, dass das jetzige Einkommenssteuersystem Leistungsfähigkeit auch korrekt abzubilden vermag, dann sollte man als Beitragsbemessungsgrundlage einer Bürgerversicherung das zu versteuernde Einkommen gemäß Einkommensteuerjahresausgleich nehmen. Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung würde sich auf das zu versteuernde Einkommen nach Einkommensteuerrecht beziehen. Er wäre aber weiterhin ein Beitrag und nicht eine Steuer. Die Beitragsbemessungsgrundlage der Bürgerversicherung bildete das steuerpflichtige Einkommen. Alle Sonderregelungen der Einkommensteuer würden sich damit allerdings in die Finanzierung der sozialen Sicherung verlängern. Damit Missbrauchsmöglichkeiten vermieden werden, die sich aus den derzeitigen Inkonsistenzen des Steuerrechts ergeben, müsste man dieses Modell wohl ergänzen um zwei Mindestbeiträge. Der erste wäre ein absoluter Mindestbeitrag: Selbst wenn durch Verschuldungen bzw. Negativeinkünfte kein zu versteuerndes Einkommen verbleibt, wäre dieser absolute Mindestbeitrag zu zahlen. Der zweite oder zusätzliche Mindestbeitrag würde eine Brücke zum derzeitigen Beitragssystem herstellen: Wenn Arbeitseinkommen bezogen wird, muss mindestens ein bestimmter Prozentsatz vom Bruttoarbeitseinkommen verbeitragt werden. Man könnte aber auch weitergehen und ein Modell entwickeln, in dem Beiträge gänzlich entfallen, die Bürgerversicherung letztlich einkommensteuerfinanziert wird, die Bürger aber an die Krankenkassen Kopfpauschalen zahlen. Das könnte auf folgendem Wege geschehen: Der Staat schreibt jedem Bürger monatlich im Rahmen der Einkommensteuer einen Abzug von der Steuerschuld in der Höhe der durchschnittlichen Kopfpauschale gut. Von der monatlichen Steuerschuld werden damit ca. 210 Euro abgezogen. Zugleich muss aus dem Nettoeinkommen die Kopfprämie an eine Krankenkasse gezahlt werden. Jeder Bürger muss sich bei einer Krankenkasse seiner Wahl gegen eine nicht-risikobezogene, sondern je Kasse einheitliche Kopfprämie versichern. Die Höhe der Kopfprämie kann zwischen den Kassen variieren, es besteht Kassenwettbewerb und ein Anreiz seitens der Versicherten, von einer teueren zu einer niedrigeren Kasse zu wechseln, da der staatliche Abzug von der Steuerschuld nur in Höhe der kassendurchschnittlichen Höhe der Kopfprämie gewährt wird. Um dieses System zu finanzieren, wäre eine Erhöhung des Steuersatzes oder eine Verringerung von Steuerprivilegien erforderlich – allerdings bei Fortfall des gesamten Beitrages zur Krankenversicherung. Denkbar wäre auch die Beibehaltung eines lohnbezogenen Arbeitgeberbeitrages und nur die Umstellung des Arbeitnehmerbeitrages auf eine einkommensteuerfinanzierte Bürgerversicherung. In diesem Falle reduzierte sich der Abzug von der Steuerschuld auf die Hälfte. Ebenso müsste das Beitragsvolumen zur GKV nur hälftig von Beiträgen auf Steuern umgeschichtet werden. Auf jeden Fall erfolgte eine Finanzierung der Krankenversicherung gemäß der steuerlichen Leistungsfähigkeit – und über eine Steuerfinanzierung. Während die derzeit gängigen Kopfpauschalenmodelle mit einer Teilsteuer-

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finanzierung arbeiten (nur als sozialer Ausgleich), böte dieses Modell eine Vollsteuerfinanzierung und realisierte das, was eine leistungsfähigkeitsbezogene Bürgerversicherung erreichen will. Können Leistungsniveaus staatlich abgesichert und steuerfinanziert werden, ist auch ein Mehr an Wettbewerb und Markt in der sozialen Sicherung sozial verträglich. Niveaugesicherte Wohlfahrtsmärkte können einer sozialstaatlichen Entwicklungsstrategie als Zielvorstellung dienen. Erstreckt sich die Niveausicherung aber lediglich auf eine Grund- oder Mindestsicherung für alle, wird zwar Armut verhindert, nicht aber sozialer Abstieg. Die Absicherung oder der Aufbau eines bürgerlichen Mittelschichtslevels wird gerade verfehlt. Soll die Mittelschichtsorientierung bundesdeutscher Politik beibehalten werden, sind nach wie vor Momente der Niveaudifferenzierung und Anbindung der Leistungsniveaus an vorherige Einkommenslagen erforderlich. Eine Niveausicherungspolitik kann aktuell Kürzungen gegenüber dem Status quo einschließen, sollte aber nicht eine Abkehr von der Vorstellung einer mittelschichtsbezogenen Lebensweise einschließen – auch und gerade aus Gründen demokratischer Stabilität.

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Vermarktlichung des Sozialstaates? – Anmerkungen aus sozialethischer Sicht – Korreferat zu Frank Nullmeier – Von Andreas Lob-Hüdepohl

I. Der normative Kern des Sozialstaats Das Fragezeichen hinter der „Vermarktlichung des Sozialstaates“ steht für den Ethiker vor allem für die Frage nach der moralischen Legitimität einer unzweideutig sich abzeichnenden Tendenz. Darf die bundesdeutsche Variante eines modernen Sozialstaates vermarktlicht werden oder muss sie es sogar? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, worin der normative Kern des Sozialstaats besteht und wie man diesen in der derzeitigen Legitimationskrise des Sozialstaates plausibel zu begründen vermag. Der bundesdeutsche Sozialstaat verspricht keinesfalls die Illusion eines sorgenfreien, allzeit zufriedenstellenden Lebens.1 Gleichwohl verfolgt er politisch wie moralisch anspruchsvolle Ziele. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Grundsatzurteil aus dem Jahre 1985 den normativen Kern des grundgesetzlichen Sozialstaatsgebotes in drei Staatszielbestimmungen konkretisiert: (a) die Sicherung und Förderung der Existenzgrundlagen der Bürger, (b) den Ausgleich sozialer Gegensätze sowie (c) eine gerechte Sozialordnung.2 Diese Staatszielbestimmungen ziehen die Konsequenz aus der grundgesetzlich verankerten Staatsfundamentalnorm „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 2 GG). Diese Staatsfundamentalnorm kann ihrerseits als Ausführungsbestimmung des obersten Verfassungsgrundsatzes gelesen werden: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 Abs. 1 GG) Das Sozialstaatsgebot ist gewissermaßen menschen-

___________ 1 2

Vor solchen und ähnlichen Illusionen warnt zu Recht Riedmüller (1997). Vgl. Schulte (2000), S. 16.

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rechtsethisch3 begründet. Denn neben den Freiheits- und politischen Partizipationsrechten sind der Schutz und die Förderung sozialer Teilhaberechte an der gesellschaftlichen Entwicklung und Wohlfahrt Bedingungen der Möglichkeit eines menschenwürdigen Lebens. Wichtigste Säule des bundesdeutschen Sozialstaates ist ein System unterschiedlicher Sozialer Sicherungen. Zwar bündelt dieses System zunächst nur präventive bzw. kompensierende Schutzvorrichtungen, die die wichtigsten Lebensrisiken des modernen Menschen in ihren negativen Folgen (Krankheit, Erwerbslosigkeit, soziokulturelle Verarmung usw.) abfedern wollen. Zudem stärkt der bundesdeutsche Sozialstaat die persönliche Daseinsvorsorge seiner Bevölkerung primär über die Sicherung und Förderung familiarer Bindungen, auskömmlicher Erwerbsarbeit und privater Eigentumsbildung.4 Gleichwohl haben sich die verschiedenen Komponenten sozialer Sicherung längst von einem Instrumentarium der bloßen Armutsvermeidung zu einem „ausgreifenden System von Geldleistungen sowie von Einrichtungen und sozialen Diensten“ entwickelt, „das nicht erst bei existenzbedrohenden Notlagen und ‚Bedürftigkeit‘ eingreift, sondern Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen sichert“.5 Damit dient das bundesdeutsche System sozialer Sicherung über die Vermeidung sozioökonomischer Exklusion hinaus dem umfassenden Ziel soziokultureller Inklusion aller Bürgerinnen und Bürger. Denn Lebenslagen bemessen sich nicht nur an der materiellen Ausstattung einer Person. Vielmehr werden sie besonders durch immaterielle Ausstattungen wie Bildungsstandards, soziale Kontakte, Wohnsituation, Gesundheitschancen und Erkrankungsrisiken, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten und nicht zuletzt von Beteilungs- bzw. Zugangschancen zum Erwerbsarbeitsmarkt konstituiert. Darüber hinaus erfassen Lebenslagen auch die Binnensicht der Betroffenen bezüglich ihrer äußeren Lebensbedingungen. Sie spiegeln nämlich auch, welche den Menschen objektiv zur Verfügung stehenden Entscheidungs- und Handlungsspielräume die Betroffenen für ihre persönliche Lebensführung auch wirklich nutzen oder aber verweigern – aus welchen Gründen auch immer.6 Die Sicherung und Förderung menschenwürdiger Lebenslagen zielt darauf ab, die Problembewältigungskompetenz einer Person, ja deren Lebensführungskompetenz insgesamt in möglichst vielen Lebensbereichen zu steigern oder wenigstens wiederherzustellen und zu stabilisieren. Diese normativ gehaltvolle Zielvorstellung des Sozialstaates ist interessanterweise gerade in der staatlichen Fürsorgeleistung der So___________ 3 Ich bin der Frage nach der menschenrechtsethischen Begründung sozialer Anspruchsrechte und ihrer Einlösung durch den Sozialstaat an anderer Stelle ausführlicher nachgegangen in Lob-Hüdepohl (2005). 4 Tennstedt (1987), S. 1068. 5 Bäcker (2001), S. 1709. 6 Hanesch (1993).

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zialhilfe leitend. Die Sozialhilfe soll, wie die einschlägige sozialrechtliche Fundamentalnorm des SGB XII in § 1 vorgibt, „den Leistungsempfänger die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde eines Menschen entspricht“. 7 Das private Interesse an einer eigenständigen, menschenwürdigen Lebensführung wird im demokratischen wie sozialen Rechtsstaat zur unabdingbar öffentlich zu verantwortenden Aufgabe.

II. Sozialwirtschaft als Instrument eines normativ anspruchsvollen Sozialstaats Vor dem Hintergrund dieses normativen Kerns des Sozialstaats sind bestimmte Charakteristika verständlich, wie sie der bundesdeutschen Sozialwirtschaft eigen sind. Unter Sozialwirtschaft versteht man gewöhnlich das Gesamt aller Leistungserbringer wie Kostenträger personennaher sozialer Dienstleistungen; also Wohlfahrtsverbände, öffentliche Träger von Beratungs-, Bildungsund Betreuungseinrichtungen usw., ebenso wie Sozialversicherungen oder die Öffentliche Hand als unmittelbarer (Kosten-)Träger von Sozialeinrichtungen oder Fürsorgeleistungen.8 Personennahe soziale Dienstleistungen der Sozialwirtschaft haben gemeinnützige Zwecke; sie haben zum Ziel, „das Wohlergehen von Menschen einzeln und gemeinsam zu fördern und zu ermöglichen“. Deshalb werden sie „nicht gewinnorientiert, sondern bedarfsorientiert, gemeinschaftlich und demokratisch betrieben“.9 In diesem Sinne ist die Sozialwirtschaft ein zentrales Instrument des Sozialstaates. Als ökonomische Aktivität unterliegt auch die Sozialwirtschaft den Erfordernissen eines sorgfältigen, effizienz- und effektivitätsbewussten Haushaltens. Auch in der Sozialwirtschaft sind Managemententscheidungen über die Verwendung knapper Güter zur größtmöglichen Erreichung bestimmter Effekte sozialprofessioneller Interventionen nach dem ökonomischen Prinzip unerlässlich.10 Neben diesen Gemeinsamkeiten mit der Erwerbswirtschaft unterscheiden sich Organisationen der Sozialwirtschaft aber in wichtigen Punkten von Wirtschaftsunternehmen: Während letztere ihre Güter im Wesentlichen zum Zwecke der Überschusserzielung produzieren und ihre Produktpalette immer dahin variieren, wenn sich durch die „schöpferische Zerstörung“11 des Alten und die Innovation von Neuem die Gewinnaussichten erhöhen, geht es in der Sozial___________ 7 Darin liegt auch der Primat persönlicher Hilfen wie Beratung, Wiedereingliederung in Arbeit usw. vor den Sach- und Geldleistungen. 8 Vgl. etwa Arnold/Maelicke (1998, 2003); Wendt (2003). 9 Wendt (2002), S. 918. 10 Rosendahl (2001); Wendt (2004); Willkens (2000). 11 Schumpeter (1950), S. 137.

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wirtschaft um die Produktion ihrer Güter als solche: die Sicherung und Steigerung sozialer Wohlfahrt ist gewissermaßen Selbstzweck. Dort, wo aufgrund einer günstigen Kostenstruktur oder besonders auskömmlicher Refinanzierung personennahe soziale Dienstleistungen sogar Überschüsse erwirtschaften, dienen diese Überschüsse in der Sozialwirtschaft zur Querfinanzierung solcher Dienstleistungen, die zwar sozialstaatlich geboten, gleichwohl nicht ausfinanziert werden (können). Diese gemeinnützige bzw. Non-profit-Orientierung eröffnet sozialwirtschaftlichen Dienstleistern zudem die Möglichkeit, andere Ressourcen – etwa materielle über Fundraising oder immaterielle über Ehrenamtlichenengagement – für die eigene Arbeit zu aktivieren.12 Nun wird man fragen können, ob die Non-profit-Orientierung der Sozialwirtschaft nicht nur Ergebnis einer historischen Entwicklung, sondern auch sachlich erforderlich ist. Hier ist wiederum auf die normativ gehaltvolle Eigenlogik personennaher sozialer Dienstleistungen in einem menschenrechtlich ambitionierten Sozialstaat zu verweisen. Die Debatte beispielsweise zum Verhältnis von (verberuflichter) Professionalität und Ehrenamtlichkeit sozialer Dienstleistungen macht offenkundig, dass entgegen einem ersten Eindruck keinesfalls nur ökonomische Gründe, sondern fachliche Erfordernisse für eine enge Verschränkung („Wohlfahrtsmix“) etwa aus beruflicher sozialer Arbeit und Freiwilligenengagement sprechen.13 Die Ausdifferenzierung personennaher sozialer Dienstleistungen hat in vielen Bereichen zu einer Expertokratie geführt, deren sozialtechnisiertes Professionsverständnis die Adressaten sozialer Dienstleistungen in ihrer noch vorfindlichen Eigenkompetenz entmündigt und entmächtigt.14 Die Gegenbewegung zu dieser halbierten, expertokratischen Professionalisierung hat zu einem anderen Professionalitätsbewusstsein personennaher sozialer Dienstleistung geführt, die der selbstgewirkten Problemlösungskompetenz des Leistungsempfängers in einem spezifischen Sinne lediglich assistiert. Diese Form sozialprofessioneller Dienstleistung sucht konsequent die Nähe15 zur alltäglichen Lebenswelt des Adressaten und kann damit auch dessen soziale Netzwerke sowie dessen Beziehungs- und Bezugssysteme in die Suche und Aktivierung endogener Ressourcen zur Bewältigung seiner Lebensführungsprobleme einbeziehen. 16 Eine nachhaltige, also dauerhaft belastbare Kompetenz, Probleme des Alltags konstruktiv zu lösen und das eigene Leben authentisch zu führen, wird sich nur etablieren können, wenn man mit dem Sozialraum, in dem sich das personale Selbst des Hilfeempfängers je neu ___________ 12

Arnold (2000). Vgl. ausführlicher Lob-Hüdepohl (2006). 14 Vgl. Dewe/Otto (1987). 15 Darin besteht der besondere Sinn der Charakterisierung sozialer Dienstleistung als personennah. 16 Vgl. Thiersch (2000). 13

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behaupten und konstituieren muss, professionell arbeitet und diesen Sozialraum als entscheidende Ressource für dessen erfolgreiche Selbstkonstitution mitentwickelt. Von hieraus wird die Bedeutung aller Akteure im sozialen Nahraum des Leistungsempfängers und damit auch die Bedeutung nichtberuflichen „ehrenamtlichen“ Engagements für das Gelingen entfalteter Professionalität sozialer Dienstleistungen plausibel. Ähnlich plausibel ist deshalb das Profil sozialwirtschaftlicher Organisationen: als intermediären, also gemeinwohlorientierten, partizipatorisch strukturierten Non-profit-Institutionen kommt ihnen im Wohlfahrtsmix aus marktlich operierenden Unternehmen, dem Staat und den informellen Netzwerken der Familien bei der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsproduktion eine unaufgebbar vermittelnde Funktion zu.17

III. Chancen und Grenzen der Vermarktlichung der Sozialwirtschaft Unter Berücksichtigung des normativen Kerns des Sozialstaats sowie seiner alltagsweltlichen Implementierung in Gestalt der Sozialwirtschaft sind der Vermarktlichung des Sozialstaates bzw. der Sozialwirtschaft enge Grenzen zu ziehen. Eine Vermarktlichung der Sozialwirtschaft liegt ja nicht schon vor, wenn man Organisationen und Institutionen personennaher sozialer Dienstleistungen privatisiert oder betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte in der Leistungserbringung und Qualitätssicherung zur Geltung bringt. Von einer Vermarktlichung wird man erst sprechen können, wenn Kernelemente eines Marktgeschehens zumindest ansatzweise verwirklicht sind. Zu diesen Kernelementen gehören eine symmetrische Beziehung zwischen Anbieter (Dienstleister) und Nachfrager (Kunde), wettbewerbliche Konkurrenzen auf Anbieter- wie Nachfragerseite, eine Preisbildung im Spannungsfeld von Angebot und Nachfrage und nicht zuletzt – sozusagen als Motor für eine marktliche Preisbildung – das Interesse des Anbieters an Gewinnerzielung sowie das korrespondierende Interesse des Nachfragers an Verlustvermeidung (im Sinne der Vermeidung hoher Preise).18 Je nachdem, wie stark man einzelne Kernelemente gewichtet, widerspricht eine Vermarktlichung der Sozialwirtschaft ihrer eigentlichen Intention. Wenn man die Erbringung einer personennahen sozialen Dienstleistung an die Bedingung einer angemessenen, eben marktüblichen Gegenleistung knüpft, verfehlt man den normativen Kern eines menschenrechtsethisch fundierten Sozialstaats, der soziale Anspruchsrechte jedes Einzelnen gerade unbeschadet seines Vermögens zur angemessenen Gegenleistung begründet. Wenn man die symmetrische Beziehung zwischen Erbringer und Empfänger sozialer Dienstleistung ___________ 17 18

Vgl. Grunwald (2001), S. 1797 ff. Vgl. Watrin (1993), S. 655.

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voraussetzt und sie an die Bedingung wechselseitig souveräner Entscheidungsund Handlungsfreiheit knüpft, überschätzt, ja idealisiert man die Situation des Hilfeempfängers als Kunden, weil man dessen in der Regel prekäre Lebenslage unterschätzt und verharmlost. Dies gilt insbesondere im Kontext von professioneller Pflege. Die Gewinnorientierung eines Anbieters steht dagegen nicht automatisch quer zum normativen Anspruch sozialstaatlich orientierter Wohlfahrtsproduktion – wenigstens dann nicht, wenn der (für gewöhnlich staatlich) vorgegebene oder vereinbarte Preis ausreichende Spielräume für die fachlich gebotene Qualität der Leistungserbringung gewährleistet und die Gewinnorientierung des sozialwirtschaftlich operierenden Unternehmens diesen Spielraum nicht zu Lasten des Leistungsempfängers verkleinert. Gewinnorientierung ist dann mit dem Sozialstaatsprinzip unverträglich, wenn sie die Erbringung personennaher sozialer Dienstleistung dominiert und damit die fachlich gebotenen Erfordernisse, etwa nach Lebensweltbezug oder Sozialraumorientierung, die nachbarschaftliche und zivilgesellschaftliche Ressourcen aktivieren, verunmöglicht. Durchaus denkbar, möglicherweise sogar geboten, sind Vermarktlichungstendenzen in Einzelsegmenten der Sozialwirtschaft, wie sie Frank Nullmeier im Bereich der Kostenträger für Sozialversicherungsleistungen vorschlägt.19 Sozialversicherungen sind eigentlich Leistungserbringer. Ihre Leistung besteht in der (teilweisen) Übernahme jener Kosten, die bei Eintreffen prekärer Lebenslagen, also Erwerbslosigkeit, Unfall, Krankheit oder Pflege, dem Versicherten entstehen. Dieses Konzept steht im Hintergrund des Bismarckschen Modells der Sozialversicherungen. Freilich teilt das Bismarcksche System durch seine kategorialen sowie leistungsdifferenzierten Anspruchsberechtigungen die Bevölkerung faktisch in Gesicherte (Erwerbstätige) und Ungesicherte (Nichterwerbstätige), sodass das Bismarcksche Sozialversicherungsprinzip allein das Sozialstaatsgebot einer Sicherung aller Bürgerinnen und Bürger nur unzureichend einlöst. Plausibel ist deshalb die Kritik Nullmeiers, dass das Geflecht gesetzlicher wie privater Versicherungen zu einer asymmetrischen Vermarktlichung geführt hat, deren System aus einseitigen Privilegierungen (etwa des Zugangs zum bzw. der Vergütungshöhe des Leistungsspektrums) und Grenzziehungen (etwa Beitragsbemessungsgrenze) in hohem Maß wettbewerbsverzerrend ist. Wenn eine konsequente Vermarktlichung auf der Seite der Leistungserbringer für Schadenskostenerstattungen zu einer Universalisierung von realen Anspruchsberechtigungen führt und in diesem Sinne tatsächlich ein sozialpolitisch taugliches Mittel für die Gewährleistung universaler Sozialrechte ist, so wie es Nullmeier vorschwebt, dann ist diese Vermarktlichungstendenz eines Teilsegments der Sozialwirtschaft nur zu begrüßen. ___________ 19

Vgl. Nullmeier in diesem Band.

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IV. Der Leistungsempfänger als Kunde? In vielen Bereichen der Sozialwirtschaft hat es sich eingebürgert, den Adressaten personennaher sozialer Dienstleistung nicht mehr als Hilfeempfänger einer Fürsorgeleistung, sondern als Kunden einer Dienstleistung zu bezeichnen. Diese semantische Verschiebung markiert einen Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Sozialwirtschaft, der einerseits Ergebnis einer bestimmten Form sozialberuflicher Professionalität ist, andererseits aber mit der Eigenlogik personennaher sozialer Dienstleistung unverträglich ist.20 Das Kundenmodell personennaher sozialer Dienstleitung hat sich als Ablösung vom Helfermodell klassischer Fürsorgebeziehungen herausprofiliert.21 Es zeichnet sich gegenüber dem Helfermodell dadurch aus, dass es die paternalistische Asymmetrie klassischer Helferbeziehungen durch eine klare „Geschäftsbeziehung“ zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer ersetzt und den Hilfebedürftigen als Kunden auf gleiche Augenhöhe zum sozialen Dienstleister als Anbieter eines Produkts hebt. Die Symmetrie zwischen Anbieter und Nachfrager soll nicht nur die Beschämung des unterlegenen Hilfebedürftigen vermeiden helfen, die mit klassischen Fürsorgebeziehungen meistens unweigerlich einhergeht. Sie soll den Anbieter gegenüber dem Kunden auch zu klaren und einklagbaren qualitativen Standards seiner Dienstleistung verpflichten. Personennahe soziale Dienstleistungen, die sich am Modell eines Handwerks orientieren, 22 müssen freilich unterstellen, dass ihre Kunden ähnlich frei und souverän dem Dienstleister gegenübertreten sowie dessen Qualität beurteilen können, wie die Kunden eines Zahntechnikers oder eines Schuhmachers. Selbst wenn man von solcher Kundensouveränität als Regelfall sogar ausgehen könnte, was angesichts der prekären Lebenslage der meisten Leistungsempfänger kaum anzunehmen ist, so stellt sich die Frage, ob die Produkteigenschaften im Handwerkermodell mit denen personennaher sozialer Dienstleistungen vergleichbar sind. Nochmals: Die Produkteigenschaften personennaher sozialer Dienstleistungen zielen auf die Sicherung, Steigerung oder Wiederherstellung persönlicher Lebensführungskompetenzen – und zwar in den Netzen und Beziehungen ihrer sozialen Lebenswelt und unter Einschluss endogener Ressourcen zur Problembewältigung („Selbsthilferessourcen“). Damit ist der Leistungsempfänger nicht nur Co-Produzent der Leistungserbringung, sondern seine Lebensführungskompetenz, ja gewissermaßen er selbst ist das Werkstück der Dienstleistungsproduktion.23 Im Handwerkermodell hingegen ist es allein ___________ 20 Ich habe das an anderer Stelle ausführlicher dargestellt in Lob-Hüdepohl (2003), S. 71 ff. 21 Vgl. Müller (1995). 22 Vgl. Goffman (1973). 23 Vgl. Arnold (2000), S. 70 f.

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der Anbieter, der in Ausübung seines „unprätentiösen Handwerks“24 mit seiner fachlichen Expertise das Werkstück erstellt, also das soziale Problem des Leistungsempfängers letztlich stellvertretend für ihn zu lösen beabsichtigt. Der Kunde wird zu dem verdinglicht, was Goffman nüchtern ein „bearbeitungsfähiges Objekt“ nennt.25 Die Unzulänglichkeit des „Handwerkermodells“ für die Beschreibung der Eigenlogik sozialwirtschaftlicher Wohlfahrtsproduktion dementiert natürlich keinesfalls den Sinn und die Notwendigkeit, die Qualität personennaher sozialer Dienstleistungen zu erfassen und zu sichern. Zwar ist deren Produkt ein mitunter kompliziertes Beziehungsgeschehen zwischen „Produzent“ und „Konsument“26, innerhalb dessen es zu Verbesserungen der Lebensführungskompetenzen kommt; ein Output, der für beide kurzfristig vielleicht nur schwer messbar ist. Die erschwerte Messbarkeit dispensiert aber nicht vom Bemühen um qualitativ gehaltvolle Arbeit. Gerade weil es sich bei der Produktion personennaher sozialer Dienstleistungen um Vertrauensgüter handelt, deren Güte vom Abnehmer nicht unmittelbar beeinflusst oder kontrolliert werden kann, ist ein Qualitätsmanagement unter Einbeziehung externer Begutachtung und Qualitätskontrolle nachgerade ein sozialstaatliches Erfordernis.27

V. Vermarktlichung der Sozialwirtschaft im Kontext von Pflege Die im Rahmen einer Vermarktlichung der Sozialwirtschaft eigentlich vorauszusetzende Kundensouveränität des Nachfragers personennaher sozialer Dienstleistungen ist in der Situation von Betreuung und Pflege naturgemäß sehr eingeschränkt. Es ist bedauerlich, dass viele Befürworter weiterer Vermarktlichung des Pflegesektors, die erwerbswirtschaftliche Elemente ausbauen wollen, diese Grundvoraussetzung erwerbswirtschaftlicher Produktion von (Dienstleistungs-)Gütern entweder achtlos beiseite schieben – und damit ihren eigenen Voraussetzungen widersprechen – oder aber kontrafaktisch und naiv voraussetzen. Ein Unterfangen, das die Wirklichkeit von Pflegebeziehungen wider besseren Wissens der Idealtypik eines marktlichen Theorieentwurfes anpasst und damit essenziell entstellt, ist nicht sachdienlich, sondern schlechterdings nur ideologisch.

___________ 24

Müller (1987), S. 54. Goffman (1973), S. 361. 26 Vgl. Grunwald (2001), S. 1796 f. 27 Vgl. Meinhold (1996); Oppen (1998). 25

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In gewissem Sinne ist der Staat der eigentliche Kunde der Sozialversicherungen, da er einen Teil seiner Kosten, die ihm als Garant für elementare soziale Anspruchsrechte seiner Bürger entstehen, über die Kostenbeteiligung der Pflegeversicherungen abzudecken sucht. 28 Deshalb könnte der Staat mit seiner durchaus starken Kundenstellung stellvertretend die Interessen der Pflegebedürftigen gegenüber allen Leistungserbringern zur Geltung bringen – schon allein deswegen, weil er die Kosten der Risikoabsicherung durch die Beitragszahlungen der potenziell Pflegebedürftigen finanziert. Somit hat der Staat als maßgeblicher sozialpolitischer Akteur die Aufgabe, die Einhaltung von Qualitätsstandards menschenwürdiger Pflege einzufordern, zu überwachen und vor allem Fehlanreize im System der Kostenübernahme bzw. der Zuschusshöhen abzubauen, die dem „Produktprofil“ der Pflege entgegenlaufen. Die Staffelung der Pflegestufen sowie ihre bereichspezifische Differenzierung nach ambulanter und stationärer bzw. familiarer und professioneller Pflege verleitet gerade gewinnorientierte Pflegeeinrichtungen dazu, sich auf eine basale „Satt- und Sauber-Pflege“ zu beschränken und die fachlich gebotenen und akzeptierten Standards einer aktivierenden Pflege zu unterlaufen, in deren Mittelpunkt gerade die psychosoziale Begleitung der spezifischen Erfahrungsräume pflegebedürftiger Menschen und damit die Vermeidung von Selbstpflegedefiziten stehen.29 Aktivierende Pflege setzt sich deshalb zum Ziel, die Höherstufung in der Pflegesystematik zu vermeiden oder sogar rückgängig zu machen. Das aber liegt gerade nicht im ökonomischen Interesse gewinnorientierter Pflegeeinrichtungen. Eine Vermarktlichung in diesem Segment der Sozialwirtschaft, die das für sich genommen legitime Interesse an Überschüssen von Unternehmen über die Qualitätsinteressen der Pflegebedürftigen setzten muss, widerspricht dem normativen Anspruch des Sozialstaats. Denn das SGB XI gibt im Sinne der menschenrechtsethischen Begründung des normativen Kerns aller Sozialstaatlichkeit in Deutschland als Leitlinie vor: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz des Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten.“ (SGB XI Abs. 1 §2)

___________ 28 Immerhin stand im Hintergrund der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung auch das Motiv, Pflegebedürftige, deren Alterseinkommen und Vermögen nur teilweise die Pflegekosten finanzieren können, nicht über die (steuerfinanzierte) Fürsorgeleistung der Sozialhilfe alimentieren zu müssen. 29 Vgl. Marriner-Tomey (1992).

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Zwei Argumentationen pro Wettbewerb – Korreferat zu Frank Nullmeier – Von Christoph Lütge

Aus meiner Sicht enthält der Beitrag Nullmeiers eine gewisse Spannung, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde. Der Beitrag schwankt aus meiner Sicht zwischen folgenden zwei Argumentationen: 1. Auf der einen Seite begrüßt Nullmeier die Einführung bzw. Verstärkung des Wettbewerbs im Sozialwesen. Er nennt als Vorteile beispielsweise, dass auch die gesetzlichen Kassen dann in größerem Rahmen tätig sein und sich einem offenen Wettbewerb mit den privaten stellen könnten. Und er sieht – worin ich zustimme –, dass die Pläne der Großen Koalition bisher im Wesentlichen eine traditionelle haushaltspolitische Sicht auf Sozialpolitik einnehmen. 2. Auf der anderen Seite aber entsteht immer wieder der Eindruck, dass nicht der Wettbewerb als solcher positiv zu bewerten ist, sondern nur der sozial korrigierte Wettbewerb. So heißt es auf S. 105, Sozialpolitik brauche Regulative, damit der Markt noch sozial ist. Das entspricht aus meiner Sicht eher einer traditionellen Verteidigung des Rheinischen Kapitalismus: die Marktwirtschaft als solche ist nicht in irgendeinem Sinn moralisch wünschenswert, sondern nur, weil sie durch Sozialgesetzgebung gezähmt wird. Ich lese dies auch aus den etwas halbherzigen Ausführungen auf S. 105: Nachdem dort eine ganze Reihe von Argumenten für die klassische Sozialpolitik aufgeführt wurden, heißt es danach, jetzt solle „dennoch“ auch für die „Vermarktlichung“ argumentiert werden, da die klassische Verteidigung des Wohlfahrtsstaates nicht „dauerhaft erfolgversprechend“ (S. 105) sei. Mit anderen Worten: Lieber wäre mir der alte Sozialstaat, aber er lässt sich nicht mehr durchhalten. Ich würde anders argumentieren, aber dazu gleich. Zunächst weitere Indizien: Die neoliberale Marktideologie wird aus meiner Sicht als Pappkamerad dargestellt: Wer möchte denn tatsächlich jegliche Regulierung abschaffen und den Bürger zum Marktanpasser oder Marktopportunisten (was ist das eigentlich?) erziehen? Noch etwas ist mir in diesem Zusammenhang völlig unklar: In welchem Sinn gibt es eine „Mittelschichtsorientierung bundesdeutscher Politik“ (S. 111), die „aus Gründen demokratischer

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Stabilität“ (S. 111) beibehalten werden sollte? Und was sind eigentlich „soziale Rechte“ (S. 109), die universell gelten sollen? Mir sind sie noch nicht begegnet.

I. Vorteile des Wettbewerbs Warum argumentiert man nicht konsequent für die moralische Qualität des Wettbewerbs? Und zwar ganz klassisch – es lohnt sich, daran immer mal wieder zu erinnern:1 Auf dem Wettbewerb beruht der Wohlstand der westlichen Marktwirtschaften. Der Wettbewerb prämiert Innovationen, und er zwingt diejenigen Akteure, die nicht selbst innovativ sind, sich unverzüglich an die Innovatoren und ihre Marktleistungen anzupassen. Wettbewerb fördert die Disziplin, und er sorgt auf diese Weise für eine schnelle Verbreitung der innovativen Problemlösungen, von „Wissen“. Darüber hinaus schafft und zerstört der Wettbewerb interimistisch entstehende Machtpositionen (Franz Böhm), die daher in einer Marktwirtschaft nicht von Dauer sein können. Damit haben wir folgende Problemlage: Der Wettbewerb scheint Humanität und Solidarität, kurz: Moral, im Handlungsvollzug moderner Marktwirtschaften unmöglich zu machen, weil sie systematisch ausbeutbar wird; andererseits sorgt er aber für einen breiten Massenwohlstand, auf den niemand verzichten will und der eine moralische Qualität hat, weil er vielen Menschen ein sinnvolles Leben ohne schlimme Not ermöglicht. Die Wirtschaftsethik löst dann die Frage, ob wir nicht beides, Wettbewerb und Moral, zugleich haben können durch die Unterscheidung zwischen Spielregeln und Spielzügen. Moral wird in die Spielregeln verlegt und der Wettbewerb kann dann im Rahmen dieser Regeln seine moralische Vorzugswürdigkeit entfalten. Damit steht der Wettbewerb im Dienst moralischer Intentionen, im Dienst von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität.

II. Sozialpolitik gegen und für den Markt Was hat dies mit Sozialpolitik zu tun? Ich erinnere hier an die Unterscheidung zwischen vier Typen von Sozialpolitik2, von denen hier nur zwei Typen relevant sind: Sozialpolitik gegen den Markt und Sozialpolitik für den Markt.3 Das sind selbstverständlich Idealtypen: Sozialpolitik gegen den Markt heißt Sozialpolitik dient dazu, die Wunden zu lindern und zu heilen, die Markt und ___________ 1

Vgl. Homann/Lütge (2005). Vgl. Homann/Lütge (2005), Kap. 1.4.3. 3 Die anderen beiden Typen, Sozialpolitik vor bzw. durch den Markt, werden im deutschen Sprachraum kaum ernsthaft vertreten. 2

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Wettbewerb schlagen. Reformen des Sozialstaates stehen unter dem Verdacht eines Abbaus von sozialer Sicherung und gelten daher tendenziell als „unsozial“. Dabei mag es sein, dass man zwar den Wettbewerb nicht völlig verteufelt; jedoch wird seine moralische Qualität nicht erkannt. Sozialpolitik für den Markt heißt dagegen – und diese Argumentation finde ich bei Nullmeier nirgendwo –, dass die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft durch Sozialversicherungen verbessert wird: Sozialleistungen werden als Versicherungen aufgefasst, die nicht nur dazu dienen, die Einzelnen vor sog. ‚unverdienter Not‘ zu bewahren, sondern es ihnen zu erlauben, im Marktgeschehen risikobereiter zu sein, was wiederum im Interesse aller liegt. Aber wenn diese Akteure wissen, dass sie im Misserfolgsfall nicht mit dem völligen Ruin bedroht sind, können sie diese Risiken eher und bereitwilliger eingehen. Und es wird in dieser Argumentation darüber hinaus deutlicher, dass auch die sog. ‚Starken‘ einen Vorteil von diesen Versicherungen haben, denn sie sind i.d.R. die maßgeblichen Risikoträger einer Gesellschaft. Sie können – um sich des Autofahrer-Bildes zu bedienen – schneller fahren, wenn sie wissen, dass sie ein leistungsfähiges ABS-System haben. Noch einmal: das sind Idealtypen. Nullmeier ist sicherlich über die klassische Sozialpolitik gegen den Markt hinaus, er spricht sich klar für Wettbewerb aus. Aber die theoretische Grundlage dafür bleibt unklar. Und dann werden Merkwürdigkeiten möglich, wie etwa die Aussage des AOK-Vorsitzenden Hans Jürgen Ahrens kürzlich bei Sabine Christiansen: Er sei schon für Wettbewerb, aber bitte nicht über den Preis (in diesem Fall die Arzthonorare). Hier wird praktisch deutlich, weshalb eine klare normative Grundlage notwendig ist, die die moralische Qualität des Wettbewerbs unmissverständlich herausstellt. Diese vermisse ich bei Nullmeier. Dann lassen sich Vokabeln wie „sozial verträglich“, „gerecht“ oder „sozialstaatlich“ nur auf traditionelle Art begründen – nämlich gegen den Wettbewerb oder als sein Korrektiv.

III. Sozialpolitik gegen und für den Markt Wenn man dagegen den Gedanken konsequent weiterdenkt, dass Wettbewerb im Interesse von Gerechtigkeit und Solidarität eingesetzt werden kann, dann gelangt man praktisch zum Teil zu ähnlichen, im Detail aber auch zu anderen Folgerungen als Nullmeier. Die Bürgerversicherung scheint mir hier ein gutes Beispiel zu sein: Ohne sie hier im Detail diskutieren zu können, mag sie eine Alternative zur Gesundheitsprämie sein, wenn sie konsequent den Wettbewerb fördert. Wenn sie jedoch dazu dient, die wenigen Bereiche, in denen wir im Moment funktionierenden Wettbewerb im Gesundheits- und Sozialwesen haben, auch noch zu streichen, dann wirkt sie kontraproduktiv. Und diese Gefahr scheint mir angesichts der real geplanten, nicht irgendwelcher idealen,

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Konzepte von Bürgerversicherung ausgesprochen groß. Weg von „berufsständischer Differenzierung“ (S. 106) ist ja ganz schön, aber kontraproduktiv, wenn im Resultat weniger Wettbewerb herrscht. Dann doch lieber ein vielleicht inkonsistentes, aber wenigstens zum Teil effizientes und damit keineswegs ungerechtes System. Ähnliche Bedenken gelten m.E. auch für die sog. „Vollsteuerfinanzierung“ der Gesundheitsprämie (S. 111). Im Gegensatz zu, wie Nullmeier schreibt, den gängigen Kopfpauschalmodellen, die nur teilsteuerfinanziert sind zum Zweck des sozialen Ausgleichs, soll die Vollsteuerfinanzierung das realisieren, „was eine leistungsfähigkeitsbezogene Bürgerversicherung erreichen will“ (S. 111). Aber was genau ist dieses Ziel? Mehr Gerechtigkeit herstellen? Der Gerechtigkeit dient vor allem verstärkter Wettbewerb und die Abkopplung vom Arbeitslohn mit damit verbundener Senkung der Lohnnebenkosten. Dieses Ziel scheint in Nullmeiers Konzept wieder aufgegeben zu sein, wenn ich ihn richtig lese (S. 111). Alle diese Probleme handelt man sich ein, wenn man nicht konsequent auf die (moralischen) Vorzüge des Wettbewerbs abstellt. Nullmeier stellt neoliberale und sozialliberale Strategie einander gegenüber – wobei mir nicht ganz deutlich geworden ist, ob die sozialliberale nun seinen Vorstellungen genau entspricht oder ob sie durch die sog. „Vermarktlichungsstrategie“ (S. 105 ff.) abgelöst bzw. verbessert werden soll. Wie dem auch sei, in jedem Fall können weder die sozialliberale noch die Vermarktlichungsstrategie – mindestens so, wie sie hier dargestellt werden – den Gedanken nicht denken, dass a) zu wenig Wettbewerb allen Beteiligten schadet und dass b) die Sozialversicherungen den Markt leistungsfähiger machen und damit auch den Starken nützen. Damit leisten sie keinen Beitrag zur Reformfähigkeit unserer Gesellschaft.

Literatur Homann, K. / Lütge, C. (2005): Einführung in die Wirtschaftsethik, 2. Aufl., Münster.

Besonderheiten der Sozialwirtschaft – Grenzen des Wettbewerbs? Von Joachim Wiemeyer

Einleitung Die Behandlung der Problematik, ob es Grenzen des Wettbewerbs in der Sozialwirtschaft gibt, setzt zum einen voraus, dass man „Sozialwirtschaft“ sinnvoll abgrenzen kann, so dass eine klare Unterscheidung von anderen Sektoren bzw. Bereichen der Volkswirtschaft wie etwa dem Finanzmarkt und der Güterproduktion gegeben ist. Sozialwirtschaft kann als ein Teilgebiet des Angebots bzw. der Produktion personenbezogener Dienstleistungen angesehen werden. Von anderen personenbezogenen Dienstleistungen (z.B. Friseure, Kosmetikerinnen) unterscheidet sich der Bereich der Sozialwirtschaft dadurch, dass seine Angebote nicht allein bzw. vorwiegend durch Nachfrage mit privater Kaufkraft bestimmt werden, sondern gesellschaftlich definierte Ansprüche im Sinne des Sozialrechts sind. Dies schließt nicht aus, dass kleine Teilgruppen der Nachfrager in der Sozialwirtschaft Selbstzahler (z.B. Privatpatienten) sind. Zur Abgrenzung des Bereichs der Sozialwirtschaft ist es irrelevant, ob die Angebote, etwa von Pflege- oder Krankenhausversorgungsleistungen, von einem öffentlichen, einem freigemeinnützigen oder einem privatwirtschaftlichen Krankenhaus- oder Altenheimträger bereitgestellt werden. Zum zweiten bedingt eine Frage nach „Grenzen des Wettbewerbs“, dass es sich bei „Markt“ und „Wettbewerb“ um klar definierte und empirisch gehaltvolle Begriffe handelt, so dass Grenzen des Wettbewerbs sinnvoll bestimmt werden können. Im Folgenden wird so vorgegangen, dass in einem ersten Abschnitt „Markt“ und „Wettbewerb“ näher umschrieben werden und nach ihrer empirischen Bedeutung gefragt wird. Wenn es praktisch in allen Märkten „Besonderheiten“ gibt, die jeweils spezifische Regulierungen für jeden einzelnen Markt bedingen, weil gewissermaßen jeder Markt aus der Perspektive der ökonomischen Modellwelt ein Ausnahmebereich ist, stellt sich lediglich die Frage nach der sachgerechten Regulierung eines Sektors. Die genaue institutionelle Ausgestaltung eines Sektors beinhaltet immer auch normative Implikationen, die häufig nicht ausdrücklich offen gelegt werden. Die Regulierung jedes Marktes ist historisch

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bedingt, so dass auf die Genese bzw. Pfadabhängigkeit dieses Sektors einzugehen ist. Anschließend wird nach den Bedingungen von Angebot, Nachfrage und der Produktart in der Sozialwirtschaft gefragt, um mit einigen Bemerkungen zur angemessenen Regulierung der Sozialwirtschaft zu schließen.

I. Grundelemente von Markt und Wettbewerb Von Markt und Wettbewerb kann man in der Ökonomie sprechen, wenn sowohl auf der Angebots- und Nachfrageseite eines Marktes als auch in der Interaktion von Angebot und Nachfrage bestimmte Bedingungen vorhanden sind. Solche Voraussetzungen der Angebotsseite sind: • Es muss mehrere Anbieter geben, bzw. vorhandene Marktteilnehmer sind durch potentiell leichten Markteintritt von Konkurrenten hinreichend unter Druck gesetzt, um sich fortlaufend um ein nachfragegerechtes Angebot zu bemühen. • Das Angebot kann sich flexibel Schwankungen bzw. Wandlungen der Nachfrageseite anpassen. • Es gibt zwischen den Anbietern ein Rivalitätsverhalten, das sich in Preisanpassungen, der Suche nach Produkt- und Prozessinnovationen niederschlägt. • Es gibt keine externen Effekte in der Produktion. Bedingungen der Nachfrageseite sind: • Es gibt eine Vielzahl potentieller Nachfrager, die unabhängig von einander agieren. • Diese Nachfrager sind mit hinreichender Kaufkraft ausgestattet. • Die Nachfrager haben keine festen Präferenzen für nur einen bzw. wenige Anbieter. • Die Nachfrager haben ein Urteilsvermögen, um das Preis-Leistungsverhältnis sachgerecht einzuschätzen. • Durch den Konsum eines Gutes ergeben sich keine negativen oder positiven externen Effekte. Angebot und Nachfrage können interagieren, wenn es sich um ein Gut handelt, bei dem individuelle Eigentumsrechte abgegrenzt werden können. Es muss kollektive Mechanismen am Markt geben, die dazu führen, dass die Qualität des Gutes eingeschätzt werden kann und sich ein Marktpreis bilden kann. Diese Preisbildungsfunktion kann eingeschränkt sein, wenn es z.B. bei relativ homogenen Gütern gravierende Preisunterschiede gibt. Wenn man nach diesen Standardannahmen Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft einführt, also nur gewinnorientierte private Anbieter hätte und

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die Leistungen nur aus dem Haushaltsbudget der Nachfrager bezahlt würden, könnten folgende Ergebnisse auftreten: • Ausschluss von Personen auch von lebenserhaltenden Maßnahmen, wegen fehlender Kaufkraft; • gravierende Qualitätsunterschiede von sozialwirtschaftlichen Leistungen je nach individueller Kaufkraft; • erhebliche Qualitätsunterschiede bei identischen Kosten, wegen Marktintransparenz und Problemen der Qualitätsmessung; • verstärkte soziale Selektion in der Gesellschaft, indem sich Angebote auf bestimmte Zielgruppen konzentrieren; • viele Angebote (z.B. für Nichtsesshafte) würden unter marktwirtschaftlichen Bedingungen vollständig fehlen; • regionale Unterversorgung wegen geringer Kaufkraft/dünner Besiedlung; • fehlender Wettbewerb durch lokale Monopole/Absprachen weniger Anbieter bei manchen sozialwirtschaftlichen Angeboten (Krankenhäusern). Verstärke Abschöpfung von Konsumentenrenten durch Preisdifferenzierung (wie heute schon bei Privatpatienten). Dass solche Gegebenheiten als gesellschaftliche Probleme identifiziert werden, hängt von vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen ab, weil z.B. beim Kauf anderer Güter (PKW, Reisen) die Gesellschaft den Ausschluss nach Kaufkraft, erhebliche Qualitätsunterschiede, soziale Selektion bei Urlaubsquartieren etc. akzeptiert. Dass es damit aber nur um Besonderheiten der Sozialwirtschaft geht, ist aber verfehlt anzunehmen. Märkte nach dem Standardmodell haben häufig zu gesellschaftlich unerwünschten Ergebnissen geführt. Aufgrund solcher Negativerfahrungen hat der Gesetzgeber für spezielle Märkte marktspezifische Gesetze, Aufsichtsbehörden etc. geschaffen. Daher sind bei kaum einem Markt die Bedingungen des simplen ökonomischen Standardmodells gegeben. Vielmehr kann man praktisch bei jedem real existierenden Markt Defizite im Sinne eines ökonomischen Standardmodells feststellen. D.h. die Modellwelt von Markt und Wettbewerb stellt für Ökonomen das problematische Ideal dar, jeden realen Markt jederzeit als fehlreguliert, ineffizient usw. kritisieren zu können. Im Hinblick auf die Modellwelt stellt jeder reale Markt einen Ausnahmebereich dar. 1 Während die allgemeine Volkswirtschaftslehre die Vorzüge der Modellwelt von Markt- und Wettbewerb aufzeigt, wird an den Lehrstühlen für spezielle Volkswirtschaftslehre dargelegt, weshalb bei ihnen diese Bedingungen nicht gelten (vgl. Lehrstühle/Institute für Energiewirtschaft, Verkehrswissenschaft, ___________ 1 Dies ist von Demsetz (1969) als „Nirvana approach“ schon lange herausgearbeitet worden.

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Wohnungswesen, Agrarpolitik, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Dienstleistungsökonomik etc.). Um zu verdeutlichen, dass die Sozialwirtschaft mit „Besonderheiten“ keineswegs allein dasteht, sollen einige Beispiele skizziert werden: 1. Finanzmärkte: Obwohl Finanzmärkte häufig als Ideal von Märkten gelten, weil bei ihnen die Transaktionskosten besonders gering sind und eine schnelle Anpassungsfähigkeit an neue Informationen gegeben ist, weisen sie eine hohe Regulierung auf. Gründungsvoraussetzungen für Banken (Höhe notwendigen Eigenkapitals), gesetzliche Vorschriften für die Qualifikation von Bankleitern, Eigenkapitalvorschriften bei der Kreditvergabe, eine staatliche Finanzmarktaufsicht, Vorschriften gegen Insiderhandel etc. bestimmen diesen stark regulierten Sektor. Sicherungsfonds schützen Sparer vor Konkursen einzelner Anbieter. Die staatliche Notenbank springt ein, wenn es zu Branchenkrisen über Herdenverhalten kommen sollte und damit ein Systemrisiko droht. Indem ein großer Teil des Marktes durch öffentliche Sparkassen und Genossenschaftsbanken bestimmt ist, kommt ein weiteres Element hinzu, das den Zugang für alle Bürger zu Bankkonten, die regionale Versorgung mit Bankleistungen usw. sichern soll. Ähnliches gilt für Versicherungen, Fonds etc. Die Wechselkursschwankungen zwischen Dollar und DM/Euro in den letzten 20 Jahren deuten auf ein systematisches Marktversagen hin, weil die Wechselkursschwankungen nichts mit unterschiedlichen Inflations- oder Wachstumsraten der Realwirtschaft zu tun hatten. 2. Leitungsgebundene Angebote: In den Bereichen der Wasser- und Abwasserversorgung, Gas, Strom, Telefon, Eisenbahn, Kabelfernsehen etc. gibt es die Ausgangsbedingung, dass zur Bereitstellung der Leitungen/Netze im Verhältnis zu den Kosten der Einzelprodukte sehr hohe „sunk costs“ gegeben sind. Dies führt zur Notwendigkeit einer staatlichen Aufsicht und Preisgenehmigung, weil der Aufbau eigener Netze durch konkurrierende Anbieter eine unüberwindbare Markteintrittsbarriere darstellt. Ob eine Trennung vom Netzangebot als Monopol und ein Wettbewerb von Netznutzern (z.B. Eisenbahn) funktionsfähig ist, ist bisher empirisch in Deutschland nicht erprobt. 3. Handwerk: In vielen Handwerkszweigen ist wegen gefahrengeneigten Angeboten (z.B. Elektroinstallation) zur Qualitätssicherung eine strikte Marktzugangsbarriere (Meisterzwang) auch nach der Lockerung der Handwerksordnung nach wie vor gegeben. 4. Persönliche Dienstleistungen: In den Bereichen der ärztlichen Versorgung, bei Anwälten und Notaren, Steuerberatern etc. gibt es strikte Zulassungsregelungen (Berufsprüfungen), staatliche Preisfestsetzungen (Gebührenordnungen) und berufsständische Berufsausübungsregelungen sowie Möglichkeiten des Entzugs der Berechtigung der Berufsausübung, während der eigentlich reguläre Markaustritt in der Marktwirtschaft, der Konkurs, faktisch keine Bedeutung hat.

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5. Wohnungsmarkt: Das Angebot an Wohnungen wird durch das öffentliche Bebauungsrecht (Baulandausweisung, Geschosshöhe), staatliche Subventionen, Wohngeldzahlungen und das Mietrecht reguliert. Es gibt eine Honorarordnung für Architekten. Bis vor kurzem war ein größerer Wohnungsbestand im öffentlichen Eigentum, so dass wenn man die Anteile von Eigenbesitz und vom sozialen Wohnungsbau abzieht, weniger als 40% des Angebots sich nach privatwirtschaftlichen Kriterien vollzogen, wobei auch dieser Restbereich stark reguliert (Mietrecht) ist. 6. Arbeitsmarkt: Durch das Tarifrecht und das Arbeitsrecht wird der Arbeitsmarkt direkt reguliert. Indirekt wird durch die Höhe staatlicher Sozialleistungen (Arbeitslosengeld II) Einfluss genommen. Langjährige (lebenslange) Beschäftigungsverhältnisse, betriebsinterne Arbeitsmärkte mit senioritätsbezogener Entlohnung schließen in weiten Bereichen des Arbeitsmarktes externe Marktbeziehungen praktisch aus. 7. Bildungssystem: Im Bildungsbereich gibt es ein kostenloses Angebot mit der Verpflichtung zum Zwangskonsum bei der Schulpflicht, weil Bildung mit positiven externen Effekten verbunden ist. Andere Bereiche wie die Hochschulund Erwachsenenbildung bleiben ebenfalls stark subventioniert, selbst wenn gewisse Eigenbeträge der Nutzer eingefordert werden. 8. Agrarsektor/Lebensmittelbereich: Die Produktion von Nahrungsmitteln wird vor ausländischer Konkurrenz geschützt, staatlich subventioniert, (Mindest-)Preise werden in Teilbereichen (Zucker) nach wie vor staatlich festgelegt. Die Produktion wird öffentlich überwacht (Fleischbeschau durch Tierärzte). Es gibt für die Produktion wie für Inhaltsstoffe, Auszeichnungspflichten, Vorschriften für die Lagerung (Kühlkette) etc. Eine Vielzahl staatlich kontrollierter Vorschriften dient dem Tierschutz (Hühnerbatterien, Tiertransporte) wie dem Gesundheitsschutz der Menschen. 9. Fremdenverkehr/Fernreisen: Damit Pauschalurlauber von fremden Orten tatsächlich einen Rücktransport erhalten und nicht wegen Konkurs des Reiseveranstalters oder von Fluglinien zurückbleiben, gibt es gesetzliche Vorschriften über Sicherungsscheine. 10. PC-Software: Im expandierenden PC-Markt deutet vieles darauf hin, dass es ein natürliches Monopol für Betriebssoftware gibt. Außerdem ist für die Produktentwicklung von Software ein Schutz geistigen Eigentums erforderlich. Diese unvollständige Übersicht soll deutlich machen, dass es jenseits der allgemeinen Marktregeln des klassischen Kartellrechts der verbotenen Kartellbildung und der Kontrolle von Großfusionen durch das Bundeskartellamt, eine Vielzahl von Gesetzen gibt, die den Marktzutritt regulieren, Preise kontrollieren, Nachfrager schützen etc., negative externe Effekte eindämmen, positive externe Effekte fördern etc. Außerdem gibt es für viele Märkte spezielle staat-

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liche Aufsichtsorgane bzw. Regulierungsbehörden oder Formen der Selbstregulierung (Kammern). Jeder Markt bedarf spezifischer institutioneller Arrangements. Die mehr als 20 000 Seiten Vorschriften, die ein neu der EU beitretendes Land in seine nationale Rechtsordnung übernehmen muss, bestehen weitgehend aus solchen spezifischen Regelungen für praktisch jeden einzelnen Markt. Solche Beispiele können natürlich nur einen illustrativen Charakter haben, weil im streng theoretisch-systematischen Sinn vor dem Hintergrund eines elaborierten ökonomischen Instrumentatriums detailliert nachgewiesen werden müsste, dass die jeweiligen Regulierungen effizient sind. Bestehende Regulierungen können u.a. aus folgenden Gründen immer problematisch sein: • Die Anbieter auf Märkten haben in der Regel Einfluss auf ihre spezielle Regulierung genommen, weil die Interessen von Kleingruppen besser organisiert werden können als Allgemeininteressen wie die Konsumenteninteressen.2 Daher können Regulierungen, die vorgeblich dem Gemeinwohl (z.B. Qualitätssicherung), faktisch auch oder sogar vor allem der Absicherung etablierter Marktposition von Anbietern dienen (rent-seeking). • Regulierungen sind in bestimmten historischen Situationen entstanden. Die äußeren Bedingungen, die ursprünglich einmal Anlass für eine Regulierung waren, können sich geändert haben, etwa wenn die Sicherung einer gewissen Eigenproduktion im Agrarbereich während des Ost-West-Konflikts plausibel war und diese Bedingung nach 1989 nicht mehr gegeben ist. Trotzdem werden sie nicht unmittelbar angepasst. • Technische oder organisatorische Innovationen können dazu führen, eine Regulierung zu ändern bzw. neuen oder mehr Wettbewerb möglich machen. Beispiel dafür ist, dass eine Vielzahl von Rundfunk- und Fernsehsender technisch möglich wurden bzw. Mobiltelefon eingeführt und ein Wettbewerb verschiedener Mobiltelefonanbieter aufkam. Eine Änderung von Regulierungen muss aber beachten, dass es eine Pfadabhängigkeit von Institutionen gibt und Kapital, Know how usw. in Institutionen investiert worden ist, so dass ein institutioneller Wandel erhebliche Transaktionskosten bedingen kann. Wenn also gemessen an einem Idealmodell von „Markt und Wettbewerb“ jeder Markt „Besonderheiten“ aufweist, stellt sich die Frage nach den jeweils spezifischen institutionellen Arrangements.

___________ 2

Dies hat Olson jr. (1968) herausgearbeitet.

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II. Die normative Perspektive institutioneller Arrangements von Einzelmärkten Wie institutionelle Arrangements einzelner Märkte gestaltet sein sollen, hängt auch von normativen Maßstäben ab. Es kommt darauf an, festzulegen, welche gesellschaftlichen Ziele in einzelnen Märkten Priorität haben sollen. Im Gegensatz zu den Vorstellungen von F. A. v. Hayek, der für möglichst breite Freiheit in der Verfolgung individueller Ziele plädiert, die Festlegung anderer kollektiver gesellschaftlicher Ziele zur Wirtschaftsgestaltung, etwa zur Bewertung von Marktergebnissen, aber als freiheitsfeindlich ablehnt, ist eine gesellschaftliche Festlegung und Verständigung über solche kollektiven Ziele des Wirtschaftens unverzichtbar. Da man etwa in hochinterdependenten Finanzmärkten eine Vertrauenskrise mit dem Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems als größte Gefährdung ansieht, lässt man etwa in diesem Sektor die regulären Selektionsmechanismen in Märkten, nämlich Konkurse, nicht zu und gibt dem Ziel der Stabilität Vorrang auch vor Konsumenteninteressen. Dies geschieht z.B. dadurch, dass man Versicherungskonzernen großzügig die Möglichkeit einräumt stille Reserven zu bilden, die weder an Versicherungsnehmer noch an Aktionäre ausgeschüttet werden. Auf den Agrarmärkten hat man höhere Preise für Konsumenten herbeigeführt und Subventionen für Anbieter geschaffen, weil man ein Mindesteinkommen für Landwirte sichern bzw. ihnen eine hohe Mobilität nicht zumuten wollte etc. Wenn jemand eine andere Regulierung in einem Sektor fordert, müsste methodisch korrekt explizit dargelegt werden: a) Verfolgt man ein anderes Zielsystem z.B. neue Ziele oder eine andere Gewichtung der Zielhierarchie für die Regulierung eines Sektors? oder b) Kann das gegebene Zielsystem mit anderen Instrumenten z.B. in dem Sinne besser erreichen, dass Ressourcen (z.B. Steuermittel, Aufwendungen der Konsumenten) eingespart werden? Auf diese Unterscheidung sei hier ausdrücklich hingewiesen, weil Ökonomen häufig die explizite Zieldiskussion nach a) unterlassen und keine neue Zielhierarchie begründen, sondern ihre anderen Instrumente gemäß b) lediglich implizit – und damit methodisch zweifelhaft – ein anderes Zielsystem enthalten.3 ___________ 3

Schramm (2007) weist zutreffend noch auf normative Hintergrundkonflikte in der Beurteilung von Wettbewerb in der Sozialwirtschaft hin, die nur bearbeitet werden können, wenn sie explizit dargelegt werden.

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Es ist daher explizit niederzulegen, welche normativen Ziele die Gesellschaft für die Sozialwirtschaft verfolgt. Dabei sind folgende Gesichtspunkte für das Zielsystem der Sozialwirtschaft zu berücksichtigen: 1. Leistungen der Sozialwirtschaft sollen im Bedarfsfall allen Bürgern unabhängig von ihrer individuellen Kaufkraft zur Verfügung stehen. 2. Leistungen der Sozialwirtschaft sollen den Bürgern in allen Regionen des Landes im Bedarfsfall mit einer Mindestqualität (z.B. Rettungswagen innerhalb 15 Minuten) zugänglich sein. 3. Im Bereich der Sozialwirtschaft tätige Personen sollen ein so hohes Gehalt erhalten und so gute Arbeitsbedingungen haben, dass in ausreichender Zahl Personen motiviert sind, diese Berufe zu ergreifen. Ebensowenig darf es aber eine Überbezahlung geben. 4. Soweit Nachfrager nach sozialwirtschaftlichen Leistungen diese beurteilen können, sollen sie nach ihren Präferenzen bereitgestellt werden. 5. Bei Leistungen, die kollektiv durch Steuermittel bzw. Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden, soll ein gesellschaftlich akzeptables Qualitätsniveau zu tragbaren Kosten bereitgestellt werden. Dies fordert in einzelwirtschaftlicher Hinsicht einen effizienten Einsatz von Ressourcen. 6. Aus dem Angebot sozialwirtschaftlicher Leistungen sollen Anbieter keine Überrenditen erzielen können. 7. Das Angebot soll sich flexibel wandelnden Bedürfnissen anpassen wie selbst neue Problemlösungen hervorbringen. Hier wird die Auffassung vertreten, dass sich diese Ziele vertragstheoretisch – etwa hinter einem rawls’schen Schleier des Nichtwissens – rekonstruieren lassen und gesamtgesellschaftlich konsensfähig sind. Diese Ziele lassen sich auch aus der Sozialgesetzgebung rekonstruieren. Eine genaue Reflexion der Begründung dieser Ziele, des Verhältnisses der Ziele untereinander und des Qualitätsniveaus, das gesellschaftlich mindestens auch durch kollektive Finanzierung, gewährleistet werden soll, würde den vorliegenden Rahmen sprengen.

III. Genese und traditionelle Regulierung der Sozialwirtschaft Angebote in den Bereichen, die heute zur Sozialwirtschaft gezählt werden, sind in der Vergangenheit durch kommunale Träger, Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände und Privatanbieter bereitgestellt worden.4 Dabei hatten – abgesehen von einigen Privatkliniken, die häufig Spezialkliniken, aber keine Akut___________ 4

Vgl. zur historischen Entwicklung: Bödege-Wolf/Schellberg (2005).

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krankenhäuser waren – privatwirtschaftlich orientierte Anbieter nur eine geringe Bedeutung. Ursache für die geringe Bedeutung privatwirtschaftlicher Anbieter war, dass ein großer Teil der Nachfrager nach sozialwirtschaftlichen Leistungen nicht die hinreichende Kaufkraft hatte, diese Leistungen nachzufragen. Daher wurden sozialwirtschaftliche Leistungen entweder aus Steuermitteln finanziert bzw. das Leistungsangebot – modern gesprochen – durch zivilgesellschaftliches Engagement (Spenden, Stiftungen, ehrenamtliche Betätigung) sowie Arbeitskräfte mit niedrigen Einkommenserwartungen (Ordensschwestern, Diakonissinnen) bereitgestellt. Zu Beginn des 20. Jh., aber auch noch bis Mitte des 20. Jh. war der Umfang sozialwirtschaftlicher Angebote gering. So gab es weder ein flächendeckendes Angebot an Kindergartenplätzen noch einen Rechtsanspruch auf diese. Relativ verbreitet waren allerdings Jugendhilfeeinrichtungen (Waisenhäuser), weniger Einrichtungen für Behinderte. Es gab vor allem für alleinstehende Personen ohne Kinder Altenheime in geringer Zahl. Krankenhäuser hatten noch kein so großes Gewicht in der medizinischen Versorgung, weil Behandlungsmöglichkeiten gering waren. Zwar wurden auch andere soziale Probleme (Straffälligenhilfe, Hilfe „für gefallene Mädchen“) reguliert. Andere Felder sozialer Problembereiche waren lange ein Tabu (Gewalt in Familien vor allem gegenüber Frauen und Kindern). Zu einer echten Expansion sozialwirtschaftlicher Angebote kam es in Deutschland erst nach 19505 aufgrund folgender Faktoren: • langjährige Pflege wird wegen erfolgreicher Bekämpfung von Infektionskrankheiten möglich und damit notwendig; • der medizinisch-technische Fortschritt führt zu einer Vielzahl neuer Behandlungsmethoden, so dass vermehrt Krankenhausaufenthalte sinnvoll werden; • soziale Probleme werden in einer offenen Gesellschaft nicht länger tabuisiert (psychische Erkrankungen, Suchtgefahren); • durch die große Anzahl von Zuwanderern (Ausländer, Aussiedler) entstehen Integrationsprobleme; • professionelle Sozialberufe entstehen, die bei Wegfall kostengünstiger Arbeitskräfte (Ordensschwestern, Diakonissinnen) eine höhere Bezahlung bedingen; • sozialwirtschaftliche Angebote bekommen einen Rechtsanspruch als flächendeckendes Versorgungsangebot (Kindergartenplätze).

___________ 5

Vgl. dazu: Ottnad/Wahl/Miegel (2000); S. 38 ff. und Zimmer/Nährlich (2003).

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Die Finanzierung dieser Angebote erfolgte durch Sozialversicherungen (Krankenversicherung und Rentenversicherung [Rehabilitation, Drogenentzug])6. Die übrigen Leistungen wurden schwerpunktmäßig finanziert über die Sozial- und Jugendhilfehaushalte der Kommunen, z.T. auch durch Investitionsmittel der Länder (Bau von Krankenhäusern Altenheimen). Weitere Finanzmittel kommen von den Trägern der Sozialwirtschaft (Kirchensteuermittel und Spenden bei Diakonie und Caritas, Spenden und Mitgliedsbeiträge bei AWO, DRK, DPWV) sowie von den Nutzern selbst, wie Elternbeiträge in Kindergärten. Die öffentliche Investitionsfinanzierung von Einrichtungen hatte die Funktion: • durch Steuermittel ein Angebot für Beitragszahler und die Nutzer günstiger zu machen; ein Verfahren, das unter anderem Aspekt gegenwärtig in der Krankenversicherung zur Senkung von Lohnnebenkosten diskutiert wird. Die Objektsubventionierung weniger Einrichtungen (Krankenhäuser, Altenheime) ist verwaltungsmäßig kostengünstiger als die regelmäßige Überprüfung Millionen einkommensschwacher Haushalte; • ein regional ausgewogenes Angebot in ähnlicher Qualität bereitzustellen; auf marktwirtschaftlicher Basis könnten sich in dünnbesiedelten Regionen entweder privatwirtschaftliche Monopole oder eine Unterversorgung herausbilden, die dann wieder Regulierung bzw. Subventionen zum regionalen Ausgleich bedingen (sozialwirtschaftliche Angebote als Bestandteile der Infrastruktur); • den quantitativen Umfang des Angebots zu steuern, was notwendig ist, wenn nicht eine Rationierung durch die Begrenzung der individuellen Kaufkraft der Nachfrager stattfindet. Da es in Teilen der Sozialwirtschaft (Gesundheitswesen, weniger Altenheimplätze) eine gewisse Angebotsdominanz gibt, die in Richtung hoher Kapazitätsauslastung tendiert, ist eine Steuerung notwendig; • Steuerung des Qualitätsniveaus des Angebots nach gesellschaftlichen Präferenzen, z.B. durch Investitionsaufwand pro Bett oder Platz in Krankenhäusern, Heimen etc. Dort, wo die laufenden Kosten praktisch vollständig von den Trägern der Sozial- und Jugendhilfen übernommen werden, wie bei der Finanzierung von Beratungsstellen, Anlaufstellen (Obdachlose) und ähnlichen Einrichtungen, wird ebenfalls darüber politisch entschieden, ob ein Angebot überhaupt vorgehalten werden soll, in welchem Umfang und zu welchen Kosten. Die Bin___________ 6

Renditeberechnungen der gesetzlichen Rentenversicherung im Vergleich zu Privatversicherungen verkennen oft, dass diese Leistungen anbietet, z.B. Drogenentzug, die nicht zum Leistungsprogramm privater Versicherungen gehören.

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dung an den BAT bei der Kostenerstattung gab zum einen das Gehaltsniveau wie die formale Voraussetzung für die Ausübung einer sozialen Tätigkeit vor. Wie in anderen Berufszweigen (Handwerk, Ärzte, Rechtsanwälte, 2. Staatsexamen für Lehrer, Promotion und Habilitation im Hochschulbereich etc.) sollte auch im sozialen Bereich zunehmend die formale Berufseingangsprüfung Qualität (Professionalisierung) gewährleisten. Hinzu kommt bei diesen Berufen wie bei den Berufen im sozialen Bereich, dass immer ein Berufsethos7 unterstellt wird, welches zu hinreichendem Arbeitseinsatz motiviert und opportunistisches Verhalten ausschließt, zumindest einschränkt. In dieser traditionellen Konzeption der Sozialwirtschaft, die bis in die 80er Jahre hinein bestand, gab es folgende Wettbewerbselemente: • In vielen Regionen standen verschiedene Krankenhäuser, auch mit unterschiedlicher Trägerstruktur zur Auswahl, ähnliches gilt für Altersheime und ambulante Pflegedienste (Sozialstationen). Die Zahl der Krankenhäuser wird wegen Verkürzung der Liegezeiten und der aus Qualitätsgründen notwendigen Mindestzahl von Operationen in einem Haus weiter sinken. • In der Kinderbetreuung (Kindergärten) gab es begrenzt erreichbare Angebote von öffentlichen wie kirchlichen Trägern und wenigen anderen freien Trägern. • Ebenso gab es vielfach Beratungsangebote (Erziehungs- und Familienberatung) unterschiedlicher Träger. Diese Wettbewerbselemente hatten aber nur Relevanz, so weit Nachfrager in ihren Präferenzen nicht strikt festgelegt sind, weil z.B. für sie als Katholik nur ein katholischer Kindergarten, ein katholisches Altenheim, ein katholisches Krankenhaus oder eine katholische Beratungsstelle in Frage kommt. Andere Angebote wurden nach Absprache der Wohlfahrtsverbände monopolistisch angeboten (z.B. Ausländerberatung für Türken durch AWO, für Spanier und Italiener durch die Caritas, für Griechen durch die Diakonie). Ebenso hatten manche Kommunen die einzig bestehende Einrichtung auf ihrem Gebiet (Frauenhaus, Drogenberatung, Schuldnerberatung etc.) einem Träger übergeben. Marktzutritt in der Sozialwirtschaft bestand in vielen Bereichen für privatwirtschaftliche Anbieter faktisch nicht, weil es keine hinreichende Anzahl von Personen gab, die aus privaten Einkommen entsprechende Leistungen nachgefragt haben. Es gab aber erhebliche Marktzutrittsmöglichkeiten für neue gemeinnützige Anbieter für sozialwirtschaftliche Leistungen. Der Markteintritt erfolgte aus Initiativen, die ursprünglich primär Selbsthilfegruppen waren. Seit den 70er Jahren gelang es vor allem über eine Finanzierung von ABM-Stellen ___________ 7

Vgl. zur Professionsethik: Langer (2005).

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durch Absolventen sozialer Berufe und verbundener politischer Lobbyarbeit, neue Angebote dauerhaft zu etablieren. Diese Initiativen sind weitgehend dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband beigetreten, der von der Anzahl der Einrichtungen her und bei den Steigerungssätzen des Personals stärker gewachsen ist, als etwa Caritas und Diakonie.8 Der Marktzutritt privatwirtschaftlicher Anbieter stellt sich aus der Sicht der Wohlfahrtsverbände als dialektisch dar, weil die Wohlfahrtsverbände bei vielen sozialen Leistungen erst einen Rechtsanspruch der Nutzer zugleich mit einer vollen Deckung der Kosten durch ihre Lobbyarbeit politisch erkämpft haben. Ohne Rechtsanspruch und ohne Vollkostendeckung könnte überhaupt kein Markt mit ausreichendem Volumen entstehen. Daher empfinden Wohlfahrtsverbände privatwirtschaftliche Anbieter irgendwie als unfaire Konkurrenz, weil sie sich in einem von den Wohlfahrtsverbänden erst ermöglichten Markt niederlassen. Sie können die privaten Anbieter aber auf diesem Feld nicht offen bekämpfen, weil sie dann ihre eigene erfolgreiche sozialpolitische Lobbyarbeit diskreditieren würden. Die Frage der angemessenen Regulierung der Sozialwirtschaft ergibt sich aus folgenden Faktoren9: • mangelnde Innovationsfähigkeit und Flexibilität von Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände wegen zu enger Anlehnung an staatliche Bürokratie; diese Kritik geht vor allem auf die Selbsthilfebewegung seit den 70er Jahren zurück; • das hohe Mengenwachstum und die hohen Kosten der Sozialwirtschaft führten zu überproportionalen Steigerungen der Kosten der Sozialversicherungen bzw. öffentlicher Sozialausgaben; • die duale Finanzierung (Investitionskosten aus Steuermitteln, Betriebskosten aus Sozialversicherungsbeiträgen) führt zu einer ineffizienten Faktorkombination;10 • Absprachen der Wohlfahrtsverbände über Angebotsarten wie Qualitätsstandards lassen einen Wettbewerb um das kostengünstigste Angebot nicht zu; • ein lange vorherrschendes Kostenerstattungssystem führte dazu, dass qualifiziertes Management und moderne Managementmethoden (Controlling) vernachlässigt wurden.

___________ 8

Vgl. Enste (2004), S. 142. Ausführlicher bei Wiemeyer (2005), bes. S. 34-36. 10 Vgl. zur Problematik einer dualen Krankenhausfinanzierung: Wiemeyer (1984). 9

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Eine wettbewerbliche Regulierung des Sozialmarktes zielt auf folgende Elemente ab11: • Erleichterung des Marktzutritts für privatwirtschaftliche Anbieter; dies ist im Pflegebereich für stationäre und ambulante Pflege im Pflegeversicherungsgesetz erfolgt. • Gleichbehandlung aller Anbieter unabhängig von ihrer Rechtsform hinsichtlich des Steuerrechts und des Zugangs zu kostengünstigen Arbeitskräften (Zivildienstleistende, 1-Euro-Jobs, ABM, freiwilliges soziales Jahr etc.); • Ablösung der Objektförderung (durch Investitionshilfen) durch Subjektförderung (Ausstattung der Klienten der Sozialwirtschaft mit Kaufkraft, z.B. auch durch Gutscheine), um die Entscheidungsfreiheit der Nachfrager zu erhöhen.

IV. Möglichkeiten und Grenzen von Wettbewerb in der Sozialwirtschaft12 Die Frage des Wettbewerbs in der Sozialwirtschaft soll in verschiedenen Schritten thematisiert werden. Dabei sind zunächst die unmittelbaren Nachfrager zu betrachten.

1. Die Nachfrageseite Die wichtigsten Nachfragergruppen lassen sich wie folgt unterteilen:13 1. 2. 3. 4.

Schwangere (Konfliktberatung), Kinder (Krippen, Kindergärten, Kinderhorte), Jugendliche (Freizeit, Heime), Familien (Sozialpädagogische Familienhilfe, Ehe- und Erziehungsberatung), 5. Migranten (Asylbewerber, Aussiedler, ausländische Arbeitnehmer), 6. körperlich Kranke (Akutfälle, geplante Behandlung, Kuren), 7. psychisch Kranke, Suchtkranke und Drogenabhängige, AIDS-Hilfe, 8. Behinderte (geistig, körperlich), 9. Straffällige und Strafentlassene, 10. Obdachlose (Wärmestuben, Übernachtungsmöglichkeiten), ___________ 11

Vgl. dazu Meyer (2005), grundlegend: Meyer (1999) und Enste (2004). Vgl. dazu auch Schramm (2007). 13 Vgl. Hottelet (2003). 12

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11. Langzeitarbeitslose, 12. Überschuldete, 13. Gewaltopfer (Frauenhäuser), 14. Pflegebedürftige. Wenn man diese Gruppen der Nachfrager nach sozialwirtschaftlichen Leistungen durchgeht und fragt, bei wem handelt es sich um Personen, die selbst voll im Sinne der Konsumentensouveränität entscheidungsfähig sind, bleiben folgende Gruppen bestehen: 1. Körperlich Kranke mit geplantem Behandlungsbedarf, z.B. einer Hüftoperation. Diese können sich über ihren Hausarzt, die Krankenkasse, Bekannte mit bereits durchgeführter Operation usw. informieren, welche Klinik erfolgversprechend ist. Wenn in einer Region mehrere Krankenhäuser bestimmte Leistungen anbieten, bestehen Wahlmöglichkeiten. Diese wird besonders für die Auswahl der Geburtshilfestationen gegenwärtig aktiv genutzt.14 2. Pflegebedürftige, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Dies trifft zum überwiegenden Teil auf Bewohner von Alten- und Pflegeheimen nicht zu, da dort überwiegend demente Personen behandelt werden und Personen in den letzten Lebensmonaten bzw. -wochen versorgt werden. Mangels befähigter Personen können Beiräte der Bewohner in Altenheimen häufig nicht besetzt werden. Personen, die hilfsbedürftig sind, aber selbst entscheidungsfähig, verbleiben häufig in der eigenen Wohnung und bedienen sich ambulanter Pflegedienste. Sie können zwischen Einzelpflegepersonen, privaten wie freigemeinnützigen Pflegediensten auswählen. 3. Jüngere körperlich Behinderte, z.B. Rollstuhlfahrer, die für bestimmte Vorgänge (Ankleiden, Körperreinigung) fremder Hilfe bedürfen. Wettbewerbsanhänger können zu Recht darauf verweisen, dass in einer Einrichtung, in der nur ein Teil der Nachfrager selbst entscheidungsfähig ist, erwartet werden kann, dass auch andere Personen gut behandelt werden, weil eine gute Organisation einer Einrichtung und ihre Reputation nach außen dafür sorgen, dass unabhängig von der Urteilsfähigkeit im Einzelfall eine gute Qualität gesichert ist. Es ist aber verfehlt, wenn pauschal mehr Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft gefordert wird und nicht für einzelne Nutzergruppen in transaktionsökonomischer Hinsicht an den einzelnen Schnittstellen präzise analysiert wird, welche Probleme auftreten und wie sie reguliert werden können.15 ___________ 14 15

So zutreffend Enste (2004), S. 171. Diese Detailanalyse fehlt z.B. bei Enste (2004).

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Für Pflegebedürftige und weitere körperlich behinderte Personen wird gegenwärtig erprobt16, ob es sinnvoll ist, das Sachleistungsprinzip zu ersetzen und ein eigenes Budget bereitzustellen, über das die Betroffenen selbst disponieren können. Diese Selbstorganisation der Pflege stellt damit die Stärkung eines Marktelements dar. Es ist aber vorgesehen, dass ein Case-Manager der Pflegeversicherung die Betroffenen berät und eine gewisse Überprüfung der Dispositionen des Pflegebedürftigen wahrnimmt. Solche eigenständigen Budgets werden vor allem von jüngeren körperlich Behinderten gewünscht, weil sie das Sachleistungsprinzip als Bevormundung empfinden. Es ist also festzuhalten, dass von den wichtigsten Gruppen, die sozialwirtschaftliche Leistungen nachfragen, nur ein Teil generell unmittelbar selbst entscheidungs- und urteilsfähig ist, was noch keine spezifische Urteilsfähigkeit hinsichtlich sozialer Dienstleistungen betrifft. Dies ist gesondert als Problem von Qualitätsmessung und Qualitätskontrolle zu behandeln. Mit dem Gesundheitswesen und der Altenpflege handelt es sich allerdings um umsatz- und beschäftigungsstarke Bereiche der Sozialwirtschaft17, in der Ansätze einer Konsumentensouveränität gegeben sind. Aber auch hier handelt es sich vielfach um „Erfahrungsgüter“18, deren Qualität erst nach ihrer Erbringung beurteilt werden kann. Bei anderen Personen ist eine begrenzte Urteils- und Entscheidungsfähigkeit vorhanden (Zuwanderer – systematische Informationsdefizite über deutsche Rechtslage), während sie bei Straffälliggewordenen und Überschuldeten durch ihr faktisches Verhalten in Zweifel zu ziehen ist. Bei weiteren Personen, die sozialwirtschaftliche Leistungen nachfragen, könnten an Stelle der unmittelbar Betroffenen, Angehörige bzw. amtlich bestellte Betreuer entscheiden. Dies gilt etwa für Kinder und Jugendliche, Unfallverletzte und schwer Akuterkrankte, Pflegebedürftige, schwer psychisch Kranke, geistig Behinderte etc. So könnten Eltern Kindergärten auswählen oder Kinder für ihre Eltern Pflegeheime aussuchen. Ebenso könnten Betreuer Pflegeheime auswählen. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass damit im sozialen Bereich ein spezifisches „Prinzipal agent“-Problem auftaucht, weil nicht von einer vollständigen Kongruenz der Interessen ausgegangen werden kann (teures Heim mit guter Pflege mindert Erbschaft, wie häufig besuchen Kinder die Eltern im Heim?). Wenn Kinder aus Migrantenhaushalten die geringste Quote des Kindergartenbesuchs aufweisen, stellt sich ebenfalls die Frage, ob und wieweit Eltern tatsächlich im Sinne der langfristigen Lebensinteressen ihrer Kinder handeln. ___________ 16

Vgl. Arntz/Spermann (2005) und aus ethischer Sicht: Eurich (2005a). Vgl. Ottnad/Wahl/Miegel (2000), S. 27. 18 Vgl. Liebig (2005), S. 109. 17

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Anhänger von mehr Wettbewerb in der Sozialwirtschaft plädieren dafür, an Stelle von Objektförderung eine Subjektförderung einzuführen. Dies würde etwa im Kindergartenbereich bedeuten, dass nicht mehr unmittelbar an die Träger von Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderhorten Zuschüsse geleistet werden, um die Beiträge der Eltern zu reduzieren, sondern ein erhöhtes Kindergeld gezahlt wird, das den Eltern die finanzielle Möglichkeit gibt, zu entscheiden, ob Kinder zu Hause betreut werden, ohne dass – im Regelfall für die Mutter – ein ökonomischer Zwang zur Erwerbsarbeit besteht. Problematisch wäre aber vor allem, dass dann Mütter mit Chancen auf nur niedriges Markteinkommen ihre Kinder zu Hause betreuen würden, während Bezieher höherer Markteinkommen Kinder extern betreuen lassen würden. Dann würden vor allem Kinder aus Migrantenfamilien und aus Haushalten von Deutschen mit niedrigem Bildungsstand Kindergärten nicht besuchen. Dies würde deren Entwicklungschancen mindern (negative externe Effekte).19 Wenn keine hinreichende Chancengerechtigkeit für sozial schwache Bevölkerungsgruppen gegeben ist, kann sich dies langfristig wachstumsmindernd auswirken. Wenn man nicht Transfers an die Eltern bar auszahlen will, könnte man an die Eltern Betreuungsgutscheine ausgeben, die bei Einrichtungen nach Wahl abgegeben werden können. Die Einrichtungen selbst müssen zugelassen/akkreditiert sein, um eine Mindestqualität zu sichern. In Hamburg gibt es seit einiger Zeit ein solches System. Dieses Hamburger System weist zum einen die Schwäche auf, dass Gutscheine für Ganztagsbetreuung nur ausgeben werden, wenn beide Eltern erwerbstätig sind. Dies führt aus sozialpolitischer Hinsicht zur Problematik, dass vorwiegend Mittelschichten begünstigt werden, während untere soziale Schichten benachteiligt werden. Außerdem kommt es zu einem Hin und Her, wenn für die 6 Wochen Probezeit einer alleinerziehenden Mutter Ganztagsbetreuung bezahlt wird, wenn diese aber wieder arbeitslos wird, nur noch Halbtagsbetreuung finanziert wird.20 Selbst wenn man durch die Ausgabe von Gutscheinen für Ganztagsbetreuung vor allem sozial schwache Personen und Migranten veranlassen würde, Ganztagseinrichtungen für ihre Kinder zu nutzen, was im Interesse der Kinder liegen dürfte, weil sie durch Spracherwerb, gesündere Ernährung, Weckung von mehr Interessen usw. gefördert werden, bleibt bei Subjektförderung an Stelle von Objektförderung ein Problem: Es könnte sich bereits im Bereich der Kindergärten eine soziale Absonderung ergeben, weil Kinder aus der Mittelschicht dann andere Einrichtungen als Kinder aus Unterschichten besuchen werden. So soll es in Hamburg bereits einen Abbau von Kinderbetreuungseinrichtungen in sozial problematischen Wohnquartieren geben. Wenn hingegen eine Stadtplanung eine soziale Durchmischung von Wohnquartieren sichert und ___________ 19 20

Dies verkennt Enste (2004), S. 164 u. S. 188. Vgl. zur Kritik: Diller (2005).

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es für Kindergärten und Grundschulen Einzugsbereiche gibt, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert. Dies könnte als positiver externer Effekt angesehen werden, der durch eine stärkere Marktsteuerung über Bildungsgutscheine nicht erreicht wird. Ein weiteres Problem besteht darin, ob Anbieter jenseits der Erlöse durch Gutscheine berechtigt sind, selbst weitere Nutzerentgelte zu erheben, wie dies in Hamburg im Kita-System zulässig ist.21 Dadurch dürften sich Tendenzen einer gesellschaftlichen Selektion verstärken. Neben den Kita-Gutscheinen gibt es im Sozialbereich ein weiteres Experiment mit einem Gutscheinsystem in der Bundesagentur für Arbeit. Da der kostenlosen Arbeitsvermittlung der Bundesagentur nur eine unzureichende Effizienz der Vermittlung unterstellt wird, hingegen privater Arbeitsvermittlung eine höhere Leistungsfähigkeit zugewiesen wurde, haben Arbeitslose unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, Vermittlungsgutscheine kostenlos zu erhalten, die im Erfolgsfall von den privaten Arbeitsvermittlern bei der Bundesagentur für Arbeit eingelöst werden können. Von über 1 Million ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen wurden lediglich 70 000 eingelöst. Lediglich 1,1% der Abgänge aus der Arbeitslosigkeit sind damit auf Vermittlungsgutscheine zurückzuführen.22 Damit ist nicht gesagt, dass Subjektförderung mit Gutscheinsystemen im sozialen Bereich generell verfehlt ist, es kommt aber auf die detaillierte Ausgestaltung an. Diese genannten Beispiele zeigen vielmehr, dass Gutscheinsysteme per se als ein vorgeblich marktnäheres Instrument nicht ohne weiteres von vornherein bessere Ergebnisse sicherstellen.

2. Die Angebotsseite In der Sozialwirtschaft wird gefordert, das dominierende Angebot durch öffentliche und freigemeinnützige Anbieter unter den Konkurrenzdruck privater Anbieter zu setzen. Argumente für privatwirtschaftliche Anbieter sind, dass • sie durch bessere Managementmethoden, einen effizienteren Ressourceneinsatz ermöglichen; • durch Ketten-/Konzernbildung optimale Betriebsgrößen geschaffen werden können (Großeinkauf). Die Betriebsgrößen sind deshalb leichter zu erreichen, weil kommunale Träger durch ihren engen Regionalbezug und freigemeinnützige Träger durch ihre Ausrichtung (Schwierigkeiten der Kooperation zwischen katholischen und protestantischen Trägern) gehindert sind, betriebswirtschaftlich optimale Betriebsgrößen zu erreichen; ___________ 21 22

Vgl. Enste (2004), S. 188. Vgl. Hujer u.a. (2005).

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• sie marktgerecht entlohnen können, so dass sie eine Überbezahlung im Gegensatz zu den Tarifen des öffentlichen Dienstes (vor allem zusätzliche Alterssicherung) bei öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern vermeiden können. Demgegenüber könnten freigemeinnützige Träger folgende Vorteile aufweisen: • zusätzliche Mobilisierung von Ressourcen (Kapital durch Spenden, Stiftungen, ehrenamtliches Engagement); • höhere Motivation der Arbeitskräfte wegen ihrer weltanschaulichen Übereinstimmung mit den Zielsetzungen des Trägers; • weltanschauliche Zusatzangebote (religiöse Angebote); • geringere Erwartungen an eine Verzinsung des Eigenkapitals (eine gewisse Verzinsung ist notwendig, um z.B. Nettoinvestitionen durchführen zu können). In dünn besiedelten Regionen kann es bei den Angeboten sozialwirtschaftlicher Leistungen zu engen Oligopolen bzw. lokalen Monopolen kommen. Klassisch stellte in solchen Konstellationen ein öffentliches Angebot und/oder eine freiwillige Selbstbindung eines gemeinnützigen Trägers, der lokal in der Zivilgesellschaft verwurzelt ist, eine hinreichende Selbstbindung zum Schutz der Abnehmer dar.23 Wenn es auch öffentliche und freigemeinnützige Anbieter in einem lokalen Markt gibt, könnten diese auch private zu einem wettbewerbskonformen Verhalten zwingen. Wenn es nur privatwirtschaftliche Anbieter gibt, stellt sich die Frage, ob über eine staatliche Aufsicht bzw. die Gegenmacht der Nachfrager (Krankenkassen) eine Kontrolle stattfindet. Eine weitere Problematik stellt sich, wenn private Anbieter entweder insolvent werden, deren Angebot ein wichtiger Bestandteil lokaler Infrastruktur (z.B. Rettungsdienst) ist, oder mit Rücksicht auf die lokale Versorgungssituation Einrichtungen mit einer zu geringen Rentabilität schließen. Im letzten Fall könnte zwar die öffentliche Hand mit Subventionen bereitstehen. Es stellt sich aber die Frage, ob wegen Informationsasymmetrien, ein privatwirtschaftlicher Anbieter nicht die Schließung einer Einrichtung glaubwürdig androhen könnte, obwohl er dies nicht beabsichtigt, lediglich um zur Gewinnsteigerung Subventionen zu erschleichen.

___________ 23 Grossekettler (1984) sieht auch die Genossenschaft für solche Konstellationen als geeignete Regulierungsform an.

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3. Charakteristika sozialer Dienstleistungen und Probleme der Qualitätskontrolle Die traditionelle Qualitätskontrolle erfolgte in der Sozialwirtschaft dadurch, dass man davon ausging, dass öffentliche wie freigemeinnützige Träger durch organisatorische Maßnahmen eine hinreichende Qualität sicherstellen. Hinzu kommen Anforderungen an die formale Qualifikation des Personals und eine ausreichende Finanzierung. In jüngster Zeit sind als Qualitätsnachweis verstärkt umfangreiche Dokumentationen hinzugetreten. Diese sollen auch Abrechnungsbetrug vermeiden helfen. Die Schwierigkeiten der Qualitätskontrolle bei sozialen Dienstleistungen liegen nicht nur in der unzureichenden Konsumentensouveränität der Nutzer, sondern auch in der Art der Produkte.24 So können mangelhafte Sachgüter zurückgegeben oder repariert werden. Es gibt technische Funktionsprüfungen. Dies ist bei sozialen Dienstleistungen nicht möglich. Vielmehr sind Dienstleistungsmärkte von wechselseitigen Informationssymmetrien und mangelnder Zurechenbarkeit gekennzeichnet. So kann etwa ein Patient unzureichend an seiner Gesundung mitwirken, indem er ärztliche Auflagen nicht beachtet oder sich durch falsche Angaben ein Attest zur Krankschreibung erschleicht, umgekehrt kann ein Arzt einem Patienten unnötige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen aufgrund seines Informationsvorsprungs „andrehen“, um höhere Einnahmen zu erzielen. Der Kostenträger (Krankenkassen) muss so einen möglichen Opportunismus beider Seiten fürchten. Dies unterscheidet soziale Dienstleistungen in den Möglichkeiten externer Qualitätskontrolle vom Angebot etwa von Sachgütern oder auch von Dienstleistungen wie Autoreparaturen.25 Da Dienstleistungen nicht standardisiert sind, weisen sie zwangsläufig für jeden Nachfrager eine unterschiedliche Qualität auf. Dies erschwert für die Nachfrager die Beurteilung des Preis-Leistungsverhältnisses. Ebenso gibt es Schwierigkeiten der Qualitätsmessung für andere mit einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen in Verbindung stehenden Personen und Institutionen. Dies gilt für die Kostenträger (Sozialhilfe, Jugendhilfeträger, Sozialversicherungen), für die Träger eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens selbst (soweit es sich nicht um eine ordenseigene Einrichtung handelt, in der noch eine Reihe von Schwestern aktiv mitarbeiten), die selbst nicht direkt am unmittelbaren betrieblichen Ablauf beteiligt sind (z.B. Kirchenvorstand einer Pfarrgemeinde) sowie die Angehörigen/Betreuer der Nutzer. Die Etablierung eines systematischen Qualitätsmanagements steht noch in vielen sozialwirt___________ 24 25

Vgl. speziell zur Qualitätsproblematik in der Pflege: Sauerland (2007). Vgl. Arnold (2003), S. 229 f.

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schaftlichen Einrichtungen am Anfang.26 So werden Verfahren, wie eine externe Zertifizierung, erst in jüngster Zeit verstärkt erprobt. Viele soziale Dienstleistungen sind „Vertrauensgüter“, weil sich die Nachfrager gegenüber anderen Personen mit ihren Problemen offenbaren müssen. Es ist bemerkenswert, dass in den Bereichen, wo sie dies gegenüber Rechtsanwälten, Steuerberatern, Ärzten usw. ebenfalls tun, es einerseits strikte Verschwiegenheitspflichten gibt, andererseits der Staat auch Gebührenordnungen festlegt, um Vertrauensverhältnisse nicht durch Preisverhandlungen zu belasten bzw. opportunistisches Verhalten der Anbieter zu begünstigen. Wenn man bei sozialen Dienstleistungen noch Probleme der Empfänger (früher sprach man von Klienten) hinzu nimmt, die z.B. als überschuldete Personen, Suchtabhängige, psychisch Kranke etc. häufig nur in Co-Produktion ihr Verhalten ändern können, wird die Qualitätsmessung weiterhin erschwert. Der Erfolg bzw. Misserfolg einer Therapie kann nicht allein dem Anbieter zugewiesen werden, sondern hängt vom Beitrag des „Koproduzenten“, des Empfängers, ab.27 Wegen der Bedeutung von Vertrauensgütern28 und der Co-Produktion kann es problematisch sein, wenn z.B. ein Sozialarbeiter als privater Einzelunternehmer soziale Dienstleistungen erbringt. Die Kontrolle innerhalb einer Gruppe, gegenseitige Fachbesprechungen, etwa durch eine auf Reputation bedachte Organisation können hier hilfreich sein. Andere Probleme der Qualitätskontrolle bestehen überall dort, wo sich die Angebote nicht unmittelbar an Einzelpersonen richten, sondern an größere Personengruppen. Beispiele hierfür sind z.B. ein Jugendtreff, Cafes für Drogenabhängige, Anlaufstellen für Nichtsesshafte etc. So ist es schwer feststellbar, ob durch die Aktivitäten eines Sozialarbeiters ein Jugendlicher zur Aufnahme bzw. zum Durchhalten einer Lehre motiviert wurde, Straftaten mit Gefängnisaufenthalten unterblieben etc., so dass auch gesellschaftliche Kosten erspart wurden. Ein weiteres Problem der Qualitätsbewertung und Qualitätskontrolle ergibt sich bei öffentlichen Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen. So hatte die Bundesagentur für Arbeit arbeitsmarktpolitische Maßnahmen an Organisationen vergeben, die zwar kostengünstig erschienen, aber wenig Erfolge vorwiesen bzw. bald darauf in Konkurs (Maatwerk) gingen, während Träger bei den Ausschreibungen leer ausgingen, die teurer waren, aber über langjährige Erfahrungen und Verbindungen zum ersten Arbeitsmarkt verfügten. Dies ist aller___________ 26

Vgl. Arnold (2003a), S. 239. Die Problematik der „Beziehungsarbeit“ wird bei Ottnad/Wahl/Miegel (2000), S. 28 unterschätzt. 28 Vgl. Wiemeyer (1999). 27

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dings kein generelles Problem von Ausschreibungsverfahren29, sondern kann durch verbesserte Ausschreibungsverfahren vermieden werden.

V. Wettbewerbsanstöße durch privatwirtschaftliche Anbieter Da zu den Zielsetzungen für den sozialwirtschaftlichen Bereich auch die Kostenkontrolle und die Verbreitung von Innovationen gehört, erscheint ein Marktzugang/eine Marktzulassung für private Anbieter unter bestimmten institutionellen Arrangements als sinnvoll. Durch ihre Konkurrenz zu öffentlichen Anbietern und freigemeinnützigen Anbietern können sie diese unter Wettbewerbsdruck setzen, um Innovationen anzuregen, effiziente Managementmethoden und Größenbetriebsvorteile30 zu verbreiten und die Abwälzung überhöhter Personalkosten und ineffizienter Entlohnungssysteme (Öffentlicher Dienst)31 auf Sozialversicherungen, Steuer- und Kirchensteuerzahler sowie Nutzer vermeiden. Allerdings ist der Wettbewerbsdruck in weiten Teilen der Sozialwirtschaft noch nicht groß genug, sonst hätten sich Dienstnehmer und Dienstgeber bei der Caritas in 10 Jahren auf ein neues wettbewerbsfähiges Entlohnungssystem geeinigt. Wenn man davon ausgeht, dass die Bildung effizienter Betriebsgrößen, die Einführung von modernen Managementmethoden, die Einführung von Innovationen auch öffentlichen und freigemeinnützigen Anbietern offenstehen, sie aber eine geringere Verzinsung von Eigenkapital als privatwirtschaftliche Anbieter anstreben müssen, dürften sie sich dauerhaft am Markt behaupten können bzw. sogar Wettbewerbsvorsprünge erzielen, weil sie z.B. Zusatzangebote (z.B. religiöse) bieten können. Wieso durch qualitativ hochwertige und kostengünstige Angebote von Hüftoperationen in kirchlichen Krankenhäusern im Wettbewerb mit privatwirtschaftlichen Anbietern eine Gefährdung des diakonischen Grundauftrages und der sozialanwaltschaftlichen Aufgabe kirchlicher Wohlfahrtsverbände erwachsen können32, ist nicht ersichtlich, bezieht sich doch die sozialanwaltschaftliche Funktion vor allem auf Arbeitsbereiche von Diakonie und Caritas (z.B. Obdachlose), die weder gegenwärtig noch in Zukunft ein Arbeitsbereich börsennotierter Unternehmen sein werden. In den Bereichen, in denen, wie bei stationären Alten- und Pflegeheimen, selbst die Grundstückkosten – eines möglicherweise durch Schenkung oder ___________ 29

Vgl. dazu den Beitrag von Cremer (2007). Vgl. Hildemann (2001), S. 21. 31 Vgl. Enste (2004), S. 130 f. 32 So die Auffassung von Eurich (2005). 30

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Verbilligung erhaltenen Grundstücks – voll in die Pflegesätze eingerechnet werden, ist eine Gleichstellung der Wettbewerber erforderlich, z.B. in steuerlicher Hinsicht.33 Wenn dann ein kirchliches Altenheim ehrenamtliche Mitarbeiter gewinnt oder z.B. für Ausflugsfahrten mit Heimbewohnern durch Sponsoren einen Kleinbus erhält, wäre dies ein Qualitätskennzeichen dieser Angebotsform und macht deutlich, dass kirchliche Sozialeinrichtungen die Chance für systematische Wettbewerbsvorsprünge haben, bei gleichen (z.B. steuerrechtlichen) Ausgangsbedingungen.

Schlusswort In der Sozialwirtschaft gibt es wegen des sozialethisch gebotenen Verzichts des Ausschlusses nach Kaufkraft, des Charakters von sozialen Dienstleistungen als „Vertrauensgüter“ und vielfach der Notwendigkeit der Co-Produktion, häufig nicht oder nur eingeschränkter urteils- und entscheidungsfähiger Nachfrager, Schwierigkeiten externer Qualitätsmessung, Monopolisierungsgefahren, Notwendigkeit bestimmte Leistungsangebote auch in allen Regionen permanent vorzuhalten, den Bedarf an spezifischen institutionellen Regelungen. Wenn man neue institutionelle Regelungen vorschlägt, sollte man sich aber der Logik (bzw. der Probleme) vergewissern, zu deren Lösung sie geschaffen wurden. Außerdem sollte man das Zielsystem analysieren, das hinter solchen Regelungen steht. Die permanente Reflexion über gesellschaftliche Zielsysteme und verbesserte institutionelle Regelungen sind die zentralen Anliegen der Christlichen Sozialethik. Der vorliegende Beitrag sollte daher eine gewisse Heuristik dafür liefern, welche Gesichtspunkte bei der Gestaltung institutioneller Arrangements in Einzelbereichen der Sozialwirtschaft detailliert betrachtet werden sollten. In eine solche Analyse könnten zudem ein Institutionenvergleich mit Regelungen der Sozialwirtschaft in anderen Ländern einbezogen werden, wo solche sozialen Dienstleistungen auch vielfach von öffentlichen Trägern wie von gemeinnützigen Anbietern (Dritter Sektor) bereitgestellt werden.

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___________ 33

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Sozialwirtschaft und gesellschaftliche Wohlfahrtspflege – Korreferat zu Joachim Wiemeyer – Von Johannes Eurich Bei der Diskussion um die Vor- und Nachteile der ökonomischen Steuerung der Wohlfahrtspflege sollten verschiedene Ebenen differenziert angesprochen werden: Die Makro-Ebene, auf der unterschiedliche gesellschaftliche Ordnungsentwürfe einander gegenüber gestellt werden, die Meso-Ebene der sozialen Institution und ihrer betrieblichen Führung und die Mikro-Ebene der Erbringung der sozialen Dienstleitung am oder unter Kooperation mit dem/r Adressaten/in (Kunden/in). Die ökonomische Diskussion bezieht sich auf unterschiedliche Szenarien sozialer Dienstleistungsproduktion auf den einzelnen Ebenen und ihre an Effizienz und Effektivität gemessenen Ergebnisse hinsichtlich der jeweils dazu eingesetzten Instrumente. So ist z.B. auf der Makro-Ebene auffällig, dass dabei oftmals nur zwei Modelle berücksichtigt werden: das staatsbürokratische Modell und das Marktmodell.1 Die intermediäre Sphäre mit ihren in Deutschland geschichtlich gewachsenen Besonderheiten kommt in vielen Analysen nicht vor. Weiterhin sind die Ausgangsbedingungen für die Einführung ökonomischer Rahmenbedingungen in den einzelnen Bereichen der Wohlfahrtspflege sehr verschieden. Unterteilt man sozialstaatliche Aufgabenfelder in die der Versicherung (im Sinne der Risikoabsicherung), der Vorsorge und der Fürsorge, so ergeben sich bei den einzelnen Bereichen unterschiedliche Voraussetzungen für die Einführung marktlicher Elemente. Vor allem im Bereich der klassischen Fürsorge trifft man auf Prinzipal-Agent-Probleme, die weder hinreichend erfasst noch detailliert analysiert werden. Es finden sich lediglich Hinweise auf andere Versicherungsmärkte, Treuhandmodelle oder Stellvertretungsoptionen, die jedoch hinsichtlich ihrer Implikationen auf die Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen nicht ausgeführt sind.2 Wenn vor diesem Hintergrund mein Beitrag die Binnenperspektive von Akteuren aus der Freien Wohlfahrtspflege einnimmt, dann ist damit keine rein kritische oder ablehnende Sicht zur Einführung wettbewerblicher Rahmenbe___________ 1 Vgl. zur Funktion der beiden Ordnungsvorstellungen im gegenwärtigen Reformprozess des Sozialstaats Eurich/Brink/Hädrich/Langer/Schröder (2005). 2 Vgl. Wiemeyer (2007), S. 145 in diesem Band.

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dingungen im Wohlfahrtsbereich intendiert. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, welche Schwierigkeiten besonders im Bereich der Fürsorge (personenbezogene soziale Dienstleistungen) durch die ökonomische Steuerung auftreten können und welche Folgen dies für die gesellschaftliche Kohäsion haben kann.

I. Besonderheiten der ‚Produktion‘ personenbezogener sozialer Dienstleistungen 1. Kundenbegriff Wiemeyers Auflistung3 von Einschränkungen der Kundensouveränität kann durch eine differenzierte Darstellung der Anbieter-Kunden-Relation ergänzt werden, denn der Kundenbegriff weckt oftmals falsche Assoziationen. Zunächst kann an dem sozialrechtlichen Leistungsdreieck aus Leistungserbringer, öffentlichem Kostenträger und Nutzer gezeigt werden, dass eine zweiseitige, üblicherweise im Kundenbegriff vorausgesetzte Beziehung von leistungserbringendem Anbieter und konsumierendem Nachfrager nur in den seltensten Fällen im Wohlfahrtsbereich existiert. Zu dieser zweistelligen Konstellation kommt in der Regel immer der öffentliche Kostenträger hinzu – und zwar unabhängig davon, ob die Leistung von einem öffentlichen, freien oder privaten Leistungserbringer angeboten wird. Die dreipolige Struktur ist nach wie vor für die Mehrheit der sozialen Dienstleistungen kennzeichnend. „So mag ein auf Pflege angewiesener Nutzer (‚Kunde‘) durchaus rational zwischen einzelnen Leistungsanbietern (Leistungserbringern) auf dem Pflegemarkt entscheiden, allein die Kriterien des Kostenträgers zur Feststellung eines vorliegenden Bedarfs und damit der Zugang zu solidarisch finanzierten Mitteln konstituieren erst seine Nachfragefähigkeit.“4 Nur wenn man von der dreistelligen Relation Kostenträger-Leistungserbringer-Nutzer absieht, kann man soziale Dienstleistungen im engeren Sinn als marktfähig bezeichnen. Daher muss in den meisten Fällen der Kostenträger – und im Fall der Stellvertretung zusätzlich noch eine weitere Relation – miteinbezogen werden, da erst durch den Kostenträger die Nachfragefähigkeit gesichert wird. Hier muss kritisch gefragt werden, wann und in welchem Bereich personenbezogener sozialer Dienstleistungen der Kunde überhaupt mit dem Anbieter sozialer Dienstleistungen direkt in Kontakt kommt, ohne vorher ‚Adressaten-Kunde‘ des öffentlichen Trägers zu sein?5 Die Nachfragemacht öffentlicher Sozialträger (kommunale Ämter, Sozialausschüsse der Landkreise, Landschafts- oder Landeswohlfahrtsverbände etc.), die in einer Relation zu den Dienstleistern auftreten, die man auch als Kunden___________ 3

Vgl. Wiemeyer (2007), S. 143 ff. in diesem Band. Maaser (2005), S. 68. 5 Diesen Hinweis verdanke ich Andreas Langer. 4

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Relation beschreiben kann, bleibt oftmals unberücksichtigt, hat jedoch erheblichen Einfluss auf die Nachfrage von sozialen Dienstleistungen durch die Adressaten Sozialer Arbeit. Finanziert ein Jugendamt beispielsweise die Unterbringung eines Jugendlichen nur in Höhe des jeweils kostengünstigsten Angebots eines Dienstleisters, so kommt es durch diesen Fehlanreiz zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung, weil teurere, aber qualitativ höherwertigere Angebote kaum eine Chance haben, sich auf dem Markt zu halten (s.u. 3.).6 Der Spielraum des Kunden, zwischen unterschiedlichen Angeboten auswählen zu können, ist nur so groß, wie ihn der Kostenträger mit Finanzmitteln ausstattet – schlechtestenfalls wird nur ein geringes Angebot an Dienstleistungen übrig bleiben, die er nachfragen kann. Damit eine marktfähige Dienstleistung vorliegt, müssen mindestens ein selbstständiger und wohlinformierter Nachfrager und mindestens ein privater oder anderer Anbieter vorhanden sein.7 Dabei ist zu bedenken, dass viele personenbezogene soziale Dienstleistungen nicht nur einen hohen Vorhalteaufwand erfordern, sondern häufig mit zur selbständigen Entscheidung (zeitweise) unfähigen Nachfragern zu tun haben. In den Kontexten Sozialer Arbeit muss eine nachhaltige Selbständigkeit oftmals erst einmal entwickelt werden bzw. ist manchmal gar nicht (mehr) entwickelbar. Sie kann daher nicht als Bedingung der Relation Anbieter-Nachfrager in einem Marktgeschehen vorausgesetzt werden, da sie eine der Zielvorstellungen professionellen Handelns angibt. Es ist deshalb unzureichend, einfach von den Präferenzen eines Kunden auszugehen. Hier müssten ökonomischerseits auch Restriktionen bzw. Anreize in der Anbieter-Kunden-Relation abgebildet werden. Zumindest sollte mit einem differenzierteren Kundenprofil gearbeitet werden: „Es entstehen je nachdem nachfragefähige Teilkunden und Kunden sowie nachfrageunfähige Bedürftige.“8 Zudem müssen unterschiedliche Asymmetrien (strukturelle, informationsvalente, gruppendynamische) in der Beziehung zwischen Anbieter und Nutzer berücksichtigt werden. Zieht man diese Faktoren in Betracht, kann es bei selbstvertretungs-unfähigen Kunden (z.B. an Demenz erkrankten Bewohnern eines Altenpflegeheimes) zu Prinzipal-Agent-Problemen kommen, welche Stellvertretungsoptionen unterlaufen und zu Paradoxien führen, die bisher ungelöst sind.9 Auch der ins Feld geführte Gegensatz zwischen paternalistischer Fürsorge einerseits und der Selbstbestimmung des Kunden andererseits hilft kaum weiter, denn diese Unterscheidung hat in der professionellen Sozialen Arbeit allen___________ 6

Vgl. Langer (2006a). Vgl. Ottnad/Wahl/Miegel (2000), S. 23-29. 8 Maaser (2005), S. 75. 9 Vgl. hierzu Langer/Brink/Eurich/Schröder (2006).

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falls einen heuristischen Erkenntniswert.10 Soziale Arbeit ist dadurch charakterisiert, dass sie auf die Mitwirkung des Kunden angewiesen ist, da dieser nicht nur ‚Objekt‘ der Dienstleistung ist und das ‚Produkt‘ Sozialer Arbeit darstellt, sondern selbst als Co-Produzent11 betrachtet werden muss, also als ein ‚Subjekt‘ Sozialer Arbeit berücksichtigt werden muss.12 Stellt man diese Bedingungen Sozialer Arbeit in Rechnung, kann eine Marktsituation nicht von vornherein als grundsätzlich gegeben angenommen werden.13

2. Kundenbeziehung und Produktbeschreibung Die Einführung wettbewerblicher Rahmenbedingungen hat die Sozialen Einrichtungen herausgefordert, ihre Dienstleistungen auf ihre Adäquatheit, Nutzerorientiertheit und Ressourcenverwendung hin zu überprüfen. „Eine Ökonomisierung Sozialer Arbeit ohne Qualitätsverlust erscheint nur in dem Maße möglich, wie es der Sozialen Arbeit gelingt, angemessene professionelle Dienstleistungsstandards (Produkte und Produktbeschreibungen) zu entwickeln und in der Gesellschaft durchzusetzen.“14 Damit diese Produkte nicht ausschließlich an ihren Kosten gemessen werden, ist die Qualitätskontrolle (s.u.) ein entscheidendes Kriterium zur Sicherung fachlicher Standards. Jedoch ergeben sich bereits bei der Produktbeschreibung deutliche Schwierigkeiten. Horcher konstatiert: „Weder die Nachfrager, noch die Käufer, Nutzer und Interessenten sozialer Arbeit sind immer eindeutig identifizierbar.“15 So müssen Dienstleistungen immer im Verhältnis zu den Interessen der Adressaten/Kunden beschrieben werden. Hier kommt die bereits genannte mehrpolige Kundenrelation ins Spiel. Soziale Arbeit muss sich bei einem Dienstleistungsangebot oftmals nicht nur mit einem, sondern gleichzeitig mit mehreren unterschiedlichen ‚Kunden‘, die nicht alle direkt mit Kaufkraft ausgestattet sind, hinsichtlich der einen Dienstleistung auseinander setzen – mehrere unterschiedliche Präferenzen müssen also berücksichtigt werden. Beispielsweise sind bei der Jugendarbeit nicht nur Jugendliche und deren Familien ‚Kunden‘, sondern auch der öffentliche Auftraggeber, die politischen Entscheidungsträger oder die Schule. Diese Konstel___________ 10

Vgl. Maaser (2005), S. 76. Vgl. Schaarschuch (1996), S. 89. 12 In diesem Zusammenhang sind z.B. einseitige Vertrauensvorleistungen seitens der professionellen Akteure zu beobachten, die durch Verweigerungshaltungen seitens der Kunden beantwortet werden können. Wie solche Situationen quantifizierbar gemacht werden können, bleibt bislang ungeklärt. 13 Vielmehr stellt die Marktfähigkeit von Menschen das Ergebnis eines hochkomplexen individuellen und gesellschaftlichen Bildungs- und Entwicklungsprozesses dar, der nicht unbesehen einfach vorausgesetzt werden darf. Vgl. Schulz-Nieswandt (2004). 14 Maier zitiert nach Horcher (2003), S. 414. 15 Horcher (2003), S. 414. 11

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lationen werden in der ökonomischen Diskussion meines Erachtens bislang nicht hinreichend aufgenommen.

3. Effizienz, Effektivität und Qualität Die eingeführten Messkriterien für die Dienstleistungserbringung sind überwiegend am Output (wie viele durchgeführte Waschungen, angerichtete Frühstücke etc. in welcher Zeit mit welchen Mitteln) orientiert. Dadurch können organisationale Abläufe effizienter gestaltet werden. Fraglich ist jedoch, ob auf diese Weise die Qualität (im Sinne fachlicher Standards) der Dienstleistungserbringung gesichert werden kann. „Die derzeit häufig verwendeten Messgrößen sind allenfalls Erfolgsfaktoren für die Effizienz, nicht aber für die Effektivität von Leistungen.“16 Die Leistungsbeschreibung und deren Qualitätsüberprüfung muss sich bei Sozialer Arbeit jedoch auf den erzielten Outcome (erzielte Wirkung der Dienstleistung am Kunden) beziehen, denn Soziale Arbeit hat ihren Zweck in der Bearbeitung der Bedürfnislage des Kunden nach professionellen Standards. Durch die derzeitige Konzentration auf organisationale Effizienz werden zwei unterschiedliche Perspektiven für Soziale Arbeit eröffnet: „die Perspektive eines preisgesteuerten Kostenwettbewerbs auf der einen Seite und die Perspektive eines fachlich verantworteten Qualitätswettbewerbs auf der anderen Seite.“17 In Frage steht hier, ob Soziale Arbeit sich auf die Bedarfsund Bedürfnisgerechtigkeit der Angebote sozialer Leistungen und die darauf bezogenen fachlichen Standards beziehen muss oder nicht. Die bisher gemachten Erfahrungen zeigen deutlich, dass die Einführung der ökonomischen Steuerung verbunden mit der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte vor allem zur Situation des Preiswettbewerbs geführt hat. Die Verhandlungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern nehmen vor allem auf die Kostenseite Bezug, nicht aber auf die Qualität der angebotenen Leistungen. Weiter zu bedenken ist, dass personenbezogene soziale Dienstleistungen in der Regel prozessual betrachtet werden müssen, da Vertrauen ein wesentlicher Faktor zwischen Anbietern und Kunden ist, es sich also um die Produktion von Vertrauensgütern handelt.18 Die Aufteilung einer solchen Vertrauensbeziehung macht kaum Sinn, da die Integrität der Dienstleistung idealerweise durch einen Akteur gesichert werden sollte.19 Im Zuge der ökonomischen Erfassung der Dienstleistungserbringung geschieht jedoch genau das Gegenteil: „So werden fachliche ___________ 16

Horcher (2003), S. 427. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002), S. 256. 18 Vgl. Langer (2006b). 19 Vgl. Herrmann (2002), S. 23: „Die Leistung stellt eine Einheit dar. Auch wenn unterschiedliche Teilelemente existieren, so ist doch das Ausschlaggebende gerade die Einheit dieser Elemente – die Einheit, die mehr bildet als die Summe der Elemente.“ 17

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Dienstleistungen teilweise vollständig in steuernde, kleinteilige Kostenformate eingepasst und absorbieren im Einzelfall fachlich Notwendiges und menschlich Gebotenes.“20 Die Konsequenzen für die Ausrichtung Sozialer Arbeit sind Inhalt des folgenden Punkts.

4. Kritikpunkte der ökonomischen Steuerung Bei einer Dominanz des Kosten- zu Lasten des Qualitätswettbewerbs entstehen folgende Risiken:21 • Das Wahlrecht der Kunden/innen kann dadurch ausgehebelt werden, dass jeweils der kostengünstigste Anbieter den Zuschlag für die Dienstleistung erhält und es so für bestimmte Leistungen nur noch einen Anbieter gibt (Monopolstellung). • Wenn vor allem der Preis Entscheidungskriterium für die Vereinbarung von Leistungsentgelten zwischen Kostenträgern, Kunden und Dienstleistungsanbietern ist, kann dies zu schnellen Wechseln bei den Anbietern führen. Kurzfristige Wechsel bedeuten jedoch Betreuungsabbrüche sowie massive Verunsicherungen des Fachpersonals hinsichtlich ihres Arbeitsplatzes. • Wenn die Anbieter gezwungen sind, ihre Leistungen immer günstiger anzubieten, kann dies auf die Dauer nur zu Abstrichen bei der Qualität führen. Genau dies ist z.Zt. in einigen Bereichen der Wohlfahrtspflege zu beobachten.22 • Die Rolle der öffentlichen Träger wird undurchsichtig: Einerseits gerät die Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers für die professionelle Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben beim Kostenwettbewerb in Spannung zum Betätigungsrecht der nicht-öffentlichen Träger. Diese können nicht gezwungen werden, Leistungsreserven vorzuhalten, wozu der öffentliche Träger jedoch verpflichtet ist. Daher kann der öffentliche Träger genötigt sein, selbst als Leistungsanbieter aufzutreten. • Die kooperative und fachliche Gestaltung einer bedarfsgerechten Angebotsstruktur ist auf der ausschließlichen Basis von Preisverhandlungen zwischen öffentlichem und freiem Träger nur schwer realisierbar.

___________ 20

Maaser (2004), S. 239. Vgl. hierzu Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002), S. 256 f. 22 Im Bereich der Altenpflegeheime wird z.B. die gesetzlich vorgeschriebene Fachpersonalquote z.T. massiv unterschritten. 21

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Für den Nutzer im sozialen Dreiecksverhältnis bleibt am Ende entscheidend, wie groß bzw. wie umfangreich der Leistungskern definiert wird, den er durch den öffentlichen Kostenträger als ‚Kunde‘ nachfragen kann. Der Leistungskern wird gegenwärtig jedoch bei der Festlegung der Qualitätsstandards durch das Kriterium des Outputs und nicht des Outcomes beschrieben (s.o.). Damit wird die Leistungserbringung (Output) und deren Qualitätssicherung nicht an den beabsichtigten bzw. erzielten Wirkungen an den Adressaten (outcome) orientiert. Soziale Arbeit muss dagegen die Bedarfs- und Bedürfnisgerechtigkeit der Angebote sozialer Leistungen samt den darauf bezogenen fachlichen Standards in den Mittelpunkt stellen.

II. Solidarität, die intermediäre Sphäre und sozialwirtschaftliche Organisationen Wiemeyer geht in seinem Beitrag durchweg von sozialwirtschaftlichen Organisationen (SWO) aus. Durchgesetzt hat sich dieser Begriff mit dem „Lehrbuch der Sozialwirtschaft“23 von Arnold/Maelicke. Jedoch sollte hier weiterhin zwischen gewinnorientierten und nicht-gewinnorientierten Organisationen differenziert werden. Viele Akteure der Wohlfahrtspflege sind nach wie vor eher als Non-Profit-Organisationen (NPO) zu bezeichnen.24 Ein wesentlicher Unterschied zu privatgewerblichen Akteuren der Sozialwirtschaft besteht darin, dass NPOs kein Gewinnmaximierungsziel verfolgen dürfen. „Vielmehr stellt die Verfolgung des vorgegebenen ideellen Ziels stets die oberste Handlungspriorität dar.“25 In Deutschland ist ebenso wie in vielen anderen Ländern die Ausschüttung von etwaigen Überschüssen von NPOs an Außenstehende strikt untersagt. NPOs werden als „zielorientierte prinzipielle Unternehmen“26 bezeichnet und sind in ihrer unternehmerischen Strategie gegenüber gewinnorientierten eingeschränkt. Sie können Dienstleistungen nicht beliebig verändern und sich auch nicht so leicht aus unrentablen Geschäftsfeldern zurückziehen wie etwa ein an der Börse notiertes Kapitalunternehmen. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass im sozialen Bereich Entscheidungen darüber, welches Angebot aufrecht erhalten werden soll und welches nicht, nicht durch den unmittelbaren Austausch von Leistung und Gegenleistung bestimmt wird, sondern durch den gesamtgesellschaftlichen Kontext. „Diese Situation begrenzt ebenso wie der bindende Satzungsauftrag und das Selbstverständnis der besonderen Verantwortung für die ‚Schützlinge‘ in der Tat die Entscheidungsfreiheit und strategi___________ 23

Arnold/Maelicke (2003). Vgl. die Bestandsaufnahme von Boeßenecker (2004). 25 Graf Strachwitz (2000), S. 28. 26 Graf Strachwitz (2000), S. 29. 24

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sche Planung zielorientierter Unternehmen, kann allerdings auch zum Schutzschild werden, hinter dem sich eine suboptimale Nutzung von Ressourcen verstecken kann.“27 Aufgrund des Missbrauchs des ‚Schutzschildes‘ ist verständlich, dass manche Ökonomen die Umwandlung von NPOs in gewinnorientierte SWOs fordern und Anreize für eine bessere Ressourcenverwendung vorsehen. Jedoch wird dabei oftmals vergessen, die besondere Funktion von NPOs im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang einzubeziehen,28 was im Folgenden kurz angedeutet werden soll. In modernen pluralistischen Gesellschaften beruht Solidarität nicht auf vorgegebenen homogenen Bindungen, sondern auf freiwilligen Bündnissen zwischen unterschiedlichen Menschen, die gemeinsame Zielvorstellungen teilen. Nach Reuter setzen moderne Solidaritätsformen die Ausdifferenzierung von Markt und Staat bereits voraus: „Auch Solidarität intendiert Reziprozität, aber ohne – wie der Markt – mit dem Anspruch auf eine berechenbare formalisierte Gegenleistung verbunden zu sein; auch Solidarität rekurriert auf ein einigendes soziales Band, aber nicht – wie der Staat – auf den hoheitlich garantierten Rechtszwang […].“29 Daher bilden sich spezifisch moderne Solidaritätsstrukturen typischerweise in jener intermediären Sphäre zwischen Staatsbürokratie und Marktökonomie heraus.30 Viele soziale Dienstleister gehören als NPOs genau dieser intermediären Sphäre an, in der auch die anderen Akteure der Zivilgesellschaft wie autonome Initiativen, Kooperativen und Assoziationen zu finden sind. Eine Regulierung des Dritten Sektors rein nach Marktbedingungen entzieht der Zivilgesellschaft wesentliche Akteure und hätte – bei einem Wegfall von NPOs – gravierende Folgen für das Verständnis gesellschaftlicher Solidarität. Ungeklärt bleibt bisher, wie gewinnorientierte sozialwirtschaftliche Organisationen diese Funktion ausüben könnten. Offensichtlich ist, dass bürgerschaftliches Engagement durch ideelle Ziele motiviert ist, die gerade zu solchen Organisationsformen geführt haben, in denen ebendiese ideellen Ziele Priorität vor Gewinnerzielungsabsichten haben. Daher ist in einem stärker ökonomisch ausgerichteten Wohlfahrtsbereich (Sozialwirtschaft) das Thema der Verankerung gesellschaftlicher Solidarität zu diskutieren. Denn im Blick auf den deutschen Sozialstaat verändert die ökonomische Steuerung des Dritten Sektors auch die Rolle intermediärer Organisationen. Durch die Trennung von Gewährleistungs- und Durchführungsverantwortung will der Staat die Leistungserbringer einer vermehrten Kontrolle der Dienstleistungsproduktion unterwerfen. „Konsequent zählen diese im Rahmen ___________ 27

Graf Strachwitz (2000), S. 31 f. Vgl. Merchel (1996), S. 296-311, bes. S. 302 zu der sozialpolitischen Funktion der Wohlfahrtsverbände. 29 Reuter (1998), S. 159. 30 Vgl. Reuter (1998), S. 159. 28

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des Wettbewerbs auch nicht mehr als Mitgestaltende der Sozialpolitik, sondern als Dienstleistende, die gehalten sind, ihre Aufgaben effizient und transparent zu erfüllen.“31 Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch die forcierte Einführung ökonomischer Steuerung in weiteren Bereichen des Sozialstaats die modernen Solidaritätsstrukturen ausgehöhlt werden. Eine der entscheidenden Fragen, über die Marktvertreter hier Auskunft geben müssen, lautet: Wie wird in einem Sozialmarkt die Zuteilung von Lebenschancen für sozial benachteiligte Menschen gewährleistet?

III. Sozialkapital und Sozialanwaltschaft Hinsichtlich der Interessenvertretung gesellschaftlich marginalisierter Menschen kann m.E. nicht auf die Idee eines qualitätsinformierten und ggf. sozialpolitisch durch Solidarkassen ermächtigten Kunden verwiesen werden. Nicht nur aufgrund der oben dargestellten Schwierigkeiten des Kundenbegriffes, sondern auch aus den folgenden Gründen muss eine solche Argumentation als idealistisch bezeichnet werden. Zum Einen muss diskutiert werden, inwiefern ein nach wettbewerblichen Rahmenbedingungen organisierter Dritter Sektor noch das gesellschaftliche Leitbild einer civil society stützt. Hier ist daran zu erinnern, dass sozialstaatliche Maßnahmen nicht nur die materielle Absicherung von Bedürftigen zum Ziel haben, sondern darüber hinaus als „Befähigung zu aktiver Mitgestaltung des Gemeinwesens, als Ermöglichung zur Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess, als Ermächtigung der Schwachen und Marginalisierten zu selbstbestimmter Lebensführung und öffentlicher Artikulation ihrer Interessen“32 verstanden werden. Nicht umsonst wird in der politischen Philosophie die Sozialstaatsfrage auch als demokratische Frage thematisiert, denn „die Herstellung annähernd gleicher Entfaltungschancen ist die Voraussetzung für den Gebrauch der politischen Freiheit durch die einzelnen ebenso wie für die Bewahrung der freiheitlich-demokratischen Lebensform aller“33. Die chancengleiche Nutzung der persönlichen und politischen Freiheitsrechte durch eine Politik des Ausgleichs ungleicher Ressourcenverteilung wurde daher als „Staatsbürgerqualifikationspolitik“34 legitimiert. Hier ist zu klären, wie das Demokratieund Beteiligungsmotiv in einem Sozialmarkt bewahrt werden kann, ohne es

___________ 31

Dahme/Kühnlein/Wohlfahrt (2004), S. 362. Reuter (1998), S. 157. 33 Vgl. Reuter (1998), S. 157. Hervorhebung im Original. 34 Habermas (1992), S. 504. 32

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durch Betonung der Kundenperspektive auf das reine Eigeninteresse der Nutzer zu verengen.35 Zum Zweiten muss die Entwicklung des Sozialkapitals unter sozialwirtschaftlichen Bedingungen analysiert werden.36 Die Hoffnung bei der Einführung ökonomischer Rahmenbedingungen unter gleichzeitiger Betonung der Eigenverantwortlichkeit der Bürger/innen richtet sich auf die Realisierung bisher unausgeschöpfter Ressourcen des Sozialkapitals vor allem bei sozial schwachen Bevölkerungsgruppen. Deren Sozialkapital scheint zu versprechen, dass staatliche Transferleistungen durch mehr Eigenanteile der Bürger/innen kompensiert bzw. mehr politische Partizipation gefördert werden kann. Ein genauerer Blick auf das vorhandene Sozialkapital wirkt jedoch bereits ernüchternd.37 Putnam unterscheidet zwischen bindendem und Brücken bildendem Sozialkapital.38 Während bindendes Sozialkapital sich auf die Ähnlichkeiten von Menschen untereinander bezieht, baut Brücken bildendes Sozialkapital Netzwerke zu Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft auf. Normalerweise finden sich in Gruppen beide Arten von Sozialkapital. Jedoch zeigen empirische Untersuchungen die Ambivalenz von Sozialkapital auf. Als Ressource zweiter Ordnung multipliziert soziales Kapital die Möglichkeiten von Menschen, die bereits ökonomisches und kulturelles Kapital besitzen. Fehlen jedoch Geld und Bildung, bringt der Faktor Sozialkapital negative Vervielfältigungseffekte hervor. Zwar bleibt die Inklusion innerhalb der Gruppe weiterhin bestehen, jedoch bewirkt die Homogenität der Gruppe nun eine Steigerung der Ohnmachtserfahrungen. Es kann wegen des mangelnden Brücken bildenden Sozialkapitals zur Exklusion der gesamten Gruppe im Sozialraum kommen.39 Die Frage ist nun, ob eine ökonomische Steuerung solche Tendenzen fördert oder ihnen entgegen wirkt. Wiemeyer bedenkt zwar an einzelnen Beispielen (etwa der Kindergartenplatzversorgung) negative Folgen mangelnder Chancengerechtigkeit sozial schwacher Bevölkerungsgruppen40, jedoch werden diese Beobachtungen nicht systematisch in seine Analyse einbezogen. Grundsätzlich ___________ 35 Vgl. Eurich (2005), S. 63 ff. zu den unterschiedlichen Strategien, wie Akteure der Freien Wohlfahrtspflege unter sozialwirtschaftlichen Bedingungen in Bezug auf das sozialanwaltschaftliche Motiv verfahren. 36 Hierauf macht Wolfgang Maaser aufmerksam. Vgl. zum Folgenden Maaser (2006). 37 Vgl. z.B. die Sozialberichtserstattung der Bundesregierung (Lebenslagen in Deutschland 2005) sowie die Forschung zur Entwicklung des Sozialkapitals (Putnam 2001). 38 Vgl. Putnam/Goss (2001), S. 28 ff. 39 Vgl. Kleinman (2000). 40 Vgl. Wiemeyer (2007), S. 145 f. in diesem Band.

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ergibt sich hier die folgende Anfrage: Unter sozialwirtschaftlichen Prämissen wird auf eine Stärkung der Potentiale bürgerschaftlichen Engagements zur Entlastung der öffentlichen Hand gesetzt, was jedoch durch Forschungen zum Sozialkapital nicht gestützt werden kann. Hier ist vielmehr festzuhalten, dass sich unter Marktbedingungen die Anbieter sozialer Dienstleistungen gerade nicht den sozial schwachen Bevölkerungsgruppen zuwenden dürften, denn hier gilt das gleiche Argument wie in dünn besiedelten Regionen: Es ist zuwenig Kaufkraft vorhanden, um ein rentables Angebot zu unterhalten. Aufgrund der zurückgefahrenen staatlichen Transferleistungen ist hier auch keine Nachbesserung der Nachfrage durch Umverteilung zu erwarten. Wie sollen soziale Dienste für diese Bevölkerungsgruppen finanziert werden, wenn nicht durch Quersubventionen? Wer soll die Interessen dieser Bevölkerungsgruppen vertreten, wenn nicht Organisationen, die sich im Sinne einer Sozialanwaltschaft für diese Menschen aufgrund ideeller Ziele einsetzen und gleiche Lebenschancen einfordern? Bisher wurde die sozialanwaltschaftliche Funktion von unterschiedlichen Akteuren der Freien Wohlfahrtspflege wahrgenommen. Bei aller Kritik, die am korporatistischen Wohlfahrtsmodell berechtigterweise vorgebracht werden kann, bleibt doch die Frage offen, welche Akteure in einem Sozialmarkt die sozialanwaltschaftliche Funktion übernehmen sollen.

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Besonderheiten der Sozialwirtschaft – Grenzen des Wettbewerbs? – Korreferat zu Joachim Wiemeyer – Von Stefan Voigt

Einleitung Wiemeyer eröffnet seinen Beitrag mit einer Frage, nämlich ob es Grenzen des Wettbewerbs in der Sozialwirtschaft gebe. Diese Frage erscheint mir doppelt problematisch: zum einen wird ja nicht gefragt, ob es Grenzen geben solle, sondern ob es tatsächlich welche gibt, zum anderen wäre selbst die Frage, ob es welche geben solle, nicht besonders spannend, weil ein „na klar“ einfach zu sehr auf der Hand liegt. Später beschränkt er sich allerdings nicht auf die positive Frage, sondern beschäftigt sich auch mit der normativen Frage. Ein möglicher Startpunkt für Überlegungen zu seinem Thema hätte die Vermutung sein können „soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Regulierung wie nötig.“ Dann wäre es im Beitrag darum gegangen, Grenzen, aber eben auch Möglichkeiten des Wettbewerbs in der Sozialwirtschaft systematisch auszuloten. Das aber hat Wiemeyer nicht getan. Sein Beitrag zeichnet sich aus durch eine Vielzahl von Vorbehalten gegen die Funktionsfähigkeit von Markt und Wettbewerb. Leider beruhen diese Vorbehalte häufig eher auf Vorurteilen als auf sauber fundierten Argumenten. Einige dieser Vorurteile aufzudecken ist Ziel dieses Korreferats. Das allein wäre aber nicht besonders konstruktiv. In einem Schlußteil werden deshalb einige Überlegungen präsentiert, wie man sich dem Thema auch hätte nähern können.

I. Grundelemente von Markt und Wettbewerb In einem so überschriebenen Abschnitt listet Wiemeyer die Lehrbuchbedingungen für die Funktionsfähigkeit von nutzensteigerndem Wettbewerb auf, nennt einige mögliche – und von ihm als problematisch erachtete – Ergebnisse, um dann zu zeigen, dass die Sozialwirtschaft keineswegs allein eine Sonderstellung beansprucht, weil es viele andere Märkte gebe, für die ebenfalls spezi-

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fische Regeln erforderlich seien, um gesellschaftlich unerwünschte Ergebnisse zu verhindern. Die Beobachtung, dass es viele hochregulierte Märkte gibt, ist vollkommen unbestritten. Die Frage ist allerdings, was daraus folgt. Die Existenz hochregulierter Märkte an sich ist weder ein Argument dafür, dass das sinnvoll ist, noch ein Argument dafür, dass das so sein sollte. Hier wird offenbar vom Sein auf das Sollen geschlossen, mithin liegt ein naturalistischer Trugschluss (Hume 1978, S, 211) vor.

II. Die normative Perspektive institutioneller Arrangements von Einzelmärkten In dem so überschriebenen Abschnitt legt Wiemeyer einen Katalog von Zielen vor, den die Sozialwirtschaft zu berücksichtigen habe. Er behauptet – aber belegt nicht –, dass diese Ziele vertragstheoretisch rekonstruiert werden könnten und zudem gesamtgesellschaftlich konsensfähig seien. Um ihnen mehr Nachdruck zu verleihen, fügt er hinzu, diese Ziele ließen sich ebenfalls aus der Sozialgesetzgebung rekonstruieren. Das von ihm deklamierte Zielsystem würde Wiemeyer gern in Stein meißeln, denn er weist all jenen, die eine andere Gewichtung der Ziele oder gar andere Ziele, aber auch den Einsatz anderer Instrumente vorschlagen, die Beweislast zu. Dieser Abschnitt kann aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen: Erstens handelt es sich im strengen Sinne gar nicht um ein Zielsystem, denn Zielgröße, Zielausmaß, zeitlicher Bezug, Verhältnis der Ziele zueinander usw. werden nicht expliziert. Zweitens bleibt die Rechtfertigung dieses „Zielsystems“ doppelt unbefriedigend, zum einen, weil gar nicht versucht wird, die Konsensfähigkeit dieser Ziele herzuleiten, zum andern, weil ein Hinweis darauf, dass sich diese Ziele auch aus der Sozialgesetzgebung rekonstruieren ließen, wenig hilfreich ist. Hier geht es um die Erarbeitung einer normativen Perspektive für die Sozialwirtschaft. In der Einleitung hat Wiemeyer den Begriff Sozialwirtschaft bereits mit einem Hinweis auf „gesellschaftlich definierte Ansprüche im Sinne des Sozialrechts“ bestimmt. Hier soll auch die normative Frage mit Hinweis auf die Gesetzgebung beantwortet werden. Eine normative Frage mit einem Hinweis de lege lata zu beantworten, kann aber auch Kapitulation genannt werden. Im Klartext bedeutet das Vorgehen Wiemeyers: Was Sozialwirtschaft ist, legt der Gesetzgeber fest, welche Ziele sie verfolgen sollte, legt ebenfalls der Gesetzgeber fest. Dann aber könnten wir alle nach Hause gehen und uns in der Kunst des Nichtstuns üben. Eine Erarbeitung normativer Perspektiven muss doch zumindest den Anspruch verfolgen, den Gesetzgeber beraten zu können, welche Ziele verfolgt werden sollten.

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Drittens kann dieser Abschnitt nicht überzeugen, weil einige der von Wiemeyer aufgereihten Ziele nicht so ohne weiteres als konsensfähig durchgehen. So fordert er etwa, dass aus dem Angebot sozialwirtschaftlicher Leistungen „keine Überrenditen“ erzielt werden können. Solange ein Marktzutritt nicht an – vor allem staatlich gesetzten – Marktzutrittsbarrieren zu scheitern droht, ist damit zu rechnen, dass hohe Renditen neue Wettbewerber veranlassen, auf den Markt zu treten – und die Renditen solange fallen, bis sie so niedrig sind, wie auf anderen Märkten auch. Eine staatliche Regulierung jedoch, die festlegt, von welcher Höhe an Renditen „zu hoch“ sind, unterstellt Wissen, über das wir tatsächlich nicht verfügen. Wer weiß, wie hoch Renditen maximal sein dürfen, der weiß vermutlich auch, wie hoch der gerechte Preis ist. Diese Vorstellung aber verbinden wir auch mit einem Zeitalter, das häufig als finster bezeichnet wird. Der Abschnitt ist viertens problematisch, weil die Forderung Wiemeyers, dass allen denjenigen, die Änderungen am derzeit gültigen „Zielsystem“ vornehmen wollen, die Beweislast zufällt, auf zwei nicht erfüllten Prämissen beruht. Natürlich kann man argumentieren, dass diejenigen, die sich für Reformen aussprechen, gute Gründe für ihre Vorschläge vortragen sollten (siehe, statt vieler, Buchanan 1975, S. 78: „we always start from here“). Allerdings beruht Wiemeyers Vorschlag auf zwei problematischen Prämissen, dass nämlich erstens die derzeit gültigen Regeln Ergebnis eines rationalen Diskurses sind und zweitens, dass sie ein konsistentes, vollständiges, hierarchisiertes Zielsystem darstellen. Beide Annahmen sind allerdings problematisch.

III. Genese und traditionelle Regulierung der Sozialwirtschaft Dieser Abschnitt dient dazu, den Leser mit der Entwicklung der Regulierung über die Zeit vertraut zu machen. Er endet mit einer Bestandsaufnahme, von der aus Wiemeyer zur „Frage der angemessenen Regulierung“ gelangen möchte, die dann im nächsten Abschnitt thematisiert werden soll. Die Bestandsaufnahme wirkt schonungslos: es ist die Rede von mangelnder Innovationsfähigkeit und Flexibilität, von hohem Kostenwachstum, ineffizienten Faktorkombinationen, wettbewerbsverhindernden Absprachen zwischen Wohlfahrtsverbänden sowie der Vernachlässigung moderner Managementmethoden. Die derzeitige – missliche – Situation ist die Konsequenz der traditionellen Regulierung der Sozialwirtschaft. Als Leser habe ich erwartet, dass Wiemeyer im nächsten Abschnitt die problematischen Ergebnisse der bisherigen Regulierung zum Anlass nimmt, um die Möglichkeiten zusätzlichen wohlfahrtssteigernden Wettbewerbs systematisch auszuloten.

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IV. Möglichkeiten und Grenzen von Wettbewerb in der Sozialwirtschaft Wer aufgrund der in Abschnitt IV. erfolgten Bestandsaufnahme jetzt mit einer Vielzahl weitgehender, innovativer, mutiger Reformvorschläge gerechnet hat, sieht sich enttäuscht. Erwähnt wird, dass Anhänger von mehr Wettbewerb häufig für eine Umstellung von Objektförderung auf Subjektförderung plädieren. Bei Wiemeyer herrscht Skepsis vor, ob die Einführung von Subjektförderung ein adäquater Weg ist, mehr Wettbewerbselemente in die Sozialwirtschaft zu bringen. Wiemeyer ist in diesem Abschnitt jedoch nicht an einer sachlichen Abwägung möglicher Vor- und Nachteile von Gutscheinsystemen (als einer Form von Subjektförderung) interessiert. Stattdessen listet er Nachteile auf. Um die Nachteile gewichtiger erscheinen zu lassen, werden (ad hoc) noch weitere Ziele der Sozialwirtschaft eingeführt, die im Abschnitt zu den normativen Perspektiven gar nicht genannt worden waren („könnte sich bereits im Bereich der Kindergärten eine soziale Absonderung ergeben ...“ – die offenbar verhindert werden soll). Besonders unschön ist, dass er bei seinem Feldzug gegen Gutscheinsysteme auch nicht vor der Nutzung von Gerüchten zurückschreckt. Er schreibt: „So soll es in Hamburg bereits einen Abbau von Kinderbetreuungseinrichtungen in sozial problematischen Wohnquartieren geben.“ Für eine sachliche Abwägung wäre es zudem erforderlich gewesen, die Leistungsfähigkeit des Gutscheinsystems mit anderen, ebenfalls implementierbaren, Instrumenten zu vergleichen. Nur eine komparative Institutionenanalyse ermöglicht Aussagen über die Vorteilhaftigkeit eines bestimmten institutionellen Arrangements. Zum Abschluss konzediert er zwar, dass seine Beispiele kein allgemeines Argument gegen Gutscheinsysteme seien, aber doch zeigten, dass es auf ihre detaillierte Ausgestaltung ankomme. Diese Aussage aber ist eine Selbstverständlichkeit. Es wäre spannend gewesen, etwas mehr über die spezifischen Ausgestaltungserfordernisse von Gutscheinsystemen zu erfahren. Hierzu aber schweigt Wiemeyer. Auch bei der Diskussion der Angebotsseite scheinen bei Wiemeyer die Bedenken in Bezug auf mehr Wettbewerb zu überwiegen. So hat er Bauchschmerzen, wenn er an die Zulassung privater Anbieter in der Sozialwirtschaft denkt, die wichtige Güter herstellen, weil Private ja auch insolvent werden können. Natürlich kann es als Folge eines Konkurses zu gravierenden Problemen kommen. Hier ist die Sozialwirtschaft jedoch keineswegs ein Spezialfall: Insolvenzen von Banken oder Versicherungen könnten ganze Vermögen verschwinden lassen. Um das zu verhindern, sind bestimmte Institutionen geschaffen worden, mit denen die Folgen solcher Ereignisse abgemildert werden sollen. Es wäre spannend zu sehen, ob nicht auch im Bereich der Sozialwirtschaft solche Institutionen denkbar sind. Auch hierzu aber schweigt Wiemeyer.

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Anders als öffentliche Anbieter unterliegen private Anbieter der Gefahr des Konkurses. Genau diese Gefahr aber ist ein wichtiger Anreiz für Private, permanent zu versuchen, kostengünstiger als die Konkurrenz zu sein, den Präferenzen der Konsumenten besser zu entsprechen als die Wettbewerber, Kunden mit innovativen Produkten von Wettbewerbern zu einem selbst zu locken usw. Die Gefahr des Konkurses ist also ein wichtiges Element im Wettbewerb. Es mutet deshalb auch höchst seltsam an, wenn Wiemeyer vermutet, dass die Existenz von öffentlichen und freigemeinnützigen Anbietern in einem lokalen Markt dazu beitragen könne, dass sich private Anbieter wettbewerbskonform verhalten.

V. Zum guten Schluss Bisher mag dieses Korreferat gallig, vielleicht sogar destruktiv erscheinen. Deshalb zum Abschluss noch einige – hoffentlich – konstruktive Bemerkungen. Das von Wiemeyer behandelte Thema ist ein extrem wichtiges. Seine Bedeutung wird aufgrund der Veränderung der Alterspyramide, der Fortschritte in der Medizin, aber auch der Unwahrscheinlichkeit, jemals wieder Vollbeschäftigungsniveaus zu erreichen, in den kommenden Jahrzehnten eher noch zunehmen. Gerade deshalb wäre eine systematische Beschäftigung mit diesem Thema so wichtig. Ein für Ökonomen naheliegender Einstiegspunkt ist die Lehre vom Marktversagen. Wiemeyer bemerkt allerdings treffend, dass reale Märkte regelmäßig versagen, wenn sie mit irgendeinem empirisch nicht realisierbaren Ideal verglichen werden. Deshalb kann die Theorie vom Marktversagen tatsächlich nur einen Einstieg zur systematischen Analyse bieten. Zentral ist hier, dass das Vorliegen von Marktversagen noch keineswegs hinreichend für eine Forderung nach staatlicher Ersatzvornahme ist. Angeführt von Coase haben Vertreter der neuen Institutionenökonomik uns in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass das Modell des benevolenten Diktators lediglich eine Fiktion ist und dass staatliches Handeln einer Vielzahl von Staatsversagensmöglichkeiten unterliegt. Um die Frage zu beantworten, was Möglichkeiten und Grenzen von wohlfahrtssteigerndem Wettbewerb im Bereich der Sozialwirtschaft sein können, wäre eine saubere komparative Institutionenanalyse erforderlich, die Vor- und Nachteile tatsächlich (nicht nur theoretisch) implementierbarer institutioneller Arrangements miteinander vergleicht. Ich hätte es spannend gefunden, wenn in diesem Beitrag ein solcher Analyserahmen zunächst theoretisch-allgemein entfaltet worden wäre und in einem zweiten Teil die Praktikabilität des allgemeinen Analyserahmens vorgeführt worden wäre, indem er auf einen konkreten Bereich der Sozialwirtschaft angewendet worden wäre.

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Stefan Voigt

Literatur Buchanan, J. (1975): The Limits of Liberty – Between Anarchy and Leviathan, Chicago. Hume, D. (1978): Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III. Über Moral, Hamburg. Wiemeyer, J. (2007): Besonderheiten der Sozialwirtschaft – Grenzen des Wettbewerbs, in: Aufderheide, D. / Dabrowski, M. (Hrsg.): Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft, Berlin, S. 129-154.

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor Von Dirk Sauerland

I. Vorbemerkungen Der Pflegesektor, in dem ambulante und stationäre Pflegeleistungen bereitgestellt werden, stand in Deutschland lange Zeit im Schatten des Gesundheitssektors. Erste größere Aufmerksamkeit bekam das Thema der Langzeitpflege erst Anfang der 90er Jahre, bis die Versicherungspflicht im Jahr 1995 auf die Pflegeversicherung ausgeweitet wurde. Auch danach bleibt der Akutbereich des Gesundheitswesens aufgrund steigender Ausgaben und immer höherer Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung in den Schlagzeilen – die finanzielle Entwicklung der sozialen und privaten Pflegeversicherung blieb hingegen stabil. In den letzten beiden Jahren hat sich jedoch die finanzielle Situation der Pflegeversicherung drastisch verschlechtert – aus den Einnahmeüberschüssen der Vergangenheit wurden Defizite. Diese finanzielle Entwicklung, gepaart mit der allfälligen Diskussion um die demographische Entwicklung in Deutschland rückte auch den Pflegesektor wieder stärker in das öffentliche Interesse. Die OECD weist in ihrer aktuellen Untersuchung der Langzeitpflege für ältere Menschen darauf hin, dass – aus Sicht der potentiellen Leistungsempfänger – in diesem Bereich zwei Problemfelder existieren: Zum einen bemängeln die Betroffenen sehr unterschiedliche Möglichkeiten in den OECD-Ländern, Zugang zu Pflegeleistungen zu erhalten. Zum anderen monieren sie die Schwankungen und Unterschiede in der Qualität der bereitgestellten Pflegeleistungen.1 Hinter diesen beiden Problemfeldern stehen konsensfähige Ziele, aus denen sich im Bereich der Allokation staatliche Aufgaben im Pflegesektor ableiten ___________  Ich danke allen Diskutanten, insbesondere den Korreferenten, für ihre konstruktiven Anmerkungen. Einige davon habe ich in die vorliegende Fassung des Beitrags übernommen. Ansgar Wübker danke ich für die Unterstützung bei der Zusammenstellung der Zahlen. 1 Vgl. OECD (2005), S. 10.

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lassen. Ein erstes Ziel besteht darin, den Zugang zu Pflegeleistungen sicherzustellen. Dieses Ziel wird in Deutschland durch die Pflegeversicherungspflicht für die gesamte Bevölkerung erreicht. Subsidiär greift die Sozialhilfe, wenn die finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung – zusammen mit der individuellen Finanzierungsfähigkeit der Betroffenen – nicht ausreichen, um adäquate Pflegeleistungen zu erhalten. Das zweite Ziel besteht in der Sicherstellung einer präferenzgemäßen Versorgung der Betroffenen mit ambulanten und stationären Pflegeleistungen. Hier spielt die Qualität der bereitgestellten Leistungen eine ebenso wichtige Rolle wie die Effizienz der Erbringung einer gegebenen Qualität. Wie im Bereich der akuten Gesundheitsversorgung ist somit auch im Pflegebereich nach einer adäquaten Strategie zu fragen, mit der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Pflege in Deutschland sichergestellt und verbessert werden können.2 Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht nicht die Frage der adäquaten (nachhaltigen) Finanzierung von Pflegeleistungen. Vielmehr geht es um die Frage, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit sich funktionsfähige Märkte für Pflegeleistungen bilden können, um so insbesondere das zweite genannte Ziel zu erreichen. Ausgangspunkt des Beitrags ist die Überlegung, dass der Bereich der ambulanten und stationären Pflege aufgrund der demographischen Entwicklung in Deutschland zukünftig an Bedeutung gewinnen wird. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Zahl der Nachfrager von Pflegeleistungen als auch für das Finanzierungsvolumen und den Umsatz im Pflegesektor (Anteil am Bruttoinlandsprodukt). Angesichts der aktuellen gesamtwirtschaftlichen Lage kann schließlich auch die mögliche Beschäftigungsentwicklung im Pflegesektor von Relevanz sein, denn in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit werden neue „Wachstumsbranchen“ ebenso gesucht wie neue „Job Machines“. Der vorliegende Beitrag stellt im Abschnitt II. zunächst die Frage, welche Eigenschaften Pflegeleistungen im ambulanten und stationären Bereich haben, die für die Funktionsweise eines Marktes für diese Leistungen relevant sind. Anschließend werden auf dieser Basis die Rahmenbedingungen für funktionsfähige Märkte skizziert. Im Abschnitt III. wird der Status quo des deutschen Pflegesektors skizziert und in Teil IV. ein Ausblick auf seine künftige Entwicklung gegeben, bevor abschließend die daraus resultierenden Herausforderungen sowie Lösungsansätze für diese Herausforderungen dargestellt werden.

___________ 2

Vgl. dazu Sauerland (2001) sowie (2005).

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

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II. Normative Überlegungen: Rahmenbedingungen funktionsfähiger Märkte für Pflegeleistungen Der Titel des Beitrags suggeriert, dass ein Wettbewerb der Leistungserbringer im Pflegesektor zu unerwünschten Ergebnissen führen kann und dass es (möglicherweise) eine Alternative zur Bereitstellung von Pflegeleistungen über Märkte gibt. Aus der Theorie des Marktversagens sind unterschiedliche Ursachen dafür bekannt, dass die Koordination von Angebot und Nachfrage auf wettbewerblich organisierten Märkten zu solchen unerwünschten Resultaten führt. Da man die Existenz natürlicher Monopole im Pflegesektor ebenso vernachlässigen kann wie die Eigenschaft von Pflegeleistungen als öffentliche Güter, bleibt das Vorhandensein externer Effekte der Pflege ebenso zu prüfen wie mögliche Informationsdefizite, die zu Marktversagen führen können. Externe Effekte bei der Pflege durch Dritte bestehen in der Entlastung der sonst pflegenden Angehörigen; sie sind jedoch typischerweise in den Preisen der Pflegeleistungen enthalten und damit nicht weiter zu berücksichtigen. Informationsprobleme bestehen jedoch: Die Erbringer von Pflegeleistungen sind in aller Regel besser über die Qualität der von ihnen bereitgestellten Leistungen informiert als die Nachfrager dieser Leistungen. Pflegeleistungen sind im Sinne der ökonomischen Terminologie typische Erfahrungsgüter.3 Kennzeichen dieser Güterkategorie ist die bestehende Qualitätsunsicherheit der Nachfrager bei der ersten Inanspruchnahme dieser Leistungen. Erst nach Nutzung kann der Nutzer die Qualität der Leistung beurteilen, weil er dann entsprechende Erfahrungen gemacht hat.4 Qualitätsunsicherheit wird in der Literatur als einer der einschlägigen Gründe für mögliches Marktversagen aufgeführt. Nun könnte man argumentieren, dass der Staat das potentielle Marktversagen über eine „starke“ Lösung heilen kann, indem er die Bereitstellung der Pflegeleistungen selbst übernimmt. Vorstellbar wäre als Alternative zur marktlichen Versorgung auch ein staatliches Pflegesystem, das über Steuern finanziert wird und die Pflegeleistungen in staatlichen Einrichtungen produziert. Beispiele für solche Lösungen finden sich etwa in Großbritannien.5 Doch solche extremen Lösungen sind nicht zwingend notwendig: Spätestens mit der grundlegenden Arbeit von Akerlof ist nämlich klar geworden, dass Informationsunsicherheit nicht zu Marktversagen führen muss und dass es viel___________ 3

Vgl. Nelson (1970). Ist die Qualität nur nach wiederholter oder längerfristiger Nutzung zu erkennen, handelt es sich um Vertrauensgüter, die von Darby/Karni (1973), S. 68 f. beschrieben werden. 5 Vgl. dazu OECD (2005), S. 21 ff. 4

172

Dirk Sauerland

mehr private Lösungen, d.h. solche ohne staatliche Eingriffe, gibt, die helfen können die Informationsunsicherheit zu verringern oder gar zu überwinden.6 Grundsätzlich ist dann der Wettbewerb – unter adäquat gestalteten Rahmenbedingungen – in der Lage, die präferenzgemäße Bereitstellung der Leistungen sicherzustellen. So können etwa die Anbieter, die im Wettbewerb stehen, glaubhafte Qualitätssignale aussenden, um etwa durch Gewährung von Garantien die ex ante Informationsunsicherheit abzubauen und ihre Wettbewerbsposition zu verbessern. Doch auch diese Lösung ist nicht so einfach zu erreichen, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zur Gewährleistung von Garantien muss es Kriterien geben, an denen die Garantien anknüpfen. Letztlich braucht man also messbare Qualitätsindikatoren. Sind solche Lösungen aber im Pflegebereich vorstellbar? Lässt sich die Qualität von Pflegeleistungen überhaupt messen? Betrachtet man den Bereich der medizinischen Leistungen, in denen ähnliche Informationsunsicherheiten existieren7, so lautet die Antwort: prinzipiell ja.8 Analog zur Messung der Qualität im Gesundheitswesen lassen sich auch Pflegeleistungen nach den Kriterien ihrer Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität beurteilen.9 Die letztlich vom Nachfrager „erfahrbare“ Ergebnisqualität wird von den vorgelagerten Qualitätsdimensionen determiniert. Die Strukturqualität wird insbesondere durch die Eigenschaften der Leistungserbringer der Pflege determiniert. Sie knüpft etwa an den Qualifikationen der in der Pflege Beschäftigten an. Dabei wird – plausibel – unterstellt, dass ausgebildete Pflegekräfte c. p. eine bessere Leistungsqualität bereitstellen und besser auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen eingehen können als ungelernte Mitarbeiter. Die Ausbildung der Pflegekräfte spielt somit in der ambulanten und stationären Pflege eine wichtige Rolle. Im stationären Bereich der Pflegeheime kommt auch der „Infrastruktur“ eine wichtige Bedeutung zu. So ist die Wahrung der Privatsphäre ein wesentliches Kennzeichen einer guten Pflegequalität. Da diese bei einer Unterbringung in 1- oder 2-Bett-Räumlichkeiten besser realisiert werden kann als in Mehrbettzimmern, ist die Personenkapazität der stationären Unterbringungsmöglichkeiten ebenfalls ein Indikator für die Strukturqualität. Bei der Prozessqualität steht die Art und Weise der Leistungserbringung im Mittelpunkt. Indikatoren bzw. Messgrößen für diese Qualitätsdimension sind die Einhaltung von medizinisch-pflegerischen und ethischen Standards. Hier ___________ 6

Vgl. dazu Akerlof (1970). Z.B. Kuchinke (2000). 8 Vgl. etwa Ikegami/Hirdes/Carpenter (2002). 9 Vgl. dazu grundlegend Donabedian (1980) sowie für den Bereich der Pflege MDK (1996), S. 20 ff. 7

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

173

lassen sich Leitlinien für die Pflege in Analogie zu evidenzbasierten Leitlinien in der akuten medizinischen Vorsorgung vorstellen, so, wie sie in Deutschland10 und anderen Ländern bereits entwickelt und angewandt werden.11 Die Ergebnisqualität bezieht sich schließlich auf das Resultat der Pflegeleistungen. Hier können Indikatoren wie etwa die gewonnene Zeit der eigenständigen Lebensführung ebenso herangezogen werden wie die Zufriedenheit der Pflegebedürftigen (und ihrer Angehörigen) mit den erbrachten Pflegeleistungen. Die Qualität der Pflege ist also durchaus messbar.12 Die reine Messbarkeit hilft aber nicht weiter. Notwendig ist vielmehr eine Strategie zur Sicherung und Verbesserung der Qualität in der Pflege – wie sie auch im Bereich der medizinischen Versorgung gebraucht wird. Im Rahmen einer solchen ordnungspolitischen Strategie geht es darum, adäquate Instrumente zur Erreichung des Ziels „Qualitätssicherung und -verbesserung“ zu implementieren und geeignete Aufgabenträger mit der Anwendung dieser Instrumente zu betrauen. Das US-amerikanische Institute of Medicine (IOM) unterscheidet drei mögliche Ansätze, um dieses Ziel zu erreichen: Erstens, eine verstärkte Überwachung der Leistungserbringer durch Regulierungsbehörden und/oder Finanzierungsträger. Zweitens, eine Stärkung des Qualitätsbewusstseins der Leistungserbringer und ihrer Fachkräfte. Drittens, eine Verbesserung des Informationsstands der Nachfrager und ein darauf basierender Wettbewerb der Leistungserbringer.13 Aus ordnungspolitischer Sicht kann die Kontrollfunktion in Bezug auf die Qualität somit zwei unterschiedlichen Akteursgruppen zugeordnet werden: Zum einen können die Pflegebedürftigen selbst (oder ihre Angehörigen) zum Träger der Kontrollmechanismen Exit und Voice werden (Lösung 3). Wenn das nicht möglich erscheint, kann die Kontrollfunktion subsidiär auf Dritte (z.B. die Finanzierungsträger) übertragen werden. Diese werden dann als Agenten der pflegebedürftigen Prinzipale tätig (Lösung 1). Aus ökonomischer Sicht stellt sich allerdings die Frage, wie das vom IOM als zweite Lösung vorgeschlagene Qualitätsbewusstsein hervorgerufen und gestärkt werden kann. Eine Möglichkeit besteht im schon erwähnten Wettbewerbsdruck, dem die Leistungserbringer auf funktionsfähigen Märkten ausgesetzt sind. ___________ 10

Vgl. Mohrmann et al. (2005). Vgl. dazu OECD (2005), S. 71. Vorstellbar ist hier auch eine Zertifizierung der Pflegeeinrichtungen, wie sie aus dem Bereich der DIN-ISO 9000er Normen bekannt ist. 12 Die genannten Kriterien orientieren sich z.T. an technischen Definitionen von Qualität. Letztlich ist aber immer die Qualität entscheidend, die von den Nachfragern erwünscht wird. 13 Vgl. dazu IOM (2001), sowie ähnlich Mattke (2004) für den Bereich der Akutversorgung. 11

174

Dirk Sauerland

Aus einer ordnungspolitischen Perspektive betrachtet stehen damit im Bereich der Qualitätssicherung und -verbesserung zwei Arten von Instrumenten zur Verfügung, um das Problem der Informationsunsicherheit zu lösen: Zum einen gibt es private Lösungen, die im Wettbewerb der Leistungserbringer zustande kommen und beispielsweise die klassische Lösung der Garantie beinhalten. Zum andern kann der Staat im Wege der Regulierung eingreifen und das Informationsproblem lösen helfen, wenn entweder private Lösungen nicht zustande kommen oder aber die privaten Lösungen aus Sicht der Nachfrager kein befriedigendes Ergebnis hervorrufen. In diesem Fall wird der Staat unmittelbar im Bereich des Verbraucherschutzes tätig. Die Voraussetzungen dafür, dass private Lösungen zustande kommen können, sind vielfältig. So müssen zunächst die Anbieter von Pflegeleistungen miteinander im Wettbewerb stehen. Hier lässt sich – je nachdem, welcher Aufgabenträger mit der Kontrollfunktion betraut ist – ein Wettbewerb um die Pflegebedürftigen selbst von einem Wettbewerb um Finanzierungsverträge, d.h. letztlich um Finanzierungsträger unterscheiden.14 In beiden Fällen gilt: Gibt es ein Monopol oder ein Kartell der Anbieter, so sind die Anreize, die Qualität als Wettbewerbsparameter einzusetzen, um sich so von den Konkurrenten abzuheben, gering. Darüber hinaus müssen die Anbieter Möglichkeiten haben, die Qualität – ebenso wie den Preis – als Wettbewerbsparameter einzusetzen; dies bedeutet, staatliche Fixierungen dieser Größe behindern einen funktionsfähigen (Qualitäts-)Wettbewerb. Gleiches gilt für Beschränkungen der Angebotskapazität. Schließlich müssen die oben genannten Informationen über die Qualität verfügbar sein, was insbesondere im Bereich der Prozess- und Ergebnisqualität nicht ohne weiteres gegeben ist. Funktioniert der Qualitätswettbewerb, so gibt es – wie bereits erwähnt – zwei mögliche Träger der genannten Instrumente: Grundsätzlich können und sollten die pflegebedürftigen Nachfrager die Souveräne der Entscheidung darüber sein, welche Leistungen sie bei welchem Anbieter in Anspruch nehmen. Sie selbst (oder ihre Vertreter) können über Exit und Voice diejenigen Anbieter, die keine präferenzgemäßen Leistungen bereitstellen, sanktionieren. Alternativ (und subsidiär) können die Finanzierungsträger die Interessen der Pflegebedürftigen gegenüber den Leistungserbringern wahrnehmen. Diese Lösung funktioniert immer dann besonders gut, wenn a) die Finanzierungsträger einen besseren Informationsstand haben und sie b) gute Agenten der Pflegebedürftigen sind.15

___________ 14

Vgl. dazu etwa Sauerland (2003), S. 306 ff. Zu diesen und möglichen anderen Agenten der Pflegbedürftigen vgl. das Korreferat von Sundmacher (2007) im vorliegenden Band. 15

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

175

Angesichts dieser notwendigen Voraussetzungen für den funktionierenden Qualitätswettbewerb bietet es sich an, eine Kombination von Regulierung und Wettbewerbslösungen zu implementieren, um das Teilziel der Qualitätssicherung und -verbesserung zu erreichen. So kann der Staat im Wege adäquater Regulierungen der Strukturqualität dafür sorgen, dass nur qualifizierte Anbieter in den Markt eintreten können und somit eine Mindestqualität im Bereich der Pflegeleistungen gewährleistet ist. Darauf aufbauend sollte der Staat die Rahmenregeln des Marktes für Pflegeleistungen so gestalten, dass sich ein funktionierender Qualitätswettbewerb entfalten kann. Dazu kann auch die Verpflichtung gehören, Qualitätsdaten zu erheben, aufzubereiten und für die Nachfrager verständlich zugänglich zu machen. Funktioniert der Wettbewerb im skizzierten Sinn, werden die Anbieter – wie bei Akerlof beschrieben – unter dem Wettbewerbsdruck ‚freiwillig‘ solche Informationen bereitstellen.

III. Positive Analyse: Der Pflegesektor in Deutschland Der Markt für Pflegeleistungen in Deutschland scheint prinzipiell zu funktionieren. Plätze in Pflegeheimen werden im Rahmen der stationären Pflege ebenso bereitgestellt wie Leistungen durch ambulante Pflegedienste. Allerdings gibt es auch immer wieder Studien, in denen über Qualitätsmängel im Bereich der Pflege berichtet wird.16

1. Marktstruktur: Anbieter, Nachfrager und Finanzierung Der Markt für Pflegeleistungen hat sich seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 stark verändert. Zunächst hat sich durch die Versicherungspflicht das Beziehungsgeflecht der relevanten Akteure verändert: Die grundlegende Vertragbeziehung zwischen dem Pflegebedürftigen und dem Erbringer der Pflegeleistungen hat sich zu einer Dreiecksbeziehung (Abbildung 1) erweitert, in der der Finanzierungsträger „Pflegeversicherung“ eine wesentliche Rolle spielt. Durch die kompliziertere Struktur und die mit der Pflegversicherung verbundenen Leistungsansprüche hat sich aber auch der Markt für Pflegeleistungen verändert. Zunächst ist mehr Geld in den Sektor geflossen und daher das Umsatzvolumen des Pflegesektors stark angestiegen: Die Ausgaben für Pflege ___________ 16

Vgl. dazu etwa Schneekloth/Müller (2000), Roth ( 2002) sowie BMFSFJ (2004).

176

Dirk Sauerland

stiegen von 15,73 Mrd. Euro im Jahr 1995 auf 22,48 Mrd. (+43%) Euro im Jahr 2004. Diese Ausgaben wurden in erster Linie durch die soziale und private Pflegeversicherung finanziert; darüber hinaus sind die Sozialhilfe, die Gesetzliche Krankenversicherung und die privaten Haushalte an der Finanzierung von Pflegeleistungen beteiligt.

Soziale (und private) Pflegeversicherung Versicherungsvertrag

Geldleistung

Versorgungsvertrag

Pflegevertrag Ambulante und stationäre Leistungserbringer

Pflegebedürftige Pflege-/ Geldleistung

Abbildung 1: Das Beziehungsgeflecht im deutschen Pflegesektor

Im genannten Zeitraum erhöhten sich die Ausgaben der sozialen (privaten) Pflegeversicherung von 4,97 Mrd. (0,30 Mrd.) Euro auf 17,69 Mrd. (0,51 Mrd.) Euro.17 Im Sinne der beabsichtigten Umfinanzierung der Pflegeleistungen sanken die Ausgaben der Sozialhilfe von 8,93 Mrd. (1995) auf 3,00 Mrd. Euro im Jahr 2004 (-66%). Bedingt durch den per Saldo genannten Ausgabenanstieg nahm die Zahl der Anbieter von Pflegeleistungen stark zu. Gab es im Jahr 1996 erst 10.824 zugelassene Pflegedienste und 13.669 zugelassene voll- und teilstationäre Pflegeeinrichtungen, so stiegen diese Zahlen bis zum Jahr 2003 auf 12.120 Pflegedienste und 17.639 Pflegeeinrichtungen an. Dies entspricht einem Wachstum der Anbieterzahl von 12 bzw. 29 Prozent. Allein von 1999 bis 2003 stieg die Zahl der verfügbaren Pflegeplätze im stationären Bereich von 645.546 auf 713.195 an (+10%). Zurückzuführen ist der Anstieg der Ausgaben und das Wachstum der Anbieterzahl und der Kapazität letztlich auf die Veränderungen (der Rahmenbedingungen) auf der Nachfrageseite: Die Zahl der pflegebedürftigen Personen ___________ 17 Die Wachstumsraten betragen +25% bzw. +70%. Die Angaben der privaten Pflegeversicherung beziehen sich auf die Jahre 1996 und 2003.

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

177

nahm in Deutschland von etwa 1,6 Mio. im Jahr 1995 auf ca. 2,1 Mio. im Jahr 2004 zu (Tabelle 1). Zu vermuten ist, dass ein Teil dieses 31-prozentigen Anstiegs auf die veränderten Finanzierungsmöglichkeiten für Pflegeleistungen und die daraus resultierenden Anreize (Verlagerung von privater, informeller Pflege zu externer, formeller Pflege) zurückzuführen ist. Diese Vermutung wird bestätigt, wenn man mit den in der letzten Spalte von Tabelle 1 angeführten Anteilswerten die Zahl der potentiell Pflegebedürftigen im Jahr 1995 zurückrechnet.18 Dabei ergibt sich eine Zahl von 1,9 Mio. potentiellen Pflegebedürftigen schon im Jahr 1995.19 Allein auf die Einführung der Pflegeversicherungspflicht wären damit etwa 300.000 zusätzliche erfasste Pflegebedürftige zurückzuführen; dies allein entspricht einem Wachstum von 19 Prozent. Betrachtet man als Grundgesamtheit die Gruppe der Pflegebedürftigen, so stellen die über 90-jährigen einen Anteil von 17 Prozent aller Pflegebedürftigen dar. Etwa zwei Drittel aller Pflegebedürftigen sind älter als 75 Jahre; die Gruppe der über 80-jährigen Personen stellt mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen dar. Die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden – und damit Pflegeleistungen in Anspruch nehmen zu müssen – steigt mit dem Alter an: Die unter 60-jährigen stellen nur einen Anteil von 14 Prozent der Pflegebedürftigen. Die höhere Nachfrage nach Pflegeleistungen spiegelt sich auch in der Entwicklung der Beschäftigtenzahlen im Pflegesektor wider. Die Langzeitpflege ist sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich sehr personalintensiv. Arbeit durch den Faktor Kapital zu substituieren ist nur sehr begrenzt möglich. So waren die ersten Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung nicht nur durch einen Anstieg der Anbieterzahl gekennzeichnet, sondern insbesondere auch durch eine hohe Nachfrage nach Pflege(fach)kräften auf dem Arbeitsmarkt.

___________ 18

Im Jahr 1995 wurden zunächst per 01.04.95 die Leistungen für ambulante Pflege durch die Pflegeversicherung eingeführt; stationäre Leistungen werden erst seit dem 1.7.1996 finanziert. 19 Zur Bevölkerungsstruktur im Jahr1995 vgl. StatBA (2003a).

178

Dirk Sauerland Tabelle 1 Pflegebedürftige und Pflegequoten nach Altersgruppen 200320

Altersgruppe Pflegebedürftige

davon ambulant

davon in Pflegeheimen

Anteil der Pflegebedürftigen in der Altersklasse

0-15

64.715

64.447

268

0,5 %

15-60

236.545

207.673

28.872

0,5 %

60-65

85.988

66.124

19.864

1,6 %

65-70

132.517

100.888

31.629

2,7 %

70-75

177.959

134.956

43.003

5,1 %

75-80

287.339

206.039

81.300

9,8 %

80-85

426.873

281.312

145.561

20,6 %

85-90

309.601

185.321

124.280

39,9 %

90-95

276.486

151.850

124.636

60,4 %

95+

78.912

38.036

40.876

56,1 %

insgesamt

2.076.935

1.436.646

640.289

2,5 %

Die Zahl der Beschäftigten im Pflegesektor stieg von 560.328 im Jahr 1999 um 15 Prozent auf 646.397 im Jahr 2003.21 Von diesen Beschäftigten entfielen im Jahr 2003 auf den ambulanten Bereich 135.540, während 510.857 Personen im stationären Bereich beschäftigt waren. Im stationären Bereich wurden mithin 1,25 Pflegebedürftige pro Beschäftigten versorgt, im ambulanten Bereich hingegen 10,60 Pflegebedürftige. Im Jahr 1999 betrugen die entsprechenden Betreuungsrelationen 1,30 (stationär) bzw. 12,09 (ambulant). Die Pflege ist also im Laufe der Zeit noch personalintensiver geworden. Auffällig ist auch der hohe Anteil von teilzeitbeschäftigten Personen im Bereich der ambulanten und stationären Pflege. Die Beschäftigtenzahl von 711.754 Personen entsprach im Jahr 2003 lediglich 523.263 vollzeitäquivalenten Stellen (Tabelle 2).

___________ 20 21

Vgl. dazu StatBA (2005). Vgl. dazu und im Folgenden StatBA (2001), (2003b) sowie (2005).

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

179

Tabelle 2 Beschäftigtenstruktur im Pflegesektor 2003 Beschäftigte im ambulanten Bereich (Pflegedienste)

Beschäftigte in Pflegeheimen

insgesamt

200.897

insgesamt

510.857

zu 100%

35.974

Vollzeit

216.510

75 bis 100%

54.451

über 50 %

140.488

50 bis 75 %

60.823

50 % und weniger

71.066

25 bis 50 %

23.191

geringfügig Beschäftigte

49.179

unter 25 %

26.458

Praktikanten/ Zivildienstleistende

33.614

Vollzeitäquivalente

134.514

Vollzeitäquivalente

388.749

Daher bleibt festzuhalten, dass aufgrund der hohen Personalintensität (und der fehlenden Substitutionsmöglichkeiten von Arbeit durch Kapital) bei steigender Zahl von Pflegebedürftigen auch eine steigende Zahl von Beschäftigten im Bereich der Pflege zu erwarten ist. Das Beschäftigungswachstum wird dabei auch durch die Verlagerung vom Bereich der ambulanten in die stationäre Pflege getrieben. Diese Entwicklung, die etwa auch in Luxemburg beobachtet werden kann, wird in beiden Ländern durch die Einführung der Pflegeversicherung unterstützt.22 Hier lässt sich feststellen, dass die Zahl der stationär versorgten Leistungsempfänger der sozialen und privaten Pflegeversicherung von 488.281 im Jahr 1997 auf 650.833 im Jahr 2003 um 33 Prozent anstieg, während das Wachstum der ambulant versorgten bei lediglich 8 Prozent (1997: 1.260.805; 2003: 1.361.429) lag (Tabelle 3).

___________ 22

Vgl. OECD (2005), S. 41.

180

Dirk Sauerland Tabelle 3 Leistungsempfänger der sozialen und privaten Pflegeversicherung Leistungsempfänger

stationär versorgt

ambulant versorgt

1995

1.061.418*

1.061.418*

1996

1.635.853*

384.562*

1.162.184*

1997

1.749.087

488.281

1.260.806

1998

1.835.086

538.713

1.296.373

1999

1.929.309

577.709

1.351.600

2000

1.928.813

594.066

1.334.747

2001

1.950.582

612.253

1.338.329

2002

2.003.432

634.954

1.368.478

2003

2.012.262

650.833

1.361.429

2004

1.925.703*

628.892*

1.296.811*

* Angaben in den Jahren 1995, 1996 sowie 2004 jeweils nur für die soziale Pflegeversicherung.

Entsprechend stiegen – wie Tabelle 4 zeigt – die Ausgaben der Pflegeversicherung für ambulante Leistungen von 8,97 Mrd. Euro auf 9,40 Mrd. Euro (+5%), während die Ausgaben für stationäre Pflegeleistungen um 31 Prozent zunahmen (1997: 6,62 Mrd.; 2003: 8,86 Mrd. Euro). Betrachtet man diese Strukturen und Zahlen, so scheint die Versorgung mit Pflegeleistungen – zumindest was den Umfang der bereitgestellten Leistungen betrifft –, den Präferenzen der Nachfrager zu entsprechen: Dauerhafte Warteschlangen und Leistungsrationierungen im Pflegesektor sind nicht erkennbar.23 Hier zeigt sich ein Vorteil der deutschen Ausgestaltung der Pflegeversicherung. Da diese Geldleistungen zur Verfügung gestellt werden, kann das Geld im System tatsächlich dahin fließen, wo die Nachfrage am höchsten ist. Steigt die Nachfrage nach bestimmten Leistungen, können in diesem Bereich die Kapazitäten angepasst werden, um so die Nachfrage zu befriedigen.

___________ 23

Vgl. dazu Cremer (2007) im vorliegenden Band, mit Verweis auf DCV (2005).

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

181

Tabelle 4 Ausgaben der sozialen und privaten Pflegeversicherung (in Mrd. Euro) Ausgaben

stationär

ambulant

1995

4,97

k.A.

k.A.

1996

11,16

8,33

2,83

1997

15,59

8,97

6,62

1998

16,34

9,28

7,05

1999

16,81

9,41

7,40

2000

17,14

9,44

7,70

2001

17,36

9,37

7,98

2002

17,86

9,62

8,24

2003

18,08

9,40

8,68

2004

17,69

k.A.

k.A.

So hat sich die Verschiebung der Nachfrage vom ambulanten in den stationären Bereich offensichtlich nicht nur bei den Ausgaben niedergeschlagen, sondern auch bei den Anbieter- und den Beschäftigtenzahlen. Fraglich ist jedoch angesichts der oben zitierten Studien, ob die Qualität der Leistungen immer den Vorstellungen der Betroffenen entspricht. Damit aber stellt sich die Frage nach den Instrumenten und den Trägern, die im Bereich der Qualitätssicherung und -verbesserung in Deutschland eingesetzt werden.

2. Die Rahmenbedingungen des Pflegesektors Die wesentlichen „Spielregeln“ für den Pflegesektor in Deutschland sind im Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (SGB XI) fixiert, das die Soziale Pflegeversicherung regelt. Diese ist mit einem Anteil von etwa 80 Prozent der dominierende Träger von Ausgaben für Pflegeleistungen in Deutschland. Das SGB XI enthält neben den Regelungen der Leistungen (4. Kapitel) auch organisatorische Vorschriften (5. Kapitel), es regelt die Beziehungen der Pflegekassen zu den Leistungserbringern (7. Kapitel) und es enthält Vorschriften zur Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen (7. Kapitel, 4. Abschnitt, 8. Kapitel, 11. Kapitel). Damit sind nahezu alle Bereiche der im Abschnitt II. skizzierten notwendigen Rahmenbedingungen im SGB XI angesprochen.

182

Dirk Sauerland

Prinzipiell sind aufgrund der großen Anbieterzahl im ambulanten und stationären Bereich der Pflege die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Wettbewerb im Pflegesektor gegeben.24 Diese Voraussetzungen werden auch dadurch geschaffen, dass § 11 Abs. 2 des SGB XI die Aktivitäten von staatlichen Anbietern im Sinne des Subsidiaritätsprinzips begrenzt: „Freigemeinnützige und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern.“ Diese Stärkung nicht-öffentlicher Anbieter lässt darauf schließen, dass ein Wettbewerb der Leistungserbringer im Pflegesektor (politisch) erwünscht ist und den nicht-öffentlichen Trägern eher zugetraut wird, einen solchen Wettbewerb – und seinen erwünschten Wirkungen in den Bereichen Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung – auch zu bestreiten.25 Tatsächlich waren im Jahr 2003 nur 7,5 Prozent aller 9.743 Pflegeheime im stationären Bereich in öffentlicher Trägerschaft; 37 Prozent wurden von privaten, 55,5 Prozent von freigemeinnützigen Trägern betrieben (Tabelle 5).

Tabelle 5 Größe der stationären Einrichtungen Pflegebedürftige je Pflegeheim

Pflegeheime

1 bis 10 11 bis 20 21 bis 30 31 bis 40 41 bis 50 51 bis 60 61 bis 80 81 bis 100 101 bis 150 151 bis 200 201 bis 300 301 und mehr insgesamt

545 1.060 973 890 813 826 1.556 1.174 1.431 330 127 18 9.743

privat 284 525 553 456 364 291 443 265 309 86 32 2 3.610

Trägerschaft öffentlich freigemeinnützig 30 47 49 51 62 61 130 94 127 50 22 5 728

231 488 371 383 387 474 983 815 995 194 73 11 5.405

___________ 24 Trotz der auf die gesamte Bundesrepublik bezogenen hohen Anbieterzahl kann man davon ausgehen, dass es auf lokaler Ebene durchaus zu Monopolstellungen einzelner Anbieter und zu engen Oligopolen kommen kann. 25 Vgl. OECD (2005), S. 119. Zu möglichen Wettbewerbsverzerrungen zu Gunsten der freigemeinnützigen Einrichtungen vgl. Meyer (2003a).

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

183

Für die Erbringung von Pflegeleistungen, die von der Pflegeversicherung finanziert werden, sind nur Leistungserbringer zugelassen, die einen Versorgungsvertrag mit dem Finanzierungsträger abgeschlossen haben (§ 72, Abs. 2 SGB XI). Solche Leistungserbringer müssen gesetzlich fixierte Mindestanforderungen hinsichtlich der Strukturqualität erfüllen (§ 71). Dort wird in den Absätzen 1 und 2 die Verantwortung einer „ausgebildeten Pflegefachkraft“ für die Pflege betont. Wer im Sinne des Gesetzes zu diesen Pflegefachkräften zählt, ist in § 71 Abs. 3 festgelegt. Die Qualität wird damit über Markteintrittsbarrieren im Bereich der Strukturqualität zu sichern versucht. Werden diese Anforderungen erfüllt, besteht faktisch ein Zulassungsanspruch seitens der Leistungserbringer. Der Gesetzgeber weist in § 28 Abs. 3 den Pflegekassen und Leistungserbringern die Verantwortung dafür zu, dass die Pflegeleistungen nach dem „allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse erbracht werden“. Er verweist damit auf ein Kriterium der Prozessqualität. In § 29 wird dahingehend ergänzt, dass die erbrachten Leistungen „wirksam und wirtschaftlich“ sein müssen und sie das „Maß des Notwendigen“ nicht übersteigen dürfen. Diese ebenfalls auf die Prozessqualität abstellende Vorschrift ist dann problematisch, wenn kaum anerkannte Definitionen für eine notwendige Pflege bestehen.26 Generell ist aber der Versuch des Gesetzgebers erkennbar, das Ziel einer präferenzgemäßen Versorgung mit Pflegeleistungen in den Ausprägungen „Qualität“ und „Wirtschaftlichkeit“ im Gesetz zu verankern und den verantwortlichen Akteuren entsprechende Vorgaben zu machen. Um die Zielerreichung zu kontrollieren, ist in § 79 Abs. 1 SGB XI festgelegt, dass die Landesverbände der Pflegekassen (mithin die Finanzierungsträger) die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung durch Sachverständige prüfen lassen können. In § 80 Abs. 1 wird den Finanzierungsträgern und Leistungserbringern die Aufgabe zugewiesen „Grundsätze und Maßstäbe für die Qualität und die Qualitätssicherung der ambulanten und stationären Pflege“ zu entwickeln. Darüber hinaus sollen sie an der „Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements, das auf eine stetige Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität ausgerichtet ist“ arbeiten. Damit wird letztlich den Finanzierungsträgern eine Kontrollfunktion übertragen, die sie an Stelle der eigentlichen Leistungsempfänger wahrnehmen sollen. Die Finanzierungsträger schließen auch die „Leistungs- und Qualitätsvereinbarung“ mit den Pflegeheimen im Bereich der stationären Pflege (§ 80a, Abs. 1) ein. Darin werden Komponenten der Strukturqualität (personelle und ___________ 26 Aus der Literatur zur Messung der Qualität im Bereich der medizinischen Versorgung ist die Unterscheidung eines angemessenen Versorgungsumfangs und eines notwendigen Umfangs bekannt. Letzterer beschreibt eine Untergrenze an sinnvollen Behandlungsmaßnahmen, ersterer eine Obergrenze. Vgl. dazu Donaldson (1999), S. 5 ff.

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Dirk Sauerland

fachliche Ausstattung, incl. Qualifikation der Mitarbeiter) fixiert. Darüber hinaus sind die Träger von zugelassenen Pflegeeinrichtungen gem. § 113 Abs. 1 SGB XI verpflichtet, regelmäßige Qualitätsnachweise zu erbringen, und zwar gegenüber den Landesverbänden der Pflegekassen (Finanzierungsträger). Diese Nachweise sind nur von öffentlich legitimierten Stellen zu erteilen (§ 113 Abs. 2). Die Finanzierungsträger sollen damit (auf Basis der Vorschriften des SGB XI) als Agenten der Pflegebedürftigen (Prinzipale) fungieren – mit den im Prinzipal-Agenten-Beziehungen möglichen Interessenkonflikten: Die Verantwortung wird von den unmittelbar Betroffenen verlagert, so dass die Souveränität der Konsumenten hier zu Gunsten des staatlichen Verbraucherschutzes verringert wird. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass das Ziel der präferenzgemäßen Versorgung in Deutschland im Wesentlichen mit dem Instrument der staatlichen Regulierung verfolgt wird. Aber auch verschiedene Elemente wettbewerblicher Lösungen sind in den Vorschriften des SGB XI zu finden.27 So schreibt § 112 Abs. 2 vor, dass die zugelassenen Pflegeeinrichtungen „in regelmäßigen Abständen die erbrachten Leistungen und deren Qualität nachzuweisen“ haben – dies allerdings gegenüber den Finanzierungsträgern. Eine Veröffentlichungspflicht von Basisinformationen über die Qualität, wie sie aktuell etwa im Bereich der stationären Versorgung im Krankenhausbereich geplant ist, ist im Pflegebereich nicht vorgesehen. Betrachtet man jedoch die Zahl der Zertifizierungen und andere Qualitätssiegel, mit denen insbesondere die Erbringer stationärer Leistungen die von ihnen bereitgestellte Qualität der Pflege signalisieren (Gerste/Schwinger/Rehbein, 2004), so deutet dies darauf hin, dass die Qualität durchaus auch stärker als Wettbewerbsparameter eingesetzt werden könnte, wenn die Qualitätsinformationen entsprechend „verbraucherfreundlich“ aufbereitet werden. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass das prinzipielle Wahlrecht der Pflegebedürftigen („Selbstbestimmung“) in Bezug auf die Leistungen und Leistungserbringer gesetzlich gesichert ist (§ 2 Abs. 2). Bei der Wahrnehmung dieses Wahlrechts soll die zuständige Pflegekasse (als Agent) dem Pflegebedürftigen gem. § 7 Abs. 3 Informationen zur Verfügung stellen. Diese beziehen sich im Wesentlichen auf den Leistungsumfang der verfügbaren Leistungserbringer sowie deren Preise (Leistungs- und Preisvergleichsliste). Diese Liste soll aber auch die Qualitätsvereinbarung nach § 8a enthalten. Die Vorschrift des § 7 Abs. 2 soll explizit dazu dienen, den Wettbewerb der Leistungserbringer ebenso zu fördern wie die Überschaubarkeit des vorhandenen ___________ 27

Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei Analyse der Qualitätssicherungsstrategie, die im SGB V für den Teil des deutschen Gesundheitssystem fixiert ist, der durch die Gesetzliche Krankenversicherung finanziert wird. Vgl. dazu Sauerland (2005).

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

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Angebots.28 Zielgröße ist hier aber eher ein Preiswettbewerb als der unter B skizzierte Qualitätswettbewerb der Leistungserbringer.

IV. Künftige Herausforderungen und Lösungsansätze Die größten künftigen Herausforderungen im Bereich der Langzeitpflege resultieren aus dem absehbaren und demographisch bedingten Wachstum der (potentiell) Pflegebedürftigen. Dieses Nachfragewachstum fordert zum einen eine nachhaltige Finanzierung der Pflegeleistungen durch die Pflegeversicherung (und andere Quellen). Sie stellt aber auch die Anbieter der ambulanten und stationären Pflegeleistungen vor die Herausforderung, eine hinreichende Zahl qualifizierter Mitarbeiter zu finden und so die Quantität und Qualität der Pflege auch langfristig gewährleisten zu können. Legt man die Zahlen der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zugrunde29, so steigt die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2040 auf 3.740.559 und damit um 80 Prozent im Verhältnis zum Jahr 2003 an (Abbildung 2).30

4.000.000 3.500.000 3.000.000 2.500.000 2.000.000 1.500.000 1.000.000 500.000 0 2003

2010

2015

2020

2030

2040

Abbildung 2: Projektion der pflegebedürftigen Personen 2003 bis 2040

___________ 28 Der § 7 Abs. 2 ist übrigens die einzige Stelle im SGB XI, an der das Wort „Wettbewerb“ zu finden ist. 29 Vgl. dazu StatBA (2003a). Hier wurde das mittlere Szenario der Bevölkerungsentwicklung zugrunde gelegt. 30 Ähnliche Zahlen prognostiziert bei gleicher Vorgehensweise StatBA (2003c), S. 41.

186

Dirk Sauerland 1.000.000 900.000 800.000 700.000 600.000 500.000 400.000 300.000 200.000 100.000 0 2003 0-15 80-85

2010

15-60 85-90

2015

60-65 90-

2020

65-70

2030

70-75

2040

75-80

Abbildung 3: Projektion der pflegebedürftigen Personen 2003 bis 2040 nach Altersklassen

Diese Zahlen basieren auf der Fortschreibung der Anteile von Pflegebedürftigen nach Altersklassen aus dem Jahr 2003 (vgl. Tabelle 1). Die demographische Entwicklung der kommenden Jahrzehnte verschiebt die Altersstruktur in die höheren Lebensalter, die wiederum mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Pflegebedürftigkeit belegt sind (Abbildung 3). Aus der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen resultieren dann a) die in Abbildung 4 dargestellten steigenden Ausgaben für die Pflege sowie b) eine zu erwartende Nachfrageerhöhung auf dem Arbeitsmarkt für qualifizierte Pflegekräfte.

35 30

M rd. Euro

25 20 15 10 5 0 2003

2010

2015

Ausgaben

2020

stationär

2030

2040

ambulant

Abbildung 4: Projektion der Ausgaben für Pflege 2003 bis 2040

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

187

Bei den Berechnungen der Zahlen in Abbildung 4 wurden die Ausgaben pro Kopf im Bereich der ambulanten und stationären Pflege aus dem Jahr 2003 zugrunde gelegt.31 Darüber hinaus wurde mit einer konstanten Trendverschiebung von der ambulanten zur stationären Pflege gerechnet: Während im Jahr 2003 der Anteil der stationär versorgten Personen 31 Prozent betrug, steigt dieser Anteil in den Berechnungen auf 49 Prozent im Jahr 2040. Aufgrund dieser Verschiebung zwischen den Sektoren steigt auch der Personalbedarf im stationären Bereich deutlich stärker an als im ambulanten. Legt man auch hier die Parameter des Jahres 2003 zugrunde (Pflegebedürftige pro Beschäftigter bzw. Vollzeitäquivalent), ergibt sich eine Erhöhung des Personalbedarfs im stationären Pflegebereich um 188 Prozent bis zum Jahr 2040. Im Bereich der ambulanten Pflege resultiert c.p. lediglich ein zusätzlicher Bedarf von 32 Prozent. Auf Grundlage dieser Berechnungen werden im Jahr 2040 etwa 1,7 Mio. Personen im Pflegesektor Beschäftigung finden (im Vergleich 2003: 0,7 Mio.), das entspricht etwa 1,3 Mio. vollzeitäquivalenten Beschäftigungsverhältnissen (2003: 0,5 Mio.).32 Damit könnte der Pflegesektor tatsächlich zu einem beschäftigungspolitisch wichtigen Wachstumssektor werden. Bezogen auf die Zahl der potentiell Erwerbsfähigen im Alter von 15 bis 65 Jahren entsprechen die genannten Beschäftigtenzahlen nämlich einem Anteil von 3,7 Prozent im Jahr 2040 während es im Jahr 2003 erst 1,3 Prozent waren. Fraglich ist nur, ob überhaupt genügend qualifiziertes Personal für die zu erbringenden Leistungen gefunden werden kann. 2.000.000 1.800.000 1.600.000 1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 2003

2010

Stellenbedarf gesamt

2015

2020

stationär

2030

2040

ambulant

Abbildung 5: Projektion der beschäftigen Personen im Pflegesektor 2003 bis 2040

___________ 31 32

Erhöhungen der Löhne bzw. des Preisniveaus wurden nicht berücksichtigt. Vgl. zu ähnlichen Ergebnissen auch Schulz/Leidl/König (2001).

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1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 2003

2010

Stellenbedarf gesamt

2015

2020

stationär

2030

2040

ambulant

Abbildung 6: Projektion der vollzeitäquivalenten Stellen im Pflegesektor 2003 bis 2040

Um diesen Bedarf mit inländischen Arbeitskräften zu decken, bedarf es primär attraktiver Berufschancen im Pflegesektor.33 Diese sind umso eher zu erwarten, wenn die gestiegene Arbeitskräftenachfrage sich in höheren Einkommen der Pflegekräfte niederschlägt.34 Gleichzeitig werden aber auch adäquate berufliche Ausbildungsgänge benötigt, um den Anforderungen an das Pflegepersonal gerecht zu werden und die Qualität der Pflege sicherzustellen.35 Problematisch ist bei der Deckung des Pflegekräftepersonals die bekannt lange Ausbildungsdauer, die zu einer (temporären) Unterversorgung mit Arbeitskräften führen kann (Stichwort Schweinezyklus) sowie die demographiebedingte Verknappung des Arbeitskräftepotentials. Eine andere Möglichkeit, um eine solche Fachkräftelücke in Deutschland zu schließen, besteht darin, ausländische Pflegekräfte zu attrahieren und sie mit der Erbringung von Pflegedienstleistungen zu beauftragen. Insbesondere Dienstleister aus den Ländern der Europäischen Union könn(t)en – im Rahmen des Binnenmarkts – auf dem deutschen Markt ihre Leistungen erbringen, und das möglicherweise sogar zu niedrigeren Kosten (d.h. Löhnen), als das inländische Leistungserbringer tun können.36 Ob sie das im Bereich der Pflege auch ___________ 33

Vgl. dazu auch Meyer (2003b), S. 78 f. Dies hätte natürlich (negative) Auswirkungen auf die Ausgaben für die Pflege und zeigt noch einmal deutlich die Notwendigkeit einer nachhaltigen Finanzierung der Pflegeausgaben. 35 Vgl. zu den Anforderungen an das Berufsbild der Pflegekräfte z.B. Becker et al. (2002). 36 Mit solchen „kostengünstigen“ Leistungserbringern könnte auch der Ausgabenanstieg für die Pflege gebremst werden. 34

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tatsächlich tun dürfen, ist in Deutschland Gegenstand einer politischen Diskussion, die unter dem Schlagwort „Dienstleistungsrichtlinie“ geführt wird. Durch die von der europäischen Kommission im Jahr 2004 vorgelegte Dienstleistungsrichtlinie soll die Freizügigkeit von Dienstleistern innerhalb der EU erleichtert werden. Dieser Entwurf betont das Herkunftslandprinzip im Bereich der Dienstleistungserbringung und dient der Vollendung des Binnenmarkts. Allerdings hat der Europäische Rat im Jahr 2005 ebenfalls beschlossen, dass „insbesondere auch das europäische Sozialmodell zu wahren ist“. 37 Diese Forderung wird in Deutschland dahingehend präzisiert, dass Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialbereich – zu denen auch die Langzeitpflege gehört – besonders geschützt werden müssen. Begründet wird diese Forderung zum einen damit, dass „die in den Mitgliedsstaaten jeweils geltenden Qualitäts- und Sicherheitsstandards in diesem Bereich gewahrt werden“ müssen.38 Ein weiterer Grund, der genannt wird, ist die Sorge vor „Sozialdumping oder Dumping bei der Entlohnung“.39 Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Qualität der Versorgung mit Pflegeleistungen erscheint zumindest die erstgenannte Begründung für Ausnahmen von der Dienstleistungsfreiheit nicht abwegig zu sein.40 Neben diesen eher politischen Diskussionen gibt es aber auch noch eine andere Sichtweise, die einen Einsatz ausländischer Dienstleister im Bereich der inländischen Pflege schwierig erscheinen lässt. So gehört zu einer qualitativ guten Versorgung im Bereich der Pflege auch die Möglichkeit, sich mit dem Pflegepersonal verständigen und so seine Wünsche artikulieren zu können. Es ist bekannt, dass fehlende oder mangelnde Sprachkenntnisse ausländischer Leistungserbringer aus Sicht der Nachfrager von Gesundheitsleistungen ein erhebliches Hindernis dafür darstellen, Gesundheitsleistungen im Ausland nachzufragen.41 Es ist daher nicht unplausibel anzunehmen, dass diese Barrieren auch im Bereich der Pflege aus Sicht der Nachfrager eine wesentliche Rolle spielen dürften. Somit lässt sich neben der fachlichen Qualifikation (Ausbildung) der Pflegekräfte auch die sprachliche Qualifikation auf einem bestimmten Niveau als Kriterium der Strukturqualität benennen, das die Einschätzungen der Pflegebedürftigen (im Bereich der Ergebnisqualität) beeinflusst.

___________ 37

Deutscher Bundestag (2005a), S. 1. Deutscher Bundestag (2005a), S. 2. 39 Deutscher Bundestag (2005b), S. 2. 40 Vorstellbar wäre hier etwa die einfache Anwendung der Vorschriften des § 71 auf ausländische Anbieter. 41 Vgl. dazu DIW (2001) S. 150. 38

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V. Fazit Aufgrund der demographisch bedingten Zunahme von potentiell pflegebedürftigen Personen in Deutschland ist es notwendig, eine möglichst präferenzgemäße Versorgung der betroffenen Bevölkerungsteile mit Leistungen der ambulanten und stationären Pflege nachhaltig sicherzustellen. Während ein Konsens über dieses Ziel besteht, wird über die Frage des adäquaten Instruments zur Erreichung dieses Ziel sowie die Zuordnung des Instruments auf passende Träger nach wie vor diskutiert – insbesondere zwischen Ökonomen und Wissenschaftlern anderer Professionen.42 Die in Deutschland gewählte Lösung besteht darin, die Versorgung über einen Wettbewerb privater und freigemeinnütziger Leistungserbringer sicherzustellen. Dieser Wettbewerb funktioniert im Hinblick auf die bereitgestellten Mengen gut. Das Problem der Qualitätssicherung und -verbesserung, das ebenfalls zur Gewährleistung einer präferenzgemäßen Versorgung gehört, wird in Deutschland im Wesentlichen über das Instrument der Regulierung (Verbraucherschutz) zu lösen versucht. Träger der Kontrollfunktion sind in dieser Regulierungslösung nicht die betroffenen Pflegebedürftigen selbst, sondern in erster Linie die Finanzierungsträger, die als Agenten der Nachfrager fungieren. Hier gäbe es allerdings Möglichkeiten, stärker auf einen Qualitätswettbewerb der Leistungserbringer zu setzen und damit die Souveränität der Pflegebedürftigen im Hinblick auf die Wahl der Leistungserbringer zu stärken. Voraussetzung dafür ist aber eine verstärkte Forschung im Bereich der Qualitätsindikatoren, um über die Bereitstellung adäquat aufbereiteter Informationen den Nachfragern eine „aufgeklärte“ Entscheidung zu ermöglichen. Die künftige Entwicklung der Nachfrage von Pflegeleistungen lässt den Pflegesektor zu einem volkswirtschaftlich bedeutsamen Beschäftigungsbereich werden. Da ein möglicher Fachkräftemangel nicht ohne weiteres über ausländische Anbieter abgedeckt werden kann, bleibt hier abzuwarten, wie sich die Berufsbilder der Pflegefachkräfte entwickeln. In dem Maße, wie die Arbeitsplätze im Pflegesektor aufgrund von niedrigen Löhnen und/oder unattraktiven Arbeitszeiten wenig reizvoll erscheinen, sind Unterversorgungssituationen, wie sie heute bereits regional im ärztlichen Bereich der Gesundheitsversorgung bestehen, nicht auszuschließen. Dann aber wird das Ziel der präferenzgemäßen Versorgung mit Pflegeleistungen nicht mehr erreicht.

___________ 42

Vgl. dazu etwa das Korreferat von Jakobi (2007) im vorliegenden Band.

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor

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Dirk Sauerland

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Chancen und Probleme im Pflegesektor: Qualität in der Pflege durch Wettbewerbsdruck? – Korreferat zu Dirk Sauerland – Von Tobias Jakobi In seinem Beitrag formuliert Sauerland in der Tat ein konsensfähiges Ziel. Es geht ihm darum, eine qualitativ hochwertige Pflege sicherzustellen, die sowohl im Sinne der Patienten als auch effizient ist. Dem Erreichen dieses Ziels stehen nach Sauerland zwei Probleme entgegen. Erstens muss die Qualität der Pflege gesichert werden. Zweitens zeichnet sich unter anderem wegen des prognostizierten Nachfragewachstums ein Fachkräftemangel in der Pflege ab. Nimmt man diese Analyse ernst – und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun – stellt sich schließlich ebenso zutreffend die Frage, welche Instrumente und Strategien geeignet sind, um dennoch das Ziel einer qualitativ hochwertigen Pflege zu erreichen. Dass ein Markt im Pflegesektor und genauer ein so genannter Qualitätswettbewerb der Leistungserbringer ein solches geeignetes Instrument sein soll, leuchtet jedoch nicht recht ein. Wohl begründet Sauerland, warum er auf so genannte funktionsfähige Märkte für Pflegedienstleistungen setzt. Sie sollen helfen – und das ist schließlich auch der Vorteil funktionsfähiger Märkte –, Ressourcen effizient einzusetzen. Leider greift Sauerland diesen höchst interessanten und diskussionswürdigen Punkt dann nicht mehr auf. Wenn es die Stärke des Marktes ist, zu einer effizienten Leistungserbringung zu führen, dann ist es notwendig zu überlegen, was denn genau eine denkbare oder gar wünschenswerte Effizienz der Pflege überhaupt sein könnte und – besonders – zu welcher Art von Effizienz der Pflegemarkt empirisch bisher geführt hat. Im Folgenden wird diskutiert, wodurch Qualitätsverbesserungen zu erwarten sind, wie Qualität sinnvoll gesichert werden kann und welche Rolle dabei einem Anbieterwettbewerb zukommt. Dies berührt schließlich auch die aufgeworfene, theoretische und empirische Frage nach der Effizienz. Die leitende These dieses Beitrags lautet, dass die von Sauerland herausgestellten Probleme mit einem Wettbewerb der Leistungserbringer nicht gelöst und schlimmstenfalls sogar verstärkt werden. Ein Anbieterwettbewerb bringt mehr Nach- als Vorteile, wenn man an der Qualität der Pflege orientiert ist. Das schließt nicht aus, dass in einzelnen, abgegrenzten Bereichen Effizienzvorteile möglich und

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wünschenswert sind. Aber auch hier sollte man nicht zu hohe Erwartungen haben und die möglichen externen Kosten dieser Effizienzgewinne stets mit bedenken.

I. Ist der Anbieterwettbewerb das geeignete Instrument? Sauerland argumentiert zunächst ausführlich für eine Qualitätssicherung und führt dazu aus, dass Qualität grundsätzlich gemessen werden kann. Damit geht er auf eine bei Pflegekräften offensichtlich immer noch verbreitete Skepsis gegenüber den Segnungen der Qualitätsoffensive ein. Aus Sauerlands Sicht führt der Wettbewerb der Anbieter von Pflegeleistungen grundsätzlich zu wünschenswerten Ergebnissen, weil – eigentlich müsste man sagen: wenn – er ein Qualitätswettbewerb ist. Dieser Wettbewerb ist demnach ein geeignetes Instrument zur Qualitätssicherung oder gar – obwohl Sauerland so weit nicht geht – zur Qualitätsverbesserung. Polemischer als Sauerland selbst könnte man schließen: wer gegen den Wettbewerb der Leistungsanbieter ist, ist gegen Qualitätssicherung. Doch sind die Gegner des real existierenden Qualitätswettbewerbs und seiner Auswirkungen nicht gegen eine hohe Qualität in der Pflege oder meinten, diese ließe sich nicht mehr als subjektiv bestimmen. Sie sind nur gegen das vorgeschlagene Instrument des Qualitätswettbewerbs der Leistungserbringer. Als Ökonom unterstellt Sauerland, dass dieser Wettbewerb ein geeignetes Instrument ist. Entsprechend diskutiert er dann nur noch Faktoren aus der Theorie des Markversagens, die verhindern könnten, dass der Wettbewerb funktionieren kann. Doch warum überhaupt sollte der Wettbewerb der Leistungsanbieter ein Instrument zur Qualitätssicherung oder gar Qualitätsverbesserung sein? Inwiefern könnte er zum Qualitätswettbewerb werden? Das Versprechen, dass der Wettbewerb zu einer „präferenzgemäßen Pflege“ führe, hilft hier nicht weiter. Die Präferenz der Patienten ist schließlich eindeutig, so gut wie möglich gepflegt zu werden. Was das im konkreten Einzelfall bedeutet, wird durch die Erkrankung oder Behinderung bestimmt, die eine Pflege nötig machen. Im Interesse des individuellen Patienten ist demnach eine bedarfsgerechte Pflege. Dieser Einwand allein ist aber noch kein Grund, mögliche positive Effekte eines Wettbewerbs der Leistungsanbieter pauschal auszuschließen. Ein denkbarer Mechanismus, wie es zu solchen kommen könnte, ist, dass der Wettbewerb die Anbieter zwingt, ihre Produkte zu verbessern oder gar neue Produkte erfinden, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Aber kann man das im Pflegesektor erwarten? Und welche Kosten muss man dabei in Kauf nehmen? Dies soll für die Verbesserung und für die Sicherung von Qualität getrennt diskutiert werden.

Qualität in der Pflege durch Wettbewerbsdruck?

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II. Von wem und wie sind Qualitätsverbesserungen in der Pflege zu erwarten? Das Feld der Qualitätsverbesserung ist das der Pflegewissenschaft und der Medizin. Pflegewissenschaftlerinnen, Medizinerinnen und schließlich Pratikerinnen1 der Pflege bemühen sich, sowohl Pflegemethoden als auch Pflegehilfsmittel zu überdenken, zu verbessern oder gar neu zu ersinnen. „Produktinnovationen“ sind deshalb hauptsächlich von diesen Akteuren als Ergebnis eines Wettbewerbs der Ideen und Konzepte zu erhoffen. Eine neuartige, bessere Pflegemethode beispielsweise kann dann jedoch kaum dauerhaft das Wettbewerbsmerkmal eines einzelnen Pflegeanbieters sein. Dies ist schon normativ so, weil das Wissen darum zum Wohl der Patienten allen Pflegeanbietern gleichermaßen zur Verfügung gestellt werden sollte. Diese sollten sogar dazu ermuntert – wenn nicht sogar verpflichtet – werden, die jeweils beste Pflegemethode anzuwenden. Der Anreiz dazu könnte theoretisch über einen Anbieterwettbewerb vermittelt werden. Anbieter, deren Pflegequalität als nicht genügend angesehen werden, würden mittelfristig aus dem Markt fallen. Dieser Korrekturmechanismus greift jedoch erst, nachdem Mängel im „Produkt“ aufgetreten, erkannt und kommuniziert wurden. Schwere Mängel in der Pflege müssen demnach erst auftreten und auch von anderen Nutzern in großer Zahl wahr- und aufgenommen werden, bevor die Korrektur über den Wettbewerb eintritt.2 Damit würden vermeidbare Mängel in der Pflege in Kauf genommen, die zu schweren Schädigungen und leicht zum Tod führen können. Um gerade diese „Kosten“ zu vermeiden, kann und wird man ein verbindliches Niveau der Pflege festschreiben. Zu besseren Pflegemethoden könnte es dann über den Wettbewerb der Leistungserbringer nur kommen, wenn diese selbst systematisch an Verbesserungen der Pflege arbeiten. Die Vorstellung, Pflegestationen oder Pflegeheime unterhielten entsprechende Forschungseinrichtungen ist jedoch eher abwegig. Bei den Pflegehilfsmitteln kann der Wettbewerb dagegen eine gewisse Rolle bei der Verbesserung der Pflege spielen. Wenn dieser beispielsweise dazu führt, dass ein neuartiges Pflegebett, das die Pflege erleichtert und die Pflegerinnen entlastet, möglichst preisgünstig angeboten wird, trägt das auch zu einer höheren Qualität der Pflege bei. Bisweilen mag es sogar vorkommen, dass die Hersteller von Pflegehilfsmitteln diese selbst weiter entwickeln. Dann kann es zu einer sinnvollen Produktinnovation kommen, die wiederum die Pflegequalität erhöhen kann. Hier handelt es sich jedoch explizit um den Wettbewerb ___________ 1

Die weibliche Form wird im Folgenden inklusiv benutzt, so dass Ärzte und Pfleger jeweils mit gemeint sind. 2 Dieses Argument übernehme ich von Kühn (2004a), der es für den Bereich der Gesundheitsversorgung entwickelt. Es greift meines Erachtens auch für den Pflegesektor.

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zwischen den Herstellern von materiellen Gütern3 und nicht um einen Wettbewerb zwischen den Erbringern der Pflegedienstleistungen. Schließlich kann man vom Anbieterwettbewerb eine effizientere Organisationsstruktur der Pflegedienstleister und einen möglichst effizienten Einsatz von Pflegematerial erwarten. Beides ist sicher zu begrüßen, wenn auch die Möglichkeit, so Kosten einzusparen, begrenzt ist.

III. Wettbewerb als sinnvolles Element im Strategiemix zur Qualitätssicherung? Nun setzt Sauerland keineswegs allein auf eine Wettbewerbslösung, sondern vielmehr auf eine gemischte Strategie. Zu Recht will er bei der Qualitätssicherung von einem Element der Regulierung, also dem ersten Ansatz nach dem Institute of Medicine (IOM), nicht lassen. Die auf diesem Weg angestrebte hohe Strukturqualität ist eine notwendige Voraussetzung einer qualitativ hochwertigen Pflege. Auch die Prozessqualität kann wesentlich durch eine Regulierung, zum Beispiel durch die verbindliche Anwendung pflegerischer Leitlinien, verbessert werden. So kann auch gewährleistet werden, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse relativ schnell in die Pflegepraxis gelangen. Denn ein Qualitätsmangel der Pflege in Deutschland ist, dass dies noch nicht im erforderlichen Umfang geschieht.4 Behoben wird dieser Mangel, indem die Ausbildung in der Pflege entsprechend verbessert und der Austausch zwischen Pflegewissenschaft und Pflegepraxis erleichtert wird. Das Instrument einer klugen Regulation ist hier angebracht. Eine solche Kombination aus Kontrolle und „professionelle[r] Selbstregulierung“ fordern im übrigens die Leistungserbringer oft selbst.5 Den interessantesten der vom IOM vorgeschlagenen Ansätze handelt Sauerland nur sehr kurz ab, und zwar das Qualitätsbewusstsein der Pflegekräfte selbst. Schon weil die konkrete Pflegepraxis letztlich nicht von Außen bis ins letzte Detail zu überprüfen ist – auch nicht durch eine noch so gute Pflegedokumentation6 – bleibt man für einen durchgängig hohen Standard vor allem auch auf das Qualitätsbewusstsein der Pflegerinnen angewiesen. Die Voraus___________ 3 Nur am Rande sei bemerkt, dass gerade bei medizinischen Produkten die Sorge um funktionsfähige Märkte berechtigt ist, die zum Beispiel durch Preisabsprachen oder Korruption bedroht sind. 4 Ewers/Schaeffer (1999), S. 76 f. 5 Roth (2001), S. 208. 6 Eine angemessene Pflegedokumentation spielt sicher sowohl für die Eigeneinschätzung der Pflegerinnen, die Kommunikation über den individuellen Fall in einem Pflegeteam als auch für eine Fremdbewertung eine wichtige Rolle. In der momentan ausufernden, zu Abrechnungszwecken sehr detaillierten Form erzeugt sie jedoch einen die Pflegerinnen demotivierenden und sachlich aus der Sicht der Pflege nicht zu rechtfertigenden bürokratischen Aufwand.

Qualität in der Pflege durch Wettbewerbsdruck?

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setzungen dafür sind günstig. Pflegekräfte haben in der Regel eine hohe intrinsische Motivation. Menschen, die einen Pflegeberuf ergreifen, tun dies vorwiegend, um anderen Menschen zu helfen, auch wenn pragmatische Gründe daneben ebenfalls eine Rolle spielen.7 Ihr Interesse an einem möglichst hohen Qualitätsstandard in der Pflege kann also im Allgemeinen voraus gesetzt werden. Deshalb ist es realistischer und sachlich angemessener, das grundsätzlich vorhandene Qualitätsbewusstsein zu unterstützen, als allein auf Regulation und externe Kontrolle zu setzen. Notwendig ist dazu zum einen ein hohes Aus- und Fortbildungsniveau, damit Pflegerinnen fachlich in der Lage sind, ihren eigenen hohen Anspruch einlösen zu können. Nicht irgendein Wettbewerbsdruck auf die Anbieter sondern die Professionalisierung der Pflege hat wesentlich dazu geführt, dass die fachlichen Standards in der Pflege in den letzten 25 Jahren stetig gestiegen sind. Diese Professionalisierung ist dem Engagement von Einzelpersonen und Stiftungen zu danken und nicht den Wirkungen eines Pflegemarktes.8 Zum anderen müssen gut ausgebildete Pflegekräfte dann auf Arbeitsbedingungen treffen, die eine gute Pflege erst ermöglichen und unterstützen. Sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege sind schwere Mängel oft darauf zurück zu führen, dass solche Arbeitsbedingungen gerade nicht bestehen. Das Auftreten von Pflegemängeln korreliert hier signifikant mit einer hohen Arbeitsbelastung und einer sinkenden Arbeitszufriedenheit.9 Die Arbeitsbelastung hängt wiederum eng mit der Organisation der Pflege zusammen.10 Theoretisch kann ein Wettbewerb in der Pflege zu einer verbesserten Organisationsstruktur der Leistungsanbieter führen, weil damit – wie oben erwähnt – auch kostensparende Effizienzgewinne verbunden sein können. Dies ist aber nur ein mögliches Ergebnis. Solche Effizienzgewinne sind außerdem grundsätzlich begrenzt. Mehr als wahrscheinlich ist es dagegen, dass der Zwang zu Effizienzgewinnen dazu führt, dass Leistungserbringer „effizienter“ mit ihrer Hauptressource umgehen. Dies ist das Pflegepersonal und spezieller dessen Arbeitszeit. Fast zwangsläufig führt der Wettbewerbsdruck dazu, dass weniger Pflegerinnen mehr Patienten in kürzerer Zeit pflegen sollen. Dass dies nicht zu einer hohen Pflegequalität führt, liegt auf der Hand. Solche Arbeitsbedingungen zerstören zusätzlich gerade ein bedeutendes Instrument zur Qualitätssicherung, nämlich die hohe Motivation der Pflegekräfte und ihr damit verbundenes Qualitätsbewusstsein. Der knappe Vorschlag von Sauerland, das ___________ 7

Vgl. Joeres/Hanuschke/Mischker (2004), S. 22-26. Vgl. Käppeli (1998), S. 35. 9 Roth (2002), S. 59. 10 Roth (2001), S. 205. 8

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Qualitätsbewusstsein über den Wettbewerbsdruck zwischen den Leistungserbringern zu stärken, ist demnach gerade kontraproduktiv. Offensichtlich besteht hier ein Zusammenhang zum Problem, auch zukünftig genügend Fachpersonal für die Pflege zu gewinnen. Zu dessen Lösung hebt Sauerland zu Recht – aber auch zu einseitig – auf attraktive Berufschancen ab. Mindestens ebenso wichtig wie diese und eine angemessene Entlohnung sind die Berufsbedingungen in der Pflege, von denen Sauerland später zumindest die Arbeitszeiten erwähnt. Neben solchen allgemeinen Aspekten, die man sich als möglichst attraktiv für alle Berufe wünschen kann, kommt es hier wie erwähnt besonders darauf an, dass Pflegerinnen in die Lage versetzt werden, ihren in der Regel vorhandenen eigenen hohen Anspruch einlösen zu können. Unattraktiv wird der Pflegeberuf besonders dann, wenn die konkreten Arbeitsbedingungen geradezu verhindern, eine Pflege zu leisten, die als optimal in der Ausbildung erlernt wurde. Zu einer solchen Pflege gehört jedoch immer ein gewisser Zeitaufwand, der nicht beliebig minimiert werden kann. Vielmehr sollte er im günstigsten Fall oft eher ausgeweitet werden. Dies gilt besonders dann, wenn die Anleitung von Patienten und Angehörigen zu selbständigem Handeln als wichtiges Element der Pflege verstanden wird, wie es auch in § 37 SGB XI vorgesehen ist.11

IV. Funktioniert der Pflegemarkt? Leider gibt Sauerlands positive Analyse des Pflegemarktes keinen Aufschluss darüber, ob und inwieweit der Wettbewerb im Pflegesektor tatsächlich der gewünschte Qualitätswettbewerb ist. Sauerland bezweifelt das anscheinend selbst. Zumindest weist er ausdrücklich auf Studien, die Qualitätsmängel in der Pflege aufzeigen. Eben diese Studien zeigen aber auch den Zusammenhang mit der enormen Arbeitsverdichtung, die aus dem als Preiswettbewerb unter den Leistungserbringern weiter gegebenen Kostendruck resultiert. Dies spricht nicht gerade für die Existenz eines Qualitätswettbewerbs. Die Zahlen weisen zudem darauf hin, dass die Art der erbrachten Pflegeleistungen eher nicht den Wünschen der Patienten entsprechen dürfte. Der Trend in der Leistungserbringung von der ambulanten hin zur stationären Pflege ist aus pflegewissenschaftlicher Sicht schlecht und unnötig. Er entspricht auch nicht dem Sinne des Gesetzgebers, der den Grundsatz des Vorrangs der häuslichen Pflege in § 3 SGB XI festgeschrieben hat. Ebenso wenig entspricht er dem mehrheitlichen Wunsch der Betroffenen, die nicht in einem Heim, sondern in ihrem privaten Umfeld gepflegt werden wollen.12 Nun gibt es Patienten ___________ 11 12

Vgl. Ewers (2001), S. 24-34. Schneekloth/Mueller (2000), S. 63.

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mit einem sehr hohen Pflegebedarf, dem in der Tat nur stationär entsprochen werden kann13. Ist der von Sauerland angegebene Anstieg der Zahl der stationären Pflegeeinrichtungen zwischen 1996 und 2003 um 29 % die Folge eines eben solchen Anstiegs der Zahl der Patienten, die einen nur noch stationär zu deckenden Pflegebedarf haben? Die statistischen Angaben sind hier recht interpretationsbedürftig. Theoretisch ist ein nachfrageseitig begründetes Wachstum zwar möglich. Ein so hoher Anstieg an Schwerpflegefällen in einem so kurzen Zeitraum ist allerdings unwahrscheinlich. Ein genauerer Blick zeigt, dass dieser Trend nicht eine gestiegene Zahl von Schwerpflegefällen und damit den Bedarf der Betroffenen widerspiegelt, sondern eine unerwünschte Wirkung der Pflegeversicherung ist.14 Insgesamt hat die Bestandsaufnahme des gegebenen Pflegemarktes demnach wesentlich negativer auszufallen, als sie das bei Sauerland tut. Auch die Bilanz der Pflegeversicherung, auf deren Haben-Seite immerhin die von Sauerland angeführte enorme Ausweitung der zur Verfügung gestellten Finanzmittel, eine damit verbundene mengenmäßige Ausweitung sowie außerdem eine größere Versorgungsdichte15 zu verbuchen ist, fällt so eher ambivalent als durchgehend positiv aus. Abschließend lassen sich nicht all zu viele Chancen eines Wettbewerbs der Leistungsanbieter in der Pflege erkennen. Die vorliegenden empirischen Daten weisen zudem auch nicht auf die Existenz eines Qualitätswettbewerbs im Pflegesektor hin. Auch von einer „präferenzgemäßen“ Pflege lässt sich nicht ohne weiteres sprechen. Dieser Befund ist nach den obigen grundsätzlichen Erwägungen auch nicht zu erwarten. Letztlich bleibt unklar, was der so genannte Qualitätswettbewerb über abgrenzbare Bereiche, wie die genannte Produktion von Pflegehilfsmittel oder die Organisationsstruktur der Leistungserbringer, überhaupt bedeuten soll. Denkbar sind als weitere Wettbewerbsvorteile schließlich Aspekte wie die räumliche Gestaltung von Pflegeheimen oder die Attraktivität des Pflegepersonals, die allerdings nur indirekt die Qualität der Pflege erhöhen, auch wenn sie nicht abzulehnen sind. Wie die Qualität der eigentlichen Pflege, nämlich der Pflegedienstleistung, über den Wettbewerb der Leistungsanbieter gesichert oder gar verbessert werden soll, bleibt dagegen ein Rätsel. Der Steuerungseffekt dieses Wettbewerbs ist sehr grob, nicht vorhersehbar und mit hohen Kosten – entweder in der Qualität der Pflege oder in aufwändigen Qualitätssicherungsmaßnahmen – verbunden. Fast ist man so geneigt, den Qualitätswettbewerb als reine Legitimationsfigur zu bezeichnen, die vom ___________ 13

Die Möglichkeiten der häuslichen Versorgung Schwerkranker sind jedoch sehr viel umfassender als sie zurzeit angewendet werden, vgl. die Beiträge in Schaeffer/Ewers (2005); Schaeffer/Ewers (2002). 14 Schaeffer (2002), S. 31. 15 Schaeffer (2002), S. 25.

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eigentlichen Kostenwettbewerb und seinen fatalen Folgen in der Pflege ablenken soll.

Literatur Ewers, M. (2001): Anleitung als Aufgabe der Pflege. Ergebnisse einer Literaturanalyse, Bielefeld: Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld, unter: http://www.ipw-bielefeld.de/fileadmin/PDF/Publikationen/ipw_115.pdf – Zugriff am 23.11.2005. Ewers, M. / Schaeffer, D. (1999): Herausforderungen für die ambulante Pflege Schwerstkranker. Eine Situationsanalyse nach Einführung der Pflegeversicherung, Bielefeld: Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld, unter: http://www.ipw-bielefeld.de/fileadmin/PDF/Publikationen/ipw_107.pdf – Zugriff am 23.11.2005. Joeres, S. / Hanuschke, I. / Mischker, A. (2004): Zukunftsorientierte Pflegeausbildung, Hannover. Käppeli, S. (1998): Standortbestimmung von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung im deutschsprachigen Raum unter Berücksichtigung der internationalen Entwicklung, in: Gesellschaft zur Förderung der Pflegewissenschaft NRW e. V. (Hrsg.): Die Bedeutung der Pflegewissenschaft für die Professionalisierung der Pflege. Dokumentation einer Fachtagung, Bielefeld: Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld, S. 29-42. Kühn, H. (2004): Wettbewerb im Gesundheitswesen?, in: Westfälisches Ärzteblatt 58 (6), S. 8-10. Roth, G. (2001): Qualitätsmängel und Regelungsdefizite der Qualitätssicherung in der ambulanten Pflege. Nationale und internationale Forschungsergebnisse, Stuttgart. — (2002): Qualität in Pflegeheimen. Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Institut für Gerontologie an der Universität Dortmund, unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/PdfAnlagen/PRM-24077-Expertise--Qualitat-in-Pflegeh,property=pdf.pdf – Zugriff am 23.11.2005. Schaeffer, D. (2002): Ambulante Schwerkrankenpflege: Entwicklungen und Herausforderungen in Deutschland, in: Schaeffer / Ewers (2002), S. 17-44. Schaeffer, D. / Ewers, M. (Hrsg.) (2002): Ambulant vor stationär. Perspektiven für eine integrierte ambulante Pflege Schwerkranker, Bern. — (2005): Am Ende des Lebens. Versorgung und Pflege von Menschen in der letzten Lebensphase, Bern. Schneekloth, U. / Müller, U. (2000): Wirkungen der Pflegeversicherung. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Baden-Baden.

Chancen und Probleme des Wettbewerbs im Pflegesektor – Probleme mit Konsumentensouveränität und Prinzipal-Agenten-Beziehungen als Hindernis? – Korreferat zu Dirk Sauerland – Von Torsten Sundmacher

I. Zur Lage der Gesetzlichen Pflegeversicherung Der Bereich der Langzeitpflege steht zunehmend in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ein wesentlicher Grund hierfür ist sicher in der demografischen Entwicklung zu finden, die in vielen Staaten zu einem deutlichen Ansteigen des Pflegebedürfnisses führen dürfte. Weiterhin resultiert die stärkere Beschäftigung mit dem Pflegebereich aber auch aus einigen Unzulänglichkeiten seiner Ausgestaltung: Dies betrifft insbesondere die staatlichen Eingriffe in diesem Bereich. Für die deutsche Gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) ist etwa festzustellen, dass ihre Finanzierung über ein Umlageverfahren in Kenntnis der Bevölkerungsalterung durchaus als „Geburtsfehler“ bezeichnet werden kann 1 und auch die Steuerung der Leistungsseite lässt einige ‚Webfehler‘ erkennen,2 die sich in Ineffizienzen und Qualitätsproblemen (Stichwort: Pflegeskandale) zeigen. Der Beitrag von Dirk Sauerland beschäftigt sich mit dem deutschen Pflegesektor und hier im Speziellen mit dem Wettbewerb und den Wettbewerbsmöglichkeiten um Pflegegüter im Rahmen der GPV. Vorgestellt wird der Rahmen der Pflegeversicherung, wozu wesentliche rechtliche Regelungen sowie die demografische Entwicklung zu zählen sind. Die positive Analyse des Pflegemarkts beschäftigt sich mit der Struktur der Pflegebedürftigkeit, der Produktions- und Kostenfunktion von Pflege sowie mit bisher eingesetzten Allokationsverfahren und ihren Ergebnissen. Weiterhin diskutiert Dirk Sauerland mögliche Entwicklungen der GPV im Rahmen einer Projektion, die die demografische Entwicklung als unabhängige Variable berücksichtigt. Dabei werden ___________ 1 2

Vgl. auch Ottnad (2004). Vgl. Rothgang (2000).

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insbesondere die Veränderungen bei den Pflegebedürftigen, die daraus resultierende Kostenentwicklungen sowie mögliche Arbeitsmarkteffekte thematisiert. All dies baut auf einer normativen Analyse möglicher Marktversagenstatbestände im Pflegebereich (insbesondere bei Pflegegütern) auf. Diese Untersuchung ist von zentraler Bedeutung für die Diskussion von Reformperspektiven der GPV. Während die demografische Entwicklung hinsichtlich der Finanzierungsverfahren sicher eine dominierende Bedeutung hat (auch wenn dem Leistungsbereich durchaus ein Anteil zukommt), ist die Frage nach Art und Umfang von Marktversagen und implementierbaren Instrumenten zu seiner Verringerung oder Beseitigung sicher für die Einführung von (mehr) Wettbewerb im Leistungs- und Versicherungsbereich die entscheidende Größe. Aus diesem Grund werde ich nachfolgend vor allem diese Analyse noch ein wenig ausbauen.

II. Probleme für eine stärkere Wettbewerbsorientierung im Pflegebereich vor dem Hintergrund von Konsumentensouveränität und Prinzipal-Agenten-Beziehungen Generell sind (wohlfahrtssteigernde) Marktlösungen darauf angewiesen, dass sich Präferenzen von Anbietern und Nachfragern in Tauschakten zu beiderseitigem Vorteil umsetzen können. Probleme in Form von Marktversagen (i.w.S.) können sich demnach erstens im Bereich der Präferenzen (etwa resultierend aus der Unfähigkeit zu ihrer Artikulation; ‚Präferenzartikulationsversagen‘) und zweitens im Tauschprozess selbst (Marktversagen i.e.S.) ergeben. Während es generell bei Tauschprozessen im Pflegebereich so schlecht nicht aussieht – so auch die Schlussfolgerung von Dirk Sauerland – und z.B. im Vergleich zur GKV eher eine geringere Bedeutung von Marktversagenstatbeständen feststellbar ist, spielt das ‚Präferenzartikulationsversagen‘ und hieran sich anschließende Prinzipal-Agenten-Probleme eine sehr gewichtige Rolle. Diese These, die die Präferenzartikulation- und -umsetzung in Tauschhandlungen im Pflegebereich als (wesentliches) Problem bestimmt, soll im Folgenden näher untersucht werden. 1. Konsumentensouveränität im Bereich Pflege und Gesundheit Präferenzartikulationsversagen verstanden als fehlende Konsumentensouveränität wird auch in anderen sozialen Sicherungssystemen als Begründung für staatliche Eingriffe diskutiert. So ist etwa für den inhaltlich ähnlich anmutenden Bereich der Gesundheit festzustellen, dass die Präferenzartikulation und ihre Durchsetzung in einigen Fällen sicher nicht ohne weiteres möglich sind.

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Probleme bestehen z.B. in der Notfallversorgung bei eingeschränkter Ansprechbarkeit oder Ohnmacht.3 Bezogen auf die Gesamtheit von Vertragsbeziehungen zwischen (potentiellen) Patienten und Leistungserbringern ist hierzu zweierlei anzumerken. Erstens sind solche Fälle eher die Ausnahmen als die Regel. Für die ambulante Versorgung etwa spielt der komplette Ausfall der Präferenzbekundung kaum eine Rolle. Zweitens handelt es sich häufig um temporäre Phänomene – zumindest besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass dies so ist. Dies führt dazu, dass Agenten der Betroffenen einen Anreiz haben, im Sinne dieser Patienten zu handeln, da die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ihr Fehlverhalten später zu Sanktionen seitens der Prinzipale führt. Im Pflegebereich gelten beide Argumente gegen eine stark eingeschränkte Konsumentensouveränität in sehr viel geringerem Umfang. So sind erstens Einschränkungen in der Präferenzbekundung eher die Regel als die Ausnahme. So sind derzeitig schon rund 50% der Pflegebedürftigen demenzkrank4 und aufgrund der demografischen Entwicklung (und ohne radikale Verbesserung bei Prävention und Behandlung von Krankheiten, die zu Demenz führen) dürfte ihr Anteil noch steigen. Hinzu kommt, dass auch bei fehlender (oder nicht sehr gravierender) krankheitsbedingter Einschränkung der Präferenzartikulation ihre Durchsetzung mit besonderen Problemen behaftet sein kann. Aufgrund der nach wie vor großen Eigenproduktion von Pflegeleistungen im Familienverbund5 – und generell der deutlichen Abhängigkeit der Pflegebedürftigen von ih___________ 3

Vgl. z.B. Breyer/Zweifel/Kifmann (2002) S. 172 ff.; Zdrowomyslaw/Dürig (1997), S. 49; Binder (1999), S. 29; Ribhegge (2004), S. 204. 4 Vgl. o.V. (2005). 5 Der Anteil der Bezieher reiner Geldleistungen (also derjenigen, die die Pflege i.d.R. ohne marktvermittelte Hilfe bewerkstelligen) im Bereich der ambulanten Pflege betrug 1995 84,1%, hat allerdings bis Ende 2001 auf 72,6% abgenommen (Runde/Giese/Stierle 2003). Diese nach wie vor hohe Eigenproduktionsquote kann zur ineffizienten Produktion von Pflegeleistungen führen, wenn dadurch Vorteile der Arbeitsteilung nicht genutzt werden. Neben dem bedeutsamen Grad an Status-quo-Orientierung (Samuelson/Zeckhauser 1988) und immer noch hohen Transaktionskosten einer stärker marktvermittelten Lösung spielt sicher auch die in Deutschland gewählte Finanzierungsform als Begründung dieses Zustands eine Rolle. Die Zahlung einer Festbetragssumme ohne eine Bindung an Kosten führt bei nicht-stationärer Pflege teilweise dazu, dass die Zahlungen der Pflegeversicherung von Angehörigen als Rente aufgefasst werden, ohne dass sich an der Pflegesituation der Pflegebedürftigen etwas ändert. Der marktvermittelte Bezug von Pflegeleistungen reduziert hingegen die Rente – dies gilt insbesondere dann, wenn die Opportunitätskosten der Eigenproduktion entweder nicht ins Gewicht fallen (aufgrund geringer Pflegeleistungen oder wegen fehlender attraktiver Alternativen) oder nicht in hinreichendem Maße beachtet werden. So liefert die Anomalienforschung deutliche Hinweise auf eine systematische Unterschätzung von Opportunitätskosten (Thaler 1980). Neben diesen bisher angesprochenen Gründen kann der hohe Eigenproduktionsanteil in der Familie allerdings auch (im Sinne des Homo-oeconomicus-Konzepts) rational sein, wenn in dieser Produktionsform Pflegeleistungen erstellt werden können, die bisher nicht, nur eingeschränkt und generell nicht marktlich alloziert werden können. Zur letzten Kategorie gehören sicher Pflegebestandteile, die aus positiv bewerteten zwi-

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ren Angehörigen aufgrund der Schwächung ihrer Stellung als Person in Folge der Pflegebedürftigkeit – besteht ein deutlicher sozialer Druck auf die Pflegebedürftigen. Dieser Druck kann dazu führen, dass sie ihren bekundeten Willen nicht oder nur sehr eingeschränkt durchsetzen können. Hinzu kommt zweitens, dass die Pflegebedürftigkeit i.d.R. nicht reversibel ist.6 In noch größerem Umfang trifft dies auf Einschränkungen in der Präferenzartikulation und -durchsetzung zu – die Reversibilität solcher Zustände (wie die der Demenz) bei der Pflegebedürftigkeit ist äußerst gering.7

2. Bedeutung von Agenten und Ausgestaltung der Prinzipal-Agenten-Beziehungen Aufgrund dieser doppelten Probleme mit der Konsumentensouveränität im Pflegebereich steigt die Bedeutung von Agenten, die an der Stelle des pflegebedürftigen Prinzipals dessen Präferenzen durchsetzen könnten.8 Derzeitig sind insbesondere drei Agenten zu erkennen, die in dieser Funktion in Erscheinung treten. Dies sind erstens die Angehörigen des Pflegebedürftigen, zweitens die Versicherungen (Pflegekassen) sowie drittens der Staat.9 Der Angehörige als Agent von Pflegebedürftigen in der GPV kann zunächst einmal daraufhin untersucht werden, inwieweit seine Präferenzen mit denen des Prinzipals übereinstimmen. Sollte dies der Fall sein und kann der Agent diese Präferenzen auch durchsetzen, ist dies eine hinreichende Bedingung für das Funktionieren des Agenten im Sinne des Prinzipals – externe Kontrollsysteme wären dann nicht notwendig, da hier der Sanktionsmechanismus ‚nach innen‘ verlegt ist. Im Rahmen intertemporal angelegter ökonomischer Modelle10 wird ___________ schenmenschlichen Beziehungen resultieren. Welche Bedeutung diese unterschiedlichen Begründungen für einen hohen Anteil von Eigenproduktion haben, muss hier offen bleiben. Festzuhalten ist allerdings, dass ihr Umfang sicher nicht gänzlich auf Präferenzbekundungen der Pflegebedürftigen zurückgeführt werden kann, sondern auch bestimmte Verzerrungen hierfür verantwortlich sind. 6 Vgl. Verbrugge/Jette (1994). 7 Vgl. Deimling (1997). 8 Vgl. auch IGES/Igel/Wasem (2001), S. 14. 9 Die Marktgegenseite – also die Leistungserbringer der Pflegeleistungen – als Agenten der Prinzipale anzusehen, führt hinsichtlich der hier zu untersuchenden Fragestellung eher in die Irre als dass dieses Vorgehen erkenntnisfördernd wirken könnte. Denn hinsichtlich der Untersuchung der Eignung von Wettbewerb als Allokationsverfahren im Bereich der Langzeitpflege geht es ja gerade um die Frage, ob der Seite der Leistungsanbieter eine Nachfrageseite gegenübersteht, deren Präferenzen in den marktlichen Prozess einfließen. 10 Bei solchen Modellen überlappender Generationen geht es z.B. um die Frage intertemporaler Allokation über Vererbung im Zusammenhang mit Wachstumsdynamik (vgl.

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häufiger mit solchen Annahmen gearbeitet, die in ihrer Wirkung äquivalent mit unterschiedlichen Formen eines familieninternen Altruismus sind.11 Auch wenn empirisch einige Belege für einen solchen Altruismus zu finden sind,12 so zeigen wiederum andere Fälle, dass dieser Mechanismus nicht immer verlässlich ist und insbesondere unter (ökonomischem, sozialem oder psychischem) Druck zusammenbrechen kann.13 Die Belastung durch eine häusliche Erbringung von Pflegeleistungen kann in diesem Zusammenhang gut als eine bedeutsame Quelle eines solchen Drucks interpretiert werden, so dass insbesondere bei schwereren Pflegegraden bei gleichzeitig hohem Anteil familieninterner Eigenproduktion der Pflegeleistung die Präferenzidentität bzw. der Anteil altruistischen Verhaltens nicht überschätzt werden sollte.14 Neben diesem ‚internen Sanktionsapparat‘ ist auch nach den vorhandenen äußeren Kontrollen des Agenten zu fragen. Bei eingeschränkter Präferenzbekundungsmöglichkeit ist der Agent in vielen Fällen nicht aus Effizienzgründen notwendig (z.B. um eine arbeitsteilige Produktion zu organisieren), sondern aus Gründen der Effektivität: Der Pflegebedürftige kann eben nur bedingt seine Präferenzen bekunden. Will er das Ziel der Durchsetzung seiner Präferenzen realisieren, ist er auf mindestens einen zusätzlichen Agenten angewiesen. Insofern ist in diesen Fällen die Kontrollmöglichkeit durch den Prinzipal stark eingeschränkt, zumal der Agent aufgrund der zu erwartenden Persistenz der fehlenden Konsumentensouveränität kaum damit rechnen muss, dass er später für Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen wird. Bei vorhandener Präferenzbekundungsmöglichkeit aber eingeschränkter Fähigkeit zu ihrer unmittelbaren Durchsetzung sind u.U. einige spezifische Sanktionsmöglichkeiten der Prinzipale vorhanden, die ihre Kontrollmöglichkeiten steigern. Hierzu gehört z.B. die Steuerung der Vererbung, sozialer Druck oder der Appell an das Gewissen der Angehörigen. Dennoch besteht auch in diesen Fällen ein relativ großer Verhaltensspielraum der Agenten, in dem sie ihre eigenen Präferenzen zum Ausdruck bringen können – und diese können den Präferenzen der Pflegebedürftigen durchaus diametral entgegenstehen. Das Ziel der schnellen Erbschaft, das über das Mittel ‚tot pflegen‘ erreicht werden soll, ist sicher ein sehr extremes Beispiel für das hier gemeinte. Generell ist festzuhalten, dass der Agent Angehöriger nur sehr schwer kontrolliert werden kann und – gerade wegen der (z.B. rechtlich) engen Verbindung zwischen Prinzipal und Agenten – Präferenzen durchsetzen kann, die nicht denen der Pflegebedürftigen entsprechen. ___________ grundlegend Diamond 1965) oder um Fragen unterschiedlicher Formen der Staatsfinanzierung (vgl. Auerbach/Kotlikoff 1987). 11 Vgl. Stark (1995). 12 Vgl. z.B. Andreoni/Miller (2002). 13 Vgl. Tyran (2004), Frey (1997), Batson (1991). 14 Vgl. auch Snyder/Omoto (1992).

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Der Agent Pflegeversicherung weist durchaus einige Unterschiede im Vergleich zum Angehörigen auf. Generell ist auch bei diesem Agenten zu erwarten, dass er, sofern er nicht kontrolliert wird, Eigeninteressen verfolgt.15 Als generelles Ziel der Versicherungen im GKV-GPV-System ist vermutlich vor allem die Maximierung der Versichertenzahl feststellbar – unter der Nebenbedingung einer stabilen wirtschaftlichen Lage. Hierdurch wird der politische Einfluss der Kassen bestimmt, der wiederum bei der Verhandlung über Ausgestaltungsfragen des Gesundheitssystems ihr (komfortables) Überleben stark beeinflusst. In der jetzigen Situation der GPV als ‚finanzielles Anhängsel‘ der GKV scheint allerdings die Durchsetzung eigener Interessen der Krankenkassen in diesem Feld gedämpft zu sein. Aufgrund der Kopplung der Versichertenwahl an die Entscheidung für eine Krankenkasse und dem weit höheren finanziellen Volumen in diesem Sozialversicherungszweig besteht nur ein verringerter Anreiz von Seiten der Krankenkassen, im Bereich der GPV ihre Ziele umfassend zu verfolgen. Weiterhin fehlen ihnen weitgehend die Instrumente dazu. Dies betrifft sowohl das wichtigste Instrument zur Positionierung der Kassen im GKV-Wettbewerb – den Beitragssatz – als auch viele Möglichkeiten zur Qualitätsfestlegung. Vielmehr dominiert die Wettbewerb ausschließende Formel des „einheitlichen und gemeinsamen“ Verhältnisses der Kassen zueinander. Insofern herrscht hier eher eine spezifische Form von ‚Verwaltung‘ der Pflegekassen vor. Bei steigenden Möglichkeiten zur Positionierung im GPV-Feld (wie etwa die Einführung kassenindividueller Beitragssätze bei gleichzeitiger Entkopplung von der GKV) ist allerdings auch hier mit einer zunehmenden Durchsetzung der Eigeninteressen der Versicherungen zu rechnen, die dann insbesondere durch den Versicherungswettbewerb – also die Kassenwahl durch die Versicherten – kontrolliert werden müsste. In diesem Fall gilt zunächst das, was auch bereits beim Agent Angehöriger gesagt wurde. Auch hier ist aufgrund der eingeschränkten Konsumentensouveränität der Pflegebedürftigen eine Kontrolle der Agenten auch nur eingeschränkt möglich. Allerdings können nicht nur Pflegebedürftige, sondern alle Versicherten die Versicherung wählen, so dass zumindest durch die nicht in ihrer Konsumentensouveränität eingeschränkten Versicherten eine Kontrolle des Agenten Versicherung möglich ist. Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass diese Versicherten die Interessen der Pflegebedürftigen vertreten: Diese Beitragszahler haben insbesondere ein Interesse an niedrigen Beitragssätzen, wohingegen die Leistungen der Versicherung eine geringere Bedeutung haben. Solch eine Minderschätzung zukünftigen Konsums kann eine wesentliche Be___________ 15 Insofern kann die Verwendung des Terminus ‚Sachwalter‘, wie sie z.B. in der Reformdiskussion der GKV häufiger erfolgt, durchaus in die Irre führen.

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gründung für die Einführung einer Versicherungspflicht darstellen16 – und die Existenz eines solchen Versicherungszwangs führt wiederum dazu, dass der Anreiz, in ‚ungepflegten‘ Jahren vor allem auf den Beitragssatz zu achten, steigt. Dies liegt daran, dass die Pflegeversicherung aufgrund des Zwangs sie abzuschließen teilweise Steuercharakter bekommt, so dass ein Anreiz zur ‚Steuervermeidung‘ bis hin zur materiellen Umgehung der Versicherungspflicht durch weitestgehenden Leistungsverzicht bei niedrigsten Beiträgen besteht.17 Nun sind allerdings auch Fälle vorstellbar, in denen diese Verzerrungen durch die ‚zukunftsblinden‘ oder auf Samariter hoffenden Prinzipale eine geringere Rolle spielt. Dies ist dann möglich, wenn die Minderschätzung des zukünftigen Konsums nicht sehr stark ist18 oder das Verhältnis von Leistungsbeziehern zu Beitragszahlern hoch ausfällt (was zukünftig für die Pflegeversicherung zutreffen dürfte). In dieser Konstellation kommt den Präferenzen der Leistungsbezieher ‚an sich‘ eine große Bedeutung zu. Allerdings hilft dies im Falle von Pflegebedürftigen mit fehlender Konsumentensouveränität auch nicht weiter, da die Prinzipale ihre Agenten nicht (direkt) kontrollieren können. Jedoch könnte eine Versicherung vom Prinzipal zu einem Zeitpunkt gewählt werden, an dem die präferenzgerechte Wahl noch möglich ist. Dieser Agent agiert dann auch nach Verlust der Konsumentensouveränität im Interesse des Pflegebedürftigen. Neben der Vorausschau des Prinzipals, der ‚rechtzeitig‘ den Agenten seiner Wahl beauftragen muss, ist allerdings auch zu gewährleisten, dass der beauftragte Agent auch nach dem Verlust der Präferenzdurchsetzungsfähigkeit des Prinzipals dessen vormals bekundete Präferenzen vertritt. Besteht ein solches institutionelles Arrangement, das den Agenten nachhaltig bindet, kann ein solcher Agent vermutlich besser die Interessen von Pflegebedürftigen mit Verlust ihrer Konsumentensouveränität vertreten als dies Angehörige können. Dies gilt besonders dann, wenn diese Agenten im Wettbewerb um Agenten stehen und somit also eine Auswahl ‚nach bester Eignung‘ für den Prinzipal möglich ist – ein Vorgehen, dass mit Angehörigen nur sehr beschränkt vorstellbar ist. In einem funktionsfähigen Agentenwettbewerb würde es sich dann auch rächen, wenn ein Agent nicht den vormals geäußerten Präferenzen seiner Prin___________ 16 Statt der Annahme mangelnder Vorausschau kann auch Rationalverhalten zu diesem Ergebnis führen, wenn die gesunden Beitragszahler davon ausgehen, dass sie im Bedarfsfall nicht (konsequent) von der Leistungsinanspruchnahme ausgeschlossen werden. Dieser Samariter-Effekt, bei dem grundsätzlich technisch und ökonomisch möglicher Ausschluss nicht exekutiert und damit ein ‚Quasi-Allmende‘ bzw. ‚QuasiÖffentliches Gut‘ geschaffen wird, führt ebenso wie die Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse zu einem Minderkonsum an Versicherungsleistungen. 17 Vgl. grundsätzlich Cassel/Sundmacher (2005). 18 Dies könnte aufgrund des vergleichsweise sicheren Ereignisses ‚Pflegebedürftigkeit‘ durchaus der Fall sein. Auch die Anomalienforschung liefert Belege dafür, dass sichere Ereignisse in ihrer Bedeutung erheblich überschätzt werden (certainty effect, Kahneman/Tversky 1979).

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zipale folgt. In diesem Fall ist zu erwarten, dass ein solcher Agent nicht mehr von ‚nachrückenden‘ Prinzipalen gewählt wird, die den Verlust ihrer Konsumentensouveränität befürchten. Bisher ist nicht zu erkennen, dass Versicherungen in der GPV – auch mangels Wettbewerb – explizit in diesem Sinne als Agenten auftreten. Zu beachten ist, dass zwar funktionsfähiger Wettbewerb zwischen den Agenten eine Bedingung für die Vertretung von Interessen der Pflegebedürftigen ist, dass aber gleichzeitig mit der Wettbewerbsintensität (die auch von der Möglichkeit des Ausmaßes an Variationen des Preis-Leistungs-Bündels abhängt) die Möglichkeiten zu einer materiellen Umgehung der Versicherungspflicht zunehmen. Denn dann besteht die Möglichkeit für ‚Unwillige‘, die nur aufgrund des staatlichen Zwangs die Pflegeversicherung kontrahiert haben, eine Versicherung mit geringem Leistungsumfang und geringem Versicherungspreis zu wählen. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf den Staat als weiteren möglichen Agenten. Die dort vorzufindenden Eigeninteressen sind insbesondere wieder seit Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ein Thema der positiven ökonomischen Theorie,19 deren Ergebnisse sich auf „Maximierung der Wiederwahlchancen“ für Politiker und „Budgetmaximierung“ für Bürokraten zuspitzen lassen. Diese Eigeninteressen in der Prinzipal-Agenten-Kette des Staates (vom Wähler über den Politiker zum Bürokraten) stoßen auf eine nur sehr indirekte Kontrolle des ersten Prinzipals, des Wählers. So führen z.B. große Abstimmungspakete zu ineffizienten Lösungen, die Bedeutung des Medianwählers rechtfertig uninformierte (oder gar nicht wählende) Wähler (rationale Ignoranz) und die unterschiedliche Organisierbarkeit von Interessen führt zu politische Entscheidungen verzerrendem Rent seeking. Insgesamt bewirkt die Verschiebung einer Wahlhandlung von der ökonomischen auf die politische Ebene zumindest unter realen Bedingungen häufig eine Verschlechterung der Wettbewerbsintensität und führt damit zu einer geringeren Berücksichtigung der Präferenzen der Prinzipale. Zu diesem spezifischen Kontrolldefizit beim Agenten Staat treten die bereits bekannten allgemeinen Probleme, die bedingt sind durch den Verlust der Präferenzdurchsetzungsfähigkeit von pflegebedürftigen Prinzipalen. Auch hier muss sichergestellt werden, dass das Ergebnis einer politischen Wahl zu einem Zeitpunkt, an dem der zukünftig Pflegebedürftige diese Wahl noch entsprechend seiner Präferenzen treffen kann, auch dann noch gilt, wenn für ihn die Pflege relevant wird und er seine Präferenzen nicht mehr bekunden kann. Die Schwächen des politischen Wettbewerbs (oder genauer: die Unterschiede zwischen politischem und ökonomischem Wettbewerb) dürften dazu führen, dass die ___________ 19

Vgl. Downs (1957), Olson (1965), Downs (1967), Niskanen (1971).

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Chancen einer nachhaltigen Bindung des Agenten sicher nicht größer sind als beim Agenten Versicherung. Dennoch bleiben – wie am Beispiel der materiellen Umgehung der Versicherungspflicht bereits angedeutet – Aufgaben bestehen, für die die anderen hier vorgestellten Agenten keine besseren Lösungen bieten.20

III. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aufgrund der eingeschränkten Konsumentensouveränität Agenten in der Pflegeversicherung aus Effektivitätsgründen besonders bedeutsam sind. Diese Agenten sind jedoch aus denselben Gründen nicht besonders gut durch die Prinzipale kontrolliert. So können Agenten relativ ungestraft ihre eigenen, u.a. diametral entgegengesetzten Ziele verfolgen. In bestimmten Konstellationen ist es möglich, dass sich die unterschiedlichen Agenten gegenseitig kontrollieren und so einen Teil der Kontrollprobleme Wett machen. Allerdings sind auch Konstellationen vorstellbar, in denen alle Agenten gemeinsam zu Lasten der Prinzipale handeln (z.B. bei Ausgabenkürzungen zu Gunsten der derzeitig nicht Pflegebedürftigen) – insofern ist eine gegenseitige Kontrolle zwar möglich, bietet aber keine systematische Kontrolle zu Gunsten der Prinzipale. Insofern besteht die Aufgabe, die Sicherstellung der Präferenzdurchsetzung hinausgehend über die Fähigkeit hierzu zu organisieren. Dabei sind unterschiedliche Lösungen denkbar, die von einer ‚Ertüchtigung‘ bisheriger Agenten in einem funktionsfähigen Wettbewerb bis hin zu neuen Institutionen wie z.B. Treuhänderlösungen (mit ebenfalls wettbewerblicher Einbindung) reichen können.

___________ 20 Die bisherige Ausgestaltung der staatlichen Qualitätsaufsicht als ein Mittel zur Qualitätsvorgabe zur Verhinderung der materiellen Umgehung der Versicherungspflicht kann dabei als deutlich verbesserungsfähig gelten. So liegt die Heimaufsicht bisher in den Händen von Landratsämtern und den Gesundheitsämtern, die erstens i.d.R. fachlich unzureichend qualifiziert sind, zweitens häufiger in enger Verbindung zu den Heimträgern stehen und drittens durch die regionalisierte Zuständigkeit ein sehr heterogenes Prüfniveau entwickeln, das aufgrund mangelnder Kontrolle der Heimaufsicht nur zu einem kleineren Teil durch die Unterschiedlichkeit lokaler Qualitätspräferenzen gerechtfertigt werden kann. Verschärft werden diese Prinzipal-Agenten-Probleme noch durch die Einbindung der Leistungserbringer in die Heimaufsicht. Diese haben nun ein dezidiertes Eigeninteresse an erstens der großzügigen Finanzierung ihrer Einrichtungen bei zweitens nicht sehr anspruchsvollem Qualitätsniveau (vgl. Beyer 2004).

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Torsten Sundmacher

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Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie Von Karl Gabriel

I. Einleitung Der folgende Beitrag fußt auf den Ergebnissen eines Forschungsprojekts, das der Fragestellung nachging, wie ambulante Pflegedienste in Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen der Pflegeversicherung ihre Konzepte entwickeln und mit dem neuen Ökonomisierungsdruck umgehen. Es wurden 20 ambulante Pflegeeinrichtungen mit unterschiedlicher Trägerschaft in Münster und Essen untersucht, deren Leiterinnen und Leiter, Pflegerinnen und Pfleger in qualitativen Interviews mündlich und deren Patienten schriftlich befragt. Die Interviews wurden unter drei Gesichtspunkten ausgewertet. Einmal wurde untersucht, wie sich Pflegedienste zwischen Staat, Markt und Familie einordnen. 1 Zum zweiten wurden die Pflegedienste nach bestimmten Merkmalen typisiert und diese Typen mit heute diskutierten ethischen Konzepten bewertet.2 Drittens wurde das berufliche Selbstverständnis der Pflegenden untersucht und in Beziehung zum Modell des „Arbeitskraftunternehmers“ gesetzt.3 Im Folgenden geht es zunächst um die Charakterisierung des Spannungsfeldes von Familie, Markt und Staat, in das die ambulante Pflege wie keine andere Einrichtung eingespannt ist. Als familiale Leistung folgt die ambulante Pflege – darum geht es im zweiten Abschnitt – einer solidarischen Steuerung, die im Rahmen der Pflegeversicherung mit marktlichen und staatlichen Steuerungselementen verbunden werden muss. Im dritten Teil wird im Lichte der Ergebnisse der Studie auf die Folgen der stärkeren Vermarktlichung der Pflege eingegangen und nach der Angemessenheit des Steuerungsmixes in der gegenwärtigen ambulanten Pflege gefragt.

___________ 1

Geller/Gabriel (2004). Leibold (2005). 3 Bathke (2004). 2

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Karl Gabriel

II. Ambulante Pflege im Spannungsfeld marktlicher, bürokratischer und solidarischer Steuerung Ambulante Pflege steht im Spannungsverhältnis dreier Bezugsgrößen, die über verschiedene Medien gesteuert werden. Ambulante Pflege findet im Familienhaushalt statt. Dominantes Steuerungsmedium in der Familie ist „Solidarität“. In dem Maße, wie das öffentliche Bewusstsein zunahm, Familie werde durch Pflege überlastet, wurde Pflege auch als öffentliche, und damit als Staatsaufgabe definiert. Staatsaufgaben werden überwiegend bürokratisch über Konditionalprogramme gesteuert. Schließlich sollten Pflegeaufgaben wirtschaftlich ausgeführt werden, nicht nur die Anlässe für ambulante Pflege sollten für ihre Beurteilung maßgebend sein, sondern auch ihre Ziele und deren Erreichung sollten definiert und kontrolliert werden, um Pflege erfolgreich zu gestalten. Pflege sollte marktwirtschaftlich organisiert werden. In der konkreten Pflege muss also eine Kombination von Steuerungsmechanismen entwickelt werden, die bisher in keinem System so realisiert worden ist. Es ist daher zu erwarten, dass hier ein großes Experimentierfeld vorliegt. Da die Steuerungsmedien nur begrenzt substituierbar und nur begrenzt kompatibel sind, muss nach einer angemessenen Kombination gesucht werden. Um die Problemstellung zu konkretisieren, sollen zunächst die Bereiche, für die sich die genannten Steuerungsmedien ausdifferenziert haben, kurz dargestellt werden.

1. Markt Für den Markt gelten typische steuerungstheoretische Implikationen.4 Der Markt-Preis-Mechanismus ermöglicht es unabhängigen Wirtschaftssubjekten Entscheidungen dezentral zu koordinieren. Er bewirkt einen Selbststeuerungsprozess, der die Verhaltenskonsequenzen der ihre Priorität selbst setzenden Subjekte miteinander in einer Weise verknüpft, dass ihnen Erfolg bzw. Misserfolg unmittelbar plausibel erscheint. Er ermöglicht so Lern- und Anpassungsfähigkeiten und veranlasst die Wirtschaftssubjekte, durch die Verfolgung ihrer Eigeninteressen gleichzeitig die Bedürfnisse anderer Wirtschaftssubjekte zu befriedigen. Der Markt-Preis-Mechanismus eröffnet den Wirtschaftssubjekten eine Reihe von Vorteilen. „Preise informieren über Knappheitsrelationen, über Gewinnaussichten und Kosten, so dass die Folgen alternativer Entscheidungen in Geldeinheiten gemessen und verglichen werden können. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass mit abnehmenden Selbstversorgungsmöglichkeiten jedermann zunehmend auf die Erzielung von Geldeinkommen und auf den Kauf von Gütern lebensnot___________ 4

Kaufmann (2002), S. 171.

Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie

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wendig angewiesen ist. Es besteht von daher eine hohe Motivation zur Teilnahme an Marktprozessen, sei es als Verkäufer von Arbeitskraft, als gewinnorientierter Unternehmer, als Eigentümer oder als Konsument. Damit werden die Lebensverhältnisse unmittelbar von der verfügbaren Kaufkraft abhängig und ein marktkonformes Verhalten ‚belohnt‘, ein marktinkonformes Verhalten dagegen ‚bestraft‘. Der Markt-Preis-Mechanismus wirkt also gleichzeitig als Informations- und als Sanktionsinstrument, er verbindet die drei wesentlichen Aspekte sozialer Steuerung – Normierung der Bedarfe, Motivation zu ‚koordiniertem‘ Verhalten und die Ermöglichung von Lernen an Erfolg und Misserfolg“.5 Der Markt-Preis-Mechanismus ist der das Wirtschaftssystem legitimierende Steuerungsmechanismus. Er gilt insbesondere für Interaktionen zwischen Wirtschaftssubjekten, weniger innerhalb einzelner Wirtschaftssubjekte. Sein Vorteil liegt darin, durch Neutralisierung anderer Gesichtspunkte Situationsdefinitionen so zu begrenzen, dass die Alternativen Entscheidungen ermöglichen. Dementsprechend orientieren sich betriebswirtschaftliche Entscheidungsmodelle überwiegend am Zweck-Mittel-Schema. Ausgehend von den Gewinnerwartungen (Zweck) sollte die Organisation der Produktion (Mittel) so gestaltet werden, dass die Gewinne auch realisiert werden.

2. Staat Zur Koordination staatlicher Aufgaben ist ein eigenes Steuerungssystem entwickelt worden, die Bürokratie. Bürokratien sind hierarchisch organisiert. Ihre Steuerungsmechanismen beruhen auf dem strukturellen Machtgefälle der Spitze gegenüber der Basis. Die übergeordneten Stellen können die Ziele und Erfolgsbedingungen der nachgeordneten Ebenen in der Form von Regeln formulieren. Sie haben die Möglichkeit, den Organisationsmitgliedern Vor- und Nachteile zuzuweisen und verfügen damit über ein Sanktionsinstrument, über das die Mitglieder Erfolg und Misserfolg beurteilen können, das ihnen also Lernen ermöglicht.6 Auf dieser Basis wurde die Bürokratie systematisch ausdifferenziert. Daher sind die meisten sozialpolitischen Initiativen nach dem bürokratischen Modell installiert worden. Das bürokratische Steuerungssystem ist konditional programmiert. „Rechtmäßigkeit des Staatshandelns ist heute nur noch als ‚konditionale Programmierung‘ vorstellbar. Die Rechtsnorm nimmt die Form einer Wenn-dann-Regel an. Sie verbindet Tatbestand und Rechtsfolge zu einer inva___________ 5 6

Kaufmann (2002) S. 171 f. Kaufmann (2002), S. 172.

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rianten Korrelation. Sie regelt auf diese Weise die spezifischen Bedingungen, unter denen ein Verwaltungsakt zulässig bzw. geboten ist“.7 Beim Eintreten bestimmter Informationen reagiert die Bürokratie, indem sie Bearbeitungsnormen festlegt, die der Sachbearbeiter einzuhalten hat. „Das Konditionalprogramm fixiert den Eingang des Systems, die Art der Umweltinformationen, die als Ursache die Entscheidung auslösen sollen; das Zweckprogramm regelt den Ausstoß des Systems, die Wirkung in der Umwelt, die das System bewirken will. Natürlich setzt ein Zweckprogramm auch Anlässe des Tätigwerdens in der Umwelt voraus, stellt aber das System in dieser Hinsicht relativ frei. Und natürlich führt auch das Konditionalprogramm zu Entscheidungen, die in der Umwelt Wirkungen bewirken, stellt aber in dieser Hinsicht das System frei – was heißt, dass das System zu seiner Rechtfertigung nicht darauf angewiesen ist, dass spezifische Umweltwirkungen erzielt, spezifische Zustände geändert oder konstant gehalten werden; es genügt, dass normgerecht entschieden worden ist“.8 Mit der Bürokratisierung trat eine Rationalisierung insofern ein, als Hilfe nicht mehr als zwischenmenschliches Verhältnis personalisiert bleiben konnte, sondern in institutionell objektivierbare Regulierungen zu überführen war. Im Feld des Helfens werden daher Leistungsansprüche und Leistungspflichten immer mehr über Recht regulierbar und über Geld verrechenbar. Mit der sozialstaatlichen Regulierung von Armut wurde Armutspolitik zu einem Instrumentarium ordnungspolitischer Systemintegration. Als Bezugsproblem der sozialstaatlichen Regulierungen erschien nun nicht mehr die Motivation des Helfens, sondern die Stabilisierung der vorgegebenen Struktur gesellschaftlicher Differenziertheit.9 Entsprechend verlor Armut den Charakter einer moralischen Kategorie und wurde zum sozialrechtlichen Status.10 Die Ausrichtung der Bürokratie auf die Eingangsgrenze führte zur Definition immer neuer Situationen, auf die Bürokratie reagieren musste. So wurde z.B. der Krankheitsbegriff immer weiter ausgedehnt oder es wurden neue Problemlagen entdeckt, wie z.B. Gewalt in Familien oder Pflegebedürftigkeit, die die Sozialpolitik aufgreifen muss. Folge ist ein enormes Anschwellen des Normbestandes im öffentlichen Recht, das auch darin begründet ist, dass das Zweck/Mittel-Verhältnis nicht verrechtlicht werden kann. Mit der Entscheidung für konditionale oder Zweckprogrammierung werden auch die Einflusschancen unterschiedlich geregelt. Im Konditionalprogramm ist eine Rechtsfolge fest an einen Tatbestand gekoppelt. Entschieden wird nach universellen Kriterien, die unabhängig von den Beziehungen der Beteiligten ___________ 7

Luhmann (1973), S. 99. Luhmann (1973), S. 101. 9 Simmel (1908), S. 459 f. 10 Pankoke (2000), S. 9. 8

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sind. Konditionalprogramme sind unabhängig davon, wer entscheidet. Sie definieren klare Rechtsansprüche und begünstigen daher die jeweils interessierten Angehörigen des Publikums. Daraus ergeben sich wesentliche Vorteile. Der wichtigste ist, dass auf diese Weise die Handlungen der Bürokratie berechenund prognostizierbar werden. Die Leistungen sind allein davon abhängig, ob die Bedingungen für ihre Gewährung vorliegen. Die weiteren Lebensumstände bleiben unberücksichtigt. So bleibt die soziale Kontrolle auf ein Mindestmaß begrenzt. Die Autonomie des Klienten wird kaum eingeschränkt, da die Leistungshöhe unabhängig von persönlichen Beziehungen wird. Dieser Sachverhalt, der ein hohes Maß an Erwartungs- und Rechtssicherheit verleiht, bewährte sich insbesondere bei Formen des Marktversagens. Invalidität, Krankheit und Alter, die den Marktzugang begrenzten oder ausschlossen, konnten in ihren finanziellen Wirkungen durch Geldleistungen, deren Gewährung an bestimmte Konditionen geknüpft sind, kompensiert werden.

3. Familie Das dritte Bezugssystem für die ambulante Pflege ist die Familie. Auch sie ist in der modernen Form erst durch die Differenzierung der Gesellschaft entstanden. Die Herauslösung der Produktionsfunktion aus der Familie ermöglichte die Intimisierung der familialen Beziehungen. Mit der Durchsetzung der abhängigen Lohnarbeit und deren Anerkennung als ausreichendes Mittel der Existenzsicherung fielen die Heiratsschranken, die durch die Verknüpfung der Eheschließung mit dem Besitz von Produktionsmitteln gegeben waren. Dann erst konnte sich die Vorstellung von Heirat als allgemeinem Bürgerrecht durchsetzen, während die Eheschließung vorher als Privileg betrachtet wurde. So führte die Deregulierung des Zugangs zur Ehe in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bis in die 1960er Jahre allmählich zu einer Verallgemeinerung der Eheschließung und zu einem Sinken des Heiratsalters. Die Entwicklung von Familie unter den Bedingungen von Modernität führte dazu, dass normativ die Familie immer stärker auf das Steuerungsmedium ‚Solidarität‘ verpflichtet wurde. „Im idealtypischen Sinne operieren Markt und Hierarchie bekanntlich unter der Prämisse, dass die beteiligten Akteure primär ihre eigenen Interessen verfolgen und nur durch systemspezifisch generierte Informationen und Sanktionen zu einem Verhalten gebracht werden, das auch Dritten nützt. Unter den Bedingungen der Solidarität dagegen gilt gerade diese primär auf eigene Interessen bezogene Disposition als aufgehoben, das Verhalten orientiert sich spontan an angenommenen gemeinsamen Interessen, Normen und Wertorientierungen der sich solidarisch Fühlenden; dementsprechend stellt sich das in den beiden vorangehenden Typen prekäre Problem der Vermittlung von Zielgrößen und individuellen Bedürfnissen hier nur sehr

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abgemildert“.11 Solidarisches Verhalten orientiert sich spontan an gemeinsamen Interessen, Normen und Werthaltungen der sich solidarisch fühlenden Gemeinschaft.12 Solidarität mildert eine mögliche Differenz zwischen gemeinschaftlichen Zielgrößen und individuellen Interessen ab. Sie gelingt vor allem dann, wenn Selbstinteressen und Gruppeninteressen zusammenfallen. Die Verfolgung individueller Interessen nutzt dann gleichzeitig der Gruppe, die Vertretung von Gruppeninteressen stützt die eigenen. Wichtige Voraussetzungen für die Steuerung und Koordination von Handlungen durch Solidarität sind ein normativer Konsens der Beteiligten und eine gemeinsame Situationsdefinition. Das Informationsproblem solidarischen Verhaltens wird durch spontane Kommunikation gelöst. In diesen Kommunikationen werden Probleme definiert und Ursachen zugeschrieben. Solidarische Steuerung ist dann besonders erfolgreich, wenn die Beteiligten ein Problem so zuschreiben, dass es nicht als durch Handeln der Beteiligten verursacht erscheint, wenn sie das Problem als auferlegt erleben, es also als außenverursacht betrachten, so dass sie vor einem gemeinsamen Gegenüber stehen. Solidarische Kommunikation ist Kommunikation in direkten Interaktionen. Sie ist an Interpersonalität gebunden und setzt als solche Ich-Du-Beziehungen voraus, d.h. ein Ernstnehmen des Anderen in seiner Eigenart als Person, was wiederum voraussetzt, dass man sich gegenseitig kennt. Von hier aus bestimmen sich dann auch die Kriterien, nach denen Situationen und Vorgaben zur Lösung von Problemen ausgelegt werden sollen. In der Familie entwickeln sich Traditionen. Traditionen werden anders ausgelegt als bürokratische Gesetze. Sollen Gesetze ‚sine ira et studio‘ unter Absehung der Person ausgelegt werden, d.h. dass Personen nicht als Personen, sondern als Handlungstypen oder -träger betrachtet werden, so ist für die Anwendung des Steuerungsmediums Solidarität gerade das Ansehen der Person von entscheidender Bedeutung. Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind persönlicher Art. Entscheidungen sind nicht sach-, sondern personorientiert. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das in den Anderen gesetzte Vertrauen. Vertrauen wird demjenigen entgegengebracht, der als zuverlässig wirkt. Der Vertrauende macht dem Anderen ein Angebot einer gemeinsamen Zukunft. Doch ist Vertrauen riskant und wird nicht blind gewährt, wenn auch die Vertrauensperson einen Kredit genießt, in dessen Rahmen auch Enttäuschungen ertragen werden. Dieser Rahmen ist aber nicht beliebig groß, sondern er legt Schwellen fest, jenseits derer Vertrauen entzogen wird.13 An diesen Schwellen genügt der berühmte Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Wird das Vertrauen enttäuscht, wird auch die Erwartung, der andere handele aus Wohlwollen gegenüber einem ___________ 11

Kaufmann (2002), S. 173. Kaufmann (1982), S. 483. 13 Luhmann (1968). 12

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selbst, aufgegeben. Auf diese Weise wird die weitere Zusammenarbeit und damit die Beziehung selbst gefährdet.

III. Pflege als familiale Aufgabe Pflege wird primär als familiale Aufgabe definiert. Wenn auch das Pflegeversicherungsgesetz die hohe Belastung der Familie durch gesteigerte Anforderungen und die Verkleinerung der Familiengröße sieht, versucht es dennoch, die Pflegefähigkeit und -bereitschaft der Familien zu fördern. Diese normative Einordnung der Pflege in den familialen Zusammenhang bestimmt auch die Erwartungen der Patienten an eine angemessene Pflege. Entscheidungen im Pflegefall sollen solidarisch gesteuert sein. Sie sollen unter Ansehung der Person getroffen werden, d.h. der/die Pflegende muss sich den Bedürfnissen und Zeitrhythmen der Lebensäußerungen des zu Pflegenden unterordnen, will er/sie die Arbeit angemessen bewältigen. Pflegearbeit ist somit naturgebundene Arbeit. „Sie setzt Geduld voraus, da der Rhythmus natürlicher Abläufe von den jeweiligen Individuen vorgegeben wird und vom Arbeitenden nicht im Sinne gesteigerter Effektivität zeitökonomisch rationalisiert werden kann, ohne dass die Qualität gefühlsmäßiger Befriedung darunter leidet“.14 Pflege setzt ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Pflegenden und dem Gepflegten voraus, da der Erfolg der Pflege auch vom Mitwirken des Patienten abhängt. Im familialen Bereich ist ein solches Vertrauensverhältnis schon allein aufgrund der Vertrautheit der Interaktionspartner durch dauerhafte direkte Interaktion sehr wahrscheinlich. Schon aufgrund dieser Sachverhalte ergeben sich Schwierigkeiten, den Pflegeprozess über bürokratische oder Marktmechanismen zu steuern, die idealtypisch gerade unter Absehung von der Person erfolgen sollen. Zeman erörtert die Frage, unter welchen Bedingungen familial organisierte ambulante Pflege den sich daraus ergebenden Belastungen gewachsen ist.15 Er geht davon aus, dass nicht alle familialen Netze als Unterstützungsnetzwerke geeignet sind, da auch familiale Netzwerke als Geflechte sozialer Interaktionen zu betrachten sind, die sich im Austausch sozialer Leistungen objektivieren und von einer Reziprozität der Erwartungen geprägt sind. Die Reziprozität braucht auch nicht unbedingt vom Hilfeempfänger selbst hergestellt zu werden, sie kann auch von Dritten erbracht werden. Umgekehrt können Dritte geleistete Hilfe oder deren Gegenleistung aber auch entwerten. Die Reziprozität von Leistung und Gegenleistung muss nicht zeitgleich gegeben sein. Der Ausgleich kann auch zeitlich versetzt erfolgen oder durch andere Steuerungsmechanismen (wie affektive Solidarität) umgewichtet werden. Charakteristisch für die Re___________ 14 15

Bögemann-Großheim (2002), S. 42. Zeman (2000).

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ziprozität familialer Beziehungen ist weiter, dass die Beziehungen keinem externen Ziel dienen, sondern dass die Beziehung selbst ihr Zweck ist. So werden die Mitglieder normativ darauf verpflichtet, die Interessen des gesamten Netzwerkes zu achten und solche Egoismen einzudämmen, die den Bestand des Netzwerkes gefährden könnten. Die Reziprozität besteht demnach in der Erhaltung des Netzwerkes selbst. Sind die Beziehungen dicht genug, kann ergänzend eine Art Reziprozitätspuffer auftreten. Er sichert auch dann noch Zusammenhalt und schafft einen Toleranzraum, wenn der Austausch von Leistung und Gegenleistung aus dem Gleichgewicht gerät, weil z.B. ein hilfs- oder pflegebedürftiges Mitglied seinen Teil zur Aufrechterhaltung des Netzwerkes nicht mehr übernehmen kann. Auf Dauer unterliegt auch affektive Solidarität der Anforderung nach Ausgleich von Symbolen der Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung. Der Austausch solcher Symbole bedarf der angemessenen Interpretation, um ihren Sinn zu realisieren. Erhöht solidarische Handlungssteuerung die Bereitschaft zur Erbringung von Pflegeleistungen in der Familie, so kann sie auch zur Überlastung der Leistungserbringer führen. Denn je prekärer die Reziprozität wird, desto mehr Bedeutung erlangt die affektive Solidarität. Daher wird auch bei schweren Langzeitpflegen das Netzwerk der Helfer oft kleiner und auf die engsten Bezugspersonen reduziert, wodurch die Leistungsanforderungen an diese noch erhöht werden. Hinzu kommt, dass soziale Netzwerke zwar dazu beitragen, Stress zu reduzieren, dass sie aber gleichzeitig die größten Stressfaktoren sein können, nämlich dann, wenn negative Vorkommnisse in diesen Netzwerken die aktuellen Kapazitäten und Ressourcen des Individuums überschreiten, wobei die Hauptursache Konflikte in den Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen wie dem Ehepartner oder den Eltern bzw. Kindern darstellt. Pflegesituationen sind daher oft stressauslösend entweder aufgrund der Belastungen, die sich aus den Veränderungen der Beziehungen zwischen den Bezugspersonen selbst ergeben, oder durch Unvereinbarkeiten der Anforderungen aus anderen Beziehungen, wie denen zur eigenen Kernfamilie oder zur Arbeitswelt, zumal dann, wenn die Pflegetätigkeit einen solchen Einsatz erfordert, dass sie zu einer berufsähnlichen Tätigkeit wird, ohne gleichzeitig Rückzugs- und Abgrenzungsmöglichkeiten zu eröffnen, wie sie in Arbeitsverhältnissen gegeben sind. So kann es zu einer chronischen Diffusion von beziehungsdefinierenden und instrumentellen Aspekten im Handeln der lebensweltlichen Helfer kommen.16 Stress kann auch die Tatsache auslösen, dass instrumentelle Handlungen gleichzeitig im Lichte der Beziehungsdimension interpretiert werden, so dass instrumentelles Handeln als Ausdruck von Beziehungsqualität wahrgenommen werden kann. Wenn nun Ambivalenzen in der Beziehungsdimension auftreten, können sie bis in die einfachsten instrumentellen Verrichtungen ausstrahlen. ___________ 16

Zeman (2000), S. 184.

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Das gleiche gilt für den Umgang mit aversiven Gefühlen wie z.B. Ekel. Belastender als das Gefühl selbst kann es sein, diese Gefühle nicht ausdrücken zu dürfen. Der Umgang mit solchen Sachverhalten bedarf hoher psychosozialer Anstrengungen. Häufig müssen sie verschleiert oder überspielt werden. Auch dadurch können sich Überforderungen ergeben. Die Ausführungen zeigen, dass ambulante Pflege als familiale Aufgabe verstanden wird, dass aber das Familiensystem mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe auch überfordert werden kann, so dass außerfamiliale Hilfen erforderlich werden. Eine solche außerfamiliale Hilfe, die im privaten Haushalt erfolgt, bedarf der Koordination mit dem familialen Pflegenetz, da sie die familiale Hilfe im Allgemeinen nicht ersetzt, sondern ergänzt. Entsprechend sieht das Pflegeversicherungsgesetz vor, dass die Leistungen die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung unterstützen und ergänzen sollen. (§4)

IV. Die Pflegeversicherung als Paradigmenwechsel Als 1994 die Pflegeversicherung als fünfte Säule des deutschen Systems der sozialen Sicherung eingeführt wurde, galt dies als Zeichen robuster Stabilität der deutschen Tradition des Sozialstaats als Sozialversicherungsstaat. Die offensichtliche Bindung an die Tradition ließ leicht übersehen, dass die Pflegeversicherung unter dem Dach der Kontinuität gleichzeitig einen tiefgreifenden Umbruch im deutschen Sicherungssystem auf den Weg brachte.17 Mit der Absicherung des Pflegerisikos ging es zum ersten Mal um eine Gefährdung, die keinen inneren Zusammenhang zum Arbeitnehmerstatus besitzt. Knüpfen Unfall-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung an die Rolle des Arbeitnehmers und den Arbeitsvertrag an, so geht es bei der Pflege um ein Lebensrisiko ohne inneren Bezug zur Erwerbsarbeit. Gleichzeitig spielten bei der Einführung der Pflegeversicherung die Interessen an einer Umstellung der Finanzierung eine zentrale Rolle. Die Kommunen als Träger der örtlichen Sozialhilfe sollten entlastet werden und die Sozialhilfe sollte ihre ursprüngliche Funktion als Auffangnetz für schwer voraussehbare, individuelle Lebensrisiken zurückerhalten. Die Furcht vor unlösbaren Finanzierungsproblemen der Pflegeversicherung führten zum Bruch mit dem Prinzip einer bedarfsgerechten Risikoabsicherung. An dessen Stelle trat eine strikte Begrenzung auf eine an den Einnahmen orientierte Ausgabenpolitik. Die Pflegeversicherung führte in Folge dessen einerseits zu einer Anerkennung des Pflegerisikos als einer sozial zu bewältigenden Gefährdung, zielte aber gleichzeitig von vorne herein auf eine strikte Begrenzung der sozialen Risikobewältigung. Insofern lässt sich die Pflegeversicherung mit einem gewissen Recht als soziale „Teilkaskoversicherung“ ___________ 17

Lessenich (2003), S. 211-248; Meyer (1996).

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bezeichnen, die auf einen Mix von privater und öffentlicher Risikoabsicherung setzt. Nicht nur in der Finanzierung zeigt die Pflegeversicherung einen gewissen „Systembruch im System“ an. Auch in der Art der Bereitstellung und Steuerung der Pflegedienstleistung lässt sich die Pflegeversicherung als ein neuartiges Experiment in der deutschen Wohlfahrtsproduktion kennzeichnen. Sie bildet die Speerspitze in der Tendenz zu einer verstärkten „Vermarktlichung“ der sozialen Dienstleistungsproduktion im deutschen Sozialstaat.18 Zwar handelt es sich um einen sozialstaatlich regulierten Markt. Die Preise sind rechtlich administriert, die Dienstleistungsprodukte gesetzlich als Pflegemodule standardisiert und öffentliche Regelungen dienen der Sicherung der Qualität in der Erstellung der Dienstleistung. In diesem Rahmen soll die Steuerung durch einen Pflegemarkt dazu führen, dass leistungsstarke Anbieter sich gegenüber leistungsschwachen durchsetzen und die Dienstleistung ökonomisch rationaler und kostengünstiger angeboten und durchgeführt wird. Die Installierung des Pflegemarktes durch die Pflegeversicherung implizierte eine radikale Veränderung des Charakters und der Rolle der bisherigen Anbieter von Pflegedienstleistungen: aus milieugeprägten Wertgemeinschaften wurden Dienstleistungsanbieter und -produzenten auf einem Dienstleistungsmarkt, der durch einen Wettbewerb zwischen privaten, gewinnorientierten und frei gemeinnützigen Produzenten geprägt ist.

V. Die Vermarktlichung der Pflege und ihre Folgen Ordnungspolitisch wirft die „Vermarktlichung“ sozialer, personenbezogener Dienstleistungen eine Reihe von Problemen auf. Es handelt sich weder um normale Sachgüter, die sich nachgewiesener Maßen mit tatsächlichen Effizienzgewinnen marktlich steuern lassen, noch um „öffentliche Güter“ wie die Gewährleistung öffentlicher Sicherheit, deren Herstellung als Staatsaufgabe unumstritten ist.19 Wie Beispiele zeigen, sind personenbezogene Dienstleistungen prinzipiell auch der marktlichen Steuerung zugänglich. Allerdings ist keineswegs gesichert, dass Markt und Konkurrenz im Bereich personenbezogener Dienstleistungen zu einer Steigerung der Effizienz in der Dienstleistung führen. Vielmehr muss mit spezifischen kontraproduktiven Wirkungen gerechnet werden, wie sie für die Sachgüterproduktion nicht gelten. Sie stehen mit spezifischen Rationalisierungsgrenzen im Zusammenhang, die mit dem Charakter personenbezogener Dienstleistungen verbunden sind. An erster Stelle ist hier an das Vertrauen der Adressaten in die persönliche Integrität und Verlässlichkeit ___________ 18 19

Rothgang (2000); Lessenich (2003), S. 229. Kaufmann (1994), (2002a).

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der Leistungserbringer zu denken.20 Das Vertrauen und die Gewinnung des Klienten als Mitproduzenten gehört zu den unabdingbaren Elementen der Produktivität und Effizienz der Leistungserbringung. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Vermarktlichung immer dort kontraproduktive Wirkungen hervorruft, wo der Kostendruck nicht nur auf der Ebene der Organisation wirksam wird, sondern auch auf die unmittelbare Interaktion durchschlägt, in der die Dienstleistung notwendig erbracht wird. Ordnungspolitisch gibt es deshalb für die personenbezogenen Dienstleistungen keine klare und nachweisbare Überlegenheit marktlicher Steuerung. Dasselbe gilt auch für reine Formen staatlicher, rechtlich-bürokratischer Steuerung. Vielmehr erscheinen gerade gemischte Formen der Wohlfahrtsproduktion, die solidarische und professionelle Steuerungsformen mit einschließen, den reinen Typen überlegen.21 Wie kein anderer Sektor der personenbezogenen Dienstleistungsproduktion im deutschen Sozialstaat ist die ambulante Pflege seit der Einführung der Pflegeversicherung durch eine wettbewerbliche Produktionsweise geprägt. Damit zeigen sich hier die Spannungen und Widersprüche zwischen der wettbewerblichen Produktionsweise und den Effizienzbedingungen des personenbezogenen, pflegerischen Handelns als soziale Interaktion besonders nachdrücklich. Bei der Warenproduktion wird auf Materialien eingewirkt, ohne dass diese selbst Einfluss auf die Arbeitsgänge ausüben könnten. Ambulante Pflege dagegen ist vom Mitwirken des ,Konsumenten‘ abhängig. Produktion und Konsum der Pflege erfolgen ,uno actu‘ im Zusammenwirken von Pflegenden und Kunden. Ohne Anwesenheit, ja Einwilligung und Mitwirkung des Kunden bleibt Pflege unmöglich bzw. mehr oder weniger unwirksam. Die Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten und die Kommunikation zwischen ihnen werden zu wichtigen Produktionsfaktoren, um die Koproduktion effektiv auszurichten. Stehen bei Marktbeziehungen allein sachliche Aspekte im Vordergrund, so spielen bei der Produktion von Pflege die menschlichen Beziehungen zwischen Pflegenden und Patienten eine wesentliche Rolle. Sind Marktbeziehungen ihrem Wesen nach anonym, so sind persönliche Beziehungen in der Pflege konstitutiv. Die gegenseitige Anerkennung als Person ist Voraussetzung für eine ,gute Pflege‘. Die Koproduzenten müssen ein Vertrauensverhältnis zueinander aufbauen. Dieser Sachverhalt erschwert eine Leistungsmessung und damit auch eine Bezahlung der Pflegenden nach Leistung, ja erschwert die Abgrenzungen von Tätigkeitsmerkmalen überhaupt. Da die Leistung vom Zusammenwirken der Koproduzenten abhängt, können Erfolg und Misserfolg nicht einseitig zugeschrieben werden. Um die Erfolgsbedingungen zu optimieren, müssen Vertrauensbeziehungen zwischen Pflegenden und Kunden aufgebaut werden. Dazu ___________ 20 21

Kaufmann (2002a), S. 58. Kaufmann (2002a), S. 58 ff.

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Karl Gabriel

ist Zeit erforderlich. Zwar wird von Geschäftsführern immer wieder darauf verwiesen, dass Kommunikation auch während der Pflege erfolgen kann und erfolgt, doch zeigen einige Beispiele, dass für den Vertrauensaufbau auch eigene Zeit angesetzt werden muss, besonders dann, wenn der Patient habituell misstrauisch ist. Zum Aufbau von Vertrauensbeziehungen sind Informationen auch über die sachliche Pflegetätigkeit hinaus erforderlich. Soll Pflege nach marktlichen Gesichtspunkten organisiert werden, dann muss ein wichtiges Ziel sein, Arbeit so zu organisieren, dass sie in möglichst kurzer Zeit erbracht werden kann. Zeitersparnis ist ein wesentliches Merkmal wettbewerblicher Produktionsweise. Dem steht in der Pflege entgegen, dass für den Aufbau persönlicher Beziehungen gerade der Aspekt des ,Zeithabens‘ als besonders wichtig eingeschätzt wird. Zeit für den anderen haben, wird als Ausdruck der Beziehungsqualität interpretiert. Zeithaben für den anderen wird als Ausdruck der Menschlichkeit gedeutet. Soll Pflege marktlich produziert werden, dann muss dieser Widerspruch aufgelöst werden. Ein dritter Aspekt erschwert die Transformation der Pflege in eine industriell-kapitalistische Produktionsweise. Pflegekapazitäten müssen vorgehalten werden, auch wenn sie akut nicht abgerufen werden. Der Arbeitsanfall in den Betrieben ist unregelmäßig und durch die Betriebe nur bedingt steuerbar, da die Arbeitsergebnisse nicht hortbar sind. Krankenhauseinweisungen oder Heimunterbringungen führen zu Verlusten von Kunden, für die aber unter Umständen freie Kapazitäten vorgehalten werden müssen, da sie wieder übernommen werden müssen, auch wenn nicht klar ist, wie lange die Aufenthalte in den Einrichtungen dauern. Auch der plötzliche Tod mehrerer Kunden zur gleichen Zeit kann nicht von hier auf jetzt mit neuen Kunden aufgefangen werden. Pflege ist situativ bedingt. Sie fällt unkontinuierlich an. Diese Unregelmäßigkeiten müssen bei ihrer Organisation berücksichtigt werden. Aber nicht nur der Arbeitsanfall ist situativ bestimmt, sondern auch die Organisation der Pflege selbst lässt sich nur in Grenzen vom Ziel her bestimmen, zu viele Faktoren müssen bei der Planung berücksichtigt werden. Aufgrund dieser Probleme kommt der Personalauswahl in den Pflegeberufen eine besondere Bedeutung zu. Pflegedienste brauchen professionelles Personal, da die Zieldefinitionen der Arbeit meistens mehrdeutig, die anzuwendenden Methoden häufig unbestimmt und die Ergebnisse der Arbeit nur schwer messbar sind. Das Personal muss über systematisches Wissen verfügen, dessen abstrakte Kategorien in unterschiedlichen Situationen konkretisiert werden müssen. Professionen sind typischer Weise dann zuständig, wenn es sich um Probleme von einzelnen Menschen in einem konkreten Lebenszusammenhang handelt, die ohne spezialisiertes Wissen nicht mehr zu bewältigen sind. Sie setzen kulturelle Traditionen (Wissens- und Deutungsmuster sowie Problemperspektiven) handlungsmäßig und interpretativ für die Bewältigung von individuellen Krisen und die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der physischen, psychischen und

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227

sozialen Integrität sowie Identität von Personen ein. Professionen zeichnen sich ferner durch eine am Gemeinwohl ausgerichtete Handlungsorientierung aus und handhaben die jeweilige Berufsidee reflexiv.22 So ausgebildetes Personal kompensiert Programm- und Strukturprobleme der Organisation. Eine wichtige Voraussetzung für die Umstellung der Produktionsverhältnisse ist die Beschränkung der Pflegetätigkeit auf körperliche Funktionen. Diese Abkehr von einem ganzheitlichen Pflegeverständnis erlaubt die Ausklammerung von Gesichtspunkten, die für die Tätigkeit irrelevant sein sollen. Dadurch wird eine leichtere Prioritätensetzung möglich. Andererseits bleibt der wichtigste Einwand, dass dadurch psychische Aspekte der Pflegetätigkeit nicht mehr berücksichtigt werden können. Insbesondere kann der pflegerische Aufwand, der für Demenzkranke notwendig ist, nicht mehr angemessen in Rechnung gestellt werden. Mit der Einführung der Pflegeversicherung und insbesondere mit der Definition der Module ist jetzt trotz der dargestellten Schwierigkeiten der Versuch unternommen worden, die industriell-kapitalistische Produktionsweise auf die Pflege zu übertragen. Als Hauptproblematik der Umstellung wird weniger die Definition der Module als die Verknüpfung der Module mit bestimmten Preisen angesehen. Mittels dieser Verknüpfung wird davon abgesehen, dass ambulante Pflege eine personenbezogene Dienstleistung ist, deren Produktion von der Mitwirkung des Kunden sowie von anderen Konditionen abhängig ist. Völlig unberücksichtigt bleibt dadurch die Bedeutung der Kommunikation zwischen Pfleger und Kunden für die Erstellung des Produktes. Die Preisbildung im ambulanten Pflegebereich erfolgt nicht über den Markt, sondern die Preise sind administriert. Die Notwendigkeit, die Preise zu administrieren ergibt sich aus der Tatsache, dass funktionsfähige Märkte Konsumenten voraussetzen, die kompetente Entscheider sind. Das ist im Bereich der ambulanten Pflege häufig nicht vorauszusetzen. Außerdem handelt es sich hier um Vertrauensgüter, zu deren Erzielung sich der Klient in einem besonderen Maße offenbaren muss, wodurch er leicht ausbeutbar wird. Den Missbrauchsmöglichkeiten müssen Marktregulierungen durch Preisvorgaben, strafrechtlich sanktionierte berufsspezifische und berufsethische Normen entgegenwirken. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass die Preise willkürlich festgelegt werden könnten. Die Preise müssen einmal den qualifikatorischen Ansprüchen an das Personal entsprechen, zum anderen aber berücksichtigen, dass sich die Leistungserbringung nicht standardisieren lässt, da sie sowohl vom Konsumenten wie auch von den besonderen Umständen, unter denen sie erbracht wird, abhängt. Sollen Preise für bestimmte Module einheitlich festgelegt werden, dann müssten Zeiten für die Erbringung unter verschiedenen Umständen ermittelt werden und dann daraus ein Mittelwert gebildet werden. Für ___________ 22

Krech (2000).

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Karl Gabriel

Kunden mit Krankheiten, von denen bekannt ist, dass sie besonders viel Zeit und Aufmerksamkeit erfordern, könnten Aufschläge gezahlt werden. Auf diese Weise würden sich Zeitkorridore ergeben, die den Pflegepersonen gewisse Spielräume gewähren, die sich aber insgesamt ausgleichen würden. In der Anfangszeit der Pflegeversicherung scheinen die Preisfestsetzungen einen solchen Spielraum ermöglicht zu haben. Doch da die Preise über mehrere Jahre nicht angepasst wurden, hat sich dieser Spielraum immer mehr verengt, so dass die Pflegedienste unter finanziellen Druck geraten sind. Sie reagierten darauf mit Wettbewerbsstrategien, wie sie auch auf Märkten anzutreffen sind: Taylorisierung der Arbeit, Spezialisierung, vertikale Kartellbildung, Fusionen usw., um ihre Wettbewerbsposition zu festigen oder mit Konkurs. Insbesondere gaben sie aber den Druck an ihre Mitarbeiter weiter, indem sie die Arbeitsbedingungen immer stärker flexibilisierten und die Löhne senkten. Dadurch hat der Pflegeberuf an Attraktivität eingebüßt, so dass sich inzwischen Personalengpässe ergeben. Das Ziel, durch Wettbewerb im Pflegebereich Kapazitäten vorzuhalten, wurde dadurch konterkariert. Diese Entwicklung wurde durch die starke Stellung der Pflege- und Krankenkassen im Pflegebereich gefördert. Durch Preisdiktate und die Übernahmeverweigerung von notwendigen Leistungen (z.B. Dekubitusvorsorge) oder durch Empfehlung an die Patienten, den Pflegedienst zu wechseln, können die Kassen einseitig den Druck auf die Pflegedienste erhöhen, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich dagegen angemessen zu wehren. Daher wäre es angebracht, bei Konflikten zwischen Krankenkassen und Pflegediensten Schiedsstellen einschalten zu können, über die die Verhandlungsparität hergestellt werden könnte. Klarer geregelt werden muss auch die Überleitung von Patienten aus dem Krankenhaus in die ambulante Pflege. Die jetzt schon mögliche vorläufige Einstufung des Patienten in eine Pflegestufe im Krankenhaus sollte verallgemeinert und zum Normalfall werden, um Unsicherheiten sowohl beim Patienten wie auch bei den Pflegediensten zu vermeiden. Hat die Neudefinition der Pflege auch zur besseren körperlichen Versorgung beigetragen, so bleibt dennoch das Problem der psychischen Betreuung der Patienten. Hier ist eine Neudefinition des Verständnisses von Ganzheitlichkeit erforderlich. War nach dem traditionalen Verständnis die Pflegeperson allzuständig für alles, was mit Pflege zu tun hatte, so könnte ähnlich wie bei der Hospizarbeit die Lücke, die die anderen Systeme ausklammern, durch ehrenamtliche Besuchsdienste ausgefüllt werden.23 Es wäre dann auch Aufgabe von Pflegediensten, ehrenamtliche Besuchsdienste zu organisieren, die die psychische Betreuung übernehmen. Hier böte sich eine Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden an.

___________ 23

Geller/Pankoke/Gabriel (2002), S. 215 f.

Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie

229

VI. Schieflage im Steuerungsmix ambulanter Pflege Was also lässt sich zehn Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung zusammenfassend zu ihren Auswirkungen auf die ambulante Pflege als personenbezogene Dienstleistung sagen? Die administrierten Preise für die Pflegedienstleistungen sind seit Jahren der allgemeinen Preisentwicklung nicht mehr angepasst worden. Im Rahmen der Vermarktlichung der ambulanten Pflege hat dies dazu geführt, dass der Wettbewerb unter den Anbietern sich außerordentlich verschärft hat. Die Pflegeorganisationen sahen sich genötigt, den Wettbewerbsdruck in hohem Maße an die Pflegekräfte weiterzugeben. Es konnte deshalb nicht ausbleiben, dass der Konkurrenzdruck in steigendem Maße auch die Interaktionsbeziehungen der unmittelbaren Pflegeproduktion belastete. Aus der Perspektive personenbezogener Dienstleistungen muss die gegenwärtige politische Regulation des sozialstaatlich eingerichteten Dienstleistungsmarkts als nicht befriedigend eingeschätzt werden. Wie der rasante Attraktivitätsverlust der ambulanten Pflege bei den Pflegekräften zeigt, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen der Marktregulation von erheblichen kontraproduktiven Wirkungen der Vermarktlichung der ambulanten Pflege auf den personenbezogenen Dienstleistungsprozess auszugehen. Die Einrichtung eines Dienstleistungsmarkts mit administrierten Preisen und modularisierten Leistungen hat insgesamt die Fachlichkeit der Pflege gestärkt. Dies hat dazu beigetragen, dass die professionelle Steuerung in der ambulanten Pflege an Bedeutung gewonnen hat. Die Pflegekräfte haben durch erhöhte Professionalität einen Teil der negativen Folgen der einseitigen Vermarktlichung der ambulanten Pflege und der Durchsetzung der industriell-kapitalistischen Produktionsweise abgefangen. Wie die Anzeichen von Überlastung der Pflegekräfte und die verstärkten Strategien zur Reduktion der Personalkosten seitens der Pflegeorganisationen verdeutlichen, ist künftig eher mit einer Schwächung als mit einer Stärkung der professionellen Steuerung in der ambulanten Pflege zu rechnen. Wenn der Wettbewerb vornehmlich auf dem Feld der Personalkosten ausgetragen wird, muss dies für die professionelle Steuerung der Pflege negative Folgen haben, die sich unter den gegebenen Bedingungen effizienz- und produktivitätsmindernd auf die Dienstleistungsproduktion der ambulanten Pflege auswirken müssen. Traditionell spielte für die Erbringung der ambulanten Pflegeleistung die solidarische Steuerung eine dominierende Rolle. Hatte schon die Einrichtung der Sozial- und Pflegestationen Anfang der 1970er Jahre für ein Zurücktreten des solidarischen Moments in der ambulanten Pflege gesorgt, so hat die mit der Pflegeversicherung installierte Vermarktlichung der Pflege die solidarische Steuerung geschwächt. Das Zurücktreten solidarischer Steuerung macht sich in erster Linie in den psycho-sozialen Defiziten der gegenwärtigen ambulanten

230

Karl Gabriel

Pflegepraxis bemerkbar. Auf einem „asymmetrischen Markt“24 mit den privaten Anbietern in Konkurrenz gebracht, haben die aus der Tradition solidarischer Steuerung ambulanter Pflege stammenden kirchlichen Anbieter sich in den letzten Jahren darauf konzentriert, ihre ökonomischen und manageriellen Mängel auszugleichen und damit ihre Existenz als Marktanbieter zu sichern. In diesem Bemühen waren sie insgesamt erfolgreich und haben sich als anpassungsfähig erwiesen, zumal sie auch der professionellen Steuerung verstärkten Raum gegeben haben. Die Pflege und Weiterentwicklung der solidarischen Ressourcen, über die gerade die in den Kirchengemeinden verwurzelten Einrichtungen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in reichem Maße verfügten, sind dabei aus dem Blick geraten. Als Teil einer in den örtlichen kirchlichen Milieus strukturell verankerten Basiscaritas bzw. Basisdiakonie existiert die kirchlich gebundene ambulante Pflege faktisch nicht mehr. In der Nähe und im Kontakt zu den Kirchengemeinden unterscheiden sich die kirchlich gebundenen, die sonstigen frei gemeinnützigen und die privaten Anbieter ambulanter Pflege kaum mehr signifikant voneinander. In Einzelfällen sind es gerade die Leiter privater Dienste, die um die Bedeutung zu den örtlichen Kirchengemeinden wissen und deshalb einen besonderen Kontakt zu den Gemeinden pflegen. Angesichts der Verknappung und der insgesamt großen Nachfrage nach gemeindlichen Ressourcen der Solidarität erscheint es fraglich, ob der gegenwärtige Trend wieder umgekehrt werden kann. In jedem Fall wären programmatisch gestützte und gezielte Anstrengungen notwendig, um etwa für die psycho-soziale Versorgung der zu Pflegenden in ähnlichem Maße ehrenamtliches Engagement aus den Kirchengemeinden zu gewinnen, wie dies gegenwärtig auf dem Feld der Hospizarbeit zu verzeichnen ist. Die Vermarktlichung personenbezogener Dienste – so das Resümee unserer Ergebnisse – schafft erschwerte Bedingungen für das solidarische Element in der Steuerung sozialer Dienste. So erscheint es fraglich, ob die gegenwärtige Struktur der ambulanten Pflege einen für personenbezogene Dienstleistungen angemessenen Mix in den Steuerungselementen von Administration, Markt, Profession und Solidarität ermöglicht. Traditionell gehört es zu den Kernfunktionen und Stärken der Wohlfahrtsverbände in Deutschland, als intermediäre Akteure Ressourcen solidarischer Steuerung zu erschließen und zwischen Staat, Markt und Familie zu vermitteln. Wo sie auf asymmetrischen Wohlfahrtsmärkten mit privaten Anbietern in Konkurrenz gebracht werden, stellt sich die Frage, ob sie ihre Kernfunktion überhaupt weiter erfüllen können. Die zehnjährige Erfahrung mit dem politisch administrierten Wohlfahrtsmarkt ambulante Pflege lässt die Frage eher mit Nein beantworten. Es überrascht deshalb nicht, dass aus den Reihen der frei gemeinnützigen Träger immer wieder Stimmen zu hören sind, die sich für eine volle Vermarktlichung der Dienste ___________ 24

Nullmeier (2004), S. 496.

Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie

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aussprechen und die in ihrer Gemeinnützigkeit eher eine Last als ein Privileg sehen.25 Wenn die Gesellschaft dort, wo soziale Dienste es mit Menschen zu tun haben, deren personenbezogenen Charakter aufrechterhalten will, darf die staatliche Regulationspolitik die Möglichkeiten solidarischer Steuerung nicht so weit einengen, wie dies für den gegenwärtigen Markt ambulanter Pflege zu konstatieren ist. Die Wohlfahrtsverbände wiederum sollten sich – nachdem sie ihre Lektionen ökonomischer Rationalisierung gut gelernt haben – auf ihren Auftrag und ihre Sendung als Akteure einer sozialen und personenbezogenen Rationalisierung und als Produzenten von Solidarität zurück besinnen.

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___________ 25

Ottnad/Wahl/Miegel (2000).

232

Karl Gabriel

— (1973): Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt/M. Meyer, J. A. (1996): Der Weg zur Pflegeversicherung. Positionen – Akteure – Politikprozesse, Frankfurt/M. Nullmeier, F. (2004): Vermarktlichung des Sozialstaats, in: WSI Mitteilungen 9, S. 495500. Ottnad, A. / Wahl, S. / Miegel, M. (2000): Zwischen Markt und Mildtätigkeit. Die Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege für Gesellschaft, Wirtschaft und Beschäftigung, München. Pankoke, E. (2000): Sozialethiken und Wohlfahrtskulturen: Grenzen und Schwellen wohlfahrtsstaatlicher Modernität, in: Prisching, M. (Hrsg.): Ethische Probleme des Wohlfahrtsstaates, Wien, S. 9-36. Rothgang, H. (2000): Wettbewerb in der Pflegeversicherung, in: Zeitschrift für Sozialreform 46, S. 423-448 Simmel, G. (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig. Zeman, P. (2000): Alter(n) im Sozialstaat und die Mikropolitik der Pflege, Regensburg.

Kooperation erfordert Solidarität und Vertrauen – Eine entscheidungstheoretische Rekonstruktion1 – Korreferat zu Karl Gabriel – Von Andrea Clausen

I. Einleitung Karl Gabriel unterscheidet drei Steuerungssysteme im Bereich der ambulanten Pflege: Den Markt, der über das Steuerungsmedium Preis funktioniert, den Staat, der über Konditionalprogramme funktioniert, d.h. über die Bindung der Pflegeleistung an bestimmte Voraussetzungen, und die Familie, die solidarisch organisiert ist. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Vermarktlichung der Pflege fragt er nach der Angemessenheit des gegenwärtigen Steuerungsmixes. Sehr komprimiert lautet seine Antwort wie folgt: A1. Wirksame Pflege setzt Kooperationsbereitschaft voraus, nämlich Flexibilität des Pflegenden und Mitwirkung des zu Pflegenden. A2. Die zunehmende marktliche Steuerung über den Preis unterminiert diese Kooperationsbereitschaft. Denn die Kooperationsbereitschaft des Pflegenden sinkt, sobald er Kostendruck ausgesetzt ist. Der zu Pflegende reagiert darauf, indem er, so darf man Gabriel wohl ergänzen, seine Kooperationsbereitschaft ebenfalls senkt. Doch ohne Kooperation ist gute Pflege nicht möglich, sinkt die Effizienz der Leistungserbringung2. ___________ 1

Ich danke Lydia Mechtenberg sowie den Teilnehmern der Tagung „Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft“, aus der dieser Band hervorgegangen ist, für wertvolle Hinweise. 2 „Das Vertrauen und die Gewinnung des Klienten als Mitproduzenten gehört zu den unabdingbaren Elementen der Produktivität und Effizienz der Leistungserbringung. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Vermarktlichung immer dort kontraproduktive Wirkungen hervorruft, wo der Kostendruck nicht nur auf der Ebene der Organisation wirksam wird, sondern auch auf die unmittelbare Interaktion durchschlägt, in der die Dienstleistung notwendig erbracht wird.“, Gabriel (2005), S. 11.

234

Andrea Clausen

A3. Quellen der Kooperationsbereitschaft sind Solidarität bzw. Vertrauen. Wenn zunehmende Vermarktlichung die Kooperationsbereitschaft schwächt, muss das Steuerungsmedium Solidarität bzw. Vertrauen gestärkt werden. Auf diesem beruhen die traditionellen Träger der Pflege – Familie, aber auch Wohlfahrtsverbände. Insbesondere den Wohlfahrtsverbänden als Intermediären zwischen Markt, Staat und Familie kommt daher eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der Pflege zu. Drei Fragen stellen sich mir bei dieser Argumentation: F1. Offen scheint mir zunächst zu sein, warum eine marktliche Steuerung über den Preis die Kooperationsbereitschaft schwächt und damit die Effizienz senkt. Die Einsicht, sinkende Kooperationsbereitschaft verringere die Effizienz, erinnert an ein bekanntes Phänomen der rationalen Entscheidungstheorie: Ein effizientes, konkret: paretooptimales, Ergebnis setzt Kooperation voraus, während das nichtkooperative Ergebnis ineffizient ist. Die Entscheidungstheorie beschäftigt sich dann mit der Frage, unter welchen Bedingungen kooperative, effiziente Ergebnisse zu Stande kommen. Um zu diskutieren, warum der Markt die Kooperationsbereitschaft schwächt, bietet es sich an, die Vermarktlichung der Pflege entscheidungstheoretisch zu rekonstruieren. F2. Warum setzt Kooperation Solidarität bzw. Vertrauen voraus? Diese Frage ist mit der skizzierten Argumentation gleichfalls noch nicht beantwortet. Sie lässt sich unter Rückgriff auf einen erweiterten entscheidungstheoretischen Rahmen beantworten. F3. Gabriel erwähnt Solidarität und Vertrauen zumeist in einem Atemzug. Doch hinter den Werten Solidarität und Vertrauen stehen ganz unterschiedliche moralrelevante Handlungsmotive. Daher macht es Sinn zu fragen: Erfordert Kooperation nur Solidarität oder zudem Vertrauen? Diese Frage diskutiere ich unter Rückgriff auf einen nochmals erweiterten entscheidungstheoretischen Rahmen. In zweifacher Hinsicht schaue ich aus einer anderen, teils kühnen Perspektive auf Gabriels Argumentation – in der Hoffnung, dass dies eine Bereicherung darstellt: Erstens rekonstruiere ich die von Gabriel systemtheoretisch beschriebene Situation entscheidungstheoretisch. Warum? Ich behaupte nicht, Menschen sind, wie die Entscheidungstheorie sie modelliert, nämlich rationale und üblicherweise eigeninteressierte Akteure, die eine für sie optimale Entscheidung treffen, gegeben die möglichen Entscheidungen der anderen. Die methodologische Attraktivität der Entscheidungstheorie liegt jedoch darin, dass sie verspricht, mit Minimalanforderungen an den Menschen auszukommen – Menschen müssen nur klug genug sein, ihren Vorteil im Blick zu haben. Dies

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ist ein guter Ausgangspunkt, wenn man eine starke Begründung geben will, wann und warum wir mehr von Menschen verlangen müssen. Zweitens: Während Gabriel fragt, welchen Institutionen bei der Verbesserung der Pflege eine entscheidende Rolle zukommt (den Wohlfahrtsverbänden), frage ich ergänzend: Welche Handlungsmotive der Akteure müssen gestärkt werden, damit Pflege gelingt? Damit trifft ein ethischer Blick auf einen soziologischen.

II. Warum zerstört der Markt die Kooperationsbereitschaft? Das Phänomen „Vermarktlichung unterminiert die Kooperationsbereitschaft“ (A2) kann als Gefangenendilemma rekonstruiert werden. Dieses Kernproblem der Entscheidungstheorie lautet: Wie gelingt es rationalen, eigeninteressierten Akteuren zu kooperieren, wenn zwar Kooperation für jeden besser ist als Nichtkooperation, es aber für jeden noch besser ist, einseitig nicht zu kooperieren? Betrachten wir die Situation am klassischen Beispiel. Zwei Gefangene, A und B, können jeweils schweigen (kooperatives Handeln) oder die gemeinsame Tat gestehen (nichtkooperatives Handeln). Wenn nur A gesteht, wird auf ihn eine Kronzeugenregelung angewandt und er kommt frei. Wenn beide schweigen, kommen sie für fünf Jahre in Haft, da sie auf Grund der Beweise nur für fahrlässige Tötung, nicht für Totschlag bestraft werden können. Wenn beide gestehen, kommen sie für zehn Jahre wegen Totschlags in Haft, wobei sich das Geständnis strafmildernd auswirkt. Wenn nur B gesteht und A damit verrät, liegt As Strafmaß bei fünfzehn Jahren. A bringt seine Präferenzen hinsichtlich des für ihn resultierenden Ergebnisses in folgende Rangfolge; dem jeweiligen Strafmaß wird dabei eine Auszahlung (ein Payoff) von 0 bis 4 zugeordnet. Bs Rangfolge lässt sich analog dazu formulieren. A’s Rangfolge 1

nur A gesteht:

4 (0 Jahre Haft)

2

beide schweigen:

3 (5 Jahre Haft)

3

beide gestehen:

2 (10 Jahre Haft)

4 nur B gesteht:

0 (15 Jahre Haft)

Um zu sehen, welche Entscheidung – schweigen oder gestehen – für jeden die optimale Reaktion auf die mögliche Strategie des anderen ist, stelle ich die Payoffs für A und B in folgender Matrix dar. Die linke Ziffer stellt den Payoff für A, die rechte den für B dar.

Andrea Clausen

236

B schweigt

B gesteht

A schweigt

3; 3

0; 4

A gesteht

4; 0

2; 2

Egal was B tut, ist es für A optimal zu gestehen. Und egal was A tut, ist es für B optimal zu gestehen. Solange beide unabhängig voneinander entscheiden, wird die für jeden drittschlechteste Lösung, beiderseitige Nichtkooperation, realisiert. Die effiziente, paretooptimale Lösung, beiderseitige Kooperation, kommt nicht zu Stande. In einem Gefangenendilemma befinden sich auch Erbringer und Empfänger ambulanter Pflege. Ein Patient leidet an chronischen Rückenbeschwerden. Die Krankenpflegerin ist zeitlich flexibel und schiebt einen Termin ein, wenn die Beschwerden akut sind. Der Patient kann die Wahrscheinlichkeit akuter Beschwerden reduzieren, indem er regelmäßig den Rücken trainiert, was für einen generell geschwächten Patienten jedoch beschwerlich ist. Die Krankenpflegerin entscheidet zwischen „flexibler Termin“ und „kein flexibler Termin“. Der Patient hat die Wahl zwischen „manchmal Beschwerden“ und „oft Beschwerden“, indem er entscheidet, ob er regelmäßig trainiert oder nicht. Rangfolge des Pflegenden (A) 1 manchmal Beschwerden, aber kein flexibler Termin:

4

2 manchmal Beschwerden und flexibler Termin: [schlechteres Ergebnis, da der Pflegende unpassende Termine in Kauf nimmt]

3

3 oft Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [noch schlechteres Ergebnis, da der zu Pflegende den Pflegenden nicht weiterempfiehlt]

2

4 oft Beschwerden und flexibler Termin: [schlechtestes Ergebnis, da der Pflegende viele unpassende Termine und so erhebliche Nachteile für sein Privatleben in Kauf nimmt]

0

Kooperation erfordert Solidarität und Vertrauen

237

Rangfolge des zu Pflegenden (B) 1 oft Beschwerden, aber flexibler Termin:

4

2 manchmal Beschwerden und flexibler Termin: [schlechteres Ergebnis, da das Training beschwerlich ist]

3

3 oft Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [noch schlechteres Ergebnis, da die Pflege unzureichend ist]

2

4 manchmal Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [schlechtestes Ergebnis, da das Training beschwerlich und die Pflege unzureichend ist]

0

B trainiert/ hat manchmal Beschwerden

B trainiert nicht/ hat oft Beschwerden

A ist flexibel

3; 3

0; 4

A ist unflexibel

4; 0

2; 2

Für beide ist die Situation „manchmal Beschwerden und flexibler Termin“ (3; 3) besser als „oft Beschwerden, aber kein flexibler Termin“ (2; 2). Doch für die Krankenpflegerin ist die Situation „manchmal Beschwerden, aber kein flexibler Termin“ noch besser (Payoff von 4). Ebenso bevorzugt der Patient die Situation „oft Beschwerden, aber flexibler Termin“, da er in diesem Fall das anstrengende Training vermeidet und dennoch immer dann Hilfe bekommt, wenn es ihm schlecht geht. Wie gelingt Kooperation? Indem sich beide in ihrem Handeln binden, einander zu kooperieren versprechen. Aber werden sie ein Kooperationsversprechen einhalten? Nein, denn jeder hat einen Anreiz, einseitig von dem Versprechen abzuweichen, dem anderen Kooperationsbereitschaft nur vorzutäuschen, d.h. ihn zu bluffen. Verwirklicht wird daher das für jeden drittschlechteste Ergebnis, beiderseitige Nichtkooperation. Doch das ist zum Glück nicht das Ende der Geschichte. Kooperation kommt zu Stande, wenn die Akteure langfristig denken und ein gelingender Bluff in den Folgerunden gravierende Sanktionen nach sich zieht: Wenn As Bluff gelingt, wird B in den Folgerunden nichtkooperativ handeln, sodass das beiderseitig nichtkooperative, drittschlechteste Ergebnis verwirklicht wird. Oder aber B muss einseitig kooperativ sein, um eine Reputation als verlässlicher Partner wieder aufzubauen, sodass die für ihn schlechteste Lösung resultiert.

238

Andrea Clausen

Alternativ dazu wird Kooperation möglich, wenn ein Dritter – Staat oder Wohlfahrtsverband – nichtkooperatives Handeln bereits in der gegenwärtigen Runde sanktioniert3. Die Leistung der Krankenpflegerin wird geringer vergütet, die Kosten des Patienten werden zu einem geringeren Anteil erstattet, wenn sie bzw. er sich unkooperativ zeigt. Entscheidungstheoretisch wird aus dem Gefangenendilemma ein Versicherungsspiel. Stabile Lösungen sind sowohl beiderseitige Kooperation als auch beiderseitige Nichtkooperation. Dabei ist die erste Lösung für beide Seiten besser als die zweite. Sie kommt zu Stande, sowie die Akteure einander Kooperation versprechen („dem anderen ihre Kooperationsbereitschaft versichern“). Rangfolge des Pflegenden (A) 1 manchmal Beschwerden und flexibler Termin: [der Pflegende nimmt unpassende Termine in Kauf]

3

2 manchmal Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [schlechteres Ergebnis, da die Leistung des Pflegenden geringer vergütet wird]

2,5

3 oft Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [noch schlechteres Ergebnis, da die Leistung des Pflegenden geringer vergütet wird und der zu Pflegende ihn nicht weiterempfiehlt]

2

4 oft Beschwerden und flexibler Termin: [schlechtestes Ergebnis, da der Pflegende viele unpassende Termine in Kauf nimmt und der zu Pflegende ihn nicht weiterempfiehlt]

0

Rangfolge des zu Pflegenden (B) 5 manchmal Beschwerden und flexibler Termin: [der zu Pflegende nimmt das beschwerliche Training in Kauf]

3

6 oft Beschwerden, aber flexibler Termin: [schlechteres Ergebnis, da die Kosten zu einem geringeren Anteil erstattet werden]

2,5

7 oft Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [noch schlechteres Ergebnis, da die Pflege unzureichend ist und die Kosten zu einem geringeren Anteil erstattet werden]

2

___________ 3 Die Beteiligten selbst können dies nicht tun, da sie zeitgleich entscheiden, die Strategie des anderen also nicht kennen, wenn sie sich auf ihre Strategie festlegen.

Kooperation erfordert Solidarität und Vertrauen

239

8 manchmal Beschwerden, aber kein flexibler Termin: [schlechtestes Ergebnis, da das Training beschwerlich und die Pflege sehr unzureichend ist] B trainiert/ hat manchmal Beschwerden

0

B trainiert nicht/ hat oft Beschwerden

A ist flexibel

3; 3

0; 2,5

A ist unflexibel

2,5; 0

2; 2

Beide Wege zur Kooperation – langfristiges Denken und Sanktionen seitens eines Dritten – sind nicht immer gangbar. Der Pflegende mag es unmenschlich finden, einmaliges nichtkooperatives Handeln des Patienten durch dauerhafte Nichtkooperation zu bestrafen. Und die Einschränkung der Leistungsvergütung bzw. Kostenerstattung seitens eines Dritten ist mit hohem Kontrollaufwand verbunden. Die Antwort auf die erste Frage „Warum zerstört eine marktliche Steuerung über den Preis die Kooperationsbereitschaft?“ fällt nun leicht: Die Payoffs bringen zum Ausdruck, was die Akteure für die Dienstleistung zu zahlen bereit sind bzw. verlangen. Die Payoffs lassen sich also in Preise übersetzen. Preise bringen Präferenzen zum Ausdruck, allgemeiner: sie spiegeln das Eigeninteresse wider. Doch nicht immer haben eigeninteressierte Akteure einen Anreiz, kooperativ zu handeln und damit die effiziente Lösung zu verwirklichen.

III. Warum ist Solidarität erforderlich? Die Konsequenz ist daher, dass Eigeninteresse allein nicht die Grundlage der Entscheidungstheorie sein kann4. Interessen, die unmittelbar oder mittelbar auf die eigene Person bezogen sind (egoistisches Eigeninteresse oder altruistisches Eigeninteresse, das ein Interesse am Wohlergehen affektiv nahe stehender Personen, also Handeln aus Empathie, einschließt) reichen nicht aus. Daneben braucht es überpersönliche, gemeinschaftsbezogene Interessen. Solidarität ist ein solches Interesse, nämlich das Interesse, dass es denjenigen Menschen gut ___________ 4

David Gauthiers (1986) elaborierter Vorschlag, wie rationales Eigeninteresse mit Kooperation, Fairness und Moralität zu vereinbaren sei, wird an dieser Stelle nicht diskutiert.

240

Andrea Clausen

geht, mit denen man zwar nicht in einer primär affektiven Beziehung steht, mit denen man aber gleichwohl eine Gemeinschaft bildet. Paradebeispiel ist die Verantwortung des Unternehmers für seine Mitarbeiter. Was heißt Solidarität im Fall der Pflege? Die Pflegekraft handelt solidarisch, wenn sie alles tut, damit der zu Pflegende gut versorgt oder zufrieden ist. Was bewirkt die Ergänzung des entscheidungstheoretischen Rahmens um Solidarität? Die Payoffs werden so verändert, dass aus dem Gefangenendilemma ein Versicherungsspiel wird, analog zu dem Fall, dass ein Dritter nichtkooperatives Handeln in der aktuellen Runde sanktioniert. In unserem Beispiel ist an die Stelle der kursiv gedruckten Sanktionen „der zu Pflegende empfiehlt den Pflegenden nicht weiter“ und „der Pflegende kommt nur kurz“ die Sanktion zu setzen „schlechtes Gewissen, weil sich der Akteur unsolidarisch verhält, obwohl ihm Solidarität wichtig ist“. Die Antwort auf meine zweite Frage ist somit: Solidarität ist erforderlich, weil oft erst gemeinschaftsbezogene Interessen Kooperation ermöglichen. Meine Antwort auf die erste Frage lautete: Eine marktliche Steuerung über Preise wirkt der Kooperationsbereitschaft entgegen, da Preise das Eigeninteresse widerspiegeln, Individuen jedoch nicht immer einen Anreiz haben zu kooperieren. Jetzt sehen wir, dass diese Antwort präzisiert werden muss: Preise spiegeln nicht nur das Eigeninteresse wider. Sie spiegeln auch gemeinschaftsbezogene Interessen wider, sofern diese allein verwirklicht werden können: Der Pflegende hat ein Interesse daran, dass der zu Pflegende gut versorgt ist und tut daher alles dafür. Was er dafür verlangt und was der zu Pflegende dafür zu zahlen bereit ist, lässt sich in Preisen ausdrücken. Preise lassen sich erst dann nicht zuordnen, wenn ein Ergebnis nur gemeinsam erzielt werden kann. Ein Preis lässt sich dann nicht angeben, da er von der Mitwirkung des anderen abhängt, diese jedoch eine Unbekannte darstellt5. Ein Beispiel für ein nur gemeinsam zu verwirklichendes gemeinschaftsbezogenes Interesse ist, dass der zu Pflegende zufrieden ist. Anders als Versorgtsein setzt Zufriedenheit voraus, dass der Pflegende den zu Pflegenden fragt, was er sich wünscht oder gemeinsam mit ihm herausfindet, was ihm gut tut. Wo sich Preise nicht angeben lassen, sind auch Payoffs nicht zuzuordnen. Daher stößt bei gemeinsam zu verwirklichenden Interessen nicht nur der Markt, sondern auch die Entscheidungstheorie an Grenzen.

___________ 5 Vgl. Gabriel (2005), S. 12: „Da die Leistung vom Zusammenwirken der Koproduzenten abhängt, können Erfolg und Mißerfolg nicht einseitig zugeschrieben werden“.

Kooperation erfordert Solidarität und Vertrauen

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IV. Sind Solidarität und Vertrauen zu unterscheiden? Die Erweiterung der Interessen reicht jedoch nicht, um das Gefangenendilemma zu lösen. Denn Pflege setzt Vertrauen voraus. Die Entscheidungstheorie muss um ein deontologisches Element erweitert werden6. Dies geschieht wiederum, indem an die Stelle der kursiv gedruckten Sanktionen „der zu Pflegende empfiehlt den Pflegenden nicht weiter“ und „der Pflegende kommt nur kurz“ aus dem Versicherungsspiel die Sanktion gesetzt wird „schlechtes Gewissen, weil der Akteur gegen sein Prinzip vertrauenswürdigen Handelns verstößt“. Was heißt Vertrauen7? Nicht einfach glauben, der andere werde tun, was er sagt, etwa sein Kooperationsversprechen einhalten. Dies zu glauben heißt nur, den anderen für verlässlich zu halten. Von seiner Verlässlichkeit kann man ausgehen, wenn man weiß, dass er einen Anreiz zur Kooperation hat. Anders als Verlässlichkeit lässt sich vertrauenswürdiges Handeln jedoch nicht prognostizieren. Unter Vertrauen verstehe ich vielmehr den allenfalls an Erfahrungen aus der Vergangenheit festzumachenden Glauben, der andere werde im eigenen Sinne handeln. Der Kranke hat beispielsweise Vertrauen, wenn er glaubt, der Pflegende werde alles tun, was ihm gut tut. Vertrauen lässt sich nicht in eine auf Interessen basierende Ethik integrieren. Allgemeiner: Es lässt sich nicht in eine teleologische Ethik integrieren. Denn Vertrauen lässt sich nicht gezielt aufbauen, indem man sich z.B. genau dann vertrauenswürdig verhält, wenn dieses Verhalten beachtet und honoriert wird. Ein Teleologe argumentiert wie folgt: Ist jemand in einer depressiven Phase, kann ein Besuch bei ihm auch mal einen Tag ausfallen, da er auf Besuch dann ohnehin keinen Wert legt, der Besuch ihn im Extremfall auch nicht aufheitert. Doch Vertrauen entsteht so nicht. Vertrauen setzt voraus, dass man sich vertrauenswürdig verhält, egal welche Konsequenzen das hat. Denn wenn auch nur der leiseste Verdacht besteht, hier werde ein Kalkül verfolgt, ist das Verhalten nicht glaubwürdig. Vertrauen setzt folglich ein deontologisches Handlungsmotiv voraus, beispielsweise das Motiv „aus Achtung vor dem anderen“ oder „aus Pflichtgefühl“. Dieses stellt höhere Ansprüche an den Handelnden als das teleologische Handlungsmotiv „aus Solidarität“. Handeln aus Solidarität ist seinerseits anspruchsvoller als das teleologische Handlungsmotiv „aus Empathie“, das die ___________ 6 Präferenzen und Interessen können deontolgisch formuliert werden. Ebenso wie man eine Präferenz oder ein Interesse an einem Handlungsergebnis haben kann, kann man eine Präferenz oder ein Interesse an der Handlung selbst haben. Zur Möglichkeit einer deontologischen Entscheidungstheorie vgl. Nida-Rümelin 1994. 7 Exemplarisch für die boomende Literatur zum Thema Vertrauen sei verwiesen auf Lahno (2002).

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Andrea Clausen

Verwirklichung der Interessen affektiv nahe stehender Menschen berücksichtigt, also altruistischem Eigeninteresse entspricht. Und es ist erst recht anspruchsvoller als das teleologische Motiv „aus Nutzenerwägungen“, das die Verwirklichung direkt auf die eigene Person gerichteter Interessen ermöglicht und somit egoistischem Eigeninteresse entspricht. Unterscheidet man diese Handlungsmotive, so erkennt man, dass innerhalb der familial (bzw. ehrenamtlich oder gemeinnützig) organisierten Pflege drei Steuerungsmodi – Vertrauen, Solidarität und affektive Bindung8 – voneinander zu unterscheiden sind. Die Antwort auf die dritte Frage lässt sich nun beantworten: Kooperation erfordert Handeln aus Solidarität, aber noch mehr, nämlich ein Handeln, das nicht auf die Konsequenzen schaut.

V. Fazit Um mein Ergebnis auf den Punkt zu bringen, sind zwei grundlegende Fragestellungen zu unterscheiden, die in meiner Rekonstruktion der Gabriel’schen Argumentation miteinander verquickt sind: Wann gelingt Kooperation? Und wann stößt der Markt an seine Grenzen? Kooperation gelingt nicht auf der Basis von Eigeninteresse allein. Voraussetzungen für Kooperation sind oft gemeinschaftsbezogene Interessen sowie deontologisch orientiertes Handeln. Handlungsmotivationen, die es entsprechend zu stärken gilt, sind Solidarität und Vertrauen. Eine marktliche Steuerung über den Preis unterminiert Kooperation jedoch nur insofern, als sich gemeinschaftsbezogene Interessen ausschließlich gemeinsam verwirklichen lassen. In solchen Fällen ist eine marktliche Steuerung über den Preis um eine familiale Steuerung über Solidarität zu ergänzen. Im Alleingang zu verwirklichende Interessen und eine Präferenz für deontologisch orientiertes, konkret: vertrauenswürdiges, Handeln hingegen spiegelt sich in den Preisen wider.

Literatur Gabriel, K. (2005): Ambulante Pflege zwischen Markt, Staat und Familie, in diesem Band. Gauthier, D. (1986): Morals by Agreement, Oxford.

___________ 8 Daher erscheint es problematisch, wenn Gabriel von affektiver Solidarität spricht – Solidarität und Empathie sind unterschiedliche Handlungsmotive.

Kooperation erfordert Solidarität und Vertrauen

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Lahno, B. (2002): Der Begriff des Vertrauens, Paderborn. Leibold, S. (2005): Wie organisiert man „gute Pflege“? Bausteine zu einer Ethik ambulanter Pflegedienste, Freiburg. Nida-Rümelin, J. (1994): Die Vielfalt guter Gründe und die Theorie praktischer Rationalität, in: Protosoziologie (PRS) 6, S. 95-103.

Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie – Korreferat zu Karl Gabriel – Von Alexander Spermann

Das Papier beginnt spannend: Es wurde eine empirische Untersuchung in 20 ambulanten Pflegeeinrichtungen mit unterschiedlicher Trägerschaft in Münster und Essen durchgeführt. Konkret wurden die Leiter und Pfleger mündlich interviewt und die Patienten schriftlich befragt. Darüber hätte der empirisch orientierte Ökonom gerne mehr erfahren, zumindest eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse wäre erfreulich gewesen. Schade! Stattdessen wird ein Spannungsfeld zwischen marktlicher, bürokratischer und solidarischer Steuerung beschrieben (Kapitel II.). Solidarität ist das Steuerungsmedium in der Familie, Bürokratie ist das Steuerungsmedium des Staates und der Preis ist das Steuerungsmedium des Marktes. Auch wird die Kombination der Steuerungsmechanismen beschrieben. Kapitel III. definiert Pflege als familiale Aufgabe. Weiterhin wird Pflegearbeit als naturgebundene Arbeit definiert. Auch findet sich eine Beschreibung der Probleme der Überforderung der Pflegenden. Kapitel IV. bezeichnet die Pflegeversicherung als Paradigmenwechsel. Die Art der Bereitstellung und Steuerung der Pflegedienstleistung wird als verstärkte Vermarktlichung der sozialen Dienstleistungsproduktion im deutschen Sozialstaat interpretiert. In Kapitel V. wird schließlich die Hauptthese des Papiers entwickelt: Zeitersparnis wird als wesentliches Merkmal wettbewerblicher Produktionsweise herausgearbeitet – als Folge der Vermarktlichung der Pflege. Kapitel VI. beklagt schließlich eine Schieflage im Steuerungsmix ambulanter Pflege zu Lasten der solidarischen Steuerung. Als Volkswirt möchte ich sechs Punkte betonen: 1. Pflege ist eine persönliche Dienstleistung, wie andere persönliche Dienstleistungen auch (z.B. Babysitten). Ohne gegenseitiges Vertrauen zwischen Produzenten und Konsumenten kann diese Dienstleistung nicht erbracht werden. Das ist aber kein Hindernis für die Bildung eines Marktes. In der Terminologie des Autors formuliert: Der Steuerungsmechanismus des Marktes ist grundsätzlich auch im Bereich der Dienstleistung Pflege möglich.

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Alexander Spermann

2. Aus ökonomischer Sicht ist es eine offene Frage, ob der solidarische Steuerungsmechanismus in der Familie stets überlegen ist. Einerseits zeigen empirische Untersuchungen, dass Menschen lieber zu Hause gepflegt werden wollen als im Heim. Auch aus fiskalischer Sicht ist die Pflege in der Familie in der Regel kostengünstiger als die Pflege im Heim. Andererseits können die Opportunitätskosten der Pflegeangehörigen sehr hoch sein, wenn sie sehr gute Verdienstmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. Auch können die Betreuungskosten zu Hause exorbitant hoch sein (z.B. bei Wachkomapatienten). Pflege in der Familie sollte deshalb kein Dogma sein. Doch macht es schon allein aus fiskalischer Sicht Sinn, die solidarische Steuerung zu stärken, weil ein verstärkter Heimsog das soziale Sicherungssystem finanziell überfordern dürfte. 3. Paradigmenwechsel durch Pflegeversicherung Eine Vermarktlichung im eigentlichen Sinne kann ich nicht erkennen. Es dominiert derzeit der bürokratische Steuerungsmechanismus: Der Markt ist in diesem Bereich so stark reguliert, dass Marktkräfte nicht wirken können. So legt nicht der Konsument fest, welche Dienstleistungen er braucht, sondern der paternalistische Staat definiert den Leistungskatalog und die Marktpreise. Nachfrage und Angebot können sich nicht frei entfalten, ein Wettbewerbspreis kommt nicht zustande. Das ist das Kernproblem. Der Wettbewerb existiert in Ansätzen auf der Anbieterseite auf der Basis der bestehenden Regulierungen. 4. Marktliche Erstellung der Pflegedienstleistungen heißt nicht zwangsläufig Zeitersparnis als wesentliches Merkmal. Ganz im Gegenteil: Das derzeitige regulierte System erzwingt die Zeitersparnis. So definiert der Staat z.B. im Bereich der ambulanten Pflege die zu vergütenden Leistungsmodule. Die mit den Leistungsmodulen verbundenen minutiösen Zeitvergaben produzieren den Zeitdruck bei der Pflege, wofür Betroffene zahllose Beispiele beisteuern können. 5. Ein Ausweg könnte ein Mehr an Konsumentensouveränität sein. Zurzeit erzwingen die Konsumenten, sprich die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, im bestehenden, an sich unflexiblen System eine gewisse Wahlfreiheit. Das gelingt zum einen durch die legale Kombination von Pflegegeld und Sachleistungen. Zum anderen werden Abweichungen vom starren Sachleistungskatalog in der Praxis erzwungen: Die Konsumenten trotzen den Pflegediensten im Verhandlungsprozess häufig an sich nicht abrechnungsfähige Leistungen, z.B. hauswirtschaftliche Dienste, ab. Der Wettbewerbsdruck zwischen den Anbietern führt dazu, dass Kompromisse mit den Konsumenten eingegangen werden und legitime, aber mitunter illegale Strukturen (z.B. Schwarzarbeiter in den Haushalten der Pflegebedürftigen) stillschweigend akzeptiert werden. Anders formuliert: Die Akteure in diesem stark regulierten Markt versuchen, die negativen Effekte des Systems durch Verhaltens-

Ambulante Pflege zwischen Staat, Markt und Familie

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anpassungen abzumildern – ein Phänomen, das sich in vielen Bereichen der Gesellschaft beobachten lässt. 6. Eine konkrete Weiterentwicklung auf der Leistungsseite könnten Modellversuche mit Pflegebudgets aufzeigen; Pflegebudgets werden den Konsumenten direkt ausbezahlt, so dass sie nach ihren Präferenzen Pflegedienstleistungen bei legalen Anbietern ihrer Wahl einkaufen können. Zwei Länderbeispiele aus der Praxis sollen die Erfahrungen mit Pflegebudgets verdeutlichen: a) Beispiel Pflegebudget Arkansas (USA) In den USA wird ein Pflegebudget (consumer directed payments) im Rahmen der nationalen Initiative „Cash and Counseling Demonstration“ in drei Modellversuchen erprobt und wissenschaftlich evaluiert. Zu einem dieser „Pflegebudget“Modellversuch (Independent Choices) liegen Evaluationsergebnisse für den Zeitraum 1998-2002 vor (vgl. ausführlich Foster et al. 2003 und www.cashandcounseling.org). Ohne an dieser Stelle detailliert werden zu können: Diese Studie basiert auf einem sozialen Experiment, bei dem per Zufallsauswahl eine Programm- und Vergleichsgruppe gebildet wurde. Beide Gruppen wurden über mehrere Jahre hinsichtlich der interessierenden Ergebnisvariablen (wie Zufriedenheit) miteinander verglichen. Das methodische Design der Studie erfüllt demnach höchste Anforderungen an eine Evaluationsstudie, was für andere vorliegende Studien zu Modellversuchen in Großbritannien und den Niederlanden leider nicht zutrifft. Die Ergebnisse der Studie sind demnach ernst zu nehmen. Es zeigt sich, dass Pflegebudgets ursächlich für eine höhere Zufriedenheit der Pflegebedürftigen und der Pflegeangehörigen sind. Auch erweisen sich Bedenken im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen und ihrer Sicherheit als gegenstandslos. Eine wesentliche Erfolgsdeterminante besteht jedoch darin, dass Angehörige das Pflegebudget in Anspruch nehmen dürfen. b) Beispiel Modellversuch Pflegebudget (Deutschland) In Deutschland wird ein Pflegebudget als Alternative zu den Sachleistungen und dem Pflegegeld experimentell in sozialen Experimenten in Ost- und Westdeutschland zwischen 2004 und 2008 erprobt und wissenschaftlich evaluiert (vgl. ausführlich Arntz/Spermann 2005 und www.pflegebudget.de). Das Pflegebudget wird in Höhe der Sachleistungen gewährt. Noch ist es zu früh, abschließende Schlussfolgerungen zu ziehen. Insbesondere sind noch keine Aussagen über die Effekte auf die Verweildauer in häuslicher Pflege möglich. Erste Zwischenergebnisse deuten jedoch darauf, dass die Pflegebedürftigen, die sich für das Budget interessieren, ihr Pflegearrangement bedarfsgerechter ausgestalten und somit zufriedener sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der bürokratische Steuerungsmechanismus behindert derzeit das Entstehen marktlicher Pflegearrangements – mit der Konsequenz, dass Bedarfe der Pflegebedürftigen (z.B. von Demenzkranken) nicht gedeckt werden. Der solidarische Steuerungsmechanismus in

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der Familie könnte zukünftig an Bedeutung verlieren, wenn er nicht durch Wahlfreiheiten für die Konsumenten gestärkt wird. Das für 2007 erstmals erwartete Gesamtdefizit der Pflegeversicherung dürfte die Diskussion über die relative Bedeutung der drei Steuerungsmechanismen intensivieren.

Literatur Arntz, M. / Spermann, A. (2005): Soziale Experimente mit dem Pflegebudget (2004– 2008) – Konzeption des Evaluationsdesigns, Sozialer Fortschritt 54, S. 181-191. Foster, L. / Brown, R. / Phillips, B. / Schore, J. / Carlson, B. L. (2003): Improving the Quality of Medicaid Personal Assistance Through Consumer Direction, Health Affairs, Jan-Jun, S. 162-175.

Ausschreibung sozialer Dienstleistungen als Problem – Wie lassen sich Transparenz, Wirtschaftlichkeit und das Wahlrecht der Hilfeberechtigten sichern?1 Von Georg Cremer

I. Ausschreibungen auf dem Vormarsch? Die bisher vorherrschende Form, Märkte sozialer Dienstleistungen politisch zu gestalten, ist das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis. Dieses steht gegenwärtig unter Druck. Kommunale Kostenträger versuchen, soziale Dienstleistungen wie ambulant betreutes Wohnen oder sozialpädagogische Familienhilfe auszuschreiben, deren Inhalt, Umfang und Qualität bisher zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern verhandelt und vereinbart wurden. Noch tangieren diese Ausschreibungsverfahren nicht die großen sozialen Einrichtungen wie etwa die stationären Einrichtungen der Altenhilfe. Aber es gibt deutliche Stimmen in der Auseinandersetzung, die fordern, Ausschreibungen sollten das Regelverfahren sozialrechtlicher Leistungsbeziehungen werden, um Transparenz und Wirtschaftlichkeit im Bereich der Erbringung sozialer Dienstleistungen zu sichern (Prieß/Krohn, 2005). Gliederungen der verbandlichen Caritas haben sich mit den möglichen rechtlichen Schritten gegen die Ausschreibung einzelner sozialer Dienstleistungen zur Wehr gesetzt. Erste Beschlüsse in Eilverfahren haben die von Caritas und Diakonie vertretene Rechtsposition (Neumann/Nielandt/Philipp 2004) bestätigt; Leistungsvereinbarungen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis seien als Dienstleistungskonzessionen einzustufen und daher keine öffentlichen Aufträge im Sinne des Vergaberechts. Es bleibt abzuwarten, ob es zu einem Hauptsacheverfahren kommt. Die Klärung des Rechtsstreits über den Instanzenweg wird dann einige Jahre dauern. Der Konflikt belastet mittlerweile auch das Verhältnis zwischen den Wohlfahrtsverbänden und den kommunalen Spitzenverbänden (Deufel 2005).

___________ 1

Teile des Beitrages greifen zurück auf: Cremer (2005b).

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II. Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis Im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nimmt der Staat über seine ausführenden Agenturen, die Leistungsträger (= Kostenträger) seine Gesamtverantwortung für die Erbringung sozialer Dienstleistungen in einer besonderen Weise wahr. Mit der Erbringung der sozialen Dienstleistung sind drei Rechtsverhältnisse verbunden: 1. Der Kostenträger bewilligt dem Hilfebedürftigen die Leistung. 2. Die Leistung wird jedoch nicht vom Kostenträger, sondern von frei-gemeinnützigen oder privat-gewerblichen Leistungserbringern erbracht. Regelmäßig ist der Kostenträger zur Übernahme der Kosten nur verpflichtet, wenn zwischen ihm und dem Leistungserbringer vertragliche Vereinbarungen bestehen, in denen die Bedingungen für die Leistungsabwicklung im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis und die Höhe der Vergütung geregelt werden. 3. Der Hilfeberechtigte selbst hat die Wahl, bei welchem Leistungserbringer er die staatliche Leistungszusage einlöst, für welchen Anbieter er sich somit entscheidet. Er schließt mit diesem einen privat-rechtlichen Vertrag über die zu erbringende Leistung. Der Einrichtungsträger, der die Leistung erbringt, erfüllt damit seine eigene Verpflichtung aus dem privat-rechtlichen Vertrag mit dem Hilfeempfänger und handelt nicht im Auftrag und nicht auf Weisung des öffentlichen Kostenträgers. Mit der vertraglichen Vereinbarung, die zwischen Leistungsträger (= Kostenträger) und dem Leistungserbringer, also etwa einer stationären Pflegeeinrichtung, geschlossen wird, ist keine Belegungsgarantie verbunden. Der Kostenträger verpflichtet sich also nicht, für einen vertraglich festgelegten Umfang sozialer Dienstleistungen zu zahlen. Der Leistungserbringer erhält durch den Vertrag nur die Möglichkeit, Leistungen für Leistungsberechtigte zu erbringen. Nur dann, wenn Leistungsberechtigte sich für das Angebot des Leistungserbringers entscheiden, zahlt der Sozialleistungsträger für die erbrachte soziale Dienstleistung. Damit haben die Leistungsvereinbarungen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis große Ähnlichkeit mit Dienstleistungskonzessionen. (Brünner 2005, S. 75 f.). Es kann somit auch von einem Konzessionierungsmodell gesprochen werden.2 Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis ist für die freie Wohlfahrtspflege von zentraler Bedeutung. Es verbindet die staatliche Verantwortung für die Erbringung sozialer Dienstleistungen mit einem pluralen Angebot von Dienstleistungserbringern und dem Wahlrecht der Nutzer. Die freien Träger sind hier___________ 2

Dabei ist bei vielen sozialen Dienstleistungen wie etwa bei der stationären und ambulanten Pflege keine Begrenzung der Zahl der Konzessionsinhaber erforderlich. Das Konzessionierungsverfahren kann sich grundsätzlich darauf beschränken sicherzustellen, dass die konzessionierten Leistungserbringer die soziale Dienstleistung gemäß definierter Qualitätsstandards erbringen können.

Ausschreibung sozialer Dienstleistungen als Problem

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bei nicht reine Auftragnehmer und damit keine Erfüllungsgehilfen des Sozialleistungsträgers, sondern sie sind Träger eigener Aufgaben. Die Hilfeberechtigten können unter den verschiedenen zugelassenen Anbietern wählen; wenn die Zahl der Anbieter nicht künstlich beschränkt wird, ist das Wahlrecht der Hilfeberechtigten gesichert.

III. Kritik am sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis Gegen die Erbringung sozialer Dienstleistungen im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses wird eingewandt, die Stellung des Hilfeberechtigten sei in diesem Modell vergleichsweise schwach. Der Hilfeberechtigte sei zum Empfang der im Versorgungsvertrag zwischen Kostenträger und Leistungserbringer normierten Sachleistung berechtigt. Da Nutzer und Finanzierungsträger nicht identisch sind und zudem die Leistungen normiert sind, könne sich keine Konsumentensouveränität herausbilden. Es funktioniere nicht der bei normalen Marktbeziehungen gegebene „Exit-Mechanismus“, mit dem die Hilfeberechtigten schlechte Leistungen abwählen können (Meyer 1999, S. 102 ff). Die Kritik, die hier vorgenommen wird, vergleicht somit den durch das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis gestalteten Markt sozialer Dienstleistungen mit „normalen“ Märkten für Güter und Dienstleistungen, bei denen die Nutzer auch die Kostenträger sind und über ihre kaufkräftige Nachfrage das Angebot steuern. Dabei ist die Kritik überzogen: Die im Versorgungsvertrag vorgenommene Leistungsbeschreibung lässt Spielraum für Angebotsdifferenzierung und für Qualität oberhalb der geforderten Mindeststandards. Auch innerhalb eines identischen Kostenrahmens gibt es erhebliche Qualitätsunterschiede, etwa aufgrund einer unterschiedlich guten Personalführung oder unterschiedlicher fachlicher Konzepte. Immer dann, wenn die Hilfeberechtigten Wahlmöglichkeiten haben, können sie sich grundsätzlich trotz aller bestehender Informationsasymmetrien über das Leistungsprofil unterschiedlicher Anbieter informieren und grundsätzlich auch den Anbieter wechseln. Da es im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis keine Belegungsgarantie seitens des Kostenträgers gibt, haben diese Wahlentscheidungen Konsequenzen für die Refinanzierung der Leistungsanbieter. Damit haben die Leistungsberechtigten durchaus eine gewisse Sanktionsmacht gegenüber Leistungserbringern mit Schlechtleistungen. Eine eingeschränkte oder gar fehlende Konsumentensouveränität ist nicht zwangsläufige Folge einer Erbringung von sozialen Dienstleistungen im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses. Einschränkungen der Marktmacht der Hilfeberechtigten ergeben sich einerseits aus den politischen Setzungen der Kostenträger über den Leistungsinhalt. Und sie ergeben sich aus spezifischen Gutseigenschaften sozialer Dienstleistungen (Cremer 2005a, S. 40 ff.) oder sind der besonderen Lebenssituation der Nutzer geschuldet, etwa wenn sie aufgrund von Gebrechlichkeit oder Demenz nicht mehr selbst in der

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Lage sind, ihre Interessen als Nutzer zu vertreten oder wenn, wie etwa im Bereich der stationären Pflegeeinrichtungen, die psychischen Kosten eines Anbieterwechsels für hochbetagte Nutzer sehr hoch sind. Allerdings werden die hierin liegenden Einschränkungen der Konsumentensouveränität nicht dadurch überwunden, dass das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis durch ein Vergabeverfahren ersetzt wird. Wenn das Vergabeverfahren – wie weiter unten ausgeführt – die Wahlmöglichkeiten der Hilfeberechtigten einschränkt oder im Falle der Auftragsvergabe an nur einen Anbieter einer sozialen Dienstleitung gänzlich aufhebt, sinkt das Sanktionspotential der Nutzer. Die Kritik am sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis wird durch diese Entgegnung nicht irrelevant. Es ist durchaus lohnend über Reformen bei der Erbringung und Finanzierung sozialer Dienste insbesondere darüber nachzudenken, wie die Stellung der Hilfeberechtigten gestärkt werden kann, etwa indem ihnen durch persönliche Budgets Handlungsoptionen eingeräumt werden, die der Stellung von Kunden in „normalen“ Märkten näher kommt. Der Übergang zu Ausschreibungen wäre allerdings, wie darzulegen ist, ein Schritt, der die Stellung der Hilfeberechtigten schwächt.

IV. Ausschreibung sozialer Dienstleitungen nach Vergaberecht Ausschreibungen der öffentlichen Hand sollen bei Beschaffungen und Aufträgen des Staates die öffentlichen Haushalte schonen und eine Vergabe nach den Richtlinien des europäischen Wettbewerbsrechts und damit gleiche Chancen für die Anbieter sichern. Sie sollen also den Wettbewerb auch bei der Nachfrage des Staates gewährleisten. Ausschreibungen sind an genaue Voraussetzungen gebunden. Der Ausschreibende muss Umfang und Art der Leistungen im Detail vorgeben, da sonst die Preise der Bieter nicht sinnvoll verglichen werden können. Wenn im Folgenden von Ausschreibungen sozialer Dienstleistungen die Rede ist, so sind allein Ausschreibungen nach dem Vergaberecht gemeint. Der Kostenträger definiert Leistungsinhalt und Leistungsumfang. Er vergibt diese Leistungen nach Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens. Die Vergabe kann je nach Definition der Losgröße an einen oder mehrere Leistungsträger erfolgen. Mit diesem bzw. diesen Anbietern schließt der Kostenträger eine exklusive Vereinbarung. Andere Anbieter sind für die Dauer der Vereinbarung in diesem Segment des Marktes sozialer Dienstleistungen von der Leistungserstellung ausgeschlossen. Andere Anbieter können nur tätig werden, soweit es Nachfrager nach dieser sozialen Leistung gibt, die zu einer Unterstützung durch den Kostenträger nicht berechtigt sind bzw. auf diese verzichten, bei Selbstzahlern also. Das Vergabeverfahren ist dabei regelmäßig mit

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einer Belegungsgarantie verbunden. Der Auftraggeber hat mit dem Vergabeverfahren Dienstleistungen in einem definierten Umfang eingekauft und muss sie bezahlen, unabhängig davon, ob Hilfeberechtigte diese nutzen. Somit trägt der Kostenträger das Belegungsrisiko. Die Belegungsgarantie hat zwei zwingende Voraussetzungen: Der Kostenträger muss der Ausschreibung eine Bedarfsplanung zugrunde legen. Zudem muss er das Wahlrecht der Hilfeberechtigten beschränken: Dieser kann nur unter den Anbietern wählen, mit denen der Kostenträger eine solche exklusive Vereinbarung abgeschlossen hat und nur insoweit, wie in den vergebenen Kontingenten noch Plätze frei sind. Wird die soziale Dienstleistung nur an einen Anbieter vergeben, entfällt das Wahlrecht ganz.

V. Scheinargument: Wettbewerb nicht geeignet Aus dem Bereich der freien Wohlfahrtspflege werden gegen Ausschreibungen nach Vergaberecht auch Argumente vorgebracht, die nicht stichhaltig sind oder die nicht genügend differenzieren, ob der vorgebrachte Sachverhalt zwangsläufig mit dem Ausschreibungsmodell verbunden ist oder Folge seiner unsachgemäßen Anwendung ist. Ein eindeutiges Scheinargument ist die Position, Ausschreibungen seien deswegen unangemessen, da sich wettbewerbliche Verfahren bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen nicht eignen würden. Das Argument widerspricht zum einen dem Faktum, dass ein Wettbewerb bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen längst etabliert ist. Im Pflegesektor hat der Gesetzgeber mit der Verabschiedung des Sozialgesetzbuches XI deutlich dokumentiert, dass er stärker wettbewerbliche Elemente nutzen will. Der bedingte Vorrang, den frei-gemeinnützige Träger sozialer Dienste und Einrichtungen bis dahin hatten, ist dem bedingten Vorrang aller nicht-staatlichen Träger, einschließlich der privat-gewerblichen Träger gewichen. Dieser Wettbewerb hat auch für die sozialen Dienstleistungen der Wohlfahrtsverbände, etwa im Bereich der ambulanten Pflege, Anreize gesetzt, ihr Dienstleistungsangebot im Sinne der Hilfeberechtigten zu verbessern. Das Argument, wettbewerbliche Verfahren würden sich für soziale Dienstleistungen nicht eignen, ist für die Auseinandersetzung zwischen einer Gestaltung im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses und einer Ausschreibung gemäß Vergaberecht völlig nutzlos. Denn sowohl im Konzessionierungsmodell als auch im Vergabemodell findet Wettbewerb statt. Der Unterschied ist allerdings, dass der Schwerpunkt der wettbewerblichen Auseinandersetzung sehr unterschiedlich ist. Im Konzessionierungsmodell ist jeder Leistungserbringer, da er nicht über eine Belegungsgarantie verfügt, sondern lediglich zur Dienstleistungserbringung zugelassen ist, darauf angewiesen, Hilfeberechtigte zu überzeugen, sich bei Bedarf an einer sozialen Dienstleistung für ihn als Dienstleister zu entscheiden. Der Wettbe-

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werb findet also – immer vorausgesetzt, es gibt genügend konzessionierte Anbieter mit freien Kapazitäten – um die Hilfeberechtigten statt. Dieser Wettbewerb sichert trotz der Besonderheiten des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses den Nutzern einen gewissen Einfluss auf die Dienstleistungserbringung. Im Vergabemodell findet der Wettbewerb vorwiegend im Vergabeprozess selbst statt. Die Dienstleister stehen im Wettbewerb um die Gunst des vergebenden Kostenträgers. Aufgrund der Belegungsgarantie ist der Zwang zur Kundenorientierung schwächer ausgeprägt. Es geht also nicht, wie das referierte Scheinargument suggeriert, um die Frage, ob ein wettbewerbliches Verfahren angewandt werden soll, sondern darum, wie Wettbewerb zu gestalten ist. Es geht darum, ob das sozialrechtliche Wettbewerbsmodell durch das vergaberechtliche Wettbewerbsmodell ersetzt werden soll. Aus Sicht der freien Wohlfahrtspflege ist es ärgerlich, wenn das Scheinargument fehlender Eignung wettbewerblicher Verfahren aus ihren Reihen selbst verwandt wird. Denn es unterstützt das hiermit korrespondierende Scheinargument auf Seiten der Kostenträger, die Ausschreibung sei das eigentliche wettbewerbliche Verfahren zur Vergabe sozialer Dienstleistungen. Wer also gegen die Ausschreibung sozialer Dienstleistungen ist, sei, so eine beliebte Sichtweise auf Seiten der Kostenträger, damit gleichzeitig gegen den Wettbewerb und wolle offensichtlich nur seine bisherige privilegierte Stellung bei der Leistungserbringung verteidigen. Alte wettbewerbsfeindliche Argumentationsmuster sind sachlich unangemessen und für die freie Wohlfahrtspflege politisch kontraproduktiv.

VI. Billigstanbieterargument In der Diskussion zur Ausschreibung sozialer Dienstleistungen nach Vergaberecht wird von Vertretern aus den Wohlfahrtsverbänden eingewandt, dieses Verfahren führe dazu, dass mit der Entscheidung für den billigsten Anbieter Qualitätsgesichtspunkte zwangsläufig vernachlässigt würden und auch die Frage der Eignung der Mitbieter zu einer fachlich angemessenen, nachhaltigen Dienstleistungserbringung nicht berücksichtigt würde. Natürlich sind in einem professionell durchgeführten Ausschreibungsverfahren nach Vergaberecht diese Gefahren keineswegs zwangsläufig. Zu den zwingenden Voraussetzungen für ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren gehört die Festlegung der einzuhaltenden Qualitätsstandards, weil sonst die Angebote nicht verglichen werden können. Die Prüfung der Leistungsfähigkeit der Anbieter ist Teil des Vergabeverfahrens. Die Entscheidung selbst erfolgt nach dem Bestbieterprinzip und nicht nach dem Prinzip des Billigstanbieters; der Preis ist also nicht zwangsläufig das einzige Kriterium. Die Entscheidung kann gemäß des Bestbieterprinzips für einen Bieter getroffen werden, der preislich (etwas) höher

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liegt, aber ein besseres Preis-Leistungsverhältnis ausweist (Prieß/Krohn 2005, S. 36 f.). Bei diesem grundsätzlich berechtigten Einwand der Befürworter des Vergabeverfahrens gegen das „Billigstanbieterargument“ gibt es eine spezifische Problematik. Der Kostenträger ist nicht gleichzeitig der Nutznießer des besseren Preis-Leistungsverhältnisses. Er muss also bereit sein, ein gewisses Maß an Mehrkosten zu tragen, um Qualitätselemente zu ermöglichen, die der Billigstbieter nicht anbieten kann. Im Ausschreibungsmodell ist wie im Konzessionierungsmodell der Nutznießer nicht gleichzeitig der Kostenträger. Diese Problematik ist beiden Modellen inhärent. Die politische Auseinandersetzung, welche sozialen Standards herrschen sollen, muss in beiden Modellen geführt werden. Im Pflegebereich (SGB XI) sind mittlerweile aussagefähige Leistungsdefinitionen durch die Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen (LQV) erreicht worden. Diese sind sanktionsbewährt. Ein Träger, der die Vereinbarung nicht einhält, kann, auch rückwirkend, mit einer Kürzung des Pflegegeldes sanktioniert werden. Man muss denjenigen, die dieses qualitätsbezogene „Billigstanbieterargument“ gegen das Vergabemodell vorbringen, konzedieren, dass genau die befürchteten Entwicklungen derzeit zu beobachten sind. So haben bei den Ausschreibungen berufsvorbereitender Bildungsmaßnahmen (BvB) durch die Einkaufszentren der Agentur für Arbeit auch Bieter gewonnen, die in diesem Arbeitsfeld keinerlei Erfahrung hatten, nicht über entsprechend qualifiziertes Personal verfügten und erhebliche Defizite bei der Leistungserbringung aufwiesen. Dies ist aber mehr ein Indiz für schlecht durchgeführte Vergabeverfahren und stützt keinen grundsätzlichen Einwand. Weit problematischer als diese Verfahrensmängel, die abzustellen auch im Interesse der Kostenträger ist, ist die Gefahr, dass der Übergang vom Konzessionierungsmodell zum Vergabemodell genutzt wird, um Qualitätsstandards abzusenken. Im Konzessionierungsmodell werden Qualitätsstandards grundsätzlich zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern vereinbart. Es ist selbstverständlich möglich, dieselben Qualitätsstandards auch der Ausschreibung nach Vergaberecht vorzugeben. Die Befürchtung ist, dass angesichts der Haushaltssituation vieler Kostenträger die Qualitätsvorgaben des Vergabeverfahrens abgesenkt werden und ein soziales Dienstleistungsangebot zu den bisher gültigen Standards aufgrund der damit verbundenen Mehrkosten nicht im Ausschreibungsverfahren obsiegen kann. Die Standardabsenkung ist dann eine Folge abgesenkter Qualitätsvorgaben der Kostenträger und nicht eines Wechsels vom Konzessionierungsmodell zum Angebotsmodell. Eine Standardabsenkung ist auch im Konzessionierungsmodell möglich, wenn die Kostenträger die getroffenen Vereinbarungen zu den Qualitätsstandards kündigen. Allerdings wäre dies möglicherweise für die Kostenträger politisch schwieriger durchzusetzen, da dann die Standardabsenkung nicht durch einen synchron verlaufenden Systemwechsel verdeckt würde.

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VII. Welches Modell garantiert Wahlfreiheit? Die bisher referierten Argumente sind entweder Scheinargumente oder betonen Probleme, die mit einem Ausschreibungsverfahren nach Vergaberecht nicht zwangsläufig verbunden sind. Sie tangieren also nicht den Kern der notwendigen Auseinandersetzung. Entscheidend ist die Frage, welches Modell überlegen ist, das Wahlrecht der Hilfeberechtigten zu sichern und gleichzeitig ein fachlich gutes und kostengünstiges Angebot sozialer Dienstleistungen sicherzustellen. Eine Beschränkung des Angebots auf einen oder wenige Anbieter sollte dabei nur dann statthaft sein, wenn sie sich aus den Bedingungen der jeweiligen sozialen Aufgabenstellung selbst ergibt oder für definierte soziale Ziele unverzichtbar ist. Die Frage der Wahlfreiheit und damit der Entscheidungssouveränität der Hilfeberechtigten sollte im Zentrum des Konflikts zwischen dem Konzessionierungsmodell des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses und dem Vergabemodell stehen. In vielen Fällen staatlicher Nachfrage ist eine Ausschreibung nach Vergaberecht unverzichtbar. Will der Staat beispielsweise eine Brücke über einen Fluss bauen, so ist ein Ausschreibungsverfahren zwingend für eine kostengünstige Leistungserstellung. Ein faires und ordnungsgemäß durchgeführten Ausschreibungsverfahren gibt allen qualifizierten Bauträgern eine Chance, den Auftrag zu erhalten, es zwingt sie zu einer möglichst günstigen Kostenkalkulation und es grenzt die Gefahr missbräuchlicher Absprachen zwischen staatlichen Amtsträgern und Auftragnehmern deutlich ein. Beim Bau der Brücke kann am Schluss nur ein Bauträger zum Zuge kommen, somit muss dieser in einem möglichst fairen Verfahren bestimmt werden. Die Alternative zur Ausschreibung wäre nur die freihändige Vergabe mit all ihrer Missbrauchsanfälligkeit. Was ist nun genau der Unterschied zu sozialen Dienstleistungen? Dies sei am Beispiel der ambulanten und stationären Pflege im Bereich der Altenhilfe erläutert. Weder ist eine staatliche Bereitstellung der sozialen Dienstleistung erforderlich, noch muss staatlicherseits bestimmt werden, welcher bzw. welche Leistungserbringer die stationären und ambulanten Dienste vorhalten sollen. Es ist völlig ausreichend, wenn die staatliche Sozialpolitik sicherstellt, dass auch diejenigen, die aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögenssituation ohne Unterstützung nicht die Pflegeleistungen nachfragen können, hierzu in die Lage versetzt werden. Dies wird in Deutschland durch die Pflegeversicherung (SGB XI) und durch die im Fall der Bedürftigkeit erfolgende ergänzende Kostenübernahme der örtlichen Träger der Sozialhilfe gewährleistet. Zur Leistungserbringung müssen alle Anbieter zugelassen werden, die hierzu fachlich in der Lage sind; sie haben einen gesetzlich verbrieften Zulassungsanspruch. Eine Bedarfsplanung ist im SGB XI explizit nicht vorgesehen. Die Entscheidung, bei welchem Leistungserbringer sie sich schließlich pflegen oder betreuen lassen,

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entscheiden die Hilfeberechtigten selbst. Sie verfügen über ein im Sozialgesetzbuch verankertes Wunsch- und Wahlrecht. Zudem wäre die staatliche Sozialpolitik aufgrund ihrer Gewährleistungspflicht gefordert, wenn sich trotz der Rahmensetzung durch SGB XI und ergänzende Sozialhilfe nicht genügend frei-gemeinnützige oder privat-gewerbliche Leistungsträger fänden, Pflegeleistungen anzubieten. Dieses Problem ist aber im Pflegebereich nicht relevant. Grundsätzlich ließe sich auch der Zugang von Leistungserbringern zur ambulanten und stationären Pflege im Bereich der Altenhilfe durch Ausschreibungen nach Vergaberecht regeln. Dazu müssten aber planwirtschaftlich Kontingente für die ambulante und stationäre Versorgung festgelegt werden. Die bisher dezentral erfolgende Nachfrage bei im Konzessionierungsmodell zugelassenen Leistungserbringern müsste also erst künstlich staatlicherseits zentralisiert werden, um dann ausgeschrieben zu werden. Dieses Verfahren würde es zudem erfordern, die Kostenerstattung durch Pflegekassen und Sozialhilfe auf die Leistungserbringer zu beschränken, die im Ausschreibungsverfahren den Zuschlag erhalten haben. Denn wäre diese Beschränkung nicht gegeben, wären also auch andere Leistungserbringer zur Dienstleistung und entsprechender Kostenerstattung zugelassen, wäre man faktisch wieder im Konzessionierungsmodell. Der Zuschlag in einem Ausschreibungsverfahren wäre für die Leistungserbringer ohne Wert. Aufgrund der Beschränkung auf die Gewinner der Ausschreibung könnten die Hilfebedürftigen nur in den Einrichtungen unterkommen, die im Rahmen dieses Kontingents einen Zuschlag erhalten haben. Eine Ausschreibung nach Vergaberecht ist im Pflegesektor ordnungspolitisch nicht zu begründen, da es mit dem Konzessionierungsverfahren ein weniger dirigistisches Verfahren gibt. Im Ausschreibungsverfahren muss staatlicherseits nicht nur eine Bedarfsplanung erfolgen. Es muss bestimmt werden, in welchen Losgrößen die Ausschreibung erfolgt. Stationäre Einrichtungen der Altenhilfe sind nicht einfach Orte einer Dienstleistungserbringung, sondern Wohnorte, an denen Hilfeberechtigte ihre letzte Lebensphase verbringen. Man muss, soll das Wahlrecht nicht gänzlich aufgehoben werden, also auch auf weltanschauliche und religiöse Bindungen der Hilfeberechtigten Rücksicht nehmen. Also müssen in einem Ausschreibungsverfahren die Losgrößen so bestimmt und die Entscheidungen so getroffen werden, dass Pluralität der Träger gesichert werden kann. Dies wäre eine staatlicherseits organisierte Pluralität. Im Konzessionierungsmodell dagegen ergibt sich die Pluralität zum einen aufgrund der Entscheidungen der Träger der Dienste und Einrichtungen, die Pflegeleistungen anbieten wollen und die – wenn sie hierfür die Voraussetzungen erbringen – zugelassen werden müssen. Zum anderen ergibt sich die im Markt verwirklichte Pluralität aus den Auswahlentscheidungen der Hilfeberechtigten, denn nur die Träger können ihre Belegung sichern und ihr Angebot dauerhaft

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aufrechterhalten, die Hilfeberechtigte überzeugen können, sich für das Angebot ihrer Einrichtung zu entscheiden. Wie dargelegt, betreffen die derzeitigen Auseinandersetzungen zur Ausschreibung sozialer Dienstleistungen noch nicht den Bereich der stationären und ambulanten Pflege. Aber es wäre durchaus denkbar, dass künftig Kostenträger dies anstreben könnten, wenn das Verständnis für die Vorteile des Konzessionierungsmodells des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses bei Sozialpolitikern, Kommunen und auch Gerichten weiter schwindet. Es ist eine zentrale ordnungspolitische Frage, ob auch künftig im Bereich der sozialen Dienstleistungen das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfeberechtigten gewahrt wird, ob über eine Konzessionierung nicht-staatlicher Träger Pluralität gesichert wird und ob in diesem Rahmen auch frei-gemeinnützige Träger einen eigenständigen Auftrag erfüllen können, der über die Rolle eines reinen Auftragnehmers hinausgeht . Dies ist keineswegs unstrittig. So schreibt Wolfgang Schäfer, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, eines Verbandes, der in gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der verbandlichen Caritas zu Ausschreibungen sozialer Dienstleistungen erstinstanzlich unterlegen ist: „Vermutlich wird das Wunsch- und Wahlrecht ohnehin überbewertet.“ (Schäfer 2005, S. 51). Der Landschaftsverband beabsichtigte, bei der Ausschreibung von Leistungen im Bereich des ambulant betreuten Wohnens dem Wunsch- und Wahlrecht dadurch Rechnung zu tragen, dass bis zu 10% der Hilfeberechtigten die Möglichkeit erhalten, bei anderen Leistungserbringern als derjenigen, die den Zuschlag erhalten haben, betreut zu werden. Dies wäre ein sehr beschränktes Wahlrecht auf Antrag. Der Träger der Sozialhilfe hätte zu entscheiden, wer ein solches Wahlrecht ausüben darf. Auch die Auseinandersetzung zwischen Wohlfahrtsverbänden und kommunalen Spitzenverbänden zu leistungsrechtlichen Fragen zeigt, dass das Wunsch- und Wahlrecht als grundlegendes Prinzip der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen nicht mehr unangefochten ist. Im Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, in dem Vertreter beider Gruppen vertreten sind, scheiterte 2004 eine politische Erklärung zu leistungsrechtlichen Fragen daran, dass die kommunale Seite nicht bereit war, ein grundsätzliches Bekenntnis zu diesem Prinzip in die Erklärung aufzunehmen. Es mag sein, dass das Wunsch- und Wahlrecht bei einem Teil der sozialen Dienstleistungen derzeit nur von einer Minderheit wahrgenommen wird, etwa weil Hilfeberechtigte ungenügend informiert sind. Es wäre aber ein eklatanter Widerspruch zu einer Sozialpolitik, die stärker als in der Vergangenheit die Eigenverantwortung betont, wenn den Hilfeberechtigten oder ihren für sie handelnden Betreuungspersonen die Entscheidung entzogen würde, in welcher Einrichtung Pflege geleistet werden soll.

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VIII. Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit Die Beschränkung der Leistungserbringung auf die Gewinner in der Ausschreibung hat Folgen für die künftigen potentiellen Anbieter. Eine Bauunternehmung, die im Ausschreibungsverfahren für ein konkretes Bauprojekt der öffentlichen Hand unterliegt, kann sich bei anderen staatlichen Bauprojekten bewerben oder für private Bauherren tätig werden. Dagegen sind Sozialhilfeträger Gebietskörperschaften und auf ihrem Gebiet all zuständig für die Sozialhilfe. Würde beispielsweise ein Sozialhilfeträger Leistungen der stationären Behindertenhilfe nach Vergaberecht ausschreiben, so könnte ein allein in dessen Zuständigkeitsgebiet tätiger Träger, der bei der Vergabe nicht berücksichtigt wird, für die Dauer der Vergabezeit für Hilfeberechtigte, die keine Selbstzahler sind, nicht tätig werden. Die Vergabezeit bei stationären Einrichtungen wird die langen Amortisationszeiten von Bauinvestitionen von ca. 30 Jahren berücksichtigen müssen. Der Markt für Selbstzahler ist klein; eine Begrenzung auf Selbstzahler wäre zudem für frei-gemeinnützige Träger nicht leitbildkonform. Ein örtlich tätiger nicht zum Zuge kommender Leistungserbringer hätte also nur ein äußert beschränktes Tätigkeitsfeld und es wäre äußerst fraglich, ob er die Vergabezeit überbrücken kann und damit nach Ablauf der Vergabezeit als Mitbieter in einem neuen Ausschreibungsverfahren zur Verfügung steht. Neumann (2005, S. 6 f.) hält daher die Vergabe von Sozial- und Jugendhilfeleistungen nach dem Vergaberecht für verfassungsrechtlich unzulässig. Denn der mit der Vergabe verbundene Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit ist eine Berufsausübungsregelung, die in ihren Auswirkungen einer objektiven Berufswahlregelung nahe kommt und daher an deren erhöhten Rechtfertigungsanforderungen zu messen ist. Diese Rechtfertigungsprüfung scheitert, so Neumann, bereits auf der Prüfungsstufe der Erforderlichkeit, da der intendierte Wettbewerb zwischen Anbietern sozialer Dienstleistungen ohne den gravierenden Eingriff in die Berufsfreiheit im Konzessionierungsverfahren des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses garantiert werden kann. Zudem ist der Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit auch nicht erforderlich, um den Zugang der Bedürftigen zu staatlicher Unterstützung zu regeln. Der Eingriff könnte dann gerechtfertigt werden, wenn er „zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“, wie etwa die Sicherstellung der finanziellen Stabilität der sozialen Sicherungssysteme erforderlich ist (BAGFW 2005, S. 7). Dies ist aber im Bereich Sozial- und Jugendhilfeleistungen und in gleicher Weise im Bereich der Pflegeleistungen nicht der Fall (Brünner 2001, S. 109, 151). Die Kostenträger haben hier auch bei der Dienstleistungserbringung im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis die Mengensteuerung in der Hand, da sie per Verwaltungsakt über die Gewährung der Hilfe entscheiden. Sie können in jedem Einzelfall vor der Leistungserbringung den individuellen Bedarf prüfen. Dies unterscheidet den Pflegebereich von medizi-

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nischen Leistungen, bei denen, da die Ärzte selbst gemeinsam mit dem Patienten über die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen entscheiden, die Problematik der „angebotsorientierten Nachfrage“ gegeben ist. Mit der Zahl der niedergelassenen Ärzte stiegen vor Einführung der Budgetierung auch die abgerechneten Leistungen, obwohl die Bevölkerung sicherlich nicht schlagartig kränker wurde. Aber bei vielen ambulanten und stationären sozialen Dienstleistungen spielt die „angebotsinduzierte Nachfrage“ keine Rolle. Ausschreibungen oder andere Instrumente der Bedarfsplanung sind also nicht nötig um zu verhindern, dass aus wirtschaftlichen Erwägungen der Leistungserbringer heraus unnötige Leistungen erbracht werden. Die Argumentation von Neumann für den Bereich der Sozial- und Jugendhilfeleistungen wäre auch für den Pflegebereich (SGB XI) relevant, wenn auch dort versucht würde, vom sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell zum vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell überzugehen und wenn (wie bisher im Rahmen des SGB XI) Pflegekassen und der örtliche bzw. überörtliche Träger der Sozialhilfe gemeinschaftlich aufträten. Nicht unmittelbar tangiert wäre die Freiheit der Berufswahl, wenn jede einzelne Pflegekasse die Leistungen für die jeweils bei ihr versicherten Personen ausschreiben würde. Allerdings würde dies die Wahlrechte der Versicherten drastisch beschneiden (im Extremfall nur auf die Wahl der jeweiligen Pflegekasse). Schriebe der Träger der Sozialhilfe stationäre Pflegeleistungen aus, so wären für die Personen, die im Falle des Bedarfs an einer stationären Pflegeleistung auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind, die Wahlmöglichkeiten beschränkt auf die Vertragsanbieter des Trägers der Sozialhilfe oder entfielen, wenn dieser nur mit einem Anbieter einen Vertrag abschlösse, ganz. Allerdings bliebe unterlegenen Teilnehmern eines Ausschreibungsverfahrens noch die Möglichkeit, mit den Pflegekassen Verträge abzuschließen. Zusammenfassend: Die Ausschreibung verlagert den Wettbewerb zwischen den Erbringern sozialer Dienste vom Wettbewerb um die Nutzer ihrer Dienste auf einen Wettbewerb um den staatlichen Zuschlag im Ausschreibungsverfahren. Die ausschreibende Instanz allein würde entscheiden, welches Angebot mit welcher Qualität im Interesse der Nutzer erforderlich ist. Dies würde nicht mehr durch Wahlentscheidungen der Hilfeberechtigten geschehen. Diese hätten damit auch keine Möglichkeit, Qualitätskontrolle „mit den Füßen“ wahrzunehmen, das heißt, den Anbieter zu wechseln, wenn sie mit seinen Leistungen unzufrieden sind. Sie wären auf die im Ausschreibungsverfahren bestimmten Anbieter angewiesen. Die Verantwortung der Qualitätskontrolle läge allein beim Kostenträger, er könnte sich darauf berufen, die bei der Ausschreibung zugesicherten Standards seien nicht eingehalten worden, oder er könnte bei mangelhafter Qualität dem Leistungserbringer drohen, ihn bei künftigen Ausschreibungen nicht zu berücksichtigen. Abgesehen von der Frage, ob Kostenträger als Anwälte der Qualitätskontrolle in den von ihnen zu finanzierenden

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Diensten und Einrichtungen nicht häufig in Widerspruch geraten zu ihren Interessen an Ausgabenbegrenzung: Die Rückmeldung „mit den Füßen“, die die ihre eigenen Interessen vertretenden Hilfeberechtigten oder ihre Betreuungspersonen den Erbringern sozialer Dienstleistungen geben können, ist unverzichtbarer Bestandteil einer angemessenen Qualitätskontrolle und ist im Hinblick auf die Nutzerzufriedenheit in aller Regel wirksamer als behördliche Kontrolle durch die Kostenträger.

IX. Wie steht es mit der Kostenersparnis? Die Ausschreibung gewinnt Anhänger unter den Kostenträgern, da sie sich hiervon Kostensenkungen versprechen. Wenn es so wäre, dass ausgeschriebene Leistungen bei gleicher Qualität deutlich günstiger zu erbringen wären als bei einem Angebot unter den Bedingungen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses, dann liefe allerdings etwas schief. Ob dies so wäre, ist derzeit nicht ausgemacht. Die Ergebnisse der Leistungserbringung unter den Bedingungen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses können insbesondere dann unbefriedigend sein, wenn das Angebot ungenügend ist und daher Nutzer erst über Wartelisten Zugang zu einer Dienstleistung erhalten. Dann läuft das Wunsch- und Wahlrecht ins Leere. Aber warum bleibt das Angebot ungenügend? Häufig begrenzen die Kostenträger das Angebot künstlich, bewusst durch das Instrument der staatlichen Bedarfsplanung bzw. faktisch über die Objektförderung. Diese Instrumente wirken als Zutrittsschranken für neue Anbieter, übrigens keineswegs nur für privat-gewerbliche Träger, sondern auch für Träger der freien Wohlfahrtspflege. Bei einer durch Bedarfsplanung vollzogenen künstlichen Verknappung des Angebots bestehen keine oder nur sehr eingeschränkte Wahlalternativen und können auch vergleichsweise teure Einrichtungen auf Belegung hoffen. Denn diejenigen, die den Teil der Kosten, den ihre Pflegekasse nicht trägt, selbst zahlen, können mangels freier Plätze möglicherweise einem freien Platz in einer teueren Einrichtung nicht ausweichen. Und bei denjenigen, die auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind, kann unter diesen Bedingungen das Instrument des Mehrkostenvorbehalts nicht greifen, unter dem ihr Wahlrecht legitimer Weise steht. Mit dem Mehrkostenvorbehalt können Kostenträger dem Wunsch eines Hilfeberechtigten nach Finanzierung eines bestimmten Dienstes oder eines Platzes in einer Einrichtung widersprechen, wenn dieser Dienst oder die Einrichtung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist gegenüber Alternativen, die den Hilfebedarf ebenfalls erfüllen. Der Mehrkostenvorbehalt nutzt den Kostenträgern also nur, wenn sie Alternativen nachweisen können. Die Begrenzung der Anbieter und die Verknappung des Angebots und damit der Mangel an Alternativen ist aber Folge der Politik der Kostenträger, die also selbst das Problem erzeugen, das ein Teil von ihnen mit der Abkehr von sozial-

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rechtlichen Dreiecksverhältnis lösen will. Entfällt diese künstliche Verknappung, so entsteht ein starker Anreiz für die Einrichtungsträger, ein gutes Preis-Leistungsverhältnis sicherzustellen, da sie nur so ihre Belegung sichern können. Es ist keineswegs belegt, dass das vergaberechtliche Wettbewerbsmodell gegenüber dem sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell bei gleicher Qualität der Dienstleistungen zu Kostensenkungen führt. Wie ausgeführt, ist im Pflegebereich eine Angebotssteuerung durch die Kostenträger, die mit der Vergabe nach Wettbewerbsrecht zwangsläufig verbunden wäre, nicht erforderlich, um eine angebotsinduzierte Nachfrage zu verhindern, da seitens der Kostenträger in jedem Einzelfall per Verwaltungsakt über die Gewährung der Hilfe entschieden wird. Kostensenkungen über Ausschreibungen zu erreichen wäre dann möglich, wenn die ausschreibenden Kostenträger die Menge des Angebots so begrenzen würden, dass ein gegebener rechtlicher Hilfeanspruch faktisch nicht erfüllt werden könnte, also trotz Bedürftigkeit kein stationärer Altenpflegeplatz oder kein Therapieplatz zur Verfügung stünde. Dies wäre eine Rationierung der Hilfe über Wartelisten, wie sie auch in anderen hochdirigistischen Hilfesystemen vorkommt. Zu dieser Absicht bekennt sich derzeit jedoch keiner der Kostenträger, die die Ausschreibung favorisieren. Allerdings wäre die Versuchung für Kostenträger hoch, über die Bedarfsplanung das Angebot zu verknappen, um so Anträge auf Kostenübernahme ins Leere laufen zu lassen. Kostensenkungen über Ausschreibungen wären zudem dann zu erwarten, wenn mit der Umstellung der Regeln der Leistungserbringung die Qualitätsstandards abgesenkt würden. Nur ist es unredlich, Kostensenkung durch den Aufbau von Wartelisten oder durch Absenkung der Qualitätsstandards als Effizienzgewinn eines vermeintlich neu eingeführten wettbewerblichen Verfahrens zu verkaufen. Wie dargelegt, geht es nicht darum, einen wettbewerbsfreien Zustand durch Wettbewerb zu ersetzen, sondern um die Auseinandersetzung zwischen dem sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell und dem vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell. Das vergaberechtliche Wettbewerbsmodell gibt den Kostenträgern aufgrund der Instrumente der Bedarfsplanung, der Beschränkung der Anbieter auf die Gewinner der Ausschreibung und der detaillierten Vorgabe der Leistungsinhalte die Möglichkeit, bisher bestehende rechtliche Ansprüche und Qualitätsstandards zurückzuschrauben, ohne dies offen ausweisen zu müssen. Selbstverständlich können auch im sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell bisher geltende Ansprüche eingeschränkt werden. Nur muss dies dann von den sozialpolitischen Instanzen offen vertreten werden, was – wie beispielsweise die heute deutlich restriktivere Handhabung bei der Genehmigung von Kuren zeigt – mit Konflikten verbunden ist. Es ist zu befürchten, dass die Ausschreibung nach Vergaberecht bei Sozialpolitikern auf der kommunalen Ebene deshalb viele Anhänger hat, weil man die offene Auseinandersetzung über Ansprüche auf Hilfe und über Standards scheut. Der Zwang seitens der Kostenträger, sich bezüglich Hilfeansprüchen und Qualitätsstandards einem offenen politischen Dia-

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log zu stellen, ist aus meiner Sicht ein eindeutiger Vorteil des sozialrechtlichen Vergabeverfahrens.

X. Wettbewerb im Markt oder Wettbewerb um den Markt? Letztlich geht es bei der Auseinandersetzung zwischen dem sozialrechtlichen und dem vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell darum, ob die Träger sozialer Dienstleistungen bei den jeweiligen Kostenträgern um eine andere Anbieter ausgrenzende Zulassung kämpfen oder ob alle Leistungserbringer, die die öffentlich gesetzten bzw. zwischen den Kostenträgern und Leistungserbringern vereinbarten Bedingungen der Leistungserbringung erfüllen, ihre Dienstleistungen anbieten können und darauf angewiesen sind, die Hilfeberechtigten zu überzeugen, sich für ihr Angebot zu entscheiden. In der wettbewerbspolitischen Diskussion ist die Unterscheidung gebräuchlich zwischen dem „Wettbewerb um den Markt“ und dem „Wettbewerb im Markt“. Beim Kampf um den Sieg im Vergabeverfahren handelt es sich um einen „Wettbewerb um den Markt“, denn der Sozialleistungsträger (= Kostenträger) beschränkt das soziale Dienstleistungsangebot für die Dauer der Vertragszeit auf den bzw. die Gewinner im Vergabeverfahren. Dagegen stehen die Leistungserbringer im sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell, bei dem alle die Bedingungen der Leistungserbringung erfüllenden Anbieter einen Zulassungsanspruch haben, in einem „Wettbewerb im Markt“. Sie müssen ihre Position jederzeit gegen andere Leistungserbringer einschließlich von Neuzugängern behaupten. Auch bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen gilt die generell getroffene Feststellung des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium: „Der Wettbewerb um den Markt … ist nur ein unvollkommener Ersatz für den Wettbewerb im Markt“. (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWT 2002, S. 15) Betrachten wir hierzu die vier klassischen Funktionen des Wettbewerbs, die Freiheitsfunktion, die Verteilungsfunktion, die Allokationsfunktion und die Entdeckungsfunktion (Knieps 2001, S. 4). Dann ist keineswegs erkennbar, warum der Übergang vom sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell zum vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell unter allen Bedingungen, in denen soziale Dienstleistungen von einer Vielfalt von Leistungserbringern erbracht werden können, Vorteile bringen soll. 1. Freiheitsfunktion: Der Wettbewerb soll Handlungs- und Wahlfreiheit sichern. In der Sicherung der Wahlfreiheit der Hilfeberechtigten und der Berufsfreiheit der Leistungserbringer ist das sozialrechtliche Wettbewerbsmodell eindeutig überlegen. 2. Verteilungsfunktion: Der Wettbewerb soll verhindern, dass nicht leistungsgerechte Einkommen entstehen bzw. soll diese abbauen. Verzichten die Leistungsträger auf eine zumindest im Bereich der Pflege systemwidrige Bedarfsplanung mit der Folge von nutzerfeindlichen Wartelisten, so greift das Instrument des Mehrkostenvorbehalts bei der Wahl

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der Leistungserbringer durch Bedürftige. Zudem haben dann auch die Selbstzahler mehr Wahlrechte und können Druck auf die Leistungserbringer ausüben. Dies lässt dann kaum Spielraum für nicht leistungsgerechte Einkommen. Tritt die u.a. von Neumann (2005, S. 6 f) geäußerte Befürchtung bezüglich des Vergabeverfahrens ein, dass unterlegene Leistungserbringer aufgrund der hohen Abhängigkeit von den Kostenträgern die zumindest bei stationären Einrichtungen langen Vertragszeiten nicht überstehen können und so bei einer Anschlussausschreibung nicht mehr zur Verfügung stehen, so würde dies die Entstehung nicht leistungsgerechter Einkommen in künftigen Perioden begünstigen. Denn der Wiedereintritt in den Markt, die notwendigen Investitionen, der erneute Aufbau fachlicher Kompetenz ist mit erheblichen Kosten verbunden. 3. Allokationsfunktion: Der Wettbewerb soll Angebotsstrukturen und den Einsatz von Kapital und Personal an Änderungen der Nachfrage anpassen. Im vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell bestimmt der Kostenträger über die Vorgaben des Vergabeverfahrens detailliert den Inhalt der sozialen Dienstleistungen. Auf geänderte Präferenzen der Nutzer der sozialen Dienstleistung kann er überhaupt nur in einer folgenden Ausschreibung reagieren, wenn er diese Änderungen wahrnimmt. Ob er dann die Bedingungen der Ausschreibung anpasst, liegt in seiner Entscheidung. Dabei werden auch politische Überlegungen, Kostenerwägungen, Rücksicht auf bisherige „bewährte“ Anbieter, eventuell auch paternalistische Vorstellungen, was für die Hilfeberechtigten gut ist, eine Rolle spielen. Im sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell, das offen ist für neue Anbieter, die Leistungen im gegebenen Kostenrahmen und den gegebenen Qualitätsvereinbarungen anbieten, und in dem kein Leistungserbringer über eine Belegungsgarantie verfügt, müssen diese um Hilfeberechtigte werben. Dies erzeugt Druck, sich auf geänderte Präferenzen der Hilfeberechtigten, also der eigentlichen Nachfrager sozialer Dienstleistungen, einzustellen. 4. Entdeckungsund Fortschrittsfunktion: Der Wettbewerb soll Innovationen hervorbringen, die – bezogen auf soziale Dienstleistungen – die Qualität der Hilfe verbessern und/oder helfen, Kosten zu begrenzen. Die Innovationsfunktion kann auch im sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell eingeschränkt sein, wenn die fachlichen Vorgaben für die Leistungserbringung so eng sind, dass kaum Raum für Innovationen bleibt. Im vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell müssen die fachlichen Standards vergleichsweise eng definiert sein, weil sonst die Angebote nicht vergleichbar sind. Zumindest wenn die fachlichen Vorgaben Raum für Differenzierung und Innovation lassen, ist das vergaberechtliche Wettbewerbsmodell bezüglich der Entdeckungsfunktion überlegen, weil neue Anbieter, die hier jederzeit Zugang haben, und das zwingende Werben um Nutzer einen Anreiz zur Innovation setzen. Aus ordnungspolitischer Perspektive ist daher das sozialrechtliche Wettbewerbsmodell dem vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell überlegen.

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XI. Mehr Transparenz im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis Dies bedeutet nicht, dass es im sozialrechtlichen Wettbewerbsmodell keinen Reformbedarf gäbe. Eine wesentliche Voraussetzung für einen leistungsfähigen Wettbewerb im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis ist die Abkehr von der Angebotssteuerung. Sie ist im Pflegebereich systemwidrig. Im Bereich der stationären und teil-stationären Pflegeeinrichtungen ist die faktische Angebotssteuerung über den „goldenen Zügel“ der objektbezogenen Investitionskostenfinanzierung rückläufig, da aus fiskalischen Gründen die Länder mehr und mehr aus dieser Förderung aussteigen. Damit fällt mittelfristig eine wesentliche, bisher wirksame Marktzutrittsschranke. Allerdings gibt es erhebliche Verwerfungen in einer längeren Übergangszeit, wenn der Ausstieg der Länder aus der Objektförderung nicht durch die Einführung einer Subjektförderung begleitet wird, da dann geförderte und nicht geförderte Einrichtungen miteinander konkurrieren und der Preisvergleich entsprechend verzerrt ist. Im Gegensatz zu vor einigen Jahren weisen heute nur eine Minderheit der Einrichtungen Wartelisten auf. Nach einer im Jahr 2005 durchgeführten Piloterhebung unter Einrichtungen der Altenhilfe im Bereich der verbandlichen Caritas in Berlin, Brandenburg, Bayern und Niedersachsen verfügt nur noch ein Viertel der Einrichtungen über Wartelisten (DCV 2005). Der Abbau der Wartelisten setzt Hilfeberechtigte erst in die Lage, ihr Wahlrecht faktisch auszuüben. Und damit werden die Kostenträger in die Lage versetzt, den ihnen zustehenden Mehrkostenvorbehalt auch faktisch geltend zu machen. Dies wird dazu führen, dass teilweise bestehende erhebliche Preisunterschiede bei vergleichbaren Leistungen abgebaut werden. Notwendig wird eine verstärkte Auseinandersetzung darüber, wie die Kostenträger künftig den Mehrkostenvorbehalt ausüben werden. Dem Wunsch eines Hilfeberechtigten nach Aufnahme in eine bestimmte Einrichtung sollen sie, so die sozialrechtliche Vorgabe, dann nicht entsprechen, wenn dies mit unangemessenen Mehrkosten verbunden ist. Hilfeberechtigte haben in der Regel den Wunsch, in eine stationäre Einrichtung in der Nähe ihres bisherigen Wohnumfeldes zu ziehen, um enge Kontakte zu Familie und Nachbarn halten zu können. Ein solcher Wunsch kann nicht deshalb abgelehnt werden, weil es irgendwo eine Einrichtung mit geringeren Kosten gibt. Mehrkosten in einem gewissen Umfang haben die Kostenträger somit zu tragen. Da nach Abbau bisher bestehender Zutrittsschranken in einem funktionierenden Wettbewerb die Preisspannen für vergleichbare Leistungen deutlich kleiner werden, werden auch die aus Gründen des Wahlrechts des Hilfeberechtigten zu tragenden Mehrkosten für den Kostenträger geringer. Kritiker des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses monieren verfestigte in Jahrzehnten gewachsene Strukturen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern. So Wolfgang Schäfer, als Direktor des Landschaftsverbandes

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Westfalen-Lippe, ein Vertreter der Kostenträger: „Nach wie vor wird der Kuchen unter einigen wenigen Anbietern sozialer Dienstleistungen aufgeteilt. Noch immer, und da haben die Kostenträger eindeutig eine Mitverantwortung, werden Verhandlungen zum Abschluss von Vereinbarungen nur mit den Einrichtungen geführt, die an den Kostenträger herantreten.“ (Schäfer 2005, S. 50) Wenn solche Beschränkungen die Funktionsfähigkeit des sozialrechtlichen Wettbewerbsmodells hemmen, so liegt die Verantwortung hierfür bei den Kostenträgern, die die ihnen in diesem Modell gegebenen Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Selbstverständlich können die Kostenträger von sich aus aktiv auf potentielle Leistungserbringer zugehen und dadurch dafür sorgen, dass zusätzliche Leistungserbringer in den Wettbewerb eintreten. Denkbar ist auch, dass in einem transparenten Verfahren eine Bandbreite (bzw. eine Obergrenze) für Vergütungen bestimmt wird, innerhalb derer die Kostenträger Leistungsvereinbarungen abschließen. Dann hat jeder Träger einen Zulassungsanspruch, der zur Erbringung der Leistung gemäß der klar definierten und transparenten Qualitätsstandards und zu einem Preis innerhalb der Bandbreite (bzw. unterhalb der Obergrenze) in der Lage ist. Dies sind Modifikationen in der Anwendung des sozialrechtlichen Wettbewerbsmodells. Greift der Mehrkostenvorbehalt, so haben Leistungserbringer zur Sicherstellung ihrer Belegung einen Anreiz, innerhalb der gesetzten Bandbreite eine kostengünstige Position einzunehmen. Wenn man anstrebt, die Stellung der Hilfeberechtigten über die Stellung, die sie im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis einnehmen, zu stärken, dann stehen Reformen an, die in eine deutlich andere Richtung gehen, als die Ausschreibung nach dem Vergaberecht einzuführen. Durch den Übergang zu Geldleistungen bzw. durch Einführung persönlicher Budgets kann die Subjektstellung der Hilfeberechtigten gestärkt werden. Sie können dann – wo nötig mit Unterstützung einer Betreuungsperson – stärker als bisher zwischen unterschiedlichen Versorgungsformen und Hilfearten wählen. Natürlich würden dadurch auch die Anreize, Preise und Leistungen zu vergleichen, gestärkt. Hilfebedürftige erhielten mehr Chancen, selbstbewusste Nutzer oder Kunden zu werden. Solange die Zuweisung von Leistungen zusammen mit einem großen Teil der dazu gehörenden Verfahren, der Planungsverantwortung und teilweise auch der Durchführungsverantwortung in der Hand von Behörden liegt, bleibt die Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Hilfeberechtigten auch unter den Regelungen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses eingeschränkt, auch wenn sie deutlich größer ist als unter den Bedingungen der Ausschreibung. Was ist zu erwarten, wenn sich das Persönliche Budget durchsetzt? Zunächst gewährt der Staat und seine ausführenden Agenturen, die Leistungsträger, nicht mehr Sozialleistungen, sondern überträgt Kaufkraft, wie wir es bei der Rente, dem Kindergeld, dem Wohngeld usw. schon lange kennen. Das Wunsch- und Wahlrecht als Ausdruck der Selbstbestimmung wird ernst genommen. Damit gewinnen die Anspruchsberechtigten bzw. ihre rechtlichen Vertreter mehr Ein-

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fluss auf die Art und Weise, wie ihr Bedarf an sozialen Dienstleistungen gedeckt wird. Bei reinen Geldtransfers entfällt das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis.3 Ein persönliches Budget, das unter Verwendungsauflagen gewährt wird, stärkt die Stellung des Nutzers im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis. Die Kontrolle durch die Nutzer selbst und ein verbesserter Verbraucherschutz könnten einen wesentlichen Teil der staatlichen Aufsicht ablösen. So gesehen erfordert das Persönliche Budget einerseits eine grundsätzliche politische Auseinandersetzung über Ausformungen des Sozialstaats und andererseits konkrete Festsetzungen über Verfahren, Umfang und Qualität der Hilfe. Diese Auseinandersetzung, die im Gegensatz zu heute offen geführt werden muss, wird die Diskussion innerhalb der Wohlfahrtsverbände und das Verhältnis zwischen Wohlfahrtspflege und Staat auch künftig prägen. Die Wohlfahrtsverbände selbst müssen sich hierbei einer Debatte stellen, die differenziert nach den einzelnen Hilfefeldern zu führen ist. Derzeit scheint es allerdings, dass ein Teil der Kostenträger entgegen aller Wettbewerbsrhetorik kein Vertrauen darin hat, dass ein Wettbewerb mit möglichst freiem Zugang für neue Anbieter und ohne Bedarfsplanung bei vielen sozialen Dienstleistungen in der Lage ist, ein ausreichendes Angebot zu guter Qualität und vernünftigen Preisen zu gewährleisten. Es ist weit eher zu befürchten, dass ein Teil der Kostenträger ihr Heil im alten Dirigismus der Bedarfsplanung sucht, der häufig verantwortlich dafür ist, dass die Ergebnisse des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses für die Hilfeberechtigten schlechter sind als sie sein könnten. Zu befürchten ist, dass nun der neue Dirigismus der Ausschreibungen hinzukommt, bei denen es allein in der Entscheidungsgewalt der Kostenträger liegt, wie soziale Dienstleistungen gestaltet werden. Nur eine Wohlfahrtspflege, die eine klare ordnungspolitische Perspektive einnimmt und sich an der Frage orientiert, wie die Rechte der Hilfeberechtigten gestärkt werden können, kann die Auseinandersetzung hierzu glaubwürdig führen. Die Sicherung des Rechts der Hilfeberechtigten oder ihrer Betreuungspersonen, selbst eine Wahl in ihrem Interesse treffen zu können, muss im Zentrum dieser Orientierung stehen. Nur durch ein Wahlrecht gewinnen diese Macht und Verantwortung für die Lenkung des Angebots sozialer Dienste und die Kontrolle der Qualität dieser Dienste. Eine behördliche Angebotssteuerung behindert die Pluralität der Träger und beschränkt oder verhindert den Zutritt neuer Anbieter. Die Macht der Hilfeberechtigten ist auch für die Dienste und Einrichtungen freigemeinnütziger Träger nicht bequem. Es entspricht eher dem Selbstverständnis von Trägern, die sich als freie Träger verstehen, in ihrer künftigen Stellung bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen von den Wahl___________ 3

Von großem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Erfahrungen mit dem persönlichen Budget in der Behindertenhilfe, wie sie derzeit in Modellprojekten in BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz gesammelt werden (Neue Caritas 2005).

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entscheidungen von Millionen Hilfeberechtigten abhängig zu sein als von der Angebotssteuerung staatlicher Instanzen. Eine solche ordnungspolitische Orientierung wird auch dem Anliegen förderlich sein, dem Ansinnen eines Teils der Kostenträger entgegenzutreten, das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis durch den Dirigismus der Ausschreibungen abzulösen und damit gleichzeitig bessere Alternativen zu behindern.

Literatur BAGFW (2005): Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Position der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zur Ausgestaltung des Wettbewerbs bei der Erbringung von Sozialhilfeleistungen, www.bagfw.de. Brünner, F. (2001): Vergütungsvereinbarungen für Pflegeeinrichtungen nach SGB XI, Baden-Baden. — (2005): Ausschreibungspflicht für soziale Dienstleistungen?, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 36. Jahrgang, Nr. 3/2005, S. 70-81. Cremer, G. (2005a): Wohlfahrtsverbände und Staat – Welche Spielregeln bestimmen die Zukunft der Sozialwirtschaft, in: König, J. / Oerthel, Ch. / Puch, H.-J. (Hrsg.): Potenziale des Sozialen. Aufbruch in zukunftsfähige Strukturen, München, S. 35-49. — (2005b): Die künftige Rolle von Markt und Wettbewerb in der Wohlfahrtspolitik verbandlicher Caritas, in: Gabriel, K. / Ritter, K. (Hrsg.): Solidarität und Markt. Die Rolle der kirchlichen Diakonie im modernen Sozialstaat. Freiburg, S. 148-165. Deufel, K. (2005): Editorial. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 36. Jahrgang, Nr. 3/2005, S. 1-2. Deutscher Caritasverband, Zentralratsausschuss „Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege“ (2004): Auf dem Weg zu einer kohärenten sozial- und wohlfahrtspolitischen Gesamtposition des Deutschen Caritasverbandes“, S. 18 ff. — (2005): Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der Rechtsträger der Caritas. Auswertung für die Piloterhebung „Altenhilfe“, Ms. Knieps, G. (2001): Wettbewerbsökonomie. Regulierungstheorie, Industrieökonomik, Wettbewerbspolitik, Berlin/Heidelberg. Meyer, D. (1999): Wettbewerbliche Neuorientierung der Freien Wohlfahrtspflege, Berlin. Neue Caritas (2005): Schwerpunktthema „Bin behindert – zahle selbst“, in: Neue Caritas, 106 Jahrgang, Heft 20, S. 9-20. Neumann, V. (2005): Was kennzeichnet das Leistungserbringungsrecht der Sozialhilfe?, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 36. Jahrgang, Nr. 3/2005, S. 4-9. Neumann, V. / Nielandt, D. / Philipp, P. (2004): Erbringung von Sozialleistungen nach Vergaberecht? Rechtsgutachten im Auftrag des Deutschen Caritasverbandes und des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland, Baden-Baden. Prieß, H.-J. / Krohn, W. (2005): Die Durchführung förmlicher Vergabeverfahren im Sozialhilfebereich, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 36. Jahrgang, Nr. 3/2005, S. 34-47.

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Schäfer, W. (2005): Hintergründe für die Entscheidung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, Ausschreibungsverfahren durchzuführen. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit. 36. Jahrgang, Nr. 3/2005, S. 48-53. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2002): „Daseinsvorsorge“ im europäischen Binnenmarkt. Gutachten vom 12. Januar 2002, Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Dokumentation, Nr. 503.

Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft – Korreferat zu Georg Cremer – Von Alfred Jäger

1. Cremer bringt die derzeitige Auseinandersetzung zwischen sozialstaatlichen Kostenträgern, Leistungserbringern und Nutznießern wie in einem scharfen Prisma auf den Punkt. Tatsächlich geht es darin um einen Systemwechsel vom „sozialrechtlichen“ zum „vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell“. Ich stimme ihm darin zu, dass das herkömmliche Modell weitgehend planwirtschaftlich – im Zeichen des in den letzten Jahrzehnten wachsenden Wohlstands jedoch mit großen Freiheiten für die sozialen Einrichtungen – gestaltet war, das alternative Modell jedoch weitgehend noch bürokratischer – „persönliche Budgets“ – geordnet sein wird, obwohl es von staatlicher Seite mehr Markt im Sozialen will. • Sozialpolitisch ist es keine Frage, dass mehr Markt im sozialen Netz Deutschlands die Preise drücken wird. Wenn sich auch privat getragene Sozialunternehmen in einen bisher weitgehend planwirtschaftlich organisierten und verteilten sozialen Bereich einmischen können und sollen, beginnt sogleich eine Konkurrenz, die den staatlichen Leistungsträgern ihre Aufgaben erleichtert. • Sozialpolitisch ist es gewiss auch ein Fortschritt, dass Leistungsempfänger/innen über das Konzept von „persönlichen Budgets“ weniger in Abhängigkeit von ihren bisherigen Sozialeinrichtungen sind, sondern sich die für sie nötigen Leistungen selbst besorgen können – sofern sie oder ihre Angehörigen denn dazu in das Lage sind. Diese neue Kann-Bestimmung der Sozialgesetzgebung fördert ihrerseits die Vielfalt von Leistungsangeboten und macht die Leistungsempfänger/innen deutlich mehr zu Kunden am Sozialmarkt. Diese Folgerung scheint marktmäßig und sozial konsequent. • Die Folge aber wird in beiden Hinsichten eine Steigerung der öffentlichen Sozialbürokratie sein. Bisher verhandelten öffentliche Stellen mit einer begrenzten Zahl von sozialen Leistungsanbietern – deren Zahl wird sich mit einer Marktöffnung wahrscheinlich schnell und drastisch erhöhen, was zu einer deutlichen Erhöhung der Anforderungen in der Vergabe von sozialen

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Dienstleistungen und damit der Evaluationen und des benötigten Personals führen wird. Mehr Markt produziert an dieser Stelle paradoxerweise mehr Verwaltung und Bürokratie. Dasselbe gilt vom Konzept der „persönlichen Budgets“. Nach diesem Konzept entscheiden öffentliche Stellen nicht mehr nur über Budgets von Sozialeinrichtungen, sondern mit deren Vorarbeit auch über Budgets von Einzelpersonen. Das Ergebnis ist auch in dieser Hinsicht mehr Bürokratie. 2. Klagen hilft in diesem sozialen Dreieck – Leistungsträger/Leistungserbringer/Leistungsnehmer/innen – keiner Seite. Jede Ecke hat derzeit das Ihre zu tun. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass die Finanzierung des bisher gewachsenen sozialen Netzes – schon seit den 80er Jahren – immer härter an ihre Grenzen stößt. • Vor dem Hintergrund einer ordoliberalen Orientierung wurde 1948 eine sozial-liberale Markt- und Gesellschaftsordnung eingeführt, zu der konstitutiv auch der Aufbau eines sozialen Netzes gehören sollte. Sozialpolitisch war dessen Zweck einerseits, die Schwachen, die sich am Markt nicht bewähren, abzusichern, und anderseits allen Bürger/innen eine soziale Grundsicherung zu gewährleisten. Als zweiter Grundstein in der Konstruktion eines sozialen Netzes sollte das aus der katholischen Soziallehre stammende Prinzip der Subsidiarität gelten. Was kleinere Einheiten an sozialen Leistungen erbringen können, soll nicht auf höhere oder gar die höchste Ebene des Sozialstaates delegiert werden. • Auf dieser Basis entwickelte sich ein im weltweiten Vergleich fast einmalig blühendes soziales Netz, das in der Nachkriegszeit – meist mit zeitlicher Verzögerung – massiv am ökonomischen Wachstum teilhatte. • Im Marktbereich deutete sich das Ende der Nachkriegsepoche schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts an, im Sozialbereich zeigten sich erste Turbulenzen seit Mitte der 80er Jahre. Der Gesundheitsbereich erfuhr diese Wachstumsgrenzen seit Anfang der 90er Jahre. Universitäten, Gewerkschaften und verfasste Kirchen wurden erst Ende der 90er Jahre davon eingeholt. In diesen Bereichen galt überall plötzlich die Devise: In neuen Grenzen leben lernen. 3. Die Gründerväter einer sozial-liberalen Gesellschaftsordnung – „Freiburger Schule“ – würden sich über die sozialen Finanzierungsprobleme von heute wundern. Ihre Absicht war auf der Basis eines christlich-personalistischen Menschenverständnisses die Schaffung einer möglichst liberalen Wirtschaftsordnung mit sicherem, homogenem sozialem Netz. (Daran wird erinnert in: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997).

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• Wettbewerb und Konkurrenz im Sozialbereich waren von den wertorientierten, sozial-liberalen Grundorientierungen her nicht vorgesehen. Dieses Phänomen zeigte sich seit den 80er Jahren zunehmend deutlicher, und zwar als Faktum von sozialen Überkapazitäten, die im Zeichen des Wohlstands in zahlreichen Feldern entstehen konnten. Eklatant konnte sich dies in der Zahl von Krankenhausbetten in einer Region zeigen, die nicht mehr zureichend zu belegen waren. Anderseits manifestierte sich dies immer mehr auch darin, dass die Sozialpolitik ihre eigenen ökonomischen Grenzen erkannte und in der Förderung von Wettbewerb im sozialen Netz neue Chancen der Finanzierungsbegrenzung erkannte. • Die sozialstaatliche Ausschreibung sozialer Dienstleistungen mit einem gewollten Wettbewerb von Anbietern bildet insofern tatsächlich einen Systemwechsel, dessen Folgen mittel- und langfristig noch kaum abzusehen sind. Sicher jedoch ist die weitere Verstärkung eines Sozialmarktes, der als ungewolltes Ergebnis einer Wohlstandsepoche nun gezielt als Instrument der Preisregulierung – wie auch immer – eingesetzt werden soll. 4. Am wachsenden Wohlstand der Nachkriegszeit hatten die in Deutschland in vielerlei Hinsicht privilegierten Wohlfahrtsverbände mit ihren Einrichtungen massiven Anteil. Im Zeichen von Markt, Konkurrenz und vor allem einer Europäisierung des sozialen Netzes kann es derzeit schnell dazu kommen, dass sie ihre besondere Stellung verlieren. Die Verteidigung herkömmlicher Privilegien allein hilft nicht. • Diese wenigen Verbände, die in der Nachkriegszeit den Aufbau eines Netzes von sozialen Dienstleistern – in gegenseitiger Freundschaft und dann und wann stiller Konkurrenz – weitgehend unter sich ausmachten, sind ein typisch deutsches Phänomen, das außerhalb der Landesgrenzen in seinen zahlenmäßigen Dimensionen und sozialpolitischen Bedeutungen bisher kaum wahrgenommen und verstanden werden kann. Nirgendwo gibt es derzeit beispielsweise eine auf einem in jeder Hinsicht Höchststand blühende Caritas resp. Diakonie wie in Deutschland, die im Rahmen eines neuen Europa zu Exportschlagern werden, die mangels eines internationalen Verständnisses jedoch auch rasch gefährdet werden könnten. • Das System der „Subsidiarität“ zwischen Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden ist als Konzept kaum auf ein künftig harmonisierteres Sozialsystem in der EU zu übertragen, da es u.a. den französischen Traditionen einer „economie sociale“ mit zentralistischen Vorgaben des Sozialministeriums exakt zuwiderläuft. Darüber wird derzeit hinter den Gardinen zum Teil heftig verhandelt, ohne dass schon deutlich würde, in welche Richtung sich ein künftiges Sozialnetz in Europa entwickeln wird. • An dieser Stelle aber werden im Augenblick Weichen gestellt, die langfristig Auswirkungen haben. Daran wirken vor allem Richter des europäischen Ge-

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richtshofs mit, die seit Jahren mit Regelmäßigkeit – zumeist an Bagatellfällen aufgezogen – Prinzipien eines künftigen sozialen Netzes festzurren, die den Sozialmarkt weit über Landesgrenzen hinaus auf allen Ebenen öffnen. 5. Der deutsche Sozialstaat als Kostenträger kann bisherige Kosten- und Vergütungssysteme nicht mehr weiter tragen und sucht mit guten Gründen nach systemischen Alternativen. Der Schrei nach mehr Sozialmarkt ist derzeit gut hörbar, doch langfristig nur begrenzt eine Lösung. Den Sozialmarkt gibt es europaweit schon, und er wird sich künftig noch verstärken. Nötig ist in dieser Hinsicht die Erinnerung an die Gründerväter eines sozialen Netzes, die keine Überkapazitäten wollten, sondern eine soziale Grundsicherung für alle, besonders für die Schwächsten. • Diese Einschätzung teilt auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz: „Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben sich bisher als tragfähig erwiesen und sich gerade auch in den jüngsten Jahren angesichts wachsender wirtschaftlicher Anspannungen, anhaltender Massenarbeitslosigkeit und der Zunahme persönlicher Notlagen und Hilfsbedürftigkeit weitgehend bewährt. Angesichts der gegenwärtigen Umbrüche steht dem deutschen Sozialstaat seine entscheidende Bewährungsprobe aber noch bevor“(l.c. 72). 6. Über die Grundsicherung hinaus ist das Prinzip der Eigenverantwortung des Einzelnen neu zu thematisieren. Erst im Zeichen wachsenden Wohlstands konnte aus dem Sozialstaat eine paternalistische Sicherung für alle Fälle werden. Dies wird – aus verschiedenen Gründen – künftig nicht mehr möglich sein. • Eine solche Umsteuerung erfordert an erster Stelle ein entsprechendes Umdenken und einen Mentalitätswechsel, der umso tiefer greift, je länger sich eine Kasko-Versorgungsmentalität halten konnte. Einige europäische Staaten, allen voran Schweden, haben in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits gezeigt, wie sich ein solcher Wandel vollziehen kann und muss. • Das Prinzip der Eigenverantwortung kann sich sozialpolitisch nicht auf Personen beziehen, die dazu nicht in der Lage sind, auch wenn sie sich über persönliche Budgets künftig nicht nur – wie bisher – als Rechtssubjekte, sondern als veritable Kunden am Markt verhalten. Das Prinzip zielt auf das zweite Element in den Grundsteinen einer sozial-liberalen Philosophie der Gründerväter, das für die Allgemeinheit eine Grundsicherung garantieren wollte. Daneben wird künftig verstärkt eine Eigenvorsorge treten müssen. 7. Wohlfahrtsverbände und ihre Einrichtungen, die in den letzten zwanzig Jahren mit guten Gründen zu sozialen „Unternehmen“ mutierten, müssen an ihr sozialpolitisches Fundament der Subsidiarität erinnert werden, um das Ihre zu tun. Andernfalls verlieren sie schnell ihre Bedeutung. Soziale Unternehmen

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müssen noch unternehmerischer werden, um im Transformationsprozess ihre Aufgabe zu leisten. Wohlfahrtsverbände assistieren ihnen darin als Interessenvertretungen im Gegenüber zum Sozialstaat. Das heißt, soziale Unternehmen müssen sich am wachsenden Markt nicht nur bewähren, sondern sie tragen selbst entscheidend dazu bei, die Kosten zu senken. • Soziale Einrichtungen mutierten in ihrer Corporate Identity seit Mitte der 80er Jahre aus zahlreichen Gründen zu Unternehmen, die sich nach innen und außen entsprechend verhalten und gestalten. In den vorausgehenden Jahrzehnten konnte sich der planwirtschaftliche Ansatz des Sozialstaates bis in soziale Einrichtungen im Sinn einer bloßen Verwaltung wachsenden Wohlstands fortsetzen, der zu entsprechenden Folgewirkungen auf unterer Ebene führte. Es waren zuerst nicht Phänomene eines Sozialmarktes, sondern Grenzen der sozialen Finanzierbarkeit, die zu diesem Umdenken führten. Beides zusammen aber bestätigt rückblickend, dass diese Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren nötig und richtig war. • Die Neugestaltung der sog. „Spitzenverbände“ an der Spitze der Wohlfahrtsverbände ist derzeit ein eigenes Problem, da sich darin im Zeichen des wachsenden Wohlstands Überorganisationen angesammelt haben, die im Blick auf Sozialunternehmen kaum mehr funktional sind. Nach einigen elementaren Kriterien, was eine Verbandsstruktur für ihre MitgliederUnternehmen zu leisten habe, sind darin dringlich Reformen v.a. im Sinn einer Redimensionierung angesagt. • Eines der Organisationsprinzipien, das darin zu einer wuchernden Zahl von überflüssigen Planstellen ohne Wirkung führte, war das aus preußischer Zeit stammende Prinzip der „Zuständigkeit“. Im Staat, resp. in der Kirche und später nach deren Vorbild auch in den Wohlfahrtsverbänden, sollte in der Bürokratie für alles im Leben jemand zuständig sein, was auch immer dies heißen mochte und mag. Gemäß diesem Prinzip lassen sich Stellenpläne in Wohlfahrtsverbänden je nach Wohlstand fast beliebig vermehren. Bisherige Reformversuche sind in der Tendenz richtig, in der Orientierung jedoch noch zu schwach, weil zu wenig gründlich nach der Lebensfunktion von Verbandsstrukturen gefragt wird. Dies kann sich schnell ändern. • Wichtiger aber sind Neuorientierungen von Sozialunternehmen selbst, die für sich neue Sparpotentiale entdecken müssen. Derartige Prozesse sind überall schon im Gang. Dafür sollen kurz drei Eckpunkte genannt werden, die enorme Folgen haben können. 8. Einsparpotential 1: Neue Immobilien waren in der Nachkriegszeit der Stolz von Sozialpatriarchen, die darin ihr stilles Kapital sahen und sich mit geringer buchhalterischer Bewertung klammheimlich reich vorkamen. Die Stärke von Sozialunternehmen aber liegt nicht im Besitz, sondern im Betrieb. Die Im-

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mobilien sind darum künftig an reichlich vorhandenes, langfristig an Sicherheit interessiertes Kapital zu verkaufen, um sie gleichzeitig für dreißig Jahre zurück zu leasen. Das damit erlangte Fresh-Money führt zu neuer Kreativität. • Es war in den letzten Jahren keine Seltenheit, dass ein Sozialchef auf die Frage, wie viele Millionen er in seiner Stellung verbaut habe, mit Stolz von hundert und mehr erzählen konnte. In einem begrenzten ManagementSeminar kamen schon schnell Milliardenbeträge zusammen. Darin spiegelte sich mit Recht nicht nur die Leistung solcher Führungspersönlichkeiten, sondern auch ein Sozialfortschritt, der seine Vergleiche sucht. • Spätestens mit Basel II, einer neuen Regelung der Bonität von Kreditnehmern, aber zeigt sich, dass diese Mentalität von Sozialpionieren vor eine harte Wand läuft. Immobilien der Sozialwirtschaft sind zweckbedingt, somit nicht weiter verwendungsfähig. Im Ergebnis schrumpfen die Kapitalerfolge der letzten Jahrzehnte sogleich gegen Null. • Bestenfalls gelingt in dieser Situation ein Deal mit langfristigen Kapitalgebern, die sich im Blick auf Immobilien und Grundstücke auf eine passende Vereinbarung einlassen. Falsch wäre es derzeit, solchen Besitz, wie in den letzten Jahrzehnten üblich, möglichst tief einzustufen. Neue Kredite bei Banken würden damit umso teurer. Richtig wäre stattdessen, diese realen Gegebenheiten nach heutigen Standards möglichst hoch neu einschätzen zu lassen, um so eine Bankbonität und damit eine unternehmerische Flexibilität für neue Ziele zu erhalten. 9. Einsparpotential 2: Hochgeschultes Personal führte im Sozialbereich seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer Professionalisierung sozialer Arbeit, die damals dringlich nötig war. Faktisch jedoch führte dies dazu, dass hoch bezahlte Fachkräfte Betreuungsarbeit vor Ort leisten, anstatt weniger qualifiziertes Personal fachlich anzuleiten und zu führen. Auch in fachlicher Hinsicht sind neue Konzepte der Leitung angesagt. • Qualitätszirkel zielen darauf, fachliche Standards auch unter ökonomischem Druck zu halten. Faktisch aber handelt es sich häufig um Versuche, bisherige Betreuungskonzepte in Qualitätshandbüchern festzuschreiben, anstatt kreativ nach neuen, kostengünstigeren Konzepten zu fragen, die sich auch fachlich vertreten lassen. Solche Möglichkeiten sind gegeben. • Im Zeichen des Wohlstands konnte man es sich leisten, dass z.B. Psycholog/innen mit Fachhochschul-/Hochschulabschluss Betreuungsarbeit an Einzelpersonen leisteten, wobei die Integration dieser Leistung in das Gesamtkonzept der Betreuung häufig schon Schwierigkeiten mit sich bringen konnte. Künftig dürfte wichtiger sein, dass Betreuungspersonal in seinen Beziehungskompetenzen zu Betreuten intern und extern geschult, gefördert und begleitet wird. Dafür ist Fachpersonal mit hohen Standards nötig.

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• Dasselbe kann z.B. für Seelsorger/innen gelten, die sich künftig nicht mehr nur auf Andacht und Vier-Augen-Gespräche – mit häufig ebenfalls mangelnder Einbindung in ein Gesamtkonzept – konzentrieren, sondern im Gegenüber zur Geschäftsführung als „Spiritual/in“ resp. Soft-Manager/in für die Seele des ganzen Hauses besorgt sind. (Vgl. Jäger 2005, S. 202 ff.). 10. Einsparpotential 3: Dass hauseigene Tarifverträge – in künftig welcher Form auch immer – ausgehandelt werden müssen, ist schon fast flächendeckend zur Selbstverständlichkeit geworden. An dieser Stelle jedoch droht zurzeit ein Chaos, das auf der Ebene von Wohlfahrtsverbänden gebändigt werden muss. Ansätze dazu sind gemacht. • Unter dem Kostendruck hat sich die Einsicht, dass bisherige Verträge nach BAT etc. nicht mehr zu halten sind, vor allem in sozialen Unternehmen herumgesprochen. Zunehmend häufiger löst man sich von Flächenverträgen und wagt sich an Hausverträge. Solche Vorgänge sind in der Regel riskant für alle Beteiligten. • Die Gründung eines „Verbandes diakonischer Dienstgeber Deutschland“ (VDDD) 1997 als Beispiel basiert auf diesem Hintergrund und bildet den Versuch, in der Unternehmens-Diakonie wenigstens von der Arbeitgeberseite her einen Schulterschluss zu wahren. Geeignete Antworten von Seiten der Arbeitnehmer auf diesen Vorstoß stehen über weite Strecken noch aus.

Literatur Jäger, A. (2005): Seelsorge als Soft-Management-Konzept, in: Kramer, A. / Schirrmacher, F. (Hrsg.) (2005), Seelsorgerliche Kirche im 21. Jahrhundert, S. 202 ff.

Spielräume der Ausschreibung sozialer Dienstleistungen im deutschen und europäischen Vergaberecht – Korreferat zu Georg Cremer – Von Rüdiger Wilhelmi

I. Einleitung Das Hauptreferat vertritt die These, dass das sozialrechtliche Wettbewerbsmodell dem vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell aus ordnungspolitischer Perspektive überlegen sei, da ein Wettbewerb im Markt dem Wettbewerb um den Markt vorzugswürdig sei. Die darin anklingende Dichotomie zwischen einem ordnungspolitisch wünschenswerten und einem vergaberechtlichen Wettbewerb beruht jedoch auf einem Missverständnis über die Funktion des Vergaberechts. Die Einschränkung des Wettbewerbs im Markt ist nicht Folge, sondern Voraussetzung der Anwendung des Vergaberechts. Sie ergibt sich nicht aus dem Vergaberecht, sondern aus dem Sozialrecht. In der Terminologie des Hauptreferats greift das Vergaberecht nur dort, wo der Wettbewerb im Markt eingeschränkt wird, und versucht, diese Einschränkung durch die Gewährleistung zumindest eines Wettbewerbs um den Markt zu kompensieren. Demgemäß begrenzt es den Spielraum des Sozialrechts nur dort, wo dieses wiederum den Spielraum des Wettbewerbs verengt, so dass es diesen schützt.

II. Sozialrechtliches Dreiecksverhältnis Die Ausschreibung sozialer Dienstleistungen findet im Rahmen des bereits im Hauptreferat angesprochenen sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und hilfebedürftigem Leistungsberechtigten statt. Die Diskussion um die Anwendung des Vergaberechts leidet dabei nicht nur unter der Komplexität, sondern auch der Vielgestaltigkeit des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses, das in den einzelnen Gebieten des Sozialrechts unterschiedlich geregelt ist und zudem von den Leistungsträgern im Rahmen der erheblichen verbleibenden Spielräume unterschiedlich ausgestaltet wird. So reicht das Spektrum etwa im Bereich der Arbeitsförderung von der

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Einweisung des Leistungsberechtigten in die Maßnahme durch den Leistungsträger selbst bis hin zu einer bloßen Kostenübernahmeerklärung des Leistungsträgers, auf deren Grundlage der Leistungsberechtigte selbst entscheidet, ob, bei wem und in welchem Umfang er die Leistung in Anspruch nimmt1. Die Bewilligung des Leistungsträgers kann demgemäß den Inhalt der Vereinbarung zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Leistungserbringer und die Person des Leistungserbringers vollständig determinieren, muss es aber nicht. Diese Vielgestaltigkeit führt zu einer entsprechenden Unübersichtlichkeit der Diskussion mit der Gefahr, aneinander vorbeizureden, indem jeweils auf eine spezielle Regelung oder Fallgestaltung rekurriert, aber allgemein von dem sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis gesprochen wird. So bezieht sich das Hauptreferat etwa auf die Regelungen über die Pflegeversicherung in SGB XI, während die dort angesprochenen Gerichtsentscheidungen Pflegeleistungen im Rahmen der Sozialhilfe betreffen, die früher im BSHG und nun im SGB XII geregelt sind und die demgemäß auch hier im Vordergrund stehen.

III. Funktion des Vergaberechts Die Funktion des Vergaberechts liegt nicht in der Beschränkung des Wettbewerbs, sondern in der Gewährleistung von Wettbewerb dort, wo dieser durch die Beteiligung der öffentlichen Hand beschränkt wird. Gegenüber dem ursprünglichen Zweck des Vergaberechts, die öffentlichen Finanzen zu schonen, sind demgemäß die Ziele der Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb und der Gewährleistung von Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung in den Vordergrund getreten (vgl. Erwägungsgrund 2 Richtlinie 2004/18/EG; ähnlich § 97 I u. II GWB), wie sich etwa darin zeigt, dass das Vergaberecht inzwischen maßgeblich im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt ist2. Dementsprechend bindet das Vergaberecht die öffentliche Hand an den und im Wettbewerb. Dem Staat steht keine Privatautonomie zu, wenn er privatrechtlich tätig wird; er darf also anders als Private nicht frei entscheiden, sondern muss seine privaten Vertragspartner gleich behandeln, was sich sowohl aus dem Privatrecht (§§ 138, 242, 826 BGB, § 1 UWG und § 20 I u. II GWB) als auch aus dem öffentlichen Recht (Art. 12, 86 EGV, Art. 3 Abs. 1 GG, § 97 II GWB) ergibt3. Das Vergaberecht selbst schließt den Wettbewerb grundsätzlich nicht aus. Es knüpft seine Anwendbarkeit vielmehr gerade daran, dass die öffentliche Hand Anbieter vom Wettbewerb ausschließt, entweder indem sie einen Einzelvertrag ___________ 1

Storost (2005), S. 85. Immenga/Mestmäcker/Dreher (2001), Vor § 97 Rn. 2. 3 Hertwig (2005), Rn. 1. 2

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mit einem Anbieter abschließt und so alle anderen Anbieter ausschließt oder indem sie einen Rahmenvertrag an einen oder mehrere Anbieter vergibt und so die dabei nicht berücksichtigten Anbieter ausschließt. Dadurch greift es erst dort, wo die öffentliche Hand in den Wettbewerb eingreift und den Wettbewerb beendet oder zumindest beschränkt. Die Beschränkung des Wettbewerbs ist demgemäß weniger Folge als Voraussetzung der Anwendung des Vergaberechts. Das Vergaberecht stellt lediglich sicher, dass die Beschränkung oder Beendigung des Wettbewerbs wiederum auf einem Wettbewerb beruht, dem Wettbewerb im Rahmen des Vergabeverfahrens. Dies erscheint auch sinnvoll, wenn man die Parallele zur freien Wirtschaft zieht. Auch dort wird zunächst der Wettbewerb im Markt ein solcher um den Markt, wenn es um Aufträge eines Unternehmens geht und der Markt entsprechend abgegrenzt wird. Zudem schreiben vielfach auch Wirtschaftsunternehmen, insbesondere größere, ihre Aufträge weitgehend in Verfahren aus, die stark dem vergaberechtlichen Verfahren ähneln. Der wesentliche Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Händen und zugleich der Grund für die Bindung der öffentlichen Hand an den Vergabewettbewerb liegt nicht nur in der vielfach, aber nicht immer größeren Marktstärke der öffentlichen Hand, sondern auch darin, dass bei der Vergabe von Aufträgen durch die öffentliche Hand noch weniger als bei anderen Personen sichergestellt ist, dass sie sich wettbewerbskonform verhalten. Ob die im Sozialrecht vorgesehene Beteiligung der öffentlichen Hand an der Vergabe sozialer Dienstleistungen insbesondere aus dem Verhältnis zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigten gerechtfertigt ist oder nicht, ist nicht Gegenstand des Vergaberechts und kann hier auch nicht beurteilt werden. Soweit die öffentliche Hand am Wettbewerb teilnimmt, ist ein dem Vergabeverfahren überlegenes Verfahren jedoch nicht ersichtlich. Insbesondere erscheint das Vergabeverfahren und der damit verbundene Zwang zur öffentlichen Ausschreibung und transparenten Vergabe geeignet, den auch vom Hauptreferat konstatierten mangelnden Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern zu stimulieren, der im Sozialrecht weitgehend von der individuellen Initiative der Leistungsträger ausgeht und wenig transparent ist.

IV. Die Diskussion um die Anwendbarkeit des Vergaberechts Ob soziale Dienstleistungen im Rahmen eines Vergabeverfahrens ausgeschrieben werden müssen, hängt dementsprechend maßgeblich von der Möglichkeit der öffentlichen Hand ab, durch die Entscheidung über die Auftragsvergabe in den Wettbewerb einzugreifen, was nur anhand der konkreten Fallgestaltung beurteilt werden kann und vielfach zumindest offen erscheint.

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1. Deutsches Vergaberecht Im deutschen Recht verdrängen dabei die sozialrechtlichen Regelungen zunächst grundsätzlich die vergaberechtlichen Regelungen. Auch wenn soziale Dienstleistungen definitionsgemäß unter das Vergaberecht fallen sollten, ginge das speziellere Sozialrecht vor. Dessen umfassende Regelungen über den Abschluss der Rahmenvereinbarungen zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer würden demgemäß im Konfliktsfall an sich die Anwendung des Vergaberechts ausschließen.

2. Europäisches Vergaberecht Die vergaberechtlichen Regelungen des europäischen Rechts verdrängen jedoch grundsätzlich die sozialrechtlichen Regeln des deutschen Rechts, so dass das Sozialrecht insoweit hinter das Vergaberecht zurücktritt. Das europäische Recht geht dem deutschen Recht gemäß Art. 23 I GG in gewissen verfassungsrechtlichen Grenzen vor. Soweit soziale Dienstleistungen unter das europäische Vergaberecht fallen, hat dieses grundsätzlich Vorrang gegenüber dem Sozialrecht als Bestandteil des rangniederen deutschen Rechts. Soweit das Sozialrecht nicht mit dem europäischen Vergaberecht kollidiert, kann es jedoch auch eine Vorgabe für das Vergabeverfahren darstellen, insbesondere soweit es die zu vergebende Leistung definiert. Damit ist hier die Frage entscheidend, inwieweit die Vergabe sozialer Dienstleistungen unter das europäische Vergaberecht fällt, das bestimmte Schwellenwerte voraussetzt und nur entgeltliche Verträge einschließlich Rahmenvereinbarungen zwischen öffentlichen Auftraggebern und privaten Unternehmen zum Gegenstand hat. Gegen die Existenz eines entgeltlichen Vertrags mit dem Leistungsträger als öffentlichem Auftragnehmer lässt sich dabei nicht anführen, dass ein Vertrag nur zwischen dem Leistungserbringer und dem Leistungsberechtigten vorliegt, während die Zahlung des Leistungsträgers an den Leistungserbringer nur aufgrund der Bewilligung im Verhältnis zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigtem erfolgt, so dass sie das Dreieck lediglich abkürze4. Dem steht schon entgegen, dass sich aus dem sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis auch Leistungsbeziehungen zwischen dem Leistungsträger und dem Leistungserbringer ergeben5. Zudem dürfte die dogmatische Konstruktion für die europarechtliche Würdigung nicht maßgeblich sein6. ___________ 4 Vgl. etwa Nielandt (2005), S. 46 f.; Brünner (2005), S. 73 ff.; kritisch etwa Prieß/ Krohn (2005), S. 43 ff.; Storost (2005), S. 85 f. 5 OLG Düsseldorf (2005b), S. 653. 6 Hertwig (2005), Rn. 39.

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Gegen die Existenz eines entgeltlichen Vertrages lässt sich auch nicht ohne weiteres einwenden, dass das wirtschaftliche Risiko beim Leistungserbringer liege, so dass die Rahmenvereinbarung eine Dienstleistungskonzession darstelle7, die ausdrücklich nicht unter das Vergaberecht fällt. Denn das wirtschaftliche Risiko allein eignet sich nicht als Abgrenzungskriterium, weil es nicht nur bei der Dienstleistungskonzession beim Leistungserbringer liegt, sondern auch beim Rahmenvertrag, der inzwischen ausdrücklich unter das Vergaberecht fällt (Art. 32 Abs. 2 Richtlinie 2004/18/EG). Mit dem Sinn und Zweck des Vergaberechts ist vielmehr entscheidend, inwieweit der Leistungsträger über die Person des Leistungserbringers und die Art und den Umfang der Leistung entscheidet, ob also noch eine Vergabe durch die öffentliche Hand vorliegt, so dass es auch einer Bindung durch das Vergaberecht bedarf, um dessen Ziele zu erreichen. Nur wenn insoweit allein der Leistungsempfänger entscheidet, liegt eine vergabefreie Dienstleistungskonzession vor8. Entscheidet hingegen der Leistungsträger, handelt es sich zumindest bei der sozialrechtlichen Rahmenvereinbarung auch um eine vergabepflichtige Rahmenvereinbarung. Angesichts der Vielgestaltigkeit des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses gilt dabei allerdings auch für die Vergabepflichtigkeit sozialer Dienstleistungen der gute alte juristische Grundsatz „Es kommt drauf an!“. Es gibt sowohl Gestaltungen, bei denen der Leistungserbringer dem Leistungsberechtigten zugewiesen wird und bei denen der Leistungserbringer einen direkten Zahlungsanspruch gegenüber dem Leistungsträger eingeräumt erhält9, als auch solche, bei denen der Leistungsberechtigte sich den Leistungserbringer selbst aussuchen kann und ihn selbst bezahlt und nur eine Kostenerstattung erhält10. Im Sozialhilferecht etwa entscheidet der Leistungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen über die Art und Weise der Leistung und damit auch über die Person des Leistungserbringers (§ 17 II SGB XII). Daran ändert auch das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten (§ 9 II SGB XII) noch nichts, da dieses unter dem Vorbehalt der Angemessenheit und der nicht unverhältnismäßigen Mehrkosten steht. Soweit der Leistungsberechtigte sein Wunsch- und Wahlrecht nicht ausübt, entscheidet zudem wieder der Leistungsträger allein. In diesem Fall spricht damit viel für das Vorliegen eines vergabepflichtigen Rahmenvertrages. Ist der Leistungsberechtigte hingegen völlig frei, sich den Leistungserbringer auszusuchen, indem er etwa ein Budget erhält, ___________ 7

Vgl. OLG Düsseldorf (2005b), S. 654. Vgl. OLG Düsseldorf (2005b), S. 654. 9 Vgl. OLG Düsseldorf (2005a), S. 650. 10 Vgl. Storost (2005), S. 85. 8

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wie vom Hauptreferat vorgeschlagen, dürfte in der sozialrechtlichen Rahmenvereinbarung eine vergabefreie Dienstleistungskonzession liegen.

V. Erweiterung der Anwendung des Vergaberechts Auch soweit man bei der Vergabe von sozialen Dienstleistungen eine vergabefreie Dienstleistungskonzession annimmt, ist allerdings zu fragen, ob die Anwendung des Vergaberechts nicht sinnvoll wäre. Ist die Dienstleistungskonzession mit einer Regelung über den Preis verbunden, wie dies im Sozialrecht die Regel sein dürfte, kann der Wettbewerb dabei über die im Wesentlichen über den Preis bestimmte Wirtschaftlichkeit erfolgen. Die inzwischen im Vordergrund stehenden Ziele des Vergaberechts, das öffentliche Beschaffungswesen für den Wettbewerb zu öffnen und Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zu gewährleisten, sind auch für die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen relevant. Auch wenn die Dienstleistungskonzession dadurch gekennzeichnet ist, dass der Konzessionär das wirtschaftliche Risiko trägt und die Einzelverträge im Rahmen der Konzession nicht durch die öffentliche Hand vergeben werden, sondern der Privatautonomie unterliegen, beschränkt die Dienstleistungskonzession doch den Wettbewerb um diese Einzelverträge, so dass es sinnvoll ist, die damit verbundene Beschränkung des Wettbewerbs im Markt wenigstens durch einen Wettbewerb um den Markt zu kompensieren. Im Übrigen sind die vergaberechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung auch ohne Anwendung des Vergaberechts aus dem allgemeinen Recht abzuleiten und zu beachten11. Eine sachliche Rechtfertigung, Dienstleistungskonzessionen im Gegensatz zu Rahmenvereinbarungen aus dem Vergaberecht herauszunehmen, ist nicht erkennbar. Dementsprechend wird auf EU-Ebene offenbar inzwischen überlegt, die Dienstleistungskonzessionen doch dem Vergaberecht zu unterwerfen12, so dass die oben getroffenen Unterscheidungen möglicherweise obsolet werden.

VI. Verbleibende Vorgaben des Sozialrechts Wenn die Anwendung des Vergaberechts insoweit also geboten oder zumindest sinnvoll erscheint, bedeutet dies noch nicht, dass der Leistungsträger in der Gestaltung der Vergabe frei ist. Vielmehr bleibt das Sozialrecht insofern zu beachten, als es nicht zwingend gegen das europäische Vergaberecht verstößt. Dabei treffen derartige Verstöße vor allem die Randbereiche des Sozialrechts, ___________ 11 12

Vgl. etwa Prieß/Krohn (2005), S. 46. Vgl. FAZ v. 22.11.2005, S. 19.

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während den relevanten Kernbereichen auch im Rahmen des Vergaberechts Geltung zukommen dürfte. Soweit im Rahmen der sozialrechtlichen Vorschriften ein Spielraum für die Ausgestaltung des Vergabeverfahrens besteht und das Vergaberecht nur bei bestimmten Ausgestaltungen anwendbar ist und das Sozialrecht verdrängt, dürften darüber hinaus nur solche Gestaltungen gewählt werden, die vergabefrei sind, um eine möglichst weitgehende Geltung des Sozialrechts zu erreichen. Auch insoweit erzwingt das Vergaberecht einen möglichst weitgehenden Wettbewerb, indem es einen Spielraum nur dort lässt, wo die öffentliche Hand nicht in den Wettbewerb eingreift.

1. Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten Das Vergaberecht steht insbesondere dem Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten nicht entgegen, da dieses durch die Ausschreibung einer Rahmenvereinbarung an mehrere Leistungserbringer ermöglicht werden kann 13, bei der entsprechend dem neuen europäischen Vergaberecht festgelegt wird, wie die einzelnen Leistungen zwischen den Leistungserbringern verteilt werden (Art. 32 Abs. 4 S. 2 Alt. 1 Richtlinie 2004/18/EG) und dass dabei das Wunschund Wahlrecht des Leistungsempfängers Vorrang genießt. Die Ausschreibung von 90 % des Bedarfs würde demgegenüber zu einer weitgehenden Bindung führen, wie auch das Hauptreferat feststellt, deren Vereinbarkeit mit dem Wunsch- und Wahlrecht sehr zweifelhaft wäre. Da das Vergaberecht eine derartige Ausschreibung nicht erzwingt, würde damit ein Verstoß gegen das Sozialrecht vorliegen.

2. Anspruch des Leistungserbringers auf Berücksichtigung Der Anspruch des Leistungserbringers auf Ausübung pflichtgemäßen Ermessens beim Abschluss einer sozialrechtlichen Rahmenvereinbarung (§ 75 III SGB XII) dürfte durch die Ausschreibung im Vergabeverfahren nur geringfügig eingeschränkt werden. Das Ermessen kann insoweit bereits im Rahmen des Vergabeverfahrens ausgeübt werden, indem es in die Ausschreibungsbedingungen einfließt. Der Ausübung des Ermessens bereits im Vergabeverfahren ist zwar entgegengehalten worden, dass das Sozialrecht die jederzeitige Ausübung des Ermessens innerhalb einer bestimmten Frist vorsieht (§ 77 I 2 SGB XII)14. Aber diese Regelung betrifft nicht den Kernbereich des ___________ 13 14

Ähnlich Prieß/Krohn (2005), S. 42 f. OVG Münster (2005), S. 834.

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Sozialrechts, sondern hat eher den Charakter einer Ordnungsvorschrift, insbesondere da die Rahmenvereinbarung nicht jederzeit zu laufen beginnt, sondern auf die nächste Wirtschaftsperiode bezogen ist (§ 77 I 1 SGB XII). Der Ausübung des Ermessens im Rahmen eines Vergabeverfahrens kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Abschluss von Rahmenvereinbarungen nur von den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit abhängig gemacht werden und nicht wegen fehlenden Bedarfs abgelehnt werden darf (§ 75 III 2 SGB XII)15. Denn diese Gesichtspunkte sind auch für das Vergabeverfahren zentral und können letztendlich auch nicht ohne Rücksicht auf den Bedarf festgestellt werden, was insbesondere für die Wirtschaftlichkeit der Vergütung gilt, deren Fehlen dem Abschluss einer Rahmenvereinbarung entgegen steht (§ 75 II 3 SGB XII). Auch die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) sowie die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 43 ff, Art. 49 ff. EG-Vertrag) der Leistungserbringer lassen sich nicht ohne weiteres gegen die Ausschreibung sozialer Dienstleistungen anführen16, da jede Vergabe und jeder Vertragsschluss notwendig die Grundrechte und -freiheiten der nicht zum Zuge gekommenen Konkurrenten berührt. Sie betreffen damit vor allem den Inhalt der Ausschreibung, insbesondere die Größe und Verteilung der Lose17.

3. Individuelle Verhandlung der Rahmenvereinbarung Weiter ist zwar die im Sozialrecht vorgesehene individuelle Verhandlung der Rahmenvereinbarung (§ 77 I 2 SGB SII) durch das Vergaberecht ausgeschlossen. Aber auch die individuelle Verhandlung dürfte nicht zum Kernbereich des Sozialrechts gehören. Sie wird durch das Vergabeverfahren ersetzt, wodurch insbesondere die angestrebte Gleichbehandlung und Transparenz sichergestellt wird.

4. Ausschließlichkeit ausgeschlossen Problematisch erschiene aus der Sicht des Sozialrechts vor allem die Vergabe sozialer Dienstleistungen exklusiv an einen Leistungserbringer, da darin einerseits ein Verstoß gegen den sozialrechtlichen Grundsatz der Anbieterkonkurrenz liege18 und das Wunsch- und Wahlrecht unterlaufen würde19, ande___________ 15

So aber etwa Brünner (2005), S. 77. So aber etwa Brünner (2005), S. 77 ff. 17 Ähnlich Nielandt (2005), S. 47 ff. 18 OVG Münster, NVwZ 2005, S. 834. 16

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rerseits durch die darin liegende Bindung des Leistungsträgers aber in der Regel das Vergaberecht anwendbar würde 20. Aber diese Ausschließlichkeit wird durch das Vergaberecht nicht vorgegeben, dass auch die Vergabe von mehreren Rahmenverträgen erlaubt. Ein Konflikt zwischen Sozial- und Vergaberecht besteht insoweit also nicht.

VII. Fazit Die Vergabe sozialer Dienstleistungen kann unter das Vergaberecht fallen, das dem Sozialrecht aufgrund seiner europarechtlichen Fundierung grundsätzlich vorgeht. Der Kernbereich des Sozialrechts wird durch die Regelungen des Vergaberechts jedoch nicht berührt, insoweit besteht kein prinzipieller Gegensatz. Das Vergaberecht hat in der Terminologie des Hauptreferats die Funktion, dort zumindest einen Wettbewerb um den Markt zu gewährleisten, wo der Wettbewerb im Markt durch die Beteiligung der öffentlichen Hand eingeschränkt wird. Die Einschränkung des Wettbewerbs im Markt ist demgemäß nicht Folge, sondern Voraussetzung der Anwendung des Vergaberechts. Ein Gegensatz zwischen Sozialrecht und Vergaberecht besteht also nur insoweit, als das Vergaberecht den Spielraum des Sozialrechts nur dort begrenzt, wo dieses den Wettbewerb beeinträchtigt. Richtig verstanden kann das Vergaberecht also nicht als Instrument eingesetzt werden, den Wettbewerb im Bereich sozialer Dienstleistungen zu beschränken. Es dient vielmehr der Erzwingung von Wettbewerb. Literatur Brünner, F. (2005): Ausschreibungspflicht für soziale Dienstleistungen?, ArchsozArb 36 (2005), S. 70 ff. Hertwig, S. (2005): Praxis der öffentlichen Auftragsvergabe, 3. Aufl., München. Immenga, U. / Mestmäcker, E.-J. / Dreher, M. (2001): Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 3. Aufl., München. Nielandt, D. (2005): Die Beteiligung freier Träger bei der Vergabe von Sozialleistungen, RDSE 2005, S. 44 ff. Prieß, H.-J. / Krohn, W. (2005): Die Durchführung förmlicher Vergabeverfahren im Sozialhilfebereich, ArchsozArb 36, S. 34 ff. Storost, C. (2005): Die Bundesagentur für Arbeit an den Schnittstellen von Sozial- und Vergaberecht, NZS 2005, S. 82 ff.

___________ 19 20

Vgl. etwa Hertwig (2005), Rn. 39. OLG Düsseldorf (2005b), S. 653.

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Rüdiger Wilhelmi Rechtsprechung

OLG Düsseldorf (2005a), Beschluss vom 8. 9. 2004 – VII Verg 35/04, NZBau 2005, S. 650. — (2005b), Beschluss vom 22. 9. 2004 – VII Verg 44/04, NZBau 2005, S. 652. OVG Münster (2005), Beschluss vom 27. 9. 2004 – 12 B 1390/04, NVwZ 2005, S. 834.

Autorenverzeichnis Dr. Anne van Aaken, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg. Jun.-Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, Institut für Philosophie, Universität Bayreuth. Dr. Andrea Clausen, Econethics, Mainz. Prof. Dr. Georg Cremer, Deutscher Caritasverband, Freiburg. Priv.-Doz. Dr. Bernhard Emunds, Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschaftsund Gesellschaftsethik, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main. Dr. Johannes Eurich, Diakoniewissenschaftliches Institut der Universität Heidelberg. Prof. Dr. Dr. Karl Gabriel, Institut für Christliche Sozialwissenschaften, Universität Münster. Dr. Nils Goldschmidt, Walter Eucken Institut, Freiberg. M. A. Tobias Jakobi, Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main. Prof. Dr. Alfred Jäger, Kirchliche Hochschule Bethel, Bielefeld. OKR Dr. Jens Kreuter, Staatskanzlei des Landes Niedersachsen, Hannover. Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl, Berliner Institut für christliche Ethik und Politik, Katholische Hochschule für Sozialwesen, Berlin. PD Dr. Christoph Lütge, Lehrstuhl für Philosophie und Ökonomik, LMU München. Prof. Dr. Frank Nullmeier, Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen Prof. Dr. Dirk Sauerland, Wissenschaftliche Hochschule Lahr. Prof. Dr. Michael Schramm, Fakultät für Katholische Theologie und Wirtschaftsethik, Universität Hohenheim, Stuttgart. PD Dr. Alexander Spermann, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim. Dr. Torsten Sundmacher, Mercator School of Management, Lehrgebiet Mikroökonomie, Universität Duisburg-Essen. Prof. Dr. Stefan Voigt, Department of Economic Policy, Universität Kassel.

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Joachim Wiemeyer, Lehrstuhl für christliche Gesellschaftslehre, RuhrUniversität Bochum. Dr. Rüdiger Wilhelmi, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Universität Tübingen.