Löwe/Rosenberg. Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz: Lieferung 30 MRK, IPBPR [Reprint 2012 ed.] 9783110277630, 9783899491616


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German Pages 684 Year 2005

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Löwe/Rosenberg. Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz: Lieferung 30 MRK, IPBPR [Reprint 2012 ed.]
 9783110277630, 9783899491616

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Europäische Menschenrechtskonvention Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte VORBEMERKUNG In der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte hat sich auch die Bundesrepublik völkerrechtlich zur Gewährleistung wichtiger Freiheitsgarantien und Menschenrechte verpflichtet. Diese Verträge sind seit vielen Jahren innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht. Die Beachtung der Konventions Verpflichtungen spielte aber in der innerstaatlichen Grundrechtediskussion über Jahre hinweg keine entscheidende Rolle, obwohl die damalige Kommission auch Beschwerden aus der Bundesrepublik behandelte. Zu spektakulären Entscheidungen des Gerichtshofs kam es nur in wenigen, in ihrer Auswirkung überschaubaren Einzelfällen. Erst in den letzten Jahren sind die Konventionsgarantien bei uns im Rechtsalltag verstärkt in den Vordergrund getreten. Im zunehmenden Umfang werden innerstaatliche Maßnahmen und Urteile bis hin zum Bundesverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit den Konventionsverpflichtungen überprüft; auch das Schrifttum befaßt sich verstärkt ihnen. Die innerstaatlichen Verfahren, vor allem die Strafverfahren, werden in zunehmenden Umfang von den zuständigen nationalen und internationalen Gremien daran gemessen, ob sie im konkreten Fall von der Verfahrensgestaltung und vom Ergebnis her den Anforderungen dieser Menschenrechtspakte genügen. Zu dieser Entwicklung trägt vor allem auch bei, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte durch das 11. Zusatzprotokoll zu einem Vollgericht geworden ist, das nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs von jedermann wegen der Verletzung eines der in der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihren Zusatzprotokollen garantierten Rechte angerufenen werden kann; einer Möglichkeit, von der nicht nur in spektakulären Verfahren sondern auch bei Alltagsfällen zunehmend Gebrauch gemacht wird. In der Strafrechtspraxis stellen sich deshalb immer häufiger Fragen zu Inhalt und Tragweite bestimmter Konventionsverbürgungen. Unser geltendes Strafprozeßrecht wird zwar in seinen Grundzügen weitgehend den Anforderungen der Konventionen gerecht; in Einzelfragen ist es aber erforderlich, auf einzelne Konventionsgarantien zur Auslegung des geltenden Rechts, zur Korrektur bestehender Rechtsmeinungen und auch zur Ausfüllung von Lücken zurückzugreifen. Hierfür genügt der mitunter problematische Wortlaut der Konventionstexte nicht, denn die Tragweite, die die dort garantierten Rechte und Freiheiten haben, wird weitgehend von der Rechtspraxis der damit befaßten Organe bestimmt. Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention haben vor allem die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die einzelnen Konventionsverbürgungen bewußt fortentwickelt, um sie den geänderten Auffassungen von der Tragweite des Menschenrechtsschutzes und der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Mitgliedstaten anzupassen. In der Praxis des Strafverfahrens kann deshalb die Feststellung von Inhalt und aktueller Tragweite der einzelnen Konventionsverbürgungen erhebliche praktische Schwierigkeiten bereiten. Die Quellen sind schwer zugänglich. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen oft nur in der Originalsprache (englisch/französisch) vor, sie werden auch

MRK

Menschenrechtskonventionen

in ihrer Argumentation mitunter von anderen Rechtstraditionen und Vorstellungen beeinflußt. Dazu kommt, daß ihre Aussagen sich in der Regel bewußt auf den entschiedenen Fall beschränken und auch argumentativ mehr von allgemeinen Billigkeitserwägungen und den eigenen Präzedenzfällen bestimmt werden als von theoretisch dogmatischen Überlegungen. Wieweit einzelne Urteile eine über den entschiedenen Fall hinausreichende allgemeine Tragweite haben, ist manchmal schwer einzuschätzen, vor allem, wenn der Urteilsspruch das Ergebnis einer Gesamtwürdigung ist, die nicht ersehen läßt, welches Gewicht den einzelnen Erwägungen beigemessen wurde. Zudem wird nur ein geringer Teil dieser Entscheidungen in deutscher Ubersetzung - mitunter mit erheblicher Zeitverzögerung - in den gängigen deutschsprachigen juristischen Zeitschriften veröffentlicht. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind zwar jetzt auch über Internet allgemein zugänglich. Der Zugriff auf die englischen oder französischen Originaltexte der Entscheidungen wird aber, abgesehen von der Sprachenfrage, auch durch deren große Zahl erschwert, so daß die Suche nach einschlägigen Entscheidungen ohne konkretisierende Anhaltspunkte mitunter sehr zeitaufwendig sein kann. Zweck dieser Kommentierung ist es, der Rechtspraxis, namentlich für das Strafund Strafverfahrensrecht, den ersten Zugang zu den Vertragswerken und den dazu ergangenen Entscheidungen zu erleichtern und zugleich durch eine Gesamtschau des internationalen Menschenrechtsschutzes zu einem besseren Verständnis der hier bestehenden Probleme und Auffassungen beizutragen. Bei den Erläuterungen der einzelnen Bestimmungen der StPO und des GVG in anderen Teilen dieses Kommentars werden zwar auch einschlägige Fragen der Menschenrechtskonvention und die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dazu ergangenen Entscheidungen mit angesprochen. Zur Abrundung sollen die nachstehenden Erläuterungen diese Einzelhinweise durch einen Gesamtüberblick über die Konventionen und die von ihnen garantierten einzelnen Rechte und Freiheiten und deren Zusammenhang mit anderen Vertragswerken des internationalen Menschenrechtsschutzes ergänzen. Dies soll zum besseren Verständnis der Eigenart dieser Vertragswerke beitragen und ihre auch für die Auslegung bedeutsame Verknüpfung mit den menschenrechtlichen Gewährleistungen anderer völkerrechtlicher Übereinkommen aufzeigen. Dies gilt vor allem für die Rezeption der Europäischen Menschenrechtskonvention im Recht der Europäischen Union und ihre Bedeutung für das in Entwicklung begriffene europäische Verfassungsrecht. Entsprechend der bei einem Kommentar zur Strafprozeßordnung begrenzten Zielsetzung liegt der Schwerpunkt der Erläuterungen der Konventionen bei den für das Strafverfahren bedeutsamen Fragen. Die hier vor allem einschlägigen Konventionsgarantien werden daher ausführlicher behandelt als die anderen Konventionsverbürgungen, bei denen meist nur die für ihr Verständnis wichtigsten Grundzüge dargestellt werden und auf die Erörterung vieler Einzelheiten verzichtet wird. Auch die Verfahren zur internationalen Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes, vor allem das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vor den bei den Vereinten Nationen bestehenden Ausschüssen werden im Anhang nur in ihren für das Verständnis des Schutzsystems wichtigen Grundzügen dargestellt. Für diese Beschränkung sprach, daß die vorliegende Kommentierung ohnehin nur den ersten Zugang zu den Vertragswerken, zum gängigen deutschsprachigen Spezialschrifttum und zu den ergangenen Entscheidungen eröffnen soll. Sie kann und soll nicht die ausführlicheren Darstellungen ersetzen, die die Menschenrechtskonventionen und einzelne Probleme ihrer Umsetzung im internationalen Spezialschrifttum erfahren haben. Wegen der weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmungen bot sich an, die Europäische Menschenrechtskonvention und den innerstaatlich gleichermaßen rechtsverbind(Π)

Vorbemerkungen

IPBPR

liehen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte trotz ihrer unterschiedlichen Gliederung gemeinsam zu erläutern. Der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihren Zusatzprotokollen kam dabei wegen ihrer größeren praktischen Bedeutung für unsere Region die Leitfunktion bei der Reihenfolge der erläuterten Artikel zu. Daß die Gliederung des IPBPR dadurch zerrissen wurde, mußte in Kauf genommen werden. Eine gesonderte Zusammenstellung soll das Auffinden der mitbehandelten Artikel des IPBPR in den Kommentarstellen erleichtern. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden soweit möglich - mit der Fundstelle einer deutschsprachigen Übersetzung angeführt. Dies erschien um so eher vertretbar, als der maßgebende englische oder französische Text an Hand der angegebenen Daten (Datum der Entscheidung, Name des Beschwerdeführers) in der Datenbank des E G M R (HUDOC) abgerufen werden kann.

(ΠΙ)

Um in der Erscheinungsweise nicht festgelegt zu sein und auf diese Weise Bedürfnissen der Praxis besser gerecht werden zu können, wird darauf verzichtet, die Bände durchgehend zu paginieren. Durch Verwendung der Randnummern sind Seitenzahlen - vor allem für das Zitieren - entbehrlich. Die einzelnen Lieferungen werden in der Reihenfolge des Erscheinens durchnummeriert; die Folge wird also von derjenigen des Gesamtwerks abweichen. Sobald ein Band vollständig ist, werden jeweils Einbanddecken geliefert. Der Verlag

Erscheinungsdatum: April 2005 ISBN 978-3-89949-161-6 elSBN 978-3-11-027763-0 © Copyright 2005 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany.

INHALTSÜBERSICHT S. Fundstellen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der früheren Europäischen Komission für Menschenrechte Ergänzendes Abkürzungsverzeichnis Abgekürzt zitiertes Spiezialschrifttum Fundstellen der Erläuterungen des IPBPR

VII IX XI XII

TEIL I VERTRAGSTEXTE 1. (Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 2. (1.) Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952 3. Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind, vom 16. September 1963 4. Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe vom 28. April 1983 . 5. Protokoll Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe vom 3. Mai 2002 6. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 7. (1.) Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 8. Zweites Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 15. Dezember 1989 9. VN-Ubereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 . . . . 10. Europäisches Ubereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26. November 1987 . . .

1 22

25 29

33 37 61 66 70 86

TEIL II ERLÄUTERUNGEN Einführung Präambel, Art. 1 bis 18 und die einschlägigen Art. des IPBPR; Zusatzprotokolle zur M R K Anhang. Verfahren des internationalen Menschenrechtsschutzes (V)

95 137 611

Fundstellen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der früheren Europäischen Kommission für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte Von 1960-1974: Bd. 1 - B d . 46: Collection of Decisions of the European Commission of H u m a n Rights (CD); von 1975-1998: Decisions and Reports Bd. 1 - B d 94 (DR) seit Bd. 76 aufgeteilt in Series Α (Entscheidung in der Orginalfassung); Series Β (Entscheidung in der jeweiligen Übersetzung auf englisch oder französisch). Auch die zu den Berichter der Kommission ergangenen Entscheidungen des Ministerkomitees sind dort wiedergegeben. Entscheidungen des EGMR Die Entscheidungen des Gerichtshofs sind veröffentlicht in englisch/französisch in der amtlichen Sammlung, deren offizieller N a m e mehrmals wechselte. Bis 1996: Publications de la Cour europeenne de droits de l'homme, Arrets et decisions, Serie A / Publications of the European Court of Human Rights, Judgements and Decisions Series A1 hier zitiert Series A Nr. der Entscheidung 1996 bis 1998: Recueil des Arrets et Decisions/Reports of Judgements and Decisions, hier zitiert Rep. 1997-1 ab 1.11.1998 (Inkrafttreten des 11. ZP) wird diese offizielle Sammlung ausgewählter Entscheidungen, die auch Zuständigkeitsentscheidungen mit erfaßt, offiziell als E C H R zitiert, mitunter findet man aber auch weiterhin die Bezeichnung Reports oder auch Slg, die Fundstelle ist aber jeweils gleich hier zitiert E G H R 2000-11. Im Internet sind alle Entscheidungen des alten und des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Rechtsprechungsdatenbank des Gerichtshofs (Human Rights Documentation „ H U D O C " ) in englischer/französischer Sprache abrufbar (http://hudoc.echr.coe.int). Sie sind dort mit Entscheidungsdatum und N a m e (ev. abgekürzte Initialen) des Beschwerdeführer leicht zu finden. Auch die Zulässigkeitsentscheidungen der früheren Kommission sind dort für die Zeit von 1986 bis 1998 vollständig und für die Zeit zwischen 1955 und 1986 teilweise erfaßt, desgleichen, soweit veröffentlicht, auch die Berichte der Kommission von 1986 bis 1999. Dort können u. a. auch chronologische Listen der Entscheidungen mit stichwortartigen Hinweisen auf deren Gegenstand abgerufen werden.

1

Die Series ß enthält Sitzungsdokumenten, Schriftsätze u. a.; sie wurde nach dem 104. Band eingestellt.

(VII)

M R K

Rechtsprechungsübersichten

Rechtsprechungsübersichten Zusammenfassende deutschsprachige Berichte über die Rechtsprechung des E G M R und der früheren E K M R finden sich in mehreren Zeitschriften, so vor allem in EuGRZ NStZ-RR Jahrbuch für internationales Recht JIR (= German Yearbook of International Law GYIL) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV).

(VTTT)

Ergänzendes Abkürzungsverzeichnis

AChRMV

AMRK AVR EGMR E G M R Bd.

VerfO

EKMR EuR FNA

FN Β FP

FP-IPBPR

2. FP-IPBPR Genfer Flüchtlingskonvention IAGMR IGH IPWSKR KSZE ILO IPBPR JIR

(IX)

Afrikanische Charta der Rechte des Menschen und der Völker vom 26.6.1981, deutsche Übersetzung EuGRZ 1990 348 Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22.11.1969 (Pact of San Jose), deutsche Übersetzung EuGRZ 1980 435 Archiv des Völkerrechts Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Golsong/Petzold/Furer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Sammlung in deutscher Übersetzung, Band, Seite Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte idF. der Bek. vom 4.11.1998, BGBl. II 2002 S. 1631. Die Übersetzung der späteren Änderungen ist im BGBl. II noch nicht bekannt gemacht. Europäische Kommission für Menschenrechte Europarecht Fundstellennachweis des Deutschen Bundesrechts, Bundesrecht ohne völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge mit der D D R Fundstellennachweis des Deutschen Bundesrechts, Völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge mit der D D R Fakultativ-Protokoll auch: (1) Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. II 1992 S. 1247. 2. Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15.12.1989, BGBl. II 1992 S. 391. Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl. II 1953 S. 560. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte Internationaler Gerichtshof Internationaler Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vom 19.12.1966, BGBl. II 1973 S. 1570 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. II 1973 S. 1534 Jahrbuch für internationales Recht (= German Yearbook of International law - GYIL)

MRK östr.OGH östr.VfGH Schweiz.BGer. SchweizJZ UN-AMR UN-Antifolterkonvention

YVDStRL WYK ZaöRV ZP ZP-MRK

Abkürzungen

Österreichischer Oberste Gerichtshof Österreichischer Verfassungsgerichtshof Schweizerisches Bundesgericht Schweizerische Juristenzeitung Menschenrechtsausschuß des IPBPR Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984, BGBl. II 1990 S. 246. Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 BGBL II 1985 S. 926 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zusatzprotokoll auch: Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention 1. Z P - M R K vom 20.3.1952, BGBl. II 1956 S. 1880 2. Z P - M R K vom 6.5.1963, BGBl. II 1968 S. 1112 3. Z P - M R K vom 6.5.1963, BGBl. II 1968 S. 1116 4. Z P - M R K vom 16.9.1963, BGBl. II 1968 S. 423 5. Z P - M R K vom 20.1.1966, BGBl. I I 1968 S. 1120 6. Z P - M R K vom 28.4.1983, BGBl. II 1988 S. 662 7. Z P - M R K vom 22.11.1984, dreisprachig abgedruckt bei Meyer-Ladewig S. 361; deutsche Übersetzung auch Satorius II Nr. 135 8. Z P - M R K vom 19.3.1985, BGBl. I I 1989 S. 547 9. Z P - M R K vom 6.11.1990, BGBl. II 1994 S. 491 10. Z P - M R K vom 25.3.1992 (überholt durch 11. ZPMRK) 11. Z P - M R K vom 11.5.1994, BGBl. II S. 578 12. Z P - M R K vom 26.6.2000, deutsche Übersetzung bei Art. 14 M R K 13. Z P - M R K vom 3.5.2002, BGBl. II 2004 S. 982 14. Z P - M R K vom 13.5.2004, deutsche Übersetzung in E u G R Z (vorgesehen)

(X)

Abgekürzt zitiertes SpezialSchrifttum zitiert Doswald-Beck, Louise, Kolb Robert Judicial Process and Human Rights - United Nations, European, American and African Systems - Texts and summaries of international case law, 2004

Doswald-Beck/Kolb

Esser, Robert Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002

Esser (Seite)

(Seite)

Frowein, Jochen/Peukert, Wolfgang EMRK Kommentar, Frowein!Peukert 2. Aufl. 1996 (Art. und Rdn.) Grabenwarter, Christoph Europäische Menschenrechtskonvention, Reihe Juristische Kurzlehrbücher, 2003

Grabenwarter (§ und Rdn.)

Guradze, Heinz Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1966

Guradze (Art. und Gliederungsnummer)

Hofmann IPBR Erläuterung in Das Deutsche Bundesrecht I A 10c (1986)

Hofmann (Seite)

Karl, Wolfram (Hrsg) Internationaler Kommentar zur EMRK (Loseblatt, nicht vollst.), letzte Lieferung 2002

IntKommEMRK- Verf. (Art. und Rdn.)

Meyer-Ladewig, Jens E M R K Handkommentar, 2003

Meyer-Ladewig (Art. und Rdn.)

Nowak, Manfred U NO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativ-Protokoll - CCPR Kommentar, 1989

Nowak (Art. und Rdn.)

Partsch, Karl Josef Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1966 (Sonderdruck aus BettermannlNeumannlNipperdey (Hrsg.) Die Grundrechte der Welt Bd. I 1)

Partsch (Seite)

Peters, Anne Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003

Peters (Seite)

Schorn, Hubert Die Europäische Konention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihr Zusatzprotokoll in Einwirkung auf das deusche Schorn Recht, 1965 (Art. und Gliederungsnummer) Stuckenberg, Carl-Friedrich Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998 Stuckenberg (Seite) Villiger, Marc Ε Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). 2. Aufl. 1999 Villiger HdB (Rdn.) (XT)

Fundstellen der Erläuterungen des IPBPR Bei den erläuterten Artikeln der M R K und des (1.) Z P - M R K wird die Reihenfolge des Vertragstextes eingehalten; da dies bei den jeweils gemeinsam damit abgehandelten Bestimmungen des IPBR nicht möglich ist, werden nachstehend die Fundstellen aufgeführt. IPBPR

wird erläutert bei MRK

IPBPR

wird erläutert bei MRK

Präambel

Präambel

Präambel

Präambel

nicht erläutert Art. 1 Art. 13 Art. 14 Art. 15 Art. 17 Art. 60 Art. 2 Art. 3 Art. 4 Art. 5 Nach Art. 5 Art. 5 Art. 2, 3 4. ZP M R K Art. 4 4. Z P M R K Art. 6

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Art. 7 Art. 14 Art. 8 Art. 9 Art. 10 Nach Art. 10 Art. 11 Art. 11 Art. 12 Art. 8, 14 Art. 3, 1. ZP M R K Art. 14 Art. 14 Hinweise im Anhang Verfahrensrecht Rdn. 51 Einf. Rdn. 81-86

Art. 1 Art. 2 Abs. Abs. Art. 3 Art. 4 Art. 5 Abs. Abs. Art. 6 Art. 7 Art. 8 Art. 9 Art. 10 Art. 11 Art. 12 Art. 13 Art. 14

1,2 3

1 2

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 bis 52

Art. 53

(XTT)

TEIL I VERTRAGSTEXTE 1. Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Vom 7. August 1952 ( B G B l . II S. 6 8 5 , ber. S. 9 5 3 ) Der B u n d e s t a g hat d a s f o l g e n d e G e s e t z b e s c h l o s s e n :

Artikel I Der in R o m a m 4. N o v e m b e r 1950 von d e n R e g i e r u n g e n d e r M i t g l i e d s t a a t e n d e s E u r o p a r a t e s u n t e r z e i c h n e t e n K o n v e n t i o n z u m S c h u t z e der M e n s c h e n r e c h t e u n d G r u n d f r e i h e i t e n w i r d zugestimmt.

Artikel II (1) Die K o n v e n t i o n w i r d n a c h s t e h e n d mit G e s e t z e s k r a f t veröffentlicht. (2) Die B u n d e s r e g i e r u n g w i r d e r m ä c h t i g t , die Z u s t ä n d i g k e i t der K o m m i s s i o n für M e n s c h e n rechte n a c h Artikel 25 d e r K o n v e n t i o n a n z u e r k e n n e n . (3) Die B u n d e s r e g i e r u n g w i r d e r m ä c h t i g t , die G e r i c h t s b a r k e i t d e s E u r o p ä i s c h e n G e r i c h t s hofes für M e n s c h e n r e c h t e n a c h Artikel 4 6 der K o n v e n t i o n in allen die A u s l e g u n g u n d A n w e n d u n g dieser K o n v e n t i o n b e t r e f f e n d e n A n g e l e g e n h e i t e n als o b l i g a t o r i s c h a n z u e r k e n n e n . (4) Der Tag, an d e m d a s A b k o m m e n g e m ä ß s e i n e m Artikel 66 in Kraft tritt, ist im B u n d e s gesetzblatt bekanntzugeben.

Artikel III Die K o n v e n t i o n gilt im g e s a m t e n G e l t u n g s b e r e i c h d e s G r u n d g e s e t z e s .

Artikel IV Dieses G e s e t z tritt a m Tage n a c h seiner V e r k ü n d u n g in Kraft.

(1)

Walter Gollwitzer

Bekanntmachung der Neufassung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Vom 17. Mai 2002 ( B G B l . II S. 1054) Auf Grund des Artikels 2 des Gesetzes v o m 24. Juli 1995 zu d e m Protokoll Nr. 11 v o m 11. Mai 1994 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. II 1995 S. 578) wird n a c h s t e h e n d der Wortlaut der Konvention v o m 4. N o v e m b e r 1950, zuletzt g e ä n d e r t durch die Protokolle Nr. 9 v o m 6. November 1990 und Nr. 10 v o m 25. März 1992 zur Ä n d e r u n g der Konvention zum Schutze der M e n s c h e n r e c h t e und Grundfreiheiten v o m 4. N o v e m b e r 1950 (BGBl. 1994 II S . 4 9 0 ) sowie das Protokoll Nr. 11 v o m 11. Mai 1994 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Umgestaltung des durch die Konvention eingeführten Kontrollmechanismus (BGBl. 1995 II S. 578), mit einer s p r a c h l i c h überarbeiteten d e u t s c h e n Übersetzung in der ab I . N o v e m b e r 1998 geltenden Fassung bekannt gemacht. Die Neufassung berücksichtigt: 1. die Konvention v o m 4. November 1950 z u m Schutze der M e n s c h e n r e c h t e und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953), für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 3. September 1953 (BGBl. 1954 II S. 14), 2. das Zusatzprotokoll v o m 20. März 1952 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1956 II S. 1879), für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 13. Februar 1957 (BGBl. II S. 226), 3. das Protokoll Nr. 4 v o m 16. September 1963 zur Konvention zum Schutze der M e n s c h e n rechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind (BGBl. 1968 II S. 422), für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am I . J u n i 1968 (BGBl. II S. 1109), 4. das Protokoll Nr. 6 v o m 28. April 1983 zur Konvention zum Schutze der M e n s c h e n r e c h t e und Grundfreiheiten über die A b s c h a f f u n g der Todesstrafe (BGBl. 1988 II S. 662), für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am I . A u g u s t 1989 (BGBl. II S. 814).

Stand: 1. 10. 2004

(2)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention

Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms

Convention de sauvegarde des Droits de l'Homme et des liberies Fondamentales

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Übersetzung)

The governments signatory hereto, being members of the Council of Europe,

Les gouvernements signataires, membres du Conseil de I'Europe,

Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarats -

Considering the Universal Declaration of Human Rights proclaimed by the General Assembly of the United Nations on 10 th December 1948;

Considerant la Declaration universelle des Droits de l'Homme, proclamee par l'Assembiee generale des Nations Unies le 10 decembre 1948;

in Anbetracht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet worden ist;

Considering that this Declaration aims at securing the universal and effective recognition and observance of the rights therein declared;

Considerant que cette declaration tend ä assurer la reconnaissance et I'application universelles et effectives des droits qui y sont enonces;

in der Erwägung, dass diese Erklärung bezweckt, die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten;

Considering that the aim of the Council of Europe is the achievement of greater unity between its members and that one of the methods by which that aim is to be pursued is the maintenance and further realisation of human rights and fundamental freedoms;

Considerant que le but du Conseil de I'Europe est de realiser une union plus etroite entre ses membres, et que l'un des moyens d'atteindre ce but est la sauvegarde et le developpement des droits de l'homme et des libertes fondamentales;

in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist;

Reaffirming their profound belief in those fundamental freedoms which are the foundation of justice and peace in the world and are best maintained on the one hand by an effective political democracy and on the other by a common understanding and observance of the human rights upon which they depend;

Reaffirmant leur profond attachement ä ces libertes fondamentales qui constituent les assises memes de la justice et de la paix dans le monde et dont le maintien repose essentiellement sur un regime politique veritablement democratique, d'une part, et, d'autre part, sur une conception commune et un commun respect des droits de l'homme dont ils se reclament;

in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden;

Being resolved, as the governments of European countries which are like-minded and have a common heritage of political traditions, ideals, freedom and the rule of law, to take the first steps for the collective enforcement of certain of the rights stated in the Universal Declaration,

Resolus, en tant que gouvernements d'Etats europeens animes d'un meme esprit et possedant un patrimoine commun d'ideal et de traditions politiques, de respect de la liberie et de preeminence du droit, ä prendre les premieres mesures propres ä assurer la garantie collective de certains des droits enonces dans la Declaration universelle,

entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen -

Have agreed as follows:

Sont convenus de ce qui suit:

haben Folgendes vereinbart:

Article 1

Article 1

Artikel 1

Obligation to respect human rights

Obligation de respecter les droits de l'homme

Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte

The High Contracting Parties shall secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in Section I of this Convention.

Les Hautes Parties contractantes reconnaissent ä toute personne relevant de leur juridiction les droits et libertes döfinis au titre I de la presente Convention:

Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freihelten zu.

0)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Section I

Titre I

Abschnitt I

Rights and freedoms

Droits et liberies

Rechte und Freiheiten

Article 2

Article 2

Artikel 2

Right to life

Droit ä la vie

Recht auf Leben

1 Everyone's right to life shall be protected by law. No one shall be deprived of his life intentionally save in the execution of a sentence of a court following his conviction of a crime for which this penalty is provided by law.

1 Le droit de toute personne ä la vie est protege par la loi. La mort ne peut etre infligee ä quiconque intentionnellement, sauf en execution d'une sentence capitate prononcee par un tribunal au cas oü le delit est puni de cette peine par la loi.

(1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.

2 Deprivation of life shall not be regarded as inflicted in contravention of this article when it results from the use of force which is no more than absolutely necessary:

2 La mort n'est pas consideree comme infligee en violation de cet article dans les cas oü eile resulterait d'un recours ä la force rendu absolument necessaire:

(2) Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um

a

in defence of any person from unlawful violence;

a

pour assurer la defense de toute personne contre la violence illegale;

a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;

b

in order to effect a lawful arrest or to prevent the escape of a person lawfully detained;

b

pour effectuer une arrestation reguliere ou pour empecher I'evasion d'une personne regulierement detenue;

b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;

c

in action lawfully taken for the purpose of quelling a riot or insurrection.

c

pour reprimer, conformement ä la loi, une erneute ou une insurrection.

c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.

Article 3

Article 3

Artikel 3

Prohibition of torture

Interdiction de la torture

Verbot der Folter

No one shall be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment or punishment.

Nul ne peut §tre soumis ä la torture ni ä des peines ou traitements inhumains ou degradants.

Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Article 4

Article 4

Artikel 4

Prohibition of slavery and forced labour

Interdiction de I'esclavage et du travail force

Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit

1 No one shall be held in slavery or servitude.

1 Nul ne peut etre tenu en esclavage ni en servitude.

(1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.

2 No one shall be required to perform forced or compulsory labour.

2 Nul ne peut Stre astreint ä accomplir un travail force ou obligatoire.

(2) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.

3 For the purpose of this article the term "forced or compulsory labour" shall not include:

3 N'est pas considere comme «travail force ou obligatoire» au sens du present article:

(3) Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt

a

any work required to be done in the ordinary course of detention imposed according to the provisions of Article 5 of this Convention or during conditional release from such detention;

a

tout travail requis normalement d'une personne soumise ä la detention dans les conditions prevues par I'article 5 de la presente Convention, ou durant sa mise en liberty conditionnelle;

a) eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;

b

any service of a military character or, in case of conscientious objectors in countries where they are recognised, service exacted instead of compulsory military service;

b

tout service de caractere militaire ou, dans le cas d'objecteurs de conscience dans les pays oü l'objection de conscience est reconnue comme legitime, ä un autre service a la place du service militaire obligatoire;

b) eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;

Stand: 1.10.2004

(4)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention c

any service exacted in case of an emergency or calamity threatening the life or well-being of the community;

c

tout service requis dans le cas de crises ou de calamites qui menacent la vie ou le bien-etre de la communaute;

c) eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;

d

any work or service which forms part of normal civic obligations.

d

tout travail ou service formant partie des obligations civiques normales.

d) eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.

Article 5

Article 5

Artikel 5

Right to liberty and security

Droit ä la liberte et ä la sürete

Recht auf Freiheit und Sicherheit

1 Everyone has the right to liberty and security of person. No one shall be deprived of his liberty save in the following cases and in accordance with a procedure prescribed by law:

1 Toute personne a droit ä la liberte et ä la sürete. Nul ne peut etre prive de sa liberte, sauf dans les cas suivants et selon les voies legates;

(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

a

the lawful detention of a person after conviction by a competent court;

a

s'il est detenu regulierement apres condemnation par un tribunal competent;

a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;

b

the lawful arrest or detention of a person for non-compliance with the lawful order of a court or in order to secure the fulfilment of any obligation prescribed by law;

b

b) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;

c

the lawful arrest or detention of a person effected for the purpose of bringing him before the competent legal authority on reasonable suspicion of having committed an offence or when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence or fleeing after having done so;

c

s'il a fait I'objet d'une arrestation ou d'une detention reguiieres pour insoumission ä une ordonnance rendue, conformement ä la loi, par un tribunal ou en vue de garantir I'exeGution d'une obligation prescrite par la loi; s'il a ete arrete et detenu en vue d'Stre conduit devant I'autorite judiciaire competente, lorsqu'il y a des raisons plausibles de soupgonner qu'il a commis une infraction ou qu'il y a des motifs raisonnables de croire ä la necessite de l'empecher de commettre une infraction ou de s'enfuir apres I'accomplissement de cel!e-ci;

the detention of a minor by lawful order for the purpose of educational supervision or his lawful detention for the purpose of bringing him before the competent legal authority; e the lawful detention of persons for the prevention of the spreading of infectious diseases, of persons of unsound mind, alcoholics or drug addicts or vagrants;

d

s'il s'agit de la detention reguliere d'un mineur, decidee pour son education surveillee ou de sa detention reguliere, afin de le traduire devant I'autorite competente;

d) rechtmäßige Freiheitsentziehung bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;

e

s'il s'agit de la detention reguliere d'une personne susceptible de propager une maladie contagieuse, d'un aliene, d'un alcoolique, d'un toxicomane ou d'un vagabond;

e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;

f

f

s'il s'agit de I'arrestation ou de la detention reguiieres d'une personne pour l'empecher de penetrer irregulierement dans le territoire, ou contre laquelle une procedure d'expulsion ou d'extradition est en cours.

f)

d

the lawful arrest or detention of a person to prevent his effecting an unauthorised entry into the country or of a person against whom action is being taken with a view to deportation or extradition.

c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;

rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.

2 Everyone who is arrested shall be informed promptly, in a language which he understands, of the reasons for his arrest and of any charge against him.

2 Toute personne arretee doit etre informee, dans ie plus court delai et dans une langue qu'elle comprend, des raisons de son arrestation et de toute accusation portee contre eile.

(2) Jeder festgenommenen Person muss innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.

3 Everyone arrested or detained in accordance with the provisions of paragraph 1.c of this article shall be brought promptly before a judge or other officer

3 Toute personne arretee ou detenue, dans les conditions prevues au paragraphe 1 .c du present article, doit Stre aussitöt traduite devant un juge ou un autre

(3) Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich

(5)

Walter Gollwitzer

MRK

Menschenrechtskonventionen, Vertragstexte

authorised by law to exercise judicial power and shall be entitled to trial within a reasonable time or to release pending trial. Release may be conditioned by guarantees to appear for trial.

magistrat habilite par la loi ä exercer des fonctions judiciaires et a le droit d'etre jugee dans un delai raisonnable, ou liberee pendant la procedure. La mise en liberty peut ätre subordonnee ä une garantie assurant la comparution de l'interesse ä I'audience.

zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.

4 Everyone who is deprived of his liberty by arrest or detention shall be entitled to take proceedings by which the lawfulness of his detention shall be decided speedily by a court and his release ordered if the detention is not lawful.

4 Toute personne privee de sa liberie par arrestation ou detention a ie droit d'introduire un recours devant un tribunal, afin qu'il statue ä bref delai sur la legalite de sa detention et ordonne sa liberation si la detention est illegale.

(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

5 Everyone who has been the victim of arrest or detention in contravention of the provisions of this article shall have an enforceable right to compensation.

5 Tout personne victime d'une arrestation ou d'une detention dans des conditions contraires aux dispositions de cet article a droit ä reparation.

(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.

Article 6

Article 6

Artikel 6

Right to a fair trial

Droit ä un proces equitable

Recht auf ein faires Verfahren

1 In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law. Judgment shall be pronounced publicly but the press and public may be excluded from all or part of the trial in the interests of morals, public order or national security in a democratic society, where the interests of juveniles or the protection of the private life of the parties so require, or to the extent strictly necessary in the opinion of the court in special circumstances where publicity would prejudice the interests of justice.

1 Toute personne a droit ä ce que sa cause soit entendue equitablement, publiquement et dans un delai raisonnable, par un tribunal independant et impartial, etabli par la loi, qui decidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractfere civil, soit du bien-fonde de toute accusation en matiere penale dirigee contre elle. Le jugement doit etre rendu publiquement, mais l'acces de la salle d'audience peut etre interdit ä la presse et au public pendant la totality ou une partie du proces dans l'interet de la moraiite, de l'ordre public ou de la securite nationale dans une societe democratique, lorsque les interets des mineurs ou la protection de la vie privee des parties au proces I'exigent, ou dans la mesure jugee strictement necessaire par le tribunal, lorsque dans des circonstances speciales la publicite serait de nature ä porter atteinte aux interets de la justice.

(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.

2 Everyone charged with a criminal offence shall be presumed innocent until proved guilty according to law.

2 Toute personne accusee d'une infraction est presumee innocente jusqu'ä ce que sa culpabilite ait ete legalement etablie.

(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

3 Tout accuse a droit notamment ä:

3 Everyone charged with a criminal offence has the following minimum rights:

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

a

to be informed promptly, in a language which he understands and in detail, of the nature and cause of the accusation against him;

a

etre informe, dans le plus court delai, dans une langue qu'il comprend et d'une maniere detaillee, de la nature et de la cause de I'accusation portee contre lui;

a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;

b

to have adequate time and facilities for the preparation of his defence;

b

disposer du temps et des facilites necessaires ä la preparation de sa defense;

b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;

c

to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing or,

c

se defendre lui-meme ou avoir I'assistance d'un defenseur de son choix et,

c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen

Stand: 1.10.2004

(6)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require;

s'il n'a pas les moyens de remunerer un defenseur, pouvoir etre assiste gratuitement par un avocat d'office, lorsque les interets de la justice I'exigent;

zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;

d

to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him;

d

interroger ou faire interroger les temoins ä charge et obtenir la convocation et ('interrogation des temoins ä decharge dans les memes conditions que les temoins ä charge;

d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu iassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;

e

to have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court.

e

se faire assister gratuitement d'un interprete, s'il ne comprend pas ou ne parte pas la iangue employee ä i'audience.

e) dnentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.

Article 7

Article 7

Artikel 7

No punishment without law

Pas de peine sans loi

Keine Strafe ohne Gesetz

1 No one shall be held guilty of any criminal offence on account of any act or omission which did not constitute a criminal offence under national or international law at the time when it was committed. Nor shall a heavier penalty be imposed than the one that was applicable at the time the criminal offence was committed.

1 Nul ne peut etre condamne pour une action ou une omission qui, au moment ou eile a et6 commise, ne constituait pas une infraction d'apres le droit national ou international. De meme il n'est infligö aucune peine plus forte que celle qui etait applicable au moment oil I'infraction a ete commise.

(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.

2 This article shall not prejudice the trial and punishment of any person for any act or omission which, at the time when it was committed, was criminal according to the general principles of law recognised by civilised nations.

2 Le present article ne portera pas atteinte au jugement et ä la punition d'une personne coupable d'une action ou d'une omission qui, au moment oü eile a ete commise, etait criminelle d'apres les principes generaux de droit reconnus par les nations civilisees.

(2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.

Article 8

Article 8

Artikel 8

Right to respect for private and family life

Droit au respect de la vie privee et familiale

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

1 Everyone has the right to respect for his private and family life, his home and his correspondence.

1 Toute personne a droit au respect de sa vie privee et familiale, de son domicile et de sa correspondance.

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2 There shall be no interference by a public authority with the exercise of this right except such as is in accordance with the law and is necessary in-a democratic society in the interests of national secürity, public safety or the economic well-being of the country, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others.

2 II ne peut y avoir ingerence d'une autorite publique dans l'exercice de ce droit que pour autant que cette ingerence est prevue par la loi et qu'elle constitue une mesure qui, dans une societe democratique, est necessaire ä la securite nationale, ä la sürete publique, au bien-etre economique du pays, ä la defense de l'ordre et ä la prevention des infractions penales, ä la protection de la sante ou de la morale, ou ä la protection des droits et liberies d'autrui.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Article 9

Article 9

Artikel 9

Freedom of thought, conscience and religion

Liberie de pensee, de conscience et de religion

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

1 Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief and freedom, either alone or in corn-

1 Toute personne a droit a la liberte de pensee, de conscience et de religion; ce droit implique la liberte de changer de religion ou de conviction, ainsi que la

(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken·, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wech-

(7)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

munity with others and in public or private, to manifest his religion or belief, in worship, teaching, practice and observance.

liberte de manifester sa religion ou sa conviction individuellement ou collectivement, en public ou en prive, par le cuite, i'enseignement, les pratiques et I'accomplissement des rites.

sein, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

2 Freedom to manifest one's religion or beliefs shall be subject only to such limitations as are prescribed by law and are necessary in a democratic society in the interests of public safety, for the protection of public order, health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others.

2 La liberte de manifester sa religion ou ses convictions ne peut faire I'objet d'autres restrictions que Celles qui, prevues par la loi, constituent des mesures necessaires, dans une societe democratique, ä la securite publique, ä la protection de l'ordre, de la sante ou de la morale publiques, ou ä la protection des droits et liberies d'autrui.

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Article 10

Article 10

Artikel 10

Freedom of expression

Liberte d'expression

Freiheit der Meinungsäußerung

1 Everyone has the right to freedom of expression. This right shall include freedom to hold opinions and to receive and impart information and ideas without interference by public authority and regardless of frontiers. This article shall not prevent States from requiring the licensing of broadcasting, television or cinema enterprises.

1 Toute personne a droit a la liberte d'expression. Ce droit comprend la libertö d'opinion et la liberte de recevoir ou de communiquer des informations ou des idees sans qu'il puisse y avoir ingerence d'autorites publiques et sans consideration de frontiere. Le present article n'empeche pas les Etats de soumettre les entreprises de radiodiffusion, de cinema ou de television ä un regime d'autorisations.

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.

2 The exercise of these freedoms, since it carries with it duties and responsibilities, may be subject to such formalities, conditions, restrictions or penalties as are prescribed by law and are necessary in a democratic society, in the interests of national security, territorial integrity or public safety, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, for the protection of the reputation or rights of others, for preventing the disclosure of information received in confidence, or for maintaining the authority and impartiality of the judiciary.

2 L'exercice de ces liberies comportant des devoirs et des responsabilites peut etre soumis ä certaines formalins, conditions, restrictions ou sanctions prevues par la loi, qui constituent des mesures necessaires, dans une societe democratique, ä la securite nationale, ä l'integrite territoriale ou ä la sürete publique, ä la defense de l'ordre et ä la prevention du crime, ä la protection de ia sante ou de la morale, ä !a protection de la reputation ou des droits d'autrui, pour empecher la divulgation d'informations confidentielles ou pour garantir l'autorite et l'impartialite du pouvoir judiciaire.

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Morai, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.

Article 11

Article 11

Artikel 11

Freedom of assembly and association

Liberte de reunion et d'association

Versammlungsund Vereinigungsfreiheit

1 Everyone has the right to freedom of peaceful assembly and to freedom of association with others, including the right to form and to join trade unions for the protection of his interests.

1 Toute personne a droit ä la liberty de reunion pacifique et ä la liberte d'association, y compris le droit de fonder avec d'autres des syndicats et de s'affilier ä des syndicats pour la defense de ses interets.

(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.

2 No restrictions shall be placed on the exercise of these rights other than such as are prescribed by law and are necessary in a democratic society in the interests of national security or public safety, for the prevention of disorder or crime, for the

2 L'exercice de ces droits ne peut faire I'objet d'autres restrictions que Celles qui, prevues par la loi, constituent des mesures necessaires, dans une societe democratique, ä la securite nationale, ä la sürete publique, ä la defense de l'ordre et ä la pre-

(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder

Stand: 1.10.2004

(8)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention protection of health or morals or for the protection of the rights and freedoms of others. This article shall not prevent the imposition of lawful restrictions on the exercise of these rights by members of the armed forces, of the police or of the administration of the State.

vention du crime, ä la protection de la sante ou de la morale, ou ä la protection des droits et liberies d'autrui. Le present article n'interdit pas que des restrictions legitimes solent imposees ä l'exercice de ces droits par les membres des forces armees, de la police ou de l'administration de PEtat.

zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.

Article 12

Article 12

Artikel 12

Right to marry

Droit au mariage

Recht auf Eheschließung

Men and women of marriageable age have the right to marry and to found a family, according to the national laws governing the exercise of this right.

A partir de l'äge nubile, l'homme et la femme ont le droit de se marier et de fonder une famille selon les b i s nationales regissant l'exercice de ce droit.

Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.

Article 13

Article 13

Artikel 13

Right to an effective remedy

Droit ä un recours effectif

Recht auf wirksame Beschwerde

Everyone whose rights and freedoms as set forth in this Convention are violated shall have an effective remedy before a national authority notwithstanding that the violation has been committed by persons acting in an official capacity.

Toute personne dont les droits et libertes reconnus dans la presente Convention ont ete violes, a droit ä I'octroi d'un recours effectif devant une instance nationale, alors meme que la violation aurait ete commise par des personnes agissant dans l'exercice de leurs fonctions officielles.

Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.

Article 14

Article 14

Artikel 14

Prohibition of discrimination

Interdiction de discrimination

Diskriminierungsverbot

The enjoyment of the rights and freedoms set forth in this Convention shall be secured without discrimination on any ground such as sex, race, colour, language, religion, political or other opinion, national or social origin, association with a national minority, property, birth or other status.

La jouissance des droits et liberies reconnus dans la presente Convention doit etre assuree, sans distinction aucune, fondee notamment sur le sexe, la race, la couleur, la langue, la religion, les opinions politiques ou toutes autres opinions, I'origine nationale ou sociale, l'appartenance ä une minorite nationale, la fortune, la naissance ou toute autre situation.

Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.

Article 15

Article 15

Artikel 15

Derogation in time of emergency

Derogation en cas d'etat d'urgence

Abweichen im Notstandsfall

1 In time of war or other public emergency threatening the life of the nation any High Contracting Party may take measures derogating from its obligations under this Convention to the extent strictly required by the exigencies of the situation, provided that such measures are not inconsistent with its other obligations under international law.

1 En cas de guerre ou en cas d'autre danger public menagant la vie de la nation, toute Haute Partie contractante peut prendre des mesures derogeant aux obligations prevues par la presente Convention, dans la stride mesure oil la situation l'exige et ä la condition que ces mesures ne soient pas en contradiction avec les autres obligations decoulant du droit international.

(1) Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.

2 No derogation from Article 2, except in respect of deaths resulting from lawful acts of war, or from Articles 3, 4 (paragraph 1) and 7 shall be made under this provision.

2 La disposition precedente n'autorise aucune derogation a I'article 2, sauf pour le cas de deces resultant d'actes licites de guerre, et aux articles 3, 4 (paragraphe 1) et 7.

(2) Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3, Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 in keinem Fall abgewichen werden.

3 Any High Contracting Party availing itself of this right of derogation shall keep the Secretary General of the Council of

3 Toute Haute Partie contractante qui exerce ce droit de derogation tient le Secretaire General du Conseil de I'Europe

(3) Jede Hohe Vertragspartei, die dieses Recht auf Abweichung ausübt, unterrichtet den Generalsekretär des Europarats um-

(9)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Europe fully informed of the measures which it has taken and the reasons therefor. It shall also inform the Secretary General of the Council of Europe when such measures have ceased to operate and the provisions of the Convention are again being fully executed.

pleinement informe des mesures prises et des motifs qui ies ont inspirees. Eile doit egalement informer le Secretaire General du Conseil de l'Europe de la date ä iaquelle ces mesures ont cesse d'Stre en vigueur et ies dispositions de la Convention resolvent de nouveau pleine application.

fassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe. Sie unterrichtet den Generalsekretär des Europarats auch über den Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Konvention wieder volle Anwendung findet.

Article 16

Article 16

Artikel 16

Restrictions on political activity of aliens

Restrictions ä l'activite politique des etrangers

Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Personen

Nothing in Articles 10,11 and 14 shall be regarded as preventing the High Contracting Parties from imposing restrictions on the political activity of aliens.

Aucune des dispositions des articles 10, 11 et 14 ne peut etre consideree comme interdisant aux Hautes Parties contractantes d'imposer des restrictions ä i'activite politique des etrangers.

Die Artikel 10, 11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken.

Article 17

Article 17

Artikel 17 Prohibition of abuse of rights

Interdiction de l'abus de droit

Nothing in this Convention may be interpreted as implying for any State, group or person any right to engage in any activity or perform any act aimed at the destruction of any of the rights and freedoms set forth herein or at their limitation to a greater extent than is provided for in the Convention.

Aucune des dispositions de la presente Convention ne peut etre interpretäe comme impliquant pour un Etat, un groupement ou un individu, un droit.quelconque de se livrer ä une activite ou d'accomplir un acte visant ä la destruction des droits ou liberies reconnus dans la presente Convention ou ä des limitations plus amples de ces droits et libertes que celles prevues ä ladite Convention.

Verbot des Missbrauchs der Rechte Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.

Article 18

Article 18

Artikel 18

Limitation on use of restrictions on rights

Limitation de I'usage des restrictions aux droits

Begrenzung der Rechtseinschränkungen

The restrictions permitted under this Convention to the said rights and freedoms shall not be applied for any purpose other than those for which they have been prescribed.

Les restrictions qui, aux termes de la presente Convention, sont apportees auxdits droits et libertes ne peuvent etre appiiquees que dans le but pour lequel elles ont ete prevues.

Die nach dieser Konvention zulässigen Einschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten dürfen nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen.

Section II

Titre II

Abschnitt II

European Court of Human Rights

Cour europeenne des Droits de PHomme

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Article 19

Article 19

Artikel 19

Establishment of the Court

Institution de la Cour

Errichtung des Gerichtshofs

To ensure the observance of the engagements undertaken by the High Contracting Parties in the Convention and the Protocols thereto, there shall be set up a European Court of Human Rights, hereinafter referred to as "the Court". It shall function on a permanent basis.

Afin d'assurer le respect des engagements resultant pour les Hautes Parties contractantes de la presente Convention et de ses protocoles, il est institue une Cour europeenne des Droits de I'Homme, cidessous nommee «ia Cour». Elle fonctionne de fagon permanente.

Um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben, wird ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, im Folgenden als „Gerichtshof" bezeichnet, errichtet. Er nimmt seine Aufgaben als ständiger Gerichtshof wahr.

Stand: 1.10.2004

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MRK

Europäische Menschenrechtskonvention Article 20

Article 20

Artikel 20

Number of judges

Nombre de juges

Zahl der Richter

The Court shall consist of a number of judges equal to that of the High Contracting Parties.

La Cour se compose d'un nombre de juges egal ä celui des Hautes Parties contractantes.

Die Zahl der Richter des Gerichtshofs entspricht derjenigen der Hohen Vertragsparteien.

Article 21

Article 21

Artikel 21

Criteria for office

Conditions d'exercice des fonctions

Voraussetzungen für das Amt

1 The judges shall be of high moral character and must either possess the qualifications required for appointment to high judicial office or be jurisconsults of recognised competence.

1 Les juges doivent jouir de la plus haute consideration morale et reunir les conditions requises pour l'exercice de hautes fonctions judiciaires ou etre des jurisconsultes possedant une competence notoire.

(1) Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung hoher richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein.

2 The judges shall sit on the Court in their individual capacity.

2 Les juges siegent ä la Cour ä tltre individuel.

(2) Die Richter gehören dem Gerichtshof in ihrer persönlichen Eigenschaft an.

3 During their term of office the judges shall not engage in any activity which is incompatible with their independence, impartiality or with the demands of a fulltime office; all questions arising from the application of this paragraph shall be decided by the Court.

3 Pendant la duree de leur mandat, les juges ne peuvent exercer aucune activite incompatible avec les exigences d'independance, d'impartialite ou de disponibilite requise par une activite exercee ä plein temps; toute question soulevee en application de ce paragraphe est tranchee par la Cour.

(3) Während ihrer Amtszeit dürfen die Richter keine Tätigkeit ausüben, die mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Unparteilichkeit oder mit den Erfordernissen der Vollzeitbeschäftigung in diesem Amt unvereinbar ist; alle Fragen, die sich aus der Anwendung dieses Absatzes ergeben, werden vom Gerichtshof entschieden.

Article 22

Article 22

Artikel 22

Election of judges

Election des juges

Wahl der Richter

1 The judges shall be elected by the Parliamentary Assembly with respect to each High Contracting Party by a majority of votes cast from a list of three candidates nominated by the High Contracting Party.

1 Les juges sont elus par I'Assembtee parlementaire au titre de chaque Haute Partie contractante, ä la majorite des voix exprimees, sur une liste de trois candidats presentes par la Haute Partie contractante.

(1) Die Richterwerden von der Parlamentarischen Versammlung für jede Hohe Vertragspartei mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen aus einer Liste von drei Kandidaten gewählt, die von der Hohen Vertragspartei vorgeschlagen werden.

2 The same procedure shall be followed to complete the Court in the event of the accession of new High Contracting Parties and in filling casual vacancies.

2 La meme procedure est suivie pour completer la Cour en cas d'adhösion de nouvelles Hautes Parties contractantes et pourvoir les sieges devenus vacants.

(2) Dasselbe Verfahren wird angewendet, um den Gerichtshof im Fall des Beitritts neuer Hoher Vertragsparteien zu ergänzen und um frei gewordene Sitze zu besetzen. Artikel 23

Article 23

Article 23

Terms of office

Duree du mandat

Amtszeit

1 The judges shall be elected for a period of six years. They may be re-elected. However, the terms of office of one-half of the judges elected at the first election shall expire at the end of three years.

1 Les juges sont elus pour une duree de six ans. lis sont reeligibles. Toutefois, les mandats d'une moitie des juges designes lors de la premiere election prendront fin au bout de trois ans.

(1) Die Richter werden für sechs Jahre gewählt. Ihre Wiederwahl ist zulässig. Jedoch endet die Amtszeit der Hälfte der bei der ersten Wahl gewählten Richter nach drei Jahren.

2 The judges whose terms of office are to expire at the end of the initial period of three years shall be chosen by lot by the Secretary General of the Council of Europe immediately after their election.

2 Les juges dont le mandat prendra fin au terme de la periode initiate de trois ans sont designes par tirage au sort effectue par le Secretaire General du Conseil de I'Europe, immediatement apres leur election.

(2) Die Richter, deren Amtszeit nach drei Jahren endet, werden unmittelbar nach ihrer Wahl vom Generalsekretär des Europarats durch das Los bestimmt.

3 In order to ensure that, as far as possible, the terms of office of one-half of the judges are renewed every three years, the Parliamentary Assembly may decide, before proceeding to any subsequent election, that the term or terms of office of one or more judges to be elected shall be for a period other than six years but not more than nine and not less than three years.

3 Afin d'assurer, dans la mesure du possible, le renouvellement des mandats d'une moitie des juges tous les tröis ans, I'Assemblee parlementaire peut, avant de proceder ä toute election ulterieure, decider qu'un ou plusieurs mandats des juges ä elire auront une duree autre que ceile de six ans, sans qu'elle puisse toutefois exceder neuf ans ou etre interieure ä trois ans.

(3) Um so weit wie möglich sicherzustellen, dass die Hälfte der Richter alle drei Jahre neu gewählt wird, kann die Parlamentarische Versammlung vor jeder späteren Wahl beschließen, dass die Amtszeit eines oder mehrerer der zu wählenden Richter nicht sechs Jahre betragen soll, wobei diese Amtszeit weder länger als neun noch kürzer als drei Jahre sein darf.

(II)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

4 In cases where more than one term of office is involved and where the Parliamentary Assembly applies the preceding paragraph, the allocation of the terms of office shall be effected by a drawing of lots by the Secretary General of the Council of Europe immediately after the election.

4 Dans le cas oü il y a lieu de conferer plusieurs mandats et ού I'Assemblee parlementaire fait application du paragraphe precedent, la repartition des mandats s'opöre suivant un tirage au sort effectue par le Secretaire General du Conseii de I'Europe immediatement apres I'election.

(4) Sind mehrere Ämter zu besetzen und wendet die Parlamentarische Versammlung Absatz 3 an, so wird die Zuteilung der Amtszeiten vom Generalsekretär des Europarats unmittelbar nach der Wahl durch das Los bestimmt.

5 A judge elected to replace a judge whose term of office has not expired shall hold office for the remainder of his predecessor's term.

5 Le juge elu en remplacement d'un juge dont le mandat n'est pas expire acheve le mandat de son predecesseur.

(5) Ein Richter, der anstelle eines Richters gewählt wird, dessen Amtszeit noch nicht abgelaufen ist, übt sein Amt für die restliche Amtszeit seines Vorgängers aus.

6 The terms of office of judges shall expire when they reach the age of 70.

6 Le mandat des juges s'acheve des qu'ils atteignent l'äge de 70 ans.

(6) Die Amtszeit der Richter endet mit Vollendung des 70. Lebensjahrs.

7 The judges shall hold office until replaced. They shall, however, continue to deal with such cases as they already have under consideration.

7 Les juges restent en fonctions jusqu'ä leur remplacement. lis continuent toutefois de connattre des affaires dont ils sont dejä saisis.

(7) Die Richter bleiben bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger im Amt. Sie bleiben jedoch in den Rechtssachen tätig, mit denen sie bereits befasst sind.

Article 24

Article 24

Artikel 24

Dismissal

Revocation

Entlassung

No judge may be dismissed from his office unless the other judges decide by a majority of two-thirds that he has ceased to fulfil the required conditions.

Un juge ne peut etre releve de ses fonctions que si les autres juges decident, ä la majorite des deux tiers, qu'il a cesse de repondre aux conditions requises.

Ein Richter kann nur entlassen werden, wenn die anderen Richter mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, dass er die erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.

Article 25

Article 25

Artikel 25

Registry and legal secretaries

Greffe et referendaires

Kanzlei und wissenschaftliche Mitarbeiter

The Court shall have a registry, the functions and organisation of which shall be laid down in the rules of the Court. The Court shall be assisted by legal secretaries.

La Cour dispose d'un greffe dont les täches et I'organisation sont fixees par le räglement de la Cour. Elle est assistee de referendaires.

Der Gerichtshof hat eine Kanzlei, deren Aufgaben und Organisation in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs festgelegt werden. Der Gerichtshof wird durch wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützt.

Article 26

Article 26

Artikel 26

Plenary Court

Assemblee pleniere de la Cour

Plenum des Gerichtshofs

The plenary Court shall

La Cour reunie en Assemblee pleniere

Das Plenum des Gerichtshofs

a

elect its President and one or two VicePresidents for a period of three years; they may be re-elected;

a

elit, pour une duree de trois ans, son president et un ou deux vice-presidents; ils sont reeligibles;

a) wählt seinen Präsidenten und einen oder zwei Vizepräsidenten für drei Jahre; ihre Wiederwahl ist zulässig,

b

set up Chambers, constituted for a fixed period of time;

b

constitue des Chambres pour une Periode determinee;

b) bildet Kammern für einen bestimmten Zeitraum,

c

elect the Presidents of the Chambers of the Court; they may be re-elected;

c

elit les presidents des Chambres de la Cour, qui sont reeligibles;

c) wählt die Präsidenten der Kammern des Gerichtshofs; ihre Wiederwahl ist zulässig,

d

adopt the rules of the Court, and

d

adopte le reglement de la Cour, et

d) beschließt die Verfahrensordnung des Gerichtshofs und

e

elect the Registrar and one or more Deputy Registrars.

e

elit le greffier et un ou plusieurs greffiers adjoints.

e) wählt den Kanzler und einen oder mehrere stellvertretende Kanzler.

Article 27

Article 27

Artikel 27

Committees, Chambers and Grand Chamber

Comitis, Chambres et Grande chambre

Ausschüsse, Kammern und Große Kammer

1 To consider cases brought before it, the Court shall sit in committees of three judges, in Chambers of seven judges and in a Grand Chamber of seventeen judges.

1 Pour l'examen des affaires portees devant eile, la Cour siege en comit6s de trols juges, en Chambres de sept juges et en une Grande Chambre de dix-sept juges.

(1) Zur Prüfung der Rechtssachen, die bei ihm anhängig gemacht werden, tagt der Gerichtshof in Ausschüssen mit drei Richtern, in Kammern mit sieben Richtern und

Stand: 1.10.2004

(12)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention The Court's Chambers shall set up committees for a fixed period of time.

Les Chambres de la Cour constituent les comites pour une periode determinee.

in einer Großen Kammer mit 17 Richtern. Die Kammern des Gerichtshofs bilden die Ausschüsse für einen bestimmten Zeitraum.

2 There shall sit as an ex officio member of the Chamber and the Grand Chamber the judge elected in respect of the State Party concerned or, if there is none or if he is unable to sit, a person of its choice who shall sit in the capacity of judge.

2 Le juge elu au titre d'un Etat Partie au litige est membre de droit de la Chambre et de ia Grande Chambre; en cas d'absence de ce juge, ou lorsqu'll n'est pas en mesure de siöger, cet Etat partie designe une personne qui siege en qualite de juge.

(2) Der Kammer und der Großen Kammer gehört von Amts wegen der für den als Partei beteiligten Staat gewählte Richter oder, wenn ein solcher nicht vorhanden Ist oder er an den Sitzungen nicht teilnehmen kann, eine von diesem Staat benannte Person an, die in der Eigenschaft eines Richters an den Sitzungen teilnimmt.

3 The Grand Chamber shall also include the President of the Court, the Vice-Presidents, the Presidents of the Chambers and other judges chosen in accordance with the rules of the Court. When a case is referred to the Grand Chamber under Article 43, no judge from the Chamber which rendered the judgment shall sit in the Grand Chamber, with the exception of the President of the Chamber and the judge who sat in respect of the State Party concerned.

3 Font aussi partie de la Grande Chambre le president de la Cour, les vicepresidents, les presidents des Chambres et d'autres juges designes conformement au reglement de la Cour. Quand I'affaire est deferee ä la Grande Chambre en vertu de Particle 43, aucun juge de la Chambre qui a rendu I'arrSt ne peut y sieger, ä I'exception du president de la Chambre et du juge ayant siege au titre de I'Etat partie interesse.

(3) Der Großen Kammer gehören ferner der Präsident des Gerichtshofs, die Vizepräsidenten, die Präsidenten der Kammern und andere nach der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ausgewählte Richter an. Wird eine Rechtssache nach Artikel 43 an die Große Kammer verwiesen, so dürfen Richter der Kammer, die das Urteil gefällt hat, der Großen Kammer nicht angehören; das gilt nicht für den Präsidenten der Kammer und den Richter, welcher in der Kammer für den als Partei beteiligten Staat mitgewirkt hat.

Article 28

Article 28

Artikel 28

Declarations of inadmissibility by committees

Declarations d'irrecevabilite par les comites

Unzulässigkeitserklärungen der Ausschüsse

A committee may, by a unanimous vote, declare inadmissible or strike out of its list of cases an individual application submitted under Article 34 where such a decision can be taken without further examination. The decision shall be final.

Un comite peut, par vote unanime, declarer irrecevable ou rayer du röle une requete individuelle introduite en vertu de •'article 34 lorsqu'une telle decision peut etre prise sans examen complementaire. La decision est definitive.

Ein Ausschuss kann durch einstimmigen Beschluss eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig erklären oder im Register streichen, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann. Die Entscheidung ist endgültig.

Article 29

Article 29

Artikel 29

Decisions by Chambers on admissibility and merits

Decisions des Chambres sur la recevabilite et le fond

Entscheidungen der Kammern über die Zulässigkeit und Begründetheit

1 If no decision is taken under Article 28, a Chamber shall decide on the admissibility and merits of individual applications submitted under Article 34.

1 Si aucune decision n'a ete prise en vertu de l'article 28, une Chambre se prononce sur la recevabilite et le fond des requetes individuelles introduites en vertu de l'article 34.

(1) Ergeht keine Entscheidung nach Artikel 28, so entscheidet eine Kammer über die Zulässigkeit und Begründetheit der nach Artikel 34 erhobenen Individualbeschwerden.

2 A Chamber shall decide on the admissibility and merits of inter-State applications submitted under Article 33.

2 Une Chambre se prononce sur la recevabilite et le fond des requetes ötatiques introduites en vertu de l'article 33.

(2) Eine Kammer entscheidet über die Zulässigkeit und Begründetheit der nach Artikel 33 erhobenen Staatenbeschwerden.

3 The decision on admissibility shall be taken separately unless the Court, in exceptional cases, decides otherwise.

3 Sauf decision contraire de la Cour dans des cas exceptionnels, la decision sur la recevabilite est prise separement.

(3) Die Entscheidung über die Zulässigkeit ergeht gesondert, sofern nicht der Gerichtshof in Ausnahmefällen anders entscheidet.

Article 30

Article 30

Artikel 30

Relinquishment of jurisdiction to the Grand Chamber

Dessaisissement en faveur de la Grande Chambre

Abgabe der Rechtssache an die Große Kammer

Where a case pending before a Chamber raises a serious question affecting the interpretation of the Convention or the protocols thereto, or where the resolution of a question before the Chamber might have a result inconsistent with a judgment previ-

Si I'affaire pendante devant une Chambre souleve une question grave relative ä ('interpretation de la Convention ou de ses protocoles, ou si la solution d'une question peut conduire ä une contradiction avec un arret rendu anterieurement par la

Wirft eine bei einer Kammer anhängige Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung dieser Konvention oder der Protokolle dazu auf oder kann die Entscheidung einer ihr vorliegenden Frage zu einer Abweichung von einem früheren

(13)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

ousiy delivered by the Court, the Chamber may, at any time before it has rendered its Judgment, relinquish jurisdiction in favour of the Grand Chamber, unless one of the parties to the case objects.

Cour, la Chambre peut, tant qu'elle n'a pas rendu son arret, se dessaisir au profit de la Grande Chambre, ä moins que l'une des parties ne s'y oppose.

Urteil des Gerichtshofs führen, so kann die Kammer diese Sache jederzeit, bevor sie ihr Urteil gefällt hat, an die Große Kammer abgeben, sofern nicht eine Partei widerspricht.

Article 31

Article 31

Artikel 31

Powers of the Grand Chamber

Attributions de la Grande Chambre

Befugnisse der Großen Kammer

La Grande Chambre

The Grand Chamber shall

Die Große Kammer

a

determine applications submitted either under Article 33 or Article 34 when a Chamber has relinquished jurisdiction under Article 30 or when the case has been referred to it under Article 43; and

a

se prononce sur les requetes introduites en vertu de Particle 33 ou de I'article 34 lorsque I'affaire lui a ete dSferee par la Chambre en vertu de Particle 30 ou lorsque I'affaire lui a ete deferee en vertu de Particle 43; et

a) entscheidet über nach Artikel 33 oder Artikel 34 erhobene Beschwerden, wenn eine Kammer die Rechtssache nach Artikel 30 an sie abgegeben hat oder wenn die Sache nach Artikel 43 an sie verwiesen worden ist, und

b

consider requests for advisory opinions submitted under Article 47.

b

examine les demandes d'avis consultants introduces en vertu de Particle 47.

b) behandelt Anträge nach Artikel 47 auf Erstattung von Gutachten.

Article 32

Article 32

Artikel 32

Jurisdiction of the Court

Competence de la Cour

Zuständigkeit des Gerichtshofs

1 The jurisdiction of the Court shall extend to all matters concerning the interpretation and application of the Convention and the protocols thereto which are referred to it as provided in Articles 33, 34 and 47.

1 La competence de la Cour s'etend ä toutes ies questions concernant ('interpretation et l'application de la Convention et de ses protocoles qui lui seront soumises dans les conditions prevues par les articles 33, 34 et 47.

(1) Die Zuständigkeit des Gerichtshofs umfasst alle die Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffenden Angelegenheiten, mit denen er nach den Artikeln 33, 34 und 47 befasst wird.

2 In the event of dispute as to whether the Court has jurisdiction, the Court shall decide.

2 En cas de contestation sur le point de savoir si la Cour est competente, la Cour decide.

(2) Besteht Streit über die Zuständigkeit des Gerichtshofs, so entscheidet der Gerichtshof.

Article 33

Article 33

Artikel 33

Inter-State cases

Affaires interetatiques

Staatenbeschwerden

Any High Contracting Party may refer to the Court any alleged breach of the provisions of the Convention and the protocols thereto by another High Contracting Party.

Toute Haute Partie contractante peut saisir la Cour de tout manquement aux dispositions de la Convention et de ses protocoles qu'elle croira pouvoir etre impute ä une autre Haute Partie contractante.

Jede Hohe Vertragspartei kann den Gerichtshof wegen jeder behaupteten Verletzung dieser Konvention und der Protokolle dazu durch eine andere Hohe Vertragspartei anrufen.

Article 34

Article 34

Artikel 34

Individual applications

Requetes individuelles

Individualbeschwerden

The Court may receive applications from any person, non-governmental organisation or group of individuals claiming to be the victim of a violation by one of the High Contracting Parties of the rights set forth in the Convention or the protocols thereto. The High Contracting Parties undertake not to hinder in any way the effective exercise of this right.

La Cour peut etre saisie d'une requete par toute personne physique, toute organisation non gouvernementale ou tout groupe de particuliers qui se pretend victime d'une violation par l'une des Hautes Parties contractantes des droits reconnus dans la Convention ou ses protocoles. Les Hautes Parties contractantes s'engagent ä n'entraver par aucune mesure I'exercice efficace de ce droit.

Der Gerichtshof kann von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, die wirksame Ausübung dieses Rechts nicht zu behindern.

Article 35

Article 35

Artikel 35

Admissibility criteria

Conditions de recevabilite

Zulässigkeitsvoraussetzungen

1 The Court may only deal with the matter after ail domestic remedies have been exhausted, according to the generally recognised rules of international law, and within a period of six months from the date on which the final decision was taken.

1 La Cour ne peut etre saisie qu'apres l'epuisement des voies de recours internes, tel qu'il est entendu selon les principes de droit international generalement reconnus, et dans un delai de six mois ä partir de la date de la decision interne definitive.

(1) Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts und nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten

Stand: 1.10.2004

(14)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention

nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung befassen. 2 The Court shall not deal with any application submitted under Article 34 that

2 La Cour ne retient aucune requete individuelle introduite en application de I'article 34, lorsque

(2) Der Gerichtshof befasst sich nicht mit einer nach Artikel 34 erhobenen Individualbeschwerde, die

a

is anonymous; or

a

eile est anonyme; ou

a) anonym ist oder

b

is substantially the same as a matter that has already been examined by the Court or has already been submitted to another procedure of international investigation or settlement and contains no relevant new information.

b

eile est essentieilement la meme qu'une requete precedemment examinee par la Cour ou dejä soumise ä une autre instance internationale d'enquSte ou de rdglement, et si eile ne contient pas de faits nouveaux.

b) im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält.

3 The Court shall declare inadmissible any individual application submitted under Article 34 which it considers incompatible with the provisions of the Convention or the protocols thereto, manifestly ill-founded, or an abuse of the right of application.

3 La Cour declare irrecevable toute requete individuelle introduite en application de I'article 34, lors qu'eile estime la requete incompatible avec les dispositions de la Convention ou de ses protocoies, manifestement mal fondee ou abusive.

(3) Der Gerichtshof erklärt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig, wenn er sie für unvereinbar mit dieser Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für einen Missbrauch des Beschwerderechts hält.

4 The Court shall reject any application which it considers inadmissible under this Article. It may do so at any stage of the proceedings.

4 La Cour rejette toute requete qu'eile considere comme irrecevable en application du present article. Elle peut proceder ainsi ä tout Stade de la procedure.

(4) Der Gerichtshof weist eine Beschwerde zurück, die er nach diesem Artikel für unzulässig hält. Er kann dies in jedem Stadium des Verfahrens tun.

Article 36

Article 36

Artikel 36

Third party intervention

Tierce intervention

Beteiligung Dritter

1 In all cases before a Chamber of the Grand Chamber, a High Contracting Party one of whose nationals is an applicant shall have the right to submit written comments and to take part in hearings.

1 Dans toute affaire devant une Chambre ou la Grande Chambre, une Haute Partie contractante dont un ressortissant est requerant a le droit de presenter des observations ecrites et de prendre part aux audiences.

(1) In allen bei einer Kammer oder der Großen Kammer anhängigen Rechtssachen ist die Hohe Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer besitzt, berechtigt, schriftliche Stellungnahmen abzugeben und an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen.

2 The President of the Court may, in the interest of the proper administration of justice, invite any High Contracting Party which is not a party to the proceedings or any person concerned who is not the applicant to submit written comments or take part in hearings.

2 Dans I'interet d'une bonne administration de la justice, le president de la Cour peut inviter toute Haute Partie contractante qui n'est pas partie ä I'instance ou toute personne interessee autre que le requerant ä presenter des observations ecrites ou ä prendre part aux audiences.

(2) Im Interesse der Rechtspflege kann der Präsident des Gerichtshofs jeder Hohen Vertragspartei, die in dem Verfahren nicht Partei ist, oder jeder betroffenen Person, die nicht Beschwerdeführer ist, Gelegenheit geben, schriftlich Stellung zu nehmen oder an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen.

Article 37

Article 37

Artikel 37

Striking out applications

Radiation

Streichung von Beschwerden

1 The Court may at any stage of the proceedings decide to strike an application out of its list of cases where the circumstances lead to the conclusion that

1 A tout moment de la procedure, la Cour peut decider de rayer une requete du röle lorsque les circonstances permettent de conclure

(1) Der Gerichtshof kann jederzeit während des Verfahrens entscheiden, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zur Annahme geben, dass

a

the applicant does not intend to pursue his application; or

a

que le requerant n'entend plus la maintenir; ou

a) der Beschwerdeführer seine Beschwerde nicht weiterzuverfoigen beabsichtigt,

b

the matter has been resolved; or

b

que le litige a ete resolu; ou

b) die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden ist oder

c

for any other reason established by the Court, it is no longer justified to continue the examination of the application.

c

que, pour tout autre motif dont la Cour constate I'existence, il ne se justifie plus de poursuivre i'examen de la requete.

c) eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.

Toutefois, la Cour poursuit I'examen de la requete si le respect des droits de I 'homme

Der Gerichtshof setzt jedoch die Prüfung der Beschwerde fort, wenn die Achtung der

However, the Court shall continue the examination of the application if respect for (15)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

human rights as defined in the Convention and the protocols thereto so requires.

garantis par la Convention et ses protocoles i'exige.

Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert.

2 The Court may decide to restore an application to its list of cases if it considers that the circumstances justify such a course.

2 La Cour peut decider la reinscription au röle d'une requSte lorsqu'elle estime que les circonstances le justifient.

(2) Der Gerichtshof kann die Wiedereintragung einer Beschwerde in sein Register anordnen, wenn er dies den Umständen nach für gerechtfertigt hält. Artikel 38 Prüfung der Rechtssache und gütliche Einigung

Article 38

Article 38

Examination of the case and friendly settlement proceedings

Examen contradictoire de I'affaire et procedure de regiement amiable

1 if the Court declares the application admissible, it shall

1 Si la cour declare une requete recevable, eile

(1) Erklärt der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig, so

a

pursue the examination of the case, together with the representatives of the parties, and if need be, undertake an investigation, for the effective conduct of which the States concerned shall furnish all necessary facilities;

a

poursuit l'examen contradictoire de I'affaire avec les representants des parties et, s'il y a lieu, procede ä une enquete pour la conduite efficace de laquelle les Etats int6resses fourniront toutes facilites necessaires;

a) setzt er mit den Vertretern der Parteien die Prüfung der Rechtssache fort und nimmt, falls erforderlich, Ermittlungen Vor; die betreffenden Staaten haben alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren;

b

place itself at the disposal of the parties concerned with a view to securing a friendly settlement of the matter on the basis of respect for human rights as defined in the Convention and the protocols thereto.

b

se met ä la disposition des interesses en vue de parvenir ä un regiement amiable de I'affaire s'inspirant du respect des droits de I'homme tels que les reconnaissent la Convention et ses protocoles.

b) hält er sich zur Verfügung der Parteien mit dem Ziel, eine gütliche Einigung auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, zu erreichen.

2 Proceedings conducted under paragraph 1 .b shall be confidential.

2 La procedure decrite graphe 1 .b est confidentielle.

au

para-

(2) Das Verfahren nach Absatz 1 Buchstabe b ist vertraulich.

Article 39

Article 39

Artikel 39

Finding of a friendly settlement

Conclusion d'un regiement amiable

Gütliche Einigung

if a friendly settlement is effected, the Court shall strike the case out of its list by means of a decision which shall be confined to a brief statement of the facts and of the solution reached.

En cas de regiement amiable, la Cour raye I'affaire du röle par une decision qui se limite ä un bref expose des faits et de la solution adoptee.

Im Fall einer gütlichen Einigung streicht der Gerichtshof durch eine Entscheidung, die sich auf eine kurze Angabe des Sachverhalts und der erzielten Lösung beschränkt, die Rechtssache in seinem Register.

Article 40

Article 40

Artikel 40

Public hearings and access to documents

Audience publique et acces aux documents

Öffentliche Verhandlung und Akteneinsicht

1 Hearings shall be public unless the Court in exceptional circumstances decides otherwise.

1 L'audience est publique ä moins que la Cour n'en decide autrement en raison de circonstances exceptionnelles.

(1) Die Verhandlung ist öffentlich, soweit nicht der Gerichtshof aufgrund besonderer Umstände anders entscheidet.

2 Documents deposited with the Registrar shall be accessible to the public unless the President of the Court decides otherwise.

2 Les documents deposes au greffe sont accessibles au public ä moins que le president de la Cour n'en decide autrement.

(2) Die beim Kanzler verwahrten Schriftstücke sind der Öffentlichkeit zugänglich, soweit nicht der Präsident des Gerichtshofs anders entscheidet.

Article 41

Article 41

Artikel 41

Just satisfaction

Satisfaction equitable

Gerechte Entschädigung

If the Court finds that there has been a violation of the Convention or the protocols thereto, and if the internal law of the High Contracting Party concerned allows only partial reparation to be made, the Court shall, if necessary, afford just satisfaction to the injured party.

Si la Cour declare qu'il y a eu violation de la Convention ou de ses protocoies, et si le droit interne de la Haute Partie contractante ne permet d'effacer qu'imparfaitement les consequences de cette violation, la Cour accorde ä la partie lesee, s'il y a lieu, une satisfaction equitable.

Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.

Stand: 1.10.2004

(16)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention Article 42

Article 42

Artikel 42

Judgments of Chambers

Arrets des Chambres

Urteile der Kammern

Judgments of Chambers shall become final in accordance with the provisions of Article 44, paragraph 2.

Les arrets des Chambres deviennent definitifs conformement aux dispositions de I'article 44, paragraphe 2.

Urteile der Kammern werden nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 endgültig.

Article 43

Article 43

Artikel 43

Referral to the Grand Chamber

Renvoi devant la Grande Chambre

Verweisung an die Große Kammer

1 Within a period of three months from the date of the judgment of the Chamber, any party to the case may, in exceptional cases, request that the case be referred to the Grand Chamber.

1 Dans un delai de trois mois ä compter de la date de l'arret d'une Chambre, toute partie ä I'affaire peut, dans des cas exceptionnels, demander le renvoi de I'affaire devant la Grande Chambre.

(1) Innerhalb von drei Monaten nach dem Datum des Urteils der Kammer kann jede Partei in Ausnahmefällen die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragen.

2 A panel of five judges of the Grand Chamber shall accept the request if the case raises a serious question affecting the interpretation or application of the Convention or the protocols thereto, or a serious issue of general importance.

2 Un college de cinq juges de la Grande Chambre accepte ia demande si I'affaire souleve une question grave relative ä Interpretation ou ä l'application de la Convention ou de ses protocoles, ou encore une question grave de caractere general.

(2) Ein Ausschuss von fünf Richtern der Großen Kammer nimmt den Antrag an, wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu oder eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft.

3 If the panel accepts the request, the Grand Chamber shall decide the case by means of a judgment.

3 Si ie college accepte la demande, la Grande Chambre se prononce sur I'affaire par un arret.

(3) Nimmt der Ausschuss den Antrag an, so entscheidet die Große Kammer die Sache durch Urteil.

Article 44

Article 44

Artikel 44

Final judgments

Arrets definitifs

Endgültige Urteile

1 The judgment of the Grand Chamber shall be final.

1 L'arret de la Grande Chambre est definitif.

(1) Das Urteil der Großen Kammer ist endgültig.

2 The judgment of a Chamber shall become final

2 L'arret d'une Chambre devient definitif

(2) Das Urteil einer Kammer wird endgültig,

a

when the parties declare that they will not request that the case be referred to the Grand Chamber; or

a

lorsque les parties declarent qu'elles ne demanderont pas le renvoi de I'affaire devant la Grande Chambre; ou

a) wenn die Parteien erklären, dass sie die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer nicht beantragen werden,

b

three months after the date of the judgment, if reference of the case to the Grand Chamber has not been requested; or

b

trois mois apres la date de l'arret, si ie renvoi de I'affaire devant la Grande Chambre n'a pas ete demande; ou

b) drei Monate nach dem Datum des Urteils, wenn nicht die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt worden ist, oder

c

when the panel of the Grand Chamber rejects the request to refer under Article 43.

c

lorsque le college de la Grande Chambre rejette la demande de renvoi formulee en application de I'article 43.

c) wenn der Ausschuss der Großen Kammer den Antrag auf Verweisung nach Artikel 43 abgelehnt hat.

3 The final judgment shall be published.

3 L'arret definitif est publie.

(3) Das endgültige Urteil wird veröffentlicht.

Article 45

Article 45

Artikel 45

Reasons for judgments and decisions

Motivation des arrets et decisions

Begründung der Urteile und Entscheidungen

1 Reasons shall be given for judgments as well as for decisions declaring applications admissible or inadmissible.

1 Les arrets, ainsi que les decisions declarant des requetes recevables ou irrecevables, sont motives.

(1) Urteile sowie Entscheidungen, mit denen Beschwerden für zulässig oder für unzulässig erklärt werden, werden begründet.

2 If a judgment does not represent, in whole or in part, the unanimous opinion of the judges, any judge shall be entitled to deliver a separate opinion.

2 Si l'arret n'exprime pas en tout ou en partie l'opinion unanime des juges, tout juge a le droit d'y joindre l'expose de son opinion separee.

(2) Bringt ein Urteil ganz oder teilweise nicht die übereinstimmende Meinung der Richter zum Ausdruck, so ist jeder Richter berechtigt, seine abweichende Meinung darzulegen.

(17)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte Article 46

Article 46

Artikel 46

Binding force and execution of judgments

Force obligatoire et execution des arrets

Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile

1 The High Contracting Parties undertake to abide by the final judgment of the Court in any case to which they are parties.

1 Les Hautes Parties contractantes s'engagent ä se conformer aux arrets definitifs de la Cour dans les litiges auxquels elles sont parties.

(1) Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.

2 The final judgment of the Court shall be transmitted to the Committee of Ministers, which shall supervise its execution.

2 L'arret definitif de la Cour est transmis au Comite des Ministres qui en surveille I'execution.

(2) Das endgültige Urteil des Gerichtshofs ist dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seine Durchführung.

Article 47

Article 47

Artikel 47

Advisory opinions

Avis consultatifs

Gutachten

1 The Court may, at the request of the Committee of Ministers, give advisory opinions on legal questions concerning the interpretation of the Convention and the protocols thereto.

1 La Cour peut, ä la demande du Comite des Ministres, donner des avis consultatifs sur des questions juridiques concernant ('interpretation de la Convention et de ses protocoles.

(1) Der Gerichtshof kann auf Antrag des Ministerkomitees Gutachten über Rechtsfragen erstatten, weiche die Auslegung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffen.

2 Such opinions shall not deal with any question relating to the content or scope of the rights or freedoms defined in Section I of the Convention and the protocols thereto, or with any other question which the Court or the Committee of Ministers might have to consider in consequence of any such proceedings as could be instituted in accordance with the Convention.

2 Ces avis ne peuvent porter ni sur les questions ayant trait au contenu ou ä l'etendue des droits et liberies döfinis au titre I de la Convention et dans les protocoles ni sur les autres questions dont la Cour ou le Comite des Ministres pourraient avoir ä connaitre par suite de I'introduction d'un recours prevu par la Convention.

(2) Diese Gutachten dürfen keine Fragen zum Gegenstand haben, die sich auf den Inhalt oder das Ausmaß der in Abschnitt I dieser Konvention und in den Protokollen dazu anerkannten Rechte und Freiheiten beziehen, noch andere Fragen, über die der Gerichtshof oder das Ministerkomitee aufgrund eines nach dieser Konvention eingeleiteten Verfahrens zu entscheiden haben könnte.

3 Decisions of the Committee of Ministers to request an advisory opinion of the Court shall require a majority vote of the representatives entitled to sit on the Committee.

3 La decision du Comite des Ministres de demander un avis ä la Cour est prise par un vote ä la majorite des representants ayant le droit de sieger au Comite.

(3) Der Beschluss des Ministerkomitees, ein Gutachten beim Gerichtshof zu beantragen, bedarf der Mehrheit der Stimmen der zur Teilnahme an den Sitzungen des Komitees berechtigten Mitglieder.

Article 48

Article 48

Artikel 48

Advisory jurisdiction of the Court

Competence consultative de la Cour

Gutachterliche Zuständigkeit des Gerichtshofs

The Court shall decide whether a request for an advisory opinion submitted by the Committee of Ministers is within its competence as defined in Article 47.

La Cour decide si la demande d'avis consultatif presentee par le Comite des Ministres releve de sa competence telle que definie par I'article 47.

Der Gerichtshof entscheidet, ob ein vom Ministerkomitee gestellter Antrag auf Erstattung eines Gutachtens in seine Zuständigkeit nach Artikel 47 fällt.

Article 49

Article 49

Artikel 49

Reasons for advisory opinions

Motivation des avis consultatifs

Begründung der Gutachten

1 Reasons shall be given for advisory opinions of the Court.

1 L'avis de la Cour est motive.

(1) Die Gutachten des Gerichtshofs werden begründet.

2 If the advisory opinion does not represent, in whole or in part, the unanimous opinion of the judges, any judge shall be entitled to deliver a separate opinion.

2 Si l'avis n'exprime pas en tout ou en partie l'opinion unanime des juges, tout juge a le droit d'y joindre Γexpose de son opinion separee.

(2) Bringt das Gutachten ganz oder teilweise nicht die übereinstimmende Meinung der Richter zum Ausdruck, so ist jeder Richter berechtigt, seine abweichende Meinung darzulegen.

3 Advisory opinions of the Court shall be communicated to the Committee of Ministers.

3 L'avis de ia Cour est transmis au Comite des Ministres.

(3) Die Gutachten des Gerichtshofs werden dem Ministerkomitee übermittelt.

Stand: 1.10.2004

(18)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention Article 50

Article 50

Artikel 50

Expenditure on the Court

Frais de fonctionnement de la Cour

Kosten des Gerichtshofs

The expenditure on the Court shall be borne by the Council of Europe.

Les frais de fonctionnement de la Cour sont ä la charge du Conseil de l'Europe.

Die Kosten des Gerichtshofs werden vom Europarat getragen.

Article 51

Article 51

Artikel 51

Privileges and immunities of judges

Privileges et immunites des juges

Vorrechte und Immunitäten der Richter

The judges shall be entitled, during the exercise of their functions, to the privileges and immunities provided for in Article 40 of the Statute of the Council of Europe and in the agreements made thereunder.

Les juges jouissent, pendant I'exercice de leurs fonctions, des privileges et immunites prevus ä I'article 40 du Statut du Conseil de l'Europe et dans les accords conclus au titre de cet article.

Die Richter genießen bei der Ausübung ihres Amtes die Vorrechte und Immunitäten, die in Artikel 40 der Satzung des Europarats und den aufgrund jenes Artikels geschlossenen Übereinkünften vorgesehen sind.

Section III

Titre III

Abschnitt III

Miscellaneous provisions

Dispositions diverses

Verschiedene. Bestimmungen

Article 52

Article 52

Artikel 52

Enquiries by the Secretary General

Enquetes du Secretaire General

Anfragen des Generalsekretärs

On receipt of a request from the Secretary General of the Council of Europe any High Contracting Party shall furnish an explanation of the manner in which its internal law ensures the effective implementation of any of the provisions of this Convention.

Toute Haute Partie contractante fournira sur demande du Secretaire General du Conseil de l'Europe les explications requises sur la maniere dont son droit interne assure l'application effective de toutes les dispositions de cette Convention.

Auf Anfrage des Generalsekretärs des Europarats erläutert jede Hohe Vertragspartei, auf welche Weise die wirksame Anwendung aller Bestimmungen dieser Konvention in ihrem innerstaatlichen Recht gewährleistet wird.

Article 53

Article 53

Artikel 53

Safeguard for existing human rights

Sauvegarde des droits de l'homme reconnus

Wahrung anerkannter Menschenrechte

Nothing in this Convention shall be construed as limiting or derogating from any of the human rights and fundamental freedoms which may be ensured under the laws of any High Contracting Party or under any other agreement to which it is a Party.

Aucune des dispositions de la presente Convention ne sera interpretee comme limitant ou portant atteinte aux droits de l'homme et aux libertös fondamentales qui pourraient etre reconnus conformement aux lois de toute Partie contractante ou ä toute autre Convention ä laquelle cette Partie contractante est partie.

Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden.

Article 54

Article 54

Artikel 54

Powers of the Committee of Ministers

Pouvoirs du Comite des Ministres

Befugnisse des Ministerkomitees

Nothing in this Convention shall prejudice the powers conferred on the Committee of Ministers by the Statute of the Council of Europe.

Aucune disposition de la presente Convention ne porte atteinte aux pouvoirs conferes au Comite des Ministres par le Statut du Conseil de l'Europe.

Diese Konvention berührt nicht die dem Ministerkomitee durch die Satzung des Europarats übertragenen Befugnisse.

Article 55

Article 55

Artikel 55

Exclusion of other means of dispute settlement

Renonciation ä d'autres modes de rfeglement des differends

Ausschluss anderer Verfahren zur Streitbeilegung

The High Contracting Parties agree that, except by special agreement, they will not

Les Hautes Parties contractantes renoncent reciproquement, sauf compromis spe-

Die Hohen Vertragsparteien kommen überein, dass sie sich vorbehaltlich beson-

(19)

Walter Gollwitzer

MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

avail themselves of treaties, conventions or declarations in force between them for the purpose of submitting, by way of petition, a dispute arising out of the interpretation or application of this Convention to a means of settlement other than those provided for in this Convention.

ciai, ä se prevaloir des traites, conventions ou declarations existant entre elles, en vue de soumettre, par voie de requete, un differend ne de ('interpretation ou de I'application de la presente Convention ä un mode de reglement autre que ceux prevus par ladite Convention.

derer Vereinbarung nicht auf die zwischen ihnen geltenden Verträge, sonstigen Übereinkünfte oder Erklärungen berufen werden, um eine Streitigkeit über die Auslegung oder Anwendung dieser Konvention einem anderen als den in der Konvention vorgesehenen Beschwerdeverfahren zur Beilegung zu unterstellen.

Article 56

Article 56

Artikel 56

Territorial application

Application territoriale

Räumlicher Geltungsbereich

1 Any State may at the time of its ratification or at any time thereafter declare by notification addressed to the Secretary General of the Council of Europe that the present Convention shall, subject to paragraph 4 of this Article, extend to all or any of the territories for whose international relations it is responsible.

1 Tout Etat peut, au moment de la ratification ou ä tout autre moment par la suite, declarer, par notification adressee au Secretaire General du Conseil de I'Europe, que la presente Convention s'appliquera, sous reserve du paragraphe 4 du present article, ä tous les territoires ou ä I'un queiconque des territoires dont il assure les relations internationales.

(1) Jeder Staat kann bei der Ratifikation oder jederzeit danach durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation erklären, dass diese Konvention vorbehaltlich des Absatzes 4 auf alle oder einzelne Hoheitsgebiete Anwendung findet, für deren internationale Beziehungen er verantwortlich ist.

2 The Convention shall extend to the territory or territories named in the notification as from the thirtieth day after the receipt of this notification by the Secretary General of the Council of Europe.

2 La Convention s'appliquera au territoire ou aux territoires designes dans la notification ä partir du trentieme jour qui suivra la date ä laquelle le Secretaire General du Conseil de I'Europe aura re?u cette notification.

(2) Die Konvention findet auf jedes in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet ab dem dreißigsten Tag nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär des Europarats Anwendung.

3 The provisions of this Convention shall be applied in such territories with due regard, however, to local requirements.

3 Dans lesdits territoires les dispositions de la presente Convention seront appliquees en tenant compte des necessites locales.

(3) In den genannten Hoheitsgebieten wird diese Konvention unter Berücksichtigung der örtlichen Notwendigkeiten angewendet.

4 Any State which has made a declaration in accordance with paragraph 1 of this article may at any time thereafter declare on behalf of one or more of the territories to which the declaration relates that it accepts the competence of the Court to receive applications from individuals, non-governmental organisations or groups of individuals as provided in Article 34 of the Convention.

4 Tout Etat qui a fait une declaration conformöment au premier paragraphe de cet article, peut, ä tout moment par la suite, declarer relativement ä un ou plusieurs des territoires vises dans cette declaration qu'il accepte la competence de la Cour pour connaitre des requetes de personnes physiques, d'organisations non gouvemementales ou de groupes de particuiiers, comme le prevoit I'article 34 de la Convention.

(4) Jeder Staat, der eine Erklärung nach Absatz 1 abgegeben hat, kann jederzeit danach für eines oder mehrere der in der Erklärung bezeichneten Hoheitsgebiete erklären, dass er die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entgegennahme von Beschwerden von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen nach Artikel 34 anerkennt.

Article 57

Article 57

Artikel 57

Reservations

Reserves

Vorbehalte

1 Any State may, when signing this Convention or when depositing its instrument of ratification, make a reservation in respect of any particular provision of the Convention to the extent that any law then in force in its territory is not in conformity with the provision. Reservations of a general character shall not be permitted under this Article.

1 Tout Etat peut, au moment de la signature de la presente Convention ou du depot de son instrument de ratification, formuler une reserve au sujet d'une disposition particuliere de la Convention, dans la mesure ou une loi alors en vigueur sur son territoire n'est pas conforme ä cette disposition. Les reserves de caractere general ne sont pas autorisees aux termes du present article.

(1) Jeder Staat kann bei der Unterzeichnung dieser Konvention oder bei der Hinterlegung seinerRatifikationsurkunde einen Vorbehalt zu einzelnen Bestimmungen der Konvention anbringen, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Hoheitsgebiet geltendes Gesetz mit der betreffenden Bestimmung nicht übereinstimmt. Vorbehalte allgemeiner Art sind nach diesem Artikel nicht zulässig.

2 Any reservation made under this article shall contain a brief statement of the law concerned.

2 Toute reserve emise conformement au present article comporte un bref expose de la loi en cause.

(2) Jeder nach diesem Artikel angebrachte Vorbehalt muss mit einer kurzen Darstellung des betreffenden Gesetzes verbunden sein.

Stand: 1.10.2004

(20)

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention Article 58

Article 58

Artikel 58

Denunciation

Denonciation

Kündigung

1 A High Contracting Party may denounce the present Convention only after the expiry of five years from the date on which it became a party to it and after six months' notice contained in a notification addressed to the Secretary General of the Council of Europe, who shall inform the other High Contracting Parties.

1 Une Haute Partie contractante ne peut denoncer la presente Convention qu'apres l'expiration d'un delai de cinq ans ä partir de la date d'entree en vigueur de la Convention ä son egard et moyennant un preavis de six mois, donne par une notification adressee au Secretaire General du Conseil de I'Europe, qui en informe les autres Parties contractantes.

(1) Eine Hohe Vertragspartei kann diese Konvention frühestens fünf Jahre nach dem Tag, an dem sie Vertragspartei geworden ist, unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation kündigen; dieser unterrichtet die anderen Hohen Vertragsparteien.

2 Such a denunciation shall not have the effect of releasing the High Contracting Party concerned from its obligations under this Convention in respect of any act which, being capable of constituting a violation of such obligations, may have been performed by it before the date at which the denunciation became effective.

2 Cette denonciation ne peut avoir pour effet de delier la Haute Partie contractante interessee des obligations contenues dans la presente Convention en ce qui concerne tout fait qui, pouvant constituer une violation de ces obligations, aurait et6 accompli par eile anterieurement ä la date ä laquelle la denonciation produit effet.

(2) Die Kündigung befreit die Hohe Vertragspartei nicht von ihren Verpflichtungen aus dieser Konvention in Bezug auf Handlungen, die sie vor dem Wirksamwerden der Kündigung vorgenommen hat und die möglicherweise eine Verletzung dieser Verpflichtungen darstellen.

3 Any High Contracting Party which shall cease to be a member of the Council of Europe shall cease to be a Party to this Convention under the same conditions.

3 Sous la rneme reserve cesserait d'Stre Partie ä la presente Convention toute Partie contractante qui cesserait d'etre membre du Conseil de I'Europe.

(3) Mit derselben Maßgabe scheidet eine Hohe Vertragspartei, deren Mitgliedschaft im Europarat endet, als Vertragspartei dieser Konvention aus.

4 The Convention may be denounced in accordance with the provisions of the preceding paragraphs in respect of any territory to which it has been declared to extend under the terms of Article 56.

4 La Convention peut etre denoncee conformement aux dispositions des paragraphes precedents en ce qui concerne tout territoire auquel elle a ete declaree applicable aux termes de I'article 56.

(4) Die Konvention kann in Bezug auf jedes Hoheitsgebiet, auf das sie durch eine Erklärung nach Artikel 56 anwendbar geworden ist, nach den Absätzen 1 bis 3 gekündigt werden.

Article 59

Article 59

Artikel 59

Signature and ratification

Signature et ratification

Unterzeichnung und Ratifikation

1 This Convention shall be open to the signature of the members of the Council of Europe. It shall be ratified. Ratifications shall be deposited with the Secretary General of the Council of Europe.

1 La presente Convention est ouverte ä la signature des membres du Conseil de I'Europe. Elle sera ratifiee. Les ratifications seront deposees pres le Secretaire General du Conseil de i'Europe.

(1) Diese Konvention liegt für die Mitglieder des Europarats zur Unterzeichnung auf. Sie bedarf der Ratifikation. Die Ratifikationsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.

2 The present Convention shall come into force after the deposit of ten instruments of ratification.

2 La presente Convention entrera en vigueur apres ie depot de dix instruments de ratification.

(2) Diese Konvention tritt nach Hinterlegung von zehn Ratifikationsurkunden in Kraft.

3 As regards any signatory ratifying subsequently, the Convention shall come into force at the date of the deposit of its instrument of ratification.

3 Pour tout signataire qui la ratifiera uiterieurement, ia Convention entrera en vigueur däs le depot de l'instrument de ratification.

(3) Für jeden Unterzeichner, der die Konvention später ratifiziert, tritt sie mit der Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde in Kraft.

4 The Secretary General of the Council of Europe shall notify all the members of the Council of Europe of the entry into force of the Convention, the names of the High Contracting Parties who have ratified it, and the deposit of ali instruments of ratification which may be effected subsequently.

4 Le Secretaire General du Conseil de I'Europe notifiera ä tous les membres du Conseil de I'Europe I'entree en vigueur de la Convention, les noms des Hautes Parties contractantes qui I'auront ratifiSe, ainsi que le depot de tout instrument de ratification intervenu uiterieurement.

(4) Der Generalsekretär des Europarats notifiziert allen Mitgliedern des Europarats das Inkrafttreten der Konvention, die Namen der Hohen Vertragsparteien, die sie ratifiziert haben, und jede spätere Hinterlegung einer Ratifikationsurkunde.

Done at Rome this 4 th day of November 1950, in English and French, both texts being equally authentic, in a single copy which shall remain deposited in the archives of the Council of Europe. The Secretary General shall transmit certified copies to each of the signatories.

Fait ä Rome, le 4 novembre 1950, en frangais et en anglais, les deux textes faisant egalement foi, en un seul exemplaire qui sera depose dans les archives du Conseil de I'Europe. Le Secretaire General en communiquera des copies certifiees conformes a tous les signataires.

Geschehen zu Rom am 4. November 1950 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär übermittelt allen Unterzeichnern beglaubigte Abschriften.

(21)

Walter Gollwitzer

1. Z P - M R K

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

2. Gesetz über das Zusatzprotokoll vom 20. März 1952 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Vom 20. Dezember 1956 ( B G B l . II S . Der B u n d e s t a g hat d a s folgende Gesetz

1979)

beschlossen:

Artikel 1 D e m a m 20. März 1952 v o n d e n R e g i e r u n g e n der Mitglieder d e s Europarates

unterzeichneten

Z u s a t z p r o t o k o l l zur K o n v e n t i o n z u m S c h u t z e d e r M e n s c h e n r e c h t e u n d G r u n d f r e i h e i t e n v o m 4. N o v e m b e r 1950 wird zugestimmt. Das Zusatzprotokoll wird n a c h s t e h e n d veröffentlicht.

Artikel 2 Dieses

Gesetz

gilt a u c h

im

Land

Berlin,

sofern

das

Land

Berlin

die A n w e n d u n g

dieses

G e s e t z e s feststellt.

Artikel 3 (1)

D i e s e s G e s e t z tritt a m T a g e n a c h s e i n e r V e r k ü n d u n g in K r a f t .

(2)

Der

Tag,

an

dem

das

Zusatzprotokoll

gemäß

D e u t s c h l a n d in K r a f t tritt, ist i m B u n d e s g e s e t z b l a t t

seinem

Artikel

6 für

die

Bundesrepublik

bekanntzugeben.*)

Protocol

Protocole

Zusatzprotokoll

to the Convention for the

additionnel ä la Convention de

zur Konvention z u m Schutz der

Protection of H u m a n Rights and

sauvegarde des Droits de I'lHomme

Menschenrechte und Grund-

Fundamental Freedoms

et des Liberies fondamentales

freiheiten

(Übersetzung)**'1 The governments signatory hereto, being members of the Council of Europe,

Les gouvernements signataires, membres du Conseii de I'Europe,

Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarats -

Being resolved to take steps to ensure the collective enforcement of certain rights and freedoms other than those already included in Section I of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms signed at Rome on 4 th November, 1950 (hereinafter referred to as "the Convention"),

Resolus ä prendre des mesures propres ä assurer ia garantie collective de droits et libertes autres que ceux qui figurent dejä dans le titre I de la Convention de sauvegarde des Droits de l'Homme et des Libertes fondamentales, signee ä Rome le 4 novembre 1950 (ci-apres denommee «la Convention»),

entschlossen, Maßnahmen zur kollektiven Gewährleistung gewisser Rechte und Freiheiten zu treffen, die in Abschnitt I der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden als „Konvention" bezeichnet) noch nicht enthalten sind -

Have agreed as follows:

Sont convenus de ce qui suit:

haben Folgendes vereinbart:

Article 1

Article 1

Artikel 1

Protection of property

Protection de la propriete

Schutz des Eigentums

Every natural or legal person is entitled to the peaceful enjoyment of his possessions. No one shall be deprived of his pos-

Toute personne physique ou morale a droit au respect de ses biens. Nul ne peut etre prive de sa propriete que pour cause

Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum ent-

*) Das Protokoll ist in der Bundesrepublik am 13.2.1957 in Kraft getreten (BGBl. II S. 226). Die Überschriften der Artikel wurden nachträglich durch das 11. ZP vom 11.5.1994 (BGBl. TT 1995 S. 579) eingefügt. * 4 ) Überarbeitete deutsche Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 17.5.2002 (BGBl. TT S. 1054). Stand: 1.10.2004

(22)

1. Z u s a t z p r o t o k o l l zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n

1. Z P -

M R K

sessions except in the public interest and subject to the conditions provided for by law and by the general principles of international law.

d'utilite publique et dans les conditions prevues par la loi et les principes generaux du droit international.

zogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die aligemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.

The preceding provisions shall not, however, in any way impair the right of a State to enforce such laws as it deems necessary to control the use of property in accordance with the general interest or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties.

Les dispositions precedentes ne portent pas atteinte au droit que possedent les Etats de mettre en vigueur les lois qu'ils jugent necessaires pour reglementer I'usage des biens conformement ä I'interet general ou pour assurer le paiement des impöts ou d'autres contributions ou des amendes.

Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich häit.

Article 2

Article 2

Artikel 2

Right to education

Droit ä ('instruction

Recht auf Bildung

No person shall be denied the right to education. In the exercise of any functions which it assumes in relation to education and to teaching, the State shall respect the right of parents to ensure such education and teaching in conformity with their own religious and philosophical convictions.

Nul ne peut se voir refuser le droit ä I n s truction. L'Etat, dans l'exercice des fonctions qu'il assumera dans le domaine de l'education et de I'enseignement, respectera le droit des parents d'assurer cette education et cet enseignement conformement ä leurs convictions religieuses et philosophiques.

Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.

Article 3

Article 3

Artikel 3

Right to free elections

Droit ä des elections libres

Recht auf freie Wahlen

The High Contracting Parties undertake to hold free elections at reasonable intervals by secret ballot, under conditions which will ensure the free expression of the opinion of the people in the choice of the legislature.

Les Hautes Parties contractantes s'engagent ä organiser, ä des intervailes raisonnables, des elections libres au scrutin secret, dans les conditions qui assurent la libre expression de l'opinion du peuple sur le choix du corps legislatif.

Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.

Article 4

Article 4

Artikel 4

Territorial application

Application territoriale

Räumlicher Geltungsbereich

Any High Contracting Party may at the time of signature or ratification or at any time thereafter communicate to the Secretary General of the Council of Europe a declaration stating the extent to which it undertakes that the provisions of the present Protocol shall apply to such of the territories for the international relations of which it is responsible as are named therein.

Toute Haute Partie contractante peut, au moment de la signature ou de la ratification du present protocole ou ä tout moment par la suite, communiquer au Secretaire General du Conseil de I'Europe une declaration indiquant la mesure dans iaquelle eile s'engage ä ce que les dispositions du present protocoie s'appiiquent ä tels territoires qui sont designes dans ladite declaration et dont eile assure les relations internationales.

Jede Hohe Vertragspartei kann im Zeitpunkt der Unterzeichnung oder Ratifikation dieses Protokolls oder zu jedem späteren Zeitpunkt an den Generalsekretär des Europarats eine Erklärung darüber richten, in welchem Umfang sie sich zur Anwendung dieses Protokolls auf die in der Erklärung angegebenen Hoheitsgebiete verpflichtet, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich ist.

Any High Contracting Party which has communicated a declaration in virtue of the preceding paragraph may from time to time communicate a further declaration modifying the terms of any former declaration or terminating the application of the provisions of this Protocol in respect of any territory.

Toute Haute Partie contractante qui a communique une declaration en vertu du paragraph® precedent peut, de temps ä autre, communiquer une nouvelie declaration modifiant les termes de toute declaration anterieure ou mettant fin ä I'appiication des dispositions du present protocole sur un territoire quelconque.

Jede Hohe Vertragspartei, die eine Erklärung nach Absatz 1 abgegeben hat, kann jederzeit eine weitere Erklärung abgeben, die den Inhalt einer früheren Erklärung ändert oder die Anwendung der Bestimmungen dieses Protokolls auf irgendein Hoheitsgebiet beendet.

A declaration made in accordance with this article shall be deemed to have been made in accordance with paragraph 1 of Article 56 of the Convention.

Une declaration faite conformement au present article sera consideree comme ayant ete faite conformement au paragraphe 1 de I'article 56 de la Convention.

Eine nach diesem Artikel abgegebene Erklärung gilt als eine Erklärung im Sinne des Artikels 56 Absatz 1 der Konvention.

(23)

Walter Gollwitzer

1. Z P -

M R K

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Article 5

Article 5

Artikel 5

Relationship to the Convention

Relations avec la Convention

Verhältnis zur Konvention

As between the High Contracting Parties the provisions of Articles 1 , 2 , 3 and 4 of this Protocol shall be regarded as additional articles to the Convention and all provisions of the Convention shall apply accordingly.

Les Hautes Parties contractantes considereront les articles 1, 2, 3 et 4 de ce protocole comme des articles additionnels ä la Convention et toutes les dispositions de la Convention s'appliqueront en consequence.

Die Hohen Vertragsparteien betrachten die Artikel 1, 2, 3 und 4 dieses Protokolls als Zusatzartikel zur Konvention; alle Bestimmungen der Konvention sind dementsprechend anzuwenden.

Article 6

Article 6

Artikel 6

Signature and ratification

Signature et ratification

Unterzeichnung und Ratifikation

This Protocol shall be open for signature by the members of the Council of Europe, who are the signatories of the Convention; it shall be ratified at the same time as or after the ratification of the Convention. It shall enter into force after the deposit of ten instruments of ratification. As regards any signatory ratifying subsequently, the Protocol shall enter into force at the date of the deposit of its instrument of ratification.

Le present protocole est ouvert ä la signature des membres du Conseil de I'Europe, signataires de la Convention; il sera ratifie en meme temps que la Convention ou apres la ratification de celle-ci. II entrera en vigueur aprfes le depot de dix instruments de ratification. Pour tout signataire qui le ratifiera ulterieurement, le protocole entrera en vigueur des le depot de I'instrument de ratification.

Dieses Protokoll liegt für die Mitglieder des Europarats, die Unterzeichner der Konvention sind, zur Unterzeichnung auf; es wird gleichzeitig mit der Konvention oder zu einem späteren Zeitpunkt ratifiziert. Es tritt nach Hinterlegung von zehn Ratifikationsurkunden in Kraft. Für jeden Unterzeichner, der das Protokoll später ratifiziert, tritt es mit der Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde in Kraft.

The instruments of ratification shall be deposited with the Secretary General of the Council of Europe, who will notify all members of the names of those who have ratified.

Les instruments de ratification seront deposes präs le Secretaire General du Conseil de I'Europe qui notifiera ä tous les membres les noms de ceux qui I'auront ratifie.

Die Ratifikationsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt, der allen Mitgliedern die Namen derjenigen Staaten, die das Protokoll ratifiziert haben, notifiziert.

Done at Paris on the 20 th day of March 1952, in English and French, both texts being equally authentic, in a single copy which shall remain deposited in the archives of the Council of Europe. The Secretary General shall transmit certified copies to each of the signatory governments.

Fait ä Paris, le 20 mars 1952, en frangais et en anglais, les deux textes faisant egalement foi, en un seul exemplaire qui sera depose dans les archives du Conseil de I'Europe. Le Secretaire General du Conseil en communiquera copie certifiee conforme ä chacun des gouvemements signataires.

Geschehen zu Paris am 20. März 1952 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär übermittelt ailen Unterzeichnerregierungen beglaubigte Abschriften.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(24)

4 . Z u s a t z p r o t o k o l l zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n

4. ZP - MRK

3. Gesetz zu dem Protokoll Nr. 4 vom 16. September 1963 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind. Vom 9. Mai 1968 ( B G B l . II S. 4 2 2 ) Der B u n d e s t a g hat d a s f o l g e n d e Gesetz beschlossen:

Artikel 1 (1) D e m in Straßburg a m 16. S e p t e m b e r 1963 von der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d unterzeichneten Protokoll Nr. 4 zur Konvention z u m Schutze der M e n s c h e n r e c h t e u n d Grundfreiheiten, d u r c h das g e w i s s e Rechte u n d Freiheiten gewährleistet w e r d e n , die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind, wird zugestimmt. Das Protokoll wird n a c h s t e h e n d veröffentlicht. (2) Die B u n d e s r e g i e r u n g wird ermächtigt, die Zuständigkeit der Kommission für M e n s c h e n rechte u n d die obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für M e n s c h e n r e c h t e für die Artikel 1 bis 4 des Protokolls n a c h d e s s e n Artikel 6 A b s . 2 anzuerkennen.

Artikel 2 Dieses G e s e t z gilt a u c h im L a n d Berlin, s o f e r n d a s L a n d Berlin die A n w e n d u n g G e s e t z e s feststellt.

dieses

Artikel 3 (1) Dieses Gesetz tritt a m Tage n a c h seiner V e r k ü n d u n g in Kraft. (2) Der Tag, an d e m das Protokoll nach s e i n e m Artikel 7 A b s . 1 für die B u n d e s r e p u b l i k Deutschland in Kraft tritt, ist im B u n d e s g e s e t z b l a t t bekanntzugeben.*)

P r o t o c o l No. 4 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, securing certain rights and freedoms other than those already included in the Convention and in the first Protocol thereto

P r o t o c o l e ns 4 ä la Convention de sauvegarde des Droits de l'Homme et des Liberies fondamentales, reconnaissant certains droits et liberies autres que ceux figurant dejä dans la Convention et dans le premier Protocole additionnel ä la Convention

P r o t o k o l l Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind

(Übersetzung)**"> The governments signatory hereto, being members of the Council of Europe,

Les gouvernements signataires, membres du Conseii de i'Europe,

Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarats -

Being resolved to take steps to ensure the collective enforcement of certain rights and freedoms other than those already included in Section I of the Convention for the Protection of Human Rights and

Resolus ä prendre des mesures propres ä assurer ia garantie collective de droits et liberies autres que ceux qui figurent dejä dans le titre I de la Convention de sauvegarde des Droits de l'Homme et des Liber-

entschlossen, Maßnahmen zur kollektiven Gewährleistung gewisser Rechte und Freiheiten zu treffen, die in Abschnitt I der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Men-

*) Das Protokoll Nr. 4 ist in der Bundesrepublik am 1. 6.1968 in Kraft getreten (BGBl. I I S. 1109). Die Überschriften der Artikel wurden nachträglich durch das l l . Z P v o m 11.5.1994 (BGBl. IT 1995 S. 579) eingefügt. * * ) Überarbeitete deutsche Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 17.5.2002 (BGBl. TT S. 1054). (25)

Walter Gollwitzer

4. ZP - MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Fundamental Freedoms signed at Rome on 4 th November 1950 (hereinafter referred to as "the Convention") and in Articles 1 to 3 of the First Protocol to the Convention, signed at Paris on 20 th March 1952,

Have agreed as follows:

tes fondamentales, signee ä Rome le 4 novembre 1950 (ci-apres denommee «la Convention») et dans les articles 1 ä 3 du premier Protocole additionnel ä la Convention, signe ä Paris le 20 mars 1952,

Sont convenus de ce qui suit:

schenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden als „Konvention" bezeichnet) und in den Artikeln 1 bis 3 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten ersten Zusatzprotokolls zur Konvention noch nicht enthalten sind haben Folgendes vereinbart:

Article 1

Article 1

Artikel 1

Prohibition of imprisonment for debt

Interdiction de I'emprisonnement pour dette

Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden

No one shall be deprived of his liberty merely on the ground of inability to fulfil a contractual obligation.

Nul ne peut etre prive de sa liberte pour la seuie raison qu'il n'est pas en mesure d'executer une obligation contractuelle.

Niemandem darf die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.

Article 2

Article 2

Artikel 2

Freedom of movement

Liberte de circulation

Freizügigkeit

1 Everyone lawfully within the territory of a State shall, within that territory, have the right to liberty of movement and freedom to choose his residence.

1 Quiconque se trouve r§guli£rement sur le territoire d'un Etat a le droit d'y circuier librement et d'y choisir librement sa residence.

(1) Jede Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und ihren Wohnsitz frei zu wählen.

2 Everyone shall be free to leave any country, including his own.

2 Toute personne est libre de quitter n'importe quel pays, y compris le sien.

3 No restrictions shall be placed on the exercise of these rights other than such as are in accordance with law and are necessary in a democratic society in the interests of national security or public safety, for the maintenance of ordre public, for the prevention of crime, for the protection of health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others.

3 L'exercice de ces droits ne peut faire I'objet d'autres restrictions que celles qui, prevues par ia loi, constituent des mesures necessaires, dans une societe democratique, ä la söcurite nationale, ä la sürete publique, au maintien de l'ordre public, ä la prevention des infractions penales, ä la protection de la sante ou de la morale, ou ä la protection des droits et liberies d'autrui.

(2) Jeder Person steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen.

4 The rights set forth in paragraph 1 may also be subject, in particular areas, to restrictions imposed in accordance with law and justified by the public interest in a democratic society.

4 Les droits reconnus au paragraphe 1 peuvent egalement, dans certaines zones determinees, faire I'objet de restrictions qui, prevues par la loi, sont justifiees par Pinteret public dans une societe democratique.

(3) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. (4) Die in Absatz 1 anerkannten Rechte können ferner für bestimmte Gebiete Ein-" schränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt sind.

Article 3

Article 3

Artikel 3

Prohibition of expulsion of nationals

Interdiction de i'expulsion des nationaux

Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger

1 No one shall be expelled, by means either of an individual or of a collective measure, from the territory of the State of which he is a national.

1 Nul ne peut §tre expulse, par voie de mesure individuelle ou collective, du territoire de I'Etat dont il est le ressortissant.

(1) Niemand darf durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden, dessen Angehöriger er ist.

2 No one shall be deprived of the right to enter the territory of the State of which he is a national.

2 Nul ne peut etre prive du droit d'entrer sur le territoire de l'Etat dont il est le ressortissant.

(2) Niemandem darf das Recht entzogen werden, in das Hoheitsgebiet des Staates einzureisen, dessen Angehöriger er ist.

Article 4

Article 4

Artikel 4

Prohibition of collective expulsion of aliens

Interdiction des expulsions collectives d'etrangers

Verbot der Kollektivausweisung ausländischer Personen

Collective expulsion of aliens is prohibited.

Les expulsions collectives d'etrangers sont interdites.

Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(26)

4 . Z u s a t z p r o t o k o l l zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n

4. ZP - MRK

Article 5

Article 5

Artikel 5

Territorial application

Application territoriale

Räumlicher Geltungsbereich

1 Any High Contracting Party may, at the time of signature or ratification of this Protocol, or at any time thereafter, communicate to the Secretary General of the Council of Europe a declaration stating the extent to which it undertakes that the provisions of this Protocol shall apply to such of the territories for the international relations of which it is responsible as are named therein.

1 Toute Haute Partie contractante peut, au moment de la signature ou de la ratification du present Protocole ou ä tout moment par la suite, communiquer au Secretaire General du Conseil de I'Europe une declaration indiquant la mesure dans laquelle eile s'engage ä ce que les dispositions du present Protocole s'appliquent ä tels territoires qui sont designes dans ladite declaration et dont eile assure les relations internationales.

(1) Jede Hohe Vertragspartei kann im Zeitpunkt der Unterzeichnung oder Ratifikation dieses Protokolls oder zu jedem späteren Zeitpunkt an den Generalsekretär des Europarats eine Erklärung darüber richten, in welchem Umfang sie sich zur Anwendung dieses Protokolls auf die in der Erklärung angegebenen Hoheitsgebiete verpflichtet, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich ist.

2 Any High Contracting Party which has communicated a declaration in virtue of the preceding paragraph may, from time to time, communicate a further declaration modifying the terms of any former declaration or terminating the application of the provisions of this Protocol in respect of any territory.

2 Toute Haute Partie contractante qui a communique une declaration en vertu du paragraphe precedent peut, de temps ä autre, communiquer une nouvelie declaration modifiaht les termes de toute declaration anterieure ou mettant fin ä I'application des dispositions du present Protocole sur un territoire quelconque.

(2) Jede Hohe Vertragspartei, die eine Erklärung nach Absatz 1 abgegeben hat, kann jederzeit eine weitere Erklärung abgeben, die den Inhalt einer früheren Erklärung ändert oder die Anwendung der Bestimmungen dieses Protokolls auf irgendein Hoheitsgebiet beendet.

3 A declaration made in accordance with this article shall be deemed to have been made in accordance with paragraph 1 of Article 56 of the Convention.

3 Une declaration faite conformement au present article sera consideree comme ayant ete fait conformement au paragraphe 1 de i'articie 56 de la Convention.

(3) Eine nach diesem Artikel abgegebene Erklärung gilt als eine Erklärung im Sinne des Artikels 56 Absatz 1 der Konvention.

4 The territory of any State to which this Protocol applies by virtue of ratification or acceptance by that State, and each territory to which this Protocol is applied by virtue of a declaration by that State under this article, shall be treated as separate territories for the purpose of the references in Articles 2 and 3 to the territory of a State.

4 Le territoire de tout Etat auquel le present Protocole s'applique en vertu de sa ratification ou de son acceptation par ledit Etat, et chacun des territoires auxquels le Protocole s'applique en vertu d'une declaration souscrite par ledit Etat conformement au present article, seront consideres comme des territoires distincts aux fins des references au territoire d'un Etat faites par les articles 2 et 3.

(4) Das Hoheitsgebiet eines Staates, auf das dieses Protokoll aufgrund der Ratifikation oder Annahme durch diesen Staat Anwendung findet, und jedes Hoheitsgebiet, auf welches das Protokoll aufgrund einer von diesem Staat nach diesem Artikel abgegebenen Erklärung, Anwendung findet, werden als getrennte Hoheitsgebiete betrachtet, soweit die Artikel 2 und 3 auf das Hoheitsgebiet eines Staates Bezug nehmen.

5 Any State which has made a declaration in accordance with paragraph 1 or 2 of this article may at any time thereafter declare on behalf of one or more of the territories to which the declaration relates that it accepts the competence of the Court to receive applications from individuals, nongovernmental organisations or groups of individuals as provided in Article 34 of the Convention in respect of all or any of Articles 1 to 4 of this Protocol.

5 Tout Etat qui a fait une declaration conformement au paragraphe 1 ou 2 du present article peut, ä tout moment par la suite, declarer relativement ä un ou plusieurs des territoires vises dans cette declaration qu'il accepte la competence de la Cour pour connattre des requetes de personnes physiques, d'organisations non gouvernementales ou de groupes de particuliers, comme le prevoit I'articie 34 de la Convention, au titre des articles 1 ä 4 du present Protocole ou de certains d'entre eux.

(5) Jeder Staat, der eine Erklärung nach Absatz 1 oder 2 abgegeben hat, kann jederzeit danach für eines oder mehrere der in der Erklärung bezeichneten Hoheitsgebiete erklären, dass er die Zuständigkeit des Gerichtshofs, Beschwerden von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen nach Artikel 34 der Konvention entgegenzunehmen, für die Artikel 1 bis 4 dieses Protokolls insgesamt oder für einzelne dieser Artikel annimmt.

Article 6

Article 6

Artikel 6

Relationship t o the Convention

Relations avec la Convention

Verhältnis zur Konvention

As between the High Contracting Parties the provisions of Articles 1 to 5 of this Protocol shall be regarded as additional articles to the Convention, and all the provisions of the Convention shall apply accordingly.

Les Hautes Parties contractantes considereront les articles 1 ä 5 de ce Protocole comme des articles additionnels ä la Convention et toutes les dispositions de la Convention s'appliqueront en consequence.

Die Hohen Vertragsparteien betrachten die Artikel 1 bis 5 dieses Protokolls als Zusatzartikel zur Konvention; alle Bestimmungen der Konvention sind dementsprechend anzuwenden.

(27)

Walter Gollwitzer

4. ZP - MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Article 7

Article 7

Artikel 7

Signature and ratification

Signature et ratification

Unterzeichnung und Ratifikation

1 This Protocol shall be open for signature by the members of the Council of Europe who are the signatories of the Convention; it shall be ratified at the same time as or after the ratification of the Convention. It shall enter into force after the deposit of five instruments of ratification. As regards any signatory ratifying subsequently, the Protocol shall enter into force at the date of the deposit of its instrument of ratification.

1 Le present Protocole est ouvert ä la signature des membres du Conseii de i'Europe, signataires de la Convention; il sera ratifie en meme temps que la Convention ou apres la ratification de celle-ci. II entrera en vigueur apres le depot de cinq instruments de ratification. Pour tout signataire qui le ratifiera ulterieurement, le Protocole entrera en vigueur des le depot de I'instrument de ratification.

(1) Dieses Protokoll liegt für die Mitglieder des Europarats, die Unterzeichner der Konvention sind, zur Unterzeichnung auf; es wird gleichzeitig mit der Konvention oder zu einem späteren Zeitpunkt ratifiziert. Es tritt nach Hinterlegung von fünf Ratifikationsurkunden in Kraft. Für jeden Unterzeichner, der das Protokoll später ratifiziert, tritt es mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde in Kraft.

2 The instruments of ratification shall be deposited with the Secretary General of the Council of Europe, who will notify all members of the names of those who have ratified.

2 Les instruments de ratification seront deposes pres le Secretaire General du Conseii de I'Europe qui notifiera ä tous les membres les noms de ceux qui I'auront ratifie.

(2) Die Ratifikationsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt, der allen Mitgliedern die Namen derjenigen Staaten, die das Protokoll ratifiziert haben, notifiziert.

In witness whereof the undersigned, being duly authorised thereto, have signed this Protocol.

En foi de quoi, les soussignes, dument autorises ä cet effet, ont signe le present Protocole.

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Protokoll unterschrieben.

Done at Strasbourg, this 16th day of September 1963, in English and in French, both texts being equally authoritative, in a single copy which shall remain deposited in the archives of the Council of Europe. The Secretary General shall transmit certified copies to each of the signatory States.

Fait ä Strasbourg, le 16 septembre 1963, en frangais et en anglais, les deux textes faisant egalement foi, en un seul exemplaire qui sera depose dans les archives du Conseii de I'Europe. Le Secretaire General en communiquera copie certifiee conforme a chacun des Etats signataires.

Geschehen zu Straßburg am 16. September 1963 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär übermittelt allen Unterzeichnerstaaten beglaubigte Abschriften.

Stand: l . l ü . 2004

(28)

6. ZP - MRK

6. Zusatzprotokoll zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n 4. G e s e t z z u d e m zur Konvention

z u m

Protokoll

Schutze

der

Nr. 6 v o m

über die Abschaffung V o m

hat d a s folgende Gesetz

der

23. Juli

(BGBl.

Der Bundestag

28. April

Menschenrechte

und

1983 Grundfreiheiten

Todesstrafe.

1988

II S .

662)

beschlossen: Artikel 1

Dem tokoll

in S t r a ß b u r g

Nr.

6

zur

am

28. April

Konvention

zum

1983 von Schutze

der

der

schaffung der Todesstrafe wird zugestimmt.

Bundesrepublik

Menschenrechte

Gesetzes

Gesetz

gilt

auch

im

Land

Berlin,

unterzeichneten

Grundfreiheiten

D a s Protokoll wird n a c h s t e h e n d Artikel

Dieses

Deutschland und

über

die

ProAb-

veröffentlicht.

2

sofern

das

Land

Berlin

die

Anwendung

dieses

feststellt. Artikel

3

(1)

D i e s e s G e s e t z tritt a m T a g e n a c h s e i n e r V e r k ü n d u n g

(2)

Der Tag, an d e m

das

Protokoll

l a n d in K r a f t tritt, ist i m B u n d e s g e s e t z b l a t t

Protocol

No.

6

to the C o n v e n t i o n for the

in

Kraft.

n a c h s e i n e m A r t i k e l 8 Nr. 2 f ü r d i e

Bundesrepublik

Deutsch-

bekanntzugeben.*)

Protocole

ns

6

ä la C o n v e n t i o n d e s a u v e g a r d e

Protokoll

Nr. 6

zur Konvention z u m S c h u t z der

Protection of H u m a n R i g h t s a n d

d e s D r o i t s d e T H o m m e et d e s

Menschenrechte und Grund-

Fundamental Freedoms con-

Libertes fondamentales concer-

freiheiten über die A b s c h a f f u n g

c e r n i n g the abolition of the

n a n t l ' a b o l i t i o n d e la p e i n e d e

der Todesstrafe

death penalty

mort

(Übersetzung)**'1 T h e m e m b e r States of the C o u n c i l of Europe, signatory t o this P r o t o c o l to the C o n v e n t i o n for the Protection of H u m a n Rights a n d F u n d a m e n t a l F r e e d o m s , s i g n e d at R o m e on 4 t h N o v e m b e r , 1950 (hereinafter referred to a s "the Convention"),

L e s Etats m e m b r e s d u C o n s e i l d e I'Europe, slgnataires d u present P r o t o c o l e ä la C o n v e n t i o n d e s a u v e g a r d e d e s Droits d e i ' H o m m e et d e s Libertes fondamentales, signee ä R o m e le 4 novembre 1950 (cia p r e s d e n o m m e e «la Convention»),

Die Mitgliedstaaten d e s Europarats, die d i e s e s Protokoll zu der a m 4. N o v e m b e r 1950 in R o m unterzeichneten Konvention z u m S c h u t z der M e n s c h e n r e c h t e und Grundfreiheiten (im F o l g e n d e n als „ K o n vention" bezeichnet) unterzeichnen -

C o n s i d e r i n g that the evolution that has o c c u r r e d in several m e m b e r S t a t e s of the C o u n c i l of E u r o p e e x p r e s s e s a general t e n d e n c y in favour of abolition of the d e a t h penalty,

C o n s i d e r a n t q u e les d e v e i o p p e m e n t s intervenus d a n s plusieurs Etats m e m b r e s d u C o n s e i l d e I'Europe expriment une tend a n c e generale en faveur d e l'abolition d e la peine d e mort,

in der Erwägung, d a s s die in v e r s c h i e d e n e n Mitgliedstaaten d e s Europarats eingetretene Entwicklung eine allgemeine T e n d e n z z u g u n s t e n der A b s c h a f f u n g der T o d e s s t r a f e z u m A u s d r u c k bringt -

H a v e agreed as follows:

S o n t c o n v e n u s d e c e qui suit:

h a b e n F o l g e n d e s vereinbart:

* ) D a s Protokoll Nr. 6 ist in der Bundesrepublik am 1 . 8 . 1 9 8 9 in K r a f t getreten ( B G B l . II S. 814). Die Überschriften der Artikel wurden nachträglich durch das l l . Z P v o m 1 1 . 5 . 1 9 9 4 ( B G B l . IT 1995 S. 579) eingefügt. * * ) Überarbeitete deutsche Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 1 7 . 5 . 2 0 0 2 ( B G B l . IT S. 1054). (29)

Walter Gollwitzer

6. ZP - MRK

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Article 1

Article 1

Artikel 1

Abolition of the death penalty

Abolition de la peine de mort

Abschaffung der Todesstrafe

The death penalty shall be abolished. No-one shall be condemned to such penalty or executed.

La peine de mort est abolie. Nui ne peut etre condamne ä telle peine ni execute.

Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden.

Article 2

Article 2

Artikel 2

Death penalty in time of war

Peine de mort en temps de guerre

Todesstrafe in Kriegszeiten

A State may make provision in its law for the death penalty in respect of acts committed in time of war or of imminent threat of war; such penalty shall be applied only in the instances laid down in the law and in accordance with its provisions. The State shall communicate to the Secretary General of the Council of Europe the relevant provisions of that law.

Un Etat peut prevoir dans sa legislation la peine de mort pour des actes commis en temps de guerre ou de danger imminent de guerre; une telle peine ne sera appliquee que dans les cas prevus par cette legislation et conformement ä ses dispositions. Cet Etat communiquera au Secretaire General du Conseil de I'Europe les dispositions afferentes de la legislation en cause.

Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden; diese Strafe darf nur in den Fällen, die im Recht vorgesehen sind, und in Obereinstimmung mit dessen Bestimmungen angewendet werden, Der Staat übermittelt dem Generalsekretär des Europarats die einschlägigen Rechtsvorschriften.

Article 3

Article 3

Artikel 3

Prohibition of derogations

Interdiction de derogations

Verbot des Abweichens

No derogation from the provisions of this Protocol shall be made under Article 15 of the Convention.

Aucune dέrogation n'est autorisee aux dispositions du present Protocole au titre de I'article 15 de la Convention.

Von diesem Protokoll darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.

Article 4

Article 4

Artikel 4

Prohibition of reservations

Interdiction de reserves

Verbot von Vorbehalten

No reservation may be made under Article 57 of the Convention in respect of the provisions of this Protocol.

Aucune reserve n'est admise aux dispositions du present Protocole en vertu de I'article 57 de la Convention.

Vorbehalte nach Artikel 57 der Konvention zu Bestimmungen dieses Protokolls sind nicht zulässig.

Article 5

Article 5

Artikel 5

Territorial application

Application territoriale

Räumlicher Geltungsbereich

1 Any State may at the time of signature or when depositing its instrument of ratification, acceptance or approval, specify the territory or territories to which this Protocol shall apply.

1 Tout Etat peut, au moment de la signature ou au moment du depot de son instrument de ratification, d'acceptation ou d'approbation, designer le ou les territoires auxquels s'appliquera le present Protocole.

(1) Jeder Staat kann bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung seiner Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde einzelne oder mehrere Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die dieses Protokoll Anwendung findet.

2 Any State may at any later date, by a declaration addressed to the Secretary General of the Council of Europe, extend the application of this Protocol to any other territory specified in the declaration. In respect of such territory the Protocol shall enter into force on the first day of the month following the date of receipt of such declaration by the Secretary General.

2 Tout Etat peut, ä tout autre moment par la suite, par une declaration adressee au Secretaire General du Conseil de I'Europe, etendre l'application du present Protocole ä tout autre territoire designe dans la declaration. Le Protocole entrera en vigueur ä regard de ce territoire le premier jour du mois qui suit la date de reception de la declaration par le Secretaire General.

(2) Jeder Staat kann jederzeit danach durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung die Anwendung dieses Protokolls auf jedes weitere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet erstrecken. Das Protokoll tritt für dieses Hoheitsgebiet am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf den Eingang der Erklärung beim Generalsekretär folgt.

3 Any declaration made under the two preceding paragraphs may, in respect of any territory specified in such declaration, be withdrawn by a notification addressed to the Secretary General. The withdrawal shall become effective on the first day of the month following the date of receipt of such notification by the Secretary General.

3 Toute döclaration faite en vertu des deux paragraphes precedents pourra §tre retiree, en ce qui concerne tout territoire designe dans cette declaration, par notification adressee au Secretaire General. Le retrait prendra effet le premier jour du mois qui suit la date de reception de la notification par le Secretaire General.

(3) Jede nach den Absätzen 1 und 2 abgegebene Erklärung kann in Bezug auf jedes darin bezeichnete Hoheitsgebiet durch eine an den Generalsekretär gerichtete Notifikation zurückgenommen werden. Die Rücknahme wird am ersten Tag des Monats wirksam, der auf den Eingang der Notifikation beim Generalsekretär folgt.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(30)

6. Z u s a t z p r o t o k o l l zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n

6. ZP - MRK

Article 6

Article 6

Artikel 6

Relationship to the Convention

Relations avec la Convention

Verhältnis zur Konvention

As between the States Parties the provisions of Articles 1 to 5 of this Protocol shall be regarded as additional articles to the Convention and all the provisions of the Convention shall apply accordingly.

Les Etats Parties considerent les articles 1 ä 5 du present Protocole comme des articles additionnels ä la Convention et toutes les dispositions de la Convention s'appliquent en consequence.

Die Vertragsstaaten betrachten die Artikel 1 bis 5 dieses Protokolls als Zusatzartikel zur Konvention; alle Bestimmungen der Konvention sind dementsprechend anzuwenden.

Article 7

Article 7

Artikel 7

Signature and ratification

Signature et ratification

Unterzeichnung und Ratifikation

This Protocol shall be open for signature by the member States of the Council of Europe, signatories to the Convention. It shall be subject to ratification, acceptance or approval. A member State of the Council of Europe may not ratify, accept or approve this Protocol unless it has, simultaneously or previously, ratified the Convention. Instruments of ratification, acceptance or approval shall be deposited with the Secretary General of the Council of Europe.

Le present Protocole est ouvert ä la signature des Etats membres du Conseil de l'Europe, signataires de la Convention. II sera soumis ä ratification, acceptation ou approbation. Un Etat membre du Conseil de l'Europe ne pourra ratifier, accepter ou approuver le präsent Protocole sans avoir simultanement ou anterieurement ratifie la Convention. Les instruments de ratification, d'acceptation ou d'approbation seront deposes pres le Secretaire General du Conseil de l'Europe.

Dieses Protokoll liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats, welche die Konvention unterzeichnet haben, zur Unterzeichnung auf. Es bedarf der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung. Ein Mitgliedstaat des Europarats kann dieses Protokoll nur ratifizieren, annehmen oder genehmigen, wenn er die Konvention gleichzeitig ratifiziert oder sie früher ratifiziert hat. Die Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.

Article 8

Article 8

Artikel 8

Entry into force

Entree en vigueur

Inkrafttreten

1 This Protocol shall enter into force on the first day of the month following the date on which five member States of the Council of Europe have expressed their consent to be bound by the Protocol in accordance with the provisions of Article 7.

1 Le present Protocole entrera en vigueur le premier jour du mois qui suit la date ä laquelle cinq Etats membres du Conseil de l'Europe auront exprime leur consentement ä etre lies par le Protocole conformöment aux dispositions de I'articie 7.

(1) Dieses Protokoll tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf den Tag folgt, an dem fünf Mitgliedstaaten des Europarats nach Artikel 7 ihre Zustimmung ausgedrückt haben, durch das Protokoll gebunden zu sein.

2 In respect of any member State which subsequently expresses its consent to be bound by it, the Protocol shall enter into force on the first day of the month following the date of the deposit of the instrument of ratification, acceptance or approval.

2 Pour tout Etat membre qui exprimera ulterieurement son consentement ä etre Ιίέ par le Protocole, celui-ci entrera en vigueur le premier jour du mois qui suit la date du depot de i'instrument de ratification, d'acceptation ou d'approbation.

(2) Für jeden Mitgliedstaat, der später seine Zustimmung ausdrückt, durch das Protokoll gebunden zu sein, tritt es am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf die Hinterlegung der Ratifikations-, Annahmeoder Genehmigungsurkunde folgt.

Article 9

Article 9

Artikel 9

Depositary functions

Fonctions du depositaire

Aufgaben des Verwahrers

The Secretary General of the Council of Europe shall notify the member States of the Council of:

Le Secretaire General du Conseil de l'Europe notifiera aux Etats membres du Conseil:

Der Generalsekretär des Europarats notifiziert den Mitgliedstaaten des Rates

a

any signature;

a

toute signature;

a) jede Unterzeichnung;

b

the deposit of any instrument of ratification, acceptance or approval;

b

le depot de tout instrument de ratification, d'acceptation ou d'approbation;

b) jede Hinterlegung einer Ratifikations-, Annahmeoder Genehmigungsurkunde;

c

any date of entry into force of this Protocol in accordance with Articles 5 and 8; any other act, notification or communication relating to this Protocol.

c

toute date d'entree en vigueur du present Protocole conformement ä ses articles 5 et 8;

c) jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls nach den Artikeln 5 und 8;

d

tout autre acte, notification ou communication ayant trait au present Protocole.

d) jede andere Handlung, Notifikation oder Mitteilung im Zusammenhang mit diesem Protokoll.

En foi de quoi, les soussignes, dument autorises ä cet effet, ont signe le present Protocole.

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Protokoll unterschrieben.

d

In witness whereof the undersigned, being duly authorised thereto, have signed this Protocol. (3D

Walter Gollwitzer

6. ZP - MRK Done at Strasbourg, this 28th day of April 1983, in English and French, both texts being equally authentic, in a single copy which shall be deposited in the archives of the Council of Europe. The Secretary General of the Council of Europe shall transmit certified copies to each member State of the Council of Europe.

Menschenrechtskonventionen, Vertragstexte Fait ä Strasbourg, ie 28 avril 1983, en frangais et en anglais, les deux textes faisant egalement foi, en un seul exemplaire, qui sera depose dans les archives du Conseil de I'Europe. Le Secretaire G6n6ral du Conseil de I'Europe en communiquera copie certifiee conforme ä chacun des Etats membres du Conseil de I'Europe.

Stand: 1.10. 2004

Geschehen zu Straßburg am 28. April 1983 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt allen Mitgliedstaaten des Europarats beglaubigte Abschriften.

(32)

13. Z P -

13. Z u s a t z p r o t o k o l l zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n

M R K

5. Gesetz zu dem Protokoll Nr. 13 vom 3. Mai 2002 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe. Vom 5. Juli 2004 Der B u n d e s t a g hat d a s f o l g e n d e G e s e t z

beschlossen:

Artikel 1 D e m in W i l n a a m 3 . M a i 2 0 0 2 v o n d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d u n t e r z e i c h n e t e n

Protokoll

Nr. 1 3 z u r K o n v e n t i o n z u m S c h u t z d e r M e n s c h e n r e c h t e u n d G r u n d f r e i h e i t e n ü b e r d i e v o l l s t ä n d i g e A b s c h a f f u n g der Todesstrafe wird z u g e s t i m m t . D a s Protokoll w i r d n a c h s t e h e n d mit einer amtlichen d e u t s c h e n Übersetzung veröffentlicht.

Artikel 2 (1)

D i e s e s G e s e t z tritt a m T a g e n a c h s e i n e r V e r k ü n d u n g in K r a f t .

(2)

Der

Tag,

an

dem

das

Protokoll

nach

seinem

D e u t s c h l a n d in K r a f t tritt, ist i m B u n d e s g e s e t z b l a t t

Artikel

7 Abs.

2 für

die

Bundesrepublik

bekanntzugeben.

P r o t o c o l N o . 13

P r o t o c o l e ng 13

P r o t o k o l l Nr. 13

to the Convention for the

ä la Convention de sauvegarde

zur Konvention z u m Schutz der

Protection of H u m a n Rights

des Droits de T H o m m e et des

Menschenrechte und Grund-

and Fundamental Freedoms,

Libertes Fondamentales relatif ä

freiheiten über die vollständige

Concerning the Abolition of the

l'abolition de la peine de mort en

Abschaffung der Todesstrafe

Death Penalty in all Circum-

toutes circonstances

stances (Übersetzung) The member States of the Council of Europe signatory hereto,

Les Etats membres du Conseil de I'Europe, signataires du present Protocole,

Die Mitgliedstaaten des Europarats, die dieses Protokoll unterzeichnen,

Convinced that everyone's right to life is a basic value in a democratic society and that the abolition of the death penalty is essential for the protection of this right and for the full recognition of the inherent dignity of all human beings;

Convaincus que le droit de toute personne ä la vie est une valeur fondamentale dans une societe democratique, et que l'abolition de la peine de mort est essentielle ä la protection de ce droit et ä la pleine reconnaissance de la dignit£ inherente ä tous les etres humains;

in der Überzeugung, dass in einer demokratischen Gesellschaft das Recht jedes Menschen auf Leben einen Grundwert darstellt und die Abschaffung der Todesstrafe für den Schutz dieses Rechts und für die volle Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde von wesentlicher Bedeutung ist;

Wishing to strengthen the protection of the right to life guaranteed by the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms signed at Rome on 4 November 1950 (hereinafter referred to as "the Convention");

Souhaitant renforcer la protection du droit ä la vie garanti par la Convention de sauvegarde des Droits de l'Homme et des Libertes Fondamentales signee ä Rome le 4 novembre 1950 (ci-apres denommee «la Convention»);

in dem Wunsch, den Schutz des Rechts auf Leben, der durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden als „Konvention" bezeichnet) gewährleistet wird, zu stärken;

Noting that Protocol No. 6 to the Convention, concerning the Abolition of the Death Penalty, signed at Strasbourg on 28 April 1983, does not exclude the death penalty in respect of acts committed in time of war or of imminent threat of war;

Notant que le Protocole n° 6 ä la Convention concernant l'abolition de la peine de mort, signe ä Strasbourg le 28 avril 1983, n'exclut pas la peine de mort pour des actes commis en temps de guerre ou de danger imminent de guerre;

in Anbetracht dessen, dass das Protokoll Nr. 6 zur Konvention über die Abschaffung der Todesstrafe, das am 28. April 1983 in Straßburg unterzeichnet wurde, die Todesstrafe nicht für Taten ausschließt, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden;

(33)

Walter Gollwitzer

13. Z P -

M R K

Being resolved to take the final step in order to abolish the death penalty in all circumstances, Have agreed as follows: Article 1

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte Resolus ä faire le pas ultime afin d'abolir la peine de rnort en toutes circonstances,

Sont convenus de ce qui suit: Article 1

entschlossen, den letzten Schritt zu tun, um die Todesstrafe vollständig abzuschaffen, haben Folgendes vereinbart: Artikel 1

Abolition of the death penalty

Abolition de la peine de mort

Abschaffung der Todesstrafe

The death penalty shall be abolished. No one shall be condemned to such penalty or executed.

La peine de mort est abolie. Nul ne peut etre condamne ä une telle peine ni execute.

Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden.

Article 2

Article 2

Artikel 2

Prohibition of derogations

Interdiction de derogations

Verbot des Abweichens

No derogation from the provisions of this Protocol shall be made under Article 15 of the Convention.

Aucune derogation n'est autorisee aux dispositions du present Protocole au titre de I'article 15 de la Convention.

Von diesem Protokoll darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.

Article 3

Article 3

Artikel 3

Prohibition of reservations

Interdiction de reserves

Verbot von Vorbehalten

No reservation may be made under Article 57 of the Convention in respect of the provisions of this Protocol.

Aucune reserve n'est admise aux dispositions du present Protocole au titre de I'article 57 de la Convention.

Vorbehalte nach Artikel 57 der Konvention zu diesem Protokoll sind nicht zulässig.

Article 4

Article 4

Artikel 4

Territorial application

Application territoriale

Räumlicher Geltungsbereich

1 Any State may, at the time of signature or when depositing its instrument of ratification, acceptance or approval, specify the territory or territories to which this Protocol shall apply.

1 Tout Etat peut, au moment de la signature ou au moment du depot de son instrument de ratification, d'acceptation ou d'approbation, designer le ou les territoires auxquels s'appliquera le present Protocole.

(1) Jeder Staat kann bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde einzelne oder mehrere Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die dieses Protokoll Anwendung findet.

2 Any State may at any later date, by a declaration addressed to the Secretary General of the Council of Europe, extend the application of this Protocol to any other territory specified in the declaration. In respect of such territory the Protocol shall enter into force on the first day of the month following the expiration of a period of three months after the date of receipt of such declaration by the Secretary General.

2 Tout Etat peut, a tout autre moment par la suite, par une declaration adressee au Secretaire General du Conseil de I'Europe, etendre ['application du present Protocole ä tout autre territoire designe dans la declaration. Le Protocole entrera en vigueur ä l'egard de ce territoire le premier jour du mois qui suit I'expiration d'une periode de trois mois apres la date de reception de la declaration par le Secretaire General.

(2) Jeder Staat kann jederzeit danach durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung die Anwendung dieses Protokolls auf jedes weitere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet erstrecken. Das Protokoll tritt für dieses Hoheitsgebiet am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Eingang der Erklärung beim Generalsekretär folgt.

3 Any declaration made under the two preceding paragraphs may, in respect of any territory specified in such declaration, be withdrawn or modified by a notification addressed to the Secretary General. The withdrawal or modification shall become effective on the first day of the month following the expiration of a period of three months after the date of receipt of such notification by the Secretary General.

3 Toute declaration faite en vertu des deux paragraphes precedents pourra etre retiree ou modifiee, en ce qui concerne tout territoire designe dans cette declaration, par notification adressee au Secretaire General. Le retrait ou la modification prendra effet le premier jour du mois qui suit I'expiration d'une periode de trois mois apres la date de reception de la notification par le Secretaire General.

(3) Jede nach den Absätzen 1 und 2 abgegebene Erklärung kann in Bezug auf jedes darin bezeichnete Hoheitsgebiet durch eine an den Generalsekretär gerichtete Notifikation zurückgenommen oder geändert werden. Die Rücknahme oder Änderung wird am ersten Tag des Monats wirksam, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär folgt.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(34)

13. Z u s a t z p r o t o k o l l zur M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n

13. Z P -

M R K

Article 5

Article 5

Artikel 5

Relationship to the Convention

Relations avec la Convention

Verhältnis zur Konvention

As between the States Parties the provisions of Articles 1 to 4 of this Protocol shall be regarded as additional articles to the Convention, and all the provisions of the Convention shall apply accordingly.

Les Etats Parties considerent les articles 1 ä 4 du present Protocole comme des articles additionnels ä la Convention, et toutes les dispositions de la Convention s'appliquent en consequence.

Die Vertragsstaaten betrachten die Artikel 1 bis 4 dieses Protokolls als Zusatzartikel zur Konvention; alle Bestimmungen der Konvention sind dementsprechend anzuwenden.

Article 6

Article 6

Artikel 6

Signature and ratification

Signature et ratification

Unterzeichnung und Ratifikation

This Protocol shall be open for signature by member States of the Council of Europe which have signed the Convention. It is subject to ratification, acceptance or approval. A member State of the Council of Europe may not ratify, accept or approve this Protocol without previously or simultaneously ratifying the Convention. Instruments of ratification, acceptance or approval shall be deposited with the Secretary General of the Council of Europe.

Le present Protocole est ouvert ä la signature des Etats membres du Conseil de I'Europe qui ont signe la Convention. II sera soumis ä ratification, acceptation ou approbation. Un Etat membre du Conseil de I'Europe ne peut ratifier, accepter ou approuver le present Protocole sans avoir simultanement ou anterieurement ratifie la Convention. Les instruments de ratification, d'acceptation ou d'approbation seront deposes pres le Secretaire General du Conseil de I'Europe.

Dieses Protokoll liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats, welche die Konvention unterzeichnet haben, zur Unterzeichnung auf. Es bedarf der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung. Ein Mitgliedstaat des Europarats kann dieses Protokoll nur ratifizieren, annehmen oder genehmigen, wenn er die Konvention gleichzeitig ratifiziert oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt ratifiziert hat. Die Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.

Article 7

Article 7

Artikel 7

Entry into force

Entree en vigueur

Inkrafttreten

1 This Protocol shall enter into force on the first day of the month following the expiration of a period of three months after the date on which ten member States of the Council of Europe have expressed their consent to be bound by the Protocol in accordance with the provisions of Article 6.

1 Le present Protocole entrera en vigueur le premier jour du mois qui suit I'expiration d'une periode de trois mois apres la date ä laquelle dix Etats membres du Conseil de I'Europe auront exprime leur consentement ä etre lies par le present Protocole conformement aux dispositions de son article 6.

(1) Dieses Protokoll tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach dem Tag folgt, an dem zehn Mitgliedstaaten des Europarats nach Artikel 6 ihre Zustimmung ausgedrückt haben, durch das Protokoll gebunden zu sein.

2 In respect of any member State which subsequently expresses its consent to be bound by it, the Protocol shall enter into force on the first day of the month following the expiration of a period of three months after the date of the deposit of the instrument of ratification, acceptance or approval.

2 Pour tout Etat membre qui exprimera ulterieurement son consentement ä etre lie par le present Protocole, celui-ci entrera en vigueur le premier jour du mois qui suit I'expiration d'une periode de trois mois apres la date du depot de l'instrument de ratification, d'acceptation ou d'approbation.

(2) Für jeden Mitgliedstaat, der später seine Zustimmung ausdrückt, durch dieses Protokoll gebunden zu sein, tritt es am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach der Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme· oder Genehmigungsurkunde folgt.

Article 8

Article 8

Artikel 8

Depositary functions

Fonctions du depositaire

Aufgaben des Verwahrers

The Secretary General of the Council of Europe shall notify all the member States of the Council of Europe of:

Le Secretaire General du Conseil de I'Europe notifiera ä tous les Etats membres du Conseil de I'Europe:

Der Generalsekretär des Europarats notifiziert allen Mitgliedstaaten des Europarats

a

any signature;

a

toute signature;

a) jede Unterzeichnung;

b

the deposit of any instrument of ratification, acceptance or approval;

b

le depot de tout instrument de ratification, d'acceptation ou d'approbation;

b) jede Hinterlegung einer Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde;

c

any date of entry into force of this Protocol in accordance with Articles 4 and 7;

c

toute date d'entree en vigueur du present Protocole conformement ä ses articles 4 et 7;

c) jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls nach Artikel 4 und 7;

d

any other act, notification or communication relating to this Protocol.

d

tout autre acte, notification ou communication, ayant trait au present Protocole.

d) jede andere Handlung, Notifikation oder Mitteilung im Zusammenhang mit diesem Protokoll.

(35)

Walter Gollwitzer

13. Z P -

M R K

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

In witness whereof the undersigned, being duly authorised thereto, have signed this Protocol.

En foi de quoi, les soussignes, düment autorises ä cet effet, ont signe le present Protocole.

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Protokoll unterschrieben.

Done at Vilnius, this 3 May 2002, in English and in French, both texts being equally authentic, in a single copy which shall be deposited in the archives of the Council of Europe. The Secretary General of the Council of Europe shall transmit certified copies to each member State of the Council of Europe.

Fait ä Vilnius, le 3 mai 2002, en frangais et en anglais, les deux textes faisant egalement foi, en un seul exemplaire qui sera depose dans les archives du Conseil de I'Europe. Le Secretaire General du Conseil de I'Europe en communiquera copie certifiee conforme ä chacun des Etats membres du Conseil de I'Europe.

Geschehen zu Wilna am 3. Mai 2002 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt allen Mitgliedstaaten des Europarats beglaubigte Abschriften.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(36)

IPBPR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

6. Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte. Vom 15. November 1973 ( B G B l . II S. 1 5 3 3 ) Der B u n d e s t a g hat mit Z u s t i m m u n g des Bundesrates d a s f o l g e n d e Gesetz beschlossen:

Artikel 1 D e m in New York a m 9. Oktober 1968 von der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d unterzeichneten Internationalen Pakt v o m 19. D e z e m b e r 1966 über bürgerliche und politische Rechte wird mit folg e n d e r M a ß g a b e zugestimmt: 1. Artikel 19, 21 und 22 in Verbindung mit Artikel 2 A b s . 1 d e s Paktes w e r d e n in d e m Artikel 16 der Konvention z u m Schutze der M e n s c h e n r e c h t e und Grundfreiheiten v o m 4. N o v e m b e r 1950 e n t s p r e c h e n d e n Rahmen a n g e w a n d t . 2. Artikel 14 A b s . 3 B u c h s t a b e d d e s Paktes wird derart a n g e w a n d t , daß die persönliche Anwesenheit eines nicht auf freiem Fuß befindlichen A n g e k l a g t e n zur Revisionshauptverhandlung in das Ermessen d e s Gerichts gestellt wird. 3. Artikel 14 A b s . 5 d e s Paktes wird derart a n g e w a n d t , daß a) ein weiteres Rechtsmittel nicht in allen Fällen allein d e s h a l b eröffnet w e r d e n muß, weil der B e s c h u l d i g t e in der Rechtsmittelinstanz erstmals verurteilt w o r d e n ist, und b) bei Straftaten von geringer Schwere die Ü b e r p r ü f u n g eines nicht auf Freiheitsstrafe lautend e n Urteils d u r c h ein Gericht höherer Instanz nicht in allen Fällen e r m ö g l i c h t w e r d e n muß. 4. Artikel 15 Abs. 1 d e s Paktes wird derart a n g e w a n d t , daß im Falle einer Milderung der zur Zeit in Kraft befindlichen Strafvorschriften in bestimmten Ausnahmefällen das bisher geltende Recht auf Taten, die vor der G e s e t z e s ä n d e r u n g b e g a n g e n w u r d e n , a n w e n d b a r bleiben kann. Der Pakt wird n a c h s t e h e n d veröffentlicht.

Artikel 2 Dieses G e s e t z gilt a u c h im L a n d Berlin, s o f e r n d a s L a n d Berlin die A n w e n d u n g G e s e t z e s feststellt.

dieses

Artikel 3 (1) Dieses Gesetz tritt a m Tage n a c h seiner V e r k ü n d u n g in Kraft. (2) Der Tag, an d e m der Pakt nach seinem Artikel 49 A b s . 1 für die B u n d e s r e p u b l i k Deutschland in Kraft tritt, ist im B u n d e s g e s e t z b l a t t bekanntzugeben.*)

International Covenant on Civil and Political Rights

Pacte i n t e r n a t i o n a l relatif aux droits civils et politiques

I n t e r n a t i o n a l e r Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Preamble

Preambule

Präambel

THE STATES PARTIES TO THE PRESENT COVENANT, CONSIDERING that, in accordance with the principles proclaimed in the

LES ETATS PARTIES AU PRESENT PACTE, CONSIDERANT que, conformement aux principes enonces dans la Charte

DIE VERTRAGSSTAATEN DIESES PAKTES, IN DER ERWÄGUNG, daß nach den in der Charta der Vereinten Nationen ver-

*) Der IPBPR ist für die Bundesrepublik am 23.3.1976 in Kraft getreten (BGBl. II S. 1086). Die Zuständigkeit des Ausschusses nach Art. 41 IPBPR wurde nur zeitlich befristet (jeweils 5 Jahre) anerkannt. (37)

Walter Gollwitzer

IPBPR

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

Charter of the United Nations, recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world,

des Nations Unies, la reconnaissance de la dignite inherente ä tous les membres de la famille humaine et de leurs droits egaux et inalienables constitue le fondement de la liberie, de la justice et de la paix dans le monde,

kündeten Grundsätzen die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte die Grundlage von Freiheit, Gerichtigkeit und Frieden in der Welt bildet,

R E C O G N I Z I N G that these rights derive from the inherent dignity of the human person,

R E C O N N A I S S A N T que c e s droits decoulent de la dignete inherente a la personne humaine,

IN D E R E R K E N N T N I S , daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten,

R E C O G N I Z I N G that, in accordance with the Universal Declaration of Human Rights, the ideal of free human beings enjoying civil and political freedom and freedom from fear and want can only be achieved if conditions are created whereby everyone may enjoy his civil and political rights, as well a s his economic, social and cultural rights,

R E C O N N A I S S A N T que, conformement a la Declaration universelle des droits de l'homme, l'ideal de I'etre humain libre, jouissant des libertes civiles et politiques et libera de la crainte et de la misere, ne peut etre realise que si des conditions permettant a chacun de jouir de ses droits civils et politiques, aussi bien que de s e s droits economiques, sociaux et culturels, sont crees,

IN D E R E R K E N N T N I S , daß nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Ideal vom freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine bürgerlichen und politischen Rechte ebenso wie seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genießen kann,

C O N S I D E R I N G the obligation of States under the Charter of the United Nations to promote universal respect for, and observance of, human rights and freedoms,

C O N S I D E R A N T que la Charte d e s Nations Unies impose aux Etats I'obligation de promouvoir le respect universel et effectif des droits et des libertes de l'homme,

iN D E R E R W Ä G U N G , daß die Charta der Vereinten Nationen die Staaten verpflichtet, die allgemeine und wirksame Achtung der Rechte und Freiheiten d e s Menschen zu fördern,

REALIZING that the individual, having duties to other individuals and to the community to which he belongs, is under a responsibility to strive for the promotion and observance of the rights recognized in the present Covenant, A G R E E upon the following articles:

P R E N A N T en consideration le fait que I'individu a des devoirs envers autrui et envers la collectivite a laquelle il appartient et est tenu de s'efforcer de promouvoir et de respecter les droits reconnus dans le present Pacte,

IM H I N B L I C K DARAUF, daß der einzelne gegenüber seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft, der er angehört, Pflichten hat und gehalten ist, für die Förderung und Achtung der in diesem Pakt anerkannten Rechte einzutreten,

S O N T C O N V E N U S des articles suivants:

V E R E I N B A R E N folgende Artikel:

Part I

Premiere Partie

Teil I

Article 1

Article premier

Artikel 1

1. All peoples have the right of selfdetermination. By virtue of that right they freely determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.

1. Tous les peuples ont le droit de disposer d'eux-memes. En vertu de ce droit, ils determinent librement leur Statut politique et assurent librement leur developement economique, social et culturel.

(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

2. All peoples may, for their own ends, freely dispose of their natural wealth and resources without prejudice ίρ any obligations arising out of international economic co-operation, b a s e d upon the principle of mutual benefit, and international law. In no c a s e may a people be deprived of its own means of subsistence.

2. Pour atteindre leurs fins, tous les peuples peuvent disposer librement de leurs richesses et de leurs ressources naturelles, sans prejudice des obligations qui decoulent de la cooperation economique internationale, fondee sur le principe de l'interet mutuel, et du droit international. E n aucun cas, un peuple ne pourra etre prive de s e s propres moyens de subsistance.

(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Falle darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

3. The States Parties to the present Covenant, including those having responsibility for the administration of NonSelf-Governing and Trust Territories, shall promote the realization of the right of selfdetermination, and shall respect that

3. Les Etats parties au present Pacte, y compris ceux qui ont la responsabilite d'administrer des territoires non autonomes et des Territoires sous tutelle, sont tenus de faciliter la realisation du droit des peuples a disposer d'eux-

(3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(38)

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

IPBPR

right, in conformity with the provisions of the Charter of the United Nations.

memes, et de respecter ce droit, conformement aux dispositions de la Charte des Nations Unies.

Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.

Part II Article 2 1. Each State Party to the present Covenant undertakes to respect and to ensure to all individuals within its territory and subject to its jurisdiction the rights recognized in the present Covenant, without distinction of any kind, such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status.

Deuxieme Partie Article 2 1. Les Etats parties au present Pacte s'engagent a respecter et ä garantier a tous les individus se trouvant sur leur territoire et relevant de leur competence les droits reconnus dans le present Pacte, sans distinction aucune, notamment de race, de couleur, de sexe, de langue, de religion, d'opinion politique ou de toute autre opinion d'origine nationale ου sociale, de fortune, de naissance ou de toute autre Situation.

Teil II Artikel 2 (1) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied wie insbesondere der Rasse, der Hautfarbe des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status zu gewährleisten.

2. Where not already provided for by existing legislative or other measures, each State Party to the present Covenant undertakes to take the necessary steps, in accordance with its constitutional processes and with the provisions of the present Covenant, to adopt such legislative or other measures as may be necessary to give effect to the rights recognized in the present Covenant.

2. Les Etats parties au present Pacte s'engagent a prendre, en accord avec leurs procedures constitutionelles et avec les dispositions du present Pacte, les arrangements devant permettre l'adoption de telles mesures d'ordre legislatif ou autre, propres a donner effet aux droits reconnus dans le present Pacte qui ne seraient pas deja en vigueur.

3. Each State Party to the present Covenant undertakes: (a) To ensure that any person whose rights or freedoms as herein recognized are violated shall have an effective remedy, notwithstanding that the violation has been committed by persons acting in an official capacity;

3. Les Etats parties au present Pacte s'engagent ä: a) Garantir que toute personne dont les droits et libertes reconnus dans le present Pacte auront ete violees disposers d'un recours utile, alors meme que la violation aurait ete commise par des personnes agissant dans l'exercice de leurs fonctions officielles;

(2) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren und mit den Bestimmungen dieses Paktes die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen, soweit solche Vorkehrungen nicht bereits getroffen worden sind. (3) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, a) dafür Sorge zu tragen, daß jeder, der in seinen in diesem Pakt anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, eine wirksame Beschwerde einzulegen, selbst wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben;-

(b) To ensure that any person claiming such a remedy shall have his right thereto determined by competent judicial, administrative or legislative authorities, or by any other competent authority provided for by the legal system of the State, and to develop the possibilities of judicial remedy; (c) To ensure that the competent authorities shall enforce such remedies when granted.

b) Garantir que I'autorite competente, judiciaire, administrative ou legislative ou toute autre autorite competente selon la legislation de I'Etat, statuera sur les droits de la personne qui forme le recours et a developper les possibilites de recours juridictionnel;

b) dafür Sorge zu tragen, daß jeder, der eine solche Beschwerde erhebt, sein Recht durch das zuständige Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzgebungsorgan oder durch eine andere, nach den Rechtsvorschriften des Staates zuständige Stelle feststellen lassen kann, und den gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen;

c) Garantir la bonne suite donnee par les autorites competentes a tout recours qui aura ete reconnu justifie.

c) dafür Sorge zu tragen, daß die zuständigen Stellen Beschwerden, denen stattgegeben wurde, Geltung verschaffen.

Article 3 The State Parties to the present covenant undertake to ensure the equal right of men and women to the enjoyment of all civil and political rights set forth in the present Covenant.

Article 3 Les Etats parties au present Pacte s'engagent a assurer le droit egal des hommes et des femmes de jouir de tous les droits civils et politiques enonces dans le present Pacte.

Artikel 3 Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller in diesem Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen.

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Walter Gollwitzer

IPBPR

Menschenrechtskonventionen, Vertragstexte Ariele 4

Article 4

Artikel 4

1. In time of public emergency which threatens the life of the nation and the existence of which is officially proclaimed, the States Parties to the present Covenant may take measures derogating from their obligations under the present Covenant to the extent strictly required by the exigencies of the situation, provided that such measures are not inconsistent with their other obligations under international law and do not involve discrimination solely on the ground of race, colour, sex, language, religion or social origin.

1. Dans le cas ou danger public exceptionnel menace l'existence de la nation et est proclame par un acte officiel, les Etats parties au present Pacte peuvent prendre, dans la stricte mesure ou la situation l'exige, des mesures derogeant aux obligations prevues dans le present Pacte, sous reserve que ces mesures ne soient pas incompatibles avec les autres obligations que leur impose le droit international et qu'elles n'entrainent pas une discrimination fondee uniquement sur la race, la couleur, le sexe, la langue, la religion ou l'origine sociale.

(1) Im Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht und der amtlich verkündet ist, können die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen, die ihre Verpflichtungen aus diesem Pakt in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert, außer Kraft setzen, vorausgesetzt, daß diese Maßnahmen ihren sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht zuwiderlaufen und keine Diskriminierung allein wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion oder der sozialen Herkunft enthalten.

2. No derogation from article 6, 7, 8 (paragraphs 1 and 2), 11, 15, 16 and 18 may be made under this provision.

2. La disposition precedente n'autorise aucune derogation aux article 6 , 7 , 8 (Par. 1 et 2), 11, 15, 16 et 18.

(2) Auf Grund der vorstehenden Bestimmung dürfen die Artikel 6 , 7 , 8 (Absätze 1 und 2), 1 1 , 1 5 , 1 6 und 18 nicht außer Kraft gesetzt werden.

3. Any State Party to the present Covenant availing itself of the right of derogation shall immediately inform the other States Parties to the present Covenant, through the intermediary of the Secretary-General of the United Nations, of the provisions from which it has derogated and of the reasons by which it was actuated. A further communication shall be made, through the same intermediary, on the date on which it terminates such derogation.

3. Les Etats parties au present Pacte qui usent du droit de derogation doivent, par l'entremise du Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies, signaler aussitöt aux autres Etats parties les dispositions auxquelles ils ont deroge ainsi que les motifs qui ont provoque cette derogation. Une nouvelle communication sera faite par la meme entremise, ä la date ä laquelle ils ont mis fin a ces derogations.

(3) Jeder Vertragsstaat, der das Recht, Verpflichtungen außer Kraft zu setzen, ausübt, hat den übrigen Vertragsstaaten durch Vermittlung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen unverzüglich mitzuteilen, welche Bestimmungen er außer Kraft gesetzt hat und welche Gründe ihn dazu veranlaßt haben. Auf demselben Wege ist durch eine weitere Mitteilung der Zeitpunkt anzugeben, in dem eine solche Maßnahme endet.

Article 5

Article 5

Artikel 5

1. Nothing in the present Covenant may be interpreted as implying for any State, group or person any right to engage in any activity or perform any act aimed at the destruction of any of the rights and freedoms recognized herein or at their limitation to a greater extent than is provided for in the present Covenant.

1. Aucune disposition du present Pacte ne peut etre interpretee comme impliquant pour un Etat, un groupement ou un individu, un droit quelconque de se livrer ä une activite ou d'accomplir un acte visant a la destruction des droits et des liberies reconnus dans le present Pacte ou a des limitations plus amples que celles prevues audit Pacte.

(1) Keine Bestimmung dieses Paktes darf dahin ausgelegt werden, daß sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in diesem Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in dem Pakt vorgesehen, hinzielt.

2. There shall be no restriction upon or derogation from any of the fundamental human rights recognized or existing in any State Party to the present Covenant pursuant to law, conventions, regulations or custom on the pretext that the present Covenant does not recognize such rights or that it recognizes them to a lesser extent.

2. II ne peut etre admis aucune restriction ou derogation aux droits fondamentaux de I'homme reconnus ou en vigueur dans tout Etat partie au present Pacte en application de lois, de conventions, de reglements ou de coutumes, sous pretexte que le present Pacte ne les reconnatt pas ou les reconnait a un moindre degre.

(2) Die in einem Vertragsstaat durch Gesetze, Übereinkommen, Verordnungen oder durch Gewohnheitsrecht anerkannten oder bestehenden grundlegenden Menschenrechte dürfen nicht unter dem Vorwand beschränkt oder außer Kraft gesetzt werden, daß dieser Pakt derartige Rechte nicht oder nur in einem geringeren Ausmaße anerkenne.

Part III

Troisieme Partie

Teil III

Article 6

Article 6

Artikel 6

1. Every human being has the inherent right to life. This right shall be protected by law. No one shall be arbitrarily deprived of his life.

1. Le droit ä la vie est inherent a la persone humaine. Ce droit doit etre protege par la loi. Nul ne peut etre arbitrairement prive de la vie.

(1) Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.

2. In countries which have not abol-

2. Dans les pays ou la peine de mort

(2) In Staaten, in denen die Todesstrafe

S t a n d : 1.10. 2004

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IPBPR

I n t e r n a t i o n a l e r P a k t ü b e r bürgerliche u n d politische R e c h t e ished the death penalty, sentence of death may be imposed only for the most serious crimes in accordance with the law in force at the time of the commission of the crime and not contrary to the provisions of the present Covenant and to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. This penalty can only be carried out pursuant to a final judgement rendered by a competent court.

n'a pas ete abolie, une sentence de mort ne peut etre prononcee que pour les crimes les plus graves, conformement ä la legislation en vigueur au moment ού le crime a ete commis et qui ne doit pas etre en contradiction avec les dispositions du prresent Pacte, ni avec la Convention pour la prevention et la repression du crime de genocide. Cette peine ne peut etre appliquee qu'en vertu d'un jugement definitif rendu par un tribunal competent.

nicht abgeschafft worden ist, darf ein Todesurteil nur für schwerste Verbrechen auf Grund von Gesetzen verhängt werden, die zur Zeit der Begehung der Tat in Kraft waren und die den Bestimmungen dieses Paktes und der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes nicht widersprechen. Diese Strafe darf nur auf Grund eines von einem zuständigen Gericht erlassenen rechtskräftigen Urteils vollstreckt werden.

3. When deprivation of life constitutes the crime of genocide, it is understood that nothing in this article shall authorize any State Party to the present Covenant to derogate in any way from any obligation assumed under the provisions of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide.

3. Lorsque la privation de la vie constitue le crime de genocide, il est entendu qu'aucune disposition du present article n'autorise un Etat partie au present Pacte a deroger d'aucune maniere ä une obligation quelconque assumee en vertu des dispositions de la Convention pour la prevention et la repression du crime de genocide.

(3) Erfüllt die Tötung den Tatbestand des Völkermordes, so ermächtigt dieser Artikel die Vertragsstaaten nicht, sich in irgendeiner Weise einer Verpflichtung zu entziehen, die sie nach den Bestimmungen der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes übernommen haben.

4. Anyone sentenced to death shall have the right to seek pardon or commutation of the sentence. Amnesty, pardon or commutation of the sentence of death may be granted in all cases.

4. Tout condamne ä mort a le droit de solliciter la grace ou la commutation de la peine. L'amnistie, la grace ou la commutation de la peine de mort peuvent dans tous les cas etre accordees.

(4) Jeder zum Tode Verurteilte hat das Recht, um Begnadigung oder Umwandlung der Strafe zu bitten. Amnestie, Begnadigung oder Umwandlung der Todesstrafe kann in allen Fällen gewährt werden.

5. Sentence of death shall not be imposed for crimes committed by persons below eighteen years of age and shall not be carried out on pregnant women.

5. Une sentence de mort ne peut etre imposee pour des crimes commis par des personnes ägees de moins de 18 ans et ne peut etre executee contre des femmes enceintes.

(5) Die Todesstrafe darf für strafbare Handlungen, die von. Jugendlichen unter 18 Jahren begangen worden sind, nicht verhängt und an schwangeren Frauen nicht vollstreckt werden.

6. Nothing in this article shall be invoked to delay or to prevent the abolition of capital punishment by any State Party to the present Covenant.

6. Aucune disposition du present article ne peut etre invoquee pour retarder ou empecher l'abolition de la peine capitale par un Etat partie au present Pacte.

(6) Keine Bestimmung dieses Artikels darf herangezogen werden, um die Abschaffung der Todesstrafe durch einen Vertragsstaat zu verzögern oder zu verhindern.

Article 7

Article 7

Artikel 7

No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. In particular, no one shall be subjected without his free consent to medical or scientific experimentation.

Nul ne sera soumis ä la torture ni ä des peines ou traitements cruels, inhumains ou degradants. En particulier, il est interdit de soumettre une personne sans son libre consentement a une experience medicale ou scientifique.

Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Insbesondere darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden.

Article 8

Article 8

Artikel 8

1. No one shall be held in slavery; slavery and the slave-trade in all their forms shall be prohibited.

1. Nul ne sera tenu en esclavage; I'esclavage et la traite des esclaves, sous toutes leurs formes, sont interdits.

(1) Niemand darf in Sklaverei gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen sind verboten.

2. No one shall be held in servitude.

2. Nul ne sera tenu en servitude.

(2) Niemand darf in Leibeigenschaft gehalten werden.

3. (a) No one shall be required to perform forced or compulsory labour;

3. a) Nul ne sera astreint ä accomplir un travail force ou obligatoire;

(3) a) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten;

(b) Paragraph 3 (a) shall not be held to preclude, in countries where imprisonment with hard labour may be imposed as a punishment for a crime, the performance of hard labour in pursuance of a

b) L'alinea a du present paragraphe ne saurait etre interprete comme interdisant, dans les pays ou certains crimes peuvent etre punis de detention accompagnee de travaux forces, I'accomplissement d'une

b) Buchstabe a ist nicht so auszulegen, daß er in Staaten, in denen bestimmte Straftaten mit einem mit Zwangsarbeit verbundenen Freiheitsentzug geahndet werden können, die Leistung von

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Walter Gollwitzer

IPBPR

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

sentence to such punishment by a competent court;

peine de travaux forces, infligee par un tribunal competent;

Zwangsarbeit auf Grund einer Verurteilung durch ein zuständiges Gericht ausschließt;

(c) For the purpose ot this paragraph the term "forced or compulsory labour" shall not include:

c) N'est pas considere comme »travail force ou obligatoire« au sens du präsent paragraphe:

c) als „Zwangs- oder Pflichtarbeit" im Sinne dieses Absatzes gilt nicht

(i) Any work or service, not referred to in sub-paragraph (b), normally required of a person who is under detention in consequence of a lawful order of a court, or of a person during conditional release from such detention;

i) Tout travail ou service, non vise a I'alinea b, normalement requis d'un individu qui est detenu en vertu d'une decision de justice reguliere ou qui, ayant fait I'objet d'une telle decision, est libere conditionnellement;

i) jede nicht unter Buchstabe b genannte Arbeit oder Dienstleistung, die normalerweise von einer Person verlangt wird, der auf Grund einer rechtmäßigen Gerichtsentscheidung die Freiheit entzogen oder die aus einem solchen Freiheitsentzug bedingt entlassen worden ist;

(ii) Any service of a military character and, in countries where conscientious objection is recognized, any national service required by law of conscientious objectors;

ii) Tout service de caractere militaire et, dans les pays ou l'objection de conscience est admise, tout service national exige des objecteurs de conscience en vertu de la loi;

ii) jede Dienstleistung militärischer Art sowie in Staaten, in denen die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt wird, jede für Wehrdienstverweigerer gesetzlich vorgeschriebene nationale Dienstleistung;

(iii) Any service exacted in cases of emergency or calamity threatening the life or well-being of the community; (iv) Any work or service which forms part of normal civil obligations.

iii) Tout service exige dans les cas de force majeure ou de sinistres qui menacent la vie ou le bienetre de la communaute; iv) Tout travail ou tout service formant partie des obligations civiques normales.

iii) jede Dienstleistung im Falle von Notständen oder Katastrophen, die das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen; iv) jede Arbeit oder Dienstleistung, die zu den normalen Bürgerpflichten gehört.

Article 9 1. Everyone has the right to liberty and security of person. No one shall be subjected to arbitrary arrest or detention. No one shall be deprived of his liberty except on such grounds and in accordance with such procedure as are established by law.

Article 9 1. Tout individu a droit ä la liberte et ä la securite de sa personne. Nul ne peut faire I'objet d'une arrestation ou d'une detention arbitraires. Nul ne peut etre prive de sa liberte, si ce n'est pour des motifs et conformement a la procedure prevus par la loi.

2. Anyone who is arrested shall be informed, at the time of arrest, of the reasons for his arrest and shall be promptly informed of any charges against him.

2. Tout individu arrete sera informe, au moment de son arrestation, des raisons de cette arrestation et recevra notification, dans le plus court delai, de toute accusation portee contre lui.

(2) Jeder Festgenommene ist bei seiner Festnahme über die Gründe der Festnahme zu unterrichten und die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen sind ihm unverzüglich mitzuteilen.

3. Anyone arrested or detained on a criminal charge shall be brought promptly before a judge or other officer authorized by law to exercise judicial power and shall be entitled to trial within a reasonable time or to release. It shall not be the general rule that persons awaiting trial shall be detained in custody, but release may be subject to guarantees to appear for trial, at any other stage of the judicial proceedings, and, should occasion arise, for execution of the judgement.

3. Tout individu arrete ou detenu du chef d'une infraction penale sera traduit dans le plus court delai devant un juge ou une autre autorite habilitee par la loi ä exercer des fonctions judiciaires, et devra etre juge dans un delai raisonnable ou libere. La detention de personnes qui attendent de passer en jugement ne doit pas etre de regle, mais la mise en liberte peut etre subordonnee ä des garanties assurant la comparution de I'interesse a I'audience, a tous les autres actes de la procedure et, le cas echeant, pour I'execution du jugement.

(3) Jeder, der unter dem Vorwurf einer strafbaren Handlung festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird, muß unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Amtsperson vorgeführt werden und hat Anspruch auf ein Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung aus der Haft. Es darf nicht die allgemeine Regel sein, daß Personen, die eine gerichtliche Aburteilung erwarten, in Haft gehalten werden, doch kann die Freilassung davon abhängig gemacht werden, daß für das Erscheinen zur Hauptverhandlung oder zu jeder anderen Verfahrenshandlung und gegebenenfalls zur Vollstrekkung des Urteils Sicherheit geleistet wird.

4. Anyone who is deprived of his liberty

4. Quiconque se trouve prive de sa li-

(4) Jeder, dem seine Freiheit durch

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

Artikel 9 (1) Jedermann hat ein Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. Niemand darf willkürlich festgenommen oder in Haft gehalten werden. Niemand darf seine Freiheit entzogen werden, es sei denn aus gesetzlich bestimmten Gründen und unter Beachtung des im Gesetz vorgeschriebenen Verfahrens.

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IPBPR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte by arrest or detention shall be entitled to take proceedings before a court, in order that that court may d e c i d e without delay on the lawfulness of his detention and order his release if the detention is not lawful.

berte par arrestation ou detention a le droit d'introduire un recours devant un tribunal afin que celui-ci statue sans delai sur la legalite de sa detention et ordonne sa liberation si la detention est illegale.

Festnahme oder Haft entzogen ist, hat das Recht, ein Verfahren vor einem Gericht zu beantragen, damit dieses unverzüglich über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheiden und seine Entlassung anordnen kann, falls die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

5. Anyone who has been the victim of unlawful arrest or detention shall have an enforceable right to compensation.

5. Tout individu victime d'arrestation ou de detention illegales a droit ä reparation.

(5) Jeder, der unrechtmäßig festge» n o m m e n oder in Haft gehalten worden ist, hat einen A n s p r u c h auf Entschädigung.

A r t i c l e 10

A r t i c l e 10

Artikel 1 0

1. All persons deprived of their liberty shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person.

1. Toute personne privee de sa liberte est traitee avec humanite et avec le respect de la dignite inherente a la personne humaine.

(1) Jeder, d e m seine Freiheit entzogen ist, muß.menschlich und mit Achtung vor der d e m M e n s c h e n innewohnenden Würde behandelt werden.

2. (a) A c c u s e d persons shall, save in exceptional circumstances, be segregated from convicted p e r s o n s and shall be subject to separate treatment appropriate to their status as unconvicted persons;

2. a) Les prevenus sont, sauf dans des circonstances exceptionnelles, separes des condamnes et sont soumis ä un regime distinct, approprie ä leur condition de personnes non condamnees;

(2) a) Beschuldigte sind, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, von Verurteilten getrennt unterzubringen und so zu behandeln, wie es ihrer Stellung als Nichtverurteilte entspricht;

(b) Accused juvenile persons shall be separated from adults and brought as speedily as possible for adjudication.

b) Les jeunes prevenus sont separes des adultes et il est decidede leur cas aussi rapidement que possible.

b) jugendliche Beschuldigte sind von Erwachsenen zu trennen, und es hat so schnell wie möglich ein Urteil zu ergehen.

3. The penitentiary s y s t e m shall c o m prise treatment of prisoners the essential aim of which shall be their reformation and social rehabilitation. Juvenile offenders shall be segregated from adults and be accorded treatment appropriate to their age and legals status.

3. Le regime penitentiaire comporte un traitement des condamnes dont le but essentiel est leur amendement et leur reclassement social. Les jeunes delinquents sont separes des adultes et soumis a un regime approprie ä leur äge et a leur Statut legal.

(3) Der Strafvollzug schließt eine Behandlung der Gefangenen ein, die vornehmlich auf ihre Besserung und gesellschaftliche Wiedereingliederung hinzielt. Jugendliche Straffällige sind von Erwachsenen zu trennen und ihrem Alter und ihrer Rechtsstellung entsprechend zu behandeln.

A r t i c l e 11

A r t i c l e 11

A r t i k e l 11

No one shall be imprisoned merely on the ground of inability to fulfil a contractual "obligation.

Nul ne peut etre emprisonne pour la seule raison qu'il n'est pas en mesure d'executer une obligation contractuelle.

N i e m a n d darf nur d e s w e g e n in Haft gen o m m e n werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.

A r t i c l e 12

Article 1 2

A r t i k e l 12

1. Everyone lawfully within the territory of a State shall, within that territory, have the right to liberty of movement a n d freed o m to choose his residence.

1. Quiconque se trouve legalement sur le territoire d'un Etat a le droit d'y circuler librement et d'y choisir librement sa residence.

(1) Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat d a s Recht, sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen.

2. Everyone shall be free to leave any country, including his own.

2. Toute personne est libre de quitter n'importe quell pays, y compris le sien.

(2) J e d e r m a n n steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen.

3. The above-mentioned rights shall not be subject to any restrictions except those which are provided by law, are necessary to protect national security, public order (ordre public), public health or morals or the rights a n d freedoms of others, and are consistent with the other rights recognized in the present Covenant.

3. Les droits mentionnes ci-dessus ne peuvent etre l'objet de restrictions que si celles-ci sont prevues par la loi, necessaires pour proteger la securite nationale, I'ordre public, la sante ou la moralite publiques, ou les droits et libertes d'autrui, et compatibles avec les autres droits reconnus par le present Pacte.

(3) Die o b e n erwähnten Rechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen und zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen O r d n u n g (ordre public), der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte u n d Freiheiten anderer notw e n d i g ist und die Einschränkungen mit d e n übrigen in d i e s e m Pakt anerkannten Rechten vereinbar sind.

4. No one shall be arbitrarily deprived of the right to enter his o w n country.

4. Nul ne peut etre arbitrairement prive du droit d'entrer dans son propre pays.

(4) N i e m a n d darf willkürlich das Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen.

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Walter Gollwitzer

IPBPR

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

A r t i c l e 13 An alien lawfully in the territory of a State Party to the present Covenant may be expelled therefrom only in pursuance of a decision reached in accordance with law and shall, except where compelling reasons of national security otherwise require, be allowed to submit the reasons against his expulsion and to have his case reviewed by, and be represented for the purpose before, the competent authority or a person or persons especially designated by the competent authority.

A r t i c l e 13 Un etranger qui se trouve legalement sur le territoire d'un Etat partie au present Pacte ne peut en etre expulse qu'en execution d'une decision prise conformement a la loi et, a moins que des raisons imperieuses de securite nationale ne s'y opposent, il doit avoir la possibilite de faire valoir les raisons qui militent contre son expulsion et de faire examiner son cas par i'autorite competente, ou par une ou plusieurs personnes specialement designees par ladite autorite, en se faisant representer a cette fin.

A r t i c l e 14 1. All persons shall be equal before the courts and tribunals. In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit at law, everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law. The Press and the public may be excluded from all or part of a trial for reasons of morals, public order (ordre public) or national security in a democratic society, or when the interest of the private lives of the parties so requires, or to the extent strictly necessary in the opinion of the court in special circumstances where publicity would prejudice the interests of justice; but any judgement rendered in a criminal case or in a suit at law shall be made public except where the interest of juvenile persons otherwise requires or the proceedings concern matrimonial disputes or the guardianship of children.

Article 1 4 1. Tous sont egaux devant les tribunaux et les cours de justice. Toute personne a droit a ce que sa cause soit entendue equitablement et publiquement par un tribunal competent, independent et impartial, etabli par la loi, qui decidera soit du bien-fonde de toute accusation en matiere penale dirigee contre eile, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractere civil. Le huis-clos peut etre prononce pendant la totalite ou une partie du proces soit dans I'interet des bonnes mceurs, de I'ordre public ou de la securite nationale dans une societe democratique, soit lorsque I'interet de la vie privee des parties en cause I'exige, soit encore dans la mesure ou le tribunal I'estimera absolument necessaire, lorsqu'en raison des circonstances particulieres de I'affaire la publicite nuirait aux interet de la justice; cependant, tout jugement rendu en matiere penale ou civile sera public, sauf si I'interet de mineurs exige qu'il en soit autrement ou si le proces porte sur des differends matrimoniaux ou sur la tutelle des enfants.

2. Everyone charged with a criminal offence shall have the right to be presumed innocent until proved guilty according to law.

2. Toute personne accusee d'une infraction penale est presumee innocente jusqu'ä ce que sa culpabilite ait ete legalement etablie.

(2) Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat Anspruch darauf, bis zu dem im gesetzlichen Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten.

3. In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality:

3. Toute personne accusee d'une infraction penale a droit, en pleine egalite, au moins aux garanties suivantes:

(3) Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat in gleicher Weise im Verfahren Anspruch auf folgende Mindestgarantien:

(a) To be informed promptly and in detail in a language which he understands of the nature and cause of the charge against him;

a) A etre informee, dans le plus court delai, dans une langue qu'elle comprend et de facon detaillee, de la nature et des motifs de I'accusation portee contre elle;

a) Er ist unverzüglich und im einzelnen in einer ihm verständlichen Sprache über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Anklage zu unterrichten;

(b) To have adequate time and facilities for the preparation of his defence and to

b) A disposer du temps et des facilitees necessaires ä la preparation de sa

b) er muß hinreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidi-

Stand: 1.10. 2004

A r t i k e l 13 Ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, kann aus diesem nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden, und es ist ihm, sofern nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit entgegenstehen, Gelegenheit zu geben, die gegen seine Ausweisung sprechenden Gründe vorzubringen und diese Entscheidung durch die zuständige Behörde oder durch eine oder mehrere von dieser Behörde besonders bestimmte Personen nachprüfen und sich dabei vertreten zu lassen.

A r t i k e l 14 (1) Alle Menschen sind vor Gericht gleich. Jedermann hat Anspruch darauf, daß über eine gegen ihn erhobenen strafrechtliche Anklage oder seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht in billiger Weise und öffentlich verhandelt wird. Aus Gründen der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung (ordre public) oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft oder wenn es im Interesse des Privatlebens der Parteien erforderlich ist oder — soweit dies nach Auffasung des Gerichts unbedingt erforderlich ist — unter besonderen Umständen, in denen die Öffentlichkeit des Verfahrens die Interessen der Gerechtigkeit beeinträchtigen würde, können Presse und Öffentlichkeit während der ganzen oder eines Teils der Verhandlung ausgeschlossen werden; jedes Urteil in einer Straf- oder Zivilsache ist jedoch öffentlich zu verkünden, sofern nicht die Interessen Jugendlicher dem entgegenstehen oder das Verfahren Ehestreitigkeiten oder die Vormundschaft über Kinder betrifft.

(44)

I n t e r n a t i o n a l e r P a k t ü b e r bürgerliche u n d politische R e c h t e communicate with counsel of his own choosing;

avec le

gung und zum Verkehr mit einem Verteidiger seiner Wahl haben;

c) A etre jugee sans retard excessif;

c) es muß ohne unangemessene Verzögerung ein Urteil gegen ihn ergehen;

(d) To be tried in his presence, and to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing; to be informed, if he does not have legal assistance, of this right; and to have legal assistance assigned to him, in any case where the interests of justice so require, and without payment by him in any such case if he does not have sufficient means to pay for it;

c) A etre presente au proces et a se defendre elle-meme ou a avoir I'assistance d'un defenseur de son choix; si elle n'a pas de defenseur, ä etre informee de son droit d'en avoir un, et, chaque fois que l'interet de la justice I'exige, a se voir attribuer d'office un defenseur, sans frais, si elle n'a pas les moyens de le remunerer;

d) er hat das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und sich selbst zu verteidigen oder durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen; falls er keinen Verteidiger hat, ist er über das Recht, einen Verteidiger in Anspruch zu nehmen, zu unterrichten; fehlen ihm die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers, so ist ihm ein Verteidiger unentgeltlich zu bestellen, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;

(e) To examine, or have examined, the witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him;

e) A interroger ou faire interroger les temoins ä charge et a obentir la compaction et l'interrogatoire des temoins a decharge dans les memes conditions que les temoins a charge;

e) er darf Frangen an die Belastungszeugen stellen oder stellen lasen und das Erscheinen und die Vernehmung der Entlastungszeugen unter den für die Belastungszeugen geltenden Bedingungen erwirken;

(f) To have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court;

f) A se faire assister gratuitement d'un interprete si elle ne comprend pas ou ne parle pas la langue employee ä I'audience;

f) er kann die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers verlangen, wenn er die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht;

(g) Not to be compelled to testify against himself or to confess guilt.

g) A ne pas etre forcee de temoigner contre elle-meme ou de s'avouer coupable.

g) er darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen.

4. In the case of juvenile persons, the procedure shall be such as will take account of their age and the desirability of promoting their rehabilitation.

4. La procedure applicable aux jeunes gens qui ne sont pas encore majeurs au regard de la loi penale tiendra compte de leur äge et de l'interet que presente leur reeducation.

(4) Gegen Jugendliche ist das Verfahren in einer Weise zu führen, die ihrem Alter entspricht und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördert.

5. Everyone convicted of a crime shall have the right to his conviction and sentence being reviewed by a higher tribunal according to law.

5. Toute personne declaree coupable d'une infraction a le droit de faire examiner par une juridiction superieure la declaration de culpabilite et la condemnation, conformement ä la loi.

(5) Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht nachprüfen zu lassen.

6. When a person has by a final decision been convicted of a criminal offence and when subsequently his conviction has been reversed or he has been pardoned on the ground that a new or newly discovered fact shows conclusively that there has been a miscarriage of justice, the person who has suffered punishment as a result of such conviction shall be compensated according to law, unless it is proved that the non-disclosure of the unknown fact in time is wholly or partly attributable to him.

6. Lorsqu'une condamnation penale definitive est ulterieurement annulee ou lorsque la grace est accordee parce qu'un fait nouveau ou nouvellement revele prouve qu'ils s'est produit une erreur judiciaire, la personne qui a subi une peine ä raison de cette condamnation sera indemnisee, conformement a la loi, ä moins qu'il ne soit prouve que la non-revelation en temps utile du fait inconnu lui est imputable en tout ou partie.

(6) Ist jemand wegen einer strafbaren Handlung rechtskräftig verurteilt und ist das Urteil später aufgehoben oder der Verurteilte begnadigt worden, weil eine neue oder eine neu bekannt gewordenen Tatsache schlüssig beweist, daß ein Fehlurteil vorlag, so ist derjenige, der auf Grund eines solchen Urteils eine Strafe verbüßt hat, entsprechend dem Gesetz zu entschädigen, sofern nicht nachgewiesen wird, daß das nicht rechtzeitige Bekanntwerden der betreffenden Tatsache ganz oder teilweise ihm zuzuschreiben ist.

7. No one shall be liable to be tried or punished again for an offence for which he has already been finally convicted or acquitted in accordance with the law and penal procedure of each country.

7. Nul ne peut etre poursuivi ou puni en raison d'une infraction pour laquelle il a deja ete acquitte ou condamne par un jugement definitif conformement ä la loi et ä la procedure penale de chaque pays.

(7) Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden.

(c) To be tried without undue delay;

(45)

defense et a communiquer conseil de son choix;

IPBPR

Walter Gollwitzer

IPBPR

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte Article 1 5

Article 1 5

Artikel 1 5

1. No one shall be held guilty of any criminal offence on account of any act or omission which did not constitute a criminal offence, under national or international law, at the time when it was committed. Nor shall a heavier penalty be imposed than the one that was applicable at the time when the criminal offence was committed. If, subsequent to the commission of the offence, provision is made by law for the imposition of a lighter penalty, the offender shall benefit thereby.

1. Nul ne sera condamne pour des actions ou omissions qui ne constituaient pas un acte delictueux d'apres le droit national ou international au moment ού elles ont ete commises. De meme, il ne sera inflige aucune peine plus forte que celle qui etait applicable au moment ou I'infraction a ete commise. Si, posterieurement ä cette infraction, la loi prevoit I'application d'une peine plus legere, le delinquant doit en beneficier.

(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteil werden, die zurZeit ihrer Begehung nach inländischem oder nach internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer strafbaren Handlung durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist das mildere Gesetz anzuwenden.

2. Nothing in this article shall prejudice the trial and punishment of any person for any act or omission which, at the time when it was committed, was criminal according to the general principles of law recognized by the community of nations.

2. Rien dans le present article ne s'oppose au jugement ou a la condamnation de tout individu en raison d'actes ou omission qui, au moment ou ils ont ete commis, etaient tenus pour criminels, d'apres les principes generaux de droit reconnus par l'ensemble des nations.

(2) Dieser Artikel schließt die Verurteilung oder Bestrafung einer Person wegen einer Handlung oder Unterlassung nicht aus, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.

A r t i c l e 16

Article 1 6

A r t i k e l 16

Everyone shall have the right to recognition everywhere as a person before the law. Article 1 7

Chacun a droit ä la reconnaissance en tous lieux de sa personnalite juridique.

Jedermann hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.

A r t i c l e 17

A r t i k e l 17

1. No one shall be subjected to arbitrary or unlawful interference with his privacy, family, home or correspondence, nor to unlawful attacks on his honour and reputation.

1. Nul ne sera I'objet d'immixtions arbitrages ou illegales dans sa vie privee, sa famille, son domicile ou sa correspondance, ni d'atteintes illegales a son honneur et a sa reputation.

(1) Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.

2. Everyone has the right to the protection of the law against such interference or attacks.

2. Toute personne a droit a la protection de la loi contre de telles immixtions ou de telles atteintes.

(2) Jedermann hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

A r t i c l e 18

A r t i c l e 18

A r t i k e l 18

1. Everyone shall have the right to freedom of thought, conscience and religion. This right shall include freedom to have or to adopt a religion or belief of his choice, and freedom, either individually or in community with others and in public or private, to manifest his religion or belief in worship, observance, practice and teaching.

1. Toute personne a droit a la liberte de pensee, de conscience et de religion; ce droit implique la liberte d'avoirou d'adopter une religion ou une conviction de son choix, ainsi que la liberte de manifester sa religion ou sa conviction, individuellement ou en commun, tant en public qu'en prive, par le culte et I'accomplissement des rites, les pratiques et i'enseignement.

(1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken·, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfaßt die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden.

2. No one shall be subject to coercion which would impair his freedom to have or to adopt a religion or belief of his choice.

2. Nul ne subira de contrainte pouvant porter atteinte a sa liberte d'avoir ou d'adopter une religion ou une conviction de son choix.

(2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.

3. Freedom to manifest one's religion or beliefs may be subject only to such limitations as are prescribed by law and are necessary to protect public safety, order, health, or morals or the fundamental rights and freedoms of others.

3. La liberte de manifester sa religion ou ses convictions ne peut faire I'objet que des seules restrictions prevues par la loi et qui sont necessaires ä la protection de la securite, de l'ordre et de la sante publique, ou de la morale ou des liberies et droits fondamentaux d'autrui.

(3) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

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IPBPR

I n t e r n a t i o n a l e r P a k t ü b e r bürgerliche u n d politische R e c h t e 4. The States Parties to the present Covenant undertake to have respect for the liberty of parents and, when applicable, legal guardians to ensure the religious and moral eductation of their children in conformity with their own convictions.

4. Les Etats parties au present Pacte s'engagent ä respecter la liberte des parents et, le cas echeant, des tuteurs legaux, de faire assurer I'education religieuse et morale de leurs enfants conformement a leurs propres convictions.

(4) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds oder Pflegers zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen.

A r t i c l e 19

A r t i k e l 19

1. Nul ne peut etre inquiete pour ses opinions.

(1) Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit.

Everyone shall have the right to freedom of expression; this right shall include freedom to seek, receive and impart information and ideas of all kinds, regardless of frontiers, either orally, in writing or in print, in the form of art, or through any other media of his choice.

2. Toute personne a droit ä la liberte d'expression; ce droit comprend la liberte de rechercher, de recevoir et de repandre des informations et des idees de toute espece, sans consideration de frontieres, sous une forme orale, ecrite, imprimee ou artistique, ou par tout autre moyen de son choix.

(2) Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschafften, zu empfangen und weiterzugeben.

3. The exercise of the rights provided for in paragraph 2 of this article carries with it special duties and responsibilities. It may therefore be subject to certain restrictions, but these shall only be such as are provided by law and are necessary:

3. L'exercice des liberies prevues au paragraphe 2 du present article comporte des devoirs speciaux et des responsabilites speciales. II peut en consequence etre soumis a certaines restrictions qui doivent toutefois etre expressement fixees par la loi et qui sont necessaires:

(3) Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer besonderen Verantwortung verbunden. Sie kann daher bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die erforderlich sind.

(a) For respect of the rights or reputations of others;

a) Au respect des droits ou de la reputation d'autrui;

a) für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer;

(b) For the protection of national security or of public order (ordre public), or of public health or morals.

b) A la sauvegarde de la securite nationale, de I'ordre public, de la sante ou de la moralite publiques.

Article 1 9 1. Everyone shall have the right to hold opinions without interference.

A r t i c l e 20

A r t i c l e 20

b) für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit. A r t i k e l 20

1. Any propaganda for war shall be prohibited by law.

1. Toute propaganda en faveur de la guerre est interdit par la loi.

(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.

2. Any advocacy of national, racial or religious hatred that constitutes incitement to discrimination, hostility or violence shall be prohibited by law.

2. Tout appel ä la haine nationale, raciale ou religieuse qui constitue une incitation a la discrimination, a l'hostilite ou ä la violence est interdit par la loi.

(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Haß, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.

A r t i c l e 21

A r t i c l e 21

A r t i k e l 21

The right of peaceful assembly shall be recognized. No restrictions may be placed on the exercise of this right other than those imposed in conformity with the law and which are necessary in a democratic society in the interests of national security or public safety, public order (ordre public), the protection of public health or morals or the protection of the rights and freedoms of others.

Le droit de reunion pacifique est reconnu. L'exercice de ce droit ne peut faire I'objet que des seules restrictions imposees conformement a la loi et qui sont necessaires dans une societe democratique, dans l'interet de la securite nationale, de la surete publique, de I'ordre public ou pour proteger la sante ou la moralite publiques, ou les droits et les liberies d'autrui.

A r t i c l e 22 1. Everyone shall have the right to freedom of association with others, including the right to form and join trade unions for the protection of his interests.

A r t i c l e 22 1. Toute personne a le droit de s'associer librement avec d'autres, y compris le droit de constituer des syndicats et d'y adherer pour la protection de ses interets.

Das Recht, sich friedlich zu versammeln, wird anerkannt. Die Ausübung dieses Rechts darf keinen anderen als den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), zum Schutz der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. A r t i k e l 22

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Walter Gollwitzer

(1) Jedermann hat das Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschließen sowie zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten.

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M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

2. No restrictions may be placed on the exercise of this right other than those which are prescribed by law and which are necessary in a democratic society in the interests of national security or public safety, public order (ordre public), the protection of public health or morals or the protection of the rights and freedoms of others. This article shall not prevent the imposition of lawful restrictions on members of the armed forces and of the police in their exercise of this right.

2. L'exercice de ce droit ne peut faire I'objet que des seules restrictions prevues par la loi et qui sont necessaires dans une societe democratique, dans l'interet de la securite nationale, de la sürete publique, de I'ordre public, ou pour proteger la sante ou la moralite publiques ou les droits et les libertes d'autrui. Le present article n'empeche pas de soumettre a des restrictions legales l'exercice de ce droit par les membres des forces armees et de la police.

(2) Die Ausübung dieses Rechts darf keinen anderen als den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), zum Schutz der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Dieser Artikel steht gesetzlichen Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts für Angehörige der Streitkräfte oder der Polizei nicht entgegen.

3. Nothing in this article shall authorize States Parties to the International Labour Organisation Convention of 1948 concerning Freedom of Association and Protection of the Right to Organize to take legislative measures which would prejudice, or to apply the law in such a manner as to prejudice, the guarantees provided for in that Convention.

3. Aucune disposition du present article ne permet aux Etats parties a la Convention de 1948 de l'Organisation internationale du travail concernant la liberie syndicate et lä protection du droit syndical de prendre des mesures legislative portant atteinte — ou d'appliquer la loi de facon a porter atteinte — aux garanties prevues dans ladite convention.

A r t i c l e 23

A r t i c l e 23

(3) Keine Bestimmung dieses Artikels ermächtigt die Vertragsstaaten des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation von 1948 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts, gesetzgeberische Maßnahmen zu treffen oder Gesetze so anzuwenden, daß die Garantien des oben genannten Übereinkommens beeinträchtigt werden. A r t i k e l 23

1. The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the State.

1. La famille est l'element naturel et fondamental de la societe et a droit a la protection de la societe et de l'Etat.

(1) Die Familie ist die natürliche Kernzelle der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.

2. The right of men and women of marriageable age to marry and to found a family shall be recognized.

2. Le droit de se marier et de fonder une famille est reconnu a l'homme et ä le femme ä partier de l'äge nubile.

(2) Das Recht von Mann und Frau, im heiratsfähigen Alter eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, wird anerkannt.

.3. No marriage shall be entered into without the free and full consent of the intending spouses.

3. Nul mariage ne peut etre conclu sans le libre et plein consentement des futurs epoux.

(3) Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden.

4. States Parties to the present Covenant shall take appropriate steps to ensure equality of rights and responsibilities of spouses as to marriage, during marriage and at its dissolution. In the case of dissolution, provision shall be made for the necessary protection of any children.

4. Les Etats parties au present Pacte prendront les mesures appropriees pour assurer l'egalite de droits et de responsabilites des epoux au regard du mariage, durant le mariage et lors de sa dissolution. En cas de dissolution, des dispositions seront prises afin d'assurer aux enfants la protection necessaire.

(4) Die Vertragsstaaten werden durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, daß die Ehegatten gleiche Rechte und Pflichten bei der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben. Für den nötigen Schutz der Kinder im Falle einer Auflösung der Ehe ist Sorge zu tragen.

A r t i c l e 24

A r t i c l e 24

A r t i k e l 24

1. Every child shall have, without any discrimination as to race, colour, sex, language, religion, national or social origin, property or birth, the right to such measures of protection as are required by his status as a minor, on the part of his family, society and the State.

1. Tout enfant, sans discrimination aucune fondee sur la race, la couleur, le sexe, la langue, la religion, l'origine nationale ou sociale, la fortune ou la naissance, a droit, de la part de sa famille, de'la societe et de l'Etat, aux mesures de protection qu'exige sa condition de mineur.

(1) Jedes Kind hat ohne Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens oder der Geburt das Recht auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert.

2. Every child shall be registered immediately after birth and shall have a name.

2. Tout enfant doit etre enregistre immediatement apres sa naissance et avoir un nom.

(2) Jedes Kind muß unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register eingetragen werden und seinen Namen erhalten.

3. Every child has the right to acquire a nationality.

3. Tout enfant a le droit d'acquerir une nationale.

(3) Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

(48)

IPBPR

I n t e r n a t i o n a l e r P a k t ü b e r bürgerliche u n d politische R e c h t e A r t i c l e 25

A r t i c l e 25

A r t i k e l 25

Every citizen shall have the right and the opportunity, without any of the distinctions mentioned in article 2 and without unreasonable restrictions:

Tout citoyen a le droit et la possibilite, sans aucune des discriminations visees ä l'article.2 et sans restrictions deraisonnables:

Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen

(a) To take part in the conduct of public affairs, directly or through freely chosen representatives;

a) De prendre part a la direction des affaires publiques, soit directement, sort par l'intermediaire de representants librement choisis;

a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen;

(b) To vote and to be elected at genuine periodic elections which shall be by universal and equal suffrage and shall be held by secret ballot, guaranteeing the free expression of the will of the electors;

b) De voter et d'etre elu, au cours d'elections periodiques, honnetes, au suffrage universel et egal et au scrutin secret, assurant l'expression libre de la volonte des electeurs;

b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden;

(c) To have access, on general terms of equality, to public service in his country.

c) D'acceder, dans des conditions generates d'egalite, aux fonctions publiques de son pays.

c) unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben.

A r t i c l e 26

A r t i c l e 26

A r t i k e l 26

All persons are equal before the law and are entitled without any discrimination to the equal protection of the law. In this respect, the law shall prohibit any discrimination and guarantee to all persons equal and effective protection against discrimination on any ground such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status.

Toutes les personnes sont egales devant la loi et ont droit sans discrimination ä une egale protection de la loi. A cet egard, la loi doit interdire toute discrimination et garantir a töutes les personnes une protection egale et efficace contre toute discrimination, notamment de race, de couleur, de sexe, de langue, de religion, d'opinion politique et de toute autre opinion, d'origine nationale ou sociale, de fortune, de naissance ou de toute autre situation.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.

A r t i c l e 27 In those States in which ethnic, religious or linguistic minorities exist, persons belonging to such minorities shall not be denied the right, in community with the other members ot their group, to enjoy their own culture, to profess and practise their own religion, or to use their own language.

A r t i c l e 27

A r t i k e l 27

Dans les Etats ού il existe des minorites ethniques, religieuses ou linguistiques, les personnes appartenant a ces minorites ne peuvent etre privees du droit d'avoir, en commun avec les autres membres de leur groupe, leur propre vie culturelle, de professer et de pratiquer leur propre religion, ou d'employer leur propre langue.

In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.

Part IV

Quatrieme Partie

Teil IV

A r t i c l e 28

A r t i c l e 28

A r t i k e l 28

1. There shall be established a Human Rights Committee (hereafter referred to in the present Covenant as the Committee). It shall consist of eighteen members and shall carry out the funcitons hereinafter provided.

1. II est institue un comite des droits de I'homme (ci-apres denomme le Comite dans le present Pacte), Ce Comite est compose de dix-huit membres et a les fonctions definies ci-dessous.

(1) Es wird ein Ausschuß für Menschenrechte (im folgenden als „Ausschuß" bezeichnet) errichtet. Er besteht aus achtzehn Mitgliedern und nimmt die nachstehend festgelegten Aufgaben wahr.

2. The Committee shall be composed of nationals of the States Parties to the present Covenant who shall be persons of high moral character and recognized competence in the field of human rights, consideration being given to the useful-

2. Le Comite est compose de ressortissants des Etats parties au present Pacte, qui doivent etre des personnalites de haute moralite et possedant une competence reconnue dans le domaine des droits de I'homme. II sera tenu compte de

(2) Der Ausschuß setzt sich aus Staatsangehörigen der Vertragsstaaten zusammen, die Persönlichkeiten von hohem sittlichen Ansehen und anerkannter Sachkenntnis auf dem Gebiet der Menschenrechte sind, wobei die Zweckmä-

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M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

ness of the participation of some persons having legal experience.

I'interet que presente la participation aux travaux du Comite de quelques personnes ayant une experience juridique.

ßigkeit der Beteiligung von Personen mit juristischer Erfahrung zu berücksichtigen ist.

3. The members of the Committee shall be elected and shall serve in their personal capacity.

3. Les membres du Comite sont elus et siegent a titre individuel.

(3) Die Mitglieder des Ausschusses werden in ihrer persönlichen Eigenschaft gewählt und sind in dieser Eigenschaft tätig.

A r t i c l e 29

A r t i c l e 29

A r t i k e l 29

1. The members of the Committee shall be elected by secret ballot from a list of persons possessing the qualifications prescribed in article 28 and nominated for the purpose by the States Parties to the present Covenant.

1. Les membres du Comite sont elus au scrutin secret sur une liste de personnes reunissant les conditions prevues ä I'article 28, et presentees ä cet effet par les Etats parties au present Pacte.

(1) Die Mitglieder des Ausschusses werden in geheimer Wahl aus einer Liste von Personen gewählt, die die in Artikel 28 vorgeschriebenen Anforderungen erfüllen und von den Vertragsstaaten dafür vorgeschlagen worden sind.

2. Each State Party to the present Covenant may nominate not more than two persons. These persons shall be nationals of the nominating State.

2. Chaque Etat partie au present Pacte peut presenter deux personnes au plus. Ces personnes doivent etre des ressortissants de I'Etat qui les presente.

(2) Jeder Vertragsstaat darf höchstens zwei Personen vorschlagen. Diese müssen Staatsangehörige des sie vorschlagenden Staates sein.

3. A person shall be eligible for renomination.

3. La meme personne peut etre presentee a nouveau.

(3) Eine Person kann wieder vorgeschlagen werden.

A r t i c l e 30

A r t i c l e 30

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1. The initial election shall be held no later than six months after the date of the entry into force of the present Covenant.

1. La premiere election aura lieu au plus tard six mois apres la date de I'entree en vigueur du present Pacte.

(1) Die erste Wahl findet spätestens sechs Monate nach Inkrafttreten dieses Paktes statt.

2. At least four months before the date of each election to the Committee, other than an election to fill a vacancy declared in accordance with article 34, the Secretary-General of the United Nations shall address a written invitation to the States Parties to the present Covenant to submit their nominations for membership of the Committee within three months.

2. Quatre mois au moins avant la date de toute election au Comite, autre qu'une election en vue de pourvoir a une vacance declaree conformement a I'article 34, le Secretaire general de ('Organisation des Nations Unies invite par ecrit les Etats parties au present Pacte ä designer, dans un delai de trois mois, les candidats qu'ils proposent comme membres du Comite.

(2) Spätestens vier Monate vor jeder Wahl zum Ausschuß — außer bei einer Wahl zur Besetzung eines gemäß Artikel 34 für frei geworden erklärten Sitzes — fordert der Generalsekretär der Vereinten Nationen die Vertragsstaaten schriftlich auf, ihre Kandidaten für den Ausschuß innerhalb von drei Monaten vorzuschlagen.

3. The Secretary-General of the United Nations shall prepare a list in alphabetical order of all the persons thus nominated, with an indication of the States Parties which have nominated them, and shall submit it to the States Parties to the present Covenant no later than one month before the date of each election.

3. Le Secretaire general de ('Organisation des Nations Unies dresse la liste alphabetique de toutes les personnes ainsi presentees en mentionnant les Etats parties qui les ont presentees et la communique aux Etats parties au present Pacte au plus tard un mois avant la date de chaque election.

(3) Der Generalsekretär der Vereinten Nationen fertigt eine alphabetische Liste aller auf diese Weise vorgeschlagenen Personen unter Angabe der Vertragsstaaten, die sie vorgeschlagen haben, an und übermittelt sie den Vertragsstaaten spätestens einen Monat vor jeder Wahl.

4. Elections of the members of the Committee shall be held at a meeting of the States Parties to the present Covenant convened by the Secretary-General of the United Nations at the Headquarters of the United Nations. At that meeting, for which two thirds of the States Parties to the present Covenant shall constitute a quorum, the persons elected to the Committee shall be those nominees who obtain the largest number of votes and an absolute majority of the votes of the representatives of States Parties present and voting.

4. Les membres du Comite sont elus au cours d'une reunion des Etats parties convoquee par le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies au Siege de l'Organisation. A cette reunion, ou le quorum est constitue par les deux tiers des Etats parties au present Pacte, sont elus membres du Comite des candidats qui obtiennent le plus grand nombre de voix et la majorite absolue des votes des representants des Etats parties presents et votants.

(4) Die Wahl der Ausschußmitglieder findet in einer vom Generalsekretär der Vereinten Nationen am Sitz dieser Organisation einberufenen Versammlung der Vertragsstaaten statt. In dieser Versammlung, die beschlußfähig ist, wenn zwei Drittel der Vertragsstaaten vertreten sind, gelten diejenigen Kandidaten als in den Ausschuß gewählt, die die höchste Stimmenzahl und die absolute Stimmenmehrheit der anwesenden und abstimmenden Vertreter der Vertragsstaaten auf sich vereinigen.

S t a n d : 1.10. 2 0 0 4

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Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte A r t i c l e 31

A r t i c l e 31

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1. The Committee may not include more than one national of the same State.

1. l e comite ne peut comprendre plus d'un ressortissant d'un meme Etat.

(1) Dem Ausschuß darf nicht mehr als ein Angehöriger desselben Staates angehören.

2. In the election of the Committee, consideration shall be given to equitable geographical distribution of membership and to the representation of the different forms of civilization and of the principal legal systems.

2. Pour les elections au Comite, il est tenu compte d'une repartition geographique equitable et de la representation des diverses formes de civilisation ainsi que des principaux systemes juridiques.

(2) Bei den Wahlen zum Ausschuß ist auf eine gerechte geographische Verteilung der Sitze und auf die Vertretung der verschiedenen Zivilisationsformen sowie der hauptsächlichen Rechtssysteme zu achten.

A r t i c l e 32

A r t i c l e 32

A r t i k e l 32

1. The members of the Committee shall be elected for a term of four years. They shall be eligible for reelection if renominated. However, the terms of nine of the members elected at the first election shall expire at the end of two years; immediately after the first election, the names of these nine members shall be chosen by lot by the Chairman of the meeting referred to in article 30, paragraph 4.

1. Les membres du Comite sont elus pour quatre ans. lis sont reeligibles s'ils sont presentes ä nouveau. Toutefois, le mandat de neuf des membres elus lors de la premiere election prend fin au bout de deux ans; immediatement apres la premier election, les noms de ces neuf membres sont tires au sort par le present de la reunion visee au paragraphs 4 de I'article 30.

(1) Die Ausschußmitglieder werden für vier Jahre gewählt. Auf erneuten Vorschlag können sie wiedergewählt werden. Die Amtszeit von neun der bei der ersten Wahl gewählten Mitglieder läuft jedoch nach zwei Jahren ab; unmitelbar nach der ersten Wahl werden die Namen dieser neun Mitglieder vom Vorsitzenden der in Artikel 30 Absatz 4 genannten Versammlung durch das Los bestimmt.

2. Elections at the expiry of office shall be held in accordance with the preceding articles of this part of the present Covenant.

2. A l'expiration du mandat, les elections ont lieu conformement aux dispositions des articles precedents de la presente partie du Pacte.

(2) Für Wahlen nach Ablauf einer Amtszeit gelten die vorstehenden Artikel dieses Teils des Paktes.

A r t i c l e 33

A r t i c l e 33

A r t i k e l 33

1. If, in the unanimous opinion of the other members, a member of the Committee has ceased to carry out his functions for any cause other than absence of a temporary character, the Chairman of the Committee shall notify the SecretaryGeneral of the United Nations, who shall then declare the seat of that member to be vacant.

1. Si, de l'avis unanime des autres membres, un membre du Comite a cesse de remplir ses fonctions pour toute cause autre qu'une absence de caractere temporaire, le president du Comite en informe le Secretaire general de I'Organisation des Nations Unies, qui declare alors vacant le siege qu'occupait ledit membre.

(1) Nimmt ein Ausschußmitglied nach einstimmiger Feststellung der anderen Mitglieder seine Aufgaben aus einem anderen Grund als wegen vorübergehender Abwesenheit nicht mehr wahr, so teilt der Vorsitzende des Ausschusses dies dem Generalsekretär der Vereinten Nationen mit, der daraufhin den Sitz des betreffenden Mitglieds für frei geworden erklärt.

2. In the event of the death or the resignation of a member of the Commitee, the Chairman shall immediately notify the Secretary-General of the United Nations, who shall declare the seat vacant from the date of death or the date on which the resignation takes effect.

2. En cas de deces ou de demission d'un membre du Comite, le president en informe immediatement le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies, qui declare le siege vacant ä compter de la date du deces ou de celle a laquelle la demision prend effet.

(2) Der Vorsitzende teilt den Tod oder Rücktritt eines Ausschußmitglieds unverzüglich dem Generalsekretär der Vereinten Nationen mit, der den Sitz vom Tag des Todes oder vom Wirksamwerden des Rücktritts an für frei geworden erklärt.

A r t i c l e 34

A r t i c l e 34

A r t i k e l 34

1. When a vacancy is declared in accordance with article 33 and if the term of office of the member to be replaced does not expire within six months of the declaration of the vacancy, the SecretaryGeneral of the United Nations shall notify each of the States Parties to the present Covenant, which may within two months submit nominations in accordance with article 29 for the purpose of filling the vacancy.

1. Lorsqu'une vacance est declaree conformement a I'article 33 et si le mandat du membre a remplacer n'expire pas dans les six mois qui suivent la date ä laquelle la vacance a ete declaree, le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies en avise les Etats parties au present Pacte qui peuvent, dans un delai de deux mois, designer des candidate conformement aux dispositions de I'article 29 en vue de pourvoir ä la vacance.

(1) Wird ein Sitz nach Artikel 33 für frei geworden erklärt und läuft die Amtszeit des zu ersetzenden Mitglieds nicht innerhalb von sechs Monaten nach dieser Erklärung ab, so teilt der Generalsekretär der Vereinten Nationen dies allen Vertragsstaaten mit, die innerhalb von zwei Monaten nach Maßgabe des Artikel 29 Kandidaten zur Besetzung des frei gewordenen Sitzes vorschlagen können.

2. The Secretary-General of the United Nations shall prepare a list in alphabetical order of the persons thus nominated

2. Le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies dresse la liste alphabetique des personnes ainsi presen-

(2) Der Generalsekretär der Vereinten Nationen fertigt eine alphabetische Liste der auf diese Weise vorgeschlagenen

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M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

and shall submit it to the States Parties to the present Covenant. The election to fill the vacancy shall then take place in accordance with the relevant provisions of this part of the present Covenant.

tees et la communique aux Etats parties au present Pacte. L'election en vue de pourvoir a la vacance a lieu ensuite conformement aux dispositions pertinentes de la presente partie du Pacte.

Personen an und übermittelt sie den Vertragsstaaten. Sodann findet die Wahl zur Besetzung des frei gewordenen Sitzes entsprechend den einschlägigen Bestimmungen dieses Teils des Paktes statt.

3. A member of the Committee elected to fill a vacancy declared in accordance with article 33 shall hold office for the remainder of the term of the member who vacated the seat on the Committee under the provisions of that article.

3. Tout membre du Comite elu ä un siege declare vacant, conformement ä I'article 33, fait partie du Comite jusqu'a la date normale d'expiration du mandat du membre dont le siege est devenu vacant au Comite conformement aux dispositions du dit article.

(3) Die Amtszeit eines Ausschußmitglieds, das auf einen nach Artikel 33 für frei geworden erklärten Sitz gewählt worden ist, dauert bis zum Ende der Amtszeit des Mitglieds, dessen Sitz im Ausschuß nach Maßgabe des genannten Artikels frei geworden ist.

A r t i c l e 35

A r t i k e l 35 Die Ausschußmitglieder erhalten mit Zustimmung der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus Mitteln der Vereinten Nationen Bezüge, wobei die Einzelheiten von der Generalversammlung unter Berücksichtigung der Bedeutung der Aufgaben des Ausschusses festgesetzt werden.

A r t i c l e 35 The members of the Committee shall, with the approval of the General Assembly of the United Nations, receive emoluments from United Nations resources on such terms and conditions as the General Assembly may decide, having regard to the importance of the Committee's responsibilities. A r t i c k e l 36 The Secretary-General of the United Nations shall provide the necessary staff and facilities for the effective performance of the functions of the Committee under the present Covenant.

Les membres du Comite repoivent, avec ('approbation de I'Assemblee generale des Nations Unies, des emoluments preleves sur les ressources de I'Organisation des Nations Unies dans les conditions fixees par I'Assemblee generale, eu egard a l'importance des fonctions du Comite. A r t i c l e 36 Le Secretaire general de I'Organisation des Nations Unies met ä la disposition du Comite le personnel et les moyens materiels qui lui sont necessaires pour s'acquitter efficacement des fonctions qui lui sont confiees en vertu du present Pacte.

A r t i k e l 36 Der Generalsekretär der Vereinten Nationen stellt dem Ausschuß das Personal und die Einrichtungen zur Verfügung, die dieser zur wirksamen Durchführung der ihm nach diesem Pakt obliegenden Aufgaben benötigt.

A r t i c l e 37

A r t i c l e 37

A r t i k e l 37

1. The Secretary-General of the United Nations shall convene the initial meeting of the Committee at the Headquarters of the United Nations.

1. Le Secretaire general de I'Organisation des Nations Unies convoque les membres du Comite, pour la premiere reunion, au Siege de I'Organisation.

(1> Der Generalsekretär der Vereinten Nationen beruft die erste Sitzung des Ausschusses am Sitz der Vereinten Nationen ein.

2. After its initial meeting, the Committee shall meet at such times as shall be provided in its rules of procedure.

2. Apres sa premiere reunion, le Comite se reunit ä toute occasion prevue par son reglement interieur.

(2) Nach seiner ersten Sitzung tritt der Ausschuß zu den in seiner Geschäftsordnung vorgesehenen Zeiten zusammen.

3. The Committee shall normally meet at the Headquarters of the United Nations or at the United Nations Office at Geneva.

3. Les reunions du Comite ont normalement lieu au Siege de I'Organisation des nations Unies ou a l'Office des Nations Unies ä Geneve.

(3) Die Sitzungen des Ausschusses finden in der Regel am Sitz der Vereinten Nationen oder beim Büro der Vereinten Nationen in Genf statt.

A r t i c l e 38

A r t i c l e 38

A r t i k e l 38

Every member of the Committee shall, before taking up his duties, make a solemn declaration in open committee that he will perform his functions impartially and conscientiously.

Tout membres du Comite doit, avant d'entrer en fonctions, prendre en seance publique l'engagement solennel de s'acquitter de ses fonctions en toute impartialite et en toute conscience.

Jedes Ausschußmitglied hat vor Aufnahme seiner Amtstätigkeit in öffentlicher Sitzung des Ausschusses feierlich zu erklären, daß es sein Amt unparteiisch und gewissenhaft ausüben werde.

A r t i c l e 39

A r t i c l e 39

A r t i k e l 39

1. The Committee shall elect its officers for a term of two years. They may be reelected.

1. Le Comite elit son bureau pour une Periode de deux ans. Les membres du bureau sont reeligibles.

(1) Der Ausschuß wählt seinen Vorstand für zwei Jahre. Eine Wiederwahl der Mitglieder des Vorstands ist zulässig.

2. The Committee shall establish its own rules of procedure, but these rules shall provide, inter alia, that:

2. Le Comite etablit lui-meme son reglement interieur; celui-ci doit, toutefois, contenir entre autres les dispositions suivantes:

(2) Der Ausschuß gibt sich eine Geschäftsordnung, die unter anderem folgende Bestimmungen enthalten muß:

Stand: 1.10.2004

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I n t e r n a t i o n a l e r P a k t über bürgerliche u n d politische R e c h t e (a) Twelve members shall constitute a quorum;

a) Le quorum est de douze membres;

a) Der Ausschuß ist bei Anwesenheit von zwölf Mitgliedern beschlußfähig;

(b) Decisions of the Committee shall be made by a majority vote of the members present.

b) Les decisions du Comite sont prises ä la majorite des membres presents.

b) der Ausschuß faßt seine Beschlüsse mit der Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

A r t i c l e 40

A r t i c l e 40

A r t i k e l 40

1. The States Parties to the present Covenant undertake to submit reports on the measures they have adopted which give effect to the rights recognized herein and on the progress made in the enjoyment of those rights:

1. Les Etats parties au present Pacte s'engagent a presenter des rapports sur les mesures qu'ils auront arretees et qui donnent effet aux droits reconnus dans le present Pacte et sur les progres realises dans la jouissance de ces droits;

(1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, Ober die Maßnahmen, die sie zur Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte getroffen haben, und über die dabei erzielten Fortschritte Berichte vorzulegen, und zwar

(a) Within one year of the entry into force of the present Covenant for the States Parties concerned;

a) Dans un delai d'un an ä compter de I'entree en vigueur du present Pacte, pour chaque Etat partie interesse en ce qui le concerne;

a) innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Paktes für den betreffenden Vertragsstaat,

(b) Thereafter whenever the Committee so requests.

b) Par la suite, chaque fois que le Comite en fera la demande.

b) danach jeweils auf Anforderung des Ausschusses.

2. All reports shall be submitted to the Secretary-General of the United Nations, who shall transmit them to the Committee for consideration. Reports shall indicate the factors and difficulties, if any, affecting the implementation of the present Covenant.

2. Tous les rapports seront adresses au Secretaire general de I'Organisation des Nations Unies qui les transmettra au Comite pour examen. Les rapports devront indiquer, le cas echeant, les facteurs et les difficultes qui affectent la mise en oeuvre des dispositions du present Pacte.

(2) Alle Berichte sind dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zu übermitteln, der sie dem Ausschuß zur Prüfung zuleitet. In den Berichten ist auf etwa bestehende Umstände und Schwierigkeiten hinzuweisen, die die Durchführung dieses Paktes behindern.

3. The Secretary-General of the United Nations may, after consultation with the Committee, transmit to the specialized agencies concerned copies of such parts of the reports as may fall within their field of competence.

3. Le Secretaire general de I'Organisation des Nations Unies peut, apres consultation du Comite, communiquer aux institutions specialisees interessees copie de toutes parties des rapports pouvant avoir trait a leur domaine de competence.

(3) Der Generalsekretär der Vereinten Nationen kann nach Beratung mit dem Ausschuß den Sonderorganisationen Abschriften der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Teile der Berichte zuleiten.

4. The Committee shall study the reports submitted by the States Parties to the present Covenant. It shall transmit its reports, and such general comments as it may consider appropriate, to the States Parties. The Committee may also transmit to the Economic and Social Council these comments along with the copies of the reports it has received from States Parties to the present Covenant.

4. Le Comite etudie les rapports presentes par les Etats parties au present Pacte. II adresse aux Etats parties ses propres rapports, ainsi que toutes observations generates qu'il jugerait appropriees. Le Comite peut egalement transmettre au Conseil economique et social ces observations accompagnees de copies des rapports qu'il a reipus d'Etats parties au present Pacte.

(4) Der Ausschuß prüft die von den Vertragsstaaten eingereichten Berichte. Er übersendet den Vertragsstaaten seine eigenen Berichte sowie ihm geeignet erscheinende allgemeine Bemerkungen. Der Ausschuß kann diese Bemerkungen zusammen mit Abschriften der von den Vertragsstaaten empfangenen Berichte auch dem Wirtschafts- und Sozialrat zuleiten.

5. The States Parties to the present Covenant may submit to the Committee observations on any comments that may be made in accordance with paragraph 4 of this article.

5. Les Etats parties au present Pacte peuvent presenter au Comite des commentaires surtoute observation qui serait faite en vertu du paragraphe 4 du present article.

(5) Die Vertragsstaaten können dem Ausschuß Stellungnahmen zu den nach Absatz 4 abgegebenen Bemerkungen übermitteln.

A r t i c l e 41

A r t i c l e 41

1. A State Party to the present Covenant may at any time declare under this article that it recognizes the competence of the Committee to receive and consider communications to the effect that a State Party claims that another State Party is not fulfilling its obligations under the present Covenant. Communications under this article may be received and

1. Tout Etat partie au present Pacte peut, en vertu du present article, declarer ä tout moment qu'il reconnait la competence du Comite pour recevoir et examiner des communications dans lesquelles un Etat partie pretend qu'un autre Etat partie ne s'acquitte pas de ses obligations au titre du present Pacte. Les communications presentees en vertu du pre-

A r t i k e l 41 (1) Ein Vertragsstaat kann auf Grund dieses Artikels jederzeit erklären, daß er die Zuständigkeit des Ausschusses zur Entgegennahme und Prüfung von Mitteilungen anerkennt, in denen ein Vertragsstaat geltend macht, ein anderer Vertragsstaat komme seinen Verpflichtungen aus diesem Pakt nicht nach. Mitteilungen auf Grund dieses Artikels können

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Walter Gollwitzer

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M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

considered only if submitted by a State Party which has made a declaration recognizing in regard to itself the competence of the Committee. No communication shall be received by the Committee if it concerns a State Party which has not made such a declaration. Communications received under this article shall be dealt with in accordance with the following procedure:

sent article ne peuvent etre recues et examinees que si eile emanent d'un Etat partie qui a fait une declaration reconnaissant, en ce qui le concerne, la competence du Comite. Le Comite ne recpoit aucune communication interessant un Etat partie qui n'a pas fait une telle declaration. La procedure ci-apres s'applique a l'egard des communications recues conformement au present article:

nur entgegengenommen und geprüft werden, wenn sie von einem Vertragsstaat eingereicht werden, der für sich selbst die Zuständigkeit des Ausschusses durch eine Erklärung anerkannt hat. Der Ausschuß darf keine Mitteilung entgegenehmen, die einen Vertragsstaat betrifft, der keine derartige Erklärung abgegeben hat. Auf Mitteilungen, die auf Grund dieses Artikels eingehen, ist folgendes Verfahren anzuwenden:

(a) If a State Party to the present Covenant considers that another State Party is not giving effect to the provisions of the present Covenant, it may, by written communication, bring the matter to the attention of that State Party. Within three months after the receipt of the communication, the receiving State shall afford the State which sent the communication an explanation or any other statement in writing clarifying the matter, which should include, to the extent possible and pertinent, reference to domestic procedures and remedies taken, pending, or available in the matter.

a) Sie un Etat partie au present Pacte estime qu'un autre Etat egalement partie a ce Pacte n'en applique pas les dispositions, il peut appeler, par communication ecrite, l'attention de cet Etat sur la question. Dans un delai de trois mois ä compter de la reception de la communication, l'Etat destinataire fera tenir ä I'Etat qui a adresse la communication des explications ou toutes autres declarations ecrites elucidant la question, qui devront comprendre, dans toute la mesure possible et utile, des indications sur ses regies de procedure et sur les moyens de recours soit deja utilises, soit en instance, soit encore ouverts.

a) Ist ein Vertragsstaat der Auffassung, daß ein anderer Vertragsstaat die Bestimmungen dieses Paktes nicht durchführt, so kann er den anderen Staat durch eine schriftliche Mitteilung darauf hinweisen. Innerhalb von drei Monaten nach Zugang der Mitteilung hat der Empfangsstaat dem Staat, der die Mitteilung übersandt hat, in bezug auf die Sache eine schriftliche Erklärung oder sonstige Stellungnahme zukommen zu lassen, die, soweit es möglich und angebracht ist, einen Hinweis auf die in der Sache durchgeführten, anhängigen oder zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Verfahren und Rechtsbehelfe enthalten soll.

(b) If the matter is not adjusted to the satisfaction of both States Parties concerned within six months after the receipt by the receiving State of the initial communication, either State shall have the right to refer the matter to the Committee, by notice given to the Committee and to the other State.

b) Si, dans un delai de six mois ä compter de la date de reception de la communication originate par I'Etat destinataire, la question n'est pas reglee a la satisfaction des deux Etats parties Interesses, I'un comme I'autre auront le droit de la soumettre au Comite, en adressant une notification au Comite ainsi qu'a I'autre Etat interesse.

b) Wird die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten nach Eingang der einleitenden Mitteilung bei dem Empfangsstaat zur Zufriedenheit der beiden beteiligten Vertragsstaaten geregelt, so hat jeder der beiden Staaten das Recht, die Sache dem Ausschuß zu unterbreiten, indem er diesem und dem anderen Staat eine entsprechende Mitteilung macht.

(c) The Committee shall deal with a matter referred to it only after it has ascertained that all available domestic remedies have been invoked and exhausted in the matter in conformity with the generally recognized principles of international law. This shall not be the rule where the application of the remedies is unreasonably prolonged.

c) Le Comite ne peut connaitre d'une affaire qui lui est soumise qu'apres s'etre assure que tous les recours internes disponibles ont ete utilises et epuises, conformement aux principes de droit international generalement reconnus. Cette regie ne s'applique pas dans les cas oil les procedures de recours excedent les delais raisonnables.

c) Der Ausschuß befaßt sich mit einer ihm unterbreiteten Sache erst dann, wenn er sich Gewißheit verschafft hat, daß alle in der Sache zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts eingelegt und erschöpft worden sind. Dies gilt nicht, wenn das Verfahren bei der Anwendung der Rechtsbehelfe unangemessen lange gedauert hat.

(d) The Committee shall hold closed meetings when examining communications under this article.

d) Le Comite tient ses seances ä huit clos lorsqu'il examine les communications prevues au present article.

d) Der Ausschuß berät über Mitteilungen auf Grund dieses Artikels in nichtöffentlicher Sitzung.

(e) Subject to the provisions of subparagraph (c), the Committee shall make available its good offices to the States Parties concerned with a view to a friendly solution of the matter on the basis of respect for human rights and fundamental freedoms as recognized in the present Covenant.

e) Sous reserve des dispositions de I'alinea c, le Comite met ses bons offices ä la disposition des Etats parties Interesses, afin de parvenir ä une solution amiable de la question fonde sur le respect des droits de l'homme et des libertes fondamentales, tels que les reconnait le present Pacte.

e) Sofern die Voraussetzungen des Buchstaben c erfüllt sind, stellt der Ausschuß den beteiligten Vertragsstaaten seine guten Dienste zur Verfügung, um eine gütliche Regelung der Sache auf der Grundlage der Achtung der in diesem Pakt anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten herbeizuführen.

(f) In any matter referred to it, the C o m mittee may call upon the States Parties

f) Dans toute affaire qui lui est soumise, le Comite peut demander aux Etats par-

f) Der Ausschuß kann in jeder ihm unterbreiteten Sache die unter Buchstabe b

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I n t e r n a t i o n a l e r P a k t über bürgerliche u n d politische R e c h t e concerned, referred to in sub-paragraph (b), to supply any relevant information.

ties interesses vises a I'alinea b de lui fournir tout renseignement pertinent.

genannten beteiligten Vertragsstaaten auffordern, alle erheblichen Angaben beizubringen.

(g) The States Parties concerned, referred to in sub-paragraph (b), shall have the right to be represented when the matter is being considered in the Committee and to make submissions orally and/or in writing. (h) The Committee shall, within twelve months after the date of receipt of notice under sub-paragraph (b), submit a report:

g) Les Etats parties interesses, vises ä I'alinea b, ont le droit de se faire representor lors de l'examen de I'affaire par le Comite et de presenter des observations oralement ou par ecrit, ou sous l'une et I'autre forme.

g) Die unter Buchstabe b genannten beteiligten Vertragsstaaten haben das Recht, sich vertreten zu lassen sowie mündlich und/oder schriftlich Stellung zu nehmen, wenn die Sache vom Ausschuß verhandelt wird.

h) Le Comite doit presenter un rapport dans un delai de douze mois ä compter du jour ou il a repu la notification visee a I'alinea b:

h) Der Ausschuß legt innerhalb von zwölf Monaten nach Eingang der unter Buchstabe b vorgesehenen Mitteilung einen Bericht vor:

(i) If a solution within the terms of subparagraph (e) is reached, the Committee shall confine its report to a brief statement of the facts and of the solution reached;

i) Si une solution a pu etre trouvee conformement aux dispositions de I'alinea e, le Comite se borne, dans son rapport, ä un bref expose des faits et de la solution intervenue;

i) Wenn eine Regelung im Sinne von Buchstabe e zustandegekommen ist, beschränkt der Ausschuß seinen Bericht auf eine kurze Darstellung des Sachverhalts und der erzielten Regelung;

(ii) If a solution within the terms of subparagraph (e) is not reached, the Comittee shall confine its report to a brief statement of the facts; the written submissions and record of the oral submissions made by the State Parties concerned shall be attached to the report.

ii) Si une solution n'a pu etre trouvee conformement aux dispositions de I'alinea e, le Comite se borne, dans son rapport, a un bref expose des faits; le texte des observations ecrites et le procesverbal des observations orales presentees par les Etats parties interesses sont joints au rapport.

ii) wenn eine Regelung im Sinne von Buchstabe e nicht zustandegekommen ist, beschränkt der Auschuß seinen Bericht auf eine kurze Darstellung des Sachverhalts; die schriftlichen Stellungnahmen und das Protokoll über die mündlichen Stellungnahmen der beteiligten Vertragsparteien sind dem Bericht beizufügen.

In every matter, the report shall be communicated to the States Parties concerned.

Pour chaque affaire, le rapport est communique aux Etats parties interesses.

In jedem Fall wird der Bericht den beteiligten Vertragsstaaten übermittelt.

2. The provisions of this article shall come into force when ten States Parties to the present Covenant have made declarations under paragraph 1 of this article. Such declarations shall be deposited by the States Parties with the SecretaryGeneral of the United Nations, who shall transmit copies thereof to the other States Parties. A declaration may be withdrawn at any time by notification to the Secretary-General. Such a withdrawal shall not prejudice the consideration of any matter which is the subject of a communication already transmitted under this article; no further communication by any State Party shall be received after the notification of withdrawal of the declaration has been received by the SecretaryGeneral, unless the state Party concerned had made a new declaration.

2. Les dispositions du present article entreront en vigueur lorsque dix Etats parties au present Pacte auront fait la declaration prevue au paragraphe 1 du present article! Ladite declaration est deposee par l'Etat partie aupres du Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies, qui en communique copie aux autres Etats parties. Une declaration peut etre retiree a tout moment au moyen d'une notification adressee au Secretaire general. Ce retrait est sans prejudice de l'examen de toute question qui fait I'objet d'une communication dejä transmise en vertu du present article; aucune autre communication d'un Etat partie ne sera repue apres que le Secretaire general aura recu notification du retrait de la declaration, ä moins que I'Etat partie Interesse n'ait fait une nouvelle declaration.

(2) Die Bestimmungen dieses Artikels treten in Kraft, wenn zehn Vertragsstaaten Erklärungen nach Absatz 1 abgegeben haben. Diese Erklärungen werden von den Vertragsstaaten beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt, der den anderen Vertragsstaaten Abschriften davon übermittelt. Eine Erklärung kann jederzeit durch eine an den Generalsekretär gerichtete Notifikation zurückgenommen werden. Eine solche Zurücknahme berührt nicht die Prüfung einer Sache, die Gegenstand einer auf Grund dieses Artikels bereits vorgenommenen Mitteilung ist; nach Eingang der Notifikation über die Zurücknahme der Erklärung beim Generalsekretär wird keine weitere Mitteilung eines Vertragsstaates entgegengenommen, es sei denn, daß der betroffene Vertragsstaat eine neue Erklärung abgegeben hat.

A r t i c l e 42

A r t i c l e 42

A r t i k e l 42

1. (a) If a matter referred to the Committee in accordance with article 41 is not resolved to the satisfaction of the States Parties concerned, the Committee may, with the prior consent of the States Parties cocerned, appoint an ad hoc Conciliation Commission (hereinafter referred to as the Commission). The good offices

1. a) Si une question soumise au Comite conformement a I'article 41 n'est pas reglee a la satisfaction des Etats parties interesses, le Comite peut, avec I'assentiment prealable des Etats parties interesses, designer une commission de concilation ad hoc (ci-apres denommee la Commission). La Commission met ses

(1) a) Wird eine nach Artikel 41 dem AüsschuB unterbreitete Sache nicht zur Zufriedenheit der beteiligten Vertragsstaaten geregelt, so kann der Ausschuß mit vorheriger Zustimmung der beteiligten Vertragsstaaten eine ad hoc-Vergleichskommission (im folgenden als „Kommission" bezeichnet) einsetzen. Die

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Walter Gollwitzer

IPBPR

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

of the Commission shall be made available to the States Parties concerned with a view to an amicable solution of the matter on the basis of respect for the present Covenant;

bons offices ä la disposition des Etats parties Interesses, afin de parvenir a une solution amiable de la question, fondee sur le respect du present Pacte;

Kommission stellt den beteiligten Vertragsstaaten ihre guten Dienste zur Verfügung, um auf der Grundlage der Achtung dieses Paktes eine gütliche Regelung der Sache herbeizuführen.

(b) The Commission shall consist of five persons acceptable to the States Parties concerned. If the States Parties concerned fail to reach agreemet within three months on all or part of the composition of the Commission, the members of the Commission concerning whom no agreement has been reached shall be elected by secret ballot by a two-thirds majority vote of the Committee from among its members.

b) La Commission est composee de cinq membres nommes avec I'accord des Etats parties Interesses. Si les Etats parties interesses ne parviennent pas a une entente sur tout ou partie de la composition de la Commission dans un delai de trois mois, les membres de la Commission au sujet desquels I'accord ne s'est pas fait sont elus au scrutin secret parmi les membres du Comite, a la majorite des deux tiers des membres du Comite.

b) Die Kommission besteht aus fünf mit Einverständnis der beteiligten Vertragsstaaten ernannten Personen. Können sich die beteiligten Vertragsstaaten nicht innerhalb von drei Monaten über die vollständige oder teilweise Zusammensetzung der Kommission einigen, so wählt der Ausschuß aus seiner Mitte die Kommissionsmitglieder, über die keine Einigung erzielt worden ist, in geheimer Abstimmung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder.

2. The members of the Commission shall serve in their personal capacity. They shall not be nationals of the States Parties concerned, or of a State not party to the present Covenant, or of a State Party which has not made a declaration under article 41.

2. Les membres de la Commission siegent ä titre individuel. lis ne doivent etre ressortissants ni des Etats parties interesses, ni d'un Etat qui n'est pas partie au present Pacte, ni d'un Etat partie qui n'a pas fait la declaration prevue a I'article 41.

(2) Die Mitglieder der Kommission sind in ihrer persönlichen Eigenschaft tätig. Sie dürfen nicht Staatsangehörige der beteiligten Vertragsstaaten, eines Nichtvertragsstaates oder eines Vertragsstaates sejn, der eine Erklärung gemäß Artikel 41 nicht abgegeben hat.

3. The Commission shall elect its own Chairman and adopt its own rules of procedure.

3. La Commission elit son president et adopte son reglement interieur.

(3) Die Kommission wählt ihren Vorsitz zenden und gibt sich eine Geschäftsordnung.

4. The meetings of the Commission shall normally be held at the Headquarters fo the United Nations or at the United Nations Office at Geneva. However, they may be held at such other convenient places as the Commission may determine in consultation with the SecretaryGeneral of the United Nations and the States Parties concerned.

4. La Commission tient normalement ses reunions au Siege de ('Organisation des Nations Unies ou ä l'Office des Nations Unies ä Geneve. Toutefois, eile peut se reunir en tout autre lieu approprie que peut determiner la Commission en consultation avec le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies et les Etats parties interesses.

(4) Die Sitzungen der Kommission finden in der Regel am Sitz der Vereinten Nationen oder beim Büro der Vereinten Nationen in Genf statt. Sie können jedoch auch an jedem anderen geeigneten Ort stattfinden, den die Kommission im Benehmen mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und den beteiligten Vertragsstaaten bestimmt.

5. The secretariat provided in accordance with article 36 shall also service the commissions appointed under this article.

5. Le secretariat prevu a I'article 36 prete egalement ses services aux commissions designees en vertu du present article.

(5) Das in Artikel 36 vorgesehene Sekretariat steht auch den auf Grund dieses Artikels eingesetzen Kommissionen zur Verfügung.

6. The information received and collated by the Committee shall be made available to the Commission and the Commission may call upon the States Parties concerned to supply any other relevant information.

6. Les renseignements obtenus et depouilles par le Comite sont mis a la disposition de la Commission, et la commission peut demander aux Etats parties interesses de lui fournir tout renseignement complementaire pertinent.

(6) Die dem Ausschuß zugegangenen und von ihm zusammengestellten Angaben sind der Kommission zugänglich zu machen, und die Kommission kann die beteiligten Vertragsstaaten um weitere erhebliche Angaben ersuchen.

7. When the Commission has fully considered the matter, but in any event not later than twelve months after having been seized of the matter, it shall submit to the Chairman of the Committee a report for communication to the States Parties concerned:

7. Apres avoir etudie la question sous tous ses aspects, mais en tout cas dans un delai maximum de douze mois apres qu'elle en aura ete saisie, la Commission soumet un rapport au president du Comite qui le communique aux Etats parlies interesses:

(7) Die Kommission legt, sobald sie die Sache vollständig geprüft hat, keinesfalls jedoch später als zwölf Monate, nachdem sie damit befaßt worden ist, dem Vorsitzenden des Ausschusses einen Bericht zur Übermittlung an die beteiligten Vertragsstaaten vor:

(a) If the Commission is unable to complete its consideration of the matter within twelve months, it shall confine its report to a brief statement of the status of its consideration of the matter;

a) Si la Commission ne peut achever l'examen de la question dans les douze mois, elle se borne a indiquer brievement dans son rapport oil elle en est de l'examen de la question;

a) Wenn die Kommission die Prüfung der Sache nicht innerhalb von zwölf Monaten abschließen kann, beschränkt sie ihren Bericht auf eine kurze Darstellung des Standes ihrer Prüfung;

(b) If an amicable solution to the matter

b) Si I'on est parvenu ä un reglement

b) wenn die Sache auf der Grundlage

Stand: 1.10.2004

(56)

I n t e r n a t i o n a l e r P a k t über bürgerliche u n d politische R e c h t e

IPBPR

on the basis of respect for human rights as recognized in the present Covenant is reached, the Commission shall confine its report to a brief statement of the facts and of the solution reached;

amiable de la question, fonde sur le respect des droits de I'homme reconnus dans le present Pacte, la Commission se borne ä indiquer brievement dans son rapport les faits et le reglement auquel on est parvenu;

der Achtung der in diesem Pakt anerkannten Menschenrechte gütlich geregelt worden ist, beschränkt die Kommission ihren Bericht auf eine kurze Darstellung des Sachverhalts und der erzielten Regelung;

(c) If a solution within the terms of subparagraph (b) is not reached, the Commission's report shall embody its findings on all questions of fact relevant to the issues between the States Parties concerned, and its views on the possibilities of an amicable solution of the matter. This report shall also contain the written submissions and a record of the oral submissions made by the States Parties concerned;

c) Si Ton n'est pas parvenu ä un reglement au sens de I'alinea b, la Commission fait figurer dans son rapport ses conclusions sur tous les points de fait relatifs ä la question debattue entre les Etats parties interesses ainsi que ses constatations sur les possibilites de reglement amiable de I'affaire; le rapport renferme egalement les observations echtes et un proces-verbal des observations orales presentees par les Etats parties interesses;

c) wenn eine Regelung im Sinne von Buchstabe b nicht erzielt worden ist, nimmt die Kommission in ihren Bericht ihre Feststellungen zu allen für den Streit zwischen den beteiligten Vertragsstaaten erheblichen Sachfragen sowie ihre Ansichten über Möglichkeiten einer gütlichen Regelung auf. Der Bericht enthält auch die schriftlichen Stellungnahmen der beteiligfen Vertragsstaaten und ein Protokoll über ihre mündlichen Stellungnahmen;

(d) If the Commission's report is submitted under sub-paragraph (c), the States Parties concerned shall within three months of the receipt of the report, notify the Chairman of the Comittee whether or not they accept the contents of the report of the Commission.

d) Sie le rapport de la Commission est soumis conformement a I'alinea c, les Etats parties interesses font savoir au president du Comite, dans un delai de trois mois apres la reception du rapport, s'ils acceptent ou non les termes du rapport de la Commission.

d) wenn der Bericht der Kommission gemäß Buchstabe c vorgelegt wird, teilen die beteiligten Vertragsstaaten dem Vorsitzenden des Ausschusses innerhalb von drei Monaten nach Erhalt des Berichts mit, ob sie mit dem Inhalt des Kommissionsberichts einverstanden sind.

8. The provisions of this article are without prejudice to the responsibilities of the Committee under article 41.

8. Les dispositions du present article s'entendent sans prejudice des attributions du Comite prevues a I'article 41.

(8) Die Bestimmungen dieses Artikels lassen die in Artikel 41 vorgesehenen Aufgaben des Ausschusses unberührt.

9. The States Parties concerned shall share equally all the expenses of the members of the Commission in accordance with estimates to be provided by the Secretary-General of the United Nations.

9. Toutes les depenses des membres de la Commission sont reparties egalement entre les Etats parties interesses, sur la base d'un etat estimatif etabli par le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies.

(9) Die beteiligten Vertragsstaaten tragen gleichermaßen alle Ausgaben der Kommissionsmitglieder auf der Grundlage von Voranschlägen, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen erstellt.

10. The Secretary-General of the United Nations shall be empowered to pay the expenses of the members of the Commission, if necessary, before reimbursement by the States Parties concerned, in accordance with paragraph 9 of this article.

10. Le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies est habilite, si besoin est, a defrayer les membres de la Commission de leurs depenses, avant que le remboursement en ait ete effectue par les Etats parties interesses, conformement au paragraphe 9 du present article.

(10) Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist befugt, erforderlichenfalls für die Ausgaben der Kommissionsmitglieder aufzukommen, bevor die beteiligten Vertragsstaaten sie nach Absatz 9 erstattet haben.

A r t i c l e 43 Les membres du Comite et les membres des commissions de conciliation ad hoc qui pourraient etre designes conformement ä I'article 42 ont droit aux facilites, privileges et immunites reconnus aux experts en mission pour l'Organisation des Nations Unies, tels qu'ils sont enonces dans les sections pertinentes de la Convention sur les privileges et immunites des Nations Unies.

A r t i k e l 43 Die Mitglieder des Ausschusses und der ad hoc-Vergleichskommissionen, die nach Artikel 42 bestimmt werden können, haben Anspruch auf die Erleichterungen, Vorrechte und Befreiungen, die in den einschlägigen Abschnitten des Übereinkommens über die Vorrechte und Befreiungen der Vereinten Nationen für die im Auftrag der Vereinten Nationen tätigen Sachverständigen vorgesehen sind.

A r t i c l e 44 Les dispositions de mise en osuvre du present Pacte s'appliquent sans prejudice des procedures instituees en matiere de droits de I'homme aux termes ou

A r t i k e l 44 Die Bestimmungen über die Durchführung dieses Paktes sind unbeschadet der Verfahren anzuwenden, die auf dem Gebiet der Menschenrechte durch oder

A r t i c l e 43 The members of the Committee, and of the ad hoc conciliation commissions which may be appointed under article 42, shall be entitled to the facilities, privileges and immunities of experts on mission for the United Nations as laid down in the relevant sections of the Convention on the Privileges and Immunities of the United Nations.

A r t i c l e 44 The provisions for the implementation of the present Covenant shall apply without prejudice to the procedures prescribed in the field of human rights by or

(57)

Walter Gollwitzer

IPBPR

Menschenrechtskonventionen, Vertragstexte

under the constituent instruments and the conventions of the United Nations and of the specialized agencies and shall not prevent the States Parties to the present Covenant from having recourse to other procedures for settling a dispute in accordance with general or special international agreements in force between them.

en vertu des instruments constitutes et des conventions de l'Organisation des Nations Unies et des institutions specialisees, et n'empechent pas les Etats parties de recourir a d'autres procedures pour le reglement d'un differend conformement aux accords internationaux generaux ou speciaux qui les lient.

auf Grund der Satzungen und Übereinkommen der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen vorgeschrieben sind und hindern die Vertragsstaaten nicht, in Übereinstimmung mit den zwischen ihnen in Kraft befindlichen allgemeinen oder besonderen internationalen Übereinkünften andere Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten anzuwenden.

A r t i c l e 45 The Committee shall submit to the General Assembly of the United Nations, through the Economic and Social Council, an annual report on its activities.

Article 45 Le Comite adresse chaque annee ä l'Assemblee generale des Nations Unies, par l'intermediaire du Conseil economique et social, un raport sur ses travaux.

A r t i k e l 45 Der Ausschuß legt der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf dem Wege über den Wirtschafts- und Sozialrat einen Jahresbericht über seine Tätigkeit vor.

Part V

Cinquieme Partie

Teil V

A r t i c l e 46 Nothing in the present Covenant shall be interpreted as impairing the provisions of the Charter of the United Nations and of the constitutions of the specialized agencies which define the respective responsibilities of the various organs of the United Nations and of the specialized agencies in regard to the. matters dealt with in the present Covenant.

A r t i c l e 46 Aucune disposition du present Pacte ne doit etre interpretee comme portant atteinte aux dispositions de la Charte des Nations Unies et des constitutions des institutions specialisees qui definissent les responsabilites respectives des divers organes de l'Organisation des Nations Unies et des institutions specialisees en ce qui concerne les questions traitees dans le present Pacte.

A r t i k e l 46 Keine Bestimmung dieses Paktes ist so auszulegen, daß sie die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und der Satzungen der Sonderorganisationen beschränkt, in denen die jeweiligen Aufgaben der verschiedenen Organe der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen hinsichtlich der in diesem Pakt behandelten Fragen geregelt sind.

A r t i c e l 47 Nothing in the present Covenant shall be interpreted as impairing the inherent right of all peoples to enjoy and utilize fully and freely their natural wealth and resources.

A r t i c l e 47 Aucune disposition du present Pacte ne sera interpretee comme portant atteinte au droit inherent de tous les peuples a profiter et a user pleinement et librement de leurs richesses et ressources naturelles.

A r t i k e l 47 Keine Bestimmung dieses Paktes ist so auszulegen, daß sie das allen Völkern innewohnende Recht auf den Genuß und die volle und freie Nutzung ihrer natürlichen Reichtümer und Mittel beeinträchtigt.

Part VI

Sixieme partie

Teil VI

A r t i c l e 48 1. The present Covenant is open for signature by any State Member of the United Nations or member of any of its specialized agencies, by any State Party to the Statute of the International Court of Justice, and by any other State which has been invited by the General Assembly of the United Nations to become a party to the present Covenant.

A r t i c l e 48 1. Le present Pacte est ouvert ä la signature de tout Etat membre de l'Organisation des Nations Unies ου membre de l'une quelconque de ses institutions specialisees, de tout Etat partie au Statut de la Cour internationale de justice, ainsi que de tout autre Etat invite par l'Assemblee generale des Nations Unies a devenir partie au present Pacte.

2. The present Covenant is subject to ratification. Instruments of ratification shall be deposited with the SecretaryGeneral of the United Nations.

2. Le present Pacte est sujet a ratification et les instruments de ratification seront deposes aupres du Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies.

A r t i k e l 48 (1) Dieser Pakt liegt für alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, für alle Mitglieder einer ihrer Sonderorganisationen, für alle Vertragsstaaten der Satzung des Internationalen Gerichtshofs und für jeden anderen Staat, den die Generalversammlung der Vereinten Nationen einlädt, Vertragspartei dieses Paktes zu werden, zur Unterzeichnung auf. (2) Dieser Pakt bedarf der Ratifikation. Die Ratifikationsurkunden sind beim Generalsekretär der Vereinten Nationen zu hinterlegen.

3. The present Covenant shall be open to accession by any State referred to in paragraph 1 of the article. 4. Accession shall be effected by the

3. Le present Pacte sera ouvert a l'adhesion de tout Etat vise au paragraphe 1 du present article. 4. L'adhesion se fera par le depot d'un

Stand: 1.10.2004

(3) Dieser Pakt liegt für jeden in Absatz 1 bezeichneten Staat zum Beitritt auf. (4) Der Beitritt erfolgt durch Hinterle-

(58)

IPBPR

I n t e r n a t i o n a l e r P a k t über bürgerliche u n d politische R e c h t e deposit of an instrument of accession with the Secretary-General of the United Nations.

instrument d'adhesion aupres du Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies.

gung einer Beitrittsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen.

5. The Secretary-General of the United Nations shall inform all States which have signed this Covenant or acceded to it of the deposit of each instrument of ratification or accession.

5. Le Secretaire, general de l'Organisation des Nations Unies informe tous les Etats qui ont signe le present Pacte ou qui y ont adhere du depot de chaque instrument de ratification ou d'adhesion.

(5) Der Generalsekretär der Vereinten Nationen unterrichtet alle Staaten, die diesen Pakt unterzeichnet haben oder ihm beigetreten sind, von der Hinterlegung jeder Ratifikations- oder Beitrittsurkunde.

A r t i c l e 49

A r t i c l e 49

A r t i k e l 49

1. The present Covenant shall enter into force three months after the date of the deposit with the Secretary-General of the Untied Nations of the thirty-fifth instrument of ratification or instrument of accession.

1. Le present Pacte entrera en vigueur trois mois apres la date du depot aupres du Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies du trente-cinquieme instument de ratification ou d'adhesion.

(1) Dieser Pakt tritt drei Monate nach Hinterlegung der fünfunddreißigsten Ratifikations- oder Beitrittsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen in Kraft.

2. For each State ratifying the present Covenant or acceding to it after the deposit of the thirty-fifth instrument of ratification or instrument of accession, the present Covenant shali enter into force three months after the date of the deposit of its own instrument of ratification or instrument of accession.

2. Pour chacun des Etats qui ratifieront le present Pacte ou y adhereront apres le depot du trente-cinquieme instrument le ratification ou d'adhesion, ledit Pacte entrera en vigueur trois mois apres la date du depot par Cet Etat de son instrument de ratification ou d'adhesion.

(2) Für jeden Staat, der nach Hinterlegung der fünfunddreißigsten Ratifikations- oder Beitrittsurkunde diesen Pakt ratifiziert oder ihm beitritt, tritt er drei Monate nach Hinterlegung seiner eigenen Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft.

A r t i c l e 50

A r t i c l e 50

The provisions of the present Covenant shall extend to all parts of federal States without any limitations or exceptions.

Les dispositions du present Pacte s'appliquent, sans limitation ni exception aucune, a toutes les unites constitutives des Etats federatifs.

A r t i k e l 50 Die Bestimmungen dieses Paktes gelten ohne Einschränkung oder Ausnahme für alle Teile eines Bundesstaates.

A r t i c l e 51

A r t i c l e 51

A r t i k e l 51

1. Any State Party to the present Covernant may propose an amendment and file it with the Secretary-General of the United Nations. The SecretaryGeneral of the United Nations shall thereupon communicate any proposed amendments to the States Parties to the present Covenant with a request that they notify him wether they favour a conference of States Parties for the purpose of considering and voting upon the proposals. In the event that at least one third of the States Parties favours such a conference, the Secretary-General shall convene the conference under the auspices of the United Nations. Any amendment adopted by a majority of the States Parties present and voting at the conference shall be submitted to the General Assembly of the United Nations for approval.

1. Tout Etat partie au present Pacte peut proposer un amendement et en deposer le texte aupres du Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies. Le Secretaire general transmet alors tous projets d'amendements aux Etats parties au present Pacte en leur demandant de lui indiquer s'iis desirent voir convoquer une conference d.'Etats parties pour examiner ces projets et les mettre aux voix. Si un tiers au moins des Etats se declarent en faveur de cette convocation, le Secretaire general convoque la conference sous les auspices de l'Organisation des Nations Unies. Tout amendement adopte par la majorite des Etats presents et votants ä la conference est soumis pour approbation a I'Assemblee generate des Nations Unies.

(1) Jeder Vertragsstaat kann eine Änderung des Paktes vorschlagen und ihren Wortlaut beim Generalsekretär der Vereinten Nationen einreichen. Der Generalsekretär übermittelt sodann alle Änderungsvorschläge den Vertragsstaaten mit der Aufforderung, ihm mitzuteilen, ob sie eine Konferenz der Vertragsstaaten zur Beratung und Abstimmung über die Vorschläge befürworten. Befürwortet wenigstens ein Drittel der Vertragsstaaten eine solche Konferenz, so beruft der Generalsekretär die Konferenz unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ein. Jede Änderung, die von der Mehrheit der auf der Konferenz anwesenden und abstimmenden Vertragsstaaten angenommen wird, ist der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Billigung vorzulegen.

2. Amendments shall come into force when they have been approved by the General Assembly of the United Nations and accepted by a two-thirds majority of the States Parties to the present Covenant in accordance with their respective constitutional processes.

2. Ces amendements entrent en vigueur lorsqu'ils ont ete approuves par I'Assemblee generate des Nations Unies et acceptes, conformement a leurs regies constitutionnelles repectives, par une majorite des deux tiers des Etats parties au present Pacte.

(2) Die Änderungen treten in Kraft, wenn sie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gebilligt und von einer Zweidrittelmehrheit der Vertragsstaaten nach Maßgabe der in ihrer Verfassung vorgesehenen Verfahren angenommen worden sind.

3. When amendments come into force,

3. Lorsque ces amendements entrent

(3) Treten die Änderungen in Kraft, so

(59)

Walter Gollwitzer

IPBPR

M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , Vertragstexte

they shall be binding on those States Parties which have accepted them, other States Parties still being bound by the provisions of the present Covenant and any ealier amendment which they have accepted. A r t i c l e 52 Irrespective of the notifications made under article 48, paragraph 5, the Secretary-General of the United Nations shall inform all States referred to in paragraph 1 of the same article of the following particulars:

en vigueur, ils sont obligatoires pour les Etats parties qui les ont acceptes, les autres Etats parties restant lies par les dispositions du present Pacte et partout amendement anterieur qu'ils ont accepte.

sind sie für die Vertragsstaaten, die sie angenommen haben, verbindlich, während für die anderen Vertragsstaaten weiterhin die Bestimmungen dieses Paktes und alle früher von ihnen angenommenen Änderungen gelten.

A r t i c l e 52

A r t i k e l 52 Unabhängig von den Notifikationen nach Artikel 48 Absatz 5 unterrichtet der Generalsekretär der Vereinten Nationen alle in Absatz 1 jenes Artikels bezeichneten Staaten.

Independamment des notifications prevues au paragraphe 5 de I'article 48, le Secretaire general de l'Organisation des Nations Unies informera tous les Etats vises au paragraphe 1 dudit article:

(a) Signatures, ratifications and accessions under article 48;

a) Des signatures apposees au present Pacte et des instruments de ratification et d'adhesion deposes conformement a I'article 48;

a)von den Unterzeichnungen, Ratifikationen und Beitritten nach Artikel 48;

(b)The date of the entry into force of the present Covenant under article 49 and the date of the entry into force of any amendments under article 51.

b) De la date ä laquelle le present Pacte entrera en vigueur conformement ä I'article 49 et de la date ä laquelle entreront en vigueur les amendements prevus ä I'article 51.

b) vom Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Paktes nach Artikel 49 und vom Zeitpunkt des Inkrafttretens von Änderungen nach Artikel 51.

A r t i c l e 53

A r t i c l e 53

A r t i k e l 53

1. The present Covenant, of which the Chinese, English, French, Russian, and Spanish texts are equally authentic, shall be deposited in the archives of the United Nations.

1. Le present Pacte, dont les textes anglais, chinois, espagnol, fran Eolter Atlantic Charta

45

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Rdn.

Effektivität im Einzelfall („effet utile") Einschätzungsspielraum („margin of appreciation") Entstehungsgeschichte Erfordernisse einer demokratischen Gesellschaft ethische, kulturelle Unterschiede gegenwartsorientiert (evolutive Auslegung) gemeinsame Rechtsüberzeugung gemeinsame übernationale Zielsetzung Grenzen IPBPR „lebendes Instrument", dynamische Weiterentwicklung nationales Recht Präjudizien völkerrechtliche Grundsätze Wortlaut Auslegung des nationalen Rechts, konventionsfreundliche Konventionen als Auslegungshilfe Ausschuß für Menschenrechte des IPBPR (UN-AMR) Ausweisung von Ausländern eigener Staatsangehöriger Berlin Bildung, Recht auf Bindung an Entscheidungen des EGMR Britische Verfassungstradition Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) DDR Diskriminierungsverbote domaine reserve > Innere Angelegenheit eines Staates Doppelbestrafung Ehe, Gleichberechtigung Eigentum, Achtung des Ε Entschädigung bei fehlerhaften Strafurteilen Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom 12.4.1989 Erklärung der Vereinten Nationen vom 1.1. 1942 Europäische Menschenrechtskonvention, Entstehung Beitritt Geltung als Gemeinschaftsrecht Gesetzesrang Zusatzprotokolle

Rdn.

57 f, 60, 62 f, 72 64 ff, 72 56,60 59,65 60, 64 53, 56 f, 60 f 59 53, 55, 57 61 62 f 53, 58, 60 53, 55, 58, 63 f 60 52 54 f, 57 41, 43, 68,70 41, 68 32 f, 51, 62 f, 72 19, 22 19 31 f 16 41 1 3, 5, 62 31 f 5,27

11, 22 22 16 22

47a 4 8 13 44 ff 39 ff 15 ff, 46, 51

Europäische Grundrechte-Charta Europäische Menschenrechtskommission Europäische Sozialcharta Europäischer Gerichtshof (EU) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Entwicklung zum obligatorischen Gericht Gutachten Richterwahl Verfahrens Ordnung Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Strafe Europäische Union Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts Verantwortung der Mitgliedstaaten bei Verstößen der EU Europarat Generalsekretär Generalversammlung Ministerkomitee Fakultativprotokoll zum IPBPR (1.) 2. Fakultativprotokoll Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Diskriminierung der Frau Folter, „Antifolterkonvention" franz. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Frauen, Rechte der Freiheitsgarantie Freizügigkeit Fremdenrecht Gemeinschaftsrecht der EU Generalversammlung der Vereinten Nationen Genfer Abkommen über den Schutz der Personen bei bewaffneten Konflikten Genfer Flüchtlingskonvention Gewohnheitsrecht, völkerrechtliches Gleichheitsgrundsatz Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts (EU) Grundrechtsschutz, mittelbare Teilhabe am G. Günstigkeitsprinzip Gleichberechtigung ILO-Übe reinkommen Immunität der Staaten Individualbeschwerde

36a, 47 14,26 11 45, 48 13 f, 26, 42 14,26 17 13,26 23 f, 26

11 36a, 44 ff, 71 49, 66 48 13 f 13,42 13,36 13, 25 ff, 42, 51 7, 33, 51 34

10 10 f 1 10 2 19 2 36a, 44 ff, 71 6 10 10 6 59 f 46, 49

40 43, 47, 69 5 10 52 7, 10, 14, 24, 26 Innere Angelegenheit eines Staates 2 f, 5, 36 Innerstaatlicher Rang der Konventionen 38 ff Innerstaatliches Verfassungsrecht 1, 40 ff

Stand: 1.10.2004

(98)

Einführung

Einf. I P B P R

Rdn. Integrationsziel Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) Internationaler Gerichtshof (IGH) Internationale Strafgerichtsbarkeit Interpretationserklärung Kind, Übereinkommen über die Rechte des Kindes KSZE-Abschlußdokumente Kumulationsverbot Landesrecht lex posterior Regel Menschenrechtsschutz, internationaler Men sehen rech tsausschuß (UN.AMR) Menschenwürde Minderheiten, Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler M. Mindeststandard an Menschenrechten Moralvorstellungen Nationales Recht, insbes.

Rdn.

53 7, 32 ff, 51, 62 f, 70,72 51

7, 10 7 12 30 10 36 51 43 43 5, 36, 53 7, 51 5,36 11 52 f, 59 64 38 ff, 43, 52 f, 55, 58, 63 f, 66ff,72 49 72 9 9 36 57 65 5

Niederlassungsfreiheit Normenkontrolle, abstrakte Organisation afrikanischer Staaten Organisation amerikanischer Staaten OSZE Präambel Pressefreiheit Programmsätze Rassendiskriminierung, Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von R. 10 Ratifikation 14, 29, 32, 38, 40, 54 Rechtsentwicklung 53 f Rechtsmittel bei Strafurteilen 22 Rechtsordnung, supranationale 40, 42 Rechtsstaat, insbes. 41,46, 59, 64

Rechtsweg, Erschöpfung Schengener Durchführungsübereinkommen Schutzpflichten des Staates Selbstbestimmungsrecht der Völker Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Sklaverei Souveränitätsverständnis Staaten berichte Staatenbeschwerde Todesstrafe, Abschaffung Transformierung ins innerstaatliche Recht Übergesetzesrang der Konventionen? > Europäische Menschenrechtskonvention, Gesetzesrang Universalität der Men sehen rechte Verbrechen gegen die Menschlichkeit Vereinte Nationen Verfassungsbesch werde Verfassungsrecht, nationales Verhältnismäßigkeit Völkermord Völkerrecht, allgemeine Regeln Völkerrechtssubjekt Völkerrechtliches Vertragsrecht Vorbehalte zum IBPBR zur Menschenrechtskonvention Vorlagepflicht Wahlen, freie und geheime Warenverkehrsfreiheit Weitergehende Gewährleistungen Wiener Vertragskonvention Willkür Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen Zusatzprotokolle > Europäische Menschenrechtskonvention Zwischenstaatliche Einrichtungen Zwangs- und Pflichtarbeit

70 f 11 67 4, 7 12 10,37 1,3 7 7 21, 28, 34 38 ff 42

3 12 5 ff, 10, 12, 32 40 1, 38, 40 ff, 68 ff 58 f, 64 10, 12 70 1 37 ff, 72 22, 33, 35 29 70 f 16 49 43 29, 35, 52, 54, 56 f 59, 64, 68 1, 5, 62

42 10

A. Die Entstehung des internationalen Menschenrechtsschutzes 1. Geschichtliche Entwicklung. Die Einsicht, daß die Achtung der Men sehen rechte 1 mehr ist als nur ein von der staatlichen Ordnung nach Möglichkeit zu beachtendes Postulat und daß der einzelne seine Menschenrechte auch gegenüber seinem eigenen Staat durchsetzen kann, fand im Zeitalter der Aufklärung seinen Niederschlag in den das Gedankengut der britischen Verfassungstradition 1 fortentwickelnden amerikani1

(99)

So etwa die Habeas Corpus Acte 1679 und die an sich die Parlamentsrechte gegen den König fest-

legenden Bill of Rights vom 13.2.1689 sowie etwa die Schriften von John Locke.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

sehen Verfassungsdokumenten 2 und dann in der auch die Bürgerpflichten betonenden französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789; letztere ist auch heute noch Bestandteil der französischen Verfassung. In der Folgezeit wurden die Menschenrechte in den Verfassungen vieler Staaten als Grundrechte ihrer Bürger oder als allgemeine Menschenrechte in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlichen Detailvarianten innerstaatlich garantiert 3 , so auch in dem an die Weimarer Verfassung anknüpfenden Grundgesetz und in den Verfassungen der deutschen Länder. Als Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung endet der Menschenrechtsschutz der Verfassungen an der Staatsgrenze. Ihm fehlt die internationale Dimension. Die innerstaatliche Beachtung wurde weder durch internationale Instanzen von außen gesichert, noch hatte ein Staat Anspruch darauf, daß die Menschenrechte in anderen Staaten geachtet werden. 2

Die zwischenstaatlichen Beziehungen waren im 19. Jahrhundert von einem uneingeschränkten Souveränitätsverständnis geprägt. Das Völkerrecht wurde als Koordinationsrecht souveräner Staaten verstanden 4 . Nur diese waren Träger der aus dem Völkerrecht sich ergebenden Rechte und Pflichten, über die sie einvernehmlich verfügen konnten. Der einzelne Mensch war nicht Subjekt des Völkerrechts, er konnte aus einer völkerrechtlichen Regelung weder gegen den eigenen Staat noch gegen einen anderen Staat unmittelbare Rechte herleiten. Selbst wenn er Objekt einer ihn begünstigenden völkerrechtlichen Regelung war, etwa eines Staatsvertrages, erwuchsen ihm unmittelbar daraus keine eigenen Rechte. Der Gedanke, daß der einzelne gegen seinen eigenen Staat die Hilfe einer internationalen Instanz anrufen könne, wurde als lächerliche Utopie eingestuft oder gar als Hochverrat abgelehnt 5 . Nach dem auch heute noch nachwirkenden Souveränitätsverständnis dieser Epoche war es allein die eigene, jeder Einmischung durch andere Staaten entzogene innere Angelegenheit jedes einzelnen Staates, ob und welche Rechte er seinen eigenen Bürgern gewähren wollte. Dem entsprach es, daß das allgemeine Völkerrecht einen gewissen internationalen Mindeststandard von Rechtsgarantien nur für das „Fremdenrecht", also für die Behandlung der Bürger eines anderen Staates entwickelt hatte, das fremden Staaten ein Eingreifen zum Schutze wichtiger Menschenrechte (Leben, Freiheit, Eigentum) ihrer eigenen Staatsangehörigen gestattete. Wie ein Staat seine eigenen Staatsbürger behandelte, blieb grundsätzlich seine alleinige Angelegenheit. Nach der damals herrschenden Auffassung gehörte dies zu den inneren Angelegenheiten eines Staates, die von jeder Ingerenz anderer Staaten ausgenommen waren.

3

Die Existenz eines solchen jeder Einmischung durch andere Staaten entzogenen Bereiches, einer solchen „domaine reserve" als Kernbereich der staatlichen Souveränität erkennt Art. 2 Abs. 7 der Charta der Vereinten Nationen noch grundsätzlich an. D o r t wird festgehalten, daß aus der Charta keine Befugnis der Vereinten Nationen hergeleitet werden kann, in Angelegenheiten einzugreifen, die „ihrem Wesen nach zu der inneren Zuständigkeit eines Staates gehören". Dieses Argument wird auch heute noch benützt, wenn Staaten Menschenrechtsverlertzungen in einem anderen Staat anmahnen. Selbst

So in der Bill of Rights von Virginia vom 12.6. 1778, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, und den 10 Zusatzartikeln der amerikanischen Bundesverfassung von 1783. Nach Kühnhardl Die Universalität der Menschenrechte (1987) S. 77 enthielten schon die meisten der zwischen 1795 und 1830 in Europa verkündeten 70 Verfassungen Grundrechtskataloge.

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5

Zur jetzigen Weiterentwicklung des Völkerrechts von einem Koordinationsrecht souveräner Staaten zu einem kooperativen und kommunitären Völkerrecht vgl. etwa Nettesheim JZ 2002 569; Seidl AVR 38 (2000) 23. Tardu FS Partsch 287 f.

Stand: 1.10.2004

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Einf. IPBPR

Einführung

Staaten, die innerstaatlich den Menschenrechten in ihrem Rechtssystem Rechnung tragen, sind mitunter wenig geneigt, sich gegen den Vorwurf einer Verletzung von Menschenrechten vor einer internationalen Instanz rechtfertigen zu müssen 6 . Die Universalität der Menschenrechte, von der heute so gerne gesprochen wird, bedeutet ohnehin nicht notwendig auch Universalität der Schutzsysteme. Die Spannung zwischen dem staatlichen Souveränitätsanspruch 7 einerseits und der ihn einschränkenden überstaatlichen Kontrolle des effektiven Menschenrechtsschutzes andererseits, wie er im modernen Völkerrecht anerkannt wird, liegt in der Natur der Sache. Er zeigt sich in anderer Form auch darin, wenn es um das Ausmaß geht, in dem die Organe des internationalen Menschenrechtsschutzes Wertentscheidungen des innerstaatlichen Gesetzgebers respektieren müssen. Im übrigen verdeckt der Gedanke der Universalität der Menschenrechte mitunter zu leicht, daß nicht nur in der Realität sondern auch vom Grundverständnis her in der heutigen Welt über Inhalt und Stellenwert einzelner Menschenrechte weiterhin sehr unterschiedliche Auffassungen bestehen. Derzeit dürfte wohl nur ein Mindeststandard grundlegender Rechte, deren Umsetzung verschiedenen Lebens- und Rechtsgewohnheiten Raum läßt, wirklich dauerhaft konsensfähig sein 8 . Der Gedanke, den Schutz der Menschenrechte völkerrechtlich staatsübergreifend zu 4 gewährleisten, weil ihre weltweite Beachtung eine wichtige Garantie des Friedens ist, war zwar auch früher gelegentlich erörtert worden 9 , von der Politik mit Nachdruck aufgegriffen wurde er aber erst während des zweiten Weltkriegs. Die unter der Führerschaft der USA zusammengeschlossenen alliierten Staaten stellten als eines ihrer Kriegsziele die weltweite Garantie der Menschenrechte wegen ihrer freiheitssichernden und friedensfördernden Funktion heraus. Sie sahen darin ein Kontrastprogramm zu den die Menschenrechte mißachtenden Ideologien der totalitären Staaten, das diesen auch propagandistisch wirksam entgegengesetzt werden konnte. Dies geschah in der Erklärung der Vereinten Nationen von vom 1.1.1942 10 , in der übrigens erstmals dieser von Roosevelt geprägte Name verwendet wurde und in der als Atlantik Charta bezeichneten gemeinsamen Erklärung des Präsidenten der Vereinigten Staaten und des Premierministers von Großbritannien vom 14.August 1941 u , wo u.a. gefordert wurde, daß der künftige

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7

8

9 1,1

So etwa auch die USA. die weder der amerikanischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind noch dem 1. Fakultativprotokoll zum IPBPR. Auch bei dem von ihnen ratifizierten IPBPR vertreten sie die Ansicht, er sei nicht-self-executing und damit kein nach Art. VI der Verfassung innerstaatlich unmittelbar anwendbares Recht. Dieser wird, wie Tendenzen in den USA zeigen, heute mitunter auch aus dem Primat der innerstaatlichen demokratischen Entscheidungen vor internationalen Bindungen hergeleitet; vgl. vorst. Fußn. Vgl. etwa Calliess E u G R Z 1996 291; Klein E u G R Z 1999 109, 111. So 1929 vom Institute de Droit International. Die „Erklärung der Vereinten Nationen" vom 1.1. 1942 (Knipping/von Mangold/Rittberger Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer, Dok. 2), in der 26 am Krieg beteiligte Staaten erstmals unter Verwendung dieser Bezeichnung ihren Entschluß zur Niederwerfung der Achsenmächte bekräftigten, gab als gemeinsames Ziel u.a. an: „Leben, Freiheit, Unabhängigkeit und religiöse Freiheit zu verteidigen und sowohl in ihren eigenen

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11

wie auch in allen anderen Ländern die Menschenrechte und die Gerechtigkeit zu wahren". Tn Anlehnung an die von Roosevelt in seiner Rede an den Kongreß am 6.1.1941 als Grundlage der künftigen Weltordnung geforderten vier Freiheiten (Freedom of speach and expression, freedom of every person to worship G o d in his own way, freedom of want and from fear, everywhere in the world) wurde in Nr. 6 der Atlantik-Charta gefordert, „daß der künftige Frieden die Zusicherung erhalten solle, daß alle Menschen in allen Ländern ihr Leben in Freiheit von Angst und N o t führen können" (Knipping/w Mangold/Rittberger aaO, Dok. 1). Der Atlantik Charta, die an sich eine gemeinsame Erklärung, aber kein völkerrechtlicher Vertrag war, traten eine Reihe von Staaten ausdrücklich bei; die Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen wurde von den USA dann auch formal zum Gegenstand einer Reihe von Verträgen gemacht, so besonders in allen Pacht- und Leihverträgen über die Lieferung von Kriegsmaterial durch die USA an ihre Verbündeten.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Friede die Zusicherung erhalten solle, daß alle Menschen in allen Ländern ihr Leben in Freiheit von Angst und Not führen können. Diese Grundsätze fanden weltweit Zustimmung, zumal viele Gruppen sich von der weltweiten Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Freiheitsrechte einen wirksamen Anstoß zur Entkolonialisierung bei der sich anbahnenden politischen Neuordnung der Welt erhofften. 2. Die Verrechtlichung des internationalen Menschenrechtsschutzes durch multinationale Verträge 5

a) In der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 wurde der Gedanke einer die Menschenrechte wahrenden internationalen Friedensordnung als Zielsetzung aufgenommen. Abgesehen von einigen Diskriminierungs verboten12 verzichtete man aber auf eine nähere Fixierung der einzelnen Menschenrechte. Die Charta beschränkt sich auf allgemeine Programmsätze, so, wenn sie in der Präambel erwähnt, daß die Völker der Vereinten Nationen fest entschlossen sind, den Glauben an die Grundrechte der Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von M a n n und Frau zu bekräftigen" oder wenn sie in Art. 1 Abs. 3 unter ihren Zielen aufführt, „die Achtung von den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache und der Religion zu fördern und zu festigen". Diese Verpflichtung wird dann in Art. 55 Buchst, c wiederholt, der die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet vorsieht; durch Art. 56 wird sie in die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten einbezogen, „gemeinsam und jeder für sich mit der Organisation zusammenzuarbeiten, um die in Art. 55 dargelegten Ziele zu erreichen". Nach Art. 62 Abs. 3 gehört es zu den Aufgaben, des Wirtschafts- und Sozialrats 13 durch Empfehlungen die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle zu fördern. Diese Formulierungen legen keine Einzelrechte konkret fest, wohl auch, um den für die Schaffung der Vereinten Nationen notwendigen Konsens der Staaten verschiedener Gesellschaftsordnungen nicht zu gefährden. Aus ihnen wird aber vor allem von Völkerrechtlern der westlichen Welt hergeleitet, daß die Sicherung des Menschenrechtsschutzes zu den Aufgaben der Vereinten Nationen zählt und damit keine Angelegenheit mehr ist, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates im Sinne das bereits erwähnten Art. 2 Abs. 7 der U N - C h a r t a gehört 1 4 .

6

b) Die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als „Proklamation" mit Zustimmung von 48 der damals 56 Mitgliedstaaten verabschiedet wurde 15 , brachte die in der Charta der Vereinten Nationen fehlende Ausformulierung einzelner Menschenrechte 16 . Sie beeinflußt seither die Ausformulierung der Menschenrechte in den Verfassungen einzelner Staaten und in den internationalen Konventionen, auch wenn sie als Resolution der 12

Diese werden als unmittelbar anwendbare Rechtssätze angesehen, so Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über Namibia - TCJ Reports, 1971, 16/57. 1 ' Economic and Social Concil (ECOSOC). 14 Ob die Achtung der Menschenrechte wegen ihrer friedenssichernden Funktion zu den „matters of international concern" gehören und daher nicht mehr - wie früher - zu den jeder Einmischung von außen entzogenen inneren Angelegenheiten, wird unterschiedlich beurteilt, vgl. etwa Simma EuGRZ 1977 235; Kmimmkh BayVBl. 1990 1. Nach Bryde

15

16

Der Staat 42 (2003) 61, 64 regeln die Staaten in den allgemeinen Menschenrechtsverträgen nicht mehr ihre gegenseitigen Beziehungen sondern verpflichten sich zur Beachtung der Menschenrechte gegenüber einer Staatengemeinschaft als übergeordnete Legitimationsinstanz. Nicht zugestimmt haben die UdSSR und 5 weitere sozialistische Staaten, Saudi-Arabien und Südafrika. Vgl. die Einschränkung in Form einer Generalklausel in Art. 29.

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Einf. IPBPR

Einführung

Generalversammlung der rechtlich bindenden Wirkung eines völkerrechtlichen Vertrages entbehrt 1 7 . Sie wurde damals eher als ein menschenrechtliches Legislativprogramm verstanden, das erst in einer nächsten Stufe durch Verträge in für die einzelnen Staaten bindende Rechtsnormen umgesetzt werden sollte 18 . Ob und wieweit die Grundsätze der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ungeachtet ihres die einzelnen Mitgliedstaaten nicht unmittelbar verpflichtenden Charakters zwischenzeitlich zu völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht erstarkt sind, ist strittig 19 ; dafür werden u . a . angeführt die Praxis der Organe der Vereinten Nationen, die sich darauf berufen, sowie die Bezugnahme in völkerrechtlichen Verträgen und nationalen Verfassungen. c) Umsetzung in multinationale Verträge. Alsbald nach Verkündung der Allgemeinen 7 Erklärung der Menschenrechte begannen in den Gremien der Vereinten Nationen die Arbeiten, die die Grundsätze dieser Erklärung entsprechend den Zielen der Vereinten Nationen 2 0 zum Gegenstand rechtlich verbindlicher multilateraler Abkommen machen sollten 21 . Der darauf beruhende Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) wurde aber erst nach vielen Jahren am 19.12.1966 verabschiedet 22 . Der einsetzende kalte Krieg und die mit der Entkolonialisierung verbundenen Probleme, die durch die neu hinzukommenden Staaten in den Vereinten Nationen ihren Niederschlag fanden, hatten zu verstärkten wirtschaftlichen und ideologischen Gegensätzen und zu zahlreichen Meinungsverschiedenheiten geführt. Strittig war etwa das Anliegen der Staaten der dritten Welt, ob und wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker angesprochen werden sollte. Ein anderer Differenzpunkt war, ob die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (mitunter als Menschenrechte der zweiten Generation bezeichnet) im gleichen Pakt wie die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte (Menschenrechte der ersten Generation) geregelt werden sollten. Für die Aufteilung auf zwei Konventionen wurde angeführt, daß dies die innerstaatliche Umsetzung erleichtert, denn die individuellen Freiheitsgarantien kann der Staat in der Regel schon dadurch gewährleisten, daß er Eingriffe unterläßt, während die im Sozialpakt angesprochenen Aspekte der sozialen Sicherheit zu ihrer Umsetzung erfordern, daß in Staat und Wirtschaft die institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Strittig waren auch die Fragen der rechtlichen Kontrolle. Ein Entwurf, der für den Zivilrechtspakt die Staatenbeschwerde zu einem neunköpfigen Ausschuß und bei Scheitern einer gütlichen Einigung die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs vorsah, fand keine Zustimmung 2 3 . Als obligatorische Verfahren wurden für beide Pakte nur periodische Staatenberichte festgelegt (Art. 40 IPBPR, Art. 16 IPWSKR) 2 4 , eine Staatenbeschwerde an den aus 18 Mitgliedern bestehenden Menschenrechtsausschuß wurde nur fakultativ vorgesehen, also nur für die

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18

"

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Η. M; etwa BayVerfGH NJW 1961 1615; Jescheck NJW 1954 784; Vogler ZStW 82 (1979) 743; vgl. aber auch Bartsch NJW 1989 3066 (praktisch Status als Rechtsquelle); Nowak Einf. 2 (Mindeststandard universell anerkannter Menschenrechte), ferner allgemein zur rechtlichen Bedeutung solcher Erklärungen Frowein ZaöRV 49 (1989) 778. Klein EuGRZ 1999 109. Vgl. etwa Tomusehai ZaöRV 45 (1985) 562 ff; Kirchhof EuGRZ 1994 21; Verdross/Sima Universelles Völkerrecht § 822; Handbuch Vereinte Nationen 2 , Menschenrechte, allgemein, Rdn. 17; 25-30 je mit weit. Nachw. Vgl. Art. 1 Abs. 3, Art. 55 Buchst, c, Art. 56 UNCharta.

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21 22

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Vgl. Klein EuGRZ 1999 109. Der IPBPR wurde am 19.12.1966 zusammen mit dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet; er trat nach Ratifizierung durch 35 Staaten auch für die Bundesrepublik erst am 23.3.1976 in Kraft; vgl. BGBl. 11 1973 S. 1534; Bek. vom 16.6.1976 (BGBl. 11 S. 1068). Vgl. Nowak UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Einl. 8. Zur Problematik des Berichtssystems als Kontrollmittel vgl. Opsahl FS Wiarda 433.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Fälle, in denen beide betroffene Staaten die Zuständigkeit des Ausschusses für die Entgegennahme einer solchen Beschwerde anerkannt haben (Art. 41 IPBPR) 2 5 . Die Möglichkeit einer Individualbeschwerde („Mitteilung" genannt) zum Menschenrechtsausschuß wurde außerhalb des IPBPR in einem besonderen Vertragswerk, dem Fakultativprotokoll geregelt, dem beizutreten den Vertragsstaaten frei steht 26 . 8

Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) bezweckt, wie ihre Präambel hervorhebt, die Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in ein rechtlich bindendes Vertragswerk, das auch einen wirksamen staatenübergreifenden internationalen Schutz der Menschenrechte garantiert. Im Gegensatz zu den Vereinten Nationen konnten sich die viel homogeneren westeuropäischen Staaten relativ schnell auf das Vertragswerk einigen. Die Konvention wurde am 4.11.1950 in Rom verabschiedet 2 7 und hat die Grundlagen dafür geschaffen, daß sich daraus in den folgenden Jahrzehnten in Europa das weltweit wirksamste System des internationalen Menschenrechtsschutzes entwickeln konnte 2 8 .

9

Andere Regionen haben für ihren Bereich später ebenfalls gesonderte Menschenrechtspakte geschlossen, so die Organisation Amerikanischer Staaten die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22.11.1969 29 und die Mitgliedstaaten der Organisation für afrikanische Einheit die sogen. „Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker" vom 27.6.1981 3 0 . 3. Weitere Konventionen zum Schutze von Menschenrechten

10

a) Im Rahmen der Vereinten Nationen wird der Menschenrechtsschutz durch zusätzliche Konventionen ergänzt. Sie wurden meist im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeitet und verabschiedet und jeweils von einer größeren Zahl von Staaten, darunter auch Deutschland, ratifiziert. So ergänzt der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 31 , den IPBPR durch die Festlegung der in diesem nicht aufgenommenen wirtschaftlichen und sozialen Rechte 32 . Weitere Konventionen schützen, meist unter speziellen Gesichtspunkten, bestimmte Menschenrechte noch besonders., so etwa - das Übereinkommen betreffend die Sklaverei vom 25.9.1926 i. d. Fassung des Änderungsprotokolls vom 7.12.1953 33 ; -

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das Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7.9.1956 34 ;

Dieser hat nur die Möglichkeit, einen Bericht vorzulegen und, wenn einer der beteiligten Staaten damit nicht zufrieden ist, mit vorheriger Zustimmung der betroffenen Staaten ad hoc eine Vergleichskommission einzusetzen, die sich auf der Grundlage der Achtung des Paktes um eine gütliche Regelung bemühen soll (Art. 42 IPBPR). Dieser Ausschuß darf Mitteilungen über Menschenrechtsverletzungen nur entgegennehmen, wenn der betroffene Staat dem Fakultativprotokoll beigetreten ist. Nach Prüfung der Zulässigkeit und der Begründetheit der Mitteilung teilt der Ausschuß seine Auffassung dem betroffenen Vertragsstaat und der Einzelperson mit (Art. 5 des (1.) Fakultativprotokolls). Vgl. Anhang Rdn. 81 ff".

29

Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 21. 11.1969 (AMRK, deutsche Übersetzung EuGRZ 1980 435); dazu Buergenlhal EuGRZ 1984 169; Frowein EuGRZ 1980 442). Afrikanische Charta der Rechte des Menschen und der Völker vom 27.6.1981 (AChRMV, auch Banjul-Charta genannt), deutsche Übersetzung EuGRZ 1990 348. Zur Regionalisierung des Menschenrechtsschutzes vgl. Partsch EuGRZ 1989 1. '' Für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit 3.1.1976 (Bek. vom 6.3.1976 BGBl. II S. 428). 32 Vgl. Rdn. 7. 33 BGBl. IT 1972 IT S. 1473; zu diesen Abkommen vgl. Art. 4 MRK Rdn. 1,2. 54 BGBl. TT 1958 S. 205.

Vgl. unten Rdn. 13. Vgl. dazu Anhang, Rdn. 1,2.

Stand: 1.10.2004

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Einf. IPBPR

Einführung

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das Übereinkommen über Zwangs und Pflichtarbeit (ILO-Übereinkommen 29) vom 28.6.1930 35 , geändert durch Übereinkommen ILO 116 vom 26.6.1961 36 ; das Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangs- und Pflichtarbeit (ILO-Übereinkommen 105) vom 25.6.1957 3 7 ; die Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948 38 ; das Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau vom 31.3.1953 39 ; das Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form der Rassendiskriminierung vom 7. 3.1966 40 , das u. a. auch Individualbeschwerden zu einem Ausschuß vorsieht 41 ; das Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 42 mit dem Fakultativprotokoll vom 6.10.1999 43 , das die Individualbeschwerde („Mitteilung") an den Ausschuß für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zuläßt; das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10.12.1984 („Antifolterkonvention") 44 , das ebenfalls einen Ausschuß der Vertragsstaaten vorsieht, dem die Berichte der Vertragsstaaten vorzulegen sind und der auch die Beschwerden der Vertragsstaaten und Individualbeschwerden („Mitteilung") entgegennimmt, sofern ein Vertragsstaat dieser fakultativ eröffneten Möglichkeit beigetreten ist;

-

das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989; dieses Übereinkommen wird ergänzt durch das Fakultativprotokoll vom 5. 5.2000, das die Beteiligung von Jugendlichen unter 18 Jahren an bewaffneten Konflikten verhindern soll4411. Dazu kommen die Übereinkommen, die das humanitäre Kriegsvölkerrecht fortentwickelt haben, wie etwa die Genfer Abkommen vom 12.8.1949 und ihre Zusatzprotokolle vom 8.6.1977, die den Schutz der Personen bei bewaffneten Konflikten bezwecken 45 , oder humanitäre Abkommen wie das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) vom 28.7.1951 4 6 . b) Auch in Europa werden die Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle 11 durch weitere Abkommen ergänzt 47 . Einer Reihe von Übereinkommen haben einzelne Konventionsrechte zum Gegenstand, die sie ergänzen oder erweitern, wie etwa die Ausdehnung des Verbots der Doppelbestrafung in Art. 54 des Schengener Durchführungs-

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44il

BGBl. II 1956 S. 641. BGBl. II 1963 S. 1136. BGBl. II 1959 S. 442. BGBl. II 1954 S. 730. BGBl. II 1969 S. 1929. BGBl. TT 1969 S. 962; Bek. vom 16.10.1969 BGBl. TT S. 2211. Vgl. Anhang Rdn. 98 ff. BGBl. II 1985 S. 648. BGBl. II 2001 S. 1238; für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit 15.4.2002 (Bek. vom 4.3. 2002, BGBl. TT S. 1197), vgl. Anhang Rdn. 101. BGBl. TT 1990 S. 246, für die Bundesrepublik Deutschland am 31.10.1990 in Kraft getreten (Bek. 9.2.1993 BGBl. II S. 715); geändert auf Grund einer Resolution der Generalversammlung durch Gesetz vom 7.3.1996 (BGBl. TT S. 252); vgl. Anhang Rdn. 103. Text des Übereinkommens mit Zustimmungsgesetz vom 17.2.1992 (BGBl. II S. 131); Text des Fakul-

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tativprotokolls mit Zustimmungsgesetz vom 16.9. 2004 (BGBl. II S. 1354). III. Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 12.8.1949 (BGBl. II 1954 S. 838), VI. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 (BGBl. TT 1954 S. 917; ber. 1956 TT S. 1586) und den Zusatzprotokollen Τ und TT vom 8.6.1977 (BGBl. TT 1990 S. 1551 bzw. BGBl. II 1990 S. 1637); vgl. dazu etwa I'arlsch EuGRZ 1991 469, 471, ferner zu dem Verhältnis der Genfer Konventionen zu den auf den gleichen sittlichen Grundanschauungen beruhenden Menschenrechtspakten das Gutachten der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) vom 13.12.2003 (EuGRZ 2004 343). BGBl. II 1953 S. 560; der Anwendungsbereich wurde durch das Protokoll vom 31.1.1967 (BGBl. TT 1969 S. 1294) auf alle Flüchtlinge ausgedehnt. Vgl. die Kritik von Broß JZ 2003 429 an der Vielzahl der Regelwerke (eher Ausdruck der Unsicherheit).

Walter Gollwitzer

M R K Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Übereinkommens vom 19.6.1990 48 . Von den allgemeinen Übereinkommen sind insbesondere zu erwähnen die nur zum Teil verpflichtende (vgl. Art. 20) Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961 49 , das Europäische Niederlassungsabkommen vom 13.12.1955 50 , das Rahmenübereinkommen zum Schutze nationaler Minderheiten vom 1.2.1995 51 und das Europäische Ubereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 52 . 12

c) Internationale Ahndung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Gedanke, daß es eine Aufgabe der Völkergemeinschaft sei, diese Verbrechen staatsübergreifend zu ahnden, hat in dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durch die unerfreulichen politischen Ereignisse neuen Auftrieb erhalten. Das Fehlen anwendbarer Konventionsregeln und internationaler Organe erforderte, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ad hoc internationale Strafgerichtshöfe für die Ahndung von Völkermord und schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien und Ruanda 5 3 in Anwendung von Kap. VII der Charta 5 4 einsetzen mußte. Das am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedete Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegs verbrechen 55 hat nunmehr eine internationale Strafgerichtsbarkeit geschaffen, die subsidiär gegenüber der Gerichtsbarkeit der einzelnen Vertragsstaaten schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ahnden kann.

B. Europäische Menschenrechtskonvention und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte I. Entstehung und Geltung 1. Europäische Menschenrechtskonvention 13

a) Die am 4.11.1950 in Rom unterzeichnete Menschenrechtskonvention 5 6 ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, durch den sich alsbald nach Ende des zweiten Weltkriegs die im Europarat zusammengeschlossenen westeuropäischen Staaten 57 verpflichtet haben, die darin angeführten Menschenrechte zu achten, so wie dies auch Art. 3 der Satzung des Europarates fordert. Sie trat nach Ratifizierung durch 10 Staaten am 3.9.1953 in Kraft. N u r Staaten, die dem Europarat angehören, können der Konvention beitreten, während umgekehrt der Beitritt zum Europarat davon abhängig gemacht wird, daß die beitrittswilligen Staaten auch die Menschenrechtskonvention zeichnen. Dies haben alle Staaten bei ihrem Beitritt getan 58 . Die Menschenrechtskonvention ist 48

BGBl. TT 1993 S. 1013; spätere Änderungen durch EG-Recht vgl. Fundstellennachw. B. 4 » BGBl. TT 1964 S. 1262. 50 BGBl. II 1959 S. 998. 51 BGBl. II 1997 S. 1408. 52 BGBl. II 1989 S. 946; geändert durch Prot. Nr. 1 und Nr. 2 vom 4.11.1993 (BGBl. TT 1996 S. 1115). Die Änderungen sind für die Bundesrepublik am 1.3.2002 in Kraft getreten (Bek. vom 22.3.2002 BGBl. II S. 1019). 5 -' Resolution 827 vom 25. 5.1993 und Resolution 955 vom 8.11.1994. 54 Befugnis des Sicherheitsrats zu Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens.

55 EuGRZ 1998 618; dazu Ambos ZStW 111 (1999) 175; Kinkel NJW 1998 2650. 56 Zur Entstehungsgeschichte Partsch ZaöRV 15 (1954) 631; ZaöRV 17 (1956) 93. 57 Die Satzung des Europarats wurde am 5.5.1949 unterzeichnet, die Bundesrepublik Deutschland ist seit 2. 5.1951 Vollmitglied. 58 Vgl. Meyer-Ladewig (Einl. 2). Alle Staaten, die dem Europarat angehören, sind der MRK beigetreten. Das Inkrafttreten der M R K und der Zusatzprotokolle in den einzelnen Mitgliedstaaten wird jeweils im Fundstellennachweis Β zum BGBl. II (bei der MRK) nachgewiesen. Vgl. ferner Barisch NJW 1989 3061.

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ein eigenständiges Vertragswerk ihrer Mitgliedsstaaten; mit dem Europarat ist sie aber organisatorisch dadurch verflochten, daß dessen Organe auch Aufgaben im Rahmen der Menschenrechtskonvention wahrnehmen. Die Richter des Gerichtshofs werden von der Generalversammlung des Europarates gewählt (Art. 22 MRK) 5 9 . Das Ministerkomitee des Europarats, der früher weitgehend statt des Gerichtshofs über die Beschwerden entschied, überwacht jetzt nur noch die Durchführung der Urteile des Gerichtshofs (Art. 46 Abs. 2 M R K ) . Der Generalsekretär des Europarats ist außerdem Dienstherr der Bediensteten des organisatorisch an den Europarat angebundenen Gerichtshofs, dessen Kosten der Europarat trägt (Art. 50 M R K ) . Er hat außerdem das Recht, die Konventionsstaaten zu befragen, wie sie innerstaatlich die Konventionsbestimmungen wirksam durchsetzen (Art. 52 M R K ) . In der Bundesrepublik ist die durch Gesetz vom 7.8.1952 6 0 ratifizierte Menschen- 14 rechtskonvention am 3.9.1953 in Kraft getreten 61 . Bis zur Neufassung der M R K durch das 11. Zusatzprotokoll stand es früher den beitretenden Staaten frei, ob sie die Befugnis der Europäischen Menschenrechtskommission zur Entgegennahme von Individualbeschwerden (Art. 25 M R K a. F) anerkennen und ob sie sich der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte E G M R (Art. 46 M R K a. F) unterwerfen wollen. Die Bundesrepublik hat beides getan 62 , desgleichen, wenn auch mit erheblichen zeitlichen Unterschieden, alle anderen Mitgliedstaaten des Europarats 6 3 . Die Neufassung der M R K durch das 11. Zusatzprotokoll hat diese Optionsmöglichkeit beseitigt und die Gerichtsbarkeit des E G M R obligatorisch gemacht. b) Spätere Vereinbarungen der Konventionsstaaten, „Zusatzprotokolle" genannt, 15 haben den Text einiger Artikel der M R K geändert, die Protokolle Nr. 1, 4, 6, 7, 12 und 13 haben außerdem die Gewährleistungen der Konvention auf weitere Rechte und Freiheiten ausgedehnt. Die Mitgliedstaaten der Konvention sind aber nicht allen Zusatzprotokollen, die weitere materielle Gewährleistungen vorsehen, beigetreten. Es muß daher im Einzelfall geprüft werden, ob und gegebenenfalls mit welchen Vorbehalten diese zusätzlichen Gewährleistungen in den jeweiligen Mitgliedstaaten gelten 64 . Das (1.) Zusatzprotokoll vom 20.3.1952 garantiert die Achtung des Eigentums und das Recht auf Bildung sowie freie und geheime Wahlen. Die Bundesrepublik hat es durch Gesetz vom 20.12.1956 (BGBl. II S. 1880) ratifiziert, es ist am 13.2.1957 in Kraft getreten (Bek. vom 13.4.1957, BGBl. II S. 226).

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Das 2. (Zusatz) Protokoll vom 6. 5.1963 regelte die Erstattung von Gutachten durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es ist durch Gesetz vom 10.12. 1968 (BGBl. II S. 1111) ratifiziert worden und am 21.9.1970 in der Bundesrepublik in Kraft getreten (Bek. vom 20.11.1970, BGBl. II S. 1315). Es ist jetzt durch die Art. 47 bis 49 M R K in der Fassung des 11. ZP ersetzt worden.

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Zu der Verknüpfung der Funktionen und deren Zweckmäßigkeit vgl. Mund de Boer-Buquicchio EuGRZ 2003 561; zur Kritik an der Verknüpfung Engel EuGRZ 2003 122, und 388; ferner die Antwort des Generalsekretärs auf eine parlamentarische Anfrage EuGRZ 2004 113. BGBl. II S. 685, ber. S. 953. Bek. vom 15.12.1953 (BGBl. II 1954 S. 14). Mit Bek. vom 17.5.2002 (BGBl. II S. 1054) wurde der Text der Konvention in einer die bisherigen Änderungen berücksichtigenden Neufassung zusammen

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mit einer sprachlich überarbeiteten deutschen Übersetzung neu bekanntgemacht. Die fakultative Gerichtsbarkeit des E G M R wurde von der Bundesrepublik Deutschland, ähnlich wie von mehreren anderen Mitgliedstaaten jeweils nur zeitlich befristet für 5 Jahre anerkannt und dann jeweils verlängert. Vgl. Tomuschat EuGRZ 2003 95, 97. Der Stand des Beitritts und die etwaigen Vorbehalte können dem jährlich erscheinenden Fundstellennachweis Β zum BGBl. TT entnommen werden.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

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Das 3. Protokoll änderte die Art. 29, 30 und 34 M R K a. F. Es ist gleichzeitig mit dem 2. und 5. Z P durch Gesetz vom 10.12.1968 von der Bundesrepublik ratifiziert worden und dort am 21.9.1970 in K r a f t getreten 65 . Durch die Neufassung der Verfahrensregeln der M R K durch das 11. ZP wurde das 3. ZP gegenstandslos.

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Das 4. Protokoll vom 16.9.1963 verbietet die Freiheitsentziehung wegen Nichterfüllung vertraglicher Pflichten, die Ausweisung der eigenen Staatsangehörigen und die Kollektivausweisung von Ausländern und es gewährleistet die Freizügigkeit. Es ist durch Gesetz vom 9.5.1968 (BGBl. II S. 422) ratifiziert worden und am 1.6.1968 in Kraft getreten (Bek. vom 18.11.1968, BGBl. II S. 1109).

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Das 5. Protokoll ändert die Art. 22 und 40 M R K (a. F). Es wurde durch Gesetz vom 10.12.1968 (vgl. oben Rdn. 17) ratifiziert und trat am 20.12.1971 in Kraft (Bek. vom 8.2.1972, BGBl. II S. 105). Die Neufassung der Verfahrensregeln durch das 11. ZP hat auch diese Änderungen aufgenommen.

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Das 6. Protokoll vom 28.4.1983 schafft die Todesstrafe ab 66 . Es wurde mit Gesetz vom 23.7.1988 (BGBl. II S. 662) ratifiziert und ist in der Bundesrepublik seit 1.8.1989 in Kraft (Bek. vom 27. 9.1989, BGBl. II S. 814).

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Das 7. Protokoll vom 22.11.1984 betrifft die Ausweisung von Ausländern, das Recht auf Rechtsmittel bei einer strafgerichtlichen Verurteilung, die Entschädigung bei fehlerhaften Strafurteilen, das Verbot der Doppelbestrafung und die Gleichberechtigung in der Ehe. Die Bundesrepublik hat dieses Protokoll nicht ratifiziert. Soweit die dort enthaltenen Verbürgungen auch im IPBPR enthalten sind 67 und nicht von einem Vorbehalt der Bundesrepublik erfaßt werden, gelten sie in dessen Fassung materiell auch in der Bundesrepublik; der E G M R kann aber insoweit nicht angerufen werden.

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Das 8. Protokoll vom 19.3.1985 änderte zur Vereinfachung des Verfahrens bei Individualbeschwerden die Art. 20, 21, 23, 28, 29, 30, 31, 34, 40, 41 und 43 M R K (a.F) 6 S . Die Bundesrepublik hat es mit Gesetz vom 30.6.1989 (BGBl. II S. 546) ratifiziert. Es ist nach Ratifikation durch die Vertragsstaaten für die Bundesrepublik am 1.1.1990 in Kraft getreten (Bek. 15.11.1989, BGBl. II S. 991). Seine Änderungen sind mit Inkrafttreten der neuen Verfahrensvorschriften des 11. ZP gegenstandslos geworden.

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Das 9. Protokoll vom 6.11.1990, das u. a. den Beschwerdeführern nach Art. 25 M R K (a. F) das Recht zur Anrufung des Gerichtshofs und die Parteifähigkeit vor diesem einräumt, ändert die Art. 31 Abs. 2, Art. 44, Art. 45 und Art. 48 M R K (a. F) für die Staaten ab, die ihm beigetreten sind. Die Bundesrepublik ist dem Protokoll nicht beigetreten, da es durch die grundlegende Neuregelung des Verfahrens im 11. Zusatzprotokoll gegenstandslos wurde.

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Das 10. Protokoll vom 25.3.1992 ersetzte die bisher im Ministerkomitee zur Feststellung einer Konventionsverletzung notwendige Zweidrittel-Mehrheit durch die einfache Mehrheit. Es ist durch die grundlegenden Verfahrensänderungen des 11. Zusatzprotokolls überholt worden.

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Das 11. Protokoll vom 11.5.1994 brachte eine grundlegende Reform der Konventionsorgane und des Rechtsschutzverfahrens 69 . Die Abschnitte II bis IV der M R K (Art. 19 bis 59 M R K a. F) wurden durch einen neuen Abschnitt II (Art. 19 bis 51 M R K )

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Vgl. Rdn. 16. «' Dazu Ilartig EuGRZ 1983 270. 67 Vgl. Art. 14 Abs. 5 bis 7; Art. 23 Abs. 4 TPbPR; Art. 1 Nr. 3 des Ratifizierungsgesetzes vom 15.11. 1973.

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Vgl. Bartsch NJW 1986 1374; 1385. Zur Reform des 11, ZP vgl. etwa Meyer-Ladewig NJW 1995 2813; 1998 512; Meyer-Ladewig!Petzuld NJW 1999 1165: Schielte ZaöRV 56 (1996) 903 und JZ 1999 219; Wit linger NJW 2001 1238.

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Einführung

ersetzt 7 0 . D a s komplizierte System der ursprünglichen M R K mit seinen fakultativen Möglichkeiten, die es jedem Mitgliedstaat freistellte, o b er die Individualbeschwerde zur Menschenrechtskommission zulassen und o b er sich der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs f ü r Menschenrechte unterwerfen wollte, entfiel. Die Europäische Menschenrechtskommission (Art. 20 bis Art. 37 M R K a. F) wurde aufgelöst 7 1 , desgleichen die Befugnis der Ministerkomitees zur Entscheidung über Menschenrechtsverletzungen. Die Befugnis zur Feststellung von Verletzungen der M R K ist jetzt ausschließlich dem zu einem ständig tagenden Gericht mit Vollzeitrichtern umgewandelten Gerichtshof übertragen, dessen Gerichtsbarkeit alle Mitgliedstaaten unterworfen sind. Nicht, wie ursprünglich, allein die Vertragsstaaten sondern jeder von einer Menschenrechtsverletzung Betroffene k a n n jetzt den Gerichtshof unmittelbar anrufen. Die Wahl der Richter, die Organisation des in verschiedene Spruchkörper aufgeteilten Gerichts u n d die G r u n d z ü g e seines Verfahrens wurden neu geregelt. N a c h d e m alle Mitgliedstaaten d e m 11. Z P zugestimmt hatten 7 2 , trat dieses am 1.11.1998 zusammen mit der vom Plenum des Gerichtshofs am 4.11.1998 beschlossenen neuen Verfahrensordnung 7 3 in Kraft. D a s 12. Protokoll, das den G e n u ß aller auf Gesetz beruhenden Rechte ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der G e b u r t oder eines sonstigen sozialen Status garantiert u n d jede Benachteiligung, insbesondere von einer Behörde, aus einem dieser Gesichtspunkte verbietet, wurde a m 26.6.2000 vom Ministerkomitee verabschiedet. Es soll nach Ratifizierung durch 10 Mitgliedstaaten f ü r diese in K r a f t treten.

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Das 13. Protokoll, das die Todesstrafe unter allen Umständen abschafft, wurde am 3.5.2002 verabschiedet 7 4 . Es soll nach Ratifikation durch 10 Mitglied Staaten in K r a f t treten. Es ist noch nicht in Kraft.

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Ein 14. Zusatzprotokoll, das am 13.5.2004 beschlossen wurde u n d das nach Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten in K r a f t treten soll, sieht zur Entlastung des Gerichtshofs eine Änderung des Art. 28 M R K vor. Der Drei-Richter-Ausschuß soll dadurch die Befugnis erhalten, auch über Begründetheit einer Beschwerde zu entscheiden, wenn die zur Entscheidung anstehenden Fragen vom Gerichtshof bereits in einer anderen Sache entschieden worden sind („well established case-law of the court"). Damit soll u . a . erreicht werden, d a ß nach einem „Piloturteil" des Gerichtshofs weitere d o r t anhängige gleichartige Verfahren schnell erledigt werden können 7 4 3 .

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c) Vorbehalte. Mehrere Staaten haben bei ihrem Beitritt Vorbehalte zu einzelnen Bestimmungen der Konvention abgegeben 7 5 . Die Bundesrepublik hat beim Beitritt zur M R K ebenfalls einen Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 erklärt; zwei weitere Erklärungen

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Art. 1 des 11. ZP. Sie hat auf Grund einer Übergangsvorschrift (Art. 5 Abs. 3 11. ZP) noch ein Jahr lang zulässige Beschwerden weiterbehandelt und am 28.10.1999 ihre Tätigkeit eingestellt, vgl. EuGRZ 1999 616. Die Bundesrepublik Deutschland hat es mit Gesetz vom 24. 7.1995 (BGBl. 11 S. 578) ratifiziert. Mitgeteilt durch Bek vom 17.5.2002 (BGBl. 11 S. 1080); zwischenzeitlich mehrfach geändert. Der jeweilige Stand ist auf englisch oder französisch abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Eng/Edocs/ RulesofCourt.htm.

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Die Bundesrepublik Deutschland hat es mit Gesetz vom 5.7.2004 (BGBl. 11 S. 982) ratifiziert. Zur Reformdiskussion vgl. Breuer EuGRZ 2004 445, 447 ff. Eine deutsche Übersetzung des noch nicht ratifizierten 14. Zusatzprotokolls wird in der EuGRZ abgedruckt. Vgl. die Auflistung bei FroweinIPeukerl Anh. 3. Die durch die Ratifikation herbeigeführte Rechtslage ist im übrigen in den einzelnen Signatarstaaten verschieden; vgl. Rdn. 38 ff.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

betreffen Berlin und das Saarland 7 6 . Die an sich bei völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 2 Abs. 1 Buchst, d, Art. 19 ff der Wiener Vertragskonvention 77 grundsätzlich bestehende Möglichkeit, Vorbehalte zu erklären, wird durch Art. 57 M R K (Art. 64 M R K a. F) zulässig eingeschränkt 78 , dies entspricht ihrem Zweck, eine über die subjektiven Vertragspflichten der einzelnen Mitgliedstaaten hinausreichende objektive Europäische Rechtsordnung zu schaffen 79 . Soweit nicht einzelne Bestimmungen Vorbehalte überhaupt ausschließen, wie Art. 4 des Protokolls Nr. 6, kann ein Staat nur bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde und nur insoweit Vorbehalte zu einzelnen, genau zu bezeichnenden Bestimmungen der Konvention oder eines Zusatzprotokolls 80 erklären, als ein zu dieser Zeit in seinem Hoheitsgebiet bereits geltendes Gesetz 81 mit der jeweiligen Bestimmung der Konvention nicht übereinstimmt. Er muß dabei diese gesetzlichen Regelungen im Vorbehalt eindeutig bezeichnen 82 , damit Gegenstand und Tragweite des Vorbehalts für jedermann eindeutig ersichtlich sind; dies soll einer ausdehnenden Auslegung vorbeugen. Vorbehalte allgemeiner Art, die sich nicht deutlich auf bereits bestehende, konkrete innerstaatliche Regelungen beziehen und den wegen diesen von der Anwendung der Konvention ausgenommenen Bereich nicht genau bezeichnen, sind nicht zulässig (Art. 57 Abs. 1 Satz 2 M R K ) und unwirksam 8 3 . Unwirksam sind Vorbehalte die nicht bei der Ratifikation der Konvention oder eines Zusatzprotokolls, sondern erst später erklärt werden 84 . Der E G M R prüft die Wirksamkeit eines Vorbehalts nach, denn nur soweit ein Staat einen wirksamen Vorbehalt erklärt hat, ist er innerhalb dessen Grenzen durch die M R K nicht gebunden 85 ; nur dann ist eine diesen Bereich betreffende Beschwerde an den Gerichtshof „ratione materiae" unzulässig. Gibt ein Staat eine Interpretationserklärung ab, mit der er erklärt, wie er eine bestimmte Vertragsbestimmung versteht, so muß diese ausgelegt werden. Will der Staat damit nicht nur sein Verständnis einer bestimmten Vertragsbestimmung unverbindlich aufzeigen sondern rechtsverbindlich damit auch die Grenzen der von ihm eingegangenen Konventionsverpflichtung festlegen, so liegt darin ungeachtet der anderen Bezeichnung ein Vorbehalt, der die Vertragsverpflichtungen des erklärenden Staates einschränkt, sofern er nicht unwirksam ist, weil er die vorgenannten Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt 86 .

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Zum Vorbehalt Süsterhenn DVB1. 1955 753; vgl. ferner Art. 7. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (BGBl. TT 1985 S. 926) Vgl. Art. 19 Buchst, b Wiener Vertragskonvention. Zu den Einschränkungen Grabenwarter § 7 Rdn. 2. Sogen. Law-making treaty; vgl. E G M R 23.3.1995 Loizidou/Türk (ÖJZ 1995 629). Für eine nicht ausdrücklich bezeichnete Konventionsbestimmung gilt ein zu einer anderen Bestimmung erklärter Vorbehalt auch dann nicht, wenn der sachliche Inhalt beider Vertragsbestimmungen im wesentlichen gleich ist, so E G M R 22.2.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559, dazu Ilamheer EuGRZ 1995 579, 581); Grabenwarter § 2 Rdn. 7. Zur Absicherung von Gesetzesbestimmungen, die erst nach der Ratifikation in Kraft treten, kann kein Vorbehalt erklärt werden, E G M R 26.4.1995 Eischer/Ö (ÖJZ 1995 633); 3.10.2000 Eisenstecken/Ö (ÖJZ 2001 194), Meyer-Ladewig Art. 57, 3.

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EGMR 25.8.1993 Chorherr/Ö (ÖJZ 1994 173; Hinweis auf Fundstelle im Gesetzblatt genügt); Grabenwarter § 2, 7; Meyer-Ladewig Art. 57, 4. Vgl. etwa EGMR 29.4.1988 Belilos/CH (EuGRZ 1989 21: Erklärung zu unbestimmt, weil genauer Anwendungsbereich nicht erkennbar); 22. 5.1990 Weber/CH (EuGRZ 1990 265); dazu Villiger HdB 35 ff; EGMR 23.10.1995 Gradinger/Ö (ÖJZ 1995 954); 3.10.2000 Eisenstecken/Ö (ÖJZ 2001 194); Grabenwarter § 2 Nr. 7. FroweinIPeukert Art. 64 a . F 5; Grabenwarter § 2 Rdn. 7; Oeter ZaöRV 48 (1988) 521; Villiger HdB 38. Meyer-Ladewig Art. 57 Rdn. 3, 4 und zu den Vorbehalten der Bundesrepublik Deutschland Art. 57 7 ff; zu den von den einzelnen Staaten erklärten Vorbehalte vgl. Frowein!Peukert Art. 64 a.F; ferner Villiger HdB 33, 35 ff, 38. Vgl. Meyer-Ladewig 1; Grabenwarter § 2 Rdn. 7 („auslegende Erklärungen sind wegen des Verbots allgemeiner Vorbehalte oft wirkungslos").

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d) Berlin, Länder der ehem. DDR. Im Land Berlin wurden die M R K und die Zusatz- 31 Protokolle 1 bis 6 ebenfalls in Geltung gesetzt 87 ; die Maßnahmen der westberliner Behörden wurden daran gemessen 88 . Auch soweit die britischen und französischen Sektorenkommandanten und ihre Stationierungstruppen dort eigene Staatsgewalt ausübten, unterlagen sie der M R K . Wieweit ihre Maßnahmen mit der Menschenrechtsbeschwerde angreifbar waren, ist von der Europäischen Menschenrechtskommission aber nicht abschließend geklärt worden 89 . Bei Maßnahmen der früheren Vier-Mächte-Verwaltung, die auf älteren Übereinkommen beruhten, lehnte sie die Überprüfung ab 90 . Seit dem Anschluß an die Bundesrepublik erstreckt sich der Geltungsbereich der M R K nach dem Grundsatz der beweglichen Staatsgrenzen auf ganz Berlin und die Länder im Gebiet der ehem. D D R und Berlin-Ost. Die M R K und die von der Bundesrepublik ratifizierten Zusatzprotokolle sind auch dort innerstaatlich geltendes Bundesrecht geworden 91 . 2. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte a) Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) 92 vom 3 2 19.12.1966 ist im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeitet worden 93 . Er steht den Mitglied Staaten der Vereinten Nationen und aufgrund einer generellen Aufforderung praktisch auch allen anderen Staaten (vgl. Art. 48 IPBPR) zum Beitritt offen 94 . Er wurde bisher von rund 150 Staaten mit zahlreichen Vorbehalten und Interpretationserklärungen ratifiziert 95 . Die Bundesrepublik hat den IPBPR mit Gesetz vom 15.11. 1973 (BGBl. II S. 1533) nach Maßgabe der dort in Art. 1 festgelegten Einschränkungen 96 ratifiziert. Der IPBPR ist für die Bundesrepublik zunächst ohne Art. 41 am 23.3. 1976 in Kraft getreten 97 . Art. 41 IPBPR, der die Staatenbeschwerde anerkennt, ist am 28. 3.1979 in Kraft getreten 98 . Der IPBPR galt auch in Berlin. Die D D R ist dem IPBPR mit Wirkung vom 23.3.1976 9 9 beigetreten. Durch ihren Beitritt zur Bundesrepublik hat sich nur insoweit etwas geändert, als er jetzt, sofern nicht entsprechend Art. 12 Einigungsvertrag etwas anderes vereinbart wurde, auch im Gebiet der ehemaligen D D R mit den von der Bundesrepublik erklärten Vorbehalten gilt 100 . Im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 12.10.1990 101

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Vgl. Beil. GVßl. 1953 1163; 1968 943; 1969 338. Zur Einbeziehung Berlins Partsch ZaöRV 17 (1956/ 57) 101; Pestahzza FS zum 125jährigen Bestehen der juristischen Gesellschaft zu Berlin 549. Genien NJW 1985 1057; Pestalozzi (aaO Fußn. 10) 561 ff mit Darstellung der Praxis der Konventionsorgane. Dazu deuten NJW 1985 1057; Wengter ROW 1986 153. EKMR EuGRZ 1975 482 (Hess); dazu Blumenwitz EuGRZ 1975 97; Frowein FS Schlochauer 290; FroweintPeuken Einf. 14; Wilms ZaöRV 51 (1991) 470. Art. 8, 11 Einigungsvertrag (vgl. LR 24 Nachtrag 11 mit Textwiedergabe). Zur Auswirkung des Anschlusses nach Art. 23 G G auf die völkerrechtlichen Verträge vgl. etwa Grabitzlr. Bogdandy NJW 1990 1076; Horn NJW 1990 2173; Mansel JR 1990 441; v. Mündt NJW 1991 868; Oeter ZaöRV 51 (1991) 349; Rauschning DVB1. 1990 403; Verdroßt Simma § 975 ff.

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= International Convenant on Civil and Political Rights (CCPR). 93 Zur Entstehungsgeschichte Nowak Einf. 7; Nowak EuGRZ 1980 552. 94 Nowak Art. 48, 2 ff. 95 Vgl. die Nachweise über den Zeitpunkt des Beitritts der einzelnen Staaten im FN Β; ferner Nowak Anh. C 1; Bartsch NJW 1989 3061. Die über 150 einzelnen Vorbehalte und Erklärungen sind bei Nowak Anh. A 3 wiedergegeben. 96 Diese entsprechen dem erklärten Vorbehalt, vgl. Nowak Anh. A 3. 97 Bek. vom 14.6.1976 (BGBl. 11 S. 1068). 98 Bek. vom 20.11.1979 (BGBl. 11 S. 1218); zuletzt verlängert durch Bek. vom 27.5.1997 (BGBl. II S. 1355). 99 GBl. DDR II 1976 S. 1068. '»» Vgl. dieNachw. Fußn. 91. 101 BGBl. II 1991 S. 256.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wurden bei den Regelungen über die Ausübung der Gerichtsbarkeit in Art. 18 die einschlägigen Rechte des IPBPR ausdrücklich für anwendbar erklärt. 33

b) Das Fakultativprotokoll vom 19.12.1966 102 eröffnet jedem Betroffenen die Möglichkeit, bei Verletzung eines im IPBPR verbürgten Rechts durch Maßnahmen eines Staates, der diesem Fakultativprotokoll beigetreten ist, den Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen anzurufen („Mitteilung"). Die Bundesrepublik ist, ebenso wie andere Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention dem 1. Fakultativprotokoll zunächst nicht beigetreten; der vertraglich festgelegte Vorrang des Rechtsschutzsystems der M R K und die Letztentscheidungskompetenz ihrer Organe sollte nicht beeinträchtigt werden 103 . Erst mit Gesetz vom 21.12.1992 104 trat sie dann doch diesem Fakultativprotokoll mit mehreren Vorbehalten bei, die u. a. die Anrufung des Menschenrechtsausschusses bei den Sachen ausschließen, die in einem anderen internationalen Streitschlichtungsverfahren geprüft wurden. Das Fakultativprotokoll ist seit 25.11.1993 auch für die Bundesrepublik in Kraft 1 0 5 .

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Das zweite Fakultativprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 15.12.1989 angenommen. Die Bundesrepublik ist ihm mit Gesetz vom 2.6.1992 1 0 6 beigetreten. Es ist in ihr seit 18.11.1992 in Kraft 1 0 7 .

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c) Vorbehalte. Da im IPBPR eine ausdrückliche Regelung über die Zulässigkeit von Vorbehalten fehlt, ist nach Art. 19 Buchst, c W V K davon auszugehen, daß Vorbehalte zulässig sind, sofern sie nicht mit Ziel und Zweck des Vertrages unvereinbar sind 108 . Die anderen Vertragsstaaten können einem Vorbehalt nach Art. 20 Abs. 5 Wiener Vertragskonvention widersprechen, dies ändert jedoch nichts daran, daß dann insoweit keine Vertragsbindung des erklärenden Staates entstanden ist. Von der Möglichkeit von Vorbehalten haben zahlreiche Mitgliedstaaten des IPBPR Gebrauch gemacht 109 .

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3. Bestätigung der Menschenrechtskonventionen in anderen Internationalen Dokumenten. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hat schon in der Schlußakte von Helsinki vom 1.8.1975 110 und dann in den Folgetreffen das Prinzip der Achtung der Menschenrechte unter Verweisung auf die bestehenden Verpflichtungen als leitendes Prinzip der Staatengemeinschaft anerkannt und auf den inneren Zusammenhang hingewiesen, der zwischen diesem Prinzip und der Erhaltung des Friedens und der Sicherheit besteht 111 . Im Abschlußdokument des Wiener KSZE Folgetref-

»>- BGBl. TT 1992 S. 1247; ferner etwa Satorius TT, 20a; sowie auch öster. BGBl. 1988 S. 105, abgedruckt bei Nowak 787; vgl. Hofmann Einf. S. 22. 105 Vgl. Art. 62 M R K a . F (jetzt Art. 55 MRK). Der Ministerausschuß des Europarates hatte einer Resolution vom 17.5.1970 den Mitgliedstaaten empfohlen, das Fakultativprotokoll wegen dessen Art. 5 Abs. 2 Buchst, a nur mit Vorbehalten zu unterzeichnen, dazu Nowak Art. 5 1. ZP Rdn. 15. 104 BGBl. II 1992 S. 1246. 105 Bek. vom 30.12.1993 (BGBl. II 1994 S. 311), in der die Vorbehalte der Bundesrepublik mitgeteilt werden. Vgl. Anh. Rdn. 83, 87. » BGBl. TT 1992 S. 390. 107 Bek. vom 20.4.1993 BGBl. II S. 880. 108 Nowak Einführung 22 ff; vgl. etwa UN-AMR EuGRZ 2000 615 Kennedy/Trinidad, Tobago (Vorbe-

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halt, der bei Todesstrafe jede Beschwerde ausschließt, wegen Verstoßes gegen das Ziel des 1. FP unzulässig); dazu Stahn EuGRZ 2000 607. Vgl. die von Nowak Anh. A 3 wiedergegebenen Erklärungen; zu einem italienischen Vorbehalt UN AMR EuGRZ 1983 407. Textauszug bei SimmalFastenrath Nr. 42. Zur Rechtsnatur der Schlußakte (kein völkerrechtlicher Vertrag mit bindenden Verpflichtungen sondern außerrechtliche - politische - Verständigung über Grundsätze künftigen Verhaltens) vgl. Schweisfurth ZaöRV 36 (1976) 681; ferner Scheuner FS Verosta 171; Verdross!Simma § 545 und zu dem Bestreben nach Verrechtlichung BreitmoserlRichter E u G R Z 1991 141. Vgl. Liedermann FS Verosta 427; Scheuner FS Verosta 177.

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Einführung

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fens vom 15.1.1989 112 bekräftigen die Teilnehmerstaaten, daß sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten achten und garantieren und daß sie - soweit nicht geschehen - den Beitritt zum IPBPR und zum Fakultativprotokoll in Erwägung ziehen. Das Kopenhagener Abschlußdokument vom 29.6.1990 wiederholt dies 113 . Die wichtigsten Menschenrechte, die meist mit dem Wortlaut der M R K oder des IPBPR in den Text dieses Dokumentes aufgenommen worden sind, werden als wesentlicher Ausdruck der Menschenwürde und der für alle gleichen, unveräußerlichen Rechte anerkannt. In der Charta von Paris für ein neues Europa vom 21.11.1990 114 bekräftigen die Regierungschefs der KSZE-Mitgliedstaaten erneut die Menschenrechte als Grundlage einer auf den Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit aufgebauten, auf gegenseitige Achtung, Frieden und Zusammenarbeit ausgerichteten europäischen Ordnung, wobei die wichtigsten Garantien gegen Menschenrechtsverletzungen einschließlich des Rechts des einzelnen auf wirksame nationale und internationale Rechtsbehelfe besonders angesprochen werden. In der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE von Moskau vom 3.10.1991 wurde u . a . hervorgehoben, daß die Achtung der Menschenrechte ein unmittelbares und berechtigtes Anliegen aller Teilnehmerstaaten sei und nicht ausschließlich eine innere Angelegenheit des betroffenen Staates. Diese menschenrechtliche Dimension wird auch im Dokument über das Budapester KSZE-Folgetreffen im Jahre 1994 angesprochen, in dem die KSZE mit Wirkung vom 1.1.1995 in OSZE umbenannt wurde 1142 . Die Bedeutung solcher internationaler Erklärungen liegt darin, daß die Regierungen der jeweiligen Unterzeichnerstaaten ihre Bindungen an die von ihnen übernommenen Konventionspflichten und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen bekräftigen. Gleiches gilt auch sonst für Verlautbarungen multinationaler Gremien zu einzelnen Konventionspflichten. Solche gemeinsamen Erklärungen werden auch bei der Auslegung einzelner Konventionsbestimmungen zur Bekräftigung eines bestimmten Verständnisses herangezogen 11413 . In der Europäischen Union gelten die materiellen Grundrechte der M R K schon jetzt 3 6 a als verbindliches Gemeinschaftsrecht" 5 . Mit dem Inkraftreten einer Europäischen Verfassung wird die dort mit geringfügigen Änderungen als Teil II übernommene Europäische Grundrechte-Charta für die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Gemeinschaftsrechts verbindlich (Art. 51 Abs. I) 116 . Soweit die in ihr garantierten Rechte denen in der M R K entsprechen, haben sie die gleiche Tragweite und Bedeutung wie die jeweiligen Konventionsrechte (Art. 52 Abs. 3). Damit wird zugleich erreicht, daß die Erfüllung der von den einzelnen Mitgliedstaaten der E U eingegangenen Konventionspflichten insoweit gesichert bleibt, als diese Hoheitsbefugnisse auf die Gemeinschaft übertragen haben11611.

II. Rechtsnatur der Konventionen, innerstaatliche Geltung 1. Als völkerrechtliches Vertragsrecht, das die internationale Anerkennung und die 3 7 kollektive Garantie eines gemeinsamen Standards bestimmter Menschenrechte in einem vertraglich festgelegten Umfang erst herbeiführen soll, können die Umschreibungen die112

EuGRZ 1989 85. EuGRZ 1990 239 mit Einführung Treuer EuGRZ 1990 235. "4 EuGRZ 1990 S. 17; dazu Hilf EuR 1991 19. Il4 · Vgl. Treuer EuGRZ 1995 296. ii4b vgl. etwa die zur Bekräftigung der Auslegung angeführte Entschließung der parlamentarischen Ver111

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sammlung des Europarats über den Schutz des Privatlebens in EGMR 24.6.2004 v. Hannover/D (NJW 2004 2647). 115 Vgl. Rdn.47. 116 Vgl. dazu Hirsch Gollwitzer-Kolloqium 81, 84. " 6 " Vgl. Art. 1 Rdn. 15.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ser Rechte und ihrer Grenzen im normativen Teil der Konventionen nicht mit einer Kodifikation bereits bestehender allgemeiner Regeln des Völkerrechts gleichgesetzt werden, die nach Art. 25 G G den einfachen Gesetzen vorgehen würden 117 . Dies zeigen auch die zahlreichen Vorbehalte der einzelnen Staaten. Soweit die Konventionen Rechtsgrundsätze mit umfassen, die - mit meist weniger scharf umrissenem Inhalt und in weniger detaillierter Form - nach heutiger Auffassung bereits zu allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts erstarkt sind 118 , wie etwa das Verbot der Sklaverei 119 , gelten diese nach Art. 25 G G unmittelbar und unabhängig von jeder Ratifizierung der Konventionen in der Bundesrepublik 120 . Im Verhältnis zu den Vertragsstaaten und für die Anrufung der Konventionsorgane bei Konventionsverletzungen ist aber auch dann grundsätzlich von dem im Vertragstext festgelegten Inhalt der dort garantierten Rechte und Freiheiten auszugehen 121 . Dieser enthält meist weitergehende und genauer umrissene Verbürgungen. Der Vertragstext würde im übrigen zwischen den Vertragsteilen selbst allgemeinen Regeln des Völkerrechts vorgehen, soweit diese nicht zu den zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens) 122 zählen. 2. Innerstaatliche Geltung 38

a) Allgemein. Die M R K und die Zusatzprotokolle sowie der IPBPR haben durch Ratifizierung und Transformierung in das innerstaatliche Recht ihre Rechtsnatur als völkerrechtliche Verträge der Vertragsstaaten nicht verloren 123 . Ob und mit welchem Rang sie in den einzelnen Mitgliedstaaten innerstaatlich gelten, ist unterschiedlich, da das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Völkervertragsrecht in den einzelnen Staaten unterschiedlich beurteilt wird. Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention reicht die Bandbreite von der Verneinung jeder innerstaatlichen Geltung des Vertragstextes 124 , der Geltung als einfaches Gesetz oder als den einfachen Gesetzen vorgehendes Recht im Range unterhalb der Verfassung 125 bis zur ausdrücklichen Verleihung des Verfassungsrangs (Österreich) oder der Zuerkennung eines Überverfassungsrangs 126 .

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Vorherrschende Meinung; vgl. die Nachweise bei MaunzlDürig GG Art. 1 Abs. 2 Rdn. 57 ff; Morvay ZaöRV 21 (1961) 89/93; Echterhölter JZ 1955 689; Frowein FS Zeidler 1770; Herzog DÖV 1959 44; 1960 775; Hesse EuGRZ 1978 428; Partsch 29; Ress FS Zeidler 1794; Silagi EuGRZ 1980 632; TRGKomlVoglcr § 73. 7, v. Münch Vorbem. zu Art. 1 bis 19 GG, Rdn. 80; ferner etwa OVG Münster NJW 1956 1375 mit weit. Nachw.; a. Α Guradze Einl. § 5 TT bis V (allgemeine Regeln); Verdross!Simma § 855. Zur Problematik ferner Frowein FS Zeidler 1768; Ress FS Zeidler 1789. BVerfGE 46 342/362 geht (obiter dictum) vom Bestehen allgemeiner Regeln des Völkerrechts im Bereich des menschenrechtlichen Mindeststandards aus; ebenso Herzog EuGRZ 1990 486; llaefliger EuGRZ 1990 481 (Menschenrechte, die nicht nach Art. 15 Abs. 2 M R K außer Kraft gesetzt werden können, rechnen zum völkerrechtlichen ius cogens). Vgl. Silagi EuGRZ 1980 644; Hofmann FS Zeidler 1989; Weigend StV 2000 386; ferner Maunz/Dürig G G Art. 1, 57; Geek DVB1. 1956 525 die dies offenlassen. Vgl. BVerfGE 59 280/283; 63 332; Doehring ZaöRV 36 (1976) 88; Silagi EuGRZ 1980 647; Slrehel ZaöRV 36 (1976) 177; vgl. ferner Art. 4 M R K Rdn. 3.

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Vgl. etwa Grahenwarter W D S t L 60 (2001) 290, 306; Walter ZaöRV 59 (1999) 972. So EKMR EuGRZ 1975 483 (Hess). Zur Definition vgl. Art. 53 WVK; Verdross!Simma §525. Scheuner FS Schlochauer 904; Walter ZaöRV 59 (1999) 961 ff. So nach den relativ spät ergangenen Inkorporationsgesetzen der nordischen Staaten (vgl. Sundberg JTR 40 (1997) 181) wohl nur noch Irland und vor dem Erlaß des Human Rights Act 1998 auch Großbritannien; dazu und zu den Besonderheiten des am 2.10.2000 in Kraft getretenen Human Rights Acts, der zwar die Art. 2 bis 18 M R K (ohne Art. 13 und 15) wortgetreu übernimmt, ihre direkte Anwendbarkeit aber einschränkt, vgl. Grahenwarter VVDStRL 60 (2001) 290, 300 ff; Grahenwarter § 3 Rdn. 3 ff, 9; Kühne StV 2001 73, 77; Peters § 1 TT; ferner etwa Baum EuGRZ 2000 281; Grote ZaöRV 58 (1998) 309 und Fußn. 131. Mehrere Staaten, darunter auch Frankreich, vgl. Grahenwarter § 3 Rdn. 3; Peters § 1 TT. Vgl. Grahenwarter VVDStRL 60 (2001) 290, 300 ff; Grahenwarter § 3 Rdn. 2 (so Niederlande); ferner etwa Bleckmann EuGRZ 1994 150; Völliger HAB 53.

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Einführung

b) In der Bundesrepublik gelten die M R K und die Zusatzprotokolle, die nach Art. 59 3 9 Abs. 2 G G in der Form eines einfachen Bundesgesetzes ratifiziert worden sind, nach der vorherrschenden Meinung als einfaches Bundesrecht127. Innerstaatlich sind alle Gerichte und Behörden zu ihrer Beachtung verpflichtet; sie begründen innerstaatlich unmittelbare Rechte und Verpflichtungen für den einzelnen soweit diese bei der gebotenen völkerrechtsfreundlichen Auslegung der jeweiligen Konventionsgarantie entnommen werden können. Auf die in den Konventionen verbürgten Rechte und die dort getroffenen Wertentscheidungen kann sich jedermann vor den innerstaatlichen Gerichten und Behörden berufen, ohne daß es dazu neben dem Ratifikationsgesetz noch eines besonderen Ausführungsgesetzes bedarf 128 . Der Wortlaut der Konventionen wird von der Rechtsprechung und der vorherrschenden Meinung bei Übernahme ins innerstaatliche Recht als selfexecuting angesehen l 2 9 . Verfassungsrecht der Bundesrepublik. Durch die mit einfachem Bundesgesetz durch- 4 0 geführte Ratifikation (Art. 59 Abs.2 G G ) konnten die M R K und die in ihr garantierten Rechte nicht den Rang von formellem Verfassungsrecht erhalten. Die Vertragsstaaten haben für den Text der Konventionen aber auch völkervertraglich keinen innerstaatlichen Verfassungsrang gefordert. Noch weniger wollten sie der Konvention den Überverfassungsrang einer supranationalen Rechtsordnung verleihen 130 . Dies zeigt sich schon darin, daß die getroffenen Übereinkommen nach herrschender Meinung die Staaten nicht einmal verpflichten, den Konventionstext ins nationale Recht zu transformieren 131 . Es stand ihnen außerdem jahrzehntelang frei, ob sie sich den Durchsetzungs-

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Η. Μ der Rechtsspr. etwa BVerfGE 74 358, 370; 82 102, 120; und neuerdings grundlegend auch BVerfG 14.10.2004 - 2 BVR 1481/04 (NJW 2004 3407); beiläufig schon BVerfGE 6 296; 440 (BVerfGE 4 110 ließ dies noch offen); OVG Münster NJW 1956 1375: BGH NJW 1957 1480; 2001 309; BVerwG DVB1. 1977 57; NJW 1958 35; BayVerfGH NJW 1961 1619; Bernhardt EuGRZ 1996 339; Britz NVwZ 2004 173; Golsong DVB1. 1956 525; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001) 305; Grabenwarter § 3 Rdn. 6; Herzog AöR 86 (1961) 237; Herzog EuGRZ 1990 486; Maur NJW 2000 338; Sommermann AöR 114 (1989) 391, 410; Weigend StV 2000 386; femer etwa Dörr 88; Maunz/Dürig Art. 1 Abs. 2 Rdn. 57; Meyer-Goßner47 3; wegen weiterer Nachweise zum Streitstand Kühl ZStW 100 (1988) 408; Morvay ZaöRV 21 (1961) 78; Staehe JA 1996 79. Zum IPBPR etwa BVerwGE 65 188; Hofmann Einf. S. 22. Zur Rechtslage in der Schweiz Grahemvarter VVDStRL 60 (2000) 301; Villiger EuGRZ 1991 81, HdB 57 ff.

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So schon der Bundestag bei der Ratifizierung; Bericht RA BTDrucks. 3338; vgl. auch Huber Gedächtnisschrift H. Peters 375 ff; Villiger HdB. 60 ff. Für die Notwendigkeit eines Ausführungsgesetzes wegen der Unbestimmtheit der Garantien Jeseheck NJW 1954 783; Henrichs MDR 1955 40; NJW 1959 1529; vgl. auch Mattil JR 1965 167 („wünschenswert").

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Strittig bei der Formulierung einzelner Artikel, vgl. Scheuner FS Jahrreiß 375. Die USA sehen den IPBPR als non-self-executing an; vgl. etwa Seibertl'bhr ZaöRV 62 (2002) 406.

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Weitgehend herrschende Meinung, für die MRK vor allem BVerfGE 74 358, 378, BGHSt 45 321, 329, je mit weit. Nachw.; ferner etwa Eisele JR 2004 12; 13; Weigend StV 2000 384, 386; Meyer-Ladewig Einl. 29. Verfassungsrang der M R K nehmen an u. a. Echterhölter JZ 1955 689 (Ableitung aus Art. 1 Abs. 2 GG; dazu etwa Grabenwarter VVDStL 60 (2001) 290 ff; Guradze Einl. § 5 I; vgl. auch Guradze DÖV 1961 12); v. Stackelberg NJW 1960 1265. Überverfassungsrang nimmt an Klug Gedächtnisschrift H. Peters 434; vgl. auch Ress FS Zeidler 1789. Zur unterschiedlichen Praxis der Vertragsstaaten beim IPBPR Seibert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 391ff",die S 409 ff" auch darauf hinweist, daß nach Ansicht des UN-Menschenrechtsausschusses der Pakt Vorrang vor dem nationalen Recht verlangt.

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Dies ist bei einigen Mitgliedstaaten auch nicht geschehen, so wurden in Großbritannien die Konventionen zunächst kein Bestandteil des innerstaatlichen Rechts (vgl. etwa House of Lords EuGRZ 1991 102; Schroth ZStW 100 (1988) 470; erst durch den Human Rights Akt von 1998 sind wesentliche Teile der Konvention in Großbritannien auch innerstaatlich begrenzt anwendbar geworden (zur komplizierten Rechtslage vgl. Baum EuGRZ 2000 281, Grabenwarter VVDStL 60 290, 303; Grabenwarter § 3 Rdn. 9; Rivers JZ 2001 127. Chryssogonos EuR 2001 4. Zur unterschiedlichen Umsetzung der IPBPR Seihert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 391 ff. Vgl. auch Fußn. 124.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

mechanismen der Konvention unterwerfen wollten 132 . Formal sind die Gewährleistungen der Konventionen als solche aber auch dort kein materielles Verfassungsrecht, wo sie inhaltlich mit innerstaatlichen Verfassungsnormen, vor allem mit Grundrechten des Grundgesetzes, übereinstimmen 133 oder dessen Auslegung sogar mitbestimmt haben 134 . Die Konventionen verdrängen die innerstaatlichen Gewährleistungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht, sondern setzen deren Fortbestand voraus, wie Art. 53 M R K , Art. 5 Abs. 2 IPBPR belegen 135 . Als Parallelausformung allgemein anerkannter Menschenrechte nimmt der Inhalt eines Großteils ihrer Verbürgungen allerdings - zumindest was ihren Kernbereich angeht 1 3 6 - in der Bundesrepublik mittelbar am Grundrechtsschutz teil, den das Grundgesetz und die Länderverfassungen nach Maßgabe der in ihnen getroffenen jeweiligen Festlegungen gewährleisten. Die Verfassungsbeschwerde kann aber nach der vorherrschenden Meinung auch in diesen Fällen nur auf die Verletzung des Grundgesetzes bzw. der jeweiligen Landesverfassung und nicht unmittelbar allein auf die Verletzung eines Konventionsrechts gestützt werden. Durch das Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 G G wird der Wortlaut der einzelnen Verbürgungen der internationalen Menschenrechtspakte nicht unmittelbarer in das Grundgesetz inkorporiert 137 . Die Beachtung dieser Rechte wird aber insoweit überprüft, als in Verbindung mit dem einschlägigen Grundrecht ein Verstoß gegen die Auslegung eines Konventionsrechts durch den E G M R behauptet wird. Wo innerstaatlich Auslegungsund Abwägungsspielräume bestehen, kommt der Auslegung der E G M R auch innerstaatlich der Vorrang zu, sofern nicht die durch Grundgesetz und Grundrechte Dritter gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten werden 1371 . Ist ein Recht aus den Menschenrechtspakten verletzt, das nicht bereits in einem entsprechenden speziellen Grundrecht des Grundgesetzes mit enthalten ist, sondern innerstaatlich nur als einfaches Recht gilt, wäre denkbar, dies unter dem Blickwinkel eines Verstoßes gegen das „Auffanggrundrecht" des Art. 2 Abs.l G G auch verfassungsgerichtlich zu rügen, da dann ein auch innerstaatlich gesetzlich nicht gedeckter und damit gesetzwidriger Eingriff in dessen umfassenden Schutzbereich vorliegt 138 . Diesen Weg ist die Praxis allerdings bisher nicht gegangen. 41

Bei der Auslegung des Grundgesetzes, vor allem bei Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips, wird auch der jeweilige Inhalt und Entwicklungsstand der Menschenrechtskonventionen und die Rechtsprechung des

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Erst die Reform des Verfahrens der M R K durch das 11. ZP machte die Gerichtsbarkeit zwingend. Vgl. etwa JaegerlBroß Landesbericht Deutschland auf der XTT. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, EuGRZ 2004, 1 13 ff, sowie die dort (16 ff; 42 ff; 54 ff) wiedergegebenen Landesberichte zu der Rechtslage in Österreich, Schweiz und Liechtenstein. Als Auslegungshilfe ist die M R K in ihrer konkreten Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des EGMR vorrangig heranzuziehen, vgl. BVerfGE 74 258, 370; BVerfG 14.10.2004 - (NJW 2004 3407), Rdn. 61, 62; Fache EuR 2004 293, 401; ferner Grabenwarler § 3 Rdn. 6. Vgl. Meyer-Ludewig 2; FroweinIPeukeri Art. 60 MRK a. F. Zu der vor allem in Randbereichen zu findenden Einbuße an Allgemeingültigkeit, die in jeder von

nationalgeschichtlichen Lraditionen mitbestimmten Wortfassung (Positivierung) der Grundsätze liegt, vgl. Huber GedS H. Peters 38 ff. 137 Vgl. Staebe JA 1996 79; Weigend StV 2000 386. 13 '= BVerfG 14.10.2004 - (NJW 2004 3407), Rdn. 61 ff, wo diese Einschränkung der von der völkerrechtsfreundlichen Auslegung gebotenen Pflicht zur Berücksichtigung der Ansicht des E G M R aus dem Vorrang des Verfassungsrechts vor dem innerstaatlich als einfaches Bundesrecht inkorporierten Konventionsrecht hergeleitet wird. 138

Vgl. Grabemvarter VVDStL 60 290, 306; Grabenwarter § 3 Rdn. 8; Frowein ZaöRV 46 (1986) 286; Frowein FS Zeidler 11 1763, 1770; Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung (1983) 106: Limbach EuGRZ 2000 418, ferner Dreier G G Art. 2 Rdn. 41.

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Einf. IPBPR

Einführung

E G M R als Auslegungshilfe in Betracht gezogen 139 . Dies gilt grundsätzlich auch, soweit sich der Inhalt der Konventionsverbürgungen dadurch fortentwickelt 140 . Eine formale Bindung des Bundesverfassungsgerichts an die Auslegung der M R K durch den E G M R besteht aber nicht 141 . Wo im Einzelfall der Grundrechtsschutz über die Konventionen hinausreicht, gilt er ohnehin unbeeinträchtigt weiter (vgl. Art. 53 M R K ) l 4 2 . Die weitergehenden Auffassungen, die der M R K Ubergesetzesrang oder Verfassungs- 4 2 rang zuerkennen 143 , weil an ihren Regeln auch die innerstaatliche Gesetzgebung gemessen wird, oder sie trotz des Fehlens einer unmittelbaren eigenen Hoheitsgewalt des E G M R als eine der Verfassung vorgehende Rechtsordnung einer supranationalen Einrichtung im Sinne des Art. 24 G G einstufen wollen, haben sich in der Praxis nicht durchgesetzt 144 . Die Organe der M R K (Gerichtshof, Ministerkomitee des Europarats) werden als Einrichtungen der Vertragsstaaten angesehen; ihnen wurde keine eigene Hoheitsgewalt übertragen, die sie auch in den Vertragsstaaten unmittelbar ausüben können, ihre Entscheidungen entfalten in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Rechtswirkung. Deshalb lehnt die vorherrschende Meinung es ab, sie als zwischenstaatliche Einrichtung anzusehen, der in Bezug auf die Mitglied Staaten eigene Hoheitsrechte im Sinne des Art. 24 G G eingeräumt wurden; den Konventionsverbürgungen der M R K werden unter diesem Gesichtspunkt deshalb kein Rang über den nationalen Gesetzen zugebilligt 145 . c) Bei der Beurteilung des Verhältnisses zu anderem Bundesrecht ist zu beachten, daß 4 3 die Konventionen durch die Transformierung ins innerstaatliche Recht nach Art. 59 Abs. 2 G G ihren Charakter als völkerrechtliche Verträge behalten haben, die den Fortbestand des nationalen Rechts voraussetzen und dieses mit ihren Garantien nur überlagern, nicht aber ersetzen sollen. Als einfaches Bundesrecht im Gesetzesrang geht der Inhalt der Konventionen den Verordnungen des Bundes und allem Landesrecht vor. Ihren Gewährleistungen widersprechende ältere Bundesgesetze wurden mit ihrem Inkrafttreten in der Bundesrepublik schon durch ihre Änderungskraft als späteres Gesetz (lex posterior) abgeändert oder aufgehoben, soweit sie nicht durch eine vertretbare Auslegung mit ihr in Einklang gebracht werden können 146 . Soweit das Bundesrecht keine Aussagen enthielt, haben sie es ergänzt. Übereinstimmendes Bundes- und Landes-

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Für die M R K vor allem BVerfGE 70 370; BVerfG NJW 1990 2741; zur Entwicklung der Rechtsprechung bei der Auslegung des Grundgesetzes vgl. etwa Bernhardt EuGRZ 1996 339; Frimein FS Zeidler 1763; Maunz-DüriglSchmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 1 GG Rdn. 24; ferner Bryde Der Staat 42 (2003) 61, 65 ff; Kühl ZStW 100 (1988) 410; Ress FS Zeidler 1795 ff. Weigernd StY 2000 387. Zum evolutiven Charakter und dessen Grenzen vgl. Ress FS Zeidler 1774. Vgl. BVerfG 14.10.2004 2 BVR 1481/04, (NJW 2004 3407) Rdn. 37 (Rechtswirkung unterhalb des Verfassungsrechts); ferner JaegerlBroß EuGRZ 2004 1, 13. Zur Problematik GrabenwarterOYB\. 2001 1. 19 Etwa Bleckmann EuGRZ 1994 152. Eisele JR 2004 12, 13; Sommermann AöR 114 (1989) 408; Slaebe JA 1996 80; Weigend StV 2000 384, 386. Zum Meinungsstand vgl. etwa die Nachweise bei Klug GedS H. Peters (1967) 434; für Verfassungsrang (Art. 1 Abs. 2 25 GG, „ordre public

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international"); Bleckmann EuGRZ 1994 152; Frowein FS Zeidler 1764, 1770; Sternberg Der Rang von Menschenrechtsverträgen im Deutschen Recht unter besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 2 GG (1999); ferner auch Ress FS Zeidler 1775, 1790 ff; EuGRZ 1996 353; Walter ZaöRV 59 (1999) 961, insbes. 972 ff (Vorrang über Art. 24 GG); vgl. auch nachf. Fußn. 145

Vgl. Grabemvarter § 3 Rdn. 7. Zur Tendenz, der MRK über eine „Staatengemeinschaft Menschenrechtskonvention" als zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 GG Übergesetzesrang zu verleihen vgl. Ress FS Zeidler 1775, 1779, 1789 ff; Walter ZaöRV 59 (1999) 974. i4f. Vorherrschende Meinung; für die MRK etwa OLG Bremen NJW 1960 1265; OLG Düsseldorf NStZ 1985 370; 731; Echterhölter JZ 1955 689; MeyerGoßnet·47 Vorbem. 4; Kühne NJW 1971 224; v.Münch JZ 1961 153; Woesner 1961 1383. A.A v. Weber MOV. 1955 386.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

recht ist bestehen geblieben. Es hat durch sie nur zusätzliche, übernationale Rechtsschutzgarantien erhalten. Innerstaatliches Recht, das in den Freiheitsgewährleistungen über die Forderungen der Konventionen hinausreicht, wird durch sie nicht eingeschränkt (Art. 53 M R K , Art. 5 Abs. 2 IPBPR). Später erlassenes Bundesrecht ist im Lichte der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik durch die Konventionen so auszulegen, daß es mit ihnen in Einklang gebracht werden kann 1 4 7 . Es ist ohne eine ausdrückliche Aussage des Bundesgesetzgebers nicht anzunehmen, daß sich dieser mit neuem Recht über die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik hinwegsetzen wollte. Nur wenn eindeutig feststehen würde, daß der Gesetzgeber in einem späteren Bundesgesetz bewußt von der M R K oder dem IPBPR abweichen wollte 148 oder wenn er eine mit den Konventionen bei jeder Auslegung schlechthin unvereinbare Regelung erlassen würde und wenn diese dann nicht ihrerseits gegen eine im Lichte der Konventionen auszulegenden Verbürgung des Grundgesetzes 149 verstößt, würde diese einer Konventionsregelung innerstaatlich vorgehen, auch wenn dadurch eine völkervertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik verletzt werden sollte 150 . Gleiches gilt, soweit spätere völkerrechtliche Verträge mit anderen Staaten innerstaatlich Bundesrecht geworden sind 151 . 44

In dem vom Vertragsgegenstand sachlich begrenzten Rechtsraum der Europäischen Union nehmen allerdings die materiellen Verbürgungen der M R K ebenso wie die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 152 als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV) auch innerstaatlich an dessen Anwendungsvorrang teil. In seinem Anwendungsbereich, also auch bei der innerstaatlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts gehen sie deshalb allem innerstaatlichen Recht vor 153 . Insoweit greift der Vorrang späterer (nationaler) Gesetze nach der lex-posterior-Regel dann ohnehin nicht. 3. Geltung in der Europäischen Union

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a) Die Europäischen Gemeinschaften und ihre Fortentwicklung als Europäische Union sind keine Vertragsparteien der Konvention. Die vom Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung bestimmten Gemeinschaftsverträge verleihen der Gemeinschaft keine allgemeine Befugnis, Vorschriften auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes zu erlassen oder völkerrechtliche Verträge auf diesem Gebiet zu schließen. Der wiederholt

147

148

Vgl. BVerfGE 74 370; Bernhardt EuGRZ 1996 339; Echterhölter JZ 1955 689; Fruwein FS Zeidler 1763 und DÖV 1998 809. Das Harmonisierungsgebot wird aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes hergeleitet, vgl. Bleckmann DÖV 1979 309; ResslSchreuer 36 ff; Weigend StV 2000 387; Villiger HdB 58. Die damit erreichte weitgehende „Gesetzesfestigkeit" kommt im Ergebnis den Meinungen im Schrifttum nahe, die zur Einschränkung der lexposterior Regel einen Übergesetzesrang bzw. den Vorrang der Konventionsgarantien als lex specialis oder Kraft antizipierten Änderungsverzichts annehmen; vgl. etwa Ress FS Zeidler 1790; Ress in T. Maier 274 mit weit. Nachw.; ferner den Überblick bei Kühl ZStW 100 (1988) 408 mit weit. Nachw.

15,1

1,1 152

153

Vgl. östr. V F G H EuGRZ 1990 186; auch BVerfGE 74 370; Weigend StV 2000 387; zum gleichen Ergebnis kommt Villiger EuGRZ 1991 81 für die Schweiz. Vgl. auch Art. 30 WVK. Zum Verhältnis zwischen beiden vgl. Gruhenwuner § 4 Rdn. 3; Grundrechtsschutz auf Grund der allgemeinen Verfassungsüberlieferungen kann über den der MRK hinausgehen, diesen aber nicht unterschreiten; die Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten hat vor allem dort Bedeutung, wo in der M R K Garantien fehlen. Vgl. auch Rdn. 46, 48, 49. Vgl: Rdn. 42, ferner etwa Britz NVwZ 2004 373, 374; Könitz!Steinberg EuR 2003 1013 ff; Pache EuR 2001 475, 477.

14

» Herzog DÖV 1959 49; Villiger HdB 58; vgl. Rdn. 44. Stand: 1.10.2004

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Einführung

Einf. IPBPR

geforderte Beitritt zur MRK 1 5 4 würde eine Änderung der Gemeinschafts Verträge155 und auch eine Änderung der M R K voraussetzen, deren Vertragsparteien bisher nur Staaten sein können, die Mitglieder des Europarats sind (Art. 59 Abs. 1 S. 1 MRK) 1 5 6 . Gegenwärtig bestehen unmittelbare Vertragsrechte oder Vertragspflichten aus der M R K für die Gemeinschaft nicht; Rechtsakte der Gemeinschaft kann der E G M R nicht nachprüfen 1 5 7 . Auch soweit die materiellen Verbürgungen der M R K als allgemeine Quelle des Gemeinschaftsrechts nach Art. 6 Abs. 2 EUV für das Handeln der Organe der Gemeinschaft verbindlich sind (vgl. nachf. Rdn), entscheidet über deren Tragweite der EuGH (vgl. Art. 46 Buchst, d EUV), so daß die Gefahr von formal nicht zu bereinigenden Rechtsprechungsdivergenzen zwischen beiden unabhängig nebeneinander judizierenden Gerichten besteht 158 . b) Die normativen Grundrechtsverbürgungen der M R K werden als eine allgemeine 4 6 Quelle des Gemeinschaftsrechts angesehen. Als Ausprägung gemeinsamer Rechtsanschauungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind sie für die Organe der Gemeinschaft primärrechtlich verbindlich 159 . In Art. 6 Abs. 2 EUV 1 6 0 wird im Anschluß an die Feststellung, daß die Union auf die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht, ausdrücklich angesprochen, daß die Europäische Union die Grundrechte achtet, wie sie in der M R K gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben 161 . Die Organe der Gemeinschaft werden dadurch ausdrücklich auch an die in der M R K festgelegten Grundsätze gebunden 162 , die als rudimentäres Verfassungsrecht die Auslegung der in den Gemeinschaftsverträgen verankerten Grundfreiheiten mitbestimmen 1 6 3 . Soweit die Mitgliedstaaten der E U Gemeinschaftsrecht innerstaatlich unmittelbar umsetzen, nehmen die Grundrechte der M R K auch innerstaatlich am Vorrang des Gemeinschaftsrechts teil 164 . Wieweit dazu auch die Rechte aus den nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Zusatzprotokollen ge-

154

1,5

156

157

Vgl. etwa Golsong EuGRZ 1978 346; 1979 70; Vogel EuGRZ 1979 50; Rodriguez Iglesias EuGRZ 2002 206. Gutachten des EuGH EuGRZ 1996 197 ff. Vgl. ferner Memorandum der EG-Kommission zum Beitritt EuGRZ 1979 330 mit Anrn. Bieber und die Entschließung des Europ. Parlaments vom 29.10. 1982 (EuGRZ 1982 485); vgl. den Antrag Finnlands zur Kompetenzerweiterung EuGRZ 2000 572; sowie etwa Cuilewueri EuGRZ 2003 198; Grubenwarler VVDStL 60 (2001 ) 290, 325 ff; Grahemvarier § 4 Rdn. 18. Zu den verschiedenartigen Problemen eines Beitritts etwa Engel EuGRZ 2003 388; FroweinlPeukert Einl. 13; Rengelin EuR 1979 124; Rengelin DÖV 1977 409; Weber DVB1 2003 220, 225; ferner zu den Lösungsmöglichkeiten Grahemvarier §4 Rdn. 17, 18. Der Entwurf eines Verfassungsvertrags der EU sieht jetzt einen Beitritt vor; dazu etwa Callewaeri EuGRZ 2003 198; Grahemvarier EuGRZ 2004 563, 569; Pache EuR 2004 393, 413; Puffert EuGRZ 2004 466, 471 ff. Grahemvarier § 4 Rdn. 18; KrügerIPoiakiewicz EuGRZ 2001 102; Pache EuR 2004 413. EGMR 18.2.1999 Matthews/UK (NJW 1999 3107); Böse ZRP 2001 403.

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158

Vgl. Grabenwarter DVB1. 2001 3 ff; Grahemvarier §4 Rdn. 16; Krüger!Polakiewicz EuGRZ 2001 92, 98 ff; ferner nachf. Fußn. 155 Vgl. Suerhaum EuR 2003 390, 400; Grahemvarier W D S t R L 60 (2001) 290, 325; weiter Kokoii AöR 121 (1996) 599 (zu Art. F Abs. 2 des Vertrags von Maastrich). 160 Art. 6 Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam übernimmt wortgleich Art. F Abs. 2 des Vertrags von Maastrich. lr.i Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 2.10.1997 (BGBl. II 1998 S. 387), dazu Busse NIW 2000 1074; Alber EuGRZ 2001 349. 162 Vgl. Schilling EuGRZ 2000 2, 11 f, 25 ff mit Nachw. 161 Ob man deshalb ihnen schon jetzt Vorrang vor den Grundfreiheiten der Gemeinschaftsverträge zuerkennen muß oder ob sie diesen wegen des gleichen Rangs ihrer vertraglichen Rechtsgrundlage erst mit ihrer Inkorporation in die Europäische Verfassung erhalten, ist fraglich, vgl. dazu Frenz EuR 2002 603. 164 Vgl. Rdn. 44.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

hören, mag fraglich sein 165 . Als Beleg f ü r eine gemeinsame europäische Rechtstradition können sie aber wohl bei allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft herangezogen werden l 6 6 . 47

Als zusätzlichen Beleg für diese gemeinsame Rechtsüberzeugung wird jetzt vor allem auf die derzeit rechtlich nicht unmittelbar verbindliche Europäische Grundrechte-Charta verwiesen 167 . Die am 7.12.2000 in Nizza vom Rat der EU, vom Europäischen Parlament u n d der Kommission feierlich „proklamierte" Grundrechte-Charta der Europäischen Union 1 6 8 , die auf G r u n d eines Beschlusses des Europäischen Rates vom 4.6.1999 erarbeitet wurde, ist keine in Ausübung einer Rechtsetzungsbefugnis erlassene u n d deshalb nach innen und außen rechtlich verbindliche Festlegung der in ihr gewährleisteten Grundrechte 1 6 9 . Verbindlichkeit erlangt sie erst als Teil der Europäischen Verfassung, wenn diese von den Mitglied Staaten ratifiziert worden ist. Soweit in ihr Rechte enthalten sind, die den in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Grundrechten entsprechen, k o m m t diesen nach der ausdrücklichen Bestimmung in Art. 52 Abs. 3 der G r u n d r e c h t e - C h a r t a ohnehin stets die gleiche Tragweite und Bedeutung zu, die sie nach der Europäischen Menschenrechtskonvention haben 1 7 0 . Durch diese (dynamische) Verweisung werden alle der M R K entsprechenden Grundrechte der C h a r t a inhaltlich an die jeweilige Auslegung dieser Rechte in der M R K gebunden 1 7 1 , sowohl hinsichtlich der Weiterentwicklung ihrer Tragweite als auch hinsichtlich der dort vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten (vgl. etwa die Absätze 2 der Art. 8 bis 13). Einer eigenständigen Auslegung offen sind nur die Rechte aus der Grundrechte-Charta, die in der M R K und ihren Zusatzprotokollen nicht enthalten sind. Art. 53 der G r u n d r e c h t e - C h a r t a bestätigt außerdem, d a ß diese das Schutzniveau der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht einschränkt, das in den Verfassungen der Mitgliedstaaten u n d durch internationale Übereinkommen der Mitgliedstaaten a n e r k a n n t wurde 1 7 1 . D e r sachliche Anwendungsbereich der C h a r t a wird in Art. 51 Abs. 1 ausdrücklich auf die Organe u n d Einrichtungen der Union beschränkt, wobei auf die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips besonders hingewiesen wird; f ü r die Mitgliedstaaten soll die C h a r t a nur gelten, soweit sie ausschließlich das Recht der Union durchführen l 7 2 . Die Grundrechte-Charta wird also auch dann, 165

166

167

168 169

Vgl. Grabenwarter VVDStL 60 (2001) 290, 328 ff, der auf den unterschiedlichen gegenwärtigen Ratifikationsstand der Zusatzprotokolle hinweist; ferner Grabenwarter § 4, 3 (Indizwirkung für Bestehen als gemeisamer Wert). Dies gilt besonders, wenn die Staaten, die ein Zusatzprotokoll nicht ratifiziert haben, inhaltsgleiche Rechte im 1PBPR verbindlich anerkannt haben; ferner, wenn Rechte aus den Zusatzprotokollen jetzt auch in der Grundrechte-Charta aufgenommen worden sind. Vgl. etwa EuGH EuGRZ 2003 232, 238; EuG EuGRZ 2002 266; Grabenwarter VVDStL 60 (2001) 290, 343 (Bekräftigungswirkung); Grabenwarter § 4 Rdn. 10. Deutscher Text EuGRZ 2000 554. Dazu etwa AlberlWidmaier EuGRZ 2000 497; Busse EuGRZ 2002 559 ff, Magiern DÖV 2000 1017; Weber NJW 2000 537; 7.iileeg EuGRZ 2000 511 je mit zahlreichen weiteren Nachweisen des Schrifttums. Vgl. auch Meyer-Ludewig Einl. Rein. 44; Art. 1, 8, 9. Erst durch die weitgehend unveränderte Übernahme in den Teil II des am 18.6.2004 von der Regierungskonferenz in Brüssel verabschiedeten Vertragsentwurfs einer Europäischen Verfassung kann sie mit dieser Rechtsverbindlichkeit erlangen.

170

Zur Harmonisierung der EMRK mit der EUGrundrechte-Charta Callewaerl EuGRZ 2003 198; Fache EuR 2004 393. Es gilt also auch das Günstigkeitsprinzip des Art. 53 MRK. Zum Verhältnis der hier zusammentreffenden drei Günstigkeitsprinzipien im Staat-Bürgerverhältnis und bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen vgl. Grabenwarter VVDStL 60 (2001) 290, 341; Grabenwarter § 4 Rdn. 14; Weber DVB1. 2003 220, 224 ferner Einf. Rdn. 51; Anhang Rdn. 89.

171

Die dadurch unberührt bleibenden weitergehenden Rechte bestehen auch insoweit nach dem Günstigkeitsprinzip (vgl. vorst. Eußn.) in den einzelnen Mitgliedstaaten unberührt fort. Sie werden dadurch aber nicht selbst Bestandteil der europäischen Rechtsordnung; deren Anwendungsvorrang gilt für sie nicht. Vgl. Hirsch Gollwitzer-Kolloqium 81, 84; ferner Grabenwarter EuGRZ 2004 563, 564 zur unterschiedlich weiten Auslegung dieser Wendung; diese hat vor allem dafür Bedeutung, wieweit eine die Dienstleistungsfreiheit beschränkende innerstaatliche Maßnahme am Gemeinschaftsrecht zu messen ist. Zum Verhältnis der EU-Grundfreiheiten zu den Grundrechten vgl. Grabenwarter EuGRZ 2004 563, 567; Kingreen EuGRZ 2004 570, 572 ff; Ruffert EuGRZ 2004 467.

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Stand: 1.10.2004

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Einf. IPBPR

Einführung

wenn sie mit einer Europäischen Verfassung Rechtsverbindlichkeit erlangen sollte, wegen ihrer Beschränkung auf die Organe der Union und die Ausführung des Gemeinschaftsrechts weder die nationalen Grundrechtsverbürgungen in den einzelnen Mitgliedstaaten noch deren zusätzliche völkervertragliche Festlegung durch die Menschenrechtskonvention und die anderen Menschenrechtspakte aushebeln. Nur im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gelten die M R K und die Grundrechte-Charta nebeneinander; das Konkurrenzverhältnis wird aber dadurch entschärft, daß die Grundrechte-Charta insoweit die in ihr mit anderen Worten und meist vereinfacht formulierten Grundrechte in Art. 52 Abs. 3 an die (jeweilige) Auslegung der M R K und damit auch an deren Fortentwicklung durch den E G M R bindet 173 ; der mögliche Konflikt mehrerer Günstigkeitsprinzipien wird dadurch zu Gunsten des Vorrangs der M R K gelöst. Die nicht in der M R K und ihren Zusatzprotokollen enthaltenen sonstigen Verbürgungen der Grundrechte-Charta können ohnehin in ihrer Geltung von dieser nicht beeinflußt werden (vgl. Art. 53 M R K ) . Bereits frühere Erklärungen haben die gemeinsame europäische Rechtstradition der 4 7 a Bindung der Staatsgewalt durch Grundrechte zum Ausdruck gebracht, so etwa die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5.4.1977 174 sowie die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten, die das Europäische Parlament unter Berufung hierauf am 12.4.1989 verabschiedet hat und die wesentliche Verbürgungen der M R K und ihrer Zusatzprotokolle mit einschloß 175 . Solche Texte, die keine rechtliche Verpflichtung begründen, können als Bekräftigung einer gemeinsamen Überzeugung176 auch für die Auslegung der in die gleiche Richtung zielenden rechtsverbindlichen Texte der Konventionen und auch für deren Fortentwicklung mit herangezogen werden. c) Die ständige Rechtsprechung des EuGH ging bereits früher davon aus, daß die nor- 4 8 mativen Verbürgungen der M R K zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren hat „in Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den völkerrechtlichen Verträgen, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind" 177 . Verstößt das Gemeinschaftsrecht einschließlich des darauf beruhenden nationalen Rechts gegen sie, kann dies gegenüber den Organen der Europäischen Gemeinschaften, vor allem auch vor den Gerichten der Gemeinschaften, geltend gemacht werden 178 . Eine solche Entscheidung kann auch im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 234 EGV) von den Gerichten der Mitgliedstaaten herbeigeführt werden. Soweit dagegen ein Bezug zum Gemeinschaftsrecht fehlt, lehnt es der E u G H ab, Rechtsvorschriften, die in den Regelungsbereich des nationalen Gesetzgebers der Mitgliedstaaten fallen, auf ihre Vereinbarkeit mit der M R K zu überprüfen 1 7 9 . Ist der EuGH dagegen zuständig, orientiert 173

Vgl.

Grabenwarter

§ 4 Rdn.

14.

Grabenwarter

1981 257; Pernice N J W 1990 2414; Pescature E u R 1979 1; Scheuner F S Schlochauer 899/915; Schiffauer E u G R Z 1981 193; Weber JZ 1989 969; vgl. auch BVerfGE 73 339/381 (Solange TT) mit Nachw. der Rspr. des E u G H ; ferner allgemein Bieckmann Die Bindung der Europ. Gemeinschaft; Giegerieh ZaöRV 50 (1990) 836.

E u G R Z 2004 563, 566. 174

175

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177

E u G R Z 1977 157; zur rechtlichen Bedeutung Hill E u G R Z 1977 158; Bothe F S Schlochauer 766. Deutscher Text E u G R Z 1989 204; dazu Beutler E u G R Z 1989 185. Bothe F S Schlochauer 761; zur ähnlichen Bedeut u n g der Erklärungen der UN-Vollversammlung vgl. Fruwein ZaöRV 36 (1976) 149; Tomuschat ZaöRV 36 (1976) 467 ff; ferner differenzierend Frowein ZaöRV 49 (1989) 778; Ehricko N J W 1989 1906; zu der wenig glücklichen Bezeichnung als völkerrechtliches soft law Verdross!Simma § 654 ff.

17s

175

Frowein! Peukert Einf. 14 unter Hinweis auf die bisher allerdings nicht praktisch gewordene G e f a h r divergierender Entscheidungen. E u G H E u G H E 1985 2605; E u G H E u G R Z 1991 283; E u G R Z 2 0 0 2 604, 606; ferner etwa HilßCieila E u G R Z 1990 367; Pernice N J W 1990 2416.

Etwa E u G H E u G R Z 1974 3; 1987 378; 1989 395; 1991 283; zur Entwicklung Bleckmann EuGRZ

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Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

er sich bei seinen Entscheidungen über die Vereinbarkeit des Gemeinschaftshandelns mit der gemeinsamen Rechtsüberzeugung und der Verfassungstradition der Mitgliedstaaten auch an der Rechtsprechung des EGMR 1 8 0 . Dieser kann aber gegen seine Entscheidungen nicht angerufen werden 181 , so daß unterschiedliche Auffassungen über die Tragweite einzelner in der M R K verbürgten Rechte möglich sind 182 . Konventionsverstöße durch Gemeinschaftsrecht oder durch andere Maßnahmen der Organe der Gemeinschaften können grundsätzlich nur bei den Gemeinschaftsorganen, vor allem bei den Gerichten der Gemeinschaften (EuG, EuGH), geltend gemacht werden 183 . Wieweit ein Handeln der Gemeinschaftsorgane auch die eigene Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten für die Einhaltung der M R K durch diese begründen kann, erscheint noch nicht endgültig geklärt 184 . Es zeigt sich aber die Tendenz, daß die Mitgliedstaaten, die insgesamt auch Vertragsparteien der M R K sind, für Konventionsverletzungen durch die Gemeinschaftsorgane auch selbst verantwortlich sind, da sie sich ihrer Schutzpflicht 185 aus Art. 1 M R K nicht dadurch entziehen können, daß sie ihre Hoheitsbefugnisse auf eine internationale Organisation übertragen haben l 8 6 . Eine unbeschränkte Verpflichtung der einzelnen Staaten, die Beachtung der Verfahrensrechte des Art. 6 M R K durch die Europäischen Gerichte (EuG, EuGH) zu kontrollieren, wurde allerdings verneint 187 . Verstößt dagegen ein Mitgliedstaat selbst bei der Ausführung des Gemeinschaftsrechts oder bei der ihm überlassenen Umsetzung ins innerstaatliche Recht gegen die M R K , ist die betreffende M a ß n a h m e auch ihm und nicht nur der Gemeinschaft zuzurechnen. D a n n greift der Rechtsschutz der M R K stets unmittelbar ein 188 . 49

d) Gemeinschaftsverfassungsrang haben die materiellen Verbürgungen der Menschenrechtskonvention als Teil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nach Art. 6 Abs. 2 EuV nur im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Für diesen sachlich eingegrenzten Bereich sind die Grundrechte der M R K neben den unmittelbar durch die Gemeinschaftsverträge selbst garantierten Grundfreiheiten für alle Organe der Gemeinschaft und auch für die Mitgliedstaaten innerstaatlich bei Ausführung des Gemeinschaftsrechts verbindlich 189 ; sie nehmen insoweit auch an dessen Anwendungsvor-

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Vgl. Rodriguez Iglesias NJW 1999 1, 8; EuGRZ 2002 207. Vgl. KrügerlPolakiewicz EuGRZ 2001 92,94, Kokon AöR 121 (1996) 599; Lenz EuGRZ 1993 584; Pernice NJW 1990 2409. Vgl. die Beispiele bei Böse Z R P 2001 403. Zu den ähnlichen Problemen des unabhängigen Nebeneinanders zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH vgl. BVerfGE 37 271 (Solange I); 73 339 (Solange II); 89 155 (Maastrich); 102 147 (Bananenmarkt-Ordnung), ferner auch unter dem Blickwinkel einer die Grundrechte-Charta inkorporierenden Verfassung der Europäischen Union Hirsch Gollwitzer-Kolloquium 81, 84 ff. Zu den hier bestehenden Lücken im Rechtsschutz Krügerl Polakiewicz EuGRZ 2001 92, 95; vgl. oben Rdn. 48. Frowein ES Schlochauer 292. Zur Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 1 MRK als dogmatischen Anknüpfungspunkt der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten vgl. Walter AöR 129 (2004) 39, 68 ff. So E G M R 18.2.1999 Matthews/GB (NJW 1999 3107: Wahlrecht zum Europäischen Parlament in

Gibraltar), 18.2.1999 Waite, Kennedy/D (EuGRZ 1999 200); Grabemmrter W D S t L 60 (2001) 290, 329; Grahenwarter § 4, 4, 5 Pietsch ZRP 2003 4; Villiger HdB 21; 106; Walter AöR 129 (2004) 39, 54 ff; Weher DVB1 2003 220, 225; Winkler EuGRZ 2001 23). 187 vgl. FroweinlPeukert 10. 188 EGMR 15.11.1996 Cantoni/F (EuGRZ 1999 193); 18.2.1999 Mathews/GB (EuGRZ 1999 2000), Frowein!Peukert 14; ferner Krüger/Polakiewicz EuGRZ 2001 92, 96; Weher DVB1. 2003 220, 225; Winkler EuGRZ 1999 183. 18 » Vgl. EuGH NJW 2002 2935 (Anspruch auf effektiven Rechtsschutz); EuGH EuGRZ 2002 332; 2004 422 (beide zu Art. 8 MRK); ferner etwa EuGH EuGRZ 2004 415 (Auswirkung der Freizügigkeit auf innerstaatliche Pfändungsfreigrenzen); weitere Nachweise bei Suerhaum EuR 2003 390, 400; vgl. ferner Britz NVwZ 2004 173, 174; Bleckmann EuGRZ 1994 149; Magiern DÖV 2000 1016; Fache EuR 2001 475; zur Problematik ferner Ruffert EuGRZ 1995 518, 527 und Rdn. 49.

Stand: 1.10.2004

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Einf. IPBPR

Einführung

rang teil. Verstoßen die Mitgliedstaaten bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts gegen die M R K , verletzen sie Gemeinschaftsrecht, so daß insoweit der Rechtsweg zu den Gerichten der Gemeinschaft gegeben ist 190 . Der EU-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten darüber hinaus, die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, wie etwa die Niederlassungsfreiheit oder die Warenverkehrsfreiheit, auch innerstaatlich zu gewährleisten. Für deren Tragweite und auch für deren Schranken können auch Rechte maßgebend sein, die in den europäischen Grundrechten, vor allem also in der M R K wurzeln 191 . Da diese Grundfreiheiten in ihrem Anwendungsbereich auch die jeweils einschlägigen Freiheitsverbürgungen der Konvention mit umfassen, stellt sich die Frage, ob diese dann mit Anwendungsvorrang in das nationale Recht auch insoweit hineinwirken, als dieses im Anwendungsbereich der Gemeinschaftsfreiheiten eigene Regelungen trifft. Dies hätte zur Folge, daß im weiten Geltungsraum dieser binnenmarktbezogenen Freiheiten der E u G H das einschlägige nationale Recht auch daraufhin überprüfen kann, ob es mit den Gewährleistungen der M R K vereinbar ist. Der EuGH vertritt in einigen Entscheidungen diese Ansicht 192 , die im Anwendungsbereich der Gemeinschaftsfreiheiten auch die Beachtung der Rechte aus der M R K im nationalen Recht einer zusätzlichen Kontrolle durch den EuGH unterwirft. Für andere Sachgebiete gilt dies ebenfalls, so für die mit dem Schutzbereich des Art. 8 M R K korrespondierende Datenschutzrichtlinie 1922 und auch für die Ausdehnung der Rechte aus der Unionsbürgschaft in Verbindung mit den Gleichheitsgrundrechten 193 . Gegen diese Kompetenzausweitung werden im Schrifttum Bedenken erhoben 1 9 4 . Eine Überschneidung tritt auch dort ein, wo Rechtssätze des Gemeinschaftsrechts als Teil der im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Rechtsordnung zu den „gesetzlich vorgesehenen" Maßnahmen gehören können, welche die Tragweite 195 eines Konventionsrechts bestimmen. Die Zulässigkeit und Angemessenheit solcher Ausübungsschranken ist grundsätzlich im gleichen Umfang wie beim rein nationalen Recht der Prüfung des E G M R unterstellt. Eine eingehende Erörterung dieser Fragen ist im Rahmen dieser Kommentierung nicht möglich. 4. Für das Verhältnis zwischen dem IPBPR und den Europäischen Gemeinschaften 5 0 gelten weitgehend ähnliche Grundsätze 1 9 6 . Die Europäischen Gemeinschaften als solche sind keine Vertragspartei dieses Paktes. Soweit dessen materielle Verbürgungen mit denen der M R K inhaltlich übereinstimmen, ist deren Beachtung aber mittelbar über Art. 6 Abs. 2 E U V mitgesichert. Im übrigen bleiben für die Erfüllung der sich aus diesem Pakt ergebenden Verpflichtungen die Mitgliedstaaten auch in den Bereichen verant-

™ Zur Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 2 EGV Britz NVwZ 2004 173, 174. i9i Wegen der verschiedenen Lösungsansätze vgl. KadelbachlPetersen EuGRZ 2003 694 zu EuGH 12.6. 2003 EuGRZ 2003 491 (Brenner-Blockade). Vgl. ferner EuGH N V w Z Beil. I 2002 105 (Carpenter). m E u G H NVwZ 1993 261; EuGRZ 2002 332 (Carpenter: Art. 8 M R K Prüfungsmaßstab), dazu Mager JZ 2003 204; Pulli EuR 2002 860, 867 (auch zu den Unterschieden der einzelnen Entscheidungen); ferner EuGRZ 2002 519 (Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger) und nachfolg. Fußnoten. ' « · Vgl. EuGH EuGRZ 2003 232 (Carpenter); dazu Hüffen EuGRZ 2004 466; vgl. ferner vorsteh. Fußn. 193

E u G H EuGRZ 1998 591, 600; 2000 596; 2001 492; dazu Könitz!Steinberg EuR 2003 113 (insbes. auch

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zum Gleichheitsgebot des Art. 12 EGV); Rossi JZ 2002 351; ferner Hailbronner NJW 2004 2185; auch die Diskriminierungsverbote des Art. 13 EGV führten zu weit in das nationale Recht hineinwirkenden Gleichstellungsrichtlinien der EU. 154

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Britz N V Z 2004 173, 177; Mager JZ 2003 304; RufJen EuGRZ 2004 466. Grubenwurter § 4 Rdn. 8 verweist auf den Ausländerbegriff des § 16 M R K , der dahin zu verstehen ist, daß zumindest bei Wahlen zum Europaparlament seine Einschränkungsmöglichkeiten bei Bürgern der E U nicht Platz greifen. Nach Art. 53 der Europäischen Grundrechte-Charta wird das Schutzniveau dieses Paktes, dem wohl alle Mitgliedstaaten der EU beigetreten sind, nicht eingeschränkt.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wortlich, in denen sie den Gemeinschaftsorganen der E U Regelungsbefugnisse übertragen haben 197 . 51

5. Verhältnis zwischen MRK und IPBPR. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die den Vertragsstaaten aus beiden Konventionen erwachsen, sind auch dort miteinander vereinbar, wo die Vertragstexte in ihrem materiellen Menschenrechtsteil unterschiedlich weitgehende Verpflichtungen begründen. Beide Verträge sehen im Interesse des bestmöglichsten Menschenrechtsschutzes vor, daß sie jeweils weitergehende Gewährleistungen des nationalen oder internationalen Rechts in ihrer Wirksamkeit unberührt lassen (Art. 53 M R K , Art. 5 Abs. 2 IPBPR). Wo die Konventionsverpflichtungen unmittelbar innerstaatliches Recht geworden sind, können die Rechtsunterworfenen innerstaatlich beanspruchen, jeweils nach der für sie günstigsten Norm behandelt zu werden 198 . Diese wird dadurch aber nicht zugleich Bestandteil des Vertragssystems, das sie nicht garantiert. Die Organe der M R K können zum Beispiel nicht angerufen werden, wenn ein Recht mißachtet wurde, das nicht in ihr, sondern nur im nationalen Recht oder nur im IPBPR garantiert wird. Gleiches gilt für die Organe des IPBPR. Soweit die gleichen Menschenrechte im nationalen Recht und in den beiden Pakten garantiert sind, gelten die Garantien nebeneinander. Für den Rechtsschutz räumt Art. 55 M R K den Rechtsbehelfen der M R K insoweit den Vorrang ein, als sich die Mitgliedstaaten verpflichten, keinen Gebrauch von zwischen ihnen geltenden Verträgen zu machen, um von sich aus einen Streit um die Auslegung oder Anwendung der M R K einem anderen als dem in der Konvention vorgesehenen Verfahren zu unterwerfen. Das Kumulationsverbot des Art. 35 Abs. 2 Buchst, b M R K schließt die Behandlung einer Individualbeschwerde nach Art. 34 M R K durch den E G M R aus, wenn deren wesentlicher Inhalt bereits einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Ausgleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen vorgetragen werden 199 . Dieselbe Sache liegt aber nur vor, wenn sie denselben Anspruch bezüglich derselben Einzelperson betrifft 200 . Nach Art. 5 Abs. 2 Buchst, a des 1. Fakultativprotokolls zum IPBPR wird dagegen die Behandlung der Individualbeschwerde nur solange aufgeschoben, als dieselbe Sache vor einer anderen internationalen Instanz geprüft wird; nach Abschluß dieser Prüfung kann sich der U N A M R damit befassen. Dies gilt auch für die von der E M R K und dem E G M R behandelten Sachen, die damit einer doppelten internationalen Überprüfung unterliegen könnten. U m dies zu vermeiden und um den Vorrang des einen effektiveren Rechtsschutz gewährenden gerichtlichen Verfahrens der M R K (Art. 55 M R K ) nicht zu gefährden, sind entsprechend der Resolution (70) 17 des Ministerkomitees des Europarats 201 mehrere Mitgliedstaaten der M R K dem Fakultativprotokoll zum IPBPR zunächst überhaupt nicht beigetreten oder haben entsprechende Vorbehalte erklärt 202 , wie jetzt auch die Bundesrepublik bei ihrem Beitritt. Soweit allerdings Staaten Zusatzprotokolle zur M R K , die Rechte aus dem IPBPR wiederholen, nicht ratifiziert haben, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland das 7. ZP, steht das Kumulationsverbot des Art. 35 Abs. 2

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Es bestehen hier die gleichen Probleme wie bei der MRK, vgl. oben Rdn. 48. Hissen ZaöRV 30 (1970) 14; Nowak Art. 5 IPBPR, 14; vgl. Art. 53 MRK; wenn diese Regel nicht im Verhältnis zum Staat, sondern zwischen einander gleichstehenden Rechtsträgern angewendet werden soll, versagt sie, vgl. (Irabenwarler VVDStR 60 (2001) 290. Vgl. allgemein zum Kumulationsverbot Hrmacora FS Verosta 187 und Anhang Rdn. 45 ff.

™ Etwa UN-AMR EuGRZ 1983 407 zu Art. 5 Abs. 2a FP. Vgl. Anhang Rdn. 87. Resolution (70) 17 des Ministerkomitees des Europarates vom 15.5.1970 (deutsche Übersetzung Simma! Hastenrath Nr. 38). 2112 Nowak F P Art. 5, 15 ff; Nowak EuGRZ 1981 514; und zum Vorbehalt Norwegens UN-AMR EuGRZ 1986 4.

201

Stand: 1.10.2004

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Einf. IPBPR

Einführung

Buchst, b der Anrufung des Ausschusses nach dem 1.Fakultativprotokoll zum IPBPR nicht entgegen.

III. Auslegung 1. Allgemein. Die Auslegung der Konventionen hat davon auszugehen, daß diese - 5 2 ungeachtet ihrer Transformation ins innerstaatliche Recht - völkerrechtliche Verträge geblieben sind. Primär finden daher die Grundsätze der völkerrechtlichen Vertragsauslegung, also auch die Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention, Anwendung 2 0 3 . Nach Art. 31 Abs. 3 Buchst, c dieser Konvention sind dabei auch die maßgeblichen völkerrechtlichen Regelungen, die zwischen den beteiligten Staaten anwendbar sind, in Betracht zu ziehen 204 . Die Konventionen, die selbst Völkerrecht sind, müssen in Einklang mit den anderen Grundsätzen des Völkerrechts ausgelegt werden, einschließlich denjenigen über die Immunität der Staaten und ihrer Vertreter 205 . Wie bei anderen multilateralen, zum Beitritt offenen, rechtssetzenden Konventionen, die nicht wechselseitige Interessen zwischen zwei oder mehreren Staaten regeln sondern einen gemeinsamen übernationalen Schutzzweck verfolgen, ist diese gemeinsame Zielsetzung zugleich Richtmaß für die Auslegung der Konventionsbestimmungen 206 . Deren Bedeutung ist unter Berücksichtigung ihres üblichen Wortsinnes der maßgebenden Vertragssprachen und des Gesamtzusammenhangs des Vertragstextes im Lichte ihres Gegenstandes und Zweckes zu ermitteln (vgl. Art. 31 WVK) 2 0 7 . Bei Zweifel hinsichtlich des Umfangs der eingegangenen Vertragspflichten sind diese aber grundsätzlich nicht wie bei zweiseitigen Staatsverträgen, die Interessen der beteiligten Staaten regeln, auf das Minimum des mit Sicherheit von allen Vertragsschließenden Gewollten zu reduzieren 208 . Die Notwendigkeit eines vernünftigen, nicht am Wortsinn oder an nationalen Rechtsbegriffen gefesselten zweckbezogenen Verständnisses der Konventionsverpflichtungen hat auch Vorrang vor dem Grundsatz völkerrechtlicher Vertragsauslegung, wonach im Zweifel diejenige Auslegung zu wählen ist, die die Handlungsfreiheit der vertragsschließenden Staaten am wenigsten einschränkt 209 . Dies widerspräche dem Verständnis der Konventionen als

2113

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205

2116

Η. M, etwa E G M R 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 457); und instruktiv E G M R 29. 5. 1986 Deumeland/D (EuGRZ 1988 20 Sondervoten); 18.12.1996 Loizdou/Türk (EuGRZ 1997 555); 6.2.2003 Mamatkulow, Azkarow/Türk (EuGRZ 2003 704); Nowak Einf. 15; Scheuner FS Schlochauer 899/904; v. Weber ZStW 65 (1953) 335. E G M R 21.2.1975 Golder/GB (EuGRZ 1975 93); 18.12.1986 Johnson/Irl (EuGRZ 1986 313); 18.12. 1996 Loizdou/Türk (EuGRZ 1997 555); 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech/D (NJW 2004 273). E G M R 21.11.2001 Al-Adsani/GB (EuGRZ 2002 403); 21.11.2001 Fogarty/GB (EuGRZ 2002 411); McElhinney/lrl (EuGRZ 2002 416); zu allen Maierhof er EuGRZ 2002 391; ferner etwa 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech/D (NJW 2004 273); 6.2. 2003 Mamatkulow, Azkarow/Türk (EuGRZ 2003 704). Bryde Der Staat 42 (2003) 61, 64. Echlerhöller JZ 1956 142 stellt für die Auslegung folgende Rangfolge auf: Gesamtinhalt und Zweck der Konvention

(125)

unter Berücksichtigung der anderen Menschenrechtsverbürgungen, Auslegungsregeln des Völkerrechts, allen Vertragsstaaten gemeinsame Auslegungsregeln, wenn eine Vorschrift offensichtlich einem bestimmten Rechtskreis entnommen ist, dessen Verständnis, und dann erst der Wortlaut. Gegen eine starre Rangfolge zu Recht Guradze Einl. § 11 11 mit weit. Nachw. 207

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Vgl. etwa EGMR 21.2.1975 Golder/GB (EuGRZ 1975 93); 18.12.1986 Johnston/Irl (EuGRZ 1986 313); Grabemvarter § 5 Rdn. 4; Nowak 18; ferner unten Rdn. 33 ff. Der These, daß die Auslegung die Linie des Einverständnisses der Staaten nicht überschreiten dürfe, sind die Straßburger Organe nicht gefolgt, vgl. Scheuner FS Schlochauer 902; gegen die Anwendung der „in dubio mitius Regel" bei der MRK auch Breuer EuGRZ 2003 449 (Anm. zu EGMR 12.3.2003 Öcalan/Türk); vgl. andererseits aber EuGH EuR 1970 39 (Stauder). Vgl. oben Rdn. 28.

Walter Gollwitzer

MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

rechtssetzendes objektives Regelwerk z u m internationalen Grundrechtsschutz und auch ihrem Integrationsziel 2 1 0 . 53

Abzulehnen ist die Auffassung, die M R K sei, wenn irgend möglich, so auszulegen, d a ß ihre Gewährleistungen mit den bestehenden nationalen Vorschriften übereinstimmt 2 1 1 . Trotz weitgehend einheitlicher G r u n d a n s c h a u u n g e n weisen die in den Mitgliedstaaten historisch gewachsenen Rechtsinstitute in den Einzelheiten oft erhebliche Unterschiede auf 2 1 2 . Bei der Vielzahl der Mitgliedstaaten wäre eine solche Auslegung weder praktikabel noch würde sie der Zielsetzung der Konvention u n d der mit ihr erstrebten Kollektivgarantie eines einheitlichen Mindeststandards an Menschenrechten gerecht. Die am Schutzziel orientierte autonome Auslegung der Begriffe der Konventionen ist auch deswegen unerläßlich, weil die Konventionen kein einheitliches Recht in den Mitgliedstaaten fordern, sondern davon ausgehen, d a ß den Mitglied Staaten zur Verwirklichung ihrer Garantien verschiedene Lösungsmöglichkeiten offen stehen. M a ß gebend f ü r die Auslegung ist vielmehr der mit den Konventionen gemeinsam verfolgte Zweck, die in ihnen anerkannten Menschenrechte u n d Grundfreiheiten in allen Vertragsstaaten voll zur Entfaltung zu bringen. Bei Ermittlung des objektiven Inhalts der einzelnen Rechte und Grundfreiheiten ist deshalb neben ihrem historischen Gehalt vor allem ihr Z u s a m m e n h a n g mit der allgemeinen Fortentwicklung dieser Rechte in den Vertragsstaaten und allgemein in der Völkergemeinschaft in Betracht zu ziehen.

53a

Die Praxis der Europäischen Konventionsorgane verstand die Konvention auch früher schon als lebendes Instrument („living instrument"), das sich fortentwickelt u n d nicht unabhängig von den jeweiligen Zeitumständen interpretiert werden darf 2 1 3 . Die Entscheidungen der Konventionsorgane waren u n d sind grundsätzlich einzelfallbezogen, sie sollen aber auch dazu dienen, an H a n d der entschiedenen Fälle die Bestimmungen der Konventionen zu verdeutlichen und fortzuentwickeln 2 1 4 . 2. Einzelne Gesichtspunkte

54

a) Wortlaut. D e r im Bundesgesetzblatt veröffentlichte deutsche Wortlaut ist nur eine Übersetzung der fremdsprachigen Vertragstexte, die f ü r die Auslegung allein maßgebend sind (vgl. Art. 33 WVK). Bei der M R K wurde die alte deutsche Übersetzung von 1952, die dem Sinn einzelner Bestimmungen nicht immer voll gerecht wurde 2 1 5 , jetzt in einer mit den anderen deutschsprachigen Ländern abgestimmten sprachlichen Überarbeitung unter dem 17.5.2002 im BGBl. II neu bekannt gemacht 2 1 6 . Maßgebend sind aber gleichrangig bei der M R K nur der englische und französische Wortlaut (Art. 66 M R K ) ; beim IPBPR der chinesische, englische, französische, russische u n d spanische Wortlaut (Art. 53 Abs. 1 IPBPR) 2 1 7 . Die internationalen Organe und die Staaten als Parteien der

Guradze E i n l . § 11 II 4; Herzog A ö R 86 (1961) 200. Z u r I n t e g r a t i o n s f u n k t i o n d e r M R K u n d i h r e m Ziel, einen M i n d e s t s t a n d a r d u n a b h ä n g i g v o m nationalen R e c h t kollektiv zu g a r a n t i e r e n , s c h o n Partsch 86. S o Bockelmann F S E n g i s c h 464; Meyer-Goßner47 V o r b e m . 5; D. Meyer N J W 1974 1175; v. Weber Z S t W 65 (1954) 344; Mailil J R 1965 167; d a g e g e n etwa Guradze E i n l . § 11; Herzog A ö R 8 6 (1961) 198. D i e v o n d e r K o m m i s s i o n u n d v o m G e r i c h t s h o f beh a n d e l t e n F ä l l e zeigen diese U n t e r s c h i e d e sehr d e u t l i c h ; vgl. a u c h Bleckmann DVB1. 1978 457. E G M R 2 5 . 4 . 1 9 7 8 T y r e r / G B ( E u G R Z 1979 162); 1 3 . 5 . 1 9 8 0 Artico/T ( E u G R Z 1980 662); 7 . 7 . 1 9 8 9

Stand:

S o e r i n g / G B ( N I W 1990 2183); vgl. Einf. 7.

FroweinlPeuken

E G M R E u G R Z 1979 149 ( N o r d i r l a n d f ä l l e ) m i t A n m . Bleckmann E u G R Z 1979 188. Z u r M R K Partsch 84; Ulsamer F S Z e i d l e r 1812 f; Beispiele e t w a Bockelmann F S E n g i s c h 456. B e k . v o n 1 7 . 5 . 2 0 0 2 B G B l . II S. 1054. Z u m I P B P R : Nowak Einf. 17 m i t H i n w e i s a u f die m i t B G B l . II 1973 S. 1533 n i c h t völlig ü b e r e i n s t i m m e n d e n d e u t s c h e n Ü b e r s e t z u n g e n in Ö s t e r r e i c h u n d d e r D D R . Bei d e n E r l ä u t e r u n g e n d e r e i n z e l n e n A r t i k e l f i n d e n sich Beispiele.

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Einf. IPBPR

Einführung

Verträge gehen daher vom Wortlaut der Vertragssprachen aus 218 , wobei nach Art. 33 Abs. 3 WVK vermutet wird, daß die Begriffe in allen authentischen Texten die gleiche Bedeutung haben 219 . Auch die innerstaatlichen Organe müssen in Zweifelsfällen auf den fremdsprachigen Wortlaut der Vertragstexte zurückgreifen. Selbst wenn der Bundesgesetzgeber durch die Ratifikationsgesetze die ihm mit vorliegende deutsche Übersetzung gebilligt haben sollte 220 , transformiert ins nationale Recht wurde bei den Konventionen jeweils der völkerrechtliche Vertrag einschließlich der jeweiligen Schlußklausel, durch die auch innerstaatlich der mitverkündete fremdsprachige Wortlaut für maßgeblich erklärt wurde 221 . Etwas anderes wäre schon deswegen nicht sinnvoll gewesen, weil der Bundesgesetzgeber sonst seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Konvention mitunter nicht voll entsprochen hätte. Bei Differenzen des Wortlauts der Vertragssprachen ist nicht der weniger verpflich- 5 5 tende zugrunde zu legen. Unter Berücksichtigung der Zielsetzungen der Konventionen ist die Bedeutung zu ermitteln, die die verschiedensprachigen Texte am besten miteinander in Einklang bringt (harmonisierende Auslegung) 222 . Führt dies zu keinem eindeutigen Ergebnis, ist die Auslegung zu wählen, die mit Ziel und Zweck des Vertrages am besten vereinbar ist 223 . Im allgemeinen wird bei Verträgen versucht, den Sinngehalt aus der bei der Abfassung der Entwürfe verwendeten Arbeitssprache zu ermitteln. Bei der M R K führt dies mitunter nicht weiter, da Englisch und Französisch gleichermaßen als Arbeitssprache dienten 224 . Im übrigen kann auch der maßgebende Wortlaut nur erste Anhaltspunkte für die Auslegung geben. Gleiches gilt für die nationalen Rechtsbegriffe und -systeme. Auch soweit diese die Ausarbeitung der Vertragstexte mitbeeinflußt haben, müssen die Konventionsrechte inhaltlich nicht notwendig den gleichen Sinn wie im jeweiligen nationalen Recht haben. D a eine international einheitliche Rechtssprache fehlt 225 , muß die Tragweite jeder einzelnen Konventionsverbürgung aus sich selbst heraus ermittelt werden. Aus diesen Gründen greift eine von den Vorstellungen der nationalen Rechte gelöste autonome Auslegung der in den Konventionen verwendeten Begriffe Platz 226 . Anders läßt sich das Ziel der Konventionen, in allen Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Rechtssystemen einen einheitlichen Mindeststandard zu garantieren, gar nicht erreichen. Auch wo der Wortlaut der Übersetzung Begriffe aus der deutschen Rechtssprache verwendet, darf dies nicht vergessen lassen, daß es sich um transformiertes Völkervertragsrecht handelt und daß es irreführend sein kann, sie mit gleichlautenden innerdeutschen Begriffen gleichzusetzen oder gar aus der innerdeutschen Dogmatik hergeleitete Schlußfolgerungen daran zu knüpfen 2 2 7 .

Vgl. Maischer EuGRZ 1982 489; Pansch 84 (mit Hinweis auf eine Entscheidung der Kommission); Grabemvarter § 5 Rdn. 2. Grabemvarter § 5 Rdn. 3; Nowak Einf. 18. Guradzc Einl. § 11; Bockeimunn ES Engisch 464; Echterhöllei- JZ 1956 143; Herzog JZ 1966 657; Meyer-Goßner47 5; Vorbem. 5; Lenckner GA 1968 6; Partsch 83; Ulsamer ES Zeidler 1813; a.A Krüger NJW 1970 1485; Woesner NJW 1961 1383; ob auch BGHZ 45 68 sich selbst der dort wiedergegebenen Meinung anschließen wollte, mag offen bleiben, da der BGH auf den Wortlaut kein entscheidendes Gewicht legte. Grabemvarter § 5 Rdn. 2; Guradzc Einl. § 11, 1; Partsch 84. Der Ansicht, dort sei nur der Gleichrang zwischen den Vertragssprachen geregelt wor(127)

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227

den (Kruger NJW 1970 1483), kann nicht gefolgt werden. Etwa Grabemvarter § 5 Rdn. 4. Art. 33 Abs. 4 WVK; Nowak Einf. 17. Vgl. etwa E G M R 27. 6.1989 Wemhoff/D (JR 1968 463); 9.2. 1967 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298); Grabenwarter § 5 Rdn. 4 („Auffangregel"). Partsch83. Meyer-Goßner47 Vorbem. 5; Mattil JR 1965 167; D. Meyer NJW 1974 1175; v. Weber ZStW 65 (1953) 344. Η. M; etwa Ganshof van der Meerseh EuGRZ 1981 488; Ulsamer FS Zeidler 1813; die Rechtspr. der Organe der M R K ist bei den einzelnen Begriffen nachgewiesen. Vgl. Ulsamer FS Zeidler 1812.

Walter Gollwitzer

MRK Einf. 56

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

b) Die Entstehungsgeschichte kann gelegentlich erhellen, was die am Entwurf der Konvention beteiligten Staaten damals mit der Regelung bezweckt haben 228 und wie sie eine Bestimmung verstanden wissen wollten. Als zusätzliches Auslegungsmittel hat sie aber entsprechend Art. 32 W V K nur dann Gewicht, wenn sie das Auslegungsergebnis nach Art. 31 WVK bestätigt oder wenn die Auslegung nach Wortlaut, Ziel und Zweck zu keinem eindeutigen oder zu einem unvernünftigen Ergebnis führen würde. Bei einem genügend klaren Text hat der E G M R den Rückgriff auf die Materialien abgelehnt 229 . Bei einer Konvention, die als ein sich fortentwickelndes, lebendiges Regelsystem zur effektiven Gewährleistung der Menschenrechte verstanden wird, treten außerdem die aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Vorstellungen bei dem viele Jahre zurückliegenden Vertragsschluß hinter diese objektive Zielsetzung 230 und die ständige Praxis bei der Anwendung in den Vertragsstaaten und in der Spruchpraxis der internationalen Vertragsorgane und Gerichte zurück 231 . Die später den Konventionen beitretenden Staaten haben deren Verbürgungen ohnehin mit dem Inhalt übernommen, den dieser durch die Spruchpraxis ihrer Organe, insbesondere des Gerichtshofs, erhalten hat. Demgegenüber sind für sie die Details der Entstehung, an der sie nicht beteiligt waren und die ihnen beim Beitritt möglicherweise nur begrenzt zugänglich waren, ungeachtet ihrer grundsätzlichen Verbindlichkeit 232 von nachrangiger Bedeutung 233 . Obwohl die Vertragsparteien der M R K weit über die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinausreichen, können selbst Entwicklungen des Gemeinschaftsrechts der E U die Auslegung der M R K faktisch mitbeeinflussen 234 . c) Vorrang der teleologischen, die Wirksamkeit im Einzelfall sichernden Auslegung

57

aa) Das gemeinsame, übernationale Ziel, die Menschenrechte in den Vertragsstaaten wirksam zu schützen und ihre Verwirklichung zu fördern, bestimmt entsprechend dem Charakter dieser Verträge als rechtssetzende Konventionen maßgeblich deren Auslegung. Die Konventionen setzen die Tradition der Kodifizierung der Menschenrechte fort. Der Sinngehalt, den diese Freiheitsrechte in ihrer Jahrhunderte alten, wenn auch von nationalen Besonderheiten der einzelnen Staaten mitbestimmten Entwicklung 235 erhalten haben, hat das Vorverständnis geprägt, das Gegenstand und Inhalt der Kodifizierungen war und oft auch die Wortwahl bei der Abfassung der einzelnen Garantien bestimmte. Zweck der Kodifikationen ist die staatenübergreifende bessere Verwirklichung und praktische Durchsetzung der in ihnen umrissenen Menschenrechte und damit auch ihre Weiterentwicklung. Dies heben die Präambeln hervor, deren Aussagen und Zielvorstellungen nach Art. 31 WVK als Vertragsbestandteil zur Auslegung heranziehbar sind 236 . Zusammen mit Sinn und Schutzzweck der jeweiligen Garantie führt dies zu einer Auslegung, die sich weniger an dem oft unscharfen und unvollständigen Vertragswortlaut und den dort nicht notwendig stets mit gleichem Inhalt verwendeten Rechtsbe-

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Bei MRK vgl. etwa die Auslegung des Art. 1; ferner EGMR EuGRZ 1986 313 (kein Recht auf Scheidung); ferner Partsch 87 ff (Bedeutung für Aufhellung logischer Widersprüche des Wortlauts). Beim 1PBPR vgl. zur Heranziehung der travaux preparatories Hofinann Einf. S. 23; Nowak Einf. 19. Etwa EGMR 1.7.1961 Lawless/Irl (Series A 1); dazu Partsch 87. Vgl. etwa Khul ZaöRV 30 (1970) 280. Auch wenn es keine Institution zur Sicherung der Einheit der Rechtsprechung ähnlich Art. 177 EGV gibt, vgl. Scheuner FS Schlochauer 904.

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Etwa Grabenwarter § 5 Rdn. 5. Vgl. Partsch 87; Verdross!Simma § 779 Fußn. 8. 254 Vgl. die Beispiele bei Grabenwarter VVDStL 60 (2001) 290, 336; insbes. EGMR 8.12.1999 Pelle grin/F (ÖJZ 2000 695 - funktionelle Abgrenzung des öffentlichen Dienstes bei Auslegung der zivilrechtlichen Streitigkeiten nach Art. 6 Abs. 1 MRK). 235 lluber GedS H. Peters (1967) 375, 378 ff; vgl. Grabenwarter VVDStL 60 (2001) 290, 344 (Interpretationsansatz wie bei nationalen Verfassungen statt völkerrechtlicher Vertragsauslegung). 236 vgl. Präambel Rdn. 4 ff. 233

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Einf. IPBPR

Einführung

griffen 237 orientiert als an dem von der allgemeinen Zielsetzung her meist eindeutigen Zweck der jeweiligen Menschenrechtsverbürgung. Die Zielsetzung der Konventionen sind so auszulegen, daß der erstrebte Menschenrechtsschutz in dem zu entscheidenden Einzelfall unter den zur Zeit der Anwendung gegebenen örtlichen und personellen Umständen („present day conditions") nicht leerläuft, sondern im größtmöglichen Umfang praktische Wirklichkeit erlangt. Dies erfordert auch, daß dabei auch den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen und Anschauungen Rechnung getragen wird 238 . bb) Die praktischen Erfordernisse eines wirksamen Menschenrechtsschutzes verlangen 5 8 eine Auslegung, die den Konventionsverbürgungen unter den gegenwärtigen Bedingungen größtmögliche Wirksamkeit verleiht („effet utile"), denn garantiert werden konkrete und effektive Rechte, nicht theoretische und illusorische 239 . Die wirksame und vernünftige Durchsetzung eines Konventionsrechts in dem zur Entscheidung anstehenden Einzelfall hat dabei stärkeres Gewicht als begriffsjuristisch scharf trennende, systematische, theoretische und dogmatische Überlegungen 240 , die gelegentlich vom E G M R ausdrücklich dahingestellt werden 241 . Bei dem mitunter wenig bestimmten und sichere juristische Konturen vermissen lassenden Wortlaut der Konventionen führen abstrakte rechtstheoretische Überlegungen ohnehin kaum weiter. Eine am nationalen Recht entwickelte Dogmatik wäre bei der Vielzahl der von den Konventionen umfaßten unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen zur Erarbeitung allgemeingültiger Lösungen ungeeignet. Eine vernünftige und praktikable 242 Interpretation der Garantien, die deren Reichweite im Hinblick auf die konkreten Gegenwartserfordernisse des von den Konventionen erstrebten effektiven Menschenrechtsschutzes bestimmt, kann im übrigen auf die durch die historische Entwicklung tradierte grundsätzliche Zielsetzung dieser Rechte und Freiheiten zurückgreifen und damit zumindest für deren Kernbereich auch ihre gegenwartsbezogenen Inhalte hinreichend deutlich festlegen. Als maßgebende Kriterien für die dafür erforderliche Wertung werden vielfach auch die Üblichkeit und Vereinbarkeit einer Maßnahme mit der allerdings nur von der M R K vorausgesetzten freien demokratischen Staatsordnung angeführt 2 4 3 , ferner der eng damit verbundene Grundsatz in dubio pro liberatate 244 und vor allem der alles staatliche Handeln im Menschenrechtsbereich begrenzende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

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240

Ulsamer FS Zeidler 1813; zum unterschiedlichen Begriff „Gericht" vgl. Art. 5 M R K Rdn. 39; 107; 121; Art. 6 M R K Rdn. 49. Vgl. Grabenwarter § 5 Rdn. 14 ff; Greife ZaöRV 61 (2001) 459, 467 je mit weit. Nachw. Zu der Auslegung nach dem ..eilet utile" und deren Zusammenhang mit der teleologischen Auslegung vgl. etwa E G M R 23.7.1968 Belg.Sprachenfall (Series A 6); 28.11.1978 Luedicke u.a./D (EuGRZ 1979 34); 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 9.10.1979 Airey/Irl (EuGRZ 1979 626); 13. 5. 1980 Artico/I (EuGRZ 1980 664); EKMR 1991 259: Ganshof van der Meersch EuGRZ 1978 42 mit Nachw. der Rspr. des EGMR; Grabenwarter § 5 Rdn. 16; Meyer-Lüdewig Einl. 32; Treehsel EuGRZ 1987 71; ferner auch Guradze Einl. § 11 11 1 („vernünftiges Ergebnis, das Vertragszweck effektiv macht"); Partsch 86; Villiger HdB 155; vgl. unten Rdn. 61 ff. Etwa E G M R 13.5.1980 Artico/1 (EuGRZ 1980 662); Ganshof van der Meersch EuGRZ 1978 42 mit weit. Nachw.; Treehsel EuGRZ 1987 71. Zum prak-

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242

242

244

tischen Vorrang der kasuistischen Rechtsprechung bei der Umsetzung eines unscharfen Wortlauts, wobei erst später als zweiter Schritt eine Systematisierung folgen kann, vgl. Bleckmann EuGRZ 1981 257. So beispielsweise der Gerichtsbegriff, vgl. Rdn. 33; Art. 6 M R K Rdn. 49 mit Nachw. Zu dem vor allem im angelsächsischen Rechtsbereich entwickelten Grundsatz der „vernünftigen Auslegung" („rule of reason") vgl. etwa lichterhölter JZ 1956 142; Guardze Einl. § 11, II 1; Khol ZaöRV 30 (1970) 282 („reasonableness and practicability"). Vgl. etwa die ausdrückliche Forderung der Demokratieüblichkeit in den Absätzen 2 der Art. 8 bis 11 MRK. Collies EuGRZ 1996 291; 297 unter Hinweis auf EGMR 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386), wonach die Ausnahmen und nicht die Grundsätze eng zu interpretieren sind, sowie auf E G M R 7.7.1989 Soering/GB (NJW 1990 2183).

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MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

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d) Zurückgegriffen wird bei der Auslegung auch auf die gemeinsamen Rechtsüberzeugungen aller Vertragsstaaten: Bei der MRK sind dies die als Bestandteil des gemeinsamen europäischen Erbes angesehenen, allgemeinen Rechtsgrundsätze der westeuropäischen Demokratien 2 4 5 . Das sind vor allem der Gleichheitsgrundsatz und das Rechtsstaatsprinzip (rule of law) 246 , das vom Ausschluß jeder Willkür und dem Grundgedanken bestimmt wird, daß alle staatlichen Eingriffe in den Bereich des einzelnen der Rechtsbindung unterliegen, für den einzelnen vorhersehbar sein und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren müssen. Die Notwendigkeit von Eingriffen wird oft an der Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft 247 gemessen, dabei wird auch mit in Betracht gezogen, wieweit vergleichbare Regelungen in anderen europäischen Staaten bestehen. Neben der Praktikabilität und Vernünftigkeit der Regelung wird auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der effektiven Verwirklichung der Freiheitsgarantien und den Erfordernissen einer funktionierenden Staats- und Rechtsordnung Wert gelegt; die Konventionsgarantien sind so auszulegen, daß ein gerechter Ausgleich („fair balance") zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den Interessen des einzelnen gewahrt wird 248 . Ein weiteres Ziel ist die Förderung des Friedens und der Einheit Europas durch Gewährleistung eines einheitlichen Grundstandards von Menschenrechten und Grundfreiheiten in allen Vertragsstaaten 249 .

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e) Diese zweckorientierte Auslegung schließt eine gewisse dynamische Weiterentwicklung der garantierten Rechte und Freiheiten 250 mit ein, wobei auch deren Ausformungen in völkerrechtlich nicht bindenden Erklärungen internationaler Organe mit in Betracht gezogen werden, da diese die Erklärenden politisch festlegen und mitunter auch deklaratorisch für ihre Rechtsauffassung sind 251 . Vor allem die Auslegung der M R K wird von den europäischen Einigungstendenzen mitbestimmt, von der Bereitschaft, den Rechtsstandard der jeweiligen Mitgliedsländer und deren Weiterentwicklung in der allgemeinen Auffassung an die europaweit anerkannten Erfordernisse eines effektiven Schutzes der Menschenrechte anzupassen und diesen auch in seiner Weiterentwicklung als Grundlage einer inneren Gemeinschaftsordnung kollektiv zu garantieren 252 . Wegen dieses evolutiven Charakters wird es abgelehnt, die einzelnen Rechte und Grundfreiheiten nur auf der Grundlage des bei ihrer Abfassung bestehenden Vorverständnisses oder in Bindung an frühere Entscheidungen der Konventionsorgane auszulegen statt gegenwartsorientiert („in the light of present day conditions") 253 unter Berücksichtigung der

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249

Die später beigetretenen Staaten des ehem. Ostblocks dürften diese Grundsätze ebenfalls weitgehend übernommen haben, wie ihre neuen Verfassungen zeigen. Zur grundsätzlichen Übereinstimmung vgl. MacCormick JZ 1984 65. Zur Bedeutung dieses aus Art. 29 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 1948 stammenden Begriffes Punsch 88. Vgl. etwa EGMR 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); 27.9.1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173); 18.2.1991 Moustaquim/Belg (EuGRZ 1991 452). Die Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.4.1989 (EuGRZ 1989 204) betont die Bedeutung der Anerkennung der Grundrechte für das Zusammenwachsen Europas. Vgl. ferner die Erklärungen im Rahmen der KSZE Rdn. 36.

250

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Vgl. etwa EGMR 25.4.1978 Tyrer/GB (EuGRZ 1979 162); 28.7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56: Folterbegriff); Scheuner FS Schlochauer 899; 902 („MRK zweckvoll zur Entfaltung bringen"); Verdroß/Simma § 782. Vgl. Frowein ZaöRV 49 (1989) 788; Karl JZ 1991 594; ferner etwa Rdn. 25; Verdross!Simma § 654 (auch zur Bezeichnung „soft law"). So schon Partsch 86; vgl. etwa die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom 12.4.1989 EuGRZ 1989 205. Etwa EGMR 25.4.1978 Tyrer/GB (EuGRZ 1979 162); 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 9.10.1979 Airey/Irl (EuGRZ 1979 626); 27.9.1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173); 23.3.1995 Loizidou/ Türk (ÖJZ 1995 629); 6.2.2003 Mamatkulov, Abdurasulovic/Türk (EuGRZ 2003 704); Grubenwuner § 5 Rdn. 14, 15; Meyer-Ladewig 30.

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Einführung

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Änderungen der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse und der ethischen Auffassungen in den Mitgliedstaaten 254 . Trotz der großen Bedeutung, die eine auf Präjudizien gestützte konstante Rechtsprechung für die Rechtssicherheit und der Gleichheit aller vor den Gesetzen hat, kann ein Abweichen davon gerechtfertigt sein, wenn sich die Verhältnisse und Auffassungen im belangten Staat und auch in den anderen Mitgliedstaaten geändert haben. Nach Ansicht des E G M R ist es von zentraler Bedeutung, daß die Konventionsgaran- 61 tien so ausgelegt werden, daß sie sich unter den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten voll entfalten können. Ohne einen solchen dynamischen und evolutiven Ansatz würde die Gefahr einer Sperre von Reformen oder von Verbesserungen im Menschenrechtsschutz bestehen 255. Es kommt darauf an, daß der grundlegende Schutzgedanke ihrer Garantien unter den im Zeitpunkt der Entscheidungen gegebenen Verhältnissen wirksam zum Tragen kommt 2 5 6 . Die ungeschriebenen (immanenten) Grenzen der jeweiligen Verbürgungen sind deshalb fließend. Sie bestimmen sich nach dem, was nach Ansicht des die Auslegung inzwischen dominierenden Gerichtshofs unter Berücksichtigung der Ziele der Konvention und des zu ihrer Verwirklichung angestrebten gemeinsamen demokratischen Rechtsstandards 2 5 7 unter den jeweils gegebenen Umständen vernünftigerweise als gerecht anzusehen ist. Gleiches gilt für das Ausfüllen von Lücken. Eine Grenze ergibt sich aber daraus, daß ein in der Konvention nicht enthaltenes Recht auch im Wege der evolutiven Auslegung nicht in sie hineininterpretiert werden kann. Dies gilt erst recht, wenn es bewußt nicht aufgenommen wurde 258 . 3. Der IPBPR ist ebenfalls in der Tradition der Menschenrechte und ihrer Fortent- 6 2 wicklung durch die Staatenpraxis und die internationalen Organe eingebunden 259 . Als Instrument der Vereinten Nationen ist er deren Zielsetzungen, vor allem der Achtung, Förderung und Festigung der Menschenrechte (Art. 1 Abs. 3, Art. 55, 56 UN-Charta) verpflichtet, zu deren Förderung der Wirtschafts- und Sozialrat nach Art. 62 Abs. 2 UN-Charta Empfehlungen abgeben kann. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzungen gebührt auch bei ihm einer zweckorientierten Auslegung, die den garantierten Menschenrechten unter den jeweiligen Verhältnissen die größtmögliche Wirksamkeit sichert, der Vorrang. Auch hier wird die Auffassung vertreten, daß die Rechte und Grundfreiheiten dieses Paktes nicht statisch sondern im Lichte der auf ihre Förderung und Festigung gerichteten Zielsetzung der UN-Charta und der gesellschaftlich relevanten Entwicklungen in den Vertragsstaaten zu interpretieren sind 260 .

-5" So EGMR 11.7.2002 Goodwin/GB (ÖJZ 2003 766): Recht Transsexueller nach Geschlechtsumwandlung auf Ehe in Abkehr von früheren Entscheidungen; etwa 30.7.1998 Sheffield, Horsham/ GB (ÖJZ 1999 577); vgl. Alt. 8 Rdn. 23. 255 E G M R 28. 5.2002 Staffort/GB (ECHR 2002) ferner vorst. und nachf. Eußn. -5« Etwa EGMR 21.2.1975 Golder/GB (EuGRZ 1975 91); 25.4.1978 Tyrer/GB (EuGRZ 1979 162); 13.6. 1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 22. 10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 493); 29.4.2002 Pretty/GB (EuGRZ 2002 234); ferner 29.5.1986 Deumeland/D (NJW 1989 652, auch Minderheitenvotum); ferner I'rowein EuGRZ 1980 235; I'roweinl Peukert Einf. Rdn. 5; („keine historische Versteine(131)

rung"); Ganshof van der Meersch EuGRZ 1978 42 (evolutive Auslegung); Khul ZaöRV 30 (1970) 281; Peukert EuGRZ 1980 235; vgl. auch Verdross/ Simma § 782. 257 Vgl. E G M R 13. 6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454: mit europ. Standard unvereinbar). 258 EGMR 18.12.1986 Johnston/Trl (EuGRZ 1986 313). 259 Vgl. IIofmann Einf. S. 22; Nowak Einf. 20 ff unter Hinweis auf die Spruchpraxis des UN-AMR; Wolfrum FS Partsch 67 ff. 260 Nowak Einl. 20. Zur Auslegung durch den UN Menschenrechtsausschuß vgl. Seiberl-Fohr ZaöRV 62 (2002) 401 ff.

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MRK Einf.

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

63

4. Die Verwirklichung der Garantien im Einzelfall steht im Vordergrund. Wie die bisherigen Entscheidungen zeigen, sahen die europäischen Organe und sieht jetzt auch der E G M R die Aufgabe des internationalen Menschenrechtsschutzes nicht darin, das nationale Recht der Mitgliedstaaten als solches abstrakt zu kontrollieren 261 . Die zu entscheidenden Fälle wurden in der Regel betont einzelfallbezogen pragmatisch und nicht dogmatisch gelöst. Diese Praxis hat - soweit ersichtlich - auch der jetzt zum ständigen Gerichtshof gewordene E G M R beibehalten. Auch er begnügt sich vielfach damit, zu entscheiden, ob auf Grund einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts und aller Argumente im jeweiligen Fall ein Konventionsrecht gewahrt oder verletzt wird. Dabei wird der Grund des Verstoßes nicht immer begrifflich eindeutig fixiert, so etwa, wenn die Verfahrensverstöße nach den einzelnen Tatbeständen des Art. 6 Abs. 3 M R K zusammen mit dem Gebot eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 M R K erörtert und dann festgestellt wird, daß der Beschwerdeführer insgesamt ein oder aber auch kein faires Verfahren hatte 262 . Ahnlich verfahren auch andere mit dem Menschenrechtsschutz befaßten internationalen Organe, wie etwa der U N - A M R , der aber in letzter Zeit von den Mitgliedsstaaten verstärkt fordert, daß sie die uneingeschränkte Anwendung des IPBPR innerhalb der nationalen Rechtsordnungen auch formal sicherstellen 263 .

64

5. Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum der Staaten. Die Konventionen räumen für die Umsetzung der Konventionsgarantien dem nationalen Recht vielfach einen gewissen Gestaltungsraum ein. Sie gehen davon aus, daß sein Erlaß, Auslegung und Anwendung primär Sache der nationalen Stellen ist, die auch wegen ihrer Sach- und Ortsnähe die jeweiligen innerstaatlichen Verhältnisse und die Erforderlichkeit einer Regelung meist besser beurteilen können 264 . Die richtige Anwendung des nationalen Rechts durch die innerstaatlichen Organe wird grundsätzlich vom E G M R nicht im einzelnen überprüft, sofern dadurch Konventionsrechte nicht unmittelbar betroffen sind 265 . Soweit diese berührt werden, behält er sich insoweit aber die endgültige Kontrolle vor, bei der er den Sachverhalt im Lichte des Gesamtzusammenhangs unabhängig von der Einschätzung durch die nationalen Instanzen auf seine Vereinbarkeit mit den Konventionsgarantien beurteilt 266 . Bindet eine Konventionsbestimmung die Zulässigkeit eines Eingriffs an die (richtige) Anwendung des nationalen Rechts, prüft der Gerichtshof nach, ob das jeweilige nationale Recht den Eingriff rechtfertigt. Die Intensität dieser Prüfung ist unterschiedlich; mitunter begnügt er sich auch hier mit der Feststellung, daß im nationalen Recht eine ausreichende Rechtsgrundlage besteht und dieses nicht willkürlich angewandt worden ist. Soweit keine eindeutige Überschreitung des nationalen Rechts vorliegt, sieht er es nicht als seine Aufgabe an, dessen Einhaltung in allen Einzelheiten selbst nachzuprüfen 2 6 7 . Bei der Entscheidung über einen nach den Konventionen unter bestimmten Voraussetzungen zulässigen Eingriff in Konventionsrechte wird dem Staat sowohl bei der Rechtssetzung als auch bei der Anwendung des nationalen Rechts

261

Η. M, vgl. etwa Frowein EuGRZ 1980 234. Vgl. bei Art. 6; insbes. Rdn. 64, 70, 161, 218. ' Vgl. dazu und zu den Umsetzungsproblemen Seibert-Fohr ZaöRV 62 391, 400 ff. 264 E G M R 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488). 2« Etwa EGMR 21.1.1999 Garcia Ruiz/Span (NJW 1999 2353). 266 Etwa E G M R 21.1.1999 Fressoz, Roire/E (EuGRZ 1999 5); 20. 5.1999 Bladet Tromso & Stensas/Norw (EuGRZ 1999 453); Vgl. auch E G M R 26.4.1979 262 2fi

267

Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); Ganshoff van der Meersch EuGRZ 1981 488 ff. Etwa E G M R 25. 3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); 24.4.1990 Kruslin u.a./E (ÖJZ 1990 546); 26.9.1995 Vogt/D (NJW 1996 375); die Nachprüfung bejahend EGMR 24.10.1979 Winterwerp/ NdL (EuGRZ 1979 650); 1.10.1982 Piersak/Belg (EuGRZ 1985 301); vgl. insbes. Art. 8 Rdn. 9, 21; Art. 10 Rdn. 21.

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Einführung

im Einzelfall ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum („margin of appreciation", „marge d'apprecation") zuerkannt, der sowohl die zu ergreifenden Maßnahmen als auch die Feststellung ihrer tatbestandsmäßigen Voraussetzungen umfaßt 2 6 8 . Dieser wird je nach dem Gewicht der betroffenen öffentlichen Interessen und der Art und Wirkung des jeweiligen Eingriffs selbst bei der gleichen Konventionsverbürgung unterschiedlich weit bemessen 269 , wobei mitunter auch nationale Wertungsunterschiede mitberücksichtigt werden 270 . Vor allem in Bereichen, die einem starken gesellschaftlichen Wandel unterliegen oder in denen die Individualinteressen oder der Schutz wichtiger staatlicher Belange Vorrang haben oder wo keine einheitlichen Auffassungen in den Mitgliedstaaten bestehen 271 , wie etwa bei Moralvorstellungen 272 , wird der Handlungsspielraum weit gezogen. Das „Ob" und - abgesehen von gewissen inhaltlichen Mindestvorgaben, wie das Vorliegen eines vernünftigen Grundes (reasonable ground) oder die Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit 273 - auch das „Wie" der Regelung wird den Mitgliedstaaten oft weitgehend freigestellt. Grenzen ergeben sich auch hier aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der 6 5 Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft 274 . Bei der Grenzziehung berücksichtigt der E G M R mitunter auch, ob in den meisten anderen Konventionsstaaten vergleichbare Regelungen bestehen, was für einen Konsens über die Üblichkeit in demokratischen Gesellschaften sprechen kann, während bei einer in den anderen Staaten nicht zu findende Regelung näher zu prüfen ist, ob besondere Umstände vorliegen, die im konkreten Fall für deren Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft sprechen 275 . Ergibt der Vergleich, daß die einzelnen Konventionsstaaten die Materie sehr unterschiedlich geregelt haben, spricht dies dafür, jedem Staat einen weiten Ermessensraum zuzuerkennen 276 . Sind allerdings Konventionsrechte betroffen, die eine Grundvoraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft sind, wie etwa die Pressefreiheit 277 oder das Recht auf freie Meinungsäußerung, haben die Staaten nur einen sehr geringen Spielraum für einschränkende Regelungen 278 . 6. Die verschiedenen Anwendungsebenen a) Grundsätzlich muß bei jeder Beurteilung des Zusammenspiels zwischen Konven- 6 6 tionsrecht, Recht der Europäischen Gemeinschaften und nationalem Recht beachtet werden, daß ungeachtet der wechselseitigen Durchdringung bei der unmittelbaren Her-

268

Vgl. etwa Ganshof van der Meerseh EuGRZ 1981 486; Kelly in .1 Maier 182; Callies EuGRZ 1996 293, 298; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771 ff sowie nachf. Fußn. -« Etwa EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 23.6.1994 Jacubowski/D (EuGRZ 1996 306) vgl. Callies EuGRZ 1996 293; FrowemIPeuken; Peters 24; Villiger HdB 173; 553; ferner Art. 8 Rdn. 9, 21; Art. 10 Rdn. 21 ff je mit weit. Nachw. 270 So etwa beim örtlich und zeitlich unterschiedlichen Moralbegriff EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38;), dazu lirmacora EuGRZ 1977 363; EGMR 24.5.1988 Müller/CH (NJW 1989 379); 20.9.1994 Otto-Premminger-lnstitut/Ö (ÖJZ 1995 154); 25.11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714); Peukert EuGRZ 1980 237; ferner etwa Art. 10 MRK Rdn. 27 je mit weit. Nachw. (133)

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Etwa EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 772 ff. Etwa EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 24. 5.1988 Müller/CH (EuGRZ 1988 543), dazu Art. 8 Rdn. 18d, 27. Etwa EGMR 2. 8.1984 Malone/GB (EuGRZ 1985 17); 21.2.1986 James u. a./GB (EuGRZ 1988 341). Vgl. Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, Peters 24; ferner etwa bei Art. 8 Rdn. 20. Prepeluh ZaöRV 61 (2001)771,778. EGMR 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636). Etwa EGMR 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 25.6.1992 Thorgeir Thorgeirson/lsl. (ÖJZ 1992 810); 23.9.1994 Jersild/Dan (ÖJZ 1995 227), 26.4.1995 Prager, Oberschlick/Ö (ÖJZ 1995 675) vgl. Art. 10 MRK, Rdn. 21a. Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 772 ff.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

anziehung der einzelnen Rechtsordnungen stets von der jeweiligen Anwendungsebene auszugehen ist. Diese bedingt die Reihenfolge der Ansatzpunkte für die Prüfung der nebeneinander geltenden Vorschriften. Die Konventionen, deren materiellrechtliche Verbürgungen partiell auch als Gemeinschaftsrecht beachtlich sind 279 , verdrängen das (unterschiedliche) nationale Recht nicht. Sie gehen, wie Art. 53 M R K , Art. 5 Abs. 2 IPBPR belegen, von der Existenz, Beachtlichkeit und Verschiedenheit des nationalen Rechts auch im Umsetzungsbereich der Menschenrechte aus. Sie lassen für die Verwirklichung der Konventionsgarantien im jeweiligen Rechtssystem der einzelnen Staaten mehrere Lösungsmöglichkeiten offen 280 . Vielfach räumen sie dem nationalen Gesetzgeber dafür einen weiten Ermessensraum ein 281 ; mitunter begnügten sie sich auch damit, nur zu fordern, daß das nationale Recht für einen bestimmten Eingriffszweck eine ausreichende Regelung enthält. 67

b) Die innerstaatliche Rechtsanwendung muß daher grundsätzlich vom einfachen nationalen Recht ausgehen, das allerdings im Lichte der nationalen Verfassungsgarantien und der Menschenrechtsgarantien der Konventionen zu interpretieren ist. Nur zur Ausfüllung von Lücken bedarf es des unmittelbaren Rückgriffs auf Verfassungsgarantien und Konventionsgewährleistungen. Wo die Konventionen ins innerstaatliche Recht transformiert worden sind, ergänzen sie es, da ihre Vorgaben durch Übernahme in das nationale Recht auch innerstaatlich rechtsverbindlich geworden sind 282 . Verbotsnormen der Konventionen sind insoweit auch innerstaatlich unmittelbar wirksam. Wo die Konventionen zur Verwirklichung eines verbürgten Rechts über den abwehrrechtlichen Inhalt hinaus Schutzpflichten des Staates begründen 283 , kann aus ihnen unmittelbar auch innerstaatlich eine Pflicht zu einem aktiven Tätigwerden des Staates hergeleitet werden; daraus folgt aber nicht, daß dieser sein Recht verliert, selbst zu entscheiden, welche von mehreren in Frage kommenden Lösungen er wählen will.

68

c) Auf der Ebene des innerstaatlichen Verfassungsrechts zählen die Konventionen nach der vorherrschenden Meinung in der Bundesrepublik Deutschland zum einfachen Gesetzesrecht 284 , sie sind also auch dort, wo sie mit Verfassungsgewährleistungen inhaltlich übereinstimmen, nicht unmittelbarer Prüfungsmaßstab für die Verfassungsgerichte 285 . Mittelbar sind sie als Auslegungshilfe bei der Ermittlung des Inhalts des Rechtsstaatsgrundsatzes und der Tragweite der Grundrechte zu berücksichtigen 286 . Wo sie kraft ihrer unmittelbaren Geltung als innerstaatliches Recht dem einzelnen eine Rechtsposition verschaffen, kann deren Gewährleistung zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören und ist dann insoweit durch einfaches Recht nicht oder nur begrenzt einschränkbar. Ihre Verletzung ist in solchen Fällen mittelbar auch unter dem Blickwinkel eines Grundrechtseingriffs, vor allem eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG 2 8 7 und gegebenenfalls auch gegen das Willkürverbot 288 zu prüfen.

Vgl. oben Rdn. 49. Scheuney FS Schlochauer 922. Vgl. Rdn. 64. Zur Geltung als einfaches Bundesrecht vgl. Rdn. 19 ff. Zum Verhältnis zwischen nationalem Recht und Völkerrecht allgemein vgl. Sirebel ZaöRV 36 (1976) 168; Ress/Schreuer Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und Verfassung bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge. Für den IPBPR Seihert-For ZaöRV 62 (2002) 404 ff. Vgl. Rdn. 39 ff.

286

BVerfGE 74 370; BVerfG N J W 1990 2741; Ress (Fußn. 106) 18; 41 ff (kein verfassungsdurchbrechender favor conventionis). 287 Vyl. Frowein FS Zeidler 1786 ff (auch soweit man keine allgemeinen Regeln i. S. des A r t 25 GG annimmt); MaunzlDürig Sehmiät-Äßmunn Art. 103 Abs. 1 G G Rdn. 24; vgl. auch Ress FS Zeidler 1794 ff und zur Konstruktion der subjektiven Verfahrensgarantien Dörr 143. 288

Vgl. BVerfGE 64 157; Frowein FS Zeidler 1767 mit weit. Nachw.

Vgl. BVerfGE 10 274; 34 395; 41 149; 64 157.

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Einf. IPBPR

Einführung

Zu berücksichtigen ist, daß die innerstaatlichen Verfassungsgarantien und die Kon- 6 9 ventionsgewährleistungen selbst dann einen unterschiedlichen Regelungsumfang haben können, wenn sie im Kernbereich übereinstimmen 289 . Die Konventionen schließen weitergehende Gewährleistungen des innerstaatlichen Rechts, des europäischen Gemeinschaftsrechts und auch durch andere völkerrechtliche Abkommen nicht aus 290 . Sie garantieren diese aber nicht selbst, so daß sich bei Auslegung der Konventionen die völlige Gleichsetzung mit einem innerstaatlichen Verfassungsgrundsatz gleicher Zielrichtung vor allem in den Randbereichen verbieten kann. Umgekehrt können trotz der Berücksichtigung bei der Verfassungsauslegung Konventionsgarantien über das innerstaatliche Verfassungsrecht hinausreichen und dann innerstaatlich nur wie einfaches Recht zu beachten sein. Während die Gerichte nach Art. 100 Abs. 1 G G die Entscheidung des Bundesverfas- 7 0 sungsgerichts herbeiführen müssen, wenn sie eine N o r m des Bundesrechts als unvereinbar mit dem Grundgesetz ansehen, besteht keine Vorlagepflicht, wenn sie eine innerstaatliche gesetzliche Regelung ohne einen verfassungsrechtlichen Bezug als unvereinbar mit der M R K oder dem IPBPR ansehen. Das Gericht muß dann selbst entscheiden, wie der Konflikt zwischen einer in das nationale Recht übernommenen Konventionsverbürgung und dem gleichrangigen Bundesrecht zu lösen ist, vor allem, ob die völkerrechtlich gebotene Achtung der Konventionen schon durch eine konventionsfreundliche Auslegung des einfachen Rechts erreicht werden kann 2 9 1 . Da Art. 100 Abs. 2 G G nur bei allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 G G eingreift 292 , können nur Zweifel hinsichtlich Existenz oder Tragweite einer solchen unabhängig von den Konventionen bestehenden Regel die Vorlage beim Bundesverfassungsgericht rechtfertigen 293 . Im übrigen kann eine Überprüfung der richtigen Anwendung der Konventionen erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges, zu dem auch die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gehört, durch den E G M R erreicht werden. d) Im sachlich begrenzten Regelungsbereich der Europäischen Union gelten die in der 71 M R K gewährleisteten Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsverfassungsrechts (Art. 6 Abs. 2 EUV) 294 . In dessen Anwendungsbereich nehmen sie auch innerstaatlich am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes teil. Die Kompetenz zur Prüfung der Beachtung dieser Grundsätze im Gemeinschaftsrecht hat insoweit aber nicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sondern der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, der durch eine Richtervorlage nach Art. 234 EGV schon vor der Erschöpfung des Rechtswegs zur Vorabentscheidung über diese Frage veranlaßt werden kann. e) Auf der völkerrechtlichen Ebene des vertraglich vereinbarten Menschenrechts- 7 2 schutzes und damit auch im Verhältnis der Konventionsstaaten zueinander und im Verfahren vor den Konventionsorganen ( E G M R , U N - A M R ) wird dagegen die Anwendung

285

Etwa Dörr 92; Kühl ZStW 100 (1988) 413. Art. 53 MRK (Art. 60 MRK a.F), Art. 5 Abs. 2 IPBPR setzen dies voraus; vgl. Froweinl Peukert Art. 60 MRK a . F Rdn. 1; Meyer-Ladewig Art. 53 Rdn. 2. Vgl. oben Rdn. 43. ®2 Vgl. Rdn. 37. 293 Vgl. LR-Golhvilzer § 262 StPO, 51 ff. 294 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur 29(1

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Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 2.10.1997 (BGBl. 1998 II S. 387), der wortgleich Art. F Abs. 2 des Vertrags von Maastrich übernimmt; dazu Busse NJW 2000 1074; Alber EuGRZ 2001 349; vgl. auch Ganshof van der Meersch EuGRZ 1981 481 sowie Rdn. 44, 47 ff.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

des gesamten nationalen Rechts einschließlich des Verfassungsrechts daran gemessen, ob die Rechtsanwendung im zu entscheidenden Einzelfall den Anforderungen der M R K und des IPBPR entsprach; eine abstrakte Normenkontrolle ist nicht vorgesehen. Bei Prüfung des konkreten Einzelfalls ist die jeweilige Konvention der alleinige Prüfungsmaßstab für das vertragsgemäße Verhalten des Staates. Dies gilt auch für die Frage, wie groß der Regelungsspielraum ist, den die einzelnen Konventionsgarantien jeweils dem nationalen Recht einräumen 295 . Auch dort, wo der E G M R weite Beurteilungsspielräume der Mitgliedstaaten anerkennt, behält er sich die abschließende Gesamtwertung des Einzelfalls unter dem Blickwinkel der effektiven Verwirklichung der einschlägigen Konventionsgarantien vor 296 . Fehlt in solchen Fällen eine ausreichende Regelung im nationalen Recht, kann der dadurch nicht oder nicht konventionsgemäß gerechtfertigte Eingriff in ein garantiertes Recht - unabhängig von seiner Zulässigkeit nach nationalem Recht - eine Konventionsverletzung bedeuten.

295

Vgl. Ganshoff van der Meersch EuGRZ 1981 488 ff.

296

Vgl. Rdn. 66.

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Präambel MRK*

IPBPR

Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des rats -

Europa-

in Anbetracht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet worden ist; in der Erwägung, daß diese Erklärung bezweckt, die universelle und wirksame Anerkennung und die in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten; in der Erwägung, daß es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen und daß eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist; in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden; entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen haben Folgendes vereinbart:

'

DIE VERTRAGSSTAATEN DIESES PAKTES, IN DER ERWÄGUNG, daß nach den in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Grundsätzen die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in derWelt bildet, IN DER ERKENNTNIS, daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten, IN DER ERKENNTNIS, daß nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Ideal vom freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine bürgerlichen und politischen Rechte ebenso wie seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genießen kann, IN DER ERWÄGUNG, daß die Charta der Vereinten Nationen die Staaten verpflichtet, die allgemeine und wirksame Achtung der Rechte und Freiheiten des Menschen zu fördern, IM HINBLICK DARAUF, daß der einzelne gegenüber seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft, der er angehört, Pflichten hat und gehalten ist, für die Förderung und Achtung der in diesem Pakt anerkannten Rechte einzutreten, VEREINBAREN folgende Artikel:

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S.1054).

1. Inhalt a) Allgemein. Wie bei völkerrechtlichen Verträgen üblich werden den beiden Kon- 1 ventionen in einer Präambel die Erwägungen vorangestellt, die die vertragsschließenden Staaten zum Abschluß bewogen haben. Ferner werden die Ziele aufgezeigt, die mit dem Ubereinkommen verfolgt werden sollen. Beide Konventionen knüpfen ausdrücklich an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 an, deren Gedanken zum Teil wörtlich im Text der Präambeln wiederkehren. Als Vertragszweck werden die Anerkennung der (naturrechtlich vorgegebenen) Menschenrechte und die Gewährleistung der sich daraus ergebenden Grundfreiheiten 1 herausgestellt. In

1

Zum Verhältnis zwischen beiden Herzog DÖV 1959 46; Schont 17.

(137)

Walter Gollwitzer

MRK Präambel

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Übereinstimmung mit den Zielen der Charta der Vereinten Nationen 2 wird betont, daß die Anerkennung der Menschenrechte die Grundlage für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt bildet, ein Gedanke, der vielfach auch in anderen internationalen Dokumenten wiederkehrt 3 . 2

b) Die Präambel der MRK hebt darüber hinaus hervor, daß die Aufrechterhaltung der Grundfreiheiten am besten durch eine effektive demokratische Regierungsform gewahrt werden kann, die auf einer gemeinsamen Auffassung von den Menschenrechten und auf deren Achtung beruht. Sie beruft sich auf das gemeinsame geistige und politische Erbe Europas und seine freiheitliche und rechtsstaatliche Tradition, in der die Menschenrechte und Grundfreiheiten ungeachtet aller nationalgeschichtlich gewachsener Eigentümlichkeiten wurzeln 4 . In der Wahrung und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten wird ein Mittel gesehen, die vom Europarat erstrebte größere Einigkeit unter seinen Mitgliedern zu erreichen. Als ein erster Schritt dazu werden deshalb einige Menschenrechte (nicht alle, wie die späteren Zusatzprotokolle zeigen) zum Gegenstand einer kollektiven völkerrechtlichen Garantie gemacht. In den Zusatzprotokollen werden dann weitere Rechte in die kollektive Garantie mit einbezogen und die Gewährleistungen der M R K dem inhaltlich umfassenderen Katalog des IPBPR angeglichen.

3

c) Der weltumfassend gedachte und deshalb zu Erreichung eines allgemeinen Konsenses auch in der Präambel vorsichtiger formulierende IPBPR spricht die Bedeutung der effektiven Demokratie für den Menschenrechtsschutz nicht an. Er knüpft im 1. Absatz an die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen an 5 und hebt im 4. Absatz die aus dieser Charta sich ergebende Pflicht der Staaten hervor, die allgemeine und wirksame Achtung der Rechte und Freiheiten des Menschen zu fördern 6 . Der 2. und 3. Absatz der Präambel stellen die Würde des Menschen, seine Gleichheit und die Unveräußerlichkeit der aus der Menschenwürde abgeleiteten Freiheitsrechte heraus 7 . In Verknüpfung der bürgerlichen Freiheitsrechte (Menschenrechte der ersten Generation) mit den sozialen und kulturellen Rechten (Menschenrechte der zweiten Generation) betont sie, daß das Ideal des freien Menschen 8 , der frei von Furcht und N o t 9 lebt, nur zu verwirklichen ist, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder die bürgerlichen und politischen Freiheiten ebenso genießen kann wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Absatz 5 hebt die Gemeinschaftsbindung des Individuums hervor und damit den für jedes Zusammenleben unerläßlichen Zusammenhang zwischen Grundrechten und Grundpflichten gegenüber den Mitmenschen und der Gemeinschaft 1 0 . Von letzteren erwähnt sie dann noch besonders die Pflicht, für die Förderung und Achtung der in der Konvention verkörperten Rechte einzutreten.

2 3

4 5

6 7

Art. 1 Abs. 3, Art. 55 Buchst, c, Art. 56 UN-Charta. So etwa in Korb 1 Art. VIT der KSZE Schlußakte von Helsinki (Text SimmalFastenrath Nr. 42) und in anderen regionalen Menschenrechtspakten, wie etwa in der Präambel der A M R K (EuGRZ 1980 435). Zur friedensstiftenden Wirkung der Menschenrechte Kimminich BayVßl. 1990 6. Iluber GedS H. Peters 380; Schorn 2. „Principles" in Absatz 1 bezieht sich nicht nur auf die Grundsätze des Art. 2 sondern auch auf die Ziele des Art. 1 der UN-Charta; vgl. Nowak 3. Art. 55 Buchst, c, Art. 56 UN-Charta. Auffassung vom naturrechtlichen Ursprung der Menschenrechte, vgl. etwa Nowak 4.

* Der Ausdruck „ideal of free human beings" wurde bewußt wegen der Gleichberechtigung von Mann und Frau gewählt, Nowak 5. ' Die Betonung der Freiheit von Furcht und Not (freedom of fear and want) geht auf die von Roosevelt am 6.1.1941 vor dem Kongreß als politisches Ziel verkündeten vier Freiheiten zurück, die dann in internationale Dokumente Eingang fanden, so in Nr. 6 der Atlantik Charta vom 14. 8.1941 oder die Präambel der AMRK. Vgl. Einf. Rdn. 4. 10 Zur Beschränkung der allgemeinen Aussage auf die Präambel sowie zur Konkretisierung in einzelnen Artikeln vgl. Nowak 7.

Stand: 1.10.2004

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Präambel IPBPR

Präambel

2. Bedeutung. Die Präambeln der Konventionen dienen dem besseren Verständnis 4 ihres ideengeschichtlichen Zusammenhangs. Sie erhellen die Motive der vertragsschließenden Staaten und zeigen die mit den Konventionen verfolgten Zwecke auf. Sie sind als Bestandteil der Verträge nach Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention bei der dem Zusammenhang Rechnung tragenden, sinnorientierten Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Vertragstextes mit heranzuziehen u . Beim IPBPR ist dies vor allem die Anbind ung an die Ziele und Grundsätze der Verein- 5 ten Nationen, die klarstellt, daß dieser Pakt eine Konkretisierung der von deren Mitgliedstaaten vereinbarten Pflicht zur Förderung der Menschenrechte bedeutet. Nichtmitgliedstaaten der Vereinten Nationen werden dadurch aber nicht an deren Ziele gebunden 1 2 . Bei der MRK werden als Leitlinien einige Grundsätze angesprochen, die das ganze 6 Konventionssystem und auch die Ausformung der einzelnen Gewährleistungen mitbestimmt haben. Dies gilt vor allem für das Bekenntnis zum Rechtsstaatsprinzip („rule of law") und zu einer funktionierenden Demokratie als Grundvoraussetzung der Freiheitsrechte 13 . Diese werden als begrenzender Maßstab für die Notwendigkeit an sich zulässiger staatlicher Eingriffe herangezogen; ihr Schutz kann andererseits aber auch ungeschriebene Schranken für die Gewährleistung des Konventionsrechtes rechtfertigen. Die Einzelheiten sind bei den jeweiligen Artikeln erörtert. Ein weiteres Ziel ist, die Einheit Europas durch die Einheitlichkeit des Verständnisses und der Durchsetzung der garantierten Menschenrechte zu fördern und durch deren Fortentwicklung zu stärken; die garantierten Menschenrechte werden als Grundlage des europäischen „ordre public" verstanden 14 . Daraus wird hergeleitet, daß die Bestimmungen der M R K nicht statisch entsprechend ihrer Bedeutung beim Vertragsschluß auszulegen, sondern dynamisch in Ubereinstimmung mit den jeweiligen Verhältnissen fortzuentwickeln sind, um das Ziel eines den jeweiligen Verhältnissen Rechnung tragenden wirksamen Schutzes der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu erreichen 15 . Mit der Erklärung, die Rechte und Grundfreiheiten zum Gegenstand einer kollekti- 7 ven Garantie zu machen, spricht die Präambel der M R K ein Hauptanliegen der Menschenrechtspakte ausdrücklich an, das aber auch für den IPBPR gilt. Die Beachtung der Menschenrechte in jedem Vertragsstaat wird zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung gegenüber allen anderen Vertragsstaaten. Sie wird damit aus dem nach überkommenen allgemeinen Völkerrecht von allen anderen Staaten durch Nichteinmischung zu respektierenden Bereich der inneren Angelegenheiten herausgenommen. Es ist damit nicht mehr allein Sache des einzelnen Staates, ob und wieweit er die Menschenrechte seiner eigenen Bürger achten will. Jeder Vertragsstaat kann dies ohne den Vorwurf einer unzulässigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten vertraglich fordern; er kann, ebenso wie die Konventionsorgane, auf den in den Konventionen vorgezeichneten Wegen auf die Wahrung der Menschenrechte in den anderen Vertragsstaaten hinwirken. Das Ziel einer Kollektivgarantie verdeutlicht, daß die Konventionen nicht nur wie die üblichen völkerrechtlichen Verträge in deren eigenem Interesse eingegangene Verpflichtungen zwischen den Vertragsstaaten begründen, sondern daß sie darüber hinaus eine

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12 13 14

Etwa EGMR 21.2.1975 EuGRZ 1975 91 (Golder); 7.7.1989 NJW 1990 2183 (Soering); FroweinIPeukert 5; Nowak 1. Vgl. Einf. Rdn. 52 ff. Nowak 6. Frowein/Peukert 5; vgl. Einf. Rdn. 36 ff; 59. Vgl. etwa EKMR EuGRZ 1991 256 („gemeinsame öffentliche Ordnung der freien Demokratien Europas").

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15

Zu den für die Auslegung daraus zu ziehenden Folgerungen, insbes. zur dynamischen Interpretation vgl. Einf. Rdn. 52, 60 ff.

Walter Gollwitzer

MRK Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

objektive Rechtsordnung schaffen („Law-making Treaty"), die im Interesse der Menschen kollektiv garantiert werden soll 16 . Hierin liegt der wesentliche Fortschritt des durch beide Konventionen internationalisierten Menschenrechtsschutzes gegenüber den Verbürgungen dieser Rechte in den Verfassungen der einzelnen Staaten 17 .

Art. 1 MRK (Art. 2 IPBPR) MRK

IPBPR

Artikel 1 Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte*

Artikel 2

Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu.

(1) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied wie insbesondere der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status zu gewährleisten. (2) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren und mit den Bestimmungen dieses Paktes die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen, soweit solche Vorkehrungen nicht bereits getroffen worden sind. (3)...

*

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S.1054).

Schrifttum (Auswahl): Matscher d e r E M R K , F S Trechsel (2002) 25.

Bemerkungen zur extraterritorialen oder indirekten Wirkung

Rdn. 1. Geltungsbereich; Bedeutung für den Rechtsschutz a) MRK b) IPBPR 2. Persönlicher Schutzbereich a) Natürliche Personen b) Juristische Personen und Personengruppen 3. Sachlicher Schutzbereich a) Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates . . b) Keine Verantwortung für fremde Hohheitsgewalt

16

Rdn. c) Maßnahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen

I 5 8 9 11

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4. Staatlicher Eingriff' 5. Gewährung diplomatischen Schutzes

....

6. Wirkung für und gegen Dritte a) Privatpersonen b) Mittelbare Drittwirkung c) Berücksichtigung bei der Auslegung 7. Einwilligung, Verzicht

. .

19 20 21 23 24

14

Vgl. etwa EGMR 18.1.1978 EuGRZ 1979 159 (Irland/GB); E K M R EuGRZ 1991 256. Allgemein zur Fortentwicklung des Völkerrechts etwa Kimminich BayVBl 1990 1; ferner Nettesheim JZ 2004 569

17

(wonach die besonders hohe Tntegrationsdichte der M R K nicht als Ausdruck der allgemeinen Entwicklung des Völkerrechts angesehen werden kann). Vgl. Einf. Rdn. 4 fif.

Stand: 1.10.2004

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V e r p f l i c h t u n g zur A c h t u n g der M e n s c h e n r e c h t e

Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR

1. Geltungsbereich; Bedeutung für den Rechtsschutz a) Als völkerrechtliche Verträge verpflichten die Konventionen ihre Mitgliedstaaten 1 als solche zur Beachtung der in ihnen garantierten Rechte. Sie müssen international dafür einstehen, daß alle ihre Organe, Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung die Konventionsrechte des einzelnen achten. Intern ist es ihnen überlassen, in welcher Form und durch welche innerstaatliche Einrichtungen sie dafür sorgen, daß diese Verpflichtungen erfüllt werden 1 . Art.l grenzt den sachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereich der Konventionsrechte der M R K („ratione materiae, ratione loci, ratione personae") ab 2 . Er bestätigt den bindenden Charakter der Konvention, wenn er allen Personen, die der Hoheitsgewalt 3 , („Jurisdiktion", „juridiction" - früher auch mit „Herrschaftsgewalt" übersetzt) der Vertragsstaaten unterliegen, die im 1. Abschnitt (Art. 2 bis Art. 18) festgelegten Rechte zusichert. Diese Zusicherung erstreckt sich auch auf die Rechte aus den Zusatzprotokollen, soweit die Staaten sie ratifiziert haben. Dies stellt jedes Protokoll ausdrücklich fest 4 . Art. 1 M R K begründet aber selbst keine eigenen materiellen Rechte. Jeder betroffenen einzelnen Person erwachsen aus dieser Zusicherung unmittelbare 2 Rechte gegenüber dem Staat, der für die seinem Hoheitsbereich zuzuordnende Konventionsverletzung einstehen muß. Anders als früher bei den meisten völkerrechtlichen Verträgen ist die Gewährleistung der Menschenrechte nicht nur eine bloße völkerrechtliche Verpflichtung zwischen den Vertragsstaaten, aus der zwar diese, nicht aber deren Bürger unmittelbare Rechte herleiten können 5 . Die Rechte des einzelnen werden dadurch gesichert, daß die M R K jedem bei Verletzung seiner von der Konvention gesicherten Rechte und Grundfreiheiten einen zweifachen Weg zu ihrer Durchsetzung vorgibt. Innerstaatlich muß der in seinen Rechten Betroffene zumindest nach Art. 13 M R K 3 die Möglichkeit haben, die Verletzung bei einer nationalen Instanz zu rügen, sofern ihm nicht für bestimmte Fälle darüber hinaus ein mit bestimmten Verfahrensgarantien verbundener Anspruch auf Nachprüfung durch ein Gericht oder eine gerichtsähnliche Stelle zugesichert ist, wie etwa in Art. 5 Abs. 2 bis 4, Art. 6 M R K 6 . Die Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe wird im übrigen weitgehend dem nationalen Gesetzgeber überlassen 7 . Sofern, wie in der Bundesrepublik, der Text der Konvention selbst ins innerstaatliche Recht übernommen worden ist, kann jeder seine Rechte aus der Konvention unter unmittelbarer Berufung auf diese auch innerstaatlich gegenüber allen Staatsorganen geltend machen; er kann sie auch gerichtlich durchsetzen, da ihm Art. 19 Abs. 4 G G den Weg zu den Gerichten bei jeder Verletzung seiner Rechte durch die öffentliche Gewalt garantiert. Auch die meisten anderen Vertragsstaaten haben die M R K zum Bestandteil ihres innerstaatlichen Rechts gemacht 8 . Die Vertragsstaaten sind jedoch von Konventions wegen nicht verpflichtet, den Text der M R K selbst ins nationale Recht zu

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Grabenwarter § 17 Rdn. 6 ff. Etwa E G M R 18.1.1978 Irland/GB (EuGRZ 1979 149). 22.03.2001 Streletz u.a./D (NJW 2001 3035); Meyer-Ladewig 1. Zur Entstehungsgeschichte dieses Begriffes EGMR 12.12.2001 Bankovic'/Belgien und 16 andere NatoStaaten (EuGRZ 2002 133), sowie zur Auslegung Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 671. Z.B. Alt. 5 d e s l . Z P . Dies belegt die Entstehungsgeschichte. Der Entwurf sah zunächst nur eine Staatenverpflichtung vor

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(„undertake to secure", „s'engagent a reconnaitre"); vgl. FroweinIPeukeri 2. Zum Verhältnis des Art. 13 M R K zu den weitergehenden Garantien vgl. Matscher FS SeidlHohenveldern 315 ff, ferner Art. 6 MRK Rdn. 48; Art. 13 MRK Rdn. 6. Vgl. Art. 13 M R K , Rdn. 22 ff. Vgl. Einf. Rdn. 38 ff.

Walter Gollwitzer

MRK Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

transformieren 9 ; sie können ihren Verpflichtungen aus der M R K auch durch eine entsprechende Ausgestaltung ihres eigenen nationalen Rechts erfüllen. In solchen Fällen ist den Bürgern innerstaatlich die unmittelbare Berufung auf die M R K versperrt 10 . 4

Die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls am 1.11.1998 jedem möglich, der behauptet, durch einen der Vertragsstaaten in seinen Rechten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention oder den Zusatzprotokollen verletzt zu sein (Art. 34 M R K ) , sofern der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist und die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben sind (Art. 35 M R K ) 1 1 . Nach der ursprünglichen Konzeption des M R K war dem Betroffenen die Individualbeschwerde zum Gerichtshof versperrt. Er hatte nur die Möglichkeit, die Europäische Menschenrechtskommission12 anzurufen (Art. 25 M R K a. F), sofern der Staat, dem die Verletzung zuzurechnen ist, sich dieser fakultativen Regelung unterworfen hatte, wie dies nach anfänglichem Zögern zeitversetzt und meist nur befristet alle Mitgliedstaaten getan haben 1 3 .

5

b) Art. 2 IPBPR begründet ebenfalls keine eigenen, über die Garantien dieses Paktes hinausreichenden materiellen Rechte. Er verpflichtet die Vertragsstaaten, die in ihm gewährleisteten Rechte ohne Diskriminierung 14 gegenüber jedermann zu achten und zu gewährleisten 15 . Strittig ist, wieweit aus Art. 2 IPBPR den einzelnen Personen unmittelbare Rechte erwachsen 16 , vor allem, ob aus der Verpflichtung der Staaten nach Art. 2 Abs. 3 IPBPR, dem Begünstigten bei Verletzung der im IPBPR anerkannten Rechte und Freiheiten eine wirksame Beschwerde zu ermöglichen, unmittelbare Rechte des einzelnen hergeleitet werden können 1 7 .

6

Innerstaatlich kann sich jedenfalls dort jedermann gegenüber den Behörden und vor Gericht unmittelbar auf diese Rechte berufen, wo, wie in der Bundesrepublik, der IPBPR ins nationale Recht transformiert worden ist 18 . Verpflichtet zu dieser unmittelbaren Form der Umsetzung sind die Vertragsstaaten nicht 19 . Sie müssen, wie Art. 2 Abs. 2 IPBPR zeigt, nur sicherstellen, daß die gewährleisteten Rechte, wenn sie schon nicht formal gelten, dann wenigstens im vollen Umfang materiell innerstaatlich wirksam sind 20 und daß der Betroffene bei einer Verletzung effektive innerstaatliche Rechtsschutzmöglichkeiten hat 2 1 .

7

Völkerrechtlich kann der einzelne selbst sich nach Erschöpfen des innerstaatlichen Rechtswegs mit der Behauptung der Verletzung eines im IPBPR gewährleisteten Rechts nur dann unmittelbar an das Konventionsorgan, dem Ausschuß für Menschenrechte (vgl. Art. 28 ff IPBPR), zu wenden, wenn der betreffende Vertragsstaat das Fakultativ-

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EGMR 18.1.1978 Trland/GB (EuGRZ 1979 149); 25.3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); Froweinl Peukert 2; Scheuner FS Jahrreiß 371; a. Α Golsong DVB1. 1958 809 unter Berufung auf Art. 13 M R K . Frowein/Peukeri 2. Vgl. Anh. Rdn. 35 ff. Diese wurde durch das 11. Zusatzprotokoll aufgelöst und stellte nach einer Übergangsfrist von einem Jahr (Art. 5 Abs. 3 des 11. ZP) mit ihrer letzten Sitzung am 28.10.1999 ihre Tätigkeit ein (vgl. EuGRZ 1999 616). Zum Teil mit Vorbehalten, vgl. Barisch NJW 1989 3061. Vgl. zum akzessorischen Diskriminierungsverbot Art. 14 MRK Rdn. 8 ff.

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Zur Entstehungsgeschichte und zum akzessorischen Charakter des Art. 2 IPBPR Nowak 5 bis 12; 13 ff; ferner Seihert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 393. Pansch EuGRZ 1989 1; Seihert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 391 ff; zur ahnlichen Rechtslage bei Art. 2 A M R K Buergenihai EuGRZ 1984 170. IIofmann S. 25; Seihert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 391, 404, vgl. Art. 13 MRK Rdn. 9 ff. IIofmann S. 25; Nowak 48 ff. Nowak W. Zur Tendenz des UN-AMR zunehmend höhere Anforderungen an die formale innerstaatliche Umsetzung des IPBPR zu stellen vgl. Seihert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 393. Nowak 58 ff; Seihert-Fohr ZaöRV 62 (2002) 404.

Stand: 1.10.2004

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Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte

Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR

Protokoll vom 19.12.1968 ratifiziert hat 2 2 . Die Bundesrepublik ist diesem Fakultativprotokoll mit einem Vorbehalt beigetreten, der die Anrufung des Menschenrechtsausschusses ausschließt, wenn die Sache bereits in einem anderen internationalen Streitschlichtungsverfahren geprüft worden ist 23 . 2. Persönlicher Schutzbereich a) Natürliche Personen. In der M R K und dem IPBPR werden die Rechte und 8 Grundfreiheiten grundsätzlich allen Menschen gleichermaßen und ohne jede Unterscheidung nach Nationalität, Geschlecht, Herkommen, Rasse, oder irgendeinem sonstigen generellen, mit den Diskriminierungsverboten nicht zu vereinbarenden Gesichtspunkt gewährleistet 24 . Unerheblich ist, ob sie Staatsbürger eines Vertragsstaates sind oder dort ihren Wohnsitz haben 2 5 . Ausnahmen bestehen nur bei einigen Rechten, die nur Staatsbürger betreffen wie das Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger nach Art. 3 des 4. ZP oder wenn der IPBPR einige politische Rechte nur den Staatsbürgern garantiert 26 oder wenn umgekehrt Regelungen nur Ausländer betreffen, wie Art. 5 Abs. 1 Buchst, f M R K oder das Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern (Art. 4 des 4. ZP) oder die Möglichkeit, die politische Betätigung von Ausländern zu beschränken (Art. 16 M R K ) . In der Regel aber umfaßt der persönliche Schutzbereich der Konventionsgarantien alle Personen, die eine der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates zuzurechnende M a ß n a h m e erleiden, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit oder ihren Wohnsitz. Auch Personen, die nur in einer eng begrenzten Beziehung von der Ausübung der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates betroffen werden, etwa, weil sie als Ausländer dort ein Grundstück haben oder dort in einen Rechtsstreit verwickelt sind oder sich an eine Auslandsvertretung gewandt haben 2 7 , fallen insoweit in den persönlichen Schutzbereich der Konventionen 2 8 . Unerheblich ist ihre Geschäftsfähigkeit. Auch Kinder 2 9 oder Geschäftsunfähige unterfallen dem Schutz. b) Juristische Personen und Personengruppen können sich bei der MRK ebenfalls 9 unmittelbar auf ein dort oder in einem Zusatzprotokoll gewährleistetes Recht berufen, sofern dieses seiner Natur nach nicht notwendig nur natürlichen Personen zustehen kann 3 0 . Dies zeigt Art. 34 M R K , der grundsätzlich nichtstaatlichen Organisationen und Personengruppen das Beschwerderecht zuerkennt. Nicht entscheidend ist dabei, ob sie als juristische Personen des privaten oder des öffentlichen Rechts organisiert sind, nur wenn sie selbst Träger der Staatsgewalt sind, etwa weil sie Hoheitsgewalt für den Staat ausüben oder wenn sie in einer privatrechtlichen Organisationsform zu 100 % dem Staat gehören, fallen sie aus dem Schutz der Konvention heraus 3 1 . Gemischtwirtschaftliche Unternehmen können dagegen Konventionsrechte haben, ebenso bei genügender Staats-

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2?

Beitritt a m 25.11.1993 mit Wirkung vom 30.12. 1993 (Bek. vom 30.12.1993 BGBl. II 1994 S. 311). Zu den drei möglichen F o r m e n der internationalen Durchsetzung des IPBPR vgl. Nowak E u G R Z 1981 514; ferner A n h a n g R d n . 82 ff.

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Vgl. Einf. R d n . 39. Vgl. die Diskriminierungsverbote in Art. 14 M R K ; Art. 1 Abs. 1 I P B P R . Grahenwarter § 17 Rdn. 2; Iloftnann S. 25; MeyerLadewig 10.

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Art. 25 IPBPR; ferner etwa Art. 16 M R K . Vgl. Echterhölter JZ 1956 143; Nowak 28, 29; Schorn 4. Grahenwarter § 17 R d n . 3. D a z u Buquicchioi de Boer F S Wiarda 73. Wie etwa das Recht auf Leben oder auf Freiheit oder auf Familienleben oder Heirat; vgl. etwa FroweinlPeukert 3; Grahenwarter § 17 Rdn. 5; MeyerGoßnerA1 2; Meyer-Ladewig 10. Grahenwarter § 17 R d n . 5.

Walter Gollwitzer

MRK Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ferne auch öffentlich-rechtliche Körperschaften, Stiftungen, Universitäten, öffentlich rechtliche Rundfunkanstalten oder Religionsgemeinschaften 32 . 10

Beim IPBPR ist strittig, ob auch juristische Personen seinem unmittelbaren Schutz unterfallen 33 . Hiergegen wird angeführt, daß der Pakt bewußt nur von Individuen („individuals") spricht und daß auch die Vorarbeiten gegen eine Ausdehnung des Schutzes sprechen 34 . Die meisten dort garantierten Rechte sind allerdings ihrer Natur nach ohnehin auf natürliche Personen beschränkt oder betreffen sie unmittelbar mit, wenn sie einem Kollektiv versagt werden, wie dies etwa bei einem Verbot einer Religionsgemeinschaft oder einer Partei oder einer Gewerkschaft der Fall ist 35 . Gegen Eingriffe in die kollektive Ausübung gewährleisteter Rechte können sich auch die betroffenen Mitglieder selbst wenden. 3. Sachlicher Schutzbereich

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a) Jeder von der Ausübung der Hoheitsgewalt („jurisdiction", „juridication") 3 6 eines Mitgliedstaates betroffenen Person werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet. Es genügt, wenn sie - gleich wo und aus welchem Anlaß - tatsächlich in irgendeiner Beziehung der Hoheitsgewalt unterstanden hat. Hoheitsgewalt wird vom E G M R unter Berufung auf das allgemeine Völkerrecht primär als territorialer Herrschaftsbereich verstanden 3 7 , auch wenn sie nicht allein an das Gebiet des jeweiligen Staates einschließlich seiner Schiffe und Flugzeuge anknüpft und auch der räumliche Geltungsbereich seiner eigenen Rechtsordnung nicht allein entscheidend ist. Aus dem Schutzzweck folgt, daß der Staat die Konventionsrechte aller Personen achten muß, die sich in einem Bereich befinden, in dem seine Organe faktisch Hoheitsgewalt ausüben, wenn dies auch möglicherweise nur vorübergehend geschieht. Der Eingriff muß im Zeitpunkt seiner Ausübung der Herrschaftsgewalt des betreffenden Staates zuzurechnen sein. Nicht entscheidend ist, ob seine Organe diese Gewalt umfassend und längerfristig oder nur zeitlich begrenzt oder nur für einen bestimmten Bereich oder Zweck ausgeübt haben 3 8 und ob der Staat und die für ihn handelnden Organe dazu völkerrechtlich legitimiert waren. In Abkehr von einem rein funktional verstandenen Begriff der Ausübung von Hoheitsgewalt 39 , die sich allein damit begnügt, daß das Opfer einem der Hoheitsgewalt zuzurechnenden Akt des Staates unterworfen wurde, fordert der E G M R aber jetzt, daß die Ausübung der Hoheitsgewalt eine gewisse territoriale Grundlage haben muß, um die Schutzpflicht des Staates auszulösen, da aus der Sicht des Völkerrechts die

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» 37

Vgl. etwa Art. 9 M R K Rdn. 3a, 4 ff; Art. 11 M R K Rdn. 5, 7; Grabenwarter § 17 Rdn. 5. Verneinend ilofmann S. 25, anders, zumindest für das Selbstbestimmungsrecht Nowak 24 ff. Nowak 22 ff; vgl. Anhang Rdn. 86. Vgl. UN-AMR EuGRZ 1984 294; Hofmann S. 25; Nowak 24. Zu diesem Begriff Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 670 ff Nach EGMR 12.12.2001 Bankovic/Belgien und 16 andere Natostaaten wegen Bombenangriffe auf Sendeeinrichtung in Belgrad (EuGRZ 2002 133) ist Herrschaftsgewalt grundsätzlich territorial zu verstehen, nur in Ausnahmefällen erfaßt sie Handlungen, die in einem faktischen Machtbereich außer-

halb des eigenen Hoheitsgebietes vorgenommen wurden oder sich dort auswirkten; dazu Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 673 ff. Die Anbindung der Herrschaftsgewalt an die territoriale Herrschaft, die in E G M R 12. 3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 472) und 8.4.2004 Asanidse/Georgien (EuGRZ 2004 268) dem Grundsatz nach bestätigt wurde, statt allein an die Zurechenbarkeit der Handlung ist umstritten; vgl. Breuer EuGRZ 2003 449; Grabenwarter § 17 Rdn. 11; Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, je mit weit. Nachw. 38 39

Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 671. E G M R 26.6.1992 Drozd, Janousek/F (Series A 240); 25.11.1999 Younghong/Port (ECHR 1999 IX); vgl. auch Meyer-Ladewig 5.

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V e r p f l i c h t u n g zur A c h t u n g der M e n s c h e n r e c h t e

Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR

Herrschaftsgewalt eines Staates grundsätzlich territorial begrenzt ist 40 . Danach muß der Staat am Eingriffsort zumindest vorübergehend auch die territoriale Kontrolle innegehabt haben, damit das Handeln seiner verantwortlichen Organe als Ausübung seiner Hoheitsgewalt anzusehen ist 41 . Wenn ein Staat als Partei in einem anderen Land an einem Rechtsstreit teilnimmt, übt er insoweit keine exterritoriale Hoheitsgewalt gegenüber seinem Prozeßgegner aus 42 . Für die Ausübung von Hoheitsbefugnissen durch alle ihm in seiner Gesamtheit zuzurechnenden Institutionen hat jeder Staat - ungeachtet aller Unterschiede der nationalen innerstaatlichen Organisationsformen - völkerrechtlich einzustehen, gleich, ob sie der Legislative, der Exekutive oder der Judikative zuzurechnen sind, ob die Staatsgewalt von Zentralorganen oder dezentral von weitgehend selbständigen örtlichen Stellen ausgeübt wird und ob diese in der Lage oder willens sind, die Konventionspflichten zu erfüllen 43 . Ein Gesamtstaat, der sich aus mehreren Gliedstaaten, autonomen Provinzen oder sonstigen dezentralen Gebietskörperschaften zusammensetzt, bleibt völkerrechtlich dafür verantwortlich, daß die von ihm abgeschlossene Konvention in seinem gesamten Staatsgebiet beachtet wird. Ohne Rücksicht auf die sonstige interne Kompetenzaufteilung muß er durch entsprechende Regelungen dafür sorgen, daß die Einhaltung der Konvention im Gebiet des Gesamtstaats für jedermann sichergestellt ist 43a . Auch ein Unterlassen seiner Organe kann seine Verantwortung begründen, sofern ihm insoweit eine Schutzpflicht obliegt, etwa, weil Konventionsrechte des Betroffenen in einem Gebiet verletzt wurden, in dem der Staat de facto die Ausübung von Vollzugsgewalt 44 für seine Organe beansprucht und deshalb in der Lage und kraft seiner ihm daraus erwachsenden Verantwortung auch verpflichtet gewesen wäre, die Verletzung des Konventionsrechts durch Dritte zu verhindern. Die M R K ist dagegen nicht verletzt, wenn Personen außerhalb des Bereichs einer zumindest de facto und partiell von einem Mitgliedstaat ausgeübten territorialen Herrschaft Opfer von Kriegshandlungen eines Konventionsstaates werden. Für sich allein eröffnen Kampfhandlungen der Streitkräfte eines Staates für die davon Betroffenen noch nicht den Schutz der MRK 4 5 . Für die Opfer eines Bombenangriffs der Nato-Staaten in einem der M R K nicht beigetretenen Staat (Serbien) hat der E G M R die Anwendbarkeit der Konvention verneint 46 . «

EGMR 26.6.1992 Drozd, Janousek/F (Series A 240); 12.12.2001 Brankovic' u.a./Belgien u.a. (EuGRZ 2002 133); 12.3.2003 Öealan/Türk (EuGRZ 2003 472); 8.4.2004 Asanidse/Georgien (EuGRZ 2004 268); kritisch dazu Breuer EuGRZ 2003 449; ferner EGMR 12.12.2002 Kalogeropoulou/Griech, D (NJW 2004 273); Grabenwarter § 17 Rdn. 11. 41 Vgl. EGMR 12.12.2001 Bankovic/Belgien u.a. (EuGRZ 2002 133); oben Rdn. 36. 42 E G M R 21.11.2001 McElhinney/lrl,GB (EuGRZ 2002 416; dazu Maierhöfer EuGRZ 2002 391); 12.12. 2002 Kalogeropoulou/Griech, D (NJW 2004 273). « EGMR 18.1.1978 Irland/GB (EuGRZ 1979 149); 23.3.1995 Loizidou/Türk (ÖJZ 1995 629); 18.12.1996 Loizidou/Türk (EuGRZ 1997 555); 12.3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 472), dazu Breuer EuGRZ 2003 449; Frowein/Peukert 9; Meyer-Ladewig 4, 5. «= EGMR 8.4.2004 Asanidse/Georgien (EuGRZ 2004 268) mit dem Hinweis, daß in der MRK eine Bundesstaatsklausel ähnlich Art. 28 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention fehlt, daß aber auch diese den Zentralstaat nicht von der Verpflichtung entbinden würde, durch entsprechende Rege(145)

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lungen dafür zu sorgen, daß in seinen Gliedstaaten die Konvention eingehalten wird. Nach Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 672 ist ebenso wie bei dem humanitären Kriegsvölkerrecht nach den vier Genfer Abkommen vom 12.8.1949 die „Vollzugsgewalt" (jurisdiction to enforce) entscheidend dafür, ob ein Staat in der Lage ist, die Beachtung der Konventionsrechte zu gewährleisten. Der Anwendungsbereich des humanitären Kriegsvölkerrechts ist sachlich auf bewaffnete Konflikte nicht auf die Ausübung territorialer Herrschaftsgewalt beschränkt, vgl. Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 690 ff. EGMR 12.12.2001 Brankovic' u.a./Belgien u.a. (EuGRZ 2002 133) mit Erörterung und Abgrenzung gegenüber früheren Entscheidungen im Zusammenhang mit der Besetzung Nord-Cyperns; dazu auch Krieger ZaöRV 62 (2002) 671 f; vgl. auch vorst. Fußn.; ferner zu den strittigen Fragen Breuer EuGRZ 2003 449 mit weit. Nachw.; Grabenwart er §17 Rdn. 11 (Abstellen auf „Rechtsraum der Konventionsstaaten" unzutreffend).

Walter Gollwitzer

11a

M R K Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

11b

Die gleichen Fragen nach dem Geltungsbereich stellen sich beim IPBPR, dessen Art. 2 allerdings die auf dem Staatsgebiet befindlichen Personen 47 neben den seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen besonders anspricht 48 . 12 Hoheitsgewalt ist in beiden Konventionen im weitesten Sinne als jedes dem Staat völkerrechtlich zurechenbare Handeln seiner Organe und der für sie tätigen Personen zu verstehen. Es kommt nicht darauf an, ob sie durch eine Rechtsgrundlage legitimiert ist. Auch soweit ein Staat im Ausland in einem bestimmten Gebiet eigene Hoheitsgewalt in einem möglicherweise zeitlich, räumlich oder gegenständlich eng limitierten Umfang ausübt, muß er dafür einstehen, daß seine Organe und die in seinem Auftrag oder mit seiner Duldung handelnden Personen in den Bereichen, in denen sie rechtlich oder faktisch für ihn Vollzugsgewalt ausüben, die Konventionsrechte der davon betroffenen Personen achten 4 9 . Gleichgültig ist, ob seine Organe die Hoheitsgewalt in dem jeweiligen Territorium eines anderen Staates befugt ausüben, wie etwa durch eine diplomatische Vertretung oder ein Konsulat 5 0 oder aufgrund eines Staatsvertrags 51 , der etwa Polizeibefugnisse oder die Stationierung von Truppen regelt, oder im Rahmen der völkerrechtlichen Befugnisse einer Besatzungsmacht 5 2 oder auf Grund einer formlos getroffenen Vereinbarung für den Einzelfall 53 . Die Verantwortung besteht auch dann, wenn für die tatsächlich ausgeübte Hoheitsgewalt keine völkerrechtliche Befugnis bestand oder wenn sie überschritten wurde, wie etwa bei Ausschreitungen im Ausland operierender Truppen 5 4 . Selbst bei der Duldung illegaler Übergriffe durch Entführungen wurde dies angenommen 5 5 . Bei einer Bombardierung aus der Luft in einem Nichtmitgliedstaat wurde dies bei den dafür verantwortlichen Staaten verneint 56 . 13

Eine Ausnahme vom Grundsatz, daß jeder Staat für die Achtung der Konventionsrechte in allen seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Gebieten einzustehen hat, findet sich in Art. 56 M R K , der die Einbeziehung abhängiger Gebiete in den Schutzbereich der Konvention zur Disposition des für die internationalen Beziehungen verantwortlichen Mitgliedsstaates stellt 57.

14

b) Keine Verantwortung für fremde Hoheitsgewalt. Die Verantwortlichkeit jedes Staates ist auf die Maßnahmen begrenzt, die seiner eigenen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind. Die Konventionen begründen keine Verpflichtung ihrer Mitgliedsstaaten, dafür zu sorgen, daß ihre Rechte und Freiheiten auch den Menschen unter der Jurisdiktion eines fremden Staates gewährleistet werden. Die Mißachtung eines Konventionsrechts in einem anderen Staat fällt ihnen nicht zur Last, wohl aber unter Umständen, wenn sie in ihrem eigenen Herrschaftsbereich durch ihr eigenes Verhalten unter Verletzung einer

47

Aber nur als Unterworfene der Territorialgewalt des Staates. Hofmann S. 25; Nowak 27; vgl. Rdn. 14. UN-AMR bei Nowak EuGRZ 1984 424; Nowak 26 ff; zur Problematik Nowak EuGRZ 1980 526; Tomuschat EuGRZ 1981 520. 4 » Vgl. Krieger ZaöRV 62 (2002) 675 ff, auch zu den Unterschieden bei den Auslandseinsätzen von Streitkräften im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens oder in Afghanistan. 511 UN-AMR bei Nowak EuGRZ 1984 424. 51 Vgl. etwa EKMR EuGRZ 1977 497; 1980 532 (schweizer Befugnisse in Liechtenstein); dazu Krieger ZaöRV 62 (2002) 675; FroweinIPeukeri 7 (anders bei bloßer Organleihe). H EKMR EuGRZ 1975 483 (Hess); dazu Blumenwitz EuGRZ 1975 497; EuGRZ 1991 258 (Chrysosto48

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mos) dazu Rumpf EuGRZ 1991 199; FroweinIPeukeri 4; 5 mit weiteren Hinweisen auf die Praxis der EKMR. Vgl. EGMR12.3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 473). FroweinIPeukeri 5; Frowein FS Schlochauer 289; 297. UN-AMR EuGRZ 1981 520 mit Anm. Tomuschat; Nowak 28 mit weit. Nachw. Zur Problematik des male captus vgl. Art. 5 MRK Rdn. 63. EGMR 12.12.2001 Bankovic u.a./Belgien u.a. (EuGRZ 2002 113); vgl. oben Rdn. IIa; hatte das bombardierte Gebäude in einem Mitgliedstaat gelegen. wäre auch eine Verletzung von dessen Schutzpflicht in Betracht zu ziehen. TroweinlPeukeri 7.

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V e r p f l i c h t u n g zur A c h t u n g der M e n s c h e n r e c h t e

Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR

ihnen obliegenden Garantenpflicht einen Menschenrechtsverstoß in einem fremden Staat ermöglicht haben, etwa durch Auslieferung oder Abschiebung 58 . Für die auf seinem Territorium begangenen Handlungen der Organe eines fremden Staates hat der Mitgliedsstaat grundsätzlich nicht einzustehen, vorausgesetzt, daß diese Handlungen ausschließlich dem anderen Staat zuzurechnen sind 59 . Nach dem IPBPR gilt gleiches, auch wenn dort das Territorium neben der Herrschaftsgewalt besonders angeführt wird 60 . c) Wieweit einem Staat auch die Maßnahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen zu- 15 zurechnen sind, wenn er diesen eigene Hoheitsbefugnisse durch völkerrechtlichen Vertrag übertragen hat, war strittig. Neben der Ansicht, daß diese Maßnahmen keine Ausübung der eigenen Hoheitsgewalt im weiten Sinne des Art. 1 M R K sind 61 , wird zunehmend die Ansicht vertreten, daß sich der Staat seiner Verantwortung für die Beachtung des von ihm vertraglich zugesicherten Menschenrechtsschutzes (Art. 1 M R K , Art. 2 Abs. 1 IPBPR) nicht dadurch entziehen kann, daß er Herrschaftsbefugnisse auf multinationale Organe überträgt, die selbst keine Mitglieder der Konventionen sind. Er muß vielmehr dafür sorgen, daß auch bei einer Übertragung von Rechten auf einen anderen Staat oder eine zwischenstaatliche Einrichtung die Wahrnehmung der Konventionsrechte nicht notwendig in der gleichen Form, wohl aber der Substanz nach möglich bleibt 62 . Eine unmittelbare, zumindest aber eine mittelbare Verantwortung jedes Mitgliedstaates für die von Organen der zwischenstaatlichen Einrichtungen ergriffenen Maßnahmen wird heute weitgehend angenommen 6 3 . Eine solche Zurechnung wurde dagegen verneint, wenn ein Konventionsstaat nur das Recht hat, in einem anderen Staat bestimmte Organe für diesen zu ernennen, wie etwa die Bestellung der Richter in Andorra durch Spanien und Frankreich. Die Rechtsprechung eines solchen Gerichts, das als Organ des Staates Andorra tätig wird, ist nicht der Hoheitsgewalt von Frankreich oder Spanien zuzurechnen 64 . Handeln dagegen der UN unterstellten Truppenteile nach außen als Hilfsorgan der U N (Art. 29 UN-Charta) sind ihre in Erfüllung dieses Auftrags vorgenommenen Handlungen der UN zuzurechnen, da die Entsendestaaten insoweit weder Weisungs- noch Kontrollbefugnisse haben 6 5 . 4. Die Verantwortlichkeit des Staates umfaßt alle Formen, in denen seine Organe 16 Staatsgewalt gegen Personen oder Sachen ausüben. Sie gilt für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gleichermaßen. Sie setzt kein Verschulden voraus. Die Pflicht für Konventionsverletzungen einzustehen, entfällt nicht dadurch, daß das Verhalten untergeordneter Stellen nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig war oder daß diese ihren Instruktionen zuwider gehandelt hatten 6 6 . Es ist auch unerheblich, ob die Regie-

E G M R 7.7.1889 Soering/GB (NJW 1990 2183); 20.3.1991 Cruz Varas/Schwed (EuGRZ 1991 203); Meyer-Lädewig 5; vgl. Vogler GedS Karlheinz Meyer 488; ferner Art. 3 MRK Rdn. 14. EKMR EuGRZ 1977 497 (Lichtenstein). Zur Formulierung des IPBPR, die dahin zu interpretieren ist. daß sie auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit abstellt, im einzelnen Nowak 27. Vgl. E K M R EuGRZ 1975 483 (Hess ViermächteVerantwortung), dazu Blumenwitz EuGRZ 1975 497; ferner etwa EKMR EuGRZ 1979 534 mit Anm. Fastenrath, Busse NJW 2000 1074, 1075. Vgl. E G M R 18.2.1999 Waite & Kennedy/D (NJW 1999 1173); 18.2.1999 Matthews/GB (EuGRZ 1999 200); Grabenwml er VVDStL 60 (2001) 190; Graben-

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warter § 17 Rdn. 9; Waller AöR 129 (2004) 39, 67 ff („Schutzpflichtverletzung"); Meyer-Ladewig 8. Vgl. etwa Tomusehal EuR 1990 340, 356, ferner vorst. Fußn. und Einf. Rdn. 48. EKMR 12.12.1989 Dozd u.a./F (EuGRZ 1992 129); vgl. EGMR 12.12.2001 Bankovic/Belg (NJW 2003 413). Krieger ZaöRV 62 (2002) 686 ff, die aber auch darauf hinweist, daß die Verantwortlichkeit unter den Konventionen bei den Entsendestaaten insoweit verbleibt, als sie die Disziplinar- oder Strafgewalt haben und daher auch für deren Ausüben oder Unterlassen einstehen müssen. E K M R EuGRZ 1976 33 (Cypern); Ministerkomitee EuGRZ 1979 86; Frowein EuGRZ 1980 232.

Walter Gollwitzer

MRK Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

rung oder höhere Staatsorgane die Konventionsverletzungen ihrer untergeordneten Stellen hätten verhindern können 6 7 . Untersagt ist jeder mit den Konventionspflichten nicht zu vereinbarende Eingriff in die gewährleisteten Menschenrechte und Freiheiten. Die Konventionsverletzung setzt in der Regel einen positiven Eingriff des Staates und seiner Organe in diese Rechte voraus. Dieser Eingriff muß nicht im völligen Entzug eines dieser Rechte liegen, schon jede nicht nur unwesentliche Beeinträchtigung des einzelnen in einem solchen Recht ist eine Konventionsverletzung, sofern nicht eine der Voraussetzungen vorliegt, unter denen die Konvention den Eingriff gestattet. 17

Die zurechenbaren Konventionsverletzungen können auch in einem Unterlassen liegen, wenn die Gewährleistungen der Konvention ohne ein positives Handeln des Staates leerlaufen würden, vor allem, wenn ein Staat eine ihm aufgrund einer Konventionsverbürgung obliegende Schutzpflicht nicht erfüllt, etwa wenn diese leerläuft, weil der Staat ihre Beachtung nicht sichergestellt hat 68 . Scheitert der Schutz an Versäumnissen der Gesetzgebung oder des Vollzugs, hat das der jeweilige Staat zu verantworten. Welche positiven Maßnahmen der Staat vor allem in Gesetzgebung und Verwaltung zur angemessenen Gewährleistung dieser Rechte zu treffen hat, richtet sich nach dem Schutzgut des jeweiligen Rechts 69 und nach Art und Intensität der Gefährdungen, die von den jeweiligen tatsächlichen Umständen ausgehen. Bei der Einschätzung aller Umstände und der für erforderlich gehaltenen Maßnahmen wird man dem Staat einen angemessenen Ermessenspielraum zubilligen müssen. Dessen Grenze ist dort überschritten, wo das nationale Recht keine oder nur unzureichende Rechtsinstitute, Sanktionen oder Verfahrensgarantien zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht vorsieht 70 . In einem besonders gelagerten Fall wurde wegen des Fehlens ausreichender Strafvorschriften eine Verantwortung des Staates für eine dadurch ungestraft mögliche Konventionsverletzung angenommen 7 1 . Es genügt aber nicht, daß der Staat ein Rechtssystem schafft, durch das in der einen oder anderen Form, durch Eingriffsermächtigungen für die staatlichen Organe oder auch durch Rechtsbehelfe für den unmittelbar Betroffenen dessen Konventionsrechte geschützt werden können. Er muß darüber hinaus dafür sorgen, daß diese Garantien im Rechtsalltag tatsächlich wirksam werden. Die Schutzpflicht kann auch verletzt sein, wenn staatliche Stellen erforderliche Belehrungen oder Kontrollen unterlassen, oder wenn sie nicht eingreifen, um ein konventionsgemäß gewährleistetes Recht im Einzelfall zum Tragen zu bringen, etwa, wenn sie erkennen, daß im Strafverfahren der beigeordnete Pflichtverteidiger (Art. 6 Abs. 3 Buchst, c M R K ) untätig bleibt 72 .

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Durch Auslegung der jeweiligen Einzelregelung ist zu ermitteln, ob die einzelnen Bestimmungen der Konvention über das negative Unterlassungsgebot hinausreichende positive Schutzpflichten für den Staat begründen und welche Tragweite diese jeweils haben. Solche Schutzpflichten werden etwa für den Schutz des Lebens (vgl. Art. 2 M R K ; Art. 6 IPBPR) 7 3 oder hinsichtlich des Verbots der Folter (vgl. Art. 3 M R K ; Art. 7

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EGMR 18.1.1978 (Trland/GB (EuGRZ 1979 149); 25.4.1978 Tyrer/GB (EuGRZ 1979 162). 68 1AGMR EuGRZ 1989 157 (Verantwortung für Verschwindenlassen) . ® Vgl. etwa EGMR 13.6.1979 Marckx/B (EuGRZ 1979 455); EKMR EuGRZ 1980 40 (Mitgliedschaftszwang); grundsätzlich betrifft die Gewährleistungspflicht alle Rechte, vgl. Nowak 19. 70 Nach Nowak 19 bestimmt der Grundsatz der Relativität, was die Staaten innerhalb ihres großen Gestaltungsraums bei Berücksichtigung ihrer finanziellen und sozioökonomischen Leistungskraft tun

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72 73

müssen. Vgl. auch TAGMR EuGRZ 1989 157; ferner Nowak 21 mit Beispielen aus der Praxis des UN-AMR; ferner zum „Untermaßverbot" auch BVerfGE 88 203, 254; BVerfG NJW 1995 2343. EGMR 26.3.1985 X/NdL; (EuGRZ 1985 297; Schutz der sexuellen Integrität verwahrter Geisteskranker); zur Pönalisierungspflicht vgl. etwa Kühl ZStW 100 (1988) 412; Suerhaum EuR 2003 391. 404. E G M R 13. 5.1980 Artico/1 (EuGRZ 1980 662). Vgl. Kühl ZStW 100 (1988) 412; Art. 2 MRK Rdn. 10, 12.

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V e r p f l i c h t u n g zur A c h t u n g der M e n s c h e n r e c h t e

Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR

IPBPR) angenommen 7 4 , zu deren Beachtung ein Staat auch dann selbst verpflichtet bleibt, wenn er durch eine Abschiebung oder Auslieferung die Voraussetzungen für die Verletzung dieser Rechte in einem anderen Staat schafft. Aus dem Verbot der Leibeigenschaft in Art. 4 M R K , Art. 8 IPBPR folgt die Pflicht des Staates, in seiner Rechtsordnung kein solches Institut vorzusehen 75 . 5. Eine Pflicht zur Gewährung diplomatischen Schutzes bei Konventionsverletzungen durch fremde Hoheitsträger im Ausland kann aus Art. 1 M R K , Art. 2 IPBPR nicht hergeleitet werden 76 .

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6. Wirkung für und gegen Dritte a) Privatpersonen werden durch die Gewährleistungen der Konventionen, die die 2 0 Ausübung der Staatsgewalt begrenzen sollen, grundsätzlich nicht verpflichtet. Das Rechtsverhältnis zwischen Privatpersonen wird von den Konventionen nicht berührt. Selbst bei wörtlicher Inkorporierung in das nationale Recht können diese nicht so ausgelegt werden, daß sie in Abänderung der nationalen bürgerlichen Rechtsordnung auch private Eingriffe in die gewährleisteten Rechte umfassen (unmittelbare DrittWirkung)77. b) Wieweit dem Staat aus den Konventionen die Pflicht erwächst, seine Rechtsord- 21 nung so zu gestalten, daß die Ausübung der Konventionsrechte auch vor Störungen durch Private geschützt wird (mittelbare Drittwirkung, „Rundumwirkung", „Horizontalwirkung" 7 8 ) ist im einzelnen strittig. Eine staatliche Schutzpflicht wird allenfalls insoweit zu bejahen sein, als der Private den Verstoß gegen eine Konventionsverbürgung in einem der staatlichen Verantwortung unterstehenden Bereich begeht, wie dies etwa bei der körperlichen Züchtigung eines Schülers in einer Privatschule angenommen wurde 79 , oder wenn andernfalls die Zusicherung einzelner Konventionsverbürgungen durch den Staat, und damit seine Zusicherung in Art. 1 M R K , leerlaufen würde. In solchen Fällen hat der Staat das Dulden eines allgemein konventionswidrigen Zustands als Schutzpflichtverletzung zu verantworten 80 . Ob, in welcher Hinsicht und in welchem Umfang eine Schutzpflicht des Staates besteht und durch welche Maßnahmen der Staat sie erfüllen kann, hängt aber stets von den Umständen des Einzelfalls ab, bei deren Würdigung der Staat einen Beurteilungsspielraum hat 8 1 . Maßgebend für die Beurteilung sind auch hier Sinn und Tragweite des jeweils garantierten einzelnen Freiheitsrechts sowie die allgemeinen Auswirkungen staatlicher Schutzmaßnahmen, die auch hier den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in jeder Richtung wahren müssen 82 . Verletzen Private ein in der Konvention gewährleistetes Recht eines anderen, kann dies grundsätzlich dem Staat nur angelastet werden, wenn er sich ihrer an Stelle eigener Organe zur Erfüllung einer staatlichen Aufgabe bedient hat, so daß in Wirklichkeit ein 74 75 76

77

Vgl. Art 3 MRK Rdn. 14, 14a. Vgl. Art. 4 MRK Rdn. 10. Zu Art. 2 IPBPR Hofmann S. 25 unter Berufung auf Entstehungsgeschichte. FroweinIPeukerl 12; Herzog JZ 1966 658; Grubenwarter § 19 Rdn. 14; Meyer-Goßner47 4; MeyerLadewig 7; Kühn ZStW 100 (1988) 411; Morvay ZaöRV 21 (1961) 319; Ulsamer FS Zeidler 1802; ferner Fuchs ZStW 100 (1988) 446 (für Österreich); Schorn 38; Trechsel ZStW 100 (1988) 671 (Schweiz); str. a. Α etwa Guradze Einl. 22; vgl. auch Frisier GA 1985 554.

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Vgl. Nowak20; Frowcin!Peukcrt 12; Schorn 26. EGMR 25. 3.1993 Costello-Roberts/GB (ÖJZ 1993 534). Frowein/Peuken 11 ff; Grahenwarler § 19 Rdn. 7 ff 11 ff; Kühl ZStW 100 (1988) 411; Ulsamer FS Zeidler 1802; verneinend Meyer-Goßner47 4; Morvay ZaöRV 21 (1961) 321; vgl. ferner die Erläuterungen bei den einzelnen Artikeln. Grahenwarter § 19 Rdn. 12. Vgl. Suerhaum EuR 2003 390, 404.

Walter Gollwitzer

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MRK Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

verdecktes staatliches Handeln vorliegt. Abgesehen von diesem Sonderfall trifft den Staat nur dann eine eigene Verantwortung, wenn er durch die Duldung der Verletzung oder Duldung eines sie ermöglichenden Zustandes eine ihm aus einem Artikel der Konvention erwachsende Schutzpflicht 83 verletzt. Eine weitergehende Wirkung wird man der M R K und dem IPBPR nicht beimessen können 8 4 . Privatpersonen werden durch die Konventionen untereinander nicht verpflichtet 85 . 23

c) Berücksichtigung bei Auslegung. Die Ablehnung einer Drittwirkung schließt nicht aus, daß in Auslegungsfragen die Gewährleistungen der Konventionen - ebenso wie andere freiheitsschützende Normen - als Wertfestlegungen mit herangezogen werden 86 . Als Bestandteil der Rechtsordnung sind sie bei der Auslegung der Rechte Privater mit in Betracht zu ziehen, etwa zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe oder im Rahmen von Generalklauseln als Wertungselemente.

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7. Einwilligung, Verzicht. Die Konventionen garantieren subjektive Rechte des einzelnen. Es liegt in der Zielsetzung dieser Garantien, daß niemand auf sie dem Staat gegenüber im voraus generell und für alle Zeiten wirksam verzichten kann 8 7 . Bei vielen der garantierten Freiheits-, Abwehr- und Teilhaberechte steht es aber dem einzelnen frei, ob und wieweit er sich dem Staat gegenüber aus konkretem Anlaß darauf berufen will. Ob und wieweit ein verbürgtes Konventionsrecht insoweit zur Disposition des einzelnen Rechtsträgers steht, ist - ähnlich wie im innerstaatlichen Verfassungsrecht 88 - an Hand vom Art- und Schutzzweck der einzelnen Gewährleistung durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist nicht allein entscheidend, ob der Konventionstext ausdrücklich auf die Einwilligung abstellt, wie etwa Art. 7 Satz 2 IPBPR, oder ob der Schutzzweck der jeweiligen Verbürgung ergibt, daß sie nur staatliche Maßnahmen erfaßt, die gegen oder ohne den Willen des Betroffenen durchgeführt werden, so daß bei dessen Einverständnis ein konventionswidriger Eingriff von vorneherein ausscheidet 89 . Die Fragen sind für die einzelnen Konventionsverbürgungen noch wenig geklärt und strittig 90 . Während einige Konventionsverbürgungen wegen des hohen, übersubjektiven Rangs ihres Schutzgutes nicht zur Disposition des Betroffenen stehen und deshalb auch mit seiner Einwilligung nicht außer acht gelassen werden dürfen, wird bei anderen ein freiwilliger, ex nunc frei widerruflicher „Verzicht" 91 für wirksam gehalten, wobei an die Freiwilligkeit strenge Anforderungen gestellt werden 92 .

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Wieweit vor allem aus Art. 2 und 8 M R K solche Schutzpflichten erwachsen, ist strittig. l''roweinlPeukert 12. Meyer-Ludewig 7. Meyer-Goßner*14. Kein Totalverzicht, vgl.Grabenwarter § 18 R d n . 29. Etwa Amelung Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981); Diirig A ö R 81 (1956) 152; r. Münch Einf. 62; Sturm F S Geiger (1974) 173 je mit weit. Nachw. zu den strittigen Fragen.

89 Amelung (Fußn. 88) 65 ff. »» Dörr 85 ff; Echterhölter J Z 1956 145; Frisier 94, TntK o m m E M R K - M i e h s l e r l Vogler Art. 6, 378; Meyer-

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Goßner'" 3; ferner etwa Art. 3 M R K , 26; Art. 5 M R K , 58; Art. 6 M R K , 115; Schweiz.BGer. EuG R Z 1991 226. Die Terminologie ist nicht einheitlich, da Verzicht vielfach als Oberbegriff gebraucht wird. Amelung (Fußn. 88) unterscheidet zwischen dem endgültig bindenden Verzicht u n d der widerruflichen Einwilligung. D a z u etwa Amelung 82 ft" f ü r das innerstaatliche Recht; E G M R 23.5.1991 Oberschlick/Ö ( E u G R Z 1991 216); Grabenwarter § 18 Rdn. 29 ff (Abwägung des öffentlichen u n d privaten Interesses); vgl. auch Meyer-Ladewig Art. 6 Rdn. 68.

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Recht auf Leben

Art. 6IPBPR

Art. 2 MRK (Art. 6 IPBPR) MRK

IPBPR

Abschnitt I Artikel 2 Recht auf Leben* (1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.

Artikel 6 (1) Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.

(2) Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.

(2) In Staaten, in denen die Todesstrafe nicht abgeschafft worden ist, darf ein Todesurteil nur für schwerste Verbrechen auf Grund von Gesetzen verhängt werden, die zur Zeit der Begehung der Tat in Kraft waren und die den Bestimmungen dieses Paktes und der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes nicht widersprechen. Diese Strafe darf nur auf Grund eines von einem zuständigen Gericht erlassenen rechtskräftigen Urteils vollstreckt werden. (3) Erfüllt die Tötung den Tatbestand des Völkermordes, so ermächtigt dieser Artikel die Vertragsstaaten nicht, sich in irgendeiner Weise einer Verpflichtung zu entziehen, die sie nach den Bestimmungen der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes übernommen haben. (4) Jeder zum Tode Verurteilte hat das Recht, um Begnadigung oder Umwandlung der Strafe zu bitten. Amnestie, Begnadigung oder Umwandlung der Todesstrafe kann in allen Fällen gewährt werden. (5) Die Todesstrafe darf für strafbare Handlungen, die von Jugendlichen unter 18 Jahren begangen worden sind, nicht verhängt und an schwangeren Frauen nicht vollstreckt werden. (6) Keine Bestimmung dieses Artikels darf herangezogen werden, um die Abschaffung der Todesstrafe durch einen Vertragsstaat zu verzögern oder zu verhindern.

Ergänzend dazu Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, vom 28.4.1983, durch das sich die Vertragsstaaten verpflichten, niemanden zur Todesstrafe zu verurteilen oder hinzurichten, mit Ausnahme für Taten, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen wurden. In dem noch nicht in Kraft befindlichen Protokoll Nr. 13 wird auch diese Ausnahme aufgehoben. In Art. 1 wird ohne jede Ausnahme festgestellt, daß die Todesstrafe abgeschafft ist und niemand zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden darf. Nach Art. 2 dieses Protokolls darf auch im Falle des Art. 15 MRK nicht von diesem Verbot abgewichen werden.

Ergänzend dazu 2. Fakultativprotokoll vom 15.12.1989 zur Abschaffung der Todesstrafe. Art. 1 verbietet jede Hinrichtung und verpflichtet die Vertragsstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Todesstrafe in ihrem Hoheitsbereich abzuschaffen. Vorbehalte zu diesem Protokoll sind nicht zulässig mit der Ausnahme, daß Staaten bei der Ratifizierung oder beim Beitritt einen Vorbehalt machen können, der die Anwendung der Todesstrafe in Kriegszeiten wegen einer Verurteilung wegen eines in Kriegszeiten begangenen Verbrechens militärischer Art vorsieht.

* Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S.1054).

(151)

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 2

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Schrifttum (Auswahl): Bergmann Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention (1995); Bleckmcmn Die Entwicklung staatlicher Schutzpflichten aus den Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, FS Bernhardt (1995) 309; Bockelmann Menschenrechtskonvention und Notwehrrecht, FS Engisch 456; Broda Europas Kampf gegen die Todesstrafe, ZfRV 1986 1; Calliess Die Abschaffung der Todesstrafe - Zusatzprotokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention. N J W 1989 1019; Doehring Z u m „Recht auf Leben" aus nationaler und internationaler Sicht, FS Mosler (1983) 145; Frister Die Einschränkung des Notwehrrechts durch Art. 2 E M R K , G A 1985 553; Hanig Abschaffung der Todesstrafe in Europa/Das 6. Zusatzprotokoll zur E M R K , E u G R Z 1983 270; Klugmann Europäische Menschenrechtskonvention und antiterroristische M a ß n a h m e n (2002); Kneihs Recht auf Leben und Terrorismusbekämpfung - Anmerkungen zur jüngsten Judikatur des E G M R in: Grabenwarter/Thienel. 21; Krüger Die Bedeutung der Menschenrechtskonvention für das deutsche Notwehrrecht, N J W 1970 1483; Machacek Das Recht auf Leben in Osterreich, E u G R Z 1983 553; Peters Die Mißbilligung der Todesstrafe durch die Völkerrechtsgemeinschaft, E u G R Z 1999 650; Peukert H u m a n Rights in International Law and the Protecting of U n b o r n H u m a n Beings, FS Wiarda (1988) 511; Reis Die Europäische Kommission f ü r Menschenrechte zur rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, JZ 1981 738; Verrel Selbstbestimmungsrecht contra Lebensschutz, JZ 1996 224.

Rdn. 1. Allgemeines a) Recht auf Leben b) Ausnahmen

1 2

2. Inhalt des Konventionsschutzes a) Schutzgut b) Reichweite des Schutzes c) Andere Rechtsgüter

3 4 6

3. Grundsätzliches Tötungsverbot

7

4. Schutzpflichten des Staates a) Umfang b) Gesetzliche Regelung c) Handeln aller Staatsorgane

Rdn. d) Aufklärung der Ursachen einer Tötung . e) Gesteigerte Verantwortung für Personen im staatlichen Gewahrsam f) Entschädigung 5. Verhältnis zwischen Privatpersonen 6. Ausnahmen vom Schutz a) Todesstrafe b) Sicherstellung der Verteidigung eines Menschen c) Ordnungsgemäße Festnahme, Verhindern des Entkommens d) Unterdrückung eines Aufstandes . . . .

10 11 IIa

11c 12 13 14 15 17 20 23

1. Allgemein 1

a) D a s Recht auf Leben, d a s j e d e r m a n n h a t , wird in A r t . 2 Abs. 1 M R K , A r t . 6 Abs. 1 I P B P R a u s d r ü c k l i c h als M e n s c h e n r e c h t a n e r k a n n t 1 u n d generell in d e n S c h u t z d e r G e s e t z e gestellt. D e r I P B P R b e t o n t die v o r g e g e b e n e n a t u r r e c h t l i c h e G r u n d l a g e dieses e l e m e n t a r e n G r u n d r e c h t e s d a d u r c h b e s o n d e r s , d a ß er d a s R e c h t a u f L e b e n , d a s j a die V o r a u s s e t z u n g f ü r d e n G e n u ß aller ü b r i g e n G r u n d r e c h t e u n d G r u n d f r e i h e i t e n ist, als vorgegebenes („inherent", „inherent") Recht bezeichnet2. D e r Schutz der Konventionen d e c k t sich m i t A r t . 1 A b s . 2, A r t . 2 A b s . 2 S a t z 1 G G \ A u c h die G r u n d r e c h t e - C h a r t a d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n stellt in A r t . 2 h e r a u s , d a ß j e d e P e r s o n d a s R e c h t a u f L e b e n hat u n d n i e m a n d zur Todesstrafe verurteilt u n d hingerichtet werden darf. Im übrigen h a t d a s in ihr a n g e s p r o c h e n e R e c h t a u f L e b e n die gleiche T r a g w e i t e w i e in A r t . 2 d e r

1

2

Die Regelung wird als deklaratorisch verstanden, da das Recht auf Leben als ius cogens des allgemeinen Völkerrechts angesehen wird; etwa Nowak 2; Ilofmann S. 28. Vgl. auch Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948. Dazu Nowak 2; Hofmann S. 28: die Bedenken bei Goose NJW 1974 1305 gegen die frühere Überset-

3

zung ..angeborenes Recht'" richten sich vor allem gegen den daraus gezogenen Schluß. der Lebensschutz beginne mit der Geburt. BVerfGE 6 389,441; Murrar ZaöRV 21 (1961) 317.

Stand: 1.10.2004

(152)

Recht auf Leben

Art. 6 I P B P R

M R K , dies legt Art. 52 Abs. 3 der Grundrechte-Charta ausdrücklich fest. Die Konventionspflichten über den Lebensschutz werden ergänzt durch zusätzliche völkerrechtliche Verpflichtungen, so vor allem durch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948 4 und neuerdings dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs5, durch die sich die jeweiligen Mitgliedstaaten u . a . zur Bestrafung oder Auslieferung der für Verbrechen gegen das Leben verantwortlichen Personen verpflichten. Solche besonderen Verpflichtungen werden, wie Art. 6 Abs. 2, 3 IPBPR hervorhebt, von Art. 6 IPBPR nicht eingeschränkt. Der Lebensschutz des Art. 2 M R K wird dadurch verstärkt, daß die von den Konventionen ursprünglich noch zugelassene Todesstrafe durch das 6. Zusatzprotokoll zur MRK vom 28.4.1983 6 grundsätzlich abgeschafft wurde, ebenso auch durch das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 15.12. 1989 angenommene 2. Fakultativprotokoll zum IPBPR 7 . Sie wird derzeit nur noch für Kriegszeiten zugelassen. Das noch nicht ratifizierte 13. Zusatzprotokoll zur MRK vom 3.5.2002 will auch diese Ausnahme abschaffen 8 . Die Bundesrepublik Deutschland ist dem 6. Zusatzprotokoll zur M R K und dem 2. Fakultativprotokoll zum IPBPR beigetreten.

1a

b) Die Ausnahmen, in denen der Lebensschutz gegenüber hoheitlichen Maßnahmen 2 nicht Platz greift, werden in Art. 2 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 M R K aufgezählt 9 , wobei der Katalog dann noch um die in Art. 2 M R K nicht erwähnte, nach Art. 15 M R K aber zulässige Tötung im Rahmen rechtmäßiger Kriegshandlungen zu ergänzen ist 10 . Abgesehen von dieser Ausnahme wird dort Art. 2 M R K notstandsfest gewährleistet. Art. 6 IPBPR stellt in Absatz 2 nur die Voraussetzungen fest unter denen die Todesstrafe zulässig ist. Im übrigen begnügt er sich damit, generell die willkürliche Tötung zu verbieten 11 . Auf einen die Gefahr von Lücken in sich tragenden 12 Ausnahmekatalog wird verzichtet. 2. Inhalt des Konventionsschutzes a) Schutzgut ist das menschliche Leben. Jeder einzelne, auch der Behinderte, Geistes- 3 kranke oder unheilbar Kranke 1 3 hat dem Staat gegenüber ein Recht auf Schutz seines Lebens bis zum Tode 14 . Ein Recht das Leben zu beenden und auf Sterbehilfe gewährleisten Art. 2 M R K , Art. 6 Abs. 1 IPBPR nicht 15 . Daraus folgt aber nicht notwendig, daß der Staat dadurch umgekehrt auch verpflichtet wird, jemanden gegen seinen eigenen Willen unter Einsatz aller Mittel zum Weiterleben zu zwingen 16 . Wer sein Leben been-

" BGBl. TT 1954 S. 730. ? BGBl. TT 2002 S. 1393. 6 BGBl. TT 1988 S. 663. das 6. ZP MRK gilt nur für die Mitgliedstaaten, die ihm beigetreten sind. vgl. Rdn. 15. 7 Die Bundesrepublik ist diesem Protokoll beigetreten, vgl. BGBl. TT 1992 S. 391; Bek. vom 20.4.1993 (BGBl. TT S. 880). s Vgl. Einf. Rdn. 28. 9 Zur Entstehungsgeschichte des auf unterschiedlichen Quellen beruhenden Art. 2 M R K vgl. Pansch 100. 10 Pansch 105; Guradze 13. 11 Zur Entstehungsgeschichte Nowak 12 ff. 12 Numik 12; FnmeinlPeukert 10. 13 IntKommEMRK/Li/ifOifov 47. (153)

14

16

Vgl. Grabemvarter § 20 Rdn. 2. Der Todesbegriff wird dabei nicht definiert, entsprechend der derzeitigen Auflassung dürfte vom Himtod (dauerhafter Eunktionsausfall des gesamten Gehirns) auszugehen sein TntKommEMRK/Zf/^Ci//n· 49; ferner etwa E K M R bei Bkckmaim EuGRZ 1981 20; je mit weit. Nachw. EGMR 29.4.2002 Pretty/GB (NJW 2002 2851); Grabenmirter § 20 Rdn. 3. IntKommEMRK/Lm*« Dolmetscher > Übersetzer Gesamtstrafenbildung Gleichbehandlungsgebot Allgemein ausgleichende Maßnahmen Chancengleichheit, Waffengleicheit insbes.

Teil des fairen Verfahrens Gnadenverfahren Großverfahren Haftprüfungsverfahren Heilung von Konventionsverstößen durch Kompensation in der nächsten Instanz Hinweispflichten des Gerichts Humanitäres Völkerrecht Immunität Internationale Organisationen parlamentarische völkerrechtliche Tnformationsrechte in dubio pro reo Tnstanzenzug zweite Instanz nach Verurteilung in Strafsachen Interessen der Rechtspflege Jugendliche, Verfahren gegen Juristische Personen Kinder-Konvention Körperschaften, öffentlich-rechtliche Konfrontationsrecht des Angeklagten mit Belastungszeugen Fragerecht

Rdn.

115, 148

Kontradiktorisches Verfahren insbes.

49, 57

Konsularische Vertretung Kontaktsperre Kostenentscheidungen KSZE Laienrichter Lockspitzel > Tatprovokation Maßnahmen der Gefahrenabwehl' Maßregeln der Besserung und Sicherung Menschenwürde insbes.

51 50 ff 52 47 17 44, 143 89,91,92 54a 136 48, 53 48, 54 ff 47 9, 42 ff 53

Meinungsverschiedenheiten über private Rechte Militärgerichte Mitangeklagte Mithäftling

41, 82

Mündlichkeit der Verhandlung

20, 44, 56 ff; 64b 60

Nachverfahren Nationales Recht maßgeblich, insbes.

60 ff, 64b, 182, 210 ff, 215, 217 49, 58 f, 61 ff, 203 41,85b, 270 185 37, 167 54b 54b, 60 f 72 ff 4 46 40, 45, 56 46, 56 69b 137 47, 261 ff ff 102, 203, 76,95,98, 101, 257 ff 14, 249 4 261

21

126, 210,

225, 227b ff 219

Nationale Sicherheit Nebenkläger Nebenbeteiligte Offenlegungsanspruch > Beweisrecht Öffentlichkeit Ausschluß der Öffentlichkeit bei Verhandlung Ausschluß bei Verkündung Kontrolle der Besucher Medienöffentlichkeit mündliche Verhandlung Privatbereich der Verhandlungsteilnehmer schriftliches Verfahren Sicherung der Öffentlichkeit durch Gericht Ton- und Filmaufnahmen U rteilsverkündung Verzicht Volksöffentlichkeit Zweck der Öffentlichkeit Opferschutz Ordnungsmittel Ordnungswidrigkeiten Parität des Wissens Parteienprozeß Persönlichkeitsrecht

Stand: 1.10.2004

59 ff, 64, 210 ff 160 179 44 4 54, 73 106 23 7, 64, 105, 115, 192, 249 20 ff 49, 52 214 253a 11,47, 89, 92 142 19 f, 29 ff, 55, 64, 79, 160, 204, 210,216,218 223, 230, 236 253, 255 44,61,64b, 95,97 13,28, 157, 214 28, 33, 214

95 ff 94, 101 87 88 11, 89 ff 100 90, 93 87 88 93 91,93,96 87 86 60, 226 30 30, 249, 25 l f 62 13,61 105, 107, 113,249 (284)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Rdn. Personenvereinigungen Presse Anonymisierung des Täters Berichterstattung Einschaltung bei Fahndung Mitteilungen an Presse über Strafverfahren Privatbeklagter Privatklage Privatleben, Schutz Protokollierung der Verhandlung Prozeßkostenhilfe Psychische Integrität Recht auf Gehör, insbes.

Rdn.

13 131 112 f 131 106,131 237 13,23,214, 237 95, 98, 101, 249 74a 44, 44a 21

7, 64b, 67, 69b, 194, 249 Rechtsmittel in Strafsachen 185,261 ff Recht auf zweite Instanz 261 ff Verwerfung bei Ausbleiben 189 Rechtsmittelbelehrung 242 Rechtsmittelfristen 185 Rechtsquellen, Stufenfolge der Prüfung 66, 67 20 Rechtsschutz, vorläufiger Rechtsstaatsgrundsatz, insbes. 7, 36, 64b, 76, 103 f, 107, 121, 128 Rechtspflege, Schutz der 95, 102 Richter > Gericht Ruf. guter 23 Sachverständige 13,28, 62, 214 Schnellverfahren 186 49 Schiedsgericht 103 Schuldgrundsatz > Unschuldsvermutung Schweigen des Angeklagten > Selbstbelastungsfreiheit Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur") Äußerungen gegenüber Privatleuten 253 Auskunftspflichten außerhalb des Strafverfahrens 253 Belehrung 68,71 Beweisverwertungsverbote 256 Beweiswürdigung des Schweigens 136,255 Duldungspflichten 248,253a Herausgabe von Beweismaterial 248 innerstaatlicher Verfassungsgrundsatz 249 Juristische Personen 249 Kernbereich des fairen Verfahrens 68, 71, 248 ff Konventionsgarantien 68, 248 ff Unterlaufen des Schweigerechts 253a Selbstleseverfahren 246 Sicherungsverfahren 32

(285)

Sozialgerichtsverfahren Sta atsangehörigkeit Staatsanwaltschaft Staatssicherheit Steuern Strafantrag Strafanzeige Strafbefehl Strafrechtliche Anklage im Sinn der Konventionen > Anklage Strafverfolgungsmaßnahmen > Entschädigung Strafvollstreckung Tatprovokation Überleitungsvertrag Übersetzung Akteninhalt Anschuldigung, Anklageschrift Briefverkehr bei U-Haft Haftbefehl Kosten mündliche Sprachübertragung Urteil wichtige Schriftstücke Unschuldsvermutung Allgemein Allgemeinverbindichkeit der Unschuldsvermutung amtliche Verlautbarungen über Strafverfahren andere Konventionsgarantien berufsgerichtliche Verfahren Disziplinarverfahren Einstellung des Verfahrens ergebnisoffene Verfahrensführung Exklusivität der strafgerichtlichen Schuldfeststellung Fahndungsmaßnahmen Freispruch Geständnis grundrechtlicher Persönlichkeitsschutz innerstaatlicher Verfassungsgrundsatz

Kostenentscheidungen Maßnahmen der Gefahrenabwehr Medien berichterstattung Ordnungswidrigkeitenverfahren Prognosen „Schuldspruchreife" Schutzpflicht des Staates

Walter Gollwitzer

21

27 61, 68 44, 97 27, 30 39 13,28,39, 62 42

126 41,43, 128 68 45 172,242 172, 242 245 171 245, 247 242,246 243 242 3, 8, 103 flf, 150,248 113, 150 ff 106, 131 113 f 121 121

141 ff, 157 105, 119, 131 108, 152 124,131 106,150, 159 115, 136 107,110,248 112,113 8, 105 f, 110 f, 155 143 106 113 121 149 128, 140, 142, 145 114,133

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Rdn.

Subjektives Konventionsrecht des Angeklagten

Rdn. Bestellung

104,115, 118

Tragweite der Konventionsgarantien unmittelbare Drittwirkung? Verdachtsstrafen Verfahrensunbeteiligte Dritte Verzicht Widerruf der Strafaussetzung Wiederaufnahme Zuweisung unbewiesener strafrechtlicher Schuld im Rechtsverkehr Unterrichtung des Beschuldigten über Anschuldigung alsbaldige Anschuldigung bei Änderung der Sach- oder Rechtslage Gefahrdung des Untersuchungserfolgs Geheimhaltung von Informationen Haftprüfungsverfahren Heilung von Unterrichtungsmängeln in einer für ihn verständlichen Sprache über Beweismittel über Inhalt einer Zeugenaussage über Rechtsbehelfe Unterrichtung des Verteidigers Untersuchungsausschuß Untersuchungshaft Urkundenbeweis Urteilsbegründung Begründungspflicht Ermessensentscheidungen Rechtsmittelentscheidungen Übersetzung Urteilsverkündung Verbrechensopfer Verdeckte Ermittlungen Verfahren, schriftliches Verfahrenserledigung in angemessener Frist > Aburteilung in angemessener Frist Verfahrenshindernis Verfallserklärung Verhältnis der Konventionsgarantien zueinander Verhältnis zum Verfassungsrecht Verhandlung, mündliche > Gericht Verhältnismäßigkeit, Grundsatz der Verletzter Vermutungen, gesetzliche Vernehmung, audiovisuelle Versprechungen Verteidiger Belehrung über Recht auf Verteidiger

111, 117 ff. 136 113 139 133 115 148 130 112, 151

163 f 162, 167 ff 169 165 167 166 171 167,197 221 173 170 40 76 211 74 74 74 243 101 ff 99 224 90

85b, 145 33 2,6 7

13 138 228 253b 208 ff

177, 181, 205 eigene Wahl 195 ff Pflichtverteidiger 194, 197, 201 ff, 206, 227b Kontaktsperre 179 Kosten 207 Überwachung des Pflichtverteidigers 206 Verkehr mit Angeklagten 175, 177 ff Vorbereitung von Rechtsmitteln 185 Wechsel 184 Zuziehung 164, 179 „Zwangsverteidiger" 197 Verteidigung ausreichende Vorbereitungszeit 174 ff, 183 ff Ermittlungseingriffe 61, 162, 176 Gesamtwürdigung 174, 193 inhaftierter Angeklagter 178 Mindestrechte 160 ff Rechtsbehelfe 185 sachgerechte Verteidigung 60 ff, 160, 162, 164, 177, 187, 193 ff Schnellverfahren 186 Teilnahme an Beweiserhebung 164, 176 Verteidugungsunterlagen, Beschlagnahme 72, 176 Vertrauensschutz 73a Verwaltungsrechtsweg 21 Verzicht 91,115 Völkerrecht 29, 46, 67 Vollstreckungsverfahren 43, 128 Vorfragen 109 Vorgeschaltetes anderes Verfahren 43, 51 Vorlage bei anderem Gericht 47 Waffengleichheit > Gleichbehandlungsgebot Wahldeutige Tatsachengrundlagen Wahlrecht Wahrheitserforschung Wiederaufnahme des Strafverfahrens Wiedereinsetzung Willkür, Ausschluß

Willkürkontrolle durch den EGMR Zeugen anonyme autonomer Begriff Belastungszeugen eigene Konventionsrechte? Einvernahme im Ausland Entlastungszeugen geheimgehaltene Informanten Stand: 1.10.2004

168 27,30 79 41, 130 44a 47, 55, 62, 86, 135,218, 232 41 228 213,214, 223 223 ff, 227 ff 13, 28, 64a 229 210,222 226 (286)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n Rdn. gesperrte Zeugen Kammeragent Mitangeklagter als Zeuge, mittelbare Zeugen Selbstladungsrecht des Angeklagten Schutz des Zeugen

Art. 14 IPBPR Rdn.

218 ff 253

unerreichbare Zeugen Zeugen vom Hörensagen Zeugnisverweigerungsrecht Zollrecht Zusagen Zwischenverfahren

223 210, 217 60, 64b, 228

227 224 ff 216,227a 30 74 20a, 84

I. Allgemeines 1. Als selbständige Menschenrechte werden das Recht auf ein gerichtliches Verfahren 1 und wichtige Verfahrensgrundsätze durch Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR besonders garantiert, allerdings nicht umfassend, sondern selektiv für zwei für die Rechte des einzelnen besonders wichtige Sachbereiche: für den Streit um seine Ansprüche, die seinen weit verstandenen zivilen Bereich berühren 6 und bei der Anklage wegen einer Straftat 7 . Die Verfahrensgarantien tragen der Erkenntnis Rechnung, daß der Menschenrechtsschutz unvollkommen ist, wenn die Verbürgung materieller Rechte nicht durch die Gewährung des Zugangs zu Gericht und von Verfahrensrechten abgesichert wird, die ermöglichen, daß über diese Rechte unparteiisch in einem fairen Verfahren entschieden wird. Jede Garantie der Menschenrechte wird praktisch wertlos, wenn ihre Durchsetzung am Verfahren scheitert, sei es, daß keine Möglichkeit besteht, bei ihrer Verletzung die Entscheidung eines unabhängigen Gerichts herbeizuführen, sei es, daß der Betroffene seine Rechte wegen inadäquater oder ihn benachteiligender Verfahrensregeln nicht oder nur unzulänglich vor Gericht vertreten kann 8 . Neben den allgemein geltenden Verfahrensgrundsätzen in Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 2 Abs. 1 IPBPR stellen Art. 6 Abs. 2, 3 M R K , Art. 14 Abs. 2, 3 IPBPR für das Verfahren über die Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen noch Einzelforderungen auf, die in Art. 14 Abs. 4 bis 7 IPBPR durch zusätzliche Bestimmungen ergänzt werden. Weitere Verfahrensgarantien enthalten die Art. 5, 7 M R K , Art. 9, 10, 15 IPBPR, ferner Art. 13 M R K , dessen Beschwerderecht jedoch verdrängt wird, soweit Art. 6 Abs. 1 M R K für die dort genannten Sachbereiche weitergehende Spezialgarantien (wie Zugang zu Gericht) enthält 9 . Schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 werden 3 auch Verfahrensrechte als Menschenrechte gewährleistet. Nach Art. 10 hat jedermann Anspruch darauf, daß in voller Gleichberechtigung über seine Ansprüche und Verpflichtungen und über eine strafrechtliche Anklage durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht in billiger Weise öffentlich verhandelt wird. Für das Strafverfahren fordert Art. 11 Abs. 1 dieser Erklärung außerdem, daß jeder, der wegen einer strafbaren Handlung angeklagt wird, als unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien hatte, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist. Dieselben Grundgedanken werden - mitunter abgewandelt - in verschiedenen ande- 4 ren Erklärungen bekräftigt. So werden in der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom 12.4.1989 10 in Art. 19 der wirksame Zu-

6 7

8

Vgl. dazu Rdn. 19 ff. Zu diesem ebenfalls weit verstandenen Begriff vgl. Rdn. 28 ff. Vgl. Partsch 141.

(287)

9

10

Matscher FS Seidl-Hohenveldern 315; 336; zur teilweise geänderten Beurteilung der Konkurrenzfragen vgl. Art. 13 Rdn. 6 ff. EuGRZ 1989 204.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

gang zu Gericht bei Verletzung der Rechte und Freiheiten sowie allgemein das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gefordert. Das Kopenhagener Abschlußdokument über die menschlichen Dimensionen der KSZE vom 29.6.1990 hat die wesentlichen Verbürgungen von Art. 6 M R K und Art. 14 IPBPR meist mit deren Wortlaut wiederholt". In abgewandelter Form finden sie sich auch in Art. 40 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 12 , sowie in sonstigen Ubereinkommen, vor allem auch in den Übereinkommen des humanitären Völkerrechts13. 4a

Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union 14 führt bei Kapitel VI unter den allgemein und damit - anders als bei den Konventionsgarantien - für jede Art von Verfahren geltenden „Justiziellen Rechten" in Art. 46 unter Verzicht auf Details im wesentlichen gleichartige Rechte auf wie Art. 6 M R K , so insbesondere das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht und auf ein öffentliches, faires Verfahren. Nach ihrem Art. 47 gilt jede angeklagte Person bis zum rechtsförmlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Die Achtung ihrer Verteidigungsrechte wird gewährleistet. Soweit diese Rechte den durch die M R K garantierten Rechte entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite (Art. 52 Abs. 3 der Charta).

5

Der Europäische Gerichtshof sieht aber bereits jetzt in der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes und eines fairen Verfahrens entsprechend Art. 6, 13 M R K einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der sich aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten und der Menschenrechtskonvention ergibt und der nach Art. 6 Abs. 2 EUV im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts Gemeinschaftsverfassungsrang hat 1 5 . Die Versagung eines aus dem Gemeinschaftsrecht sich ergebenden Rechts muß bereits innerstaatlich angefochten werden können 1 6 .

6

2. Verhältnis zwischen Art. 6 MRK und Art. 14 IPBPR. Die Regelungen in Art. 6 M R K decken sich inhaltlich im wesentlichen mit Art. 14 Abs. 1 bis 3 IPBPR. Die Art. 14 Abs. 4 bis 7 IPBPR enthalten weitergehende Gewährleistungen, die abgesehen von Art. 14 Abs. 4 IPBPR, später in den Art. 2 bis 4 des 7. ZP zur M R K vom 22.11.1984 übernommen worden sind, dem die Bundesrepublik aber nicht beigetreten ist. Als Bundesrecht gilt daher nur Art. 14 Abs. 4 bis 7 IPBPR nach Maßgabe der dazu erklärten Vorbehalte 17 .

7

3. Innerstaatliches Verfassungsrecht. Das Hauptanliegen der Art. 6 M R K , Art. 14 Abs. 1 bis 3 IPBPR, den Zugang zu einem unabhängigen Gericht und ein „faires", Deutscher Wortlaut EuGRZ 1990 239 (dort Nrn. 5.14 bis 5.19); vgl. Einf. Rdn. 18. Dieses Übereinkommen (sog. Kinderkonvention) ist durch Zustimmungsgesetz vom 17.2.1992 (BGBl. TT S. 121) ratifiziert worden; wegen der Einschränkungen (keine innerstaatlich unmittelbare Anwendung und weitere Vorbehalte) vgl. BTDrucks. 12 1535 S. 4; ferner auch Beschluß des Bundestages, BTDrucks. 12 1579. So etwa Art. 105, 106 des TTT. Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 12.8. 1949 (BGBl. TT 1954 S. 838), Art. 72-74 des TV. Genfer Abkommens zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949 (BGBl. TT 1954 S. 917; ber. II 1956 S. 1586), Art. 75 Abs. 3, 4 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen

14

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16 17

über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8.6.1977 (BGBl. II 1990 S. 1551) und in Art. 6 des Zusatzprotokolls II über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte vom 8.6.1977 (BGBl. II 1990 S. 1637). Text EuGRZ 2000 554: Die Charta, die für den Bereich des Gemeinschaftsrechts gilt (Art. 52 Abs. 1), soll als Teil der Europaischen Verfassung rechtsverbindlich werden. Vgl. Einf. Rdn. 47. Etwa EuGH NJW 2000 1853; Pache NVwZ 2001 1343. EuGH bei IlilßCiesla EuGRZ 1990 368. Vgl. Art. 1 Nr. 3 Gesetz vom 15.11.1973 (BGBl. II S. 1533).

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

rechtsstaatliches Verfahren zu sichern, deckt sich weitgehend mit den Verbürgungen des innerstaatlichen Verfassungsrechts. Dieses gewährleistet jedermann, Inländern und Ausländern gleichermaßen 18 , einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, der, weiter als die Konventionen, für alle Verfahren und Verfahrensbeteiligten (im weiten Sinne) gilt, also auch für Zeugen und Sachverständige 19 . Dieses Verfahrensgrundrecht wird aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), aus Art. 19 Abs. 4 G G , aus der Gewährleistung der allgemeinen Freiheitsrechte und der Achtung der Menschenwürde hergeleitet 20 . Es verlangt ein justizförmiges Verfahren, das sich an den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit orientiert und das die Verfahrensbeteiligten nicht als Objekte der Rechtsprechung behandelt, sondern ihnen ermöglicht, in einem geordneten und in den gegenseitigen Rechten ausgewogenen Verfahren den eigenen Standpunkt wirksam zu vertreten und in gleichem Umfang wie die anderen Prozeßparteien aktiv mit eigenen Befugnissen auf Gang und Ergebnis Einfluß zu nehmen 2 1 . Ein wichtiger Teilaspekt des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, das Recht auf Gehör, wird durch Art. 101 Abs. 1 G G für alle Verfahren noch besonders gewährleistet 22 . Im Strafverfahren gehört zu diesen Rechten vor allem die Befugnis des Beschuldigten, sich als eigenverantwortliches Prozeßsubjekt mit eigenen Verfahrensrechten in einem fairen Verfahren wirksam gegen die erhobene Beschuldigung zu verteidigen und sich gegen Eingriffe des Staates wehren zu können 2 3 . Dies schließt das Recht auf einen Dolmetscher ein, sofern dies notwendig ist, damit ein der deutschen Sprache nicht hinreichend Kundiger die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge verstehen und sich dem Gericht verständlich machen kann 2 4 . Die Unschuldsvermutung, die mit unterschiedlichen Formulierungen in einigen Länder- 8 Verfassungen ausdrücklich aufgenommen ist 25 , wird im Grundgesetz nicht angesprochen; sie wird aber auch in diesem mit Verfassungsrang gewährleistet 26 . Sie ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und des Schutzes der Grundrechte; in diese darf der Staat durch eine strafrechtliche Verurteilung erst eingreifen, wenn die Eingriffsvoraussetzung, nämlich das Vorliegen einer Straftat, voll nachgewiesen ist 27 . Das Recht auf Zugang zu den Gerichten wird von Art. 19 Abs. 4 G G zwar nur bei 9 allen Rechtsverletzungen durch Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ausdrücklich garantiert. Aus dem Rechtsstaatsprinzip, der Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 G G , dem Gesetzmäßigkeitsgrundsatz und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt jedoch auch im übrigen, daß der einzelne grundsätzlich die Möglichkeit haben muß, eine Entscheidung der unabhängigen Gerichte in einer ihn betreffenden Sache herbeizuführen 2 8 , 18

" 20

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23

BVerfGE 40 98; Kruis StraFo. 2003 36. Vgl. BVerfGE 38 112 (Recht auf Anwalt als Zeugenbeistand). Etwa BVerfGE 54 277, 292; 78 88, 99; 89 347, 356; vgl. Kruis StraFo. 2003 36. BVerfGE 24 401; 25 361; 26 71; 37 148; 38 111; 39 238; 40 99; 41 249; 46 210; 57 274; 64 145; 70 297; 78 126; ferner etwa Dörr 144 ff; NiemöllerlSchuppen AöR 107 (1982) 397; Rüping JZ 1983 663. Der grundrechtlich gesicherte Anspruch auf ein faires Verfahren ist weiter als das Recht auf Gehör, aus dem nicht alle Befugnisse auf aktive Teilhabe am Verfahren abgeleitet werden können (BVerfGE 64 143 ff = JZ 1983 659 mit Anm. Rüping): Dörr 98. Vgl. ferner LR-Rieß Einl. Η 99 ff. BVerfG, stand. Rspr., etwa BVerGE 57 275 ff; 63 60; 337; NStZ 1991 294; vgl. oben Fußn. 9; ferner Rdn. 67; LR-Rieß Einl. Η 71, 80 ff; mit weit.

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28

Nachw.; ferner etwa SK-StPO-Rogall Vor § 133, 104. BVerfGE 64 146 = JZ 1983 659 mit Anm. Rüping: BVerfG EuGRZ 1986 439. Vgl. Rdn. 105. BVerfGE 82 106, 114, 119: BVerfG NJW 2002 3231; Sickenberg 48 ff, 544; LR-Rieß Einl. I 75 ff; vgl. auch nachf. Fußn. Vgl. BVerfGE 19 347; 22 265; 25 331; 35 320; 71 216?; 74 370; BVerfG NJW 1990 2741; ferner etwa IntKommEMRK/ Vogler 382; Kühl Unschuldsvermutung 10; NJW 1988 3233; Meyer FS Tröndle 61; Niemöllerl Schuppen AöR 107 (1982) 470; Sickenberg 48 ff mit weit. Nachw.; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 74, sowie Rdn. 107. Bonn.Komm.-Sc/!«)/«' GG Art. 19, 77; Klopfer JZ 1979 210 (verfassungsrechtliche Funktionsgarantie zugunsten der Rechtsprechung).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wobei allerdings der Zugang nicht lückenlos sein muß 2 9 . Spezielle Garantien für die Einschaltung des Gerichts enthalten ferner einzelne Artikel des Grundgesetzes, die, wie etwa Art. 13 Abs. 2 bis 5, Art. 14 Abs. 3; Art. 104 Abs. 2, 3 GG, die Entscheidung über bestimmte Eingriffe dem Richter vorbehalten. 10

Das Rechtsstaatsprinzip fordert auch, daß die gerichtlichen Verfahren in angemessener Zeit entschieden werden. Vor allem Strafverfahren sind beschleunigt und ohne jede vermeidbare Verzögerung zu erledigen. Der Beschuldigte muß die Belastungen und Beeinträchtigungen durch das schwebende Verfahren im Interesse einer effektiven Strafrechtspflege nur solange hinnehmen, als dies von der Sache her unvermeidlich ist; dies rechtfertigt nicht erhebliche Verzögerungen, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen und die nach den konkreten Umständen objektiv nicht erforderlich sind oder für die überhaupt jeder einsichtige Grund fehlt 30 . Eine danach ungerechtfertigt lange Verfahrensdauer verletzt den Betroffenen in seinen durch Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 G G gewährleisteten Rechten 31 .

11

Die Unabhängigkeit der Richter ist durch Art. 97 G G gewährleistet, das Verbot der Doppelaburteilung folgt aus Art. 103 Abs. 3 GG. Dagegen sind die Prinzipien der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens keine vom Grundgesetz mit Verfassungsrang vorgeschriebenen Verfahrensgrundsätze 32 .

II. Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich 12

1. Persönlicher Geltungsbereich. Der Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung und die Verfahrensrechte vor Gericht werden von Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR nicht für alle Arten von Ansprüchen und für alle gerichtlichen Verfahren gewährt, sondern nur denjenigen, deren (zivile) Ansprüche und Verpflichtungen streitig sind 33 oder gegen die eine strafrechtliche Anklage erhoben wurde 34 . Innerhalb dieser beiden Sachbereiche ist jeder berechtigt, dessen eigene Rechte oder Verpflichtungen betroffen sind, aber auch der, der nach nationalem Recht befugt ist, ein fremdes Recht oder eine fremde Verpflichtung im eigenen Namen geltend zu machen. Fehlt allerdings im nationalen Recht jede Rechtsgrundlage für einen behaupteten Anspruch, scheidet eine Berufung auf Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR aus 35 . Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Bestehen eines Anspruchs erwiesen sein muß, es muß nur plausibel argumentiert werden können, daß sich aus dem nationalen Recht generell ein Anspruch dieser Art herleiten läßt 36 .

13

Rechtsträger sind im Parteienprozeß, der über einen zu den „civil rights" zählenden Anspruch 3 7 geführt wird, vor allem die Prozeßparteien und die ihnen gleichgestellten Personen. Unter dem Blickwinkel des Betroffenseins von einer strafrechtlichen Anklage fällt nur der unter den Schutz, gegen den sich die Anklage richtet, also nur der Beschuldigte/Angeklagte, ferner wohl auch Nebenbeteiligte, wenn sie hinsichtlich ihrer sach-

» ßonn.Komm.-Sehenke GG Art. 19, 76. -"· BVerfG NJW 1984 967 (Vorprüfungsausschuß); ferner etwa Ilanack JZ 1971 711; Ilillenkamp JR 1975 135; Klopfer JZ 1979 214; NiemüllerlScIuippert AöR 107 (1982) 467; /. Roxin 158 ff; Schroth NJW 1990 29. 31 BVerfG standige Rechtspr. etwa BVerfGE 63 45, 69; BVerfG NJW 1984 967; LcmsnickerlSchwilzeck NJW 2001 1969 mit weit. Nachw. 32 Vgl. BVerfGE 4 94; 15 307; Odersky FS Pfeiffer

33 34 35

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325; dagegen verbürgt Art. 90 BayVerf. grundsätzlich die Öffentlichkeit aller gerichtlicher Verfahren. Zur Tragweite vgl. Rdn. 19 ff. Zur Tragweite vgl. Rdn. 28 ff. E G M R 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); FroweinlPeukerl 8. EGMR 27.10.1987 Boden/Schwed (NJW 1989 1423); Matscher FS Seidl-Hohenveldern 315. Vgl. Rdn. 19.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

liehen Betroffenheit durch die Anklage und ihrer Verfahrensbefugnisse im nationalen Recht dem Angeklagten gleichgestellt sind. Personen, die keine Prozeßparteien sind oder gegen die sich das Strafverfahren nicht richtet, wie etwa Verletzte, Zeugen oder Sachverständige 38 , aber auch ein Privat- oder Nebenkläger können keine Rechte aus Art. 6 M R K herleiten 39 . Das gilt auch für den Erstatter einer Anzeige; ein Recht auf Strafverfolgung anderer räumen Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR nicht ein 40 . Jedermann bei dem die Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich auf Art. 6 M R K , 14 Art. 14 IPBPR berufen, ganz gleich, ob er im Inland oder Ausland wohnt und welche Staatsangehörigkeit er hat. Auch ein besonderes Statusverhältnis, wie Militärdienst oder Strafgefangener, schließt dies nicht aus; die Ansprüche aus dem Statusverhältnis selbst gehören allerdings in der Regel nicht zu den beiden Anwendungsbereichen 41 . Die Ansprüche stehen nach Art. 6 M R K auch Personenvereinigungen und juristischen Personen zu 42 , soweit sie im jeweiligen Verfahren parteifähig oder angeklagt (vgl. § 444 StPO) sind, nicht aber dem Staat bei Ausübung der öffentlichen Gewalt und wohl auch nicht als Fiskus, wie aus der Regelung des Einzelbeschwerderechts nach Art. 25 a. F M R K geschlossen wird 43 . Bei Art. 14 IPBPR ist dagegen strittig, ob seine nur den einzelnen Individuen („individuals", „les individus") durch Art. 2 Abs. 1 IPBPR garantierten Rechte auch den juristischen Personen und Personenvereinigungen als solchen oder nur ihren Mitgliedern zustehen 44 . 2. Sachlicher Geltungsbereich; Eingrenzung a) Nur für die in Absatz 1 genannten Sachbereiche werden der Anspruch auf eine 15 gerichtliche Entscheidung und die Grundsätze für gerichtliche Verfahren garantiert. Sie gelten nicht für alle gerichtlichen Verfahren schlechthin; insbesondere gewährleisten Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR (anders als Art. 19 Abs. 4 G G ) weder eine umfassende gerichtliche Kontrolle jedes staatlichen Eingriffs in Rechte noch eine innerstaatliche gerichtliche Überprüfung des nationalen Rechts auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht 45 . b) Für die Abgrenzung der geschützten Sachbereiche ist nicht maßgebend, wie das jeweilige nationale Recht die einzelnen Frage zuordnet. Die Zuordnung der Rechtsinstitute ist in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich. Die in den Konventionen verwendeten Begriffe sind deshalb im Interesse eines einheitlichen Rechtsschutzes autonom nach Sinn und Zweck der Konventionen auszulegen. Die vorherrschenden Auffassungen in den Rechtssystemen der Vertragsstaaten sind mitzuberücksichtigen 46 , sie sind aber nicht allein entscheidend. In den Randbereichen ist nicht endgültig geklärt, welche Ver-

-,s l-'roweinlPeukert 4; Grahemvarter § 24 Rdn. 18; Guradzc 4. » H . M , etwa Meyer-Goßner47 1; SK-StPO-Paejfgen

41

EGMR 5.10.1999 Grams/D (NJW 2001 1989); vgl. auch SK-StPO-PaeZ/ifei? 66, wonach sich aus der Pflicht des Staates, das Leben zu schützen (Art. 1, 2 MRK) eine Pflicht zu Ermittlungen und zur Bestrafung der Verantwortlichen ergeben kann; vgl. dazu Art. 2 Rdn. 17. Streitigkeiten, die das Verhältnis selbst betreffen, haben keine zivilen Rechte oder Verpflichtungen zum Gegenstand, vgl. FroweinlPeukert 6; TntKommEMRK- Vogler 155 mit weit. Nachw.; ferner Rdn. 26.

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42 44

12. 4(1

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45

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l-'roweinlPeukert 6; vgl. etwa EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1982 532 (Kaplan). Frowein/Pcukerl 6; Guradze 9; a. Α Schorn 3. Vgl. Nowak Art. 2 Rdn. 22 ff; Art. 1 M R K Rdn. 9 ff. EGMR 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 527); 21.2.1986 James/GB (EuGRZ 1988 341); vgl. Art. 13 M R K Rdn. 16. E G M R 28.6.1978 König/D (NJW 1979 477); 27.2.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 667); FroweinlPeukert 7; Nowak 10; Uhamer ES Zeidler 1813; Weh EuGRZ 1985 469; 1988 433.

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M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

fahren von Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR erfaßt werden 47 . D a sich beide dort angeführten Sachgebiete nicht gegenseitig ausschließen 48 und sich als Folge der durch den Schutzzweck gebotenen weiten Auslegung überschneiden, ergibt sich mitunter die Anwendbarkeit der Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR aus mehreren Gesichtspunkten. Die pragmatisch handelnden Konventionsorgane der M R K lassen es dann meist genügen, wenn die Anwendbarkeit aus einem Grund bejaht werden kann 4 9 . Die nur für strafrechtliche Anklagen aufgestellten besonderen Verfahrensrechte des Art. 6 Abs. 3 M R K werden gegebenenfalls aus dem für beide Sachbereiche geltenden Recht auf ein faires Verfahren hergeleitet. 17

c) Nur die nationalen Gerichtsorgane der Vertragsstaaten werden von den Verfahrenspflichten der Konventionen erfaßt, nicht aber die internationalen Gerichte, deren Verfahrensordnung vom einzelnen Vertragsstaat nicht beeinflußt werden kann 5 0 . Soweit jedoch die Mitgliedsstaaten Entscheidungen über Angelegenheiten ihrer Bürger, die unter Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR fallen, gemeinsamen Gerichten übertragen haben, müssen sie dafür sorgen, daß die Verfahrensgarantien dieser Artikel auch dort nicht verkürzt werden 51 . Die Gerichte der Europäischen Union beachten die Verfahrensrechte des Art. 6 M R K als auch für sie geltendes Gemeinschaftsrecht (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV) 52 ; auch für sie gilt das Recht auf eine Entscheidung in angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 M R K 5 3 .

18

Die Konventionsorgane der MRK halten Art. 6 M R K auf ihr eigenes Verfahren für nicht anwendbar 5 4 . 3. Meinungsverschiedenheiten des privaten Lebensbereichs

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a) Der Begriff der Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen55 (Art. 6 Abs. 1 M R K : „in the determination of his civil rights and obligations", „contestations sur ses droits et obligations de caractere civil"; Art. 14 Abs. 1 IPBPR: „his rights and obligations in a suit of law", „des contestations sur ses droits et obligations de caractere civil") ist in den Grenzbereichen nicht abschließend geklärt 56 . Der E G M R lehnt es ab, einfach die Abgrenzungen des jeweiligen nationalen Rechts zu übernehmen 57 oder selbst eine abstrakte Definition dieses Begriffes zu geben 58 . Er fordert eine autonome

Vgl. die Übersicht über die Spruchpraxis bei FroweinIPeukeri 11 ff; 35. TntKommEMRK- Vogler 188 mit Hinweis auf E G M R 23.11.1976 Engel u. a. /NdL (EuGRZ 1976 221); 28.6.1978 König/D (NJW 1979 477); 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 10.2.1983 Albert, Le Compte/Belg (EuGRZ 1983 190); 25.3.1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475). E G M R 23.11.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); 10.2.1983 Albert, Le Compte/Belg (EuGRZ 1983 190); FroweinIPeukert 1. Vgl. FroweinIPeukert 5, Fußn. 23 (Oberstes Rückerstattungsgericht - inzwischen aufgehoben und auf BGH übergeleitet; G vom 17.12.1990 BGBl. I S. 2862). Zur Verbindlichkeit der normativen Grundrechtsverbürgungen im Bereich der EU vgl. Einf. Rdn. 25. Etwa SK-StPO-Paeffgen 14 mit weit. Nachw. Vgl. EuGH NJW 1999 3548.

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57

FroweinIPeukert 5, Fußn. 23. Die letztlich für die Auslegung nicht maßgebende deutsche Übersetzung darf nicht zu einer zu engen Auslegung verleiten, vgl. IntKommIΛ1RΚ- \//ί'//Λler 56 ff; Meyer-Ladewig 4 ff. Zur Entstehungsgeschichte FroweinIPeukeri 2 ff; Guradze 2; TntKommEMRK-M/efafe)· 33 ff; Nowak 1 ff; Partseh 141, ferner EGMR 29.5.1986 Deurneland/D (EuGRZ 1988 31; Minderheitenvotum). Zur Auslegung BuergenthallGeweinI AVR 13 (1967) 393. Etwa E G M R 28.6.1978 König/D (EuGRZ 1978 415); 29.9.1986 Feldbrugge/NdL (1988 14). EGMR 29.5.1986 Feldbrugge/NdL (EuGRZ 1988 14); 23.10.1985 Benthem/NdL (EuGRZ 1986 299); 31.3.1991 X/Fr (ÖJZ 1992 772); vgl. auch 28.6. 1978 König/D (EuGRZ 1978 406); 23.6.1981 Le Compte/B (EuGRZ 1981 551), FroweinIPeukeri 15 (keine abstrakte Definition sondern Versuch einer evolutiven Auslegung).

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R e c h t a u f ein f a i r e s V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Auslegung dieses Begriffs, die sich an Sinn und Zweck dieser Konventionsgarantie orientiert 59 und neigt deshalb einer weiten Auslegung zu, die ohne Rücksicht auf die innerstaatliche Zuordnung nicht nur die herkömmlich im bürgerlichen Recht wurzelnden Ansprüche umfaßt sondern darüber hinaus auch andere Ansprüche, wenn sie Vermögenswerte Rechte des einzelnen betreffen oder sich unmittelbar auf sie auswirken 60 , so, wenn der behauptete Anspruch das Bestehen oder die Tragweite eines Rechts betrifft, das den Bereich der privaten Lebensgestaltung unmittelbar mitbestimmt 6 1 . Einbezogen werden weitgehend alle Ansprüche, welche zumindest im Ergebnis für das Bestehen oder die Tragweite vermögenswerter Ansprüche oder Verpflichtungen unmittelbar entscheidend sind 62 . Sieht man den Schutzzweck darin, in Ergänzung der materiellen Freiheitsgarantien den individuellen Rechtsraum der privaten Lebensführung zu sichern und dem einzelnen die effektive Durchsetzung der Rechte seines Privatbereichs ebenso zu garantieren wie die Verteidigung gegen alle diesen Lebensbereich betreffenden Ansprüche, dann kommt es darauf an, ob ein Streit bei einer Gesamtbetrachtung seiner Auswirkungen nach der generellen Struktur der nationalen Rechtsordnung Vermögenswerte Rechte oder sonst eine Rechtsposition des Privatbereichs unmittelbar betrifft 6 3 . Entscheidend ist, ob das Ergebnis, das mit dem strittigen Anspruch erreicht werden soll, für den Privatbereich des Betroffenen, insbesondere seine Vermögenslage, unmittelbar relevant ist 64 . Bei der Gesamtwürdigung des geltend gemachten Anspruchs muß den privatrechtlichen Wesenszügen stärkeres Gewicht zukommen als dem öffentlichen Recht 65 . Nicht ausschlaggebend ist, ob die jeweilige nationale Rechtsordnung den konkreten Anspruch dem bürgerlichen oder dem öffentlichen Recht zuordnet 6 6 , ob sich auf beiden Seiten Privatpersonen gegenüberstehen 67 und auf welchem Rechtsweg nach

55

60

E G M R 28.6.1978 König/D ( E u G R Z 1978 406); 12.7.2001 Ferrazzini/1 ( N J W 2002 3453) mit weit. Nachw. Grabemvarter § 24 Rdn. 6 unterscheidet drei G r u p pen a) Auswirkung auf Eigentum und vertragliche Rechtsbeziehungen vor allem im Schutzbereich der Berufs- und Erwerbsfreiheit und in der Freiheit des Eiegenschaftsverkehrs, b) Abwägungsjudikatur vor allem im Sozialbereich. wenn die privatrechtlichen Elemente die öffentlich-rechtlichen überwiegen u n d c) Verfahren mit vermögenswertem Gegenstand oder behaupteter Verletzung vermögenswerter Rechte; dazu SK-StPO-ftie/j'gCT 16; vgl. auch Lansnickerl Schwirlzek N J W 2001 1969, 1971 f.

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I n t K o m m E M R K - Vogler 50; 55; vgl. die Beispiele aus der keinesfalls einheitlichen Rechtsprechung bei Peukert E u G R Z 1979 266; Froweinl Peukert 17 ff, Grabemvarter § 24 R d n . 6; Meyer-Ladewig 7 ff. SKS t P O - P a e f f g e n 15, 16 je mit weit. Nachw., sowie die nachf. F u ß n .

62

E t w a E G M R 27.7.2000 Klein/D ( N J W 2001 213); 25.2.2001 Gast, P o p p / D ( N J W 2001 211); 8.1.2004 Voggenreiter/D ( E u G R Z 2004 151); Meyer-Ladewig 7.

«

Etwa E G M R 28.9.1995 Procola/Lux ( Ö J Z 1996 193 Festlegung von Milchquoten), ferner E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 94; vgl. aber BuergenihüHKewenig AVR 13 (1967) 393 u n d die nachf. Fußn. Etwa E G M R 26.3.1993 Editions Periskope/F (ÖJZ

64

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1992 771); 19.4.1994 Van de H u r k / N d l (ÖJZ 1994 819); 25.9.1994 Ortenberg/Ö (ÖJZ 1995 225: Bebauungsplan, Baubewilligung); 28.9.1995 Procola/ Lux (ÖJZ 1996 193: Milchquote); 27.7.2000 Klein/D ( N J W 2001 213 Entgelt f ü r Stromlieferung). l''roweinlPeukert 15 ff"; Meyer-Ladewig 7. 65

«

67

E G M R 9.12.1994 Schouten & M e l d r u m / N d L (ÖJZ 1995 396 Leistung von Sozialversicherungsbeiträge); zu den Sonderproblemen der beamtenrechtlichen Streitigkeiten vgl. R d n . 26. E G M R 29.5.1986 D e u m e l a n d / D ( E u G R Z 1988 26); 27.10.1987 Pudas/Schwed ( E u G R Z 1988 448); 28.9.1995 Procola/Lux (ÖJZ 1996 193); Grabenwarter § 24 R d n . 6; I n t K o m m E M R K - Vogler 33. Gegen eine institutionelle Abgrenzung nach M a ß gabe des jeweiligen nationalen Rechts etwa BuergenthallKewenig AVR 13 (1967) 393 unter Hinweis auf die Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen, ferner zur Auslegung Dijk F S W i a r d a 131 ff; Schwarze E u G R Z 1993 377 (funktionale Abgrenzung). FroweinlPeukert 17 ff. Z u r fehlenden Unterscheidung zwischen öffentlichem u n d privatem Recht im angelsächsischen Recht: I n t K o m m E M R K - Vogler 32. Etwa E G M R 28.6.1978 König/D ( E u G R Z 1978 406); 16.7.1971 Ringeisen/Ö ( E u G R Z 1976 236); 8.7.1987 Baraona/Port. (Series A 122); 29.5.1997 Georgiadis/Griech (ÖJZ 1998 197); E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1982 532 (Kaplan); bei Strasser E u G R Z 1991 193 (acht Fälle).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

nationalem Recht die Streitigkeit zu entscheiden ist 68 oder ob ein Weg zu den Gerichten überhaupt fehlt. 20

b) Es muß eine Meinungsverschiedenheit vorliegen, die unmittelbar das Bestehen eines dem Privatbereich zuzurechnenden Rechts oder einen sich daraus herzuleitenden Anspruch betrifft. Dessen Existenz, Inhalt, Umfang oder Art der Ausübung muß vom Ergebnis einer nicht notwendig formal, wohl aber inhaltlich bestehenden, ernsthaften Streitigkeit („contestation") abhängen, die Bestand oder Tragweite oder Auslegung des beanspruchten Rechts 69 in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung betrifft. Der Streit muß der Entscheidung nach Rechtsnormen zugänglich sein, wobei es unerheblich ist, ob der Streit sich auf Sach- oder Rechtsfragen bezieht 70 . Für die Anwendbarkeit der Konventionsgarantien genügt es, wenn er mit vertretbaren Argumenten („arguable claim") aus der nationalen Rechtsordnung hergeleitet wird 71 . Ein nur hypothetischer Zusammenhang des behaupteten Anspruchs des Beschwerdeführers mit einem solchen Recht genügt nicht 72 . Der Kerngehalt dieses Streites muß für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen des Beschwerdeführers entscheidend sein 73 , etwa, weil er Vermögensrechte betrifft oder eine Leistung oder ein Verhalten erstrebt, das im Normalfall Gegenstand eines nach Rechtsnormen zu entscheidenden Rechtsstreits zwischen gleichgeordneten Parteien sein kann. Ein Streit mit dem Vermessungsamt über die Vereinigung zweier Grundstücke, der die Eigentumsverhältnisse des Beschwerdeführers unberührt ließ und auch sonst nicht in dessen Rechte eingriff, wurde nicht als Streitigkeit über civil rights angesehen 74 , wohl aber ein Streit, der die Umwidmung von Bauland in Grünland und damit das Baurecht des Betroffenen betraf 7 5 . Es reicht auch nicht aus, daß sich eine Streitigkeit nur mittelbar, rein faktisch oder zufällig auch auf Vermögensansprüche des Betroffenen auswirken kann 7 6 oder daß ein im nationalen Recht nicht vorgesehener Anspruch ohne argumentierbare Gründe unter bloßer Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz behauptet wird 77 . Die Konventionen schaffen mit dieser Verfahrensgarantie keine neuen Rechte sondern schützen nur die Durchsetzung der in der bestehenden 68

Etwa EGMR 29. 5.1986 Deumeland/D (NJW 1989 652); 8.7.1987 Baraona/Port (Series A 122); 26.3. 1993 Editions Periskope/F (ÖJZ 1992 771); 24.11. 1994 Beaumartin/F (ÖJZ 1995 351); 28.9.1995 Procola/Lux (ÖJZ 1996 193: Rechtsausschuß des Conseil d'Etat); 29.5.1997 Georgiadis/Griech (ÖJZ 1997 197); sowie die Entscheidungen in vorst. Fußn.; ferner Int Komm I M Κ Κ - I nkier 63; Meyer-Ladewig 4; 8 ff; vgl. zur Praxis des U N AMR Nowak 12. ® E G M R 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 527); 26.6.1986 Van Marle/NdL (EuGRZ 1988 35); 27.10.1987 Pudas/Schwed (EuGRZ 1988 448); 27.10.1987 Boden/Schwed (NJW 1989 1423, Enteignungsverfahren); 28.5.1997 Pauger/Ö (ÖJZ 1997 836); FroweinlPeukerl 11; vgl. auch EKMR bei Strasser EuGRZ 1991 193. 711 FroweinlPeukerl 11. 71

Stand. Rechtspr., etwa E G M R 30.11.1987 H/Belg (ÖJZ 1988 220); 26.3.1992 Editions Periskope (ÖJZ 1992 771); 23.6.1993 Ruiz-Mateos/Span (EuGRZ 1993 453); 25.11.1993 Zander /Schwed (EuGRZ 1995 535); 19.7.1995 Kerojärvi/Finnl (ÖJZ 1996 37); 28.9.1995 Masson & Van Zon/NdL (ÖJZ 1996 191); 29.5.1997 Georgiadis/Griech (ÖJZ 1998 197); FroweinlPeukerl 7 ff; Meyer-Ladewig 6. SK-StPO-Paeffgen 17.

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EGMR 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 26. 8.1997 Balmer-Schafroth/CH (EuGRZ 1999 183: Verlängerung der Betriebsgenehmigung für Kernkraftwerk; dazu Kley EuGRZ 1999 177), Malseher FS Wiarda 395; FroweinlPeukerl 7; Villiger HdB 377. Zu diesen nicht eindeutigen und immer wieder Zweifel aufwerfenden Abgrenzungskriterien vgl. FroweinlPeukerl 15, 29 ff, ferner Beispiele 51: MeyerLadewig 7 ff; Villiger HdB 380 ff. E G M R 23.1.2003 Kienast/Ö (ÖJZ 2003 695). E G M R 29.1.2004 Haider/Ö (ÖJZ 2004 574). EGMR 23.6.1981 Le Compte/Belg (EuGRZ 1981 551); 10.2.1983 Albert, Le Compte/Belg (EuGRZ 1983 190); 25.10.1989 Allan Jacobson/Schwed (ÖJZ 1990 246); 28.9.1995 Masson & Van Zon/NdL (ÖJZ 1996 191); 27. 8.1997 Andersson/Schwed (ÖJZ 1998 585); 6.4.2000 Athanassoglou/CH (ÖJZ 2001 317); E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1982 532 (Kaplan); FroweinlPeukerl 6 ff; ferner nachf. Fußn. EGMR 8.4.2002 L B/Ö (ÖJZ 2002 696), vgl. die Beispiele einer fehlenden Anspruchsgrundlage im nationalen Recht bei FroweinlPeukerl 8; MeyerLadewig 7; 9.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

nationalen Rechtsordnung bereits begründeten Rechte, wobei diese nicht notwendig selbst unter den Schutz der Konvention fallen müssen 78 . Aus der Verfahrensgarantie des Art. 6 Abs. 1 M R K allein kann ein materieller Anspruch nicht hergeleitet werden 79 . Entscheidungen in Zwischenverfahren, in denen noch keine Entscheidung in der Sache 2 0 a selbst ergeht sondern nur einzelne im Gesetz vorgesehene Anordnungen getroffen werden, sind noch keine Entscheidung über die Meinungsverschiedenheit selbst. Ein Beweissicherungsverfahren, bei dem auch die Kostenentscheidung nur vorläufig ist, ist nach Ansicht des E G M R 7 9 a in der Sache selbst noch keine Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 M R K ; eine Beanstandung ist unzulässig ratione materiae 80 . Dies gilt für alle Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes, sofern diese nicht die Entscheidung in der Hauptsache bereits vorwegnehmen 8 1 . c) Beispiele für „civil rights". Zu den Ansprüchen und Verpflichtungen im privaten 21 Lebensbereich zählen nicht nur die Ansprüche, die in der Bundesrepublik Deutschland traditionell zum Privatrecht gehören und die im Wege des Zivilprozesses vor den ordentlichen Gerichten verfolgt werden können, wie etwa über das Eigentum und die sich daraus ergebenden Befugnisse 82 , sondern auch andere Streitigkeiten, bei denen, wie etwa beim Recht, ein Grundstück zu bebauen 8 3 , wegen ihrer Auswirkungen auf das Vermögen oder sonstige private Rechte die für eine Zuordnung zum privaten Lebensbereich 84 sprechenden Gesichtspunkte überwiegen 85 . Dazu wurden auch das individuelle Recht auf angemessenen Schutz der psychischen Integrität vor konkreten (direkten) Beeinträchtigungen gerechnet 86 sowie Schadensersatzansprüche gegen den Staat oder öffentlich-rechtliche Körperschaften 87 . Nach dem Schutzzweck der Konventionen kön-

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EGMR 26. 3.1992 Editions Periscope/F (ÖJZ 1992 771); 11.1987 Η /Belg (ÖJZ 1988 220); 8.1.2004 Voggenreiter/D (EuGRZ 2004 150). E G M R 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); Froweinl Peukert 7; Villiger HdB 379. Etwa EGMR 25. 3.2004 Lamprecht/Ö (ÖJZ 2004 818) mit weit. Nachw.; vgl. auch EGMR 6.2.2001 Beer/Ö (ÖJZ 2001 516). E G M R 16.1.2003 Verlagsgruppe News GmbH/Ö (ÖJZ 2003 618 Veröffentlichung über eingeleitete Verfahren nach östr. Mediengesetz); unter Hinweis auf Entscheidungen der EKMR: Beschwerde unzulässig ratione materiae, Art. 35 Abs. 3, 4 M R K . E G M R 23.10.2001 Markass Car Hire Ltd/Zypern; vgl. dazu Peters S. 109; Meyer-Ludewig 6. Vgl. für Enteignung E G M R 27.10.1987 Boden/ Schwed (NJW 1989 1423); ferner EGMR 16.7.1971 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 236); 23.9.1982 Sporrong & Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 339); 25.10.1989 Jacobsson/Schwed (ÖJZ 1990 246); 27.11.1991 Oerlemans/NdL (ÖJZ 1992 386); 23.6. 1993 Ruiz-Mateos/Span (EuGRZ 1993 453); 11.9. 2003 Emsenhuber/Ö (ÖJZ 2004 396 Nachbarrecht bei Baubewilligung): EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1988 94 (Bauverbot); bei Strasser EuGRZ 1988 615 (Grunderwerbsgenehmigung); 1991 192 (acht schwed. Verwaltungsrechtsfälle); E K M R ÖJZ

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1995 114 (Bewilligung zum AufTüllen einer Lehmgrube); l'roweint Peukert 17 ff; 1 7 % « ' H d B 384. Etwa EGMR 25.11.1994 Ortenberg/Ö (ÖJZ 1995 225); 29.1.2004 Haider/Ö (ÖJZ 2003 574); vgl. auch vorst. Fußn. Etwa Grundverkehrsgenehmigungen, Bauverbot, Enteignungsverfahren, öffentl. rechtl. Beschränkung der Benutzung des Eigentums; vgl. Froweinl Peukert 17 ff; Grabenwarter § 24 Rdn. 6 je mit Nachw. der Rechtspr. Vgl. etwa die Abwägung bei E G M R 29.5.1986 Feldbrugge/NdL (EuGRZ 1988 14; Anspruch auf Krankengeld gegen öffentlich-rechtlichen Leistungsträger), ferner zur Abwägung mit gegenteiligem Ergebnis E G M R 12.7.2001 (NJW 2002 3453; Steueransprüche); FroweinlPeukert 17 ff; Ho/mann S. 38 (Rechtspositionen grundsätzlich zivilrechtlicher Natur); IntKommEMRK- Vogler 66; Nowak 11. EGMR 25.11.1993 Zunder/Schwed (EuGRZ 1995 535); 26.8.1997 Balmer-Schafroth/CH (EuGRZ 1999 183); 6.4.2000 Athanassoglou /CH (ÖJZ 2001 317); vgl. Villiger HdB 378. EGMR 24.10.1989 H/F (EuGRZ 1987 319); 26.3.1992 Editions Periscope/F (ÖJZ 1992 771); östr. VfGH ÖJZ 1993 566 (Schadensersatzansprüche wegen Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes); Villiger HdB 385; vgl. auch 27.4.1989 Neves e Silva/Port. (EuGRZ 1987 302); FroweinlPeukert 22.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

nen Rechte und Verpflichtungen dem privaten Lebensbereich zuzuordnen sein, wenn sie nach der nationalen Rechtsordnung im arbeitsgerichtlichen Verfahren 88 , vor den Sozialgerichten 89 oder im Verwaltungsrechtsweg 90 zu verfolgen sind. Es kommt darauf an, ob durch eine Streitigkeit nach ihrem materiellen Gehalt und den Rechtsfolgen, die die nationale Rechtsordnung daran knüpft, im Ergebnis über Ansprüche und Verpflichtungen entschieden wird, die für die private Lebensgestaltung unmittelbar bedeutsam sind, wie etwa ein Streit über vertragliche Rechte oder Honoraransprüche 9 1 oder Rechte, die, wie Familienrechte, die persönlichen Verhältnisse einer Person berühren 92 . Hierher gehören auch Rechtspositionen, die sich aus der individuellen Betätigung im Zusammenhang mit der Zulassung zu rechtmäßigen Erwerbstätigkeiten oder deren Ausübung (Gewerbe, Beruf) ergeben oder sich unmittelbar darauf auswirken 93 , so auch, wenn die Befugnis zur Berufsausübung Gegenstand auf ihren Entzug gerichtete standesrechtliche Disziplinarmaßnahme ist 94 . Zu den zivilrechtlichen Ansprüchen in diesem Sinn werden aber auch Ansprüche gezählt, bei denen die finanzielle Bedeutung für den privaten Bereich des Betroffenen die öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkte überwiegt 95 , wie bei den Ansprüchen aus einer Krankenversicherung oder auf Sozialleistungen96. An dieser Zuordnung ändert auch nichts, wenn die Tätigkeit verwaltungsrechtlichen Erlaubnissen und Kontrollen unterliegt oder auf einer staatlichen Konzession beruht 9 7 oder zur Erfüllung einer sozialrechtlichen Leistungspflicht gefordert wird 98 . Auf weitere Einzelheiten, vor allem die strittigen Fragen, welche Ansprüche und Verpflichtungen des Bürgers im Bereich der öffentlichen Verwaltung wegen ihrer unmittelbaren vermögensrechtlichen Auswirkung ebenfalls den civil rights im Sinne von Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR zugeordnet werden, soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden 99 . Umweltrechtliche Abwehransprüche können Ansprüche aus dem Zivilbereich sein, wenn sie den Schutz eines in der Konvention gewährleisteten Rechts im weitverstandenen Privatbereich bezwecken, wie insbes. beim Eigentum im Sinne des Art. i des f. ZP oder

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Vgl. EGMR 6.5.1981 Buchholz (EuGRZ 1981 491); 28.6.1990 Obermeier/Ö (EuGRZ 1990 209). EGMR 29.5.1986 Deumeland/D (NJW 1989 652: für Ansprüche aus der gesetzlichen Sozialversicherung mit ablehnenden Sondervoten EuGRZ 1988 31), 24.6.1993 Schuler-Zgraggen/CH (EuGRZ 1996 604); Froweinl Peukert 23, 30; Villiger HdB 389; Weh EuGRZ 1985 477. Vgl. etwa FroweinlPeukert 51 ff; IntKommEMRKVogler 6, 67; Meyer-Ladewig 8 je mit Nachw. Vgl. EKMR bei Strasser EuGRZ 1989 263; 1991 298 (Honoraranspruch als Ingenieur). Vgl. etwa E G M R 8.7.1987 W/UK (EuGRZ 1990 533 Verkehr der Eltern mit Kind in behördlicher Obhut); EKMR bei Strasser EuGRZ 1985 511; 521 (Elternrechte bei Adoption; Ehelichkeitsanfechtung), FroweinlPeukert 8; 13. Vgl. EGMR 23.6.1994 De Moor/Belg (ÖJZ 1995 43 Zulassung als Anwalt); vgl. E G M R 30.11.1987 H/Belg (ÖJZ 1988 220: Wiederzulassung zur Anwaltschaft), vgl. auch Froweinl Peukert 21, Meyer-Ladewig 8; Villiger HdB 387 sowie nachf. Fußn. Etwa Entzug des Rechts auf Berufsausübung E G M R 23.6.1981 Le Compte/B (EuGRZ 1981 551); 10.2.1983 Albert, Le Compte (EuGRZ 1983 190); E K M R bei Strasser EuGRZ 1985 319; 320;

ferner zum Entzug des Rechts auf Ausübung des Anwaltsberufs im berufsrechtlichen Disziplinarverfahren EGMR 21.12.1999 W R/Ö (ÖJZ 2000 728); 12.6.2003 Malek/Ö (ÖJZ 2003 855); vgl. ferner EGMR 26.9.1995 Diennet/F (ÖJZ 1995 115 Berufsausübung als Arzt); 27.6.1997 Philis/Griech (Report 1997-1V); sowie auch Vorst. Fußn. 95 Grabenwarter § 24 Rdn. 6 spricht von Abwägungsjudikatur. « EGMR 29.5.1986 Feldbrugge/NdL (EuGRZ 1988 14); 26.2.1993 Salesi/I (ÖJZ 1993 669); 24.6.1993 Schuler-Zgraggen/CH (EuGRZ 1996 604). 97 E G M R 28.6.1978 König/D (EuGRZ 1978 406); Pudas/Schwed (EuGRZ 1988 488: Entzug einer Konzession); EKMR bei Strasser EuGRZ 1989 263; 264 (Baurecht); verneinend (aber für MRK als innerstaatliches Verfassungsrecht) östr.VfGH EuGRZ 1990 186. 98 Vgl. E G M R 9.12.1994 Schouten & Meldrum/NdL (ÖJZ 1995 396 Sozialversicherungsbeiträge); Grabenwarter § 24 Rdn. 6; Meyer-Ladewig 8. 99 Vgl. dazu etwa Guradze 7; Froweinl Peukert 12 ff; 18 ff II of mann S. 38; Nowak 11, 12; Meyer-Goßner47 1; IntKommEMRK-Mfeft.sfer 149 ff; Partsch 142 ff, Villiger HdB 377 fT mit weit. Nachw.; ferner etwa östr. VfGH (EuGRZ 1991 171).

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

auch vom Recht auf Achtung der Wohnung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 M R K angenommen wird 100 . Im Zwangsversteigerungsverfahren wurde von der E K M R keine Entscheidung über 2 2 a Zivilrechte gesehen, wenn dadurch Umfang und Bestand des Rechts nicht mehr betroffen wurden 101 . Dies wurde aber bejaht, wenn eine neue Entscheidung über das Recht oder seine Durchsetzbarkeit möglich ist 102 oder die Durchsetzbarkeit des erstrittenen Rechts in Frage gestellt wird, so daß andernfalls die Garantien des Art. 6 Abs. 1 M R K im Ergebnis leerlaufen 103 . In der neueren Rechtsprechung des E G M R wird darauf abgestellt, ob erst die Zwangsvollstreckung dem Recht zur Wirksamkeit verhilft 104 . Die Achtung der Ehre und des guten Rufes gehört ebenfalls zu den „civil rights"; im Anspruch des Privatklägers auf Entschädigung für eine Ehrverletzung wurde ein solches Recht gesehen 105 . Für die Erhebung einer auf Bestrafung gerichteten Privatklage wird dies aber jetzt verneint 106 , denn das Recht auf Zugang zu Gericht erstreckt sich nicht auf die Strafverfolgung Dritter 107 .

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Auch im Bereich des Strafverfahrens bestehen „civil rights", so die im Adhäsions- 2 4 verfahren (§ 403 ff StPO) verfolgten vermögensrechtlichen Ansprüche 108 . Der durch Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR garantierte Zugang zu Gericht wird aber nicht verletzt, wenn das Gericht nach § 406 (§ 405 aF) StPO von der Entscheidung absieht, da der Anspruch dann im Zivilrechtsweg verfolgt werden kann 1 0 9 . Die vom Verlust bedrohten Eigentumsrechte des Einziehungsbeteiligten oder die Verfügungsbeschränkung, die den Beschuldigten bei einer Vermögensbeschlagnahme trifft (§ 292 StPO), gehören ebenfalls hierher, ferner das Verfahren, in dem über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen entschieden wird 110 . Der Eingriff in die Freiheit, der in der Anordnung der Sicherungsverwahrung liegt, betrifft seiner Natur nach keine Rechtsposition des Privatbereichs 111 , dieser wird aber berührt, wenn zugleich das Recht des Betroffenen, Rechtsgeschäfte abzuschließen oder sein Vermögen zu verwalten, eingeschränkt wird 112 .

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Keine „civil rights" sind Ansprüche, die aus einem dem Gemeinwohl dienenden 2 6 Sonderstatus erwachsen, auch wenn wirtschaftliche Auswirkungen damit verbunden sind 113 . Streitigkeiten mit dem Dienstherrn über Beginn, Laufbahn und Ende eines Beamtenverhältnisses betreffen deshalb in ihrem Kern ebensowenig „civil rights" 114 wie die Erfüllung der sich aus einem solchen Verhältnis ergebenden Dienstpflichten, die die

"» Vgl. Alt. 1 des 1. ZP Rdn. 4 und Al t. 8 M R K Rdn. 3 3 tr. 11,1

EKMR bei Strasser EuGRZ 1988 615; Froweinl Peukert 52. Villiger HdB 390 unter Hinweis auf EKMR. 1113 Vgl. E G M R 19. 3.1997 Hornsby/Griech (ÖJZ 1998 236); 12.12.2002 Kalogeropoulu u. a./Griech, D (NJW 2004 273). '»" EGMR Perez de Rada Cavanilles (Rep. 1998-VTTT), SK-StPO-ftK/^CT 18; Villiger HdB 390. II,5 FroweinlPeukert 51. 1116 EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1981 115; IntKommEMRK- Vogler 137. 1117 E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 419. 11,8 IntKommEMRK- Vogler 202. "·« JntKommEMRK-MiehslerIVugler 129. EGMR 29.5.1997 Georgiades/Griech (ÖJZ 1997 197); 24.11.1997 Werner/Ö (ÖJZ 1998 233); 10.7.2001 LamannaJÖ (ÖJZ 2001 910); vgl. aber I,12

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auch E G M R 28.9.1995 Masson & Van Zon/NdL (ÖJZ 1996 191 kein Anspruch nach niederl. Recht auf Entschädigung für rechtmäßige Freiheitsentziehung). EGMR 27.6.1968 Neumeister/Ö (EuGRZ 1975 393); E K M R bei Strasser EuGRZ 1990 50. E G M R 24.10.1979 Winterwerp/NdL (EuGRZ 1979 658); E K M R EuGRZ 1990 48; 50; soweit indirekte Auswirkungen auf das Recht sein Vermögen zu verwalten oder Rechtsgeschäfte abzuschließen als ausreichend für die Anwendbarkeit des Art. 6 MRK angesehen wurden, dürfte dies zu weit gehen. E G M R 9.12.1994 Schouten & Meldrum/NdL (ÖJZ 1995 395); 17.3.1997 Neigel/E (ÖJZ 1998 195); 21.10.1997 Pierre-Bloch/F (ÖJZ 1998 590). EGMR 17. 3.1997 Neigel/F (ÖJZ 1998 195); 8.12. 1999 Pellegrin/F (NJW 2000 661); vgl. auch 24.8. 1993 Massa/I (ÖJZ 1994 214); Meyer-Ladewig 10; Villiger HdB 388.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Ausübung der Staatsgewalt zum Gegenstand haben. Dies gilt vor allem für Tätigkeiten der Polizei oder die sich aus dem Beamten- Richter- oder Soldatenverhältnis ergebenden Amtspflichten 1 1 5 . Der E G M R grenzt funktional ab; maßgebend ist, ob die von dem jeweiligen Bediensteten ausgeübte Funktion die Wahrnehmung der Allgemeininteressen zum Gegenstand hat oder als Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt anzusehen ist und daher ein besonderes Verhältnis zum Staat begründet 1 1 6 . Wo eine solche besondere Bindung nicht besteht, werden auch Ansprüche gegen den Staat aus einem öffentlichen Dienstverhältnis dem Schutz der „civil rights" in Art. 6 Abs. 1 M R K unterstellt" 7 . Vermögensrechtliche Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis werden deshalb Art. 6 Abs. 1 zugerechnet" 8 ; desgleichen können sonstige, nicht die Ausübung der öffentlichen Gewalt selbst betreffende Ansprüche aus dem Innenverhältnis zum Dienstherrn civil rights sein, soweit dieser wie ein privater Arbeitgeber auftritt; so etwa bei Ansprüchen aus einem Arbeitsverhältnis, das nicht von den Besonderheiten der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben bestimmt ist" 9 . 27

Keine civil rights sind die Bürgerrechte, die die Teilhabe am Staate betreffen, wie etwa das aktive und passive Wahlrecht120, aber auch ein aus dem nationalen Wahlrecht folgender Anspruch auf Rückzahlung überhöhter Wahlausgaben gegen einen Wahlbewerber 121 . Keine civil rights sind ferner Fragen der Staatsangehörigkeit122 oder des Asylverfahrens123, oder das Recht der Medien gegenüber dem Staat auf Berichterstattung 124 . Keine „civil rights" betreffen auch Streitigkeiten um die Zuerkennung des Rechts, den Beruf unter einer bestimmten Berufsbezeichnung auszuüben 125 oder um eine Habilitation 126 oder um die Eintragung eines ausländischen akademischen Grads in die Personalpapiere 127 . Auch bei den sich aus der Heranziehung zur Besteuerung oder zu sonstigen Abgaben ergebenden finanziellen Verpflichtungen der einzelnen Bürger hat der E G M R wegen der Zugehörigkeit des Steuerrechts zum Kernbereich der staatlichen Hoheitsrechte die zivilrechtliche Natur verneint 128 . Gleiches gilt für die vom Staat verhängten Strafen, auch Geld und Vermögensstrafen 129 . 4. Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage

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a) Der Begriff strafrechtliche Anklage (Art. 6 Abs. 1 M R K und Art. 14 Abs. 1 I P B P R : „criminal charge against him", „accusation en matiere penale ... dirigee contre eile") ist ebenfalls autonom130 auszulegen, wobei wegen des hohen Rangs des Rechts auf ein faires

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Etwa E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 94 (allgemeine Wehrpflicht); vgl. FroweinlPenkerl 29 ff; 52; Meyer-Lädewig 10; 11; Nowak 12; zur Rechtspr. des E G M R u n d zum Übergang auf eine funktionelle Abgrenzung vgl. Chojnaeka Ö J Z 2 0 0 2 201; Schweiz.BGer E u G R Z 2 0 0 4 70 unter Hinweis auf die Praxis des E u G H . Vgl. Grahemvarler § 24 R d n . 6. E G M R 8.12.1999 Pellegrin/F ( N V w Z 2 0 0 0 661); Frydlender/F ( E C H R 2000-VII). E G M R 26.11.1992 Lombardo/1 (Series A 249 Β) 24.8.1993 Massa/T ( Ö J Z 1994 214); 26.9.1995 Vogt/D ( E u G R Z 1995 590); 22.11.2001 Volkmer ( N J W 2 0 0 2 3087), 8.12.1999 Pellegrin/F ( N V w Z 2000 661); Froweinl Peukert 31; Meyer-Ladewig 10; 12; Villiger H d B 388, aber auch U N - A M R E u G R Z 1986 453 (Pensionsanspruch). Villiger H d B 388. Stand:

12,1

Vgl. E G M R 12.07.2001 Ferrazini/T ( N J W 2001 3453); vgl. auch nachf. F u ß n o t e n . E G M R 21.10.1997 Pierre-Bloch/F (ÖJZ 1998 590). 122 E K M R Ö J Z 1993 142. 123 I'Yoweinl Peukerl 52; Villiger H d B 391: im E K M R bei Strasser E u G R Z 1988 613. 125 E G M R 26.6.1986 Van M a r l e / N d L ( E u G R Z 1988 35). 126 E K M R Ö J Z 1994 709. 127 E K M R Ö J Z 1993 214 (Ehrendoktor). 128 E K M R Ö J Z 1993 140 (Ausgleichstaxe): E G M R 12.7.2001 Ferrazini/T mit zust. Votum Ress und abw. Meinung Lorenzen und 5 andere ( N J W 2001 3453); Meyer-Ladewig 7; 9; Villiger H d B 391; a . A FroweinIPenkeri 33 (alle klagbaren Ansprüche). 121

129 13,1

Grabenwaner § 24 R d n . 7. Vgl. E G M R 8.6.1976 Engel/NdL ( E u G R Z 1976 221); 27.6.1968 Neumeister/Ö ( E u G R Z 1975 393);

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Verfahren eine restriktive Auslegung abgelehnt wird 131 . Dieser Konventionsgarantie unterfallen aber nur die Personen, gegen die sich die strafrechtliche Anklage richtet, nicht aber alle anderen am Verfahren beteiligten Personen, wie Anzeigenerstatter, Nebenkläger, Zeugen oder Sachverständige132. Ob Nebenbeteiligte, die nach § 433 Abs. 1 StPO Befugnisse eines Angeklagten haben, deswegen der Garantie des Art. 6 Abs. 1 bis 3 unterfallen, erscheint fraglich 133 . Soweit die Nebenbeteiligung jedoch ihre Vermögenswerten Ansprüche (Einziehung, Verfall usw.) betrifft, dürften schon deshalb Art. 6 Abs. 1 M R K anwendbar sein, weil insoweit dann ein vermögenswerter Anspruch Gegenstand des Verfahrens ist. b) Die Zuordnung zum Strafrecht im nationalen Recht hat nur begrenzte Bedeutung. 2 9 Soweit nicht im Einzelfall eine völkerrechtliche Pflicht zur Pönalisierung eines bestimmten Verhaltens eingreift 134 , steht es dem nationalen Recht grundsätzlich frei, ob es ein bestimmtes Verhalten mit einer Strafe bedrohen will. Soweit es dies getan hat, greifen die Verfahrensgarantien der Art. 6 M R K , 14 IPBPR stets ein 135 , auch wenn das Verhalten in anderen Staaten nicht als kriminelles Unrecht geahndet wird; umgekehrt kann jedes nationale Recht auf strafrechtliche Sanktionen verzichten. Es kann aber nicht ein Verhalten, für das es gegen jedermann Sanktionen androht, die vergeltenden oder abschreckenden Charakter haben und die nach Zielsetzung (allgemeiner Adressatenkreis, abschreckende Wirkung), Art der angedrohten Sanktion und nach ihren sonstigen Auswirkungen einer Strafe gleichkommen 136 , dadurch aus dem Schutzbereich des Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR herausnehmen, daß es sie anders bezeichnet und in einem anderen Verfahren verfolgt137. Die Organe der M R K prüfen dann nach, ob eine anderweitige Zuordnung des nationalen Rechts nach Art. 6 M R K unbeachtlich ist, weil nach der Natur des Vergehens und der angedrohten Sanktion die Tat dem Art. 6 unterfällt 138 . Für die Zuordnung zum Strafrecht werden neben der innerstaatlichen Qualifikation vor allem auch folgende Kriterien in Betracht gezogen: Art und Adressaten der mit Sanktionen bedrohten Handlung 1 3 9 , Natur, Schwere und Ausmaß der angedrohten Sanktion 1 4 0 und auch die in anderen europäischen Staaten übliche Zuordnung 1 4 1 . Neben der Verfolgung der eigentlichen Kriminalstraftaten im Strafverfahren wurde 3 0 daher - ungeachtet der damit vom nationalen Gesetzgeber erstrebten Entkriminalisierung - auch die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wegen der Art der Zuwiderhand-

131

132 133

134 133

136

137

21.2.1984 Öztürk/D (NJW 1985 1273); 28.6.1984 Campbell, Fell (EuGRZ 1985 538); Schrolh EuGRZ 1985 558; FroweinIPeukerl 35; 37 ff; vgl. Rdn. 16. EGMR 17.1.1970 Delcourt/Belg (Series A l l ) ; TntKommEMRK- Vogler 190; vgl. Vogler ZStW 82 (1970) 762; 89 (1977) 776. Villiger HdB 392. Verneinend E G M R 24.10.1986 AGOS1/GB (EuGRZ 1988 513, krit. Anm. Peukert EuGRZ 1988 509; l-roweinl Peukert 41. Vgl. Art. 3 Rdn. 3; 5 (Bestrafung der Folter). Vgl. E G M R 26.3.1882 Adolf/Ö (EuGRZ 1982 297). Vgl. E G M R 22.2.1996 Putz/Ö (ÖJZ 1996 434); 16.1.2003 Verlagsgruppe News GmbH/Ö (ÖJZ 2003 618). Vgl. EGMR 21.2.1984 Öztürk/D (NJW 1985 1273); östr. VfGH EuGRZ 1990 158 (Gurtanlegepflicht); IntKommEMRK- Vogler 195 (Nicht das Was son-

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141

dern das Wie der Ahndung maßgebend); SK-StPOPueffgeη 33. E G M R 22.5.1990 Weber/CH (EuGRZ 1990 265, sowie die bei den nachfolgenden Fußnoten zitierten Entscheidungen. Vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 13 (wenn die Sanktion gegen jeden angedroht wird und sowohl präventiv als auch repressiv wirken soll); ähnlich SK-StPOPueffgen 32, 33; vgl. E G M R 22.5.1990 Weber/CH (EuGRZ 1990 265); Demicoli/Malta (EuGRZ 1991 475). FroweinlPeukert 42 ff. Villiger HdB 396 (für Disziplinarstrafe spricht, wenn nur bestimmter Personenkreis erfaßt wird). Grabenwarter § 24 Rdn. 14. SK-StPO-Paeffgen 34; vgl. Rdn. 31. Vgl. etwa EGMR 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); 22. 5.1990 Weber/CH (EuGRZ 1990 265); Ravnsborg/Schwed (ÖJZ 1994 706); 14.11.2001 T/Ö (ÖJZ 2001 389), Grabenwarter § 24 Rdn. 13; SiL-StPO-Paeffgen 34; Villiger HdB 396.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

lung als strafrechtliche Anklage angesehen 142 ; desgleichen die Auferlegung zusätzlicher Steuern als Sanktion 1 4 3 oder die Verhängung einer Haftstrafe wegen Nichtzahlung einer Gemeindesteuer 144 . Bei den Ordnungsmitteln wegen der Verletzung prozessualer Pflichten wird dies dagegen im Regelfall verneint 145 ; so auch für eine gerichtliche Anordnung, deren Mißachtung durch eine Geldstrafe durchgesetzt werden kann 1 4 6 ; anders aber bei einer „Mutwillensstrafe", die trotz ihres disziplinaren Charakters ohne mündliche Verhandlung in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann l 4 7 . Der E G M R hat aber den Strafcharakter bei einer potentiell gegen jedermann angedrohten Geldbuße wegen Verletzung der Vertraulichkeit einer strafrechtlichen Voruntersuchung bejaht 148 ; desgleichen bei der Verhängung einer Geldstrafe wegen Verweigerung der Auskunft in einem zollrechtlichen Ermittlungsverfahren 1 4 9 , nicht aber bei der Auferlegung von wahlrechtlichen Sanktionen und einer Zahlungspflicht bei überhöhten Wahlaufwendungen nach dem nationalen Wahlrecht 15°. 31

Die Zuordnung kann auch durch Art und Schwere der jeweils im Gesetz angedrohten Sanktion bestimmt werden, wobei grundsätzlich diese und nicht etwa die tatsächlich verhängte Strafe für das Verteidigungsrecht und damit auch für die Anwendbarkeit des Art. 6 M R K maßgebend ist 151 . Mitunter wird aber auch auf die tatsächlich verhängte Sanktion abgestellt 152 . Ein als Mittel der Vergeltung oder Abschreckung angedrohter Freiheitsentzug wird, abgesehen von ganz kurzfristigen Festhaltungen, immer als eine dem Strafrecht zuzurechnende Sanktion angesehen 153 . Ergibt sich allerdings die Zuordnung zum Strafrecht bereits aus der Natur der Zuwiderhandlung selbst, so schließt auch die Geringfügigkeit der Sanktion die Annahme einer strafrechtlichen Anklage nicht aus.

32

Maßregeln der Besserung und Sicherung fallen mit in diesen Bereich, wenn sie im Strafverfahren im Zusammenhang mit der Verfolgung wegen einer Straftat angeordnet werden. D a ß der Angeklagte freigesprochen und vom Strafgericht wegen der rechtswidrigen Tat in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen wird, ändert daran nichts. Die Anwendung der speziellen Verfahrensgarantien für das Strafverfahren hängt davon 142

E G M R 21.2.1984 Öztürk/D (NJW 1985 1273; mit Anm. Schrolh E u G R Z 1985 557); vgl. auch E G M R 26. 3.1982 Adolf/Ö ( E u G R Z 1982 297); 23.10.1995 Schmautzer/Ö (ÖJZ 1995 954); 3.5.2001 J B/CH (NJW 2002 499: dazu Schuhe N J W 2002 492; Amhos NStZ 2002 633 (Geldbuße wegen Steuerhinterziehung); 20.12.2001 Baischer/Ö (ÖJZ 2002 12); östr. VfGH E u G R Z 1990 158 (Verwaltungsstraftatbestand); FroweinlPeuker! 39, krit. 50; MeyerGußner47 1; Nowak 13; Schroth E u G R Z 1985 558; Weh E u G R Z 1985 469; a. Α O L G Celle N J W 1960 880; NStZ 1985 64; I n t K o m m E M R K - Vogler 209; 233 fT, vgl. auch Villiger HdB 407 ff.

145

E G M R 24.2.1994 Bendenoun/E (ÖJZ 1994 634), vgl. auch E G M R 3. 5.2001 J B/CH (NJW 2002 499; dazu Schohe N J W 2002 492); Frowein/Peukert 45; SK-StPO-Paeffgen 37 (auch zur Ausklammerung der Steuersachen in anderen Entscheidungen des EGMR). E G M R 10.6.1996 Benham/GB (Rep. 1996-111), FroweinlPeuker! 45; Villiger HdB 399 (bei punitivem Zuschlag, nicht bei Nachzahlung zusätzlicher Zinsen). Vgl. E G M R 23.3.1994 Ravnsborg/Schwed (ÖJZ 1994 706); 22.2.1996 Putz/Ö (ÖJZ 1996 434); östr. O G H E u G R Z 1982 159; Frowein/Peukeri 52; Meyer-Ludewig 15.

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E G M R 16.1.2003 Verlagsgruppe News GmbH/Ö (ÖJZ 2003 618). 147 E G M R 14.11.2000 T/Ö (ÖJZ 2001 398); Villiger HdB 400. 148 E G M R 22. 5.1990 Weber/CH ( E u G R Z 1990 265); die E K M R bei Sirasser E u G R Z 1990 297 hatte dies im gleichen Fall verneint. 14 » E G M R 25.2.1993 Eunke/E (ÖJZ 1993 534); Frowein/Peukeri 46. 1511 E G M R 21.10.1997 Pierre Bloch/F (ÖJZ 1998 590). 151 I n t K o m m E M R K - Vogler 200; vgl. E G M R 8. 6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); östr. VfGH E u G R Z 1988 173. 1,2 Etwa E G M R 28.6.1984 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 24.2.1994 Bendenoun/F (ÖJZ 1994 634); 10.6.1996 Benham/GB (ÖJZ 1996 915); vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 14 (Widerlegung der durch die Strafdrohung begründeten Vermutung durch tatsächlich verhängte geringe Strafe). 1,5 E G M R 22.5.1990 Weber/CH (EuGRZ 1990 265); ebenso E K M R bei Sirasser E u G R Z 1990 297 mit Hinweis, daß nicht notwendig jede Freiheits- oder Geldstrafe strafrechtlicher Natur sein müsse. Vgl. ferner Schroth E u G R Z 1985 558.

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Art. 14 IPBPR

ab, was dem Angeklagten möglicherweise droht, sie kann nicht erst ex post vom Verfahrensergebnis her bestimmt werden 154 . Wird dagegen die Anordnung im Sicherungsverfahren nach § 413 StPO beantragt, hat dieses nicht die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage zum Gegenstand 1 5 5 . Eine Verfallserklärung, die in einem Verfahren gegen Schmuggler ausgesprochen 3 3 wurde, ist kein Verfahren über eine strafrechtliche Anklage gegen den Eigentümer der verfallenen Gegenstände, wenn er im Strafverfahren selbst nur als Zeuge gehört wurde 156 . Ob dies anders zu beurteilen ist, wenn er als Nebenbeteiligter wegen einer auch ihn treffenden Einziehung oder Verfallserklärung mit Angeklagtenbefugnissen förmlich am Strafverfahren beteiligt wird (vgl. §§ 431 ff StPO), ist fraglich 157 . Disziplinarverfahren sind in der Regel nicht diesem Sachbereich zuzurechnen 158 , es sei 3 4 denn, das innerstaatliche Recht ordnet sie dem Strafrecht zu. Unabhängig davon kann aber auch wegen der Art und Höhe der Sanktion oder aber wegen der strafrechtlichen Natur der abgeurteilten Tat Art. 6 M R K anwendbar sein 159 . So hielt der E G M R eine strafrechtliche Anklage und damit die Anwendbarkeit des Art. 6 M R K auch für gegeben, wenn ein normalerweise strafrechtlich zu verfolgendes Vergehen nach (zulässigem) nationalem Recht durch eine nach Art und Ausmaß schwerwiegende Sanktion im Disziplinarweg geahndet wird oder aber wenn eine schwerwiegende Sanktion mit Strafcharakter verhängt wird, was vor allem dann der Fall sein kann, wenn eine nicht nur geringfügige Freiheitsentziehung damit verbunden ist 160 oder die verhängte Sanktion ohne erneute mündliche Verhandlung in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann 161 . Für die berufs- oder ehrengerichtliche Ahndung von Berufsverfehlungen gelten die gleichen Grundsätze 1 6 2 . Verfahren, die zu einem Berufsverbot führen können, beinhalten aber meist auch eine Entscheidung über ein Recht des Individualbereichs (civil right) 163 . Das Auslieferungsverfahren betrifft als solches nicht die Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage 164 ; darüber wird in dem Verfahren entschieden, für das ausgeliefert wird. 154

155 156

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Für die spätere Entscheidung über den Antrag des Eingewiesenen auf Aufhebung der Maßnahme hat EKMR EuGRZ 1988 507 die Anwendbarkeit des Art. 6 M R K verneint (weder Entscheidung über Anklage noch über „civil right"). Guradze 9; IntKommEMRK/ Vogler 245. EGMR EuGRZ 1988 513 (AGOSI), ob „civil rights" betroffen waren, wurde nicht geprüft. Vgl. Rdn. 13; 28. E K M R ÖJZ 1990 126; BVerwG NJW 1983 531; NVwZ 1990 373; FroweinIPeukerl 20; Guradze 10; Nowak 13; Vogler ZStW 89 (1977) 776; Schweiz. BGer. EuGRZ 1984 323 (Ausschluß eines Studenten für ein Semester). Die vom EGMR entwickelten drei Kriterien (Einordnung im nationalen Recht, punitive Natur des Tatbestandes unter Berücksichtigung von Zweck und Gewicht der Sanktion, Schwere der Sanktion als solche) werden auch hier für die Abgrenzung herangezogen, vgl. l-'rowein! Peukert 36 ff; TntKommE M R K - Vogler 230; Meyer-Ladewig 18. EGMR 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221: Androhung von 14 Tagen strengen Arrests, nicht bei 2 Tagen); 28. 6.1984 Campbell, Fell/GB EuGRZ 1985 538: Verwirkung von 570 Tagen des Reststrafenerlasses).

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EGMR 22.5.1990 Weber/CH (EuGRZ 1990 265); vgl. auch 14.11.2000 T/Ö (ÖJZ 2001 398 Mutwillensstrafe, die ohne mündl. Verhandlung in Freiheitsstrafe umgewandelt werden konnte; vgl. Rdn. 30); FroweinIPeukerl 36 ff; IntKommEMRKVogler 230. Guradze 10; IntKommEMRK- Vogler 231; Partsch 146, der den Ausschluß dieser für den Betroffenen schwerwiegenden Verfahren von den Verfahrensgarantien für schwer verständlich hält. Vgl. auch östr. VfGH EuGRZ 1988 173 (Disziplinarverfahren nach Apothekenkammergesetz), dazu Merei ZaöRV 48 (1988) 251; schweiz.BGer EuGRZ 2003 612. Schweiz.BGer EuGRZ 2003 612; vielfach hält es der EGMR für ausreichend, wenn der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 auf Grund einer der beiden Gruppen sicher feststeht, so etwa E G M R 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 26.9.1995 Diennet/F (ÖJZ 1996 115); Grabenwarter § 24 Rdn. 15 (der aber Schwere der Sanktion bejaht); IntKommEMRK- Vogler 232; vgl. Rdn. 22. EGMR 5.10.2000 Maaouia/F (ECHR 2000-X); 11.7.2001 Aronica/D (EuGRZ 2002 514) E K M R nach FroweinIPeukerl 52; Meyer-Goßner47 1; 1 η IKommEMRK- Vogler 247; SK-StPO-Paeffgen 38; Vogler ZStW 82 (1970) 743.

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M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

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Exequaturverfahren, in denen über die inländische Vollstreckung der in einem anderen Staat rechtskräftig festgesetzten Strafe entschieden wird, gehören dem Strafrecht an, sind also keine Entscheidungen über „zivile Ansprüche", sie betreffen aber auch nicht die Stichhaltigkeit einer Anklage als solche 165 , denn über diese ist bereits rechtskräftig entschieden. Das Verfahren nach dem ehem. RHG entschied zwar konstitutiv über die Vollstreckung, es war aber keine Entscheidung über die bereits rechtskräftig abgeurteilte Anklage als solche, sondern nur über die für die innerstaatliche Anerkennung und Vollstreckung notwendige Nachprüfung ihrer Rechtsstaatlichkeit 166 .

37

Verfahren im Rahmen der Strafverfolgung, die nicht die Entscheidung über die Anklage selbst zum Gegenstand haben, wie etwa das Beschwerdeverfahren gegen prozeßleitende Anordnungen167 oder die unter Art. 5 M R K , Art. 9 IPBPR fallenden Verfahren zur Prüfung einer Verhaftung168, werden nicht von Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR erfaßt. Das Verfahren betrifft auch nicht mehr die strafrechtliche Anklage, wenn Rechte, die durch die strafrichterliche Entscheidung selbst nicht entzogen worden sind, in einer durch sie ausgelösten administrativen Maßnahme entzogen werden 169 .

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c) In welchem staatlichen Akt die „strafrechtliche Anklage" liegt, wird ebenfalls autonom vom Schutzzweck dieser Konventionsgarantie her ausgelegt und nicht im Sinne der förmlichen Anklageerhebung nach dem jeweiligen nationalen Recht. Der Zweck, eine effektive Verteidigung zu gewährleisten, erfordert eine materielle Auslegung, die auch schon vor der förmlichen Anklage bei einem Gericht die Verfahrensgarantien der Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR eingreifen läßt, wenn der Beschuldigte durch einen staatlichen Akt die Kenntnis erhält, daß gegen ihn wegen des Verdachts einer Straftat ermittelt wird. Welcher Akt dafür ausreicht, orientiert sich an den Gegebenheiten des jeweiligen Verfahrens und der Auswirkung auf die Lage des Beschuldigten 170 . Von diesem Zeitpunkt an greifen die Verfahrensgarantien zugunsten des Beschuldigten ein, vor allem beginnt von diesem Zeitpunkt an der Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist 171 .

39

Anklage in diesem Sinn ist daher jede offizielle Mitteilung der zuständigen Behörde, aus der der Betroffene ersehen kann, daß gegen ihn eine Anschuldigung vorliegt und daß die Behörde wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung gegen ihn ermittelt 172 , etwa seine Einvernahme als Beschuldigter. Unter Umständen können auch andere behördliche Maßnahmen genügen, aus denen der Beschuldigte dies ersehen kann, sofern diese Maßnahmen den Betroffenen in seiner Rechtsstellung ebenso beeinträchtigen, wie

165

IntKommEMRK- Vogler 255; 256. Strittig, verneinend EKMR in ständ. R sρ ι".. l>'rowein/Peukert 36; dazu Vasak ROW 1961 107; verneinend ferner IntKommEMRK-Vogler 253; Partseh 148, Fußn. 468; Vogler ZStW 82 (1970) 765; bejahend Guradze 11; je mit weit. Nachw. Vgl. LRK. Schäfer, 23.A. Vor § 1 RHG, 7 ff. 167 IntKommEMRK- Vogler 217. 168 EGMR 27.6.1968 Neumeister/Ö (EuGRZ 1975 393); 10.11.1969 Matznetter/Ö (Series A 10); Grabenwaner § 24 Rdn. 18; IntKommEMRK- Vogler 183; 202; 210; vgl. Art. 5 M R K Rdn. 4; a.Ä SKStPO-Pae/fgen 44. 169 Östr. VfGH EuGRZ 1990 186. ™ EGMR 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); 27.1.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 667); 166

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26.3.1998 Adolf/Ö (EuGRZ 1982 297); 21.2.1984 Öztürk/D (NJW 1985 1273); 28.6.1984 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 10.12.1982 Corigliano/I (EuGRZ 1985 585); 19.12.1989 Brozicek/I (Series A 167); östr. VfGH EuGRZ 1990 158; IntKommEMRK- Vogler 191; vgl. Absatz 3 Buchst, a; Rdn. 163. Vgl. etwa EGMR 27.6.1968 Neumeister/Ö (EuGRZ 1975 393); Vogler ZStW 89 (1977) 775; weit. Nachw. in den nachfolgenden Fußn. und Rdn. 81 ff. E G M R 27.1.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 667); 10.12.1982 Foti (NIW 1986 647); Froweinl Peukert 35 ff; IntKommEMRK- Vogler 202; MeyerLadewig 14; Nowak 14; Peukert EuGRZ 1979 270; SK-StPO-Paeffgen 39 Schroth EuGRZ 1985 558; Ulsamer FS Zeidler 1813; vgl. auch Rdn. 81.

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Art. 14 IPBPR

eine offizielle Mitteilung 173 ; vor allem gilt dies für die Festnahme wegen des Verdachts einer Straftat 1 7 4 oder eine Durchsuchung. Unerheblich ist dabei, ob es sich um ein Delikt handelt, dessen Verfolgung von einem Strafantrag abhängt 1 7 5 und ob die formelle Anklageerhebung letztlich wegen Geringfügigkeit oder aus anderen Gründen unterbleibt 176 . Der Eingang einer Strafanzeige ist noch keine Anklage, auch Ermittlungen zur Klärung des Anfangsverdachtes haben in der Regel noch nicht das erforderliche Gewicht. Keine strafrechtlichen Anklagen sind die Einleitung eines Verfahrens zur Aufhebung 4 0 der parlamentarischen Immunität für Zwecke der Strafverfolgung oder die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Frage einer Anklageerhebung prüfen soll 177 . Keine strafrechtliche Anklage liegt in Verwaltungsentscheidungen, die jemandem im Hinblick auf eine von ihm begangene Straftat Beschränkungen auferlegen, wie Beschränkungen der Berufsausübung 1 7 8 oder Beschränkungen, die der Verhütung künftiger Straftaten dienen 179 . Bis zu seiner rechtskräftigen Erledigung hat ein Strafverfahren die Stichhaltigkeit der 41 Anklage zum Gegenstand, also nicht etwa nur bis zur Rechtskraft des Schuldspruchs. Die Garantien des Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR schließen die rechtskräftige Festsetzung der Rechtsfolgen mit ein. Sie gelten auch in einem auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsmittelverfahren 180 - auch für das Revisionsverfahren 181 - und für die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe im Beschlußwege 182 . Entscheidungen, die erst nach Rechtskraft der Verurteilung anfallen, betreffen dagegen nicht mehr die Stichhaltigkeit der Anklage. Dies gilt etwa für Verfahren, die den Widerruf der Strafaussetzung oder die Strafvollstreckung183 oder die Kostenfestsetzung 184 zum Gegenstand haben oder die im Gnadenverfahren ergehen 185 . Verfahren, die die erneute Durchführung eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens betreffen, wie etwa das Verfahren zur Prüfung der Begründetheit eines Wiederaufnahmeantrags, fallen nicht darunter 1 8 6 , wohl aber das Verfahren, in dem nach der Wiederaufnahme erneut über die Stichhaltigkeit der Anklage entschieden wird 187 . Zu dem nicht garantierten Recht auf Wiederaufnahme vgl. Art. 13 M R K Rdn. 18.

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177 178

175

E G M R 21.2.1984 Öztürk/D (NJW 1985 62); 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); Frmveinl Fenken 48; Grubenwurter § 24 Rdn. 17; je mit weit. Nachw. vgl. zum Meinungsstand auch SK-StPO/ Paeffgen 40, 41; ferner auch Rdn. 81. Frowein/Peukert 48; IntKommEMRK- Vogler 204; vgl. E G M R 27.6.1968 Wemhof/D (JR 1968 463); 27.6.1968 Neumeister/Ö (EuGRZ 1975 393); 16.7.1971 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 232); Feukeri EuGRZ 1979 270. EGMR 25. 3.1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475); FroweinlPeukert 48. EGMR 27.1.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 667); 26.3.1982 Adolf/Ö (EuGRZ 1982 297); 25.3.1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475); Froweln/Feukert 30; IntKommEMRK- Vogler 207. IntKommEMRK- Vogler 208. Vgl. etwa EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1982 532 (Kaplan: Verbot, Versicherungsverträge abzuschließen). Vgl. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 95 (Ein-

(303)

180 181 182

183

184 185

186

187

tragung von Eltern in ein besonderes Überwachungsregister zur Verhütung von Kindsmißhandlungen). Vogler ZStW 89 (1977) 776. IntKommEMRK- Vogler 214. EGMR 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); Frowein!Peukert 49; 100; IntKommEMRK- Vogler 226 ff; IntKommEMRK-Mfe/i.s/«/Vogler 316; SKStPO-Paeffgen 45; a.Ä E K M R (nach Rechtskraft kein Schutzbedürfnis mehr, dazu IntKommEMRKVogler 226). EKMR bei Frowein!Peukert 52; IntKommEMRKVogler 182; 218; 219; SK-StPO-Paeffgen 42. IntKommEMRK-Mfe/i.s/«-/ Vogler 314. Guradze 11; IntKommEMRK- Vogler 183; 219; SKStPO-Paeffgen 42; Vogler ZStW 82 (1970) 764. E G M R 6.6.2003 Eischer/Ö (ÖIZ 2003 815) mit weit. Nachw. H . M , etwa E K R M bei Bleckmann EuGRZ 1981 95; ÖJZ 1990 216; Guradze 11; IntKommEMRKVogler 221; SiL-StPO-Faeffgen 45. Vogler ZStW 89 (1977) 777.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

III. Recht auf Entscheidung durch ein Gericht 42

1. Das Recht auf gerichtliche Entscheidung, also der Zugang zu einem Gericht (Tribunal), wird durch Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR jedem garantiert, dessen Ansprüche oder Verpflichtungen aus seinem Privatbereich streitig sind 188 oder gegen den eine strafrechtliche Anklage erhoben ist 189 . In diesen Fällen muß jeder Betroffene die Möglichkeit haben, die Entscheidung eines unabhängigen Gerichts herbeizuführen 190 , das über seine Sache nach Rechtsgrundsätzen in einem mit den erforderlichen Rechtsgarantien ausgestatteten Verfahren 191 selbst entscheidet. Dabei ist nicht notwendig, daß das nationale Recht eine gerichtliche Entscheidung in jedem Fall zwingend vorsieht, der Betroffene muß aber die Möglichkeit haben, nach seiner eigenen freien Willensentscheidung zur Wahrung seiner Rechte eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, die auf der Grundlage eines Verfahrens ergeht, in dem er seine ihm durch die Konventionen verbürgten Verfahrensrechte ausüben kann, wie etwa durch Einspruch gegen einen Strafbefehl192 oder einen Bußgeldbescheid193. Wenn die jeweilige Verfahrensordnung dies zuläßt, kann er auch auf sein Recht auf Durchführung eines vollen Verfahrens verzichten 194 . Der nationale Gesetzgeber ist ferner nicht gehindert, der Anrufung des Gerichts ein anderes Verfahren vorzuschalten, etwa vor einer Verwaltungsbehörde 195 . Er darf aber nicht die Entscheidung über Einleitung und Führung des gerichtlichen Verfahrens an das Ermessen einer anderen Stelle binden 1 % .

43

Die Ausgestaltung des Zugangs zu Gericht ist dem nationalen Recht überlassen. Es ist grundsätzlich Sache des jeweiligen Staates, welche Möglichkeiten des gerichtlichen Rechtsschutzes er vorsehen und in welcher Form er den effektiven Zugang zu Gericht für jedermann gewährleisten will 197 . Die Konventionen fordern keine bestimmte Art der Regelung, sondern nur, daß die Gesamtschau aller Regelungen ergibt, daß das Recht auf Schutz der eigenen Rechte durch ein Gericht in den oben genannten Bereichen auch tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann 1 9 8 . Diese Voraussetzung kann in ihrem Wesensgehalt verletzt sein, wenn das nationale Recht den Zugang ohne legitimen Grund versagt oder unverhältnismäßig erschwert, so etwa, wenn einer religiösen Gruppierung die bisher stets anerkannte Befugnis, zur Wahrung ihrer Rechte ein Gericht anzurufen, unter Hinweis auf ihre mangelnde Rechtspersönlichkeit plötzlich völlig versagt wird 199 . Auch Eingriffe des Gesetzgebers können den garantierten Zugang zum Gericht beeinträchtigen, wenn sie zum Ziele haben, die gerichtliche Entscheidung eines Rechtsstreites zu Gunsten des als Partei daran beteiligten Staates rückwirkend zu beeinflussen 200 , nicht aber, wenn sie zum Ziele haben, im Allgemeininteresse Fragen rückwirkend allgemein zu

188

EGMR ständ. Rspr. etwa EGMR 21.2.1975 Golder/GB (EuGRZ 1975 91); 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); Waite & Kennedy/D (EuGRZ 1999 207); ferner etwa E K M R NJW 1989 579. FroweinlPeukert 53; MeyerLadewig 18, und zur Entwicklung IntKommEMRK-Miehslerl Vogler 257 ff; 266.

ls9

Vgl. Grabemvarier § 24 Rdn. 19 („Organisationsgarantie"). Zur Entwicklung des Zugangsrechts SK-StPOPaeffgen 65; wegen der Einzelheiten vgl. Rdn. 43 ff. Vgl. Rdn. 49. E G M R 29.10.1991 Hennings/D (EuGRZ 1993 68); EKMR ÖJZ 1992 421 (Strafverfügung); Esser 610; \r\\KommEy[RK-Μ iehsler! Vogler 241 ff.

1,0

151 192

193

EGMR EuGRZ 1980 667 (Deweer); Frowein/Peukert 50; Vogler ZStW 82 (1970) 767. i« EGMR 27.2.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 667). 195 E G M R 26.3.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 21.2.1984 Öztürk/D (NJW 1985 1273); 28.5.1985 Ashingdane/GB (EuGRZ 1986 8); 4.7.2002 L & Ε Weh/Ö (ÖJZ 2002 736); Froweinl Peukert 61; SK-SiPO-Paeffgen 65. 196 EKMR EuGRZ 1991 298. 197 TntKommEMRK-Miefcfer/ Vogler 273 ff. 198 IntKommEMRK-MiehslerlVogler 342. 199 E G M R 16.12.1997 Katholische Kirche von Kania/ Griech (ÖJZ 1998 750). 2 »» Etwa EGMR 9.12.1994 Stran Griechische Raffinerien u. a./Griech. (ÖJZ 1995 432).

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

lösen 201 . Das Recht auf wirksamen gerichtlichen Schutz umfaßt auch das Vollstrekkungsverfahren, das zur Durchsetzung einer vom Betroffenen erzielten günstigen Entscheidung notwendig werden kann 2 0 2 . Die Verweigerung oder Verzögerung der Durchsetzung einer gerichtlichen Entscheidung über die Zeit hinaus, die nach der jeweiligen Sachlage von den nationalen Behörden für deren Umsetzung erforderlich ist, verletzt ebenfalls das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz; dieser wäre für den Betroffenen ohne die Möglichkeit einer Durchsetzung des erlangte Entscheidung illusorisch 203 . Schranken für die Ausübung dieses Rechts sind zulässig, sofern sie dem legitimen 4 4 Ziel der Ordnung der Rechtspflege dienen, in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Ziele stehen und nicht die eigentliche Substanz des Rechts in Frage stellen 204 . So sind die Staaten nicht gehindert, die Verjährung205 zu regeln oder den Zugang zu Gericht an bestimmte Formen und Fristen zu binden 2 0 6 und von sonstigen Voraussetzungen abhängig zu machen, die dem Interesse einer geordneten Rechtspflege dienen, wie etwa die Pflicht zur Bündelung von Klagen 207 oder etwa der Anwaltszwang oder die Angabe einer Zustelladresse oder die Leistung einer Prozeßkostensicherheit 208 oder auch eine mäßige Mißbrauchsgebühr 2 0 9 . Dies gilt auch, wenn der Zugang zu den Höchstgerichten an spezielle Anforderungen, wie die Einschaltung spezieller Anwälte, gebunden wird 210 . Zulässig ist grundsätzlich auch, daß der Zugang zu Gericht von der vorherigen Entrichtung von Gerichtskosten abhängig gemacht wird 211 ; jedoch darf dadurch der Zugang zu Gericht weder faktisch verhindert noch unverhältnismäßig erschwert werden 212 . Das nationale Recht muß durch geeignete Maßnahmen, wie etwa Bewilligung von Stundung oder Prozeßkostenhilfe dafür sorgen, daß jeder wegen der Beeinträchtigung seiner privaten Rechte die Gerichte unabhängig von seiner finanziellen Leistungsfähigkeit anrufen kann 2 1 3 , dies schließt die Befugnis zur Ablehnung in aussichtslosen Fällen nicht aus 214 . Im übrigen dürfen alle Einschränkungen des nationalen Rechts nicht ohne sachliche Rechtfertigung und vor allem nicht unter Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit aller Menschen vor Gericht 215 diskriminierend gegen einzelne Personengruppen (Aus-

21,1

2112

2 3

»

21,4

EGMR 20.2.2003 Forrer-Niedenthal/D (NJW 2004 927). E G M R 12.12.2002 Kalogeropoulos u. a./Griech, D (NJW 2004 273). E G M R 19.3.1997 Hornsby/Grieeh (ÖJZ 1998 236); 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech, D (NJW 2004 373); Meyer-Ladewig 25; S K - S t P O - f t j e f f g e n 66. Vgl. auch EGMR 11.9.2003 Emsenhuber/Ö (ÖJZ 2004 396), wo ein Verstoß verneint wurde, da Bf mehrere Möglichkeiten zur Realisierung der durch die Entscheidung - Verweigerung der Baugenehmigung für Nachbarn - erlangten Rechtsposition hatte. Grabenwarfer § 24 Rdn. 34ft";vgl. etwa unzulässige Beschränkung durch Gefängnisverwaltung EGMR 21.2.1975 Golder/GB (EuGRZ 1975 91); 28.6.1984 Campbell; Fell/GB (EuGRZ 1985 535); 25.3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); ferner Bindung der Honorarklage an Berufsverband, EGMR 27.8.1991 Philis/Griech (EuGRZ 1991 355) oder Verneinung einer bisher stets anerkannten Klagebefugnis; EGMR 16.12.1997 Katholische Kirche von Kania/Griech (ÖJZ 1998 750); 19. 6.2001 Kreuz/Pol (ÖJZ 2002 693: unangemessen hohe Gebühren); ferner etwa EGMR 28.5.1985 Ashingdane/GB (NJW 1986

(305)

205

2,16 207

208

209 21(1

211

212

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214 215

2173); EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 418; 419; FroweinIPeukerl 53 ff; 59 ff; Meyer-Ladewig 21. E G M R 22.10.1996 Stubbings u.a./GB (ÖJZ 1997 436). Esser 611 ff, FroweinIPeukerl 65; Meyer-Ludewig 22. Vgl. EGMR 8.7.1986 Lithgow/Gß'(EuGRZ 1988 350). Vgl. etwa EGMR 13.7.1995 Tolstoy-Miloslawsky GB (ÖJZ 1995 949); FroweinIPeukerl 65; IntKommEMKK-Miehsler/Vogler 279. FroweinIPeukerl 63. EGMR 26.7.2002 Meftah/F (ÖJZ 2003 732 für franz. KassGH unter Hinweis auf Europarecht). EGMR 10.5.2001 Ζ u.a./GB (Rep. 2000-V); Meyer-Ludewig 20. Meyer-Ludewig 21; vgl. nachf. Fußn. ferner etwa BVerfG NJW 1992 1673 zur Verhältnismäßigkeit einer Gebühr. Vgl. EGMR 13.7.1995 Tolstoy-Miloslawsky/GB (ÖJZ 1995 494): 19.6.2001 Kreuz/Pol (ÖJZ 2002 693), FroweinIPeukerl 54. E K M R ÖJZ 1993 141; 463. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR, vgl. Rdn. 56; ferner Art. 14 MRK Rdn. 4; 20.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

länder, Ehefrauen 2 1 6 usw.) vorgesehen werden. Die Staaten haben bei solchen Regelungen einen gewissen Ermessensspielraum 217 . Für Minderjährige oder Geisteskranke 218 kann im Interesse einer geordneten Rechtspflege der unmittelbare Zugang zum Gericht beschränkt werden. Aus Gründen der Staatssicherheit219 sind ebenfalls Einschränkungen zulässig; der Zweck der Rechtsweggarantie muß dann durch andere Maßnahmen gewahrt werden 220 . 44a

Alle nationalen Zugangsvoraussetzungen müssen im Bereich dessen liegen, was dem vom jeweiligen Verfahrensgegenstand betroffenen Personenkreis möglich und zumutbar ist. Der Zugang zu Gericht darf den Betroffenen weder im Einzelfall durch Maßnahmen staatlicher Behörden verwehrt 221 noch generell durch Regelungen in sachlich ungerechtfertigter Weise erschwert werden 222 , etwa durch formelle oder materielle Anforderungen, die keinen legitimen Zweck verfolgen oder außerhalb eines vernünftigen Verhältnisses zu dem mit ihnen verfolgten Verfahrenszweck stehen 223 . Werden zulässigerweise bestimmte Fristen für die Anrufung des Gerichts vorgeschrieben, muß bei Fristversäumung auf Grund ungewöhnlicher und dem Betroffenen nicht anzulastender Umstände diesem die Wiedereinsetzung oder ein anderer auf das gleiche Ziel gerichteter Rechtsbehelf diesem den Zugang zu Gericht eröffnen 224 . Besteht Anwaltszwang oder ist ein kompliziertes Verfahren vorgesehen, das den einzelnen überfordert, müssen die Schwierigkeiten durch staatliche Hilfe kompensiert werden, etwa, daß durch Gewährung von Prozeßkostenhilfe einer mittellosen Partei die Inanspruchnahme eines Anwalts ermöglicht wird 225 . Dies ist aber nur ein möglicher Weg zur Überwindung von Zugangshindernissen, das nationale Recht kann dies auch anderweitig ermöglichen 226 . Eine generelle Pflicht zu bestimmten Formen von Zugangshilfen begründen die Konventionen bei „civil rights" nicht. Nur für die Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen stellen Art. 6 Abs. 3 Buchst, c, e M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, d, f IPBPR auch insoweit Mindestanforderungen auf 2 2 7 .

45

Die absolute Immunität vor zivilrechtlichen Klagen und strafgerichtlicher Verfolgung, die in vielen Staaten den Abgeordneten für ihre Äußerungen im Parlament gewährt wird, dient dem legitimen Ziel des Schutzes der freien Rede im Parlament und der Aufrechterhaltung der Gewaltentrennung zwischen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit und verstößt daher nicht gegen Art. 6 Abs. 1 MRK 2 2 8 . Auch innerstaatliche Regelungen, die die Wahrnehmung bestimmter Kontrollaufgaben von der gerichtlichen Kontrolle freistellen, sind mit Art. 6 M R K vereinbar 229 . Der Ausschluß von Klagen in der Bundesrepublik gegen im Ausland als Folge des zweiten Weltkriegs durchgeführte Enteignungsmaßnahmen auf Grund des Überleitungsvertrages wurde vom E G M R als mit der M R K ver-

216

Vgl. U N - A M R E u G R Z 1989 124 mit A n m . Tomuschat (Klage nur mit Z u s t i m m u n g des Ehemannes). 217 FroweinlPeukert 59 ff mit Beispielen aus der Rspr. 218 Vgl. E G M R 21.2.1975 G o l d e r / G B ( E u G R Z 1975 91); E K M R E u G R Z 1994 392, FroweinIPeukert 59; vgl. aber auch E G M R 24.10.1979 Winterwerp/Ndl ( E u G R Z 1979 650). 2 19 E G M R 6.9.1978 Klass/D ( N J W 1979 1755); FroweinIPeukert 64; T n t K o m m E M R K - Vogler 104. 2211 IntKommEMRK-Fotffe»· 104. 221 E G M R 21.2.1975 G o l d e r / G B ( E u G R Z 1975 91). 222 FroweinIPeukert 37 ff. 223 Vgl. E G M R 9.10.1997 Airey/Trl ( E u G R Z 1979 626), 10.7.1998 McElduff u . a . / G B (Rep. 1998 IV); 19.6.2001 Kreuz/Pol (ÖJZ 2002 693); Meyer-Ladewig 21.

Stand:

224

Vgl. Meyer-Ladewig 22 unter Hinweis auf E G M R 26.10.2000 Leoni/T; 6.12.2001 Tsironis/Griech. E G M R 9.10.1997 Airey/Trl ( E u G R Z 1979 626); Meyer-Ladewig 23. 226 V g l Meyer-Ladewig 23. 227 E G M R 9.10.1997 Airey/lrl ( E u G R Z 1979 626); vgl. FroweinIPeukert 36 ff; 51 ff; T n t K o m m E M R K Miehslerl Vogler 184, 274. 228 E G M R 17.12.2002 A / G B (ÖJZ 2004 353); Grabenwarter § 24 R d n . 36; Matscher Ö J Z 1980 20; SKS t P O - P a e f f g e n 66. 2 ® Vgl. E G M R 21.9.1994 Eayed/GB (ÖJZ 1995 436; Bericht von Staat eingesetzter unabhängiger Kontrolleure über bestimmte Wirtschaftstätigkeiten); Grabenwarter § 24 R d n . 36. 225

1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

einbar angesehen 230 . Unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 ist jedoch, daß Ansprüche wegen terroristischer Taten „bis zum Erlaß neuer Gesetze" jahrelang ausgesetzt wurden 231 . Inhärente Beschränkungen der Anrufung des Gerichts, wie sie sich etwa traditionell 4 6 aus dem Völkerrecht oder dem Staatsrecht ergeben, sind mit den Konventionsgarantien vereinbar, da die Konventionen von ihrer Zielsetzung her insoweit die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts nicht ändern wollten 232 . Sie schließen daher die völkerrechtliche Immunität eines Staates für hoheitsrechtliches Handeln (acta iure imperii) 233 oder auch vor sonstigen Klagen in einem anderen Staat 234 nicht aus, desgleichen nicht, daß die Vollstreckung in das im eigenen Staat belegene Vermögen eines anderen Staates von der Zustimmung einer nationalen Stelle abhängig gemacht und von dieser verweigert wird 235 . In der Verweigerung der kraft Gesetzes erforderlichen Zustimmung des griechischen Justizministers zur Vollstreckung eines Urteils auf Zahlung von Schadensersatz gegen die Bundesrepublik Deutschland wurde kein unverhältnismäßiger Eingriff gesehen, weil er den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts über die Staatenimmunität entspricht 236 . Unangetastet bleibt auch die Immunität, die internationalen Organisationen oder im Ausland operierenden Truppenteilen und ihren Angehörigen völkervertraglich eingeräumt worden ist 237 . Desgleichen wird durch Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR diplomatische Immunität nicht ausgeschlossen, die bestimmten Personen, wie Angehörigen des diplomatischen oder konsularischen Korps oder Staatsoberhäuptern mit unterschiedlichem Inhalt 238 zuerkannt wird 239 . Einen Instanzenzug garantiert Art. 6 M R K nicht 240 , während Art. 14 Abs. 5 IPBPR 4 7 dies jedem zusichert, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist 241 . Räumt das nationale Recht aber Rechtsmittel ein, kann es die Anrufung des Rechtsmittelgerichts an besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen knüpfen und auch seine Prüfungskompetenz beschränken, wie etwa auf Rechtsfragen bei der Revision oder bei einem Kassationsgericht 242 . Soweit ein Zugang eröffnet ist, muß er und das durch ihn ausgelöste Verfahren grundsätzlich den Anforderungen der M R K genügen; dies gilt auch für die Anfechtungsfristen 2 4 3 . Eine mündliche Verhandlung ist nicht unbedingt erforderlich, wenn eine solche in der Vorinstanz stattfand und nur noch über Rechts-

23(1

' 232

233

234

EGMR 12.7.2001 Fürst Hans Adam TT von und zu Liechtenstein/D (EuGRZ 2001 466 mit zustimmenden Sondervoten), dazu kritisch Fahrenhorst EuGRZ 2001 459; Blumemvitz AVR 40 (2002) 215. Meyer-Lädewig 21 unter Hinweis auf E G M R 1.3.2002 Kutik/Kroatien. Dies zeigen Art. 51 M R K , der für die Richter des EGMR ebensolche Vorrechte und Immunitäten vorsieht, sowie das Europäische Übereinkommen über die am Verfahren vor dem E G M R teilnehmenden Personen vom 23.20.1996 (BGBl. II 2001 S. 359), dazu Anhang Rdn. 20 ff. EGMR 21.11.2001 McElhinney/Trl(EuGRZ 2002 416: Keine Überschreitung des Einschätzungsermessens durch Anerkennung der Staatenimmunität), dazu Anm. Maierhöfer EuGRZ 2002 391; vgl. FroweinlPeukerl 62; Grahenwarter § 24 Rdn. 36; ferner die nachf. Eußn. EGMR 21.11.2001 Fogarty/GB (EuGRZ 2002 411); 21.11.2001 Al Adsani/GB (EuGRZ 2002 403); vgl. dazu Cremer AVR 41 (2003) 137; 158 ff; Toms AVR 40 (2002) 331 ff (Berufung auf Staatenimmunität auch bei Verstoß gegen völkerrechtliches ius cogens).

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EGMR 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech, D (NJW 2003 273; Zustimmung des griechischen Justizministers zur Zwangsvollstreckung in Vermögen der Bundesrepublik in Griechenland). E G M R 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech, D (NJW 2003 273). EGMR 18.2.1999 Waite & Kennedy/D (NJW 1999 1173: arbeitsrechtl. Ansprüche gegen ESA); 21.1.2001 McElhinney/Irl. (EuGRZ 2002 416); Grahenwarter § 24 Rdn. 36; Meyer-Ladewig 26. Vgl. bei §§18 bis 20 GVG. Frowein!Peukert 62; Grahenwarter § 24 Rdn. 36; TntKommEMRK- Μiehslerl Vogler 104: 279; MeyerLadewig 26. Grahenwarter § 24, 37. Ebenso Art. 2 des 7. ZP; dem die Bundesrepublik nicht beigetreten ist; vgl. unten Rdn. 261 ff; für einen zweiten Instanzenzug in Strafsachen SKStPO-Paeffgen 68. EGMR 16.10.2001 Eliazer/NdL (ÖJZ 2003 197); 26.7.2002 Meftah/F (ÖJZ 2003 732); Meyer-Ladewig 2 8 . Vgl. Meyer-Ladewig 28.

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M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

fragen entschieden wird 244 . Der Zugang zum Rechtsmittelgericht darf nicht in einer Weise beschränkt werden, die mit dem Wesensgehalt des Anfechtungsrechtes unvereinbar ist oder es unverhältnismäßig antastet, so etwa, wenn über eine Kassationsbeschwerde nur verhandelt wird, wenn sich der Angeklagte in H a f t nehmen läßt 245 . Soweit ein Gericht zur Vorlage bei einem anderen Gericht verpflichtet ist, garantiert Absatz 1 auch den Anspruch auf Befassung dieses Gerichts mit der Vorlegungsfrage, er sichert grundsätzlich den Zugang zu allen nach der nationalen oder internationalen Rechtsordnung zur Entscheidung berufenen Gerichten gegen eine willkürliche Verweigerung. Auch die Verfahrensgarantien müssen gewährleistet sein, vor allem das Gebot eines fairen, die Verteidigungsrechte wahrenden Verfahrens 246 . 2. Gericht 48

a) Allgemein. Ein unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht wird von beiden Konventionen gefordert; Art. 14 Abs. 1 IPBPR verlangt darüber hinaus auch noch, daß es sich um ein zuständiges Gericht handeln muß. Ein grundlegender Unterschied zur M R K besteht darin nicht, da die Hervorhebung der Zuständigkeit lediglich eine konkretere Ausformung der von beiden Konventionen geforderten gesetzlichen Festlegung ist, die gewährleisten soll, daß die Gerichte ihre Aufgaben aufgrund genereller Regelungen und damit losgelöst von jeder Zuweisung für den Einzelfall erfüllen 247 . Dies entspricht dem Grundgedanken der Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 GG.

49

b) Die Begriffe „Gericht" und „Tribunal" (Art. 6 M R K : „tribunal"; Art. 14 IPBPR: „courts and tribunals", „tribunaux et les cours de justice") 248 werden in beiden Artikeln nicht näher definiert 249 . Die Konventionen verwenden keinen einheitlichen Begriff des Gerichts. Sie verstehen ihn - losgelöst von den Bezeichnungen und Strukturen des jeweiligen nationalen Rechts autonom und funktional von der jeweiligen Aufgabenstellung her250. Es richtet sich nach den am Schutzzweck orientierten materiellen Kriterien, welche nationalen Entscheidungsorgane den Vorgaben genügen, die für ein „Tribunal" nach den Konventionen unerläßlich sind. Der Spruchkörper muß nicht notwendig im Bereich der klassischen ordentlichen Gerichtsbarkeit errichtet und in deren Organisation eingebunden sein. Auch andere auf Gesetz beruhende Spruchkörper können den Anforderungen genügen, selbst wenn sie daneben noch andere Aufgaben haben. Diese anderen Aufgaben dürfen aber nicht die gleiche Angelegenheit betreffen, da sonst die strukturelle Unparteilichkeit anzweifelbar wird 251 . Solche Spruchkörper können im Verwaltungsbereich angesiedelt sein252 und dort zusätzlich auch Verwaltungsaufgaben wahrneh244

245

246

247

Vgl. EGMR 25.9.1992 Pham Hoang/F (EuGRZ 1992 472); 26.7.2002 Meftah/F (ÖJZ 2003 732); ferner Rdn. 265 ff. Etwa E G M R 23.11.1993 Poitrimol/F (ÖJZ 1994 467); 21.1.1999 van Geyseghem/Belg (NJW 1999 2352); 13.2.2001 Krombaeh/F (NJW 2001 2387) je mit weit. Nachw; aber auch E G M R 16.10.2001 Eliazer/NdL (ÖJZ 2003 197; mit MRK ist vereinbar, wenn gegen Abwesenheitsurteil nur Widerspruchsverfahren und keine Kassastionsbeschwerde zulässig).

248

E G M R 21.1.1999 van Geyseghem/Belg (NJW 1999 2352); 13.2.2001 Krombach/F (NJW 2001 2387); EKMR NJW 1989 579; Frowein/Peukert 68. Nowak 15.

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2511

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Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR. Zu den Begriffen Esser 535 ff; TntKommEMRKMiehslerl Vogler 282 ff Etwa EGMR 18. 6.1971 De Wilde, Ooms & Versyp/ Belg (Serie A 12); 29.4.1988 Belilos/CH (EuGRZ 1989 21); Grahemvarier § 24 Rdn. 19, 20; SK-StPOPaeffgen 48. Vgl. etwa EGMR 28.9.1995 Procola/Lux (ÖJZ 1996 193, Conseil d'Etat sollte über Rechtmäßigkeit einer Verordnung entscheiden, die mehrere Mitglieder vorher in beratender Funktion geprüft hatten. Vgl. etwa E G M R 28.6.1984 Campbell & Fell (EuGRZ 1985 534); 23.4.1987 Ettl u.a./Ö (ÖJZ 1988 22); andererseits EGMR 22.10.1984 Sramek/ Ö (EuGRZ 1985 336).

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men 253 oder sie können bei Standesvertretungen auch mit Berufsangehörigen als Richter gebildet werden 254 . Unerläßlich ist nur, daß ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von den Prozeßparteien erkennbar 2 5 5 gesichert ist, was nicht der Fall ist, wenn der Berichterstatter Bediensteter einer Prozeßpartei ist 256 oder wenn in einem militärgerichtlichen Verfahren ein Offizier in einer dem Gericht übergeordneten Stellung mitwirkt 257 . Gericht sind solche besonderen Spruchkörper aber nur, wenn sie in einem geregelten Verfahren die Beteiligten hören, ihre Argumente prüfen, den entscheidungserheblichen Sachverhalt feststellen 258 und darüber nach Rechtsgrundsätzen entscheiden 259 . D a die garantierten Verfahrensrechte verzichtbar sind, können sich die Parteien aber auch einem Schiedsgericht unterwerfen, das den Anforderungen an ein Gericht nicht entspricht 260 . Eine hinreichende eigene Entscheidungskompetenz ist unerläßlich für jedes Tribunal. 5 0 Gremien, die lediglich eine Empfehlung abgeben, wie eine andere Stelle entscheiden soll, sind kein Gericht, selbst wenn ihre Mitglieder dabei in voller sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit tätig werden 261 . Dem Schutzzweck genügt nur eine Einrichtung, die über die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen nach Recht und Gerechtigkeit selbst entscheidet262. Bei einer bloßen rechtlichen Nachprüfung der von einer anderen Stelle bindend festgestellten Tatsachen wäre der mit der Einschaltung des Gerichts erstrebte Rechtsschutz nicht voll gegeben 263 . Es kann genügen, wenn das Gericht über die tatsächlichen Grundlagen und die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Anordnung einschließlich der Einhaltung der Grenzen des eingeräumten Ermessens und seiner mißbrauchsfreien Ausübung selbst entscheidet, während die Zweckmäßigkeit der Ausübung des eingeräumten Ermessens seiner Nachprüfung entzogen ist 264 . Es muß aber immer eine ausreichende eigene substantielle Überprüfung der vorgängigen Verwaltungsentscheidung unter dem Blickwinkel der konventionserheblichen Gesichtspunkte möglich sein. Einem Gericht, das nur nachprüfen kann, ob die Behörde „ungesetzlich, unvernünftig oder unfair" gehandelt hat 265 oder das ein nicht an genaue materielle gesetzliche Vorgaben gebundenes Ermessen hinnehmen muß, fehlt die von Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR geforderte umfassende Prüfungskompetenz 2 6 6 .

2,4

:

256 2,7

258

EGMR 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); lisser 536; vgl. auch vorst. Fußn. Vgl. etwa E G M R 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 23. 6.1994 De Moor/Belg (ÖJZ 1993 33: Rat der Standesvertretung der Rechtsanwälte). Die Unparteilichkeit darf schon dem äußeren Anschein nach nicht anzweifelbar sein, dies wurde verneint, wenn Militärrichter in einem staatlichen Gericht mitwirkten, so etwa E G M R 12.3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 472; dazu Breuer EuGRZ 2003 449); vgl. Grabenwarler § 24 Rdn. 24; Meyer-Ladewig 29; ferner Rdn. 54. EGMR 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336) E G M R 25.2.1997 Findlay/GB (Rep. 1997-1); Grabenwarter § 24 Rdn. 24. Es ist dem nationalen Recht überlassen wie es Notwendigkeit, Form und Art der Beweiserhebung und Beweiswürdigung regeln will, vgl. etwa EGMR 19.4.1994 Van de Hurk/NdL (ÖJZ 1994 819); 10.7.1998 Sidiropoulos u.a./Griech (ÖJZ 1999

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477); 21.1.1999 Garcia Ruiz/Span (NJW 1999 2353); 18.6.2002 Wierbicki/Pol (ÖJZ 2003 656). Vgl. E G M R 23.19.1985 Benthem/NdL (EuGRZ 1986 299: verneinend für einen als Verwaltungsakt gewerteten königlichen Erlaß). EKMR nach Peukert EuGRZ 1980 269. EGMR 23.19.1985 Benthem/NdL (EuGRZ 1986 299); FroweinlPeukert 55; 124. E G M R 16.7.1971 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 236); 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336); 19.2. 1983 Albert, Le Compte/Belg (EuGRZ 1983 193); 28.6.1984 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); vgl. auch Art. 5 MRK Rdn. 121. EGMR 23.4.1987 Ettl/Ö (ÖJZ 1988 22); EKMR ÖJZ 1995 115: FroweinlPeuken 55 ff, 124; mit Nachw.; vgl. etwa auch östr. VfGH EuGRZ 1988 173; 187 (für Kernbereich); 1990 158. EKMR EuGRZ 1982 533 (Kaplan); Froweinl Peukert 126 ff. EGMR 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533). EGMR 28.6.1990 Obermeier/Ö (EuGRZ 1990 209).

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M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

51

Unschädlich ist die Bindung an die anderweitige Entscheidung einer Vorfrage, deren Gegenstand vom Schutzbereich der Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR umfaßt wird, wenn das vorangegangene Verfahren des anderen Gerichts oder der Verwaltungsbehörde seinerseits einer diesen Artikeln genügenden Nachprüfung zugänglich war 267 . Der Betroffene muß also in einem vorangegangenen gerichtlichen Verfahren selbst ausreichende Verfahrensrechte gehabt haben, die den Anforderungen der Konventionen entsprechen. An die Ergebnisse eines Verfahrens, zu dem er selbst keinen Zugang hatte, kann er nicht gebunden sein. Gegen eine bindend gewordene Vorfragenentscheidung der Verwaltungsbehörde muß ihm der Rechtsweg zu einem unabhängigen Gericht mit einer umfassenden, den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 genügenden eigenen Prüfungskompetenz offen gestanden haben 268 .

52

c) Auf Gesetz beruhend bedeutet auch hier, daß die Grundlagen für die Errichtung und die Organisation des jeweiligen Spruchkörpers und seine Zuständigkeiten durch Gesetz generell vorbestimmt sein müssen; nur so werden die Zugangsmöglichkeiten berechenbar und der Willkür entzogen. Die Errichtung durch eine administrative Anordnung allein genügt in der Regel nicht 269 , desgleichen nicht ein nur für den Einzelfall ad hoc eingesetztes Ausnahmegericht 270 . Die Einrichtung von Spezialgerichten für besondere Sachgebiete durch Gesetz ist damit nicht unvereinbar, wenn auch insoweit die sachlichen Voraussetzungen für ein Gericht und die Verfahrensgarantien gewahrt werden. Gleiches gilt grundsätzlich auch für Militärgerichte 271 . Die Forderung einer gesetzlichen Grundlage schließt nicht aus, daß innerhalb des gesetzlichen Rahmens auch untergesetzliche Normen die erforderlichen zusätzlichen Festlegungen treffen 272 . Wieweit die Rechtsgrundlage außer der Errichtung des Gerichts auch dessen Organisation, Arbeitsweise und Zusammensetzung im Einzelfall abdecken muß, ist bisher weitgehend offengeblieben 273 . Insgesamt dürften die Konventionen eher geringere Anforderungen stellen als die Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 GG, so daß bei dessen Beachtung auch ihren Anforderungen genügt ist 274 .

53

3. Die Unabhängigkeit des Gerichts (oder sonstigen Spruchkörpers) muß sowohl in seinem Verhältnis gegenüber anderen Staatsorganen als auch im Verhältnis zu den Parteien oder Betroffenen des Rechtsstreites gewährleistet sein. Das Gericht muß frei von äußeren Beeinflussungen entscheiden können. Seine Mitglieder dürfen weder an Weisungen gebunden noch verpflichtet sein, über ihre Entscheidungen einer anderen Stelle Rechenschaft abzulegen; sie dürfen personell und organisatorisch von keiner anderen

267

EGMR 28.6.1990 Obermeier/Ö (EuGRZ 1990 209); vgl. Spitzer ÖJZ 2003 55 nicht bei Vorfragen aus nicht von Art. 6 erfaßten Bereichen (Kritik an E G M R 17.12.1996 Terra Woningen BV/Ndl, ÖJZ 1998 69); Vrowein!Peukert 124; Grabenwarter § 24 Rdn. 26. 268 EGMR 23.6.1981 Le Cornpte (EuGRZ 1981 552); 28. 6.1990 Obermeier/Ö (EuGRZ 1990 209); 17.12. 1996 Terra Woningen BV/Ndl (ÖJZ 1998 69); östr. VfGH EuGRZ 1988 187. 2® Peukert EuGRZ 1980 269; Spitzer ÖJZ 2003 55. 2711 IntKommEMRK-M/efcfer/Koffer 290; Grabenwarter § 24 Rdn. 21; vgl. - auch zur Rechtslage in der Bundesrepublik - Sü-StPO-Paeffgen 64. 271 Zur Problematik, die bestehen kann, wenn die Unabhängigkeit der Militärrichter nicht gewahrt erscheint,

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sei es, weil sie der Befehlsgewalt eines auch das Verfahren dominierenden Offiziers unterstanden (EGMR 25.2.1997 Eindley/GB - Rep. 1997-1; 26.2.2002 Morris/GB), sei es, weil sie als Militärrichter in einem zivilen Spruchkörper mitwirkten, vgl. EGMR 12.3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 472); Grabenwarter § 24 Rdn. 21, 24; ferner SKStPO-Paeffgen 64. Vgl. zur Zulässigkeit eines Ermessensspielraum bei der Prüfung der Entschuldigung der Geschworenen EKMR ÖJZ 1991 221. Vgl. 1-roweinlPeukert 123; TntKommEMRK-Miefclerl Vogler 293; Grabenwarter § 24 Rdn. 21 mit weit. Nachw. IntKommEMRK-MK'A.sfer/Fogfer 293.

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Stelle abhängig sein 275 , dazu gehört auch die rechtliche oder zumindest faktische Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit während ihrer Amtsperiode 276 , die eine gewisse Mindestdauer haben muß 2 7 7 . Innerhalb der Amtsperiode dürfen Richter nur auf Grund besonderer und genau festgelegter Umstände absetzbar sein; es genügt, wenn im Regelfall ihre faktische Unabsetzbarkeit in der Staatspraxis anerkannt wird 278 . Maßgebend ist die Gesamtwürdigung ihrer Stellung. Sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch gegenüber den Betroffenen muß ersichtlich sein, daß ihre Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung durch nichts in Frage gestellt wird 279 . Ist die Unabhängigkeit genügend gesichert, ist es unschädlich, wenn die Exekutive die Richter ernennt 2 8 0 . Nicht erforderlich ist, daß die Richter Berufsrichter oder auf Lebenszeit ernannt sind 281 oder daß sie keine anderen Aufgaben neben ihrem Richteramt ausüben 2 8 2 . Die anderen Aufgaben dürfen jedoch nie solcher Art sein, daß sie die persönliche oder sachliche Unabhängigkeit des Gerichts tatsächlich oder aber auch nur dem für das Vertrauen in die Rechtspflege wichtigen äußeren Erscheinungsbild nach 2 8 3 in Frage stellen können. 4. Die Unparteilichkeit betrifft an sich die subjektive Einstellung des Richters, der 5 4 ohne Ansehen der Person sachgemäß urteilen muß. Die Unparteilichkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet 284 . Jedes Gericht ist aber verpflichtet, jederzeit zu prüfen, ob es den Anforderungen an ein unparteiisches Tribunal gerecht wird. Dies gilt auch für die an der Entscheidung mitwirkenden Laienrichter 285 . Werden Tatsachen konkret behauptet, die geeignet sind, Zweifel an der Unparteilichkeit eines Richters zu erwecken, muß das Gericht sie überprüfen und gegebenenfalls auch darüber entscheiden 286 . Dies gilt auch für auf Voreingenommenheit hindeutende Bemerkungen eines ehrenamtlichen Richters 287 . Der E G M R hielt es in einem solchen Fall allerdings für aus-

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So früher bestimmte Organisationsformen der Militärgerichte in einigen Staaten, vgl. E G M R 25.2. 1997 Findley/GB (Rep. 1997 I); 18.2.1999 Cable u.a./GB (EuGRZ 1999 116); 18.2.1999 Hood/ GB (EuGRZ 1999 117); 12.3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 472); Meyer-Ladewig 29; Nowak 17; Peukert EuGRZ 1980 269. Vgl. auch LR-Rieß Einl. Τ 13 ff und die Nachweise in den nachf. Fußn. E G M R 8.6.1976 Engel/NdL (EuGRZ 1976 221); 28.6.1984 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336). EGMR 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336) sah drei Jahre als ausreichend an; Grabenwarter § 24 23 hält regelmäßig eine Amtsdauer von fünf bis sechs Jahren für erforderlich, bei unentgeltlicher Tätigkeit können aber auch kurze Amtsperioden nachvollziehbar zu begründen sein; vgl. FroweinI Peukert 126. Zur Richterwahl in der Schweiz vgl. Tagungsbericht von Puder ÖJZ 2004 380 (Amtsdauer 4 bzw. 6 Jahre) Grabenwarter § 24 Rein. 23; vgl. dazu die Bedenken bei den Richtern auf Probe bei Lippnld NJW 1991 2383. Vgl. etwa EGMR 26.2.1993 Padovani/T (ÖJZ 1993 667). EGMR 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336); 28.6.1984 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); Frowein!Peukert 125. Esser 543. Vgl. EGMR 1.10.1982 Piersack/B (EuGRZ 1985

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301); FmweinlPeukert 126; Peukert EuGRZ 1980 269. E G M R 28.6.1984 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336); 29.4.1988 Belilos/CH (EuGRZ 1989 21; zeitweilige Übertragung richterlicher Aufgaben an einen Juristen im Polizeidienst); vgl. auch EGMR 9.6. 1998 Incal/Türk (Rep. 1998-IV); 12.3.2003 Öcalan/ Türk (EuGRZ 2003 472: Mitwirkung eines Militärrichters). Vgl. auch Villiger HdB 417: Es genügt dem Art. 6 Abs. 1 MRK, wenn Militärrichter sachlich unabhängig von Weisungen ihrer Vorgesetzten entscheiden.

284

E G M R 23.6.1981 El Campte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 1.10.1982 Piesack/Belg (EuGRZ 1985 301); 10.2.1983 Albert, El Campte/Belg (EuGRZ 1983 190); 26.10.1986 De Zuber/Belg (EuGRZ 1985 407); ständ. Rechtspr. etwa 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech/D (NJW 2002 273); Fmweinl Peukert 129; Grabenwarter § 24 Rdn. 30; MeyerLadewig 30; SK-StPO-Paejfgen 60.

285

E G M R 25.11.1993 Holm/Schwed (ÖJZ 1994 522); 10.6.1996 Pullar/GB (ÖJZ 1996 874); SK-StPOPaeffgen 60. Vgl. EGMR 23.4.1996 Remli/F (ÖJZ 1996 831; Mögliche Befangenheit eines Richters nicht überprüft); Grabenwarter § 24 Rdn. 30. Vgl. E G M R 9. 5.2000 Sander/GB (Rep. 2000 V); Meyer-Ladewig 32; sowie nachf. Fußn.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

reichend, wenn der Richter die ihm intern mitgeteilten Zweifel an der rassistischen Unvoreingenommenheit der Geschworenen dadurch beseitigte, daß er deren Beratung unterbrach und sie erneut belehrte, daß sie ihren Wahrspruch nur nach der Beweislage und ohne jede Voreingenommenheit abzugeben haben 288 . 54a Die Unparteilichkeit darf aber auch dem äußeren Anschein nach für die Öffentlichkeit und die Verfahrensbeteiligten nicht anzweifelbar sein 289 . Dies erfordert der Schutz des Vertrauens in die Rechtspflege. Bereits äußere Umstände, die unabhängig vom Verhalten des Richters geeignet sind, diesen für einen objektiven Betrachter als nicht mehr unbefangen erscheinen lassen, stellen sie in Frage 290 . Wird eine innerstaatliche Vorschrift über den Ausschluß der Richter, die jedem Zweifel an deren Unparteilichkeit vorbeugen soll, nicht beachtet, so indiziert dies die Verletzung des Rechts auf ein unparteiisches Gericht 291 . Im Interesse des Ansehens der Rechtspflege und der Akzeptanz ihrer Entscheidungen kommt es darauf an, schon jeden äußeren Schein einer Voreingenommenheit zu vermeiden 292 . Die Unparteilichkeit ist schon nicht mehr konventionsgemäß gewährleistet, wenn ein Umstand objektiv geeignet ist, sie aus der Sicht der Öffentlichkeit oder eines der Verfahrensbeteiligten 293 anzuzweifeln („strukturelle Unparteilichkeit") 294 . Dies ist etwa der Fall, wenn ein Mitglied des Gerichts vorher bei der Staatsanwaltschaft die Aufsicht über den in der gleichen Sache ermittelnden Staatsanwalt ausgeübt hatte 295 oder als Untersuchungsrichter oder Polizeibeamter 296 tätig war oder wenn er kollidierende Verwaltungsfunktionen wahrgenommen hat 297 . Dagegen wurde keine objektive Gefährdung des äußeren Anscheins der Unparteilichkeit allein darin gesehen, daß ein Richter des erkennenden Gerichts mit einem Zeugen persönlich bekannt ist 298 oder daß er vorher eine im Ermittlungsverfahren notwendige richterliche Entscheidung ohne eigene Ermittlungstätigkeit getroffen 299 oder über die Fortdauer der Untersuchungshaft ent-

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E G M R 25.2.1897 Gregory/GB (ÖJZ 1998 194). Vgl. E G M R 17.1.1970 Delcourt/Belg („Justice must not only be done, it must also be seen to be done"); Villiger HdB 415; vgl. auch Grabenwarter § 24 Rdn. 31; für das Vertrauen der Öffentlichkeit in Gerichte ist bereits der äußere Anschein wichtig. Zwischen der von der Einschätzung anderer bestimmten (objektiven) Unparteilichkeit und der sachlichen Unabhängigkeit besteht ein enger Zusammenhang, zumal letztere nur die Unparteilichkeit sichern soll; vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 27; vgl. auch EGMR 22.6.1989 Langborger/Schwed (Series A 155). EGMR 23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); 25.2.1992 Pfeiffer & Plankl/Ö (EuGRZ 1992 99). EGMR 1.10.1982 Piersack/Belg (EuGRZ 1985 301); 26.10.1984 De Cubber/Belg (EuGRZ 1985 407); 29.4.1988 Belilos/CH (EuGRZ 1989 21); 26.2.1993 Padovani/1 (ÖJZ 1993 667); 22.4.1994 Saraiva de Carvalho/Port. (ÖJZ 1996 36). Etwa E G M R 1.10.1982 Piersack/Belg (EuGRZ 1985 301); 24. 8.1993 Nortier/NdL (ÖJZ 1994 213); 25.11.1993 Holm/Schwed (Series A 279 A); 27.4. 2000 (NJW 2001 2319 L). Maßgebend ist, ob vom Standpunkt des Beschwerdeführers aus seine Befürchtungen auch objektiv gerechtfertigt erscheinen können; Grabenwarter § 24 Rdn. 31; Meyer-Ladewig 30; vgl. nachf. Fußn. Etwa EGMR

24.5.1989 Hauschildt/Dän

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1990 188); 24.2.1993 Eey/Ö (ÖJZ 1993 394): 10.6. 1996 (Pullar/GB) ÖJZ 1996 874); 7. 8.1996 Ferrantelli, Santangelo/1 (ÖJZ 1997 151); FroweinIPeukerl 133; SK-StPO-Paeffgen 58 („objektive Unparteilichkeit"). EGMR 1.10.1982 Piersack/Belg (EuGRZ 1985 381); FroweinIPeukerl 132; Meyer-Ladewig 31. E G M R 26.10.1984 De Cubber/Belg (EuGRZ 1885 407); FroweinIPeukerl 132; vgl. auch E G M R 29.4. 1988 Belilos/CH (EuGRZ 1989 21; Beamter der Polizeidirektion). Vgl. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 418 (Sramek). E G M R 10.6.1996 Pullar/GB (ÖJZ 1996 674). Vgl. EGMR 24.8.1993 Nortier/NdL (ÖJZ 1994 213); 22.4.1994 Saraiva de Carvalho/Port (ÖJZ 1995 36); 12.12.2002 Kalageropoulos/Griech, D (NJW 2004 273 Mitwirkung am Schadensersatzprozeß und später am Vollstreckungsverfahren); ferner auch EGMR 24.5.1989 Hauschildt/Dän (ÖJZ 1990 188: nur wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die Mehrheit hat diese in einer über die summarische Prüfung des Tatverdachts hinausgehenden Vorentscheidung über die besondere Bestätigung des Tatverdachtes" gesehen); EKMR ÖJZ 1991 322 verneint die objektive Befangenheit bei auf die Verdachtsprüfung beschränkten Entscheidungen im Vorverfahren.

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schieden hat 300 . Desgleichen wurde keine Gefährdung des äußeren Anscheins der Unparteilichkeit darin gesehen, daß ein Richter eines Spezialspruchkörpers anderweitig noch eine andere Funktion (Verwaltungsbeamter, Politiker) ausübt 3 0 1 oder daß bei einem Berufsgericht ein Teil der Richter zum gleichen Berufsstand wie der Angeklagte gehören muß 3 0 2 oder daß die gleichen Richter zweimal mit der gleichen Sache befaßt wurden, etwa wenn das Rechtsmittelgericht die Sache an des gleiche Gericht zurückverweist, das bereits die aufgehobene Entscheidung erlassen hatte 303 . Ob es mit dem Anschein der äußeren Unabhängigkeit des Gerichts vereinbar war, wenn der Generalanwalt an den Beratungen des belgischen Cour de Cassation ohne Stimmrecht beratend teilnahm, war strittig 304 . Eine Heilung von Verstößen gegen die Unparteilichkeit ist nach Ansicht des E G M R 3 0 5 5 4 b dann möglich, wenn in der Rechtsmittelinstanz die Sach- und Rechtslage im vollen Umfang mit allen Garantien des Art. 6 M R K erneut geprüft worden ist, denn diesen Rechtsgarantien ist genügt, wenn sie der Betroffene in einer Instanz hatte 306 . Diese Auffassung setzt allerdings voraus, daß die Sache im vollen Umfang in der zweiten Instanz nochmals voll verhandelt und entschieden worden ist. Ist die neue Verhandlung auf Teilaspekte beschränkt, kann für die nicht neu verhandelten Teile die Befangenheit nicht geheilt werden.

IV. Die allgemeinen Verfahrensprinzipien (Art. 6 Abs. 1 MRK; Art. 14 Abs. 1 IPBPR) 1. Zweck. Mit der Gewährleistung bestimmter Verfahrensprinzipien soll ein gerech- 5 5 tes justizförmiges Gerichtsverfahren gewährleistet werden, das jeder Willkür vorbeugt und den Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, ihre Verfahrensinteressen wirksam zu vertreten. Die hierfür in Absatz 1 festgelegten Grundsätze sind, wie alle Verfahrensprinzipien, aus ihrer Zielsetzung heraus auszulegen, wobei es nicht so sehr auf die maximale Durchsetzung des isoliert gesehenen einzelnen Prinzips ankommt, sondern darauf, daß ein Verfahren, das nach nationalem Recht sehr unterschiedlich ausgestaltet sein kann 3 0 7 , insgesamt den sich aus der Zusammenschau der Prinzipien ergebenden Anforderungen

™ Vgl. E G M R 22.4.1994 Saraiva de Carvalho/Port (ÖJZ 1995 36); E K M R EuGRZ 1992 43; Froweinl Fenken 133; Meyer-Ladewig 31; ferner Grubenwarler § 24 Rdn. 32, der aber auf E G M R 24. 5.1989 Hauschildt/Dän (ÖJZ 1990 188) hinweist, wonach die Verdachtsprüfung keiner Schuldfeststellung nahe kommen darf; a.A SK-StPO-ftie/^CT 58; SKStPO-Rudolphi § 23, 1, die bei jeder Mitwirkung an der Haftprüfung Befangenheit annehmen.

305

31,1

E G M R 22.10.1984 Sramek/Ö (EuGRZ 1985 336); 23.4.1987 Ettl/Ö (ÖJZ 1988 22); 23.4.1997 Stallinger, Koso/Ö (ÖJZ 1997 755: fachkundige Beamte als Mitglieder der Agrarsenate); EKMR ÖJZ 1991 103; östr.VerfGH EuGRZ 1994 181. ™ E G M R 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 55; ärztliches Standesgericht); 22.9.1994 Debled/Belg (ÖJZ 1995 198); Froweinl Peukert 129. 31,3 EGMR 16.7.1971 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 230); 10.6.1996 Thomann/CH (ÖJZ 1996 874); Frmveinl Fenken 128; Grabenwaner § 24 Rdn. 33. 5114 Der E G M R 17.11.1970 Delcour/Belg (Series A 11) (313)

306

307

hielt dies für vereinbar, später verneinte er dies in Anlehnung an die Auffassung der EKMR; vgl. 30.10.1991 Borgers/Belg (EuGRZ 1991 519. „Unvereinbar mit Waffengleichheit"); vgl. ferner 25. 6. 1997 Van Orshoven /Belg (ÖJZ 1998 314); Froweinl Peukert 128; Villiger HdB 483. Etwa EGMR 10.2.1983 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 55); 26. 8.1997 De Haan/Ndl (Rep. 1997-1); 20.11.1995 British-American Tobacco Company/NdL (Series A 331); Meyer-Ludewig 34; nach SK-StPO-fae/Ziien 62 ist diese Ansicht hochgradig fragwürdig. EGMR 20.10.1984 De Cubber/Belg (EuGRZ 1985 407); 25.2.1997 Findlay/GB (Rep. 1997-1). Ob dieses Argument auch dort noch greift, wo die Konventionen dem wegen einer Straftat Verurteilten das Recht auf eine zweite Instanz einräumen (Art. 2 des 7. ZP M R K , Art. 14 Abs. 5 IPBPR), erscheint fraglich. Vgl. (Heß ZStW 115 (2003) 131, 143 ff.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

entspricht, insbesondere dem Gebot der Verfahrensfairness. Die Konventionen gehen davon aus, daß die Regelung des Verfahrens und die Festlegung von Struktur und Einzelheiten des Verfahrens Sache des nationalen Gesetzgebers ist, der auch Form und Voraussetzungen der Beweiserhebung in den jeweiligen Verfahrensarten sowie die bei der Beweiswürdigung von den Gerichten zu beachtenden Grundsätze festlegen kann 3 0 8 . Dieser muß dabei nur die von den Konventionen jeweils im Absatz 1 vorgegebenen allgemeinen Leitlinien für ein insgesamt gerechtes und unparteiisches Verfahren beachten. Lediglich für die Verfahren über strafrechtliche Anklagen im weiten Sinn der Konventionen werden in Art. 6 Abs. 3 M R K . Art. 14 Abs. 3 bis 7 IPBPR einige besondere Anforderungen herausgestellt, auch sie lassen aber dem nationalen Gesetzgeber Raum für sehr unterschiedliche Ausgestaltungen des Verfahens. In einer Gesamtbetrachtung 3 0 9 werden diese Regelungen aber dann doch wieder an ihren Auswirkungen auf das einzelne Verfahren und den dafür in den Konventionen vorgegebenen allgemeinen Grundsätzen, insbesondere dem Gebot der Verfahrensfairneß, gemessen. Die Einzelanforderungen der Konventionen können deshalb nicht im Sinne eines absoluten Vorrangs jedes dort aufgestellten einzelnen Gebotes verstanden werden; ihr Ziel ist, in ihrer Gesamtheit ein faires Verfahren zu sichern. Soweit sich aus ihnen einander widerstreitende Einzelforderungen ergeben können, sind diese, ähnlich wie im Verfassungsrecht, im Wege der praktischen Konkordanz so zum Ausgleich zu bringen, daß das Grundanliegen jedes Rechts weitmöglichst verwirklicht werden kann.

2. Gleichheit aller Menschen vor Gericht 56

a) Nur Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR stellt ausdrücklich den Grundsatz voraus, daß alle Menschen vor Gericht gleich sind („Equal before the courts and tribunals"; „egaux devant les tribunaux et les cours de justice") 310 . Dieser Grundsatz ist eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 26 IPBPR sowie der allgemeinen Anerkennung der Rechtsfähigkeit in Art. 16 IPBPR und der Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 1 IPBPR (= Art. 14 M R K ) , wonach die in diesem Pakt anerkannten Rechte allen Menschen ohne Diskriminierung zu gewährleisten sind 311 . Er umfaßt den gleichen Zugang zu Gericht 312 und die Gleichheit bei Anwendung der garantierten Verfahrensgrundsätze des Art. 14 IPBPR, darüber hinaus aber auch allgemein die Gleichheit aller bei der Anwendung der Gesetze durch die Gerichte 313 . Sonderrechte, die herkömmlich den Zugang zu Gericht einschränken, wie diplomatische Privilegien und parlamentarische Immunitäten314, sind mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar.

57

Wenn der verbindliche Text von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR - anders als die nur von Gerichten sprechende deutsche Übersetzung - Gerichte und Tribunale nebeneinander erwähnt, so wird man den Grund für diese in den folgenden Sätzen nur zum Teil beibehaltene Unterscheidung wohl darin sehen können, daß Tribunale auch die funktionell in gerichtsähnlicher Unabhängigkeit entscheidenden Spruchkörper außerhalb der institutionellen Gerichtsbarkeit einschließt, also etwa besondere Ausschüsse im Verwaltungsbereich, die im jeweiligen nationalen Recht nicht als Gerichte im institutionellen Sinn angesehen werden 315 .

308

Vgl. etwa E G M R 10.7.1998 Sidiropoulos/Griech (ÖJZ 1998 477); 18.6.2002 Wierbicki/Pol (ÖJZ 2003 656: keine Garantie, daß in einem Zivilprozeß benannte Zeugen oder andere Beweismittel zugelassen werden). 3l » Vgl. dazu Rdn. 65.

310 311 312 313 314 315

Zur Entstehung Nowak 5 ff. Vgl. Art. 14 MRK Rdn. 8; 11. Vgl. BVerfGE 52 143 (gleiche Anrufungschancen). Nowak 6. Nowak 6; vgl. Rdn. 46. Nowak 8; vgl. Rdn. 49.

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

b) Art. 6 MRK erwähnt das Gebot der Gleichbehandlung nicht besonders, es ergibt 5 8 sich hier jedoch schon daraus, daß der Zugang zum Gericht und die aufgeführten Verfahrensgrundsätze ohne Ansehen der Person (vgl. Art. 14 M R K ) jedermann garantiert werden 316 . Im übrigen ist die Gleichbehandlung vor Gericht ein grundlegendes Erfordernis des fairen Verfahrens, wie auch die Regelung des Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K verdeutlicht. c) Waffengleichheit. Die Verfahrensgerechtigkeit fordert, daß „Prozeßgegner", also 5 9 die Personen, die sich vor Gericht in einem Verfahren mit kontradiktorischer Komponente gegenüberstehen, gleiche oder zumindest in der Effektivität gleichwertige Befugnisse bei der Wahrnehmung ihrer gegenläufigen Interessen vor Gericht haben (sogen. Prinzip der „Waffengleichheit", treffender wohl „Chancengleichheit"). Diese meist aus dem Gleichheitssatz und aus dem Recht auf ein faires, kontradiktorisches Verfahren hergeleitete Forderung gilt für alle Teilnahme-, Informations- und Außerungsrechte, mit denen am Verfahren aktiv mitgewirkt, die eigene Sicht der Sache zur Sprache gebracht, die dafür vorhandenen Beweise angeboten 3 1 7 und den Auffassungen anderer entgegengetreten werden kann, so wie dies auch das Recht auf Gehör erfordert 318 . Die Befugnisse müssen allen offen stehen, ob sie dann auch tatsächlich genutzt wurden, ist unerheblich 319 . Als Strukturprinzip begründet das Gebot der Waffengleichheit selbst keine originären Verfahrensbefugnisse; es hat aber Bedeutung für die Auslegung des Umfangs bestehender Befugnisse und für die Frage, ob insgesamt ein faires Verfahren gewahrt wurde, für das das „fundamentale Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren" als wesentlich angesehen wird 320 ; der E G M R versteht darunter vor allem auch die Verfahrensbefugnisse, die in der Bundesrepublik aus dem Recht auf Gehör und dem Gebot der Waffengleichheit hergeleitet werden. Die Gleichheit ist gewahrt, wenn im Erkenntnisverfahren die vor Gericht in einer 6 0 Gegnerstellung auftretenden Personen (Parteien des Zivilprozesses, Verteidigung und Anklagevertretung im strafprozessualen Erkenntnisverfahren vor Gericht), ungeachtet aller Unterschiede ihrer Aufgaben und der daraus resultierenden verschiedenartigen Verfahrensstellung, rechtlich so gestellt sind, daß sie gleichwertige Möglichkeiten der Einwirkung auf die Entscheidungsfindung haben. Sie müssen zur Vertretung ihrer Verfahrensbelange im gleichen Ausmaß Zugang zum gesamten Verfahrensstoff haben 321 , damit sie ihn auswerten und ihre Auffassungen dazu und die von ihnen für wichtig erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte mit gleicher Effektivität dem Gericht zur Vorbereitung seiner Entscheidung zur Kenntnis bringen können 322 . Wo es 316 Vgl. BVerfGE 40 98 (aus Begriff der prozessualen Grundrechte selbst folgt, daß sie für jedermann gelten). 517

3IS

319

520

Etwa E G M R 27.10.1993 Dombo Beheer/Ndl (ÖJZ 1994 464); Grabenwarler § 24 Rdn. 39. Zu den Fällen, in denen der Angeklagte zur Äußerung der Staatsanwaltschaft gegenüber einem Rechtsmittelgericht nicht mehr gehört wurde vgl. Fache NVwZ 2001 1342; 1345; FirnveinlPeukerl 86 ff; IntY^ommEMRK-MiehslerlVogler 355; Meyer-Ladeii/;' 38, 44; ferner etwa E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 430; sowie nachf. Fußn. Vgl. EGMR 30.10.1991 Borgers/Belg (EuGRZ 1991 519). So etwa E G M R 28.8.1991 Brandstetter/Ö (EuGRZ 1992 190); 30.10.1991 Borgers/Belg (EuGRZ 1991 519); 20.2.1996 Vermeulen/Belg.

(315)

121

222

(ÖJZ 1996 673); 25.6.1997 Van Orshoven/Belg (ÖJZ 1998 314); 12.3.2003 Öcalan/Türk (EuGRZ 2003 472); Grabenwarler § 24 Rdn. 39 (zentraler Bestandteil des fairen Verfahrens) Zum sogen. Offenlegungsanspruch als ein aus dem rechtlichen Gehör und der Waffengleicheit hergeleiteten Gebot eines fairen Verfahrens vgl. etwa Gaede StraFo. 2004 195; sowie die Rdn. 62, 64b, 69b mit weit. Nachw. Vgl. vorst. Fußn. und Rdn. 59. Zur Ableitung aus dem Grundsatz audiatur et altera pars IntKommEMRK-Μ iehslerl Vogler 343; vgl. ferner für den Zivilprozeß BVerfGE 52 143; für den Strafprozeß LR-Rieß Einl. Η 115 ff; LR-Gullwitzer Vor § 226 StPO, 29; Rieß FS Schäfer 174; Vogler ZStW 82 (1970) 743; 89 (1977) 778 je mit weit. Nachw.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

um die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Wahrheitserforschung und die Überzeugungsbildung des Gerichts geht, darf keiner der sich gegenüberstehenden „Gegner" im Verhältnis zu den anderen im Endergebnis befugnismäßig begünstigt oder benachteiligt sein. Jede „Partei" des Verfahrens muß Gelegenheit haben, ihre Sache dem Gericht unter Bedingungen zu präsentieren, die mit derjenigen ihres Gegners gleichgewichtig sind, dazu gehört auch daß sie im gleichen Umfang wie ihr Gegner unterrichtet wird und die Möglichkeit hat, auf Ausführungen ihres Gegners zu erwidern 323 . Dies schließt Beschränkungen der Beweiserhebung nicht aus, wenn diese durch andere Bestimmungen der Konventionen, vor allem Art 8 M R K , zum Schutze von Zeugen und Opfern geboten sind. Daraus entstehende Nachteile der Verteidigung müssen dann aber im Verfahren ausreichend anderweitig ausgeglichen werden 324 . Nicht notwendig sind identische Rechte im gesamten Verfahren, wohl aber, daß im Verlauf des als Gesamtheit zu würdigenden Verfahrens ein Gleichgewicht in den Möglichkeiten zur Vertretung der Verfahrensinteressen vor Gericht bestand 325 . Retrospektiv kann es zur Beseitigung eines Konventionsverstoßes ausreichen, wenn dies erst in der Rechtsmittelinstanz geschehen ist 326 . 61

Sachlich begründete Differenzierungen sind mit diesem Prinzip vereinbar, wenn sie durch die wesensmäßigen Verschiedenheiten der Aufgaben und der Verfahrensstellung bedingt sind, wie dies etwa bei Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagten der Fall ist 327 . Maßgebend ist immer die Verfahrenskonstruktion des jeweiligen Verfahrens. Bei den Verfahren, die nicht in der Form eines Parteiprozesses geführt werden, sondern die als Offizialverfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegen, wie bei dem kontinentaleuropäischen Strafprozeß, bei dem von den Ermittlungsbehörden objektiv alle Umstände erforscht werden müssen, kann nicht in allen Verfahrensabschnitten eine Befugnisgleichheit bestehen 328 . Im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wäre dies mit der Aufgabe der Staatsanwaltschaft unvereinbar 329 . Erst wenn die Verfahrensherrschaft auf das Gericht übergegangen ist und die Staatsanwaltschaft das Verfahren nicht mehr selbst alleinverantwortlich betreibt, sondern in der Hauptverhandlung mit Angeklagtem und Verteidiger in der Einwirkung auf die Entscheidungsfindung des Gerichts konkurriert, ist die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Befugnisse zu fordern. Vorher genügt es, wenn wesentliche Verteidigungsbefugnisse die Voraussetzungen für ein faires Verfahren sichern, zumal, wenn das Übergewicht der Staatsanwaltschaft dadurch gemildert wird, daß sie auch die zugunsten des Beschuldigten sprechenden Umstände aufklären muß 330 .

323

324

325

Etwa E G M R 30.10.1991 Borgers/Belg (ÖJZ 1992 339); 27.10.1993 Dombo Beheer B. V:/NdL (ÖJZ 1994 464); 22.2.1996 Bulut/Ö (ÖJZ 1996 430); 23.9.1996 Ankerl/CH (ÖJZ 1996 475); 25.6.1997 Orshoven/Belg (ÖJZ 1998 314); 24.11.1997 Werner/Ö (ÖJZ 1998 233); 7.6.2001 Kress/F (ECHR 2001-VI) mit weit. Nachw; Meyer-Ladewig 44; vgl. auch Rdn. 59. EGMR 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); 23.4.1997 Van Mechelen/NdL (StV 1997 617 mit Anm. Wattenbergl Violet', dazu auch Renzikowski JZ 1999 605); 22.1.2002 Oyston/GB (ÖJZ 2003 236), ferner einen angemessenen Ausgleich verneinend E G M R 20.12.2001 P. S./D (ÖJZ 2003 235); vgl. auch Rdn. 62. EGMR Berger Nr. 8 (Delcourt); Frowein!Peukert 60; Müller NJW 1976 1063; Kohlmann FS Peters I 315 ff; Meyer-Goßner47 Einl. 88; Rogall Der Be-

schuldigte als Beweismittel gegen sich selbst 112; SK-StPO-Äoga//Vor§ 133, 106; Teilinger 20; ferner vorst. Fußn. und allgemein Bötticher Gleichbehandlung und Waffengleichheit: vgl. Rdn. 62, 63. 326 Vgl. etwa EGMR 16.12.1992 Edwards/GB (ÖJZ 1993 391); 22.1.2002 Oyston/GB (ÖJZ 2003 236); anders, wenn der Mangel dort nicht mehr geheilt werden kann, wie bei E G M R 2. 5.2000 Condron/ GB (ÖJZ 2001 610). 327 BVerfGE 63 45, 67; 392; LR-Rieß Einl. Η 117 mit Nachw.; ferner etwa Dörr 74ff";Kohlmann FS Peters 314; Nowak 6. 328 Schweiz.BGer. EuGRZ 1979 296. 3 ® Vgl. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 421 (offen, ob Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren gilt); BVerfG NStZ 1984 228; Meyer-Goßner47 Einl. 88. 3311 EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 435.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Welche Einzelbefugnisse die Verfahrensbeteiligten in den jeweiligen Verfahren haben 6 2 müssen, läßt sich aus dem Recht auf Gleichbehandlung ebensowenig herleiten wie aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot eines fairen Verfahrens 331 , wohl aber, daß bei allen Befugnissen, die die jeweilige Verfahrensordnung zur Vertretung der Verfahrensinteressen vor dem erkennenden Gericht eröffnet, die Vertreter gegenläufiger Interessen die gleichen Chancen für deren wirksame Geltendmachung haben müssen. Für das Recht, Zeugen laden zu lassen und sie zu befragen, wird dies durch Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR ausdrücklich vorgeschrieben 332 . Das Gebot der Gleichbehandlung gilt darüber hinaus grundsätzlich für alle Befugnisse, so auch für das Informationsrecht. Die Herstellung der „Parität des Wissens" erfordert gleichwertige Möglichkeiten des Zugangs zum gesamten, dem Gericht vorliegenden verfahrensbezogenen Material, zur Einsicht in die Akten 333 sowie das Recht, von den Äußerungen anderer Verfahrensbeteiligter und dem von diesen beigebrachten Beweismaterial rechtzeitig Kenntnis zu erhalten 334. Das Gebot der Gleichbehandlung gilt ferner für alle Außerungsrechte, mit denen die eigene Sicht der Sache zur Sprache gebracht und den Auffassungen anderer entgegengetreten werden kann 3 3 5 , ferner für alle Befugnisse zur aktiven Einwirkung durch Fragen, Erklärungen und Anträge bei allen für die Meinungsbildung und Urteilsfindung des Gerichts maßgebenden Verfahrensvorgänge. Auch im übrigen dürfen die Möglichkeiten der Verfahrensteilhabe nicht ungleich verteilt sein, nicht zugunsten einer Seite willkürlich verschoben werden. Dies kann bei einer Vermengung oder Verschiebung der Prozeßrollen der Fall sein 336 , so durch Bestellung des Anzeigenerstatters zum gerichtlichen Sachverständigen bei gleichzeitiger Verweisung des Gegengutachters in die Rolle eines sachverständigen Zeugen 337 . D a ß ein Beamter als Sachverständiger bestellt ist, reicht aber für sich allein nicht aus, um Zweifel an dessen Unparteilichkeit zu begründen 3 3 8 . In der Regel ist die Verletzung der formellen Chancengleichheit meist nur ein Teilaspekt der eine umfassendere Gesamtwürdigung erfordernden Beurteilung, ob gegen die Erfordernisse eines fairen Verfahrens verstoßen wurde. Ob eine wesentliche Ungleichbehandlung vorliegt, hängt davon ab, welche Auswirkung 6 3 der Unterschied auf die Möglichkeiten einer wirksamen Vertretung der Verfahrensinteressen vor Gericht und auf dessen Entscheidungsfindung hatte. Dies ist nur anzunehmen, wenn bei Würdigung des gesamten Verfahrensverlaufes tatsächlich eine ins Gewicht fallende Benachteiligung in den potentiellen Möglichkeiten der Verfahrensteilhabe eingetreten ist.

551 552 333

334

Vgl. BVerfGE 52 143 ff. Dazu Rdn. 210 ff. Zur Bedeutung der Akteneinsicht für die Verteidigung im Strafverfahren vgl. Rdn. 69, 181 ff. Ob dazu auch die echten Handakten der Staatsanwaltschaft gehören, erscheint selbst bei Vorliegen besonderer Umstände zweifelhaft, so aber E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 437; vgl. auch BGH NJW 1990 584; ferner LR-Lüderssen § 147 StPO, 4; LRRießl 199 StPO, 21 mit weit. Nachw. Etwa EGMR 28.8.1991 Brandstetter/Ö (EuGRZ 1992 190); 22.2.1996 Bullut/Ö (ÖJZ 1996 430); 26.7.2000 Meftah/F (ÖJZ 2003 732 Keine Mitteilung der Stellungnahme des GenAnw beim franz Kassationsgerichtshof); 7.6.2001 Kress/E (ECHR 2001 -VI); EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 430; Meyer-Ladewig 44, 45; zur allerdings einschränkbaren Pflicht der Anklagebehörden, der Verteidigung

(317)

3,5

336 337

338

das gesamte in ihrem Besitz befindliche Material offenzulegen vgl. E G M R 16.12.1992 Edwards/GB (ÖJZ 1993 391); 25.9.2001 P.G.; J.H. (ÖJZ 2002 911); ferner Rdn. 72. Zu den Fällen, in denen nur die Staatsanwaltschaft, nicht aber der Angeklagte sich vor dem Rechtsmittelgericht äußern durften, vgl. FroweinlPeukeri 86 ff; IntKommEMRK-Mfefe/CT'/ffegfef- 355; MeyerLudewig 44; ferner etwa E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 430. SK-StPO-«oi;rt//Vor§ 133, 105. EGMR 6.5.1985 Bönisch/Ö (EuGRZ 1986 127); dazu FroweinIPeukert 84; vgl. ferner E G M R 28. 8. 1991 Brandstetter/Ö (EuGRZ 1992 190). E G M R 23.4.1987 Ettl u.a./Ö (ÖJZ 1988 22); 28.8.1991 Brandstetter/Ö (EuGRZ 1992 190); Alge/Ö (ÖJZ 2003 816).

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M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

3. Faires Verfahren 64

a) Das Recht auf ein faires Verfahren („fair hearing" „entendue equitablement") ist das Kernstück der Verfahrensgarantien von Art. 6 MRK und Art. 14 IPBPR. In einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen obliegt die Rechtsprechung unabhängigen Gerichten, die diese Aufgabe unparteiisch und in einer die Verfahrensrechte der Beteiligten wahrenden Form ausüben müssen. Der betroffene Bürger darf nicht zum bloßen Objekt der Entscheidungsfindung herabgewürdigt werden; es entspricht seiner Menschenwürde, daß er ausreichend informiert auf Gang und Ergebnis eines ihn betreffenden Verfahrens mit eigenen Rechten einwirken kann 3 3 9 . Um dies zu sichern, wird durch die Garantie eines fairen Verfahrens ein allgemeines Prinzip für eine die Interessen der Parteien wahrende Verfahrensgestaltung festgelegt 340 . Die Leitgedanken und Wertvorgaben, die in dieser die gesamte Verfahrensgestaltung umfassenden Bezeichnung zusammengefaßt sind, gelten allgemein, auch wenn sie entsprechend dem Einzelfall und den Vorgaben der unterschiedlichen nationalen Verfahrensrechte inhaltlich variierende Konkretisierungen erfahren können. Einheitlich ist aber immer, daß dieses Prinzip als Wertungsmaßstab dafür dient, ob die effektive Rechtswahrung im Prozeß allen Prozeßparteien gleichermaßen gesichert ist 341 . Das gerichtliche Verfahren muß zumindest insoweit kontradiktorisch sein 342 . Deshalb kommt der Sicherung des Rechts auf eine effektive Teilhabe am Verfahren 343 und allgemein der Beachtung der Verfahrensgerechtigkeit bei der Durchführung des Verfahrens aus der Sicht der Konventionsverbürgungen ein überragender Wert zu. Die Verfahrensgestaltung muß insgesamt und auch hinsichtlich der einzelnen Verfahrensvorgänge „fair" sein. Der englische Wortlaut „fair hearing" drückt, ebenso wie die frühere deutsche Übersetzung „in billiger Weise" die Tragweite dieses Rechtsbegriffs 344 nur unvollständig aus 345 , das Gebot eines fairen Verfahrens gilt nicht nur für die Verhandlung vor Gericht sondern nach heutiger Auffassung für die das ganze Verfahren346. Ob jemand das ihm von der M R K garantierte faire Verfahren hatte, beurteilt der E G M R unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls in der Regel auf Grund einer Gesamtwürdigung des Verfahrens347, die auch die Beweisgewinnung und das Ermittlungsverfahren umfaßt 3 4 8 . Die Konventionen gehen dabei grundsätzlich vom Bestand unterschiedlicher nationaler Verfahrensrechte aus. Sie überlassen es dem nationalen Recht, welche Beweismittel es zulassen, wie es Beweiskraft und Beweislast regeln und welche Folgerungen es an die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise knüpfen will 349 . Der E G M R sieht seine Aufgabe nicht darin, die Aufnahme und Würdigung der 339

BVerfGE 6 3 332 ( A L I S l i e f e r L i l l y s v e r f ü h r e n auf G r u n d eines Abwesenheitsurteil, vgl. R d n . 190). Z u m Ersatz der als schützende F o r m e n wirkenden, streng positiven Einzelgrundsätze der ehem. S t P O durch das allgemeine Wertungsprinzip des fairen Verfahrens als Regulativ der zulässigen Verfahrensgestaltung vgl. Hamm StV 2001 81.

„fair p r o c e d u r e " , d a z u Dörr 5 ff; 37; 51 ff; z u r K r i tik a n diesem diffusen Rechtsbegriff vgl. S K - S t P O Paeffgen 70, 71. 345 E r w u r d e deshalb in der neuen Ü b e r s e t z u n g durch „faires V e r f a h r e n " ersetzt. Mt, Vgl. Grabemvarter § 24, 38 IT (Oberbegriff, der eine Reihe v o n Teilgarantien u m f a ß t ) .

341

Die Gleichbehandlung der Prozeßparteien, die Waffengleichheit bei d e n Verfahrensbefugnissen ist ein wesentlicher Bestandteil des F a i r n e ß p r i n z i p s vgl. Grabemvarter § 24 R d n . 39, 40; oben R d n . 60.

347

342

E G M R in ständ. Rechtspr. vgl. R d n . 59. Z u m Recht auf Anwesenheit vgl. R d n . 188 ff. E r g e h ö r t z u r Vorstellung v o m . . c i n e process of law", vgl. Nowak 9; SÜL-StPO-Rogall Vor § 133, 102; D e r Begriff ist aber weder m i t diesen im 5. u n d 14. A m e n d m e n t der U S - V e r f a s s u n g nicht n ä h e r ausgef o r m t e n G r u n d s a t z völlig identisch n o c h mit dem c o m m o n - l a w - G r u n d s a t z der „ n a t u r a l justice" oder

140

343 344

Stand:

3

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34

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Etwa Nack F S R i e ß 361, 371, Nack N J W S o n d e r h e f t f ü r G e r h a r d Schäfer 2 0 0 3 46, 50; Fache N V w Z 2 0 0 1 1342. E G M R G a r c i a Ruiz/Span ( N J W 1999 2439); 2 5 . 9 . 2001 Unterguggenberger/Ö ( Ö J Z 2002 272); B G H S t 46 93, 95 m i t weit. Nachw.; vgl. a u c h nachf. F u ß n . E G M R 21.1.1999 G a r c i a Ruiz/Span ( N J W 1999 2439); 1 2 . 5 . 2 0 0 0 K h a n / G B ( Ö J Z 2001 654); 2 5 . 9 . 2001 P.G. u n d H . J./GB ( Ö J Z 2002 911)

Alge/Ö ( Ö J Z R d n . 65.

1.10.2004

2003

10.4.2003

816); vgl. auch nachf. F u ß n . und

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Beweise durch die nationalen Gerichte oder die Anwendung des nationalen Rechts generell auf Fehlerfreiheit zu kontrollieren. Er prüft nur unter dem Blickwinkel einer etwaigen Konventionsverletzung nach, ob das Verfahren einschließlich Beweisgewinnung und Beweiswürdigung den Anforderungen der Konventionen hinsichtlich Waffengleichheit und kontradiktorischer Verhandlung entsprach und die legitimen Verfahrensinteressen der Beteiligten auch sonst wahrte 350 , es also insgesamt bei einer Gesamtbetrachtung fair war. Als Grundlage einer übergreifenden Gesamtwürdigung ist das Recht auf ein faires Verfahren in der Rechtsprechung des E G M R zu einem umfassenden Rechtsprinzip geworden, das die Auslegung aller in den Konventionen garantierten Verfahrensrechte bestimmt 351 und das darüber hinaus auch sonst einen verbindlichen Wertungsmaßstab für die gesamte Verfahrensgestaltung setzt 352. In der Europäischen Union gehört das Recht auf ein faires Verfahren zu den für die 6 4 a Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts verbindlichen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Beachtung jetzt Art. 6 Abs. 2 EUV auch ausdrücklich festlegt 353 . Art. 47 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta, die als Teil der Europäischen Verfassung Verbindlichkeit erlangen soll, gewährleistet für ihren Anwendungsbereich (vgl. Art. 51 Abs. 1 der Charta) neben Verfahrensgarantien ähnlich denen des Art. 6 Abs. 1 M R K jedermann auch das Recht auf ein faires Verfahren 354. Die Konventionsgarantien sind enger. Anders als Art. 6 Abs. 2 EUV, Art. 47 der Grundrechte-Charta und die innerstaatlichen Verfassungsverbürgungen gewähren sie das faire Verfahren in Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR nur bei den dort ausdrücklich genannten Verfahrensarten und auch nur den dort genannten Personen355, nicht aber sonstigen Verfahrensteilnehmern, ζ. B. also nicht Zeugen 356 . Innerstaatlich hat das Gebot eines fairen Verfahrens in der Bundesrepublik als Teil 6 4 b des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, dem Recht auf Gleichbehandlung und dem Recht auf Gehör nach Art. 103 Abs. 1 G G 357 Verfassungsrang358. Als allgemeine Umschreibung für die Garantie eines rechtsstaatlichen, justizförmigen und am Leitgedanken der Billigkeit und Gerechtigkeit orientierten Verfahrens 359 hat es umfassende Bedeutung und gilt für alle Verfahren. Als übergeordnetes Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit360 bestimmt es das Verhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht ebenso wie das Verhältnis zwischen 35(1

Etwa EGMR 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); 9.6.1998 Teixeira de Castro/Port (StV 1999 127 mit Anm. Sommer, KempJ); 27.4.2000 (NJW 2001 2319 L); 25.9.2001 P.G. und J.H./GB (ÖJZ 2001 911); 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257). 351 1-ssei-m. 352 Zur Konkretisierung strafprozessualer Fairneß Batike FS Meyer-Goßner 73; zum Fairneßgebot für den Staatsanwalt H. Ch. Schäfer FS Rieß 491. ™ Vgl. EuGH EuGRZ 1988 390; 2000 160; ferner etwa Schiene EuGRZ 1999 373; Fache EuGRZ 2000 601, vgl. Einf. Rdn. 44, 46. 354 Dazu etwa Kühne StV 2001 73; Pache NVwZ 2001 1342; Schwarze NVwZ 2000 244; SK-StPO-Pae//gen 73. 5,5 Vgl. Rdn. 12 ff ' Innerstaatlich gilt dagegen das aus Rechtsstaatsprinzip und Grundrechtsschutz abgeleitete Fairneßgebot auch gegenüber den Zeugen, vgl. zu dem innerstaatlich aus dem Fairneßgebot abgeleiteten Recht auf einen Zeugenbeistand BVerfGE 38 105; (319)

OLG Stuttgart StV 1992 262, ferner LG Verden StV 1992 268 sowie bei § 68b StPO (im Nachtrag). 357 BVerfG NJW 2001 3695, 3697 sieht im Recht auf Gehör eine Konkretisierung einer Anforderung des fairen Verfahrens; auch SÜL-StPO-Rogall Vor § 133, 104 weist auf die hier bestehenden Verbindungslinien hin. 358 BVerfGE 26 66, 71; 38 105, 111; 40 95, 99; 65 171, 174; 66 313, 318; 77 65, 76; 86 288, 317, BVerfG StV 2002 578; Zu den Ableitungen und Überschneidungen mit den Verfahrensgarantien des GG vgl. Sachs!Degenhart GG 3 Art. 103 Abs. 1, Rdn. 3 ff, 44 ff. Auch die frühere Kritik am fair trial-Grundsatz verkennt dies nicht, sie hielt ihn aber innerstaatlich für überflüssig, weil er nur etwas besagt, was ohnehin bei der Grundrechtsauslegung zu berücksichtigen ist (vgl. Heubel insbes. 140 ff). BGHSt. 24 131. So schon lib. Schmidt. 3«) Vgl. Einl. Η 99 ff mit Nachw.; ferner etwa Neumann ZStW 101 (1989) 52.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

den an Verfahren mit gegenläufigen Interessen teilnehmenden Personen. Diese müssen in allen Verfahren ausgewogene Befugnisse (vgl. Rdn. 59: Waffengleichheit) zur Wahrung ihrer Verfahrensinteressen haben. Dazu gehört insbesondere, daß jede „Verfahrenspartei" in Ausübung ihres Rechts auf Gehör zu allen auftauchenden Gesichtspunkten Stellung nehmen und effektiv auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluß nehmen und sich insbesondere auch mit dem verwendeten Beweismaterial auseinandersetzen kann 3 6 1 . Dies setzt die volle Information über das ganze als entscheidungserheblich in Betracht zu ziehende Beweismaterial voraus, zu der auch die Ermöglichung der Akteneinsicht beitragen kann 3 6 l a . Erforderlich ist dafür ferner ausreichende Zeit, um sich bei schwierigen Fragen über Bedeutung und Beweiswert bestimmter Beweismittel informieren zu können; diese kann durch Unterbrechung der Verhandlung gewährt werden oder aber auch schon durch eine vorherige Unterrichtung über die beabsichtigte Verwendung derartiger Beweismittel 362 . In Verfahren, die gegen einen Beschuldigten zum Zwecke seiner Bestrafung (im weitesten Sinne) geführt werden, ist seine ausreichende Information maßgebend für die Beurteilung der Fairneß des gesamten Verfahrens. Danach beurteilt sich, ob er insgesamt ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten gegen die erhobene Anschuldigung hatte. Auch die effektive Ausübung des Rechts auf Gehör setzt voraus, daß der Betroffene sich über alle entscheidungserheblichen Tatsachen ausreichend informieren und dazu Stellung nehmen kann 363. Dazu gehört grundsätzlich, daß die Staatsanwaltschaft ihr ganzes, für oder gegen den Angeklagten sprechende Beweismaterial vor Gericht offen legt 364 , sofern nicht ausnahmsweise höherrangige Interessen seiner Verwendung im gerichtlichen Verfahren entgegenstehen, wie der Schutz der nationalen Sicherheit oder von Zeugen 365 . 65

b) Prozeßmaxime, Verhältnis zum einfachen Verfahrensrecht. Als innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht hat das auch aus dem Grundgesetz mit Verfassungsrang abzuleitende Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung die Bedeutung einer Prozeßmaxime 366 . Als allgemeines, übergeordnetes Wertungsprinzip für das Verfahren in seiner Gesamtheit 367 unterscheidet es sich aber grundsätzlich von Prozeßmaximen, die für die Verfahrensgestaltung einen bestimmten Sachgrundsatz vorgeben, wie etwa die Grundsätze der Unmittelbarkeit oder Mündlichkeit. Es verlangt die Bewertung des Verfahrens als Ganzes. Abgesehen von einigen Mindestvorgaben für das Strafverfahren in Art. 6 Abs. 3 M R K , Art. 14 Abs. 3 IPBPR schreibt es keine bestimmten Einzelverfahrensbefugnisse oder keinen bestimmten Verfahrenstyp vor 368 . Seine für Gesetzgebung und Rechtsan361

3fila

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363

364

Etwa E G M R 28.9.1991 Brandstetter/Ö (EuGRZ 1992 190); 25.9.2001 P.G. und J.H./GB (ÖJZ 2002 911). vgl. auch BVerfGE 63 332, 337; 64 135, 143 = JZ 1983 569 mit Anm. Rüping; BVerfGE 65 171, 174; BVerfG StV 2002 578; ferner zum Recht auf Gehör als Element des fairen Verfahrens vgl. SKStPO-Paeffgen 72. Zum funktionalen Zusammenhang zwischen Recht auf Gehör, Recht auf Information und Rechtsschutzgarantie vgl. etwa BVerfGE 81 123, 129; BVerfG NJW 2004 2443; ferner Rdn. 69b. Meyer-Ladewig 38 unter Hinweis auf EGMR 3.3.2000 Kromar/Tschech. Vgl. E G M R bei Rdn. 62; ferner etwa BVerfGE 81 123, 129; 89 28, 35. EGMR 16.12.1992 Edwards/GB (ÖJZ 1993 391); 25.9.2001 P.G. und J.H./GB (ÖJZ 2002 911). Vgl. auch BVerfG NJW 1994 3217 (Haftprüfungsverfahren) und die Nachw. Fußn. 412a.

365

E G M R 25.9.2001 Ρ G und J H/GB (ÖJZ 2002 911), das dort geschilderte Verfahren, in dem der Verhandlungsrichter „in camera" von dem geheimgehaltenen Material unterrichtet wurde, der dann auch über die Notwendigkeit der Offenlegung entscheiden konnte, paßt nur für den englischen Schwurgerichtsprozeß, in dem allein die Geschworenen auf Grund der ihnen in der Hauptverhandlung unterbreiteten Beweismittel über den Schuldspruch entscheiden.

366

Vorherrschende Meinung, vgl. LR-Rieß Einl. Η 100 ff; Meyer-Goßner47 Einl. 19 („Leitlinie"); SKStPO-Rogall 103 ff; a.A Heubel 30 ff; IntKommEMRK-MiehslerIVogler 343 läßt dies offen. Niemöller StraFo. 2000 361, 363. Vgl. SK-StVO-Rogall Vor § 133, 101: Einerseits allgemeines prozessuales Recht mit Auffangcharakter, andererseits Garantie rechtsstaatlichen Mindeststandards. Zur Tendenz des EGMR, durch diese

367 368

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R e c h t a u f ein f a i r e s V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

wendung gleichermaßen verbindlichen Wertvorstellungen können, wie die unterschiedlichen Formen der Strafverfahren in Europa zeigen 369 , durch verschiedene Verfahrenstypen und die verschiedenartigsten Formen der Verfahrensgestaltung erfüllt werden. Die Konventionen überlassen es dem nationalen Gesetzgeber, wie er das Verfahren gestalten, welche Beweismittel er zulassen und wie er die Beweiserhebung und Beweiswürdigung regeln und die kollidierenden Verfahrensinteressen ausgleichen will. Der E G M R prüft lediglich nach, ob das Verfahren einschließlich der Beweiserhebung insgesamt fair war36911; dazu gehört aber auch, daß das nationale Gericht seiner Pflicht zur Prüfung der Argumente und Beweisanträge der Parteien sorgfältig nachgekommen ist 369b und daß im Verfahren auch sonst alle erforderlichen Teilhabe- und Abwehrrechte ausgeübt werden konnten. Bei einem Verfahren nach einer strafrechtlichen Anklage sieht er auch die Einzelrechte des Art. 6 Abs. 3 M R K nur als Einzelaspekte des fairen Verfahrens an. Er entscheidet insoweit in einer Gesamtschau aller Vorgänge 370 ; ob das Verfahren ungeachtet einzelner Fehler insgesamt fair war. Dies schließt die Möglichkeit der innerstaatlichen Kompensation einzelner Verfahrensdefizite mit ein 371. c) Anwendungsbereich. Für Gesetzgebung und Rechtsanwendung ist das Fairneßgebot 6 6 der Konventionen, das dem aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit hergeleiteten gleichnamigen Verfahrensgrundrecht des Grundgesetzes 372 entspricht, als grundlegender Bewertungsmaßstab für das Verfahren verbindlich. Verfassungsgerichte 373 und Revisionsgerichte 374 prüfen bei entsprechender Rüge nach, ob das Verfahren im Einzelfall fair war. Aber weder der verfassungsrechtlich vorgegebene Grundsatz noch die völkerrechtliche Verpflichtung ändern etwas daran, daß grundsätzlich die Einzelregelungen des jeweiligen nationalen Verfahrensrechts für die Einzelausgestaltung des Verfahrens und die Tragweite einzelner Verfahrensbefugnisse maßgebend bleiben und primär anzuwenden sind. Es ist Aufgabe der nationalen Gerichte, in konventionskonformer Auslegung des nationalen Rechts jedes Verfahren so zu gestalten, daß es den als solche nicht zur Disposition stehenden Erfordernissen eines fairen Verfahrens entspricht. Ein unmittelbarer Rückgriff 375 auf Verfassungsrecht und Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 6 7 Abs. 1 IPBPR kommt bei der innerstaatlichen Rechtsanwendung erst in Betracht, wenn

Gesamtbetrachtung den sehr unterschiedlichen ßeweisregeln der nationalen Vorschriften Rechnung zu tragen, vgl. etwa (Heß Z S t W 115 (2003) 131, 148 ff; Nack N J W Sonderheft f ü r G. Schafer 2 0 0 2 46, 50; ferner oben Rdn. 64 mit weit. Nachw. sowie die kritische W ü r d i g u n g in SK-StPO-Paeffgen 72 (Topos wolkig, deshalb C h a r m als vielfältig einsetzbarer Begriff, realer Sinn lediglich als Direktive). 3

® «

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371

Vgl. (ließ Z S t W 115 (2003) 131 f. E t w a E G M R 22.4.1992 Vidal/Belg ( E u G R Z 1992 440); 13.7.2000 Elsholz/D ( N J W 2001 2315); 6.5.2003 Perna/T ( N J W 2 0 0 4 2653); 12.6.2003 Kück/D ( N J W 2 0 0 4 2505). Vgl. R d n . 210, 216, 218. E t w a E G M R 19.4.1994 van der H u r k / N d L (ÖJZ 1994 819); ferner Vorst. F u ß n . E t w a E G M R 7.7.1989 Bricmont/Belg (Series A 158); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1999 193); 26.4. 1991 Asch/Ö ( E u G R Z 1992 474); 22.4.1992 Vidal/ Belg ( E u G R Z 1992 441). Vgl. dazu etwa Kühne! Nash JZ 2 0 0 0 997; Kühne StV 2 0 0 1 77. Vgl. Nack F S Rieß 361, 371 ff; Schnieder

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GA

2003

293 versteht diese Gesamtschau als eine Art Beruhensprüfung, auf G r u n d der der Gerichtshof beurteilt, ob ein festgestellter Einzelfehler das ganze Verfahren fehlerhaft gemacht hat. 372

Vgl. BVerfGE 38 105; 57 275; 78 123; 203 und die weit. Nachw. R d n . 7. Ferner etwa Niemöller StraFo. 2000 361, 363 (relativ große Abstraktionshöhe; durch einfache Gesetzgebung konkretisierungsbedürftig).

373

Etwa BVerfG N J W 2001 2245. Etwa B G H S t 46 93; 160; 47 44; Nack F S Rieß 361, 373; zum Unterschied zur revisionsgerichtlichen Überprüfung, die als Ansatzpunkt einen Verfahrensfehler voraussetzt, Nack N J W Sonderheft für G. Schäfer 2 0 0 2 46, 50.

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37?

Die Tendenz, bei Anwendung des nationalen Rechts nicht primär dessen Einzelregelungen zu prüfen und verfassungs- und konventionskonform auszulegen, sondern statt dessen gleich auf den fair-trialGrundsatz zurückzugreifen, wie etwa auch in B G H S t 32 44, ist zu Recht kritisiert worden, vgl.

Walter Gollwitzer

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

dies zur Ausfüllung einer Lücke oder auch zu einer darüber hinausreichenden einzelfallbezogenen Korrektur der Verfahrensgestaltung unvermeidlich ist, so um Prozeßrechte voll zur Geltung zu bringen oder Beeinträchtigungen abzuwehren 376 . Eine Verfahrensvoraussetzung nach innerstaatlichem Recht ist das Gebot eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens ebensowenig wie die Einhaltung anderer von der Verfassung verbürgter Verfahrensgarantien, wie etwa das Recht auf Gehör oder auf den gesetzlichen Richter 377 . Bei den sich überlagernden Regelungen führen die unterschiedlichen Anwendungsebenen zu unterschiedlichen Sichtweisen 378 : Aus der Sicht des Völkervertragsrechts und damit auch der Konventionsorgane ist in der Rückschau das als Einheit zu sehende nationale Recht einschließlich des nationalen Verfassungsrechts und seine Anwendung im konkreten Einzelfall an Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR zu messen. Verfassungsrechtlich wird das einfache Gesetzesrecht und seine Anwendung einschließlich der innerstaatlich als einfaches Gesetzesrecht geltenden Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR nach den aus Rechtsstaatsprinzip und Grundrechtsverbürgungen abgeleiteten Verfassungsgrundsätzen beurteilt, aus denen auch das Recht auf ein faires Verfahren folgt. Der in der einzelnen Rechtssache entscheidende Richter wird aber durch diese anderen Ansatzpunkte nicht davon dispensiert, primär die einschlägigen einfachgesetzlichen Verfahrensregeln anzuwenden. Er muß sie rechtsstaatskonform so auslegen, daß sie den Anforderungen eines fairen Verfahrens genügen, so wie es die Verfassung und die sich damit weitgehend deckenden Verpflichtungen aus den Konventionen verlangen 379 . D a ß alle Verfahrensbeteiligte ein faires Verfahren haben, in dem sie mit ihren Auffassungen Gehör finden und in dem sie ihre sonstigen Verfahrensrechte ausgewogen wahrnehmen können, ist primär Sache einer sinnvollen Anwendung und Auslegung der Regeln des einfachen Verfahrensrechts, die nicht vorschnell durch einen unmittelbaren Rückgriff auf das Gebot eines fairen Verfahrens übergangen werden darf 3 8 0 . 68

Das Fairneßgebot gilt für das gesamte staatliche Verfahren einschließlich des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Auch die Staatsanwaltschaft und alle sonstigen Stellen müssen es beachten, wenn sie strafverfolgend tätig werden 381 . Es hat besondere Bedeutung bei den zur Wahrung der Verfahrensrechte des Angeklagten vorgeschriebenen Belehrungen über sein Schweigerecht oder über das Recht auf Beistand durch einen Anwalt 382 . Dieses wird auch verletzt, wenn der zu einer Aussage veranlaßte Beschuldigte nicht darüber informiert wird, daß sich für ihn bereits ein Verteidiger gemeldet hat 383 . Der E G M R stellt darauf ab, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, also auch ein-

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378 379

etwa Ilerdegen NStZ 1984 343; Meyer JZ 1984 173; LR-Rieß Einl. Η 112 ff; Meyer-Goßner47 19, SKStPO-Rogall Vor § 133 102 mit weit. Nachw.; ferner etwa Dörr 146; Heubel 30 ff. Vgl. SK-StPO-Rogall Vor § 133, 104: „Teilhabeund Abwehrrecht". Nach Ansicht der Plenarentscheidung des BVerfG vom 30.4.2003 (JZ 2003 791, dazu Rimmelspacher JZ 2002 797) verstößt es gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Recht auf Gehör und damit auch gegen das Gebot eines fairen Verfahrens, wenn eine Verfahrensordnung für den Fall einer Verletzung des Rechts auf Gehör keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsieht. Rieß JR 1985 48; LR-Rieß Einl. Η 114; MeyerGoßner47 1 48; SiL-StPO-Rogall Vor § 133, 105 je mit weit. Nachw. Vgl. Einf. Rdn. 66 ff Hält er eine anzuwendende Norm für verfassungs-

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widrig, muß er die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 GG herbeiführen. Die Kritik an dem Fair-Trial-Prinzip ist zum Teil auch durch dessen unstrukturierte Anwendung veranlaßt worden, so etwa Ileubel 40 ff, vgl. auch SKSXPO-Paeffgen 70, 71. H . M ; etwa Frisier StV 1998 159; Nack NJW Sonderheft für G. Schafer 2002 46, 42; H. Ch.Schaefer FS Rieß 491; Wagner ZStW 109 (1997) 547; sowie die nachf. Fußn. BGHSt 46 93; dazu Nack NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 46, 42 ( mit weiteren Beispielen und auch zur Problematik der Prüfungskompetenz des BGH, die anders als bei BVerfG von einem Fortwirken des Verfahrensverstoßes in der Hauptverhandlung abhängt). BGH StV 1997 511 (L); H. Ch. Schäfer FS Rieß 491 ff.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

schließlich der Vorgänge im Ermittlungsverfahren, fair war. Auch die Methoden bei Gewinnung des im Strafverfahren verwendeten Beweismaterials werden daran gemessen. Die Verfahrensfairneß kann verletzt sein, wenn staatliche Organe den Täter zur Tat verleitet 384 oder die Tatprovokation mitzuverantworten haben 385 , aber auch, wenn dem Angeklagten durch Vorenthaltung von geheimgehaltenem Beweismaterial bei der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit genommen wird, zu beweisen, daß er Opfer einer Tatprovokation geworden ist 386 . Der Kernbereich des fairen Verfahrens ist auch verletzt, wenn sich Staatsorgane über das Recht des Beschuldigten hinwegsetzen, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen 387 . Ob bereits im Vorfeld eines Verfahrens der Staat verpflichtet ist, den von einer Maßnahme Betroffenen Informationen zu ermöglichen, die eventuell verfahrenserheblich sein können, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab; wer aber eine ihm dafür offene Möglichkeit nicht benützt, kann sich später nicht darauf berufen, daß er wegen unzureichender Informationen kein faires Verfahren hatte 388 . d) Inhalt. Als allgemeines Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit lassen sich die Anfor- 6 9 derungen des auf das Verfahren in seiner Gesamtheit abstellenden Gebots eines fairen Verfahrens meist nicht durch die isolierte Würdigung eines einzelnen Verfahrensvorgangs und auch nicht losgelöst vom Einzelfall und dem jeweiligen Regelsystem des nationalen Rechts bestimmen 389 . Es hängt immer von der Gesamtwürdigung des konkreten Verfahrensverlaufs und nicht schon von einem einzelnen Verstoß gegen das nationale Verfahrensrecht ab 390 , ob eine Partei oder ein Angeklagter vor Gericht das garantierte faire Verfahren hatte. Selbst bei den in Art. 6 Abs. 3 M R K , Art. 14 Abs. 3 IPBPR ausformulierten Mindestrechten beurteilt der E G M R im Rahmen einer gemeinsamen Würdigung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 M R K vielfach nur aus der Sicht des Gesamtverfahrens, ob ein Verstoß das Konventionsgebot der Verfahrensfairneß im Zusammenhang mit anderen Konventionsbestimmungen verletzt 391 . Nur in Einzelfällen wird schon wegen

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E G M R 9.6.1998 Teixeira de Castro/Port (NStZ 1999 47 mit Anm. Sommer = StV 1999 127 mit Anm. Kempfy, dazu auch 11. Ch. Schaefer FS Rieß 491, 500; van Gemmeren NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 28; Nack NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 46, 49; Amhos NStZ 2002 628, 632 und nächst. Fußn. Zu den innerstaatlichen Fragen vgl. etwa BGHSt 45 321 = NStZ 2000 269 mit Anm. lindrissl Kinzig = JZ 2000 363 mit Anm. Roxin = JR 2000 432 mit Anm. Lesch = StV 2000 57, 114 mit Anm. Sinnerl Kreuzer; Eschelbach StV 2000 390; van Gemmeren NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 28; MeyerGoßner47 Einl. 148a; LR-Rieß § 163, 67 ff je mit weit. Nachw. zum Streitstand, ferner BGHSt 47 44. EGMR 22.7.2002 Edwards, Lewis/GB (StraFo. 2003 360 mit Anm. Sommer); Gaede StraFo. 2004 195, 197. Etwa E G M R 8.2.1996 Murray/GB (ÖJZ 1996 627); 17.12.1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32); 3.5.2001 J.B/CH (ÖJZ 2003 518); 5.11.2002 Allan/ GB (StV 2003 257); 8.10.2002 Beckles/GB (ÖJZ 2004 67); vgl. dazu Rdn. 248 ff. E G M R 9.6.1998 McGinley & Egan/GB (ÖJZ 1999 355 Zugang zu maßgeblichen Beweisen für Gesundheitsschädigung durch Atomtest).

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Die ergangenen Entscheidungen zu Einzelfallen verdeutlichen die Tendenz dieses Grundsatzes, der einen umfassenden Schutz vor jeder Art von verfahrensrechtlichen Unbilligkeiten und Benachteiligungen erstrebt; abgesehen von eklatanten Benachteiligungen eignen sie sich aber vor allem in den Randbereichen nur bedingt für eine Verallgemeinerung. '«» EGMR 23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); EKMR ÖJZ 1991 322; vgl. BVerfGE 64 135 = JR 1983 659 mit Anm. Rüping. 391 Zur Gesamtbetrachtung des EGMR im Unterschied zu dem auf die erhobene einzelne Verfahrensrüge beschränkte Prüfungkompetenz des BGH vgl. Eisele JR 2004 12, 15; Nack FS Rieß, 361, 371. Gegen die Gesamtbetrachtung werden im Schrifttum Bedenken erhoben, da durch die Beurteilung des Verfahrens in seiner Gesamtheit einzelne Verfahrensverstöße relativiert werden können; vgl. die Beispiele aus der Rechtsprechung des E G M R bei Schwede)· GA 2003 293, 294, der die Gesamtbewertung als eine Art Beruhensprüfung versteht, ferner Walther (GA 2003 204 ff, die der relativierenden Gesamtwürdigung durch die Abtrennung des dem Recht auf Gehör zuzuordnenden „fair hearing" vom „fair trial" Gebot entgegenwirken will).

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

der eklatanten Mißachtung eines garantierten Einzelrechts verneint, daß der Betroffene ein faires Verfahren hatte 392 . 69a

Für die Verfahren über „civil rights", die nur unter Art. 6 Abs. 1 MRK, Art. 14 Abs. 1 IPBPR fallen, weil die Art. 6 Abs. 3 M R K , Art. 14 Abs. 3 IPBR nur für die Verfahren in Strafsachen im weiten Sinn der Konventionen 393 gelten, werden vielfach gleichartige inhaltliche Anforderungen unmittelbar aus dem Gebot eines fairen Verfahrens abgeleitet. Die jeweilige Verfahrensart muß allerdings eine solche Entsprechung zulassen 394 . Im übrigen wird den Vertragsstaaten in den nicht unmittelbar von Art. 6 Abs. 3 M R K Art. 14 Abs. 3 IPBPR erfaßten Fällen ein größerer Spielraum für die Umsetzung der darin aufgezeigten Grundsätze zuerkannt 3 9 5 . Im Geltungsbereich des GG gilt das Gebot eines fairen Verfahrens als Verfahrensgrundrecht 3 9 6 für alle Verfahrensarten, so daß sich die Eingrenzungen des Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR auf bestimmte Verfahrensgegenstände innerstaatlich nicht auswirken.

69b

Will man die sich aus dem Fairneß-Gebot ergebenden Forderungen in (sich inhaltlich überschneidende) Gruppen einteilen, dann gehört dazu die Wahrung eines Gleichgewichts der Verfahrensbefugnisse („Waffengleichheit") zwischen den in gegenseitigen Rollen teilnehmenden Verfahrensbeteiligten 397 und die Gewährleistung aller mit dem Recht auf Gehör verbundenen verfahrensrechtlichen Informationsrechte und Aktivbefugnisse398. Diese schließen in der Regel die Befugnis zur Anwesenheit in der Verhandlung und das Recht zur mündlichen oder schriftlichen Äußerung gegenüber dem Gericht und auf eine effektive Verteidigung mit ein 399 und setzen die Möglichkeit einer rechtzeitigen und ausreichenden Information über alle verfahrenserheblichen Tatsachen, Äußerung und Vorgänge und damit grundsätzlich auch die Akteneinsicht voraus 400 . Ferner gehören dazu die Belehrungs- und Fürsorgepflichten, die dem Gericht gegenüber den Prozeßparteien und insbesondere gegenüber dem Angeklagten aus besonderen Verfahrenslagen erwachsen können 401 .

70

Für die Verfahren, in denen über eine strafrechtliche Anklage entschieden wird, enthalten Art. 6 Abs. 2, 3 M R K und Art. 14 Abs. 2, 3 IPBPR bestimmte konkrete inhaltliche Mindestanforderungen für eine faire, die Verteidigungsrechte des Angeklagten wahrende Verfahrensgestaltung. Die Aufzählung dieser unten erläuterten Grundsätze umschreibt jedoch den Inhalt des fairen Verfahrens nicht erschöpfend402, so daß sich aus Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR im konkreten Fall zusätzliche Anforderungen ergeben können. D a das Gebot eines fairen Verfahrens als übergeordneter Grundsatz verstanden wird, unterbleibt bei der Gesamtwürdigung oft eine klare Aussage zur Trag392

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398 399

400

Vgl. E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1982 420; FroweinlPeukert 71 mit weit. Nachw.; TntKommEMRiL-MiehslerlVogler 345. Vgl. R d n . 28 ff. Z u weiteren Einzelheiten etwa FroweinlPeukert 91 ff. Etwa 27.10.1993 D o m b o Beheer Β V / N d L ( Ö J Z 1 9 9 4 464); 10.4.2003 Alga/Ö (ÖJZ 2 0 0 3 816). Vgl. R d n . 7, 64. Dies folgt auch aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung, vgl. dazu R d n . 59, 62; ferner Wallher G A 2 0 0 3 204; LR-Rieß Einl. Η 199 ff. Vgl. LR-Rieß Einl. Η 71 ff, insbes. 80 ff. Zu den Einzelausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren vgl. SK-StPO-Rogall Vor § 133 104 ff Z u m Teilnahmerecht vgl. Rdn. 188 ff Vgl. dazu R d n . 72. Das Recht auf G e h ö r setzt ausreichende Informationsmöglichkeiten voraus; in Stand:

beiden wird von der wohl vorherrschenden Meinung auch ein Erfordernis eines fairen Verfahrens gesehen, vgl. etwa BVerfG N J W 2001 3695, 3697; Sach.ilDegenharl G G Art. 103, 4 ff; 44 ff Wallher G A 2 0 0 3 204, 219 unterscheidet dagegen zwischen „fair trial" zur Gewährleistung der Waffengleichheit und dem „fair hearing", zur Sicherung des Rechts auf Gehör, um so auszuschließen, d a ß die ungenügenden Einzelbefugnisse des Angeklagten bei der Beweiserhebung in einer Gesamtwürdigung des Verfahrens als fair unberücksichtigt bleiben. 41,1 4,12

Vgl. R d n . 73a. Etwa E G M R 12.2.1985 Colozza/T ( E u G R Z 1985 634); 24.11.1986 Unterpertinger/Ö ( E u G R Z 1987 147); 26.7.2002 M e f t a / F (ÖJZ 2 0 0 3 732); Froweini Peukert 71.

1.10.2004

(324)

Recht auf ein faires Verfahren

Art. 14 IPBPR

weite der Einzelverbürgungen in den Absätzen 3 beider Konventionen. Der E G M R sieht darin nur unselbständige Einzelausprägungen des „fair-trial-Grundsatzes". Dessen Wahrung ist Zweck der Einzelregelungen und daher nach Ansicht des Gerichtshofs für die Frage entscheidend, ob die Konvention verletzt ist oder ob die Gesamtschau des Verfahrens ergibt, daß der Betroffene ungeachtet einzelner Verstöße unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen und etwaigen Kompensationen insgesamt doch ein faires Verfahren hatte 403 . Umgekehrt kann die Gesamtschau aber auch dazu führen, daß mehrere Verfahrensvorgänge, die jeder für sich betrachtet noch nicht unfair sind, in ihrer Gesamtheit das Verfahren unfair machen können 404 . e) Beispiele. Soweit die konkrete Festlegung einzelner verfahrensrechtlicher Befug- 71 nisse wie etwa in Art. 6 Abs. 3 M R K fehlt, ist jede über die kaum weiterführende Generalisierung hinausreichende Umschreibung der Tragweite des Gebots eines fairen Verfahrens auf Beispiele angewiesen. Vor allem erhellen die von der Rechtsprechung beurteilten Verstöße, wie verschiedenartig die Fälle sein können, durch die im Einzelfall die Prozeßführung bzw. Verteidigung erheblich behindert oder gegenüber dem Prozeßgegner benachteiligt werden kann 4 0 5 . Das Gebot eines fairen Verfahrens fordert vom Gericht, daß es die vor ihm Recht suchenden Personen nicht als bloße Objekte seiner Rechtsfindung behandelt, ihrer Stellung als eigenverantwortliche Subjekte des Verfahrens Rechnung trägt, sie und ihr Vorbringen ernst nimmt und dafür sorgt, daß sie ihre legitimen Verfahrensrechte ungeschmälert wahrnehmen können. Es muß den Verfahrensbeteiligten ausreichenden R a u m für die Vertretung ihrer Verfahrensbefugnisse einräumen, etwaige Schwierigkeiten, die der Vertretung dieser Rechte aus einer (legitimen) Einschränkung ihrer Befugnisse erwachsen, muß es anderweitig hinreichend ausgleichen, vor allem, um dem Angeklagten ein insgesamt faires Verfahren zu sichern 406 . Aus dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung kann sich auch ein Recht auf Anwesenheit bei der entscheidenden mündlichen Verhandlung ergeben 407 , dazu gehört auch, daß die Verfahrensbeteiligten in der Lage sein müssen, alle Vorgänge in der Verhandlung optisch und akustisch aufzunehmen. Sind sie dazu für das Gericht erkennbar nicht in der Lage, muß es für geeignete Abhilfe (Anweisung eines anderen Platzes, Zuziehung eines Dolmetschers) sorgen 408 . Im Strafverfahren muß das Recht des Angeklagten, zu den Anschuldigungen zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, beachtet werden 409 .

4 3

»

Zur G e s a m t s c h a u etwa E G M R 13. 5 . 1 9 8 0 Artico/I ( E u G R Z 1980 662); 6 . 5 . 1 9 8 5 B ö n i s c h / Ö ( E u G R Z 1986 127); 7 . 7 . 1 9 8 9 B r i c m o n t / B e l g (Series A 158); 2 7 . 9 . 1 9 9 0 Windiseh/Ö (StV 1999 193); 2 6 . 4 . 1 9 9 1 A s c h / Ö ( E u G R Z 1 9 9 2 474); 2 2 . 4 . 1 9 9 2 Vidal/Belg ( E u G R Z 1 9 9 2 441); 1 9 . 6 . 2 0 0 1 A t l a n / G B (ÖJZ 2 0 0 2 698); 2 6 . 0 7 . 0 2 M e f t a h / F (ÖJZ 2 0 0 3 736); ferner EroweinlPeukert 2,71; I n t K o m m I Vi Κ Κ - Vn^lcr 467; Ambos Z S t W 115 (2003) 583, 613; Kühne/Nash JZ 2000 997; Kühne StV 2001 77; Weigend StV 2 0 0 0 385. Nack F S R i e ß 361, 373; N J W S o n d e r h e f t für G. Schäfer 2 0 0 2 46, 51 spricht v o n „weichen Voraussetzungen", die vielfach eine flexible L ö s u n g im R a h m e n der S t r a f z u m e s s u n g ermöglichen; Schweiler G A 2 0 0 3 2 9 3 versteht diese G e s a m t s c h a u als eine Art Beruhensprüfung, auf G r u n d der beurteilt wird, o b der festgestellte Fehler des nationalen Rechts das Urteil beeinflußt hat; vgl. d a z u Eisele JR 2004 12, 19.

(325)

404

liisele JR 2004 12, 15; Nack G Schäfer 2 0 0 2 46, 52.

405

Zur Vielzahl der Einzelaspekte vgl. R d n . 35 ff.

406

Vgl. e t w a E G M R 2 6 . 3 . 1 9 9 6 D o o r s o n / N d l (ÖJZ 1996 715); 2 1 . 1 2 . 2 0 0 1 P. S . / D ( N J W 2001 2893); ferner Geburtig Z a ö R V 5 9 (1999) 295, 302 (Pflicht, bei Einvernahme eines für die eine Partei tätigen Z e u g e n über ein Vier-Augen-Gespräch auch die nicht beweispflichtige Gegenpartei z u m Gesprächsinhalt z u hören).

N J W S o n d e r h e f t für Meyer-Ladewig

407

Vgl. d a z u Rdn. 188 ff.

408

Vgl. E G M R 2 3 . 2 . 1 9 9 4 Stanford/GB (ÖJZ 1994 600; verneinend, da Akustik im Gerichtssaal ausreichend und Verteidiger das Gericht auf H ö r s c h w i e rigkeiten des A n g e k l a g t e n nicht hingewiesen hat). Zur Beiziehung eines D o l m e t s c h e r s vgl. Rdn. 2 3 3 ff.

4(8

D a z u R d n . 2 4 8 ff.

Walter G o l l w i t z e r

M R K Art. 6

72

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Die Gleichstellung der Vertreter gegenläufiger Prozeßinteressen hinsichtlich ihrer Einwirkungsmöglichkeiten auf das Verfahren, die aus dem Gleichheitsgebot folgende grundsätzliche Chancen- und Waffengleichheit (vgl. Rdn. 56 ff), ist ein wesentliches Element eines gerechten und fairen Verfahrens. Für den besonders wichtigen Bereich der Beweiserhebung in den Verfahren wegen einer strafrechtlichen Anklage wird dies in Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR ausdrücklich angesprochen 410 . Auch sonst muß das Gericht bei besonderen Verfahrenslagen ins Gewicht fallende Ungleichheiten, die die Chancengleichheit de facto beseitigen, durch geeignete Maßnahmen nach Möglichkeit ausgleichen, wie etwa durch verfahrensrelevante Informationen oder eine entsprechende Verfahrensgestaltung (Belehrung, Unterbrechung, Aussetzung) oder auch durch die Anhörung der Partei zum Inhalt eines nur vom Zeugen der Gegenpartei bekundeten Inhalt eines Vier-Augengesprächs 411 oder durch Maßnahmen, die die sachgerechte Wahrnehmung der Verteidigungsrechte ermöglichen, wie die Bestellung eines Verteidigers oder die kostenlose Beiordnung eines Dolmetschers. Dies gilt unabhängig davon, ob das nationale Verfahrensrecht solche Maßnahmen ausdrücklich vorsieht. Erforderlichenfalls muß das Gericht auch durch den Hinweis auf Umstände, die nur einer Partei unbekannt sind, die chancengleiche Vertretung der Belange ermöglichen 412 . Zu einem fairen Verfahren gehört grundsätzlich, daß vor Gericht 4122 die Anklagebehörde ihr ganzes Material gegenüber der Verteidigung offen legt, gleich, ob es nun für oder gegen den Angeklagten spricht 413 . Ist dies ausnahmsweise nicht erreichbar, weil dem schwerer wiegende öffentliche Interessen oder der unbedingt erforderliche Schutz anderer Personen entgegenstehen, muß das Gericht ein faires Verfahren dadurch sicherstellen, daß es die dadurch bestehenden Schwierigkeiten für die Verteidigung durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung ausgleicht 414 . Auch der Aktenverlust kann die Wahrnehmung der Verfahrensbefugnisse beeinträchtigen 415 . Reichen die in das Verfahren eingeführten Beweismittel für eine sichere Verurteilung nicht aus, weil ein möglicherweise auch entlastend wirkendes zentrales Beweismittel für das Gericht gesperrt bleibt, muß es den Angeklagten trotz fortbestehenden Tatverdachts freisprechen 416 . Die gebotene Chancengleichheit kann auch dadurch verletzt sein, daß die Staatsanwaltschaft durch irgendwelche Maßnahmen Einblick in das Verteidigungskonzept des Angeklagten erhält 417 . Nach Ansicht des E G M R ist das Recht auf ein faires

4111

Dazu Rdn. 210 flf. BVerfGNJW 2001 2531. 412 Vgl. BGH NJW 1990 584 (Hinweis auf das Ergebnis verfahrensbezogener Ermittlungen - Telefonüberwachung). 412a Wieweit im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren zum Schutz des Ermittlungserfolges das Akteneinsichtsrecht eingeschränkt werden kann und wieweit diese Beschränkungen auch noch im gerichtlichen Haftprüfungsverfahren fortbestehen können, ist trotz der drei Entscheidungen des EGMR vom 13.12.2001 (Lietzow, Schöps und Garcia Alva/D) weiterhin strittig; vgl. etwa Kempf StV 2001 206; Kempf StraFo. 2004 209; Kulme/Esser StV 2002 391; Lange NStZ 2003 348 (Besprechung von OLG Köln NStZ 2002 659; OLG Hamm NStZ 2003 386); Meyer-Goßner47 § 147 StPO, 25a, 26; LR-Lüderssen § 147 StPO 160, 160a je mit weit. Nachw.; ferner auch Art. 5 MRK Rdn. 124a. 411

415

E G M R 16.12.1992 Edwards/GB (ÖJZ 1993 391); 16.2.2000 Rowe, Davie/GB (StraFo. 2002 51 mit

414

415 416

417

Anm. Sommer); 25.9.2001 P.G, J.H./GB (ÖJZ 2002 911); Gaede StraFo. 2004 195, 196. E G M R 25.9.2001 P.G., J.H./GB (ÖJZ 2002 911) für ein Verfahren vor dem Schwurgericht, wo Verhandlungsrichter die Fragen der Verteidigung in camera stellte und das geheimgehaltene Material keinen Teil des angeklagten Falls betraf und auch den Geschworenen nicht vorgelegt wurde. E K M R bei Slramer EuGRZ 1989 432. Vgl. BGH NStZ 2004 343 (Fall El Motassadeq), dazu Gaede StraFo. 2004 195, der die Beweiswürdigungslösung des BGH als unzureichend kritisiert und die Frage aufwirft, wieweit die Sperrung von entlastenden Beweismaterial durch andere staatliche Stellen mit dem aus dem Gebot eines fairen Verfahren herzuleitenden Informationsanspruch vereinbar ist. BGH NStZ 1984 419, dazu Rieß JR 1985 48; AG Mannheim StV 1985 276; OLG Karlsruhe StV 1986 10, dazu Volk StV 1986 34,1. Roxi« 96 ff; SK-StPORogall 105 je mit weit. Nachw.; vgl. auch öst. VfGH

Stand: 1.10.2004

(326)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Verfahren auch verletzt, wenn ein Gericht in willkürlicher Mißachtung einer Vorlagepflicht eine strittige Frage selbst entscheidet und so dem Betroffenen die Möglichkeit nimmt, daß die Vorlegungsfrage von einem höheren Gericht zu seinen Gunsten entschieden wird 418 . Die Garantie des fairen Verfahrens kann erfordern, daß das Gericht schützend ein- 7 3 greift, um ein offensichtliches Ungleichgewicht bei der Vertretung der Verfahrensinteressen abzugleichen 4 1 9 , wie dies auch aus dem in die gleiche Richtung gehenden und zumindest in der Zielsetzung weitgehend identischen Grundgedanken der prozessualen Fürsorgepflicht420 hergeleitet wird. Das Gericht muß Rücksicht auf die konkrete Situation der Verfahrensbeteiligten nehmen und darf sie in keine ihre Rechtswahrung beeinträchtigende Zwangslage bringen oder nicht dagegen einschreiten, wenn dies durch einen anderen Verfahrensbeteiligten geschieht 421 . Es muß unsachliche Einwirkungen anderer Verfahrensbeteiligter unterbinden und auch der Beeinflussung der Laienrichter durch eine Pressekampagne entgegenwirken 422 . In der unrichtigen Auskunft der Staatsanwaltschaft darüber, ob bei ihr weiteres, nicht offengelegtes und gerichtlich nicht verwendetes relevantes Material vorliege, hat der E G M R einen Verstoß gegen das faire Verfahren gesehen, da der Richter dadurch gehindert wurde, dieses Material zu prüfen und darüber zu entscheiden, ob durch die NichtOffenlegung die Verteidigung in unfairer Weise behindert wird 423 . Das Gericht darf ferner aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für den Betroffenen herleiten. Beruht eine Fristversäumnis auf einem Fehler des Gerichts, erfordert die hierdurch gebotene besondere Fairneß, diesem Umstand bei den Anforderungen an die Wiedereinsetzung Rechnung zu tragen 423a . Ein faires Verfahren erfordert ferner, daß alle Verfahrensbeteiligten auf die Äuße- 7 3 a rungen des Gerichts und die dadurch geschaffene Verfahrenslage vertrauen können. Mit diesem Vertrauensschutz ist vor allem im Strafverfahren jede bewußte Täuschung und Irreführung durch staatliche Organe unvereinbar. Aus ihm können sich ferner Hinweispflichten für das Gericht ergeben. Besondere Umstände können das Gericht verpflichten, durch Hinweise und Belehrungen auf eine sachgemäße Rechtswahrung hinzuwirken und erkannte Irrtümer richtigzustellen, so etwa, wenn es nachträglich von einer kundgegebenen Auffassung abweichen 424 oder Verfahrensfehler korrigieren will, ferner bei einer unvorhergesehenen Änderung der Verfahrenslage 425 . Erteilt es eine an sich nicht not-

418

419

420

421 422 423

EuGRZ 1985 85 mit Anm. Kopetzki 95 und zum Verbot der Beschlagnahme der Verteidigungsunterlagen Rdn. 176. In der willkürlichen NichtVorlage an den EuGH hat der EGMR wiederholt auch einen Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens gesehen, EGMR 23.3.1999 Desmonts/F, 7.9.1999 Dotta/T; 25.1. 2000 Moosbrugger/Ö; 4.10.2001 Canela Santiago/ Span; 13.6.2002 Bakker/Ö; vgl. Breuer JZ 2003 433, 439. Zu der darin liegenden Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter vgl. Rdn. 47. Vgl. OLG Köln NStZ 1989 542: Bestellung eines Verteidigers bei Auftreten eines Opferanwalts vgl. § 140 Abs. 2 StPO. Vgl. dazu LR-Rieß Einl. Η 120 ff; Vor § 226, 20 ff; SK-StPO-Paeffgen 74. Vgl. etwa LG Mönchengladbach StV 1987 333. EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 355. EGMR 19.6.2001 Atlan/GB (ÖJZ 2002 698), wobei aber unbedingt notwendige, verteidigungsein-

(327)

schränkende Maßnahmen zum Schutze anderer Personen oder wichtiger öffentlicher Interessen als zulässig angesehen wurden. Zu dem aus dem Gebot der Wafifengleichheit hergeleiteten Anspruch auf Offenlegung aller beweiserheblichen Informationen der Staatsanwaltschaft bzw. sogar des Staates vgl. EGMR 16.12.1992 Edwards/GB (ÖJZ 1993 391); 16.2.2000 Rove, Davis/GB (StraFo. 2002 51 mit Anm. Sommer): Gaede StraFo. 2004 195, 196 mit weit. Nachw.; ferner Rdn. 72. 423a BVerfG NJW 2004 2887 unter Hinweis auf BVerfGE 78 123, 126 und seine Rechtsprechung, wonach die Anforderungen an die Wiedereinsetzung nicht überspannt werden dürfen, etwa BVerfGE 40 88, 91; 67 208, 2 1 2 . 424

425

Vgl. Lhür.VerfGH NStZ 2003 278 (Verurteilung ohne Hinweis auf die Änderung einer bekanntgegebenen Auffassung). Nach Niemöller StraFo. 2000 361, 363 konkretisiert sich das Fairneßgebot in der Rechtsprechung des

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wendige Belehrung, muß diese sachlich richtig und vollständig sein 426 . Ein Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens wird beispielsweise darin gesehen, daß das Gericht absichtlich einen gebotenen Hinweis unterläßt 427 oder einen erkennbaren Irrtum, der die Prozeßführung beeinträchtigt, nicht richtigstellt 428 , daß es Prozeßbeteiligte täuscht, überrumpelt oder sich widersprüchlich verhält oder daß es sich über eine von ihm geschaffene oder geduldete Vertrauenslage ohne vorherigen Hinweis hinwegsetzt. So etwa, wenn es auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem nach dem bisherigen Prozeßverlauf auch ein kundiger Prozeßbeteiligter nicht zu rechnen brauchte 42811 oder wenn es von Zusagen oder einem in Aussicht gestellten Verhalten abweicht 429 , ohne vorher darauf hinzuweisen und Gelegenheit zur Nachholung der vielleicht im Vertrauen darauf unterlassenen Verfahrenshandlungen zu geben 430 , oder wenn es das Vertrauen in eine von ihm geduldete Verfahrensübung trotz Änderung seines Standpunktes fortbestehen läßt und dann ohne Vorwarnung nachteilige Folgen daraus herleitet, wie in der Erschwerung des Zugangs zu Gericht durch eine von der bisherigen Übung abweichende strengere Auslegung der Formvorschriften 431 . Ein Hinweis des Gerichts kann auch erforderlich sein, wenn das Gericht selbst außerhalb der Hauptverhandlung Ermittlungen veranlaßt hat, deren Ergebnis es nicht für entscheidungserheblich erachtet 432 . 74

f) Die Pflicht zur Begründung einer Entscheidung wird ebenfalls zu den Erfordernissen eines fairen Verfahrens gerechnet. Ihr Fehlen kann den Anspruch auf ein faires Verfahren 4 3 3 vor allem dann verletzen, wenn dadurch das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs erschwert oder entwertet wird, weil im Dunkeln bleibt, welche Erwägungen die Entscheidung tragen 434 . Diese müssen erkennbar sein, dies gilt im besonderen Maße auch für die Erwägungen, die eine Ermessensentscheidung tragen 435 . Der erforderliche Inhalt der Begründung muß vor allem diesem Zweck genügen, maßgebend

Bundesverfassungsgerichts in drei Richtungen: Mindeststandard aktiver Verfahrensbefugnisse, Grundsatz von Treu und Glauben, der dem Gericht verbietet, eigene Fehler oder Versäumnisse den Verfahrensbeteiligten zum Nachteil gereichen zu lassen sowie das Gebot des Vertrauensschutzes. 426 Vgl. BGHSt. 24 25 (weist das Gericht auf die Vorteile einer freigestellten Verfahrensgestaltung hin, darf es deren Nachteile nicht unerwähnt lassen). 427 OLG Frankfurt NStZ 1990 556. 4 : - Zum Verhältnis zur Fürsorgepflicht, die Rechtspflicht ist und als eine Ausprägung des Gebots eines fairen Verfahrens verstanden und mitunter zusätzlich noch aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet wird, vgl. LR-Rieß Einl. Η 120 (Konkretisierung des Fairneßgebots); SK-StPO-Rogall Vor § 133, 113 (Recht auf faires Verfahren und Sozialstaatsprinzip); ferner OLG Koblenz VRS 60 (1981) 119. 428a vgl. BVerfGE 108 341, 346, das einen Verstoß gegen das Recht auf Gehör bejahte, weil dadurch der Vortrag zu einem entscheidungserheblichen Umstand unmöglich gemacht wurde. 429

So von einer angekündigten Wahrunterstellung; vgl. BGHSt. 32 44 (wo aber der Vorrang des einfachen nationalen Rechts bei der innerstaatlichen Prüfung verkannt wird), ferner etwa BGH NJW 1990 1924 (Nichteinhaltung einer staatsanwaltschaftlichen Zusage); BGH N1W 2003 1409 (Uberschreiten der bei einer verbindlichen Verständigung

in Aussicht gestellten Strafobergrenze ohne vorherigen Hinweis). BVerfGE NJW 1987 2662; BGH M D R 1989 838, ferner das reichhaltige Schrifttum zur Problematik der Absprachen im Strafprozeß, etwa bei Schünemann, Gutachten zum 58. DJT. 4Ή Gericht darf nicht ohne Hinweis eine bisher tolerierte unleserliche Unterschrift nicht mehr anerkennen, BVerfGE 78 123; vgl. aber auch E K M R NJW 1989 579 (übertrieben formalistische Anforderungen, aber kein Verstoß gegen Art. 6 MRK, da diese dem Anwalt bekannt waren). 452 BGH NJW 1990 193; StV 2001 4; vgl. auch vorstehende Fußn. 4 -'-' Ob innerstaatlich eine weitergehende Begründungspflicht aus dem Recht auf Gehör abzuleiten ist, mag offen bleiben; eine Begründungspflicht unter diesem Gesichtspunkt bejahen grundsätzlich Grabemvarter § 24 Rdn. 42; SK-StPO-Paeffgen 75, 78; VUliger HdB 491. 454 EGMR 16.12.1993 Hadjianastassiou/Griech (EuGRZ 1993 70); 9.12.1994 Hiro Balani/Span (ÖJZ 1995 350); EKMR NJW 1963 2247; bei Bleckmann EuGRZ 1982 542; Peukert EuGRZ 1986 297; Rogall (Beschuldigte als Beweismittel) 114; ferner nachf. Fußnoten, 455 Vgl. EGMR 30.11.1987 H/Belg (ÖJZ 1988 220); 23.6.1994 De Moor/Belg (ÖJZ 1995 43); MeyerLadewig 42; SK-StPO-Paeffgen 75, 78. 43,1

Stand: 1.10.2004

(328)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

dafür ist die Lage des Einzelfalls, vor allem die Art der jeweiligen Entscheidung, deren Bedeutung und deren Gewicht 436 . Grundsätzlich müssen die Gründe erkennen lassen, daß das Gericht den wesentlichen Vortrag der Parteien verarbeitet hat 437 . Nicht gefordert wird aber, daß sich das Gericht, vor allem auch das Rechtsmittelgericht, in der Begründung mit allen vorgetragenen Argumenten auseinandersetzt 438 . Auch wo es schweigt, wird angenommen, daß das Gericht die Ausführungen aller Beteiligten zur Kenntnis genommen hat, sofern nicht besondere Umstände oder die Begründung des Urteils selbst das Gegenteil ergeben 439 . Ermessensentscheidungen erfordern in der Regel eine Begründung, die die dafür maßgebenden Gesichtspunkte aufzeigt 440 . Bei nicht mehr anfechtbaren abweisenden Entscheidungen der Rechtsmittelgerichte, wie der Verwerfung einer Revision als offensichtlich unbegründet, kann ein kurzer Hinweis auf die Rechtsgrundlage oder auch die inhaltliche Billigung der Vorentscheidung genügen 441 . Ein Anspruch auf Protokollierung der Verhandlung kann aus dem Gebot eines fairen Verfahrens nicht hergeleitet werden 442 .

74a

g) Gerichtliche oder gerichtsähnliche Verfahren, die nicht von Art. 6 MRK, Art. 14 7 5 IPBPR erfaßt werden, müssen ebenfalls ein dem jeweiligen Verfahrenszweck Rechnung tragendes Mindestmaß an fairer Verfahrensgestaltung gewähren. Diese gehört zum Wesen gerichtlicher oder gerichtsähnlicher Verfahren. Fehlt es daran, sind die mit der Einschaltung eines Gerichts oder einer mit richterlichen Befugnissen ausgestatteten Stelle bezweckten Rechtsgarantien in Frage gestellt 443 . 4. Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist a) Allgemein. Die Gewährleistung des Zugangs zu Gericht kann ihre Schutzfunktion 7 6 für den einzelnen nur dann voll entfalten, wenn er in absehbarer Zeit auch eine Entscheidung des Gerichts erwarten kann. Art. 6 Abs. 1 M R K gewährt deshalb für alle ihm unterfallenden Verfahren einen Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist („within a reasonable time", „dans un delai raisonnable"). Art. 14 Abs. 3 Buchst, c IPBPR drückt dies besser aus, wenn er Aburteilung ohne unangemessene Verzögerung („tried without undue delay", „jugee sans retard excessif') fordert. Er beschränkt seine Garantie aber auf die strafrechtlich angeklagten Personen. Das Recht auf Entscheidung in angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 M R K soll dagegen bei allen ihm unterfallenden Verfahren die Belastungen in Grenzen halten, die jedes gerichtliche Verfahren für die Betroffenen bedeutet 444 . Vor allem für das Strafverfahren soll gewährleistet werden, daß der Beschul436

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458

439

Grabenwarter § 24 Rdn. 42, vgl. auch vorst. Fußnoten; ferner zum jeweiligen „Relevanzhorizont" der Entscheidungsbegründung Kudlichl Chrislensen GA 2002 337. Vgl. zur Ableitung aus dem Recht auf Gehör etwa BVerfGE 89 133, 146; 96 205, 216; BVerfG StraFo. 2004 235. EGMR 19.4.1994 Van de Hurk/NdL (ÖJZ 1994 271); 21.1.1999 Garcia Ruiz/Span. (NJW 1999 2429); 22.11.2001 Volkmer (NJW 2002 3087); 10.4.2003 Alge/Ö (ÖJZ 2003 816); E K M R NJW 1963 2247; bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 356; Frowein/Peukert 114; vgl. auch SK-StPO-Paeffgen 78, der vom Rechtsmittelgericht eine Auseinandersetzung mit den substantiiert vorgetragenen Argumenten fordert. Meyer-Lädewig 43; anders bei einem aus den Urteils-

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gründen ersichtlichen Irrtum des Gerichts EGMR 31.3.2000 Dulaurans/F; SK-StPO-Paeffgen 75. Vgl. E G M R 30.11.1987 H/Belg (ÖJZ 1988 220); 23. 6.1994 De Moor/Belg (ÖJZ 1995 43); Grabenwarler § 24 Rdn. 42. EGMR 19.12.1997 Helle/Finl (ÖJZ 1998 932); 21.1.1999 Garcia Ruiz/Span. (NJW 1999 2429); EKMR NJW 1963 2247 mit Anm. Wimmer, bei Sirasserl Weber EuGRZ 1987 355; FroweinIPeukerl 114; Meyer-Lädewig 42; eine Begründung, die sich argumentativ mit substantiiertem Vorbringen des Rechtsmittelführers auseinandersetzt, fordert dagegen SK-StPO-PrtejfföCT 78. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1982 542. Vgl. etwa Art. 5 M R K Rdn. 124. Die zügige Verfahrenserledigung ist außerdem unerläßlich für die Funktionstüchtigkeit der Rechts-

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

digte nicht länger als nötig unter der Last eines seine Aburteilung bezweckenden Verfahrens 445 verbleibt. Hieraus ergibt sich - ebenso wie aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Verbot unnötiger oder unverhältnismäßiger Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche - ein Anspruch des jeweils Beteiligten, daß jedes ihn betreffende gerichtliche Verfahren zügig durchgeführt wird, vor allem aber ein Strafverfahren 4 4 6 . Das Gebot, die angemessene Verfahrensdauer nicht zu überschreiten, umfaßt das gesamte innerstaatliche Verfahren in allen gerichtlichen Instanzen bis zu seinem rechtskräftigen Abschluß. Es gilt auch noch für ein sich daran anschließendes Verfahren vor einem Verfassungsgericht, so, wenn dieses nach dem rechtskräftigen Abschluß eines an Art. 6 M R K zu messenden Verfahrens über eine dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde entscheidet 447 , aber auch sonst, wenn es mit der Sache befaßt worden ist 448 . Bei einer Richtervorlage wird der Abschluß des Verfahrens durch das zwischengeschaltete Verfahren (Inzidenzverfahren) ohne Rücksicht auf dessen Gegenstand schon rein faktisch um die Dauer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens hinausgezögert 449 . Gleiches gilt, wenn das Verfassungsgericht die Sache unter ganzer oder teilweiser Aufhebung des Endurteils zurückverwiesen hat. Bei Entscheidungen über die Auslieferungshaft ist eine unangemessen lange Verfahrensdauer ebenfalls zu berücksichtigen 450 . Die Fristen für die Verfahrenserledigung nach Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR sind länger als die von Art. 5 M R K , Art. 9 IPBPR gesetzten Fristen, in denen über eine Freiheitsentziehung zu entscheiden ist 451 . Bei jugendlichen Beschuldigten, die sich in Untersuchungshaft befinden, schreibt Art. 10 Abs. 2 Buchst, b IPBPR vor, daß die Sachentscheidung so schnell wie möglich ergehen muß 452 . 77

b) Angemessene Frist. Welche Dauer des jeweiligen Verfahrens noch angemessen ist, legen die Konventionen nicht näher fest. Sie überlassen das der Beurteilung der Umstände des Einzelfalls453. Es gibt keine feste zeitliche Grenze 454 . Neben der Gesamtdauer des jeweiligen Verfahrens werden in der Regel 455 dessen Umfang und Komplexität, seine recht-

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pflege (vgl. BVerfG NJW 2000 797) sowie auch für deren Ansehen und Glaubwürdigkeit. Vgl. etwa Klopfer JZ 1979 214; Kohlmann FS Pfeiffer 205; I. Roxin 249 ff; Schrolh NJW 1990 31 je mit weit. Nachw. Η. M; vgl. etwa EGMR 27.6.1968 Wemhoff/D (JR 1968 463); ferner Art. VII Abs. IX Buchst, a NATO-Truppenstatut, das dem Beschuldigten ausdrücklich ein Recht auf alsbaldige und schnelle Verhandlung garantiert; dazu BGHSt. 21 61. Vgl. EGMR 19.4.1993 Kraska/CH (Series A 254 B); 1.7.1997 Pammel/D (NJW 1997 310); 1.7.1997 Probstmeier/D (NJW 1997 2809); 26.9.2002 Becker/D (EuGRZ 2002 26) 16.9.1996 Süßmann/D (EuGRZ 1996 514: Verstoß verneinend), 20.02.03 Kind/D (EuGRZ 2003 228) 23.6.1993 Ruis-Mateoz/Span (EuGRZ 1993 453 mit abw. Meinung Matscher); 25.2.2000 Gast, Popp (NJW 2001 211), 27.7.2000 Klein/D (NJW 2001 213); Meyer-Ladewig 73. Dazu Matscher EuGRZ 1993 449, 450 ff, der wegen der unterschiedlichen Funktion des Verfassungsgerichts nach verschiedenen Fallgruppen unterscheiden will, so ob die Verfassungsbeschwerde selbst einen Zivilrechtsanspruch oder eine strafrechtliche Anklage zum Gegenstand hat oder ob sie eine nicht darunter fallende Frage, wie etwa die Frage der Staatsangehörigkeit oder die abstrakte Normenkontrolle betrifft.

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Vgl. EGMR 8.1.2004 Voggenreiter/D (EuGRZ 2004 150 Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz). 44 » Matscher EuGRZ 1993 449, 451; Dauer jedes Inzidentverfahrens verlängert faktisch den Abschluß des Hauptverfahrens, ohne Rücksicht darauf, ob es selbst einen Art. 6 MRK unterfallenden Gegenstand hat; vgl. auch Vorwerk JZ 2004 553, 555. 4,11 BVerfG NJW 2000 1252. 4,1 Vgl. Art. 5 M R K Rdn. 114. 452 Vgl. Art. 10 IPBPR Rdn. 16 (nach Art. 5 MRK). 453 Vgl. SK-StVO-Paeffgen 116 mit weit. Nachw. 454 Vgl. die Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR über die angemessene oder unangemessen lange Verfahrensdauer bei Frowein/Peukerl 153; Meyer-Ladewig 82, 83; SiL-StPO-Paeffgen 116 („relationaler Begriff), Villiger HdB 468. 455 Nur wenn schon die Gesamtdauer so unverhältnismäßig ist, daß sie unter keinem Gesichtspunkt mehr angemessen sein kann, entscheidet der EGMR ohne Prüfung der Einzelheiten aufgrund einer globalen Beurteilung vgl. E G M R 28.6.1990 Obermeier/Ö (EuGRZ 1990 209; nach 9 Jahren noch nicht erledigtes arbeitsgerichtliches Verfahren über eine Suspendierung); ferner etwa 31.5.2001 Metzger/D (StV 2001 489 mit Anm. I. Roxin); Grabenwarter §24 Rdn. 46.

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liehen und tatsächlichen Schwierigkeiten ebenso in Betracht gezogen wie das Prozeßverhalten des Beschwerdeführers selbst und die dem Beschwerdeführer nicht anzulastende Sachbehandlung durch die nationalen Gerichte und Behörden 456 . Die Bedeutung des Verfahrens für den Betroffenen wird ebenfalls berücksichtigt 457 , da das Ausmaß einer von ihm hinzunehmenden Belastung auch dadurch mitbestimmt wird, welche Auswirkung die schnelle Erledigung des Verfahrens für seine Lebensgestaltung hat 458 . Ein besonderes Beschleunigungsinteresse wurde ζ. B. angenommen bei wichtigen familienrechtlichen Entscheidungen (Scheidung, Kindschaftssachen, Unterhalt), bei Entscheidungen von denen der Lebensunterhalt abhängt 4 5 9 oder bei sonstigen, im Einzelfall besonders bedeutsamen Verfahren 460 . Die individuelle Belastung des Betroffenen durch ein Strafverfahren, insbesondere, wenn er sich in Untersuchungshaft befindet 461 , und die mit seinem Ausgang verbundenen Auswirkungen auf den Beschuldigten fallen zumindest insoweit ins Gewicht, als davon abhängt, welches M a ß von möglicher Beschleunigung von den Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall zu fordern ist. Unangemessen ist letztlich immer nur die Verfahrensdauer, die auf einer dem Staat und seine Organe anzulastenden Verzögerung beruht 4 6 2 , denn diese belastet den Betroffenen länger als nach der Sachlage zur Vertretung seiner Interessen erforderlich. Die Verfahrensdauer, die für die sachgerechte Erledigung des jeweiligen Verfahrens bei ordnungsgemäßer Sachbearbeitung im normalen Verfahrensbetrieb notwendig ist - das ist mehr als die bei größtmöglicher Beschleunigung erreichbare Minimaldauer - muß deutlich überschritten sein 463 . Hält sich die Gesamtdauer des Verfahrens bei Berücksichtigung seines Gegenstands und der Schwierigkeiten der Ermittlungen im angemessenen Rahmen, liegt im Umstand, daß das Gericht wegen anderer vorrangiger Sachen den Fortgang des Verfahrens während einiger Monate nicht wesentlich gefördert hat, für sich allein noch kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot 464 . Gleiches gilt für Verzögerungen des Verfahrens, die nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fallen, etwa, wenn sie vom Beschuldigten selbst oder von anderen Verfahrensbeteiligten durch ein von den staatlichen Organen nicht abwendbares Verhalten verursacht wurden. Unabhängig davon, ob und wieweit den Betroffenen eine Verfahrensförderungspflicht 456

4,7

458

Vgl. etwa EGMR 28.6.1978 König (NJW 1979 477); 13.7.1983 Zimmermann/D (NJW 1984 2749); 10.12.1982 Foti/I (NJW 1986 647); 29.5.1986 Deumeland/D (NJW 1989 652); 23.4.1987 Poiss/Ö (NJW 1989 650); 15.7.1982 Eekle/D (EuGRZ 1983 371 mit Anm. Kühne); 25.3.1999 Pelissier & Sassi/F (NJW 1999 3545); ferner etwa EKMR bei Strasser EuGRZ 1985 435; 521; 548; 624; Ambos NStZ 2002 628, 629; FroweiniPeukert 146 ff; Grabenwarter § 24 Rdn. 45; IntKommEMRK-MrWi.sfer/Fogfer 310, 317 ff; Meyer-Goßner47 8; Meyer-Ladewig 77; Petiten EuGRZ 1979 271; SK-StPO-ftie/^CT 120 ff; Ulsamer FS Faller 378 je mit weit. Nachw. Etwa EGMR 6.5.1981 Buchholz/D (EuGRZ 1981 490); Grabenwarter § 24 Rdn. 45; IntKommEMRKMiehslerlVogler 310, SiL-StPO-Paeffgen 119; vgl. Ambos NStZ 2002 628, 629: Verfahrensüberlänge ist nach objektiven Kriterien zu beurteilen, bei der Frage der angemessenen Kompensation ist auch Tatschuld zu berücksichtigen, gegen Einbeziehung der Tatschuld etwa Kempf StV 2001 134,135; Ostendorf IRadke JZ 2001 1094,I. Roxin StV 2001 491.

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Etwa EGMR 16.9.1996 Süßmann/D (ÖJZ 1997 274; Rentenansprüche bei hohem Alter); 30.10. 1998 F. E./F (Rep. 1998-VIII: Schadensersatz wegen tödlicher Erkrankung); SK-StPO-Paejfgen 119; Villiger HdB 460 je mit weit. Nachw. EGMR 27.10.2000 Klein/D (NJW 2001 213 nahm dies bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes an; zust. SK-StPO-ftie/j'gCT 119; krit. Breuer NVwZ 2001 Beil. 6). Etwa E G M R 25.11.1992 Abdoella/NdL (Series A 248); SiL-StPO-Pae/fgen 119; ViMger HdB 460. Etwa EGMR 6.5.1981 Buchholz/D (EuGRZ 1981 490); 25.2.2000 Gast, Popp/D (NJW 2001 211), 31.5.2001 Metzger/D (StV 2001 489 mit Anm. I. Roxin); Ambos NStZ 2002 628, 630. Zu den Ursachen der überlangen Verfahrensdauer vgl. etwa Barton StV 1996 690; Kempf StV 1997 208; Kohlmann FS Pfeiffer 206; I. Roxin 77 ff (auch zu den verschiedenen Ansätzen zur Berechnung der nicht mehr angemessenen Frist); ter Veen StV 1997 374. BGH NStZ 1999 313; 2003 384.

Vgl. etwa OLG Köln StV 1991 248; zu den Belastungen Schroth NJW 1990 29.

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trifft, können von ihm veranlaßte Verfahrensverzögerungen nicht dem Staat zugerechnet werden 465 . Daß der Beschuldigte alle ihm offenen Rechtsbehelfe ergriffen hat, kann ihm als solches nicht angelastet werden 466 , die dadurch notwendig verursachte Verzögerung fällt aber auch dem Staat nicht zur Last, wenn die Rechtsbehelfe zügig und mit der wegen der Gesamtdauer des Verfahrens gebotenen Beschleunigung behandelt worden sind 467 . Das nationale Verfahrensrecht wird als solches nicht abstrakt auf seine Tauglichkeit zur zügigen Verfahrenserledigung überprüft 4 6 8 , sondern nur daraufhin, ob im konkreten Einzelfall der Staat und seine Organe der Pflicht genügt haben, das innerstaatliche Verfahren so zu regeln und zu organisieren (notfalls auch zu vereinfachen), daß es innerhalb angemessener Frist zügig durchgeführt werden kann. Ungeachtet des Verhaltens der Beteiligten und der Komplexität des jeweiligen Verfahrensgegenstands muß es in angemessener Frist beendet werden 469 . Die Überschreitung von Fristen, die das nationale Recht setzt, begründen nicht automatisch einen Verstoß gegen die Konventionen, sie können aber ein Indiz für eine verzögerliche Bearbeitung sein 470 . Personalnot und Arbeitsüberlastung der Gerichte hat der Staat zu vertreten; er ist verpflichtet, seine Gerichtsbarkeit so zu organisieren, daß sie den Anforderungen der Konventionen genügen kann 4 7 1 . Desgleichen ist es ihm anzulasten, wenn sich ein Verfahren durch einen mehrmaligen Richterwechsel erheblich verzögert 472 . Plötzlich auftretende Engpässe begründen nur dann keine Verantwortlichkeit des Staates für die dadurch hervorgerufene Verzögerung, wenn er mit der erforderlichen Zügigkeit Abhilfemaßnahmen ergreift 473 . Im übrigen aber sind der Staat und seine Organe verpflichtet, jedes Verfahren zügig und ohne vermeidbare Pausen zu betreiben. Dem mitunter großen Zeitbedarf für die Erforschung der Wahrheit in den von der Inquisitionsmaxime bestimmten Strafverfahren (schwierige Ermittlungen 474 , Beweiserhebungen im Ausland 475 , Sachverständigengutachten 476 ) und der Notwendigkeit der Einräumung einer für den konkreten Fall ausreichenden Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung ist dabei Rechnung zu tragen. Dagegen kann das Legalitätsprinzip nicht rechtfertigen, wenn das Verfahren durch Ausermitteln nebensächlicher weiterer Straftaten verzögert wird 477 . Stehen Entscheidungen über die Verfahrensgestaltung im Ermessen des Gerichts, erfordert die pflichtgemäße Ermessensausübung, daß es dabei auch die Auswirkungen auf das Gebot der Verfahrensbeschleunigung ange-

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EGMR 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); Meyer-Ladewig 78. Vgl. EGMR 8.12.1983 Pretto/T (EuGRZ 1985 548; 23.4.1987 Poiss/Ö (Series A 117). E G M R 15.7.1982 Eekle/D (EuGRZ 1983 371); Meyer-Ladewig 78; Villiger Η dB 463. EGMR 28.6.1978 König/D (EuGRZ 1978 406); 8.12.1983 Axen/D (EuGRZ 1985 225); TntKommEMRK-Miehslerl Vogler 309. Vgl. E G M R 28.6.1978 König/D (NJW 1979 477); 29. 5.1986 Deumeland/D (EuGRZ 1988 20); 25. 3. 1999 Pelissier & Sassi/E (NJW 1999 3545); Froweinl Peukeri 143; 146 ff, ferner zur Verpflichtung des Staates, Mißbräuche und prozeßverschleppende Taktiken zu unterbinden, Peukert EuGRZ 1979 273 unter Hinweis auf EKMR (Hätti). FroweinlFenken 144. Etwa E G M R 6. 5.1981 Buchholz/D (EuGRZ 1981 490); 13.7.1983 Zimmermann, Steiner/CH (NJW 1984 2749); 28. 3.1990 B/Ö (ÖJZ 1990 482 Hinausschieben der schriftl. Urteilsabfassung um 33 Mo-

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nate); Grabenwarter § 24 Rdn. 47; Meyer-Ladewig 81; SK-StPO-Paeffgen 116; Villiger HdB 454. Vgl. BVerfGE 36 275 (für Untersuchungshaft). E G M R 17.2.2002 HE/Ö (ÖJZ 2003 433: Verfahrensdauer über 10 Jahre). EGMR 13.7.1983 Zimmermann, Steiner/CH (NJW 1984 2749); TntKommEMRK-MiehslerlVogler 324; BVerfGE 36 275; 46 28; 63 68; Niebier FS Kleinknecht 311; SK-StPO-Rogall Vor § 134, 118. Meyer-Ladewig 82, 83: SiL-StPO-Paeffgen 116, Villiger HdB 461 je mit weit. Nachw. ferner etwa einerseits BGH NStZ 2003 384; andererseits BVerfG JZ 2003 999 mit Anm. Bohnen. Meyer-Ladewig 82. Vgl. EGMR 27.6.1986 Neumeister/Ö (EuGRZ 1975 393); TntKommEMRK-M/e/isfec/Koi;/«· 319. E G M R 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); Ulsamer FS Faller 373, 377; IntKommEMRKMiehslerl Vogler 326; vgl. LR-Beulke § 154 StPO, 1, 25 ff.

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messen berücksichtigt. So kann die Hinzuverbindung eines einfach gelagerten Strafverfahrens zu einem gegen mehrere Beschuldigte geführten langwierigen Großverfahren wegen der dadurch bedingten erheblichen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ermessensfehlerhaft sein 478 . Es geht auch zu Lasten des Staates, wenn die Entscheidung über eine Sprungrevision des Angeklagten dadurch um 15 Monate verzögert wurde, daß die Staatsanwaltschaft sachwidrig Berufung eingelegt und diese später wieder zurückgenommen hatte 478a . Soweit die Parteien eines Rechtsstreits oder der Angeklagte eines Strafverfahrens den 7 9 a Verfahrensabschluß durch eigenes Prozeßverhalten, etwa durch Verletzung von Anwesenheitspflichten, verschleppendes Betreiben eines Parteiprozesses, Anträge, Rechtsbehelfe und Rechtsmittel 479 hinausgeschoben haben, ist dies bei der Bemessung der angemessenen Frist als objektives Faktum mitzuberücksichtigen, dabei ist nicht entscheidend, ob sie eine Verfahrenspflicht verletzt haben oder ob sie nur alle gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten ausschöpfen. Dies gilt vor allem im Strafverfahren, wo der Beschuldigte in der Regel zwar zur Teilnahme an der Hauptverhandlung, nie aber zur aktiven Mitwirkung verpflichtet ist 480 . Eine durch das Prozeßverhalten verursachte Verzögerung ist den staatlichen Organen jedoch dann zur Last zu legen, wenn sie unterlassen haben, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um das Verfahren trotzdem in angemessener Frist weiterzubetreiben und zu beenden 481 . c) Fristbeginn, Fristende. Bei den von Art. 6 Abs. 1 M R K erfaßten Streitigkeiten des 8 0 Privatbereichs wird die Verfahrensdauer in der Regel von der Klageerhebung an berechnet 482 . Tritt eine Person einem laufenden Verfahren später bei, ist dieser Zeitpunkt für sie maßgebend 4 8 3 . Hängt die Anrufung des Gerichts von einem Vorverfahren ab, etwa von einem verwaltungsrechtlichen Widerspruchsverfahren, so beginnt die Frist bereits mit dessen Einleitung 484 . Bei einer strafrechtlichen Anklage (zum materiellen Begriff vgl. Rdn. 28 ff) beginnt 81 die für Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, c IPBPR maßgebende Frist spätestens mit dem Zeitpunkt, an dem der Beschuldigte entsprechend Abs. 3 Buchst a offiziell Kenntnis erhält, daß wegen einer Straftat gegen ihn ermittelt wird 485 ; denn von diesem Zeitpunkt an steht er unter der psychischen Belastung durch das anhängige Ermitt-

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Vgl. BVerfG StV 2002 578, wo das BVerfG einen Verbindungsbeschluß aufhob, weil er dem rechtsstaatlichen Gebot eines fairen Verfahrens und dem ßeschleunigungsgebot widersprach und dem Beschuldigten die Erschöpfung des Rechtswegs nicht zumutbar war. 478 » OLG Karlsruhe StV 2004 431. 479 Die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit einer Korrektur von Entscheidungen durch Rechtsmittel gehört zum gesetzlich vorgesehenen Verfahren und begründet keine dem Staat anzulastende Überlänge, vgl. /. Roxin 80, Fußn. 184. 480 EGMR 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); 10.12.1982 Corigliano/1 (EuGRZ 1985 585); Frowein!Fenken 110; intiiammEMKiL-MiehslerlVogfer 323. 481 l'roweinlPeukert 151 mit Nachw. 482 EGMR 23.4.1987 Poiss/Ö (Series A 124-E); 26.3. 1992 Editions Periscope/F (ÖJZ 1992 771); EKMR ÖJZ 1996 477; Meyer-Ladewig 72; SK-StPO-Pae//gen 117; Viüiger HdB 456. (333)

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FroweinlPeuken 137; Meyer-Ladewig 72. E G M R 28.6.1978 König/D (NJW 1979 477); FroweinlFeukert 138 mit weit. Nachw.; Meyer-Ladewig 74; SiL-StPO-Fae/fgen 117; a.Ä Viüiger HdB 456 (bei Ablehnung mit Verwaltungsakt). Etwa EGMR 15.7.1882 Ecke/D (EuGRZ 1983 371); 27.2.1980 Derer/Belg (EuGRZ 1980 661); 10.12. 1982 Corigliano/1 (EuGRZ 1985 585); 2.10.2003 Henni/Ö (ÖJZ 2004 314); BGH NJW 1990 56; NStZ 1982 291; FroweinlFenken 138; IntKommEMR Κ - Miehslerl Vogler 313; Meyer-Goßner47 9; Meyer-Ladewig 76; Nowak 45; Vogler ZStW 89 (1977) 780; Peukert EuGRZ 1979 270; Ulsamer FS Faller 373; Villiger HdB Rdn. 457. Nach SK-StPOFueffgen 117 kann - unabhängig von der Kenntnis des Beschuldigten - auch schon der Zeitpunkt maßgebend sein, an dem das Verfahren sonst nach außen tritt.

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lungsverfahren. D a es insoweit darauf ankommt, von welchem Zeitpunkt an der Betroffene durch die Kenntnis von den gegen ihn geführten Ermittlungen belastet wird 486 , kann Fristbeginn auch schon der Tag sein, an dem er anderweitig davon Kenntnis bekommt, etwa dadurch, daß mögliche Belastungszeugen vernommen werden 487 . Die Frist beginnt in jedem Fall mit dem Tag, an dem ihm ein Durchsuchungs- oder Beschlagnahmebeschluß eröffnet wird oder an dem er wegen der Tat festgenommen wird oder Kenntnis erhält, daß ein Haftbefehl gegen ihn ergangen ist 488 . Werden die Ermittlungen auf eingestellte frühere Verfahren ausgedehnt, beginnt die Frist erst mit dem Zeitpunkt, der im neuen Verfahren als Ausdehnung der Untersuchung auf die früheren Taten anzusehen ist. Bei der Prüfung der Angemessenheit der Dauer des neuen Verfahrens ist jedoch zu berücksichtigen, daß ein Teil der Ermittlungen bereits früher durchgeführt worden war 489 . 82

Die Frist endet mit der gerichtlichen Entscheidung, die das Verfahren rechtskräftig erledigt 490 , nicht aber schon durch ein Zwischenurteil 491 . Sie endet ferner mit jeder sonstigen endgültigen Erledigung, wie etwa einer Einstellung oder dem Abschluß eines Vergleichs 492 . Maßgebend ist die letzte Entscheidung der Rechtsmittelinstanz in der Sache, auch wenn diese Entscheidung infolge einer Rechtsmittelbeschränkung nur noch einen Teil des Verfahrens betrifft, wie etwa bei einer Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch 493 . Selbst die nachträgliche Gesamtstrafenbildung im Beschlußwege nach § 460 wird noch mit einbezogen 494 , nicht aber Kostenfestsetzungsverfahren und ähnliche nach dem Abschluß noch anfallende Verfahren, die nur noch Nebenentscheidungen betreffen. Die Zeit, die bis zu einer durch Richtervorlage oder durch eine Verfassungsbeschwerde ausgelösten Entscheidung eines Verfassungsgerichtes vergeht, wird in die nach Art. 6 Abs. 1 M R K maßgebende Berechnung der Gesamtdauer des Verfahrens miteinbezogen 495 . Kann der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung nicht oder im Wege der Zwangsvollstreckung erst viel später durchsetzen, rechnet auch noch der Zeitraum bis zur endgültigen Befriedigung des Anspruchs des Betroffenen mit 496 ; etwas anderes gilt aber, wenn die mögliche Vollstreckung sich nur dadurch verzögert hat, daß der Betroffene den dafür erforderlichen Antrag erst verspätet gestellt hatte 497 . Wird die Wiederaufnahme des Strafverfahrens angeordnet, beginnt die Frist von diesem Zeitpunkt an neu zu laufen 498 .

83

d) Folgen der unangemessenen Dauer. Die Konventionen sehen - anders als bei Art. 5 Abs. 5 M R K , Art. 9 Abs. 5 IPBPR - außer der Feststellung der Konventionsverletzung

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EGMR 31.3.1998 Reinhardt, Slimane-Kaid/F (ÖJZ 1999 151; 2.10.2003 Hennig/Ö (Ö1Z 2004 314). EGMR 15.7.1882 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); 19.2.1991 Angelucci/I (Series A 196 C: spätestens mit der durch die Ermittlungen veranlaßten Bestellung eines Anwalts); Frowein! Peukert 138. E G M R 27.6.1968 Wemhoff/D (JR 1968 463); FroweinlPeukert 138; Meyer-Ladewig 16. Frowein! Peukert 139. Etwa EGMR 29. 8.1997 Worm/Ö (ÖJZ 1999 151); 2.10.2003 Hennig/Ö (ÖJZ 2004 314: Zustellung der schriftl. Urteilsbegründung). E G M R 10.7.1984 Guincha/Port (Series A 81). E G M R 24.5.1991 Caleffi/1 (Series A 206b); Froweinl Peukert 141; IntKommEMRK-M/efcfer/Kogfer 315. I-rowein/Peukert 140; IntKommEMRK-M/efafer/ Vogler 314; Meyer-Goßner47 8; Peukerl EuGRZ

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1979 271; Ulsamer FS Faller 375; vgl. Rdn. 41 mit weit. Nachw. EGMR 13.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 346); vgl. auch die Nachweise Rdn. 41 Fußn.182. EGMR 23.6.1993 Ruis-Mateos/Span (EuGRZ 1993 454); Süßmann/D (EuGRZ 1996 518); 1.7.1997 Pammel/D (EuGRZ 1997 313); Meyer-Ladewig 73; Villiger H d ß 458; mit Einschränkungen auch FroweinlPeukert 14 (nicht wenn unzulässig oder offensichtlich unbegründet); a. A lntKommEMRK-M/f/ί,νlerl Vogler 314. E G M R 26.10.1988 Martins Moreira/Port (Series A 143); 2.7.2002 Halka u.a./Pol; FroweinlPeukerl 141; Meyer-Ladewig 72. EGMR Union Alimentaria Sanders SA /Port; Froweinl Peukert 141. EGMR 3.10.2000 Löffler/Ö (ÖJZ 2001 234).

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und der Zubilligung einer Entschädigung nach Art. 41 M R K 4 9 9 keine durch den E G M R zu verhängenden Sanktionen für die verzögerte Verfahrenserledigung vor 500. Es ist Sache des innerstaatlichen Rechts, auf welchem Wege es die dadurch eingetrete- 8 4 nen Nachteile ausgleichen will. Grundsätzlich ist eine erkannte Konventionsverletzung bereits innerstaatlich zu bereinigen, um ein internationales Verfahren zu vermeiden. Dies muß möglichst noch im anhängigen Verfahren geschehen; dabei wird in Kauf genommen, daß sich die legitime Dauer des Verfahrens durch eine Zurückverweisung oder durch ein zur Beendigung der Verfahrensverzögerung eingeleitetes innerstaatliches Zwischenverfahren501 nochmals legitim verlängert 502 . Die unangemessen lange Verfahrensdauer kann und muß auch noch mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden 503 . Im Strafverfahren ist die überlange Verfahrensdauer - unabhängig von den Auswir- 8 5 kungen auf die Zulässigkeit weiterer Untersuchungshaft 5 0 4 - nach der wohl herrschenden Meinung nach Möglichkeit noch im anhängigen Verfahren angemessen abzugleichen505. Es gehört zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs im Sinne des Art. 35 Abs. 1 MRK 5 0 6 , daß der Beschuldigte alle ihm innerstaatlich offenen Rechtsbehelfe ausschöpfen muß, um diese Konventionsverletzung bereits innerstaatlich geltend zu machen und auch um einer weiteren Verzögerung entgegenzuwirken 507 . Der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot muß bereits innerstaatlich beanstandet worden sein. Sofern die Verzögerung nicht erst nach der letzten tatrichterlichen Verurteilung eingetreten und deshalb vom Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten ist 508 , erfordert dies bei der Revision eine den Begründungsanforderungen genügende Verfahrensrüge 509 . Setzt sich allerdings das angefochtene Urteil bereits in seinen Strafzumessungsgründen ausdrücklich mit einer festgestellten Verfahrensverzögerung auseinander, ist insoweit auch im Rahmen der Sachrüge eine Nachprüfung der dort dazu getroffenen Feststellungen, eventuell auch die Beanstandung von deren Unzulänglichkeit, möglich 510 . Zur Erschöp499

m

501

51.2 51.3

504

Vgl. etwa EGMR 20.2.2003 Kind/D (EuGRZ 2003 228 nur immateriellen Schaden); 8.1.2004 Voggenreiter/D (EuGRZ 2004 150). So auch für Art. VII Abs. IX Buchst, c Nato-Truppenstatut BGHSt. 21 81; vgl. E G M R 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371). Der E G M R hat durch Änderung seiner Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen Art. 6 und Art. 13 MRK gefordert, daß das nationale Recht nach Art. 13 MRK die Möglichkeit der innerstaatlichen Abhilfe gegen eine Verfahrensverzögerung schaffen muß; die Erschöpfung dieses innerstaatlichen Rechtsbehelfs sieht er als eine Zulässigkeitsvoraussetzung für seine Anrufung an; vgl. Art. 13 Rdn. 6d.

™ Vgl. Art. Art. 35 Abs. 1 M R K . 507 Für Österreich Antrag auf Verfahrensbeschleunigung nach § 91 GOG, vgl. EGMR 30.1.2001 Holzinger/Ö (ÖJZ 2001 478); 11.9.2001 Talirz/Ö (ÖJZ 2002 619); 25.9.2001 Strasser/Ö (ÖJZ 2002 37); 3.6.2003 Graf/Ö (ÖJZ 2003 856); EKMR ÖJZ 1993 463; für Portugal: E G M R 2.12.1999 Tome Mota/Port (NJW 2001 2692); für Spanien EGMR 5.10.1999 Gonzalez Marin/Span. (NJW 2001 2691), zu den Lösungen in Österreich, Frankreich, Spanien und Italien Vorwerk JZ 2004 553, 556, 559; zu den in der Schweiz möglichen innerstaatlichen Rechtsbehelfen vgl. Villiger HdB 134 ff; vgl. auch Art. 13 Rdn. 6d.

Vgl. BayObLGStV 1989 394. Vgl. etwa BVerfGE 45 349, 369; 63 45, 69; 92 277, 326; BVerfG NJW 2003 2225 mit weit. Nachw.; LansnickerlSchwirlzek NIW 2001 1969, 1970; ferner zur damit korrespondierenden Pflicht zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs nach Art. 35 Abs. 1 MRK Anhang Rdn. 35. Vgl. etwa OLG Stuttgart MDR 1990 76; OLG Hamm IMB1NW 1977 131; LG Köln NStZ 1989 441 und bei Art. 5 M R K Rdn. 113 mit weit. Nachw. Zu den dafür in Erage kommenden Maßnahmen vgl. etwa BVerfG NJW 2003 2225; ferner LR-Rieß Einl. G 38 ff; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 120; SKStPO-Paeffgen § 206a Anh. 30 je mit weit. Nachw.

508

(335)

509

510

BGH NStZ 1995 335 mit Anm. Uerpmann; NStZ 1997 29 mit Anm. Scheffler StV 1997 409; 1998 377; NStZ 2001 52; NStZ-RR 2002 166; BayObLG StV 1989 394; Meyer-Goßner47 9c. Vgl. BGH NStZ 1997 451; 2000 418; StV 1999 205; Scheffler StV 1993 568 (auch zur Aufklärungsrüge); G. Schäfer FS Rieß 489; Meyer-Goßner47 9c; vgl. VR-Rieß Einl. G 40. BGH StV 1992 452 mit Anm. Scheffler StV 1993 568; BGH StV 2000 554; OLG Düsseldorf StraFo. 2000 379; vgl. aber auch G. Schäfer FS Rieß 489 (nur Verfahrensrüge); ferner BayObLG StV 1989 394.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

fung des Rechtswegs im Sinne des Art. 35 Abs. 1 M R K gehört auch, daß die Verletzung des Beschleunigungsgebots mit der Verfassungsbeschwerde beanstandet wird; mit dieser muß sie unter dem Blickwinkel des darin liegenden Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen Art. 2 Abs. 1 G G ordnungsgemäß gerügt werden 511. 85a

Jedes innerstaatliche Gericht, das die unangemessen lange Verfahrensdauer von Amts wegen feststellt und im Rahmen der ihm obliegenden Entscheidungen angemessen kompensiert, muß in seiner Entscheidung neben den ohnehin gebotenen und auch als Ansatzpunkt für die Kompensation unverzichtbaren Feststellungen zur Tat und zum Schuldumfang 5 1 2 auch die Konventionsverletzung ausdrücklich feststellen und dabei Grund und Dauer der dem Staat anzulastenden Verfahrensverzögerung und ihre Auswirkungen auf den Beklagten ausdrücklich aufzeigen. Es hat ferner darzulegen, durch welche Maßnahmen und in welchem exakt zu bestimmenden Ausmaß es den dadurch erlittenen Nachteil des Angeklagten ausgleicht 513 . Dies geschieht vor allem dadurch, daß die unangemessen lange Dauer wegen ihrer strafähnlichen Auswirkungen auf den Beschuldigten und die durch die lange Verfahrensdauer bedingten sonstigen Nachteile des Angeklagten 514 bei der Bemessung der Rechtsfolgen ausdrücklich berücksichtigt werden 515. Bei einer Gesamtfreiheitsstrafe darf der Ausgleich nicht allein bei der Gesamtstrafe vorgenommen werden, es muß bereits bei jeder Einsatzstrafe konkret aufgezeigt werden, in welchem Ausmaß die an sich angemessene Strafe jeweils vermindert wurde 516 . Dieser Schadensausgleich wird dabei meist als besonderer eigenständiger Strafmilderungsgrund behandelt, der zusätzlich zu dem verringerten Strafbedürfnis wegen der zwischen Tat und Aburteilung liegenden langen Zeit eintritt 517 und bei dem mitunter auch die contraproduktive Wirkung einer um Jahre verzögerten Strafvollstreckung zu berücksichtigen ist 518. Im Grunde handelt es sich bei der Anrechnung auf die schuldangemessene Strafe um den von der Schadenswiedergutmachungspflicht des Staates gebotenen Ausgleich aller Nachteile, die der Angeklagte durch die rechtswidrige Überlänge des Verfahrens erlitten hat. Dies spricht gegen die Auffassung, daß bei diesem vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmten Ausgleich zwischen der rechtsstaatswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigung des Angeklagten und dem mit dem Strafverfahren bezweckten Rechtsgüterschutz 519 die Grenzen einzuhalten sind, die der Gesetzgeber durch die Strafrahmen und die Bindung einer Sanktionsart an bestimmte sachliche Voraussetzungen gezogen hat 520 . Vor allem hinsichtlich der Bindung an die Untergrenzen der Strafrahmen ist dies

Vgl. etwa BVerfG NJW 1984 967; 1997 2811; 2003 2225; EuGRZ 2001 576; ferner Alt. 13 Rdn. 10; Anhang Rdn. 35 ff (zu Art. 35 MRK). BGH bei Becker NStZ-RR 2003 104; BayObLG StV 2003 375 mit Anm. I. Roxin. EGMR 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 371); vgl. BVerfG NStZ 1997 591 (erforderlich für Nachprüfung der ausreichenden Kompensation des Verfassungsverstoßes); EuGRZ 2003 307; Kühne EuGRZ 1983 383. Vgl. BVerfG NJW 2003 2225 (ungenügende Kompensation, wenn die inzwischen eingetretene Resozialisierung nach 9 Jahren Verfahrensdauer durch Verhängung einer nicht aussetzungsfähigen Jugendstrafe gestört wird). BGHSt. 24 239; 27 274; 35 137; BGH NStZ 1982 291; 1986 218; 1987 232; 1988 552; NJW 1990 56; MDR 1990 168; BayObLGSt 1989 85 = StV 1989 394, IntKommEMRK-Mfe/K/«-/Vogler 329; MeyerGoßner41 9; G. Schüfer Praxis der Strafzumessung 3 ,

Rdn. 327; SK-StPO-Äog«// Vor § 133, 120; Schrolh NJW 1990 29; vgl. LR-Gollwilzer Vor § 213, 23 ff; gegen die Strafzumessungslösung etwa Schef/ler Die überlange Dauer von Strafverfahren 201 ff; JZ 1992 134. BGH NJW 2003 2759. Weitgehend h. M, etwa BGHSt 32 345; 37 10; BGH NJW 1990 56, 1999 1198; StV 1990 17; 2000 57; vgl. LR-Rieß Einl. G 40; LR-Gollwilzer Vor § 213, 23 ff; zur Problematik eines solchen „Strafmilderungsgrundes" I. Roxin 183 ff mit weit. Nachw. Weigend StV 2000 388, ferner zum Sonderfall des Verhältnisses zwischen Kompensation und Verschlechterungsverbot BGH NJW 2000 748 mit Anm. Maiwald NStZ 2000 389. BVerfG NJW 2003 2225. Vgl. etwa BVerfGE 92 277, 326; BVerfG NJW 2003 2225. BGHSt. 27 274 = JR 1978 246 mit krit. Anm. Peters; BGH NStZ 1883 135; 1987 323; IntKomm-

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nicht überzeugend, da die Anrechnung eines bereits erlittenen verfahrensrechtlichen Nachteils auf eine an sich den Strafrahmen beachtende schuldangemessene Strafe auch dann noch die vom Gesetzgeber mit der Mindeststrafe gezogene Bewertung respektiert, wenn sie allein wegen dieses Ausgleichs zu einer darunter liegenden Strafe führt 5 2 1 . Die gebotene angemessene Kompensation aller erlittenen Nachteile kann neben der Berücksichtigung bei der Sanktion, wie Herabsetzung der Strafe 522 , Strafaussetzung zur Bewährung 523 oder Absehen von Strafe auch die Einstellung nach §§ 153 ff StPO rechtfertigen 524 . Ob bei einer wegen schädlicher Neigungen erforderlichen Jugendstrafe deren Erziehungszweck die strafmildernde Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer begrenzt, erscheint fraglich 525 . Nur bei einer verfahrensrechtlich nicht mehr auf anderem Wege ausgleichbaren 8 5 b irreparablen schweren rechtsstaatswidrigen Benachteiligung durch eine von staatlichen Organen zu vertretende schwerwiegende Verfahrensverzögerung wird auch der Abbruch des Strafverfahrens durch dessen Einstellung von Verfassungs wegen als zulässig und geboten angesehen 526. Der BGH nimmt in extremen Ausnahmefällen jetzt auch ein Verfahrenshindernis527 an; im übrigen hält er an der vorherrschenden Meinung fest, die bei den durch Kompensation noch ausgleichbaren Fälle der verzögerlichen Behandlung ein Verfahrenshindernis verneint 528 . Die einstellende Entscheidung muß Grund und Ausmaß der Verzögerung feststellen und neben einer Prognose des weiteren Verfahrensverlaufs auch begründen, warum jede Weiterführung des Verfahrens unvertretbar wäre. Dazu gehören in der Regel auch die nach dem Verfahrensstand möglichen Feststellungen zum Tatgeschehen. Ob daneben auch Feststellungen zum Schuldumfang erforderlich sind, ist strittig 529. Aus der Sicht der Menschenrechtskonventionen kommt es für den innerstaatlichen Ausgleich einer Konventionsverletzung durch überlange Verfahrensdauer

EMRK-MiehslerlVogler 329; Kühne EuGRZ 1983 383; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 120; i/Isomer FS Faller 383. Vgl. auch LR-Rieß Einl. G 40, § 206a StPO 54 ff. Ob bei einer Jugendstrafe die für die Erziehung erforderliche Dauer der Jugendstrafe nicht unterschritten werden darf, wie BGH StV 2003 388 mit krit. Anm. " IntKommEMRK- Vogler 385; vgl. OVG Münster NJW 1989 2209 (Einlieferungsersuchen); ferner

BGHSt. 34 352 (Tndizielle Feststellung einer Straftat, auf die sich die Auslieferung nicht erstreckt); vgl. auch SK-StPO -Paeffgen 180. 7111 BVerwG NJW 1988 660. 702 OEG Karlsruhe Justiz 1989 66 unter Hinweis auf BGHSt. 24 209. 71,3 EGMR 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 422; IntKommEMRK- Vogler 397. 7114 IntKommEMRK-Vogler 415; vgl. BVerfG (Kammer) NJW 1988 1715. 71,5 IntKommEMRK- Vogler 424; vgl. Rdn. 146 ff mit weit. Nachw. ™ Vgl. OLG Zweibrücken StV 1991 270; dazu Stree JR 1991 477; Neubacher GA 2004 402, 414 ff und Rdn. 148.

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nachprüfen muß; meist wird sich diese Frage dadurch lösen, daß der Angeklagte die frühere Tat einräumt, wenn ihn das Gericht in der Hauptverhandlung dazu hört. Strittig ist, ob es mit der Unschuldsvermutung vereinbar ist, wenn das Gericht bei der Bestimmung der Rechtsfolgen, andere, nicht oder noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftaten mit heranzieht 707 . c) An den Tatverdacht anknüpfende Strafverfolgungsmaßnahmen werden durch die Unschuldsvermutung nicht ausgeschlossen. D a zu ihrer Widerlegung ein gesetzlich geregeltes Verfahren erforderlich ist, setzt dies zwingend voraus, daß dieses bei Verdacht einer Straftat eingeleitet wird, um Schuld oder Unschuld zu klären. Art. 5 Abs. 1 Buchst, c, Abs. 3 M R K , Art. 9 Abs. 3 IPBPR bestätigen dies ausdrücklich durch die Zulassung der Untersuchungshaft bei Tatverdacht 708 , des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr 7 0 9 und der Forderung nach Haftentlassung gegen Sicherheitsleistung 710 . Auch der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO ist in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts 711 mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Sie steht allgemein auf Verdacht gegründeten Maßnahmen nicht entgegen, mit denen der Sachverhalt aufgeklärt oder die Durchführung des Strafverfahrens gesichert werden soll. Der Beschuldigte hat die damit verbundenen Eingriffe in seine Rechte zu dulden, wenn der Grad des Tatverdachts gegen ihn die dafür gesetzlich vorausgesetzte Schwelle überschreitet 712 . Es ist zulässig, wenn bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Anordnung oder Dauer eine Relation zu der voraussichtlich im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe hergestellt 713 oder geprüft wird, ob ihre Anordnung auch dann noch vertretbar ist, wenn sich nachträglich ergibt, daß sie einen Unschuldigen getroffen hat 714 .

124

Ein allgemeines Maßprinzip, das bei zulässigen Strafverfolgungsmaßnahmen zusätzlieh zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinzutritt, ist die Unschuldsvermutung auch sonst nicht 715 . Sie setzt nicht voraus, daß zwischen ihr und dem Grad des jeweiligen Tatverdachtes ein reziprokes Verhältnis besteht; sie wirkt zugunsten jedes Beschuldigten uneingeschränkt und unabhängig von der Stärke des Verdachts 716 .

125

4. Zeitlicher Anwendungsbereich im Strafverfahren a) Als Grundregel für das Verhalten der Staatsorgane im Strafverfahren ist die Unschuldsvermutung während dessen ganzer Dauer zu beachten, auch schon im Ermittlungsverfahren vor der förmlichen Anklageerhebung 717 . Angeklagter ist auch hier 718 nicht im rechtstechnischen Sinn des jeweiligen nationalen Rechts (vgl. § 157 StPO), sondern als Beschuldigter zu verstehen 719 . Die Unschuldsvermutung erlangt bereits von dem Zeitpunkt an verfahrensrechtliche Bedeutung, an dem sich die Ermittlungen wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung auf eine bestimmte Person als Beschuldigter konzentriert haben. Hinsichtlich ihrer Schutzwirkung ist zu differenzieren: Sie steht selbst7117

Vgl. dazu Rdn. 157 ff. H . M , etwa KK-Boujong 5 § 112, 8; Meyer-Goßner47 14. ™ KK-Boujong 5 § 112a, 3; Baumann JZ 1969 134. 710 Vgl. Art. 5 MRK Rdn. 64 ff; LR-Iiiiger § 116a StPO, 3; Meyer FS Tröndle 65. 711 BVerfGE 19 350; vgl. LR-Hilger § 112 StPO, 52; Meyer FS Tröndle 65. 712 Guradze 26; FroweinlPeukerl 170; IntKommEMRK- Vogler 427; 431. 713 FroweinlPeukert 170; IntKommEMRK- Vogler 430. 714 Hierauf stellen ab u.a. Frister Jura 1988 360; 7118

(357)

715 716 717

718 715

Haberslroh NStZ 1984 290; Krey JA 1983 237; ähnlich auch \.R-Riiji Einl. 1, 77; dazu auch IntKommEMRK- Vogler 429 ff mit weit. Nachw. Meyer FS Tröndle 67. IntKommEMRK- Vogler 428 ff. IntKommEMRK- Vogler 391 ff; Nowak 34; Ulsamer FS Zeidler 1806. Vgl. Rdn. 38 ff. Fincke ZStW 95 (1983) 918 ff; Ulsamer FS Zeidler 1806; SK-StPO-ftje/few 184. Zum Beginn der Beschuldigteneigenschaft vgl. LR-Rieß § 163a StPO 11 ff; vgl. fernerauch Rdn. 121, 124.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

verständlich den Ermittlungen zur Klärung des Verdachtes einer Straftat nicht entgegen und schließt nicht aus, daß die Strafverfolgungsorgane den Beschuldigten als Verdächtigen, wohl aber, daß sie ihn bereits vor der rechtskräftig seine Schuld feststellenden Entscheidung als Schuldigen behandeln 7 2 0 . Nur Eingriffe, deren Zweck nicht die Klärung des bestehenden Verdachts, sondern die vorgezogene Ahndung einer vermuteten, aber noch nicht erwiesenen Schuld ist, würden gegen sie verstoßen 721 . Die Strafverfolgungsorgane sind durch die Unschuldsvermutung nicht gehindert, ihre Maßnahmen auf der Grundlage des jeweils vom Gesetz geforderten Verdachtsgrades zu treffen, die auch den Beschuldigten persönlich zur Duldung bestimmter Maßnahmen verpflichten können, wie etwa zur Teilnahme an einer Gegenüberstellung oder der Zwang, sich untersuchen zu lassen oder Blutentnahmen und ähnliche Eingriffe zu dulden 722 . Die strafbewehrte Verpflichtung, einer Behörde Unterlagen vorzulegen, kann die Unschuldsvermutung dann verletzen, wenn damit nicht ein legitimer Verwaltungszweck verfolgt wird sondern die Behörde damit nur erzwingen will, daß ihr der Betroffene dadurch das ihr fehlende Beweismaterial für die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn verschafft 723 . 127

Die E K M R hatte zunächst Art. 6 Abs. 2 M R K nur als Verhaltensregel für das Verfahren vor dem erkennenden Gericht angewandt, denn erst nach Eröffnung des gerichtlichen Hauptverfahrens könne beurteilt werden, ob der Angeklagte ein faires Verfahren hatte 724 . Der Beschränkung auf diesen Hauptanwendungsfall ist aber nur insoweit zuzustimmen, als sich Verhaltenspflichten für ein Staatsorgan immer nur für die Dauer seiner Befaßtheit ergeben können und die besonderen gerichtsspezifischen Inhalte der Unschuldsvermutung, vor allem die daraus abzuleitenden Regeln für Verfahrensgestaltung, Beweislast und Entscheidungsfindung nur für das gerichtliche Erkenntnisverfahren gelten. Soweit aber der Unschuldsvermutung darüber hinaus Regeln für die Grundeinstellung der Staatsorgane gegenüber einer in ein Strafverfahren verstrickten Person entnommen werden, fehlt für die Beschränkung auf das gerichtliche Erkenntnisverfahren jeder innere Grund.

128

b) Bis zur abschließenden Entscheidung der Schuldfrage gilt die Unschuldsvermutung. Gerichtsintern hindert sie die Verurteilung zu Strafen nicht, wenn das erkennende Gericht das Erkenntnisverfahren soweit durchgeführt hat, daß ihm ein von seiner vollen Überzeugung getragener Schuldspruch möglich ist 725 . Gleiches gilt für die bloße Feststellung der Schuld in den Gründen einer abschließenden Entscheidung, sofern dieser Feststellung ebenfalls ein Verfahren vorausgegangen ist, in dem der Angeklagte ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten hatte und in dem das Gericht die Schuld des Angeklagten für voll erwiesen hielt. Das Gericht muß also bis zur „Schuldspruchreife" verhandelt haben 726 . Welche Verfahrensvorgänge dafür nötig sind, hängt vom anzuwen720

721

722 725

724

EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 422; vgl. FroweinlFeukerl 162 (Bindung aller Staatsorgane). BVerfGE 35 320; IntKommEMRK- Vogler 428; Ulsamer FS Zeidler 1806; vgl. Meyer FS Tröndle 68 (gegen Umdeutung eines strafprozessualen Eingriffs in eine Strafe). Villiger HdB 499. Vgl. E G M R 25.2.1993 Funke/F (ÖJZ 1993 532), wo dies aber offen gelassen wurde, da der E G M R in der Bestrafung der NichtVorlage der von der Zollbehörde angeforderten Bankunterlagen bereits einen Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens sah. Vgl. FnmeinlFenken 157; IntKommEMRK- Vogler 390 mit Nachw.

725

726

EKMR bei Strasser EuGRZ 1988 381; Meyer-Goßner41 12; vgl. auch nachf. Fußn.; ferner BVerfG NStZ 1988 21. Das BVerfG fordert mit dieser Formel, daß das Gericht auf Grund des Verfahrens die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt haben muß, bevor es eine Schuldfeststellung treffen darf (vgl. etwa BVerfGE 74 358, 372 ff; 82 106, 117; NStZ 1991 93; 1992 290; 1993 238); K. Meyer FS Tröndle 69; Kühl NJW 1984 1264; SK-StPO-Äoga// Vor § 134, 76 mit weit. Nachw. a.Ä Paulus NStZ 1990 600; Sickenberg 559.

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denden Verfahrensrecht und von den Umständen des Einzelfalles ab. Hierauf abzustellen ist schon deshalb notwendig, weil ein förmlicher Schuldspruch im Tenor der Entscheidung gar nicht ergehen k a n n , wenn diese nicht mit einer Verurteilung wegen der festgestellten Straftat endet, so wenn eine anderweitige Entscheidung ergeht oder wenn die zur Überzeugung des Gerichts feststehende Straftat nur ein Element einer anderen Entscheidung ist, wie etwa bei Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung oder der Ablehnung einer bedingten Haftentlassung wegen einer anderen Straftat 7 2 7 . Bei Anfechtung der instanzabschließenden Entscheidung gilt die Unschuldsvermutung auch f ü r die nächste Instanz. Die von ihr aufgestellte Fiktion dauert verfahrensextern bis zur Rechtskraft der gerichtlichen Verurteilung728, wobei die Unanfechtbarkeit des Schuldspruchs maßgebend ist 729 . O b sie die Vollstreckung vor Eintritt der Rechtskraft zuläßt, erscheint fraglich 7 3 0 ; die in einigen Staaten übliche Ü b e r f ü h r u n g des Verurteilten in den Strafvollzug trotz Anfechtung des verurteilenden Erkenntnisses wird aber vom E G M R f ü r zulässig gehalten 7 3 1 . K o m m t es zu keiner Verurteilung, weil das Verfahren durch Freispruch oder Einstellung endet, wirkt die Unschuldsvermutung in die Nebenentscheidungen hinein. Sie schließt es aus, dem Angeklagten, dessen Schuld nicht erwiesen ist, wegen der weiterbestehenden Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung oder eines fortbestehenden Verdachts nachteilige Rechtsfolgen aufzuerlegen, sofern diese wegen ihres Zusammenhanges mit d e m Strafverfahren sozial ähnlich stigmatisierend wirken wie das sozialethische Unwerturteil der eigentlichen Strafsanktion. Wo die Grenzen zu ziehen und welche Nebenentscheidungen als „strafähnliche Sanktionen" anzusehen sind, ist strittig 732 . Ein Recht nach eingestellten Ermittlungen entschädigt zu werden, kann aus der Unschuldsvermutung nicht hergeleitet werden 7 3 3 .

129

c) Mit Abschluß des Erkenntnisverfahrens über die angeklagte Tat endet die Verfahrensbezogene Schutzfunktion 7 3 4 . D a sie mit Unanfechtbarkeit des Schuldspruchs endgültig widerlegt ist 735 , hat sie in Bezug auf die d o r t rechtsverbindlich festgestellte Tat im d a r a n sich anschließenden Verfahren keine Bedeutung mehr. Sie gilt deshalb nicht mehr bei der Vollstreckung des verurteilenden Erkenntnisses und auch nicht, soweit auf dessen G r u n d lage spätere Entscheidungen ergehen, wie etwa die Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung oder über die Aussetzung eines Strafrestes oder die Entscheidung über eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 275a StGB. I m Wiederaufnahmeverfahren bleibt der Antragsteller zunächst bis zur Zulassung der Wiederaufnahme Verurteilter 736 . Erst danach gilt die Unschuldsvermutung auch wieder f ü r ihn.

130

727

728

729

Vgl. Rdn. 156 ff. Nur für diejenigen, die die hier abgelehnte Ansicht vertreten, daß wegen der Exklusivität der Schuldfeststellung (Rdn. 123 ff) die Unschuldsvermutung nur in dem Verfahren widerlegt werden kann, das die Ahndung dieser Tat selbst zum Gegenstand hat, macht das Erfordernis einer rechtsförmlichen Schuldfeststellung Sinn. E G M R 25. 3.1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475); EKMR StV 1986 281; Meyer-Goßner47 15; Laubenthal GA 1989 20; Partsch 161; Nowak 34; vgl. auch BVerfGE 22 265; 35 232; 74 371; nach Guradze 25 verlangt dies der Text nicht zwingend; ähnlich Sickenberg 558; vgl. auch IntKommEMRK- Vogler 395: „äußerster Zeitpunkt, bis zu dem Unschuldsvermutung noch gelten kann". Stuckenberg AK- vgl. Rdn. 105; 123.

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730 7,1

732

733 734 735 736

Vgl. die Bedenken bei IntKommEMRK- Vogler 432. Zu der bei Art. 5 Abs. 1 Buchst, a M R K vom EGMR gebilligten Praxis der Überführung in den Strafvollzug nach der ersten Verurteilung vgl. Art. 5 MRK Rdn. 44; lisser 287. Vgl. etwa BVerfGE 19 347 (gleiche Wirkung wie Strafe); Κ Meyer ES Tröndle 69; Frisier (Eingriff, der nur bei erwiesener Schuld mit Gefahr für Normakzeptanz gerechtfertigt werden kann); Kühl Unschuldsvermutung 79 (gleichwertige sozialethische Mißbilligung); vgl. auch Rdn. 156 IT. Meyer-Ladevig 86. IntKommEMRK- Vogler 395. Vgl. Rdn. 119; 139. TntKommEMRK-Vogler 396; vgl. Laubenthal GA 1989 20.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

5. Amtliche Verlautbarungen über das Strafverfahren. Alle Äußerungen, die Behörden oder andere öffentliche Stellen über ein anhängiges oder einzuleitendes Strafverfahren abgeben, müssen als Außenwirkungen dieses Verfahrens der Unschuldsvermutung Rechnung tragen 737 . Dies erfordert Zurückhaltung bei der Wortwahl und Vermeidung jeder vorzeitigen Schuldzuweisung und Verzicht auf jede sachlich nicht gebotene Bloßstellung des Beschuldigten 738 . Eine vom Äußerungszweck her nicht gebotene Identifizierung des Beschuldigten hat zu unterbleiben, sofern dieser im Zusammenhang mit dem Tatvorwurf nicht ohnehin in der Öffentlichkeit bereits bekannt ist. Etwas anderes wird angenommen, wenn es sich um ein Ereignis oder um eine Person der Zeitgeschichte handelt. In solchen Fällen kann es dann aber erforderlich sein, besonders hervorzuheben, daß nur ein Verdacht vorliegt 739 . Die Pflicht zur Beachtung jeder nach den Umständen möglichen Rücksichtnahme auf den Betroffenen besteht bei allen von einer staatlichen Stelle ausgehenden Erklärungen über ein anhängiges Strafverfahren, ganz gleich, ob mit einer solchen Verlautbarung die Strafverfolgung gefördert oder einzelne Personen oder die Öffentlichkeit über das Verfahren unterrichtet werden sollen oder ob aus einem anderen Anlaß dazu Stellung genommen wird 740 . Bei Fahndungsmaßnahmen schließt die Unschuldsvermutung bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Einschaltung der Öffentlichkeit unter Benennung des Täters nicht aus; notwendig ist nur, daß hierbei deutlich gemacht wird, daß die Maßnahme aufgrund eines noch nicht erhärteten Verdachtes getroffen wird. Es ist alles zu vermeiden, was den Eindruck erwecken könnte, daß die Schuld bereits feststeht 741 . Gleiches gilt für den Inhalt sonstiger behördlicher Verlautbarungen, die Presse und Öffentlichkeit oder auch das Parlament über Einleitung oder Stand eines Strafverfahrens unterrichten sollen 742 .

6. Einzelfragen des Strafverfahrens 132

a) Als Verhaltensregel für das Gericht soll die Unschuldsvermutung den in ein Strafverfahren Verstrickten vor Voreingenommenheit der staatlichen Organe schützen. Grundsätzlich müssen alle beteiligten staatlichen Stellen 743 während des ganzen Strafverfahrens davon ausgehen, daß unbeschadet eines bestehenden Verdachts seine Schuld noch nicht erwiesen ist und ihm erst in einem fairen Verfahren vom Staat nachgewiesen werden muß. Vor allem die Richter müssen für jedes Verfahrensergebnis offen bleiben; sie dürfen sich bei der Führung der Verhandlung nicht bereits von der festen Überzeugung von der Schuld des Angeklagten leiten lassen 744 . Sie dürfen sein Prozeßverhalten, wie etwa seine Befugnis zu schweigen 745 , nicht unter dem Blickwinkel präsumptiver oder bereits erwiesener Schuld bewerten. Ihr Verhalten gegenüber dem Angeklagten, aber

737

Vgl. Rdn. 106; 113. * Zur Abwägungspflicht etwa Esser 101; dazu GrabenKarter § 24 Rdn. 82 (schwierige Gratwanderung). 739 Vgl. Esser 101; Marxen GA 1980 365; SK-StPOPaeffgen 201. 7411 Vgl. E G M R 10.2.1995 Allenet de Ribemont/F (ÖJZ 1995 509); ferner zur Frage der Persönlichkeitsverletzung etwa BGH NJW 1994 1950; OLG Frankfurt NJW 1980 597; OLG Hamburg NJWRR 1994 1176; OLG Hamm NJW 2000 1279; OLG München NJW-RR 1996 1493: OVG Koblenz NJW 1991 2659; Roxin NStZ 1991 153; ferner auch nachf. Fußnoten. 73

741

IntKommEMRK/Vogler 409; Ulsamer FS Zeidler 1807; Schubarth 11 ff. Zur grundsätzlichen Verein-

742

743

744 745

barkeit auf Verdacht gestützter Maßnahmen der Strafverfolgung vgl. Rdn. 124. Vgl. EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 357 und weitere von den EKMR entschiedene Fälle bei Erowein!Peukert 163 f; IntKommEMRK- Vogler 410; ferner etwa Bornkamm NStZ 1982 102; Kühl ZStW 100 (1988) 411; NJW 1988 3234; Lampe NJW 1973 217; Meyer-Goßner47 13; Roxin NStZ 1991 153; auch BVerfGE 71 206; OLG Koblenz StV 1987 2682; NJW 1991 2659. Vgl. IntKommEMRK- Vogler 393 (Pflicht zur Objektivität Reflexwirkung der Unschuldsvermutung). E K M R bei IntKommEMRK- Vogler 405. IntKommEMRK- Vogler 412; vgl. unten Rdn. 248 fif.

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auch bei Befragung der Beweispersonen und bei den zu treffenden Verfahrensentscheidungen, muß während des ganzen Verfahrens davon bestimmt sein, daß die Unschuldsvermutung noch als unwiderlegt fortbesteht. b) Vor Schuldzuweisungen durch verfahrensbeteiligte Dritte schützt die UnschuldsVermutung den Angeklagten nicht. Der Vorsitzende muß gegen schuldpräjudizierende Äußerungen anderer Verfahrensbeteiligter dann einschreiten, wenn deren Duldung den Eindruck erwecken könnte, das Gericht teile sie und sei gleichfalls schon von der Schuld überzeugt. In solchen Fällen genügt jedoch, wenn das Gericht bzw. dessen Vorsitzender durch sein Verhalten, gegebenenfalls auch durch eine klarstellende Äußerung, deutlich zu erkennen gibt, daß seine Unvoreingenommenheit dadurch nicht beeinträchtigt wird 746 .

133

c) Als Entscheidungsregel für das Strafverfahren verdeutlicht die Unschuldsvermutung lediglich das allgemein geltende rechtsstaatliche Prinzip, daß der in jeder Bestrafung liegende Grundrechtseingriff erst zulässig wird, wenn die Eingriffsvoraussetzungen, nämlich die schuldhafte Begehung einer Straftat, in einem ordnungsgemäßen Verfahren zur Überzeugung des Gerichts voll erwiesen sind 747 . Ein verurteilendes Erkenntnis darf nicht auf einen nur wahrscheinlichen Vorwurf, auf einen nicht zur Überzeugung des Gerichts im Verfahren voll erwiesenen Sachverhalt gestützt werden. Verdachtsstrafen sind unzulässig.

134

Mit dem Schutzzweck der Unschuldsvermutung ist vereinbar, wenn die Richter, wie in § 261 StPO vorgesehen, bei der abschließenden Würdigung der im gesetzlichen Verfahren erhobenen Beweise frei sind, sofern ihr Schuldspruch auf einer subjektiven Überzeugung von der Schuld des Angeklagten beruht, die von objektiv, rational nachvollziehbaren Erwägungen getragen wird 748 . Eine Entscheidung, die sich auf eine solche Überzeugung gründet, widerlegt die Unschuldsvermutung auch dann, wenn andere weiterhin zweifeln würden. Nur wenn sich diese Überzeugung willkürlich von jeder sachlichen Würdigung des Beweisergebnisses gelöst hat und von „grob unfairen" oder sachlich durch nichts zu rechtfertigenden irrationalen Schlußfolgerungen bestimmt wird, wäre sie zur Widerlegung der Unschuldsvermutung ungeeignet, da dies dann nicht mehr als das Ergebnis des vorausgesetzten gesetzlichen Verfahrens angesehen werden könnte 749 .

135

d) Auf welche Weise der Schuldnachweis zu führen ist, überlassen die Konventionen dem nationalen Recht 750 . Aus der Unschuldsvermutung lassen sich keine bestimmten Regeln dafür herleiten, wie die zu ihrer Widerlegung notwendige Überzeugung des Richters von der Schuld des Angeklagten zu gewinnen ist, sie darf nur nicht in einem Verfahren gewonnen worden sein, das in seiner Gesamtheit nicht mehr als ein gesetzliches Verfahren zur unvoreingenommenen Klärung des Schuldvorwurfes anzusehen ist. Das Gericht darf sein Urteil auf ein glaubhaftes Geständnis des Angeklagten stützen. Andererseits darf es ein befugtes Verfahrensverhalten, wie etwa sein Schweigen, nicht bereits als Beweis seiner Schuld ansehen 751 ; eine nach nationalem Recht mögliche

136

746

E K M R bei IntKommEMRK- Vogler 406. Vgl. l'rister 89 ff; Sickenberg ZStW 111 (1999) 422, 451, 453 ff mit weit. Nachw. 748 Wegen der Einzelheiten vgl. Ui-Golhvilzer § 261 StPO, 64 ff. Ob auch nationale Verfahren mit stärkerer Bindung des Gerichts an Beweisregeln mit der Unschuldsvermutung vereinbar wären, braucht nicht erörtert zu werden. 745 EKMR bei IntKommEMRK- Vogler 412. Vgl. Nowak 35, wonach zwar der Zusatz, daß die Schuld „beyond reasonable doubt" erwiesen sein müsse, 747

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nicht in Art. 14 Abs. 2 IPBPR aufgenommen wurde, daß aber dieser Gedanke als allgemeiner Rechtsgrundsatz anwendbar bleibt. 7 »> EGMR 7.18.1988 Salabiaku/F (ÖJZ 1989 347); dazu FroweiniFenken 158; E K M R ÖJZ 1990 216 (Kfz-Halter); Nowak 35; Peukeri EuGRZ 1980 259; auch IntKommEMRK- Vogler 393 (sowohl Amtsprozeß als auch Parteiprozeß mit ihr vereinbar); Rdn. 112. 751 Vgl. EGMR 8.2.1996 Murray/GB (EuGRZ 1996 587), dazu Esser 524 ff; vgl. Rdn. 248 ff.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Berücksichtigung des Schweigens bei der Beweiswürdigung scheint der E G M R damit aber für vereinbar zu halten 752 . 137

Dem Angeklagten darf nicht angesonnen werden, daß er seine Unschuld nachweist. Als Beweislastregel verlangt die Unschuldsvermutung grundsätzlich, daß die staatlichen Organe den vollen Nachweis der die Schuld begründenden Tatsachen entsprechend den Erfordernissen des nationalen Rechts erbringen. Mißlingt er ihnen, ist sie nicht widerlegt, die Voraussetzungen für die Verhängung einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion sind dann nicht gegeben. Der Unschuldsvermutung entspricht insoweit der Grundsatz, daß im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu entscheiden ist 753 .

138

e) Gesetzliche Schuldvermutungen, nach denen in Umkehr der Beweislast bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Schuld eines Angeklagten unwiderlegbar als gegeben anzusehen ist oder dem Angeklagten die Beweislast für ihre Widerlegung aufgebürdet wird, widersprechen grundsätzlich dem Verbot jeglicher Schuldantizipation 754 . Als zulässig wird aber angesehen, daß das nationale Recht in bestimmten Ausnahmefällen an erwiesene Tatsachen bestimmte Vermutungen knüpft, sofern dem Angeklagten nicht verwehrt ist, seinerseits die daran anknüpfende Vermutung seiner Schuld zu widerlegen 755 . Die Unschuldsvermutung ist nicht verletzt, wenn der nationale Gesetzgeber die Strafbarkeit in abstrakten Gefährdungstatbeständen vorverlegt 756 oder sich mit dem Nachweis objektiver Tatbestandsmerkmale begnügt 757 . Bei bestimmten Rechtsverletzungen darf dem Angeklagten im materiellen Strafrecht das bereits bei Tatbegehung von ihm in Rechnung zu stellende Risiko aufgebürdet werden, daß sein Verhalten bei Nichterweislichkeit eines Umstands strafbar ist, wie etwa bei der üblen Nachrede nach § 286 StGB, wo der Angeklagte, dem die ehrverletzende Äußerung nachgewiesen ist, das Risiko des Wahrheitsbeweises zu tragen hat 758 . Im übrigen hindert die Unzulässigkeit rechtlich bindender Schuldvermutungen das Gericht nicht, aus festgestellten Tatsachen dem Angeklagten nachteilige tatsächliche Schlüsse zu ziehen oder eine für ihn nachteilige Prognose zu stellen759.

139

f) Die vorherige ordnungsgemäße Durchführung des vom nationalen Recht vorgeschriebenen Verfahrens ist Voraussetzung für den gesetzlichen Nachweis der Schuld als Grundlage einer Bestrafung. Einzelne Verfahrensfehler, auch wenn sie in irgendeiner Hinsicht die Verteidigung beeinträchtigt haben oder einem Einzelaspekt der Forderung nach einem fairen Verfahren nicht genügen, bedeuten noch keine Entscheidungsfindung unter Verletzung der Unschuldsvermutung 7 6 0 . Eine andere Auslegung würde diesen 752

753

754

755

Vgl. Fußn. 256; ferner E G M R 17.12.1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32); Kühne EuGRZ 1996 572. Der Grundsatz in dubio pro reo als Beweislastregel ist in der Unschuldsvermutung mit enthalten, sie geht aber darüber hinaus, vgl. IntKommEMRKVogler 418; Schuharth 3 je mit Nachw.; SK-StPOPaeffgen 183; vgl. Esser 524; 624; anders Meyer FS Tröndle 67 (jetzt nur noch Entscheidungsregel des sachlichen Rechts). IntKommEMRK- Vogler 414; vgl. Stuckenberg 552 ff; Meyer-Ladewig 85; SK-StPO-Paeffgen 181; 183; 190. E K M R bei Slrasser/Weher EuGRZ 1987 359 (Vermutung, daß Gewahrsamsinhaber für Zollbetrug verantwortlich); ferner vorst. Fußn.; l-'roweinlPeukert 158; Grabemvarter § 24 Rdn. 79; Meyer-Ladewig 85; Villiger HdB 499; im deutschen materiellen Strafrecht sind Schuldvermutungen weitgehend entfallen, vgl. IntKommEMRK- Vogler 414; Kühl ZStW

100 (1988) 629. Nach BVerfG NStZ 1987 118; 1988 21; NJW 1994 337 widerstreitet nicht jede Form von Schuldvermutungen rechtsstaatlichen Grundsätzen. 7,6 Vgl. SK-StPO-Paeffgen 190 (Besitz von Betäubungsmitteln). 757 E G M R 7.10.1988 Salabiaku/F (ÖJZ 1989 347); 25.9.1992 Pham Hoang/F (EuGRZ 1992 472); EKMR ÖJZ 1990 216; zur „Halterhaftung" EGMR 8.4.2004 Weh/Ö (ÖJZ 2004 853); EKMR ÖJZ 1990 216; iToweinlPeukert 158 ff; zur Problematik Lsser 742 ff; vgl. auch BVerfGE 80 109 (nichtstrafrechtliche Regelung); ferner nachf. Fußn. 7,8 E K M R IntKommEMRK- Vogler 416; vgl. auch Guradze 26; Kühl ZStW 100 (1988) 629; Schuhart 7 (Unschuldsvermutung wirkt zugunsten des Opfers); a. A l-rister 64; 83. ™ E K M R IntKommEMRK- Vogler 415. 760 Vgl. E G M R 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); Meyer FS Tröndle 66.

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Grundsatz zu einer umfassenden Garantie der strikten Einhaltung des gesamten jeweiligen nationalen Verfahrensrechts ausdehnen, was weder von den Konventionen gewollt ist noch dem innerstaatlichen Verfassungsrecht entnommen werden kann. U m das von der Unschuldsvermutung vorausgesetzte gesetzliche Verfahren in Frage zu stellen, ist mehr erforderlich als einzelne Verfahrensverstöße, wie etwa Verstöße gegen die Aufklärungspflicht oder die Verwendung eines unzulässigen Beweismittels 761 . N u r wenn das Verfahren insgesamt in einer Form geführt wurde, die erkennen läßt, daß das Gericht voreingenommen von Anfang an die Schuld des Angeklagten unterstellt hat, ohne sich um eine objektive Sachaufklärung auch nur zu bemühen 762 , wäre sein Ergebnis nicht geeignet, die Unschuldsvermutung zu widerlegen. Sichere Leitlinien für die Grenzen sind den Entscheidungen der E K M R und des E G M R kaum zu entnehmen 7 6 3 , zumal diese die Unschuldsvermutung zwar als Verfahrensprinzip behandeln, die E K M R früher aber verschiedentlich darauf abgestellt hat, ob Verstöße gegen die Unschuldsvermutung bei der Beweiswürdigung im Urteil zum Ausdruck kommen 7 6 4 . Erst wenn das Gericht auf Grund des jeweils dafür erforderlichen gesetzlichen Verfahrens765 die Schuld des Angeklagten für erwiesen hält, darf es in der abschließenden Entscheidung aussprechen, daß der Angeklagte einer Straftat schuldig ist und daran ihm nachteilige Rechtsfolgen knüpfen, die nicht notwendig in der Verurteilung zu einer Strafe bestehen müssen. Soweit die verhängten Rechtsfolgen Strafcharakter haben, müssen auch ihre dem Angeklagten zuzurechnenden Voraussetzungen sicher festgestellt sein. Es wäre mit der Unschuldsvermutung unvereinbar, sie auf einen bloßen Verdacht eines schuldhaften Handelns des Angeklagten zu gründen 7 6 6 . Das Bundesverfassungsgericht fordert die Durchführung des Strafverfahrens bis zur Schuldspruchreife767, die grundsätzlich erst nach dem letzten Wort eintritt, da bis dahin der Angeklagte noch die Möglichkeit hat, durch sein Vorbringen auf die Meinungsbildung des Gerichts einzuwirken und eine bereits früher gewonnene Meinung wieder zu erschüttern.

140

g) Einstellung. Aus Art. 6 Abs. 2 M R K , Art. 14 Abs. 2 IPBPR läßt sich kein An- 141 spruch des Angeklagten herleiten, daß das wegen des Verdachts einer Straftat eingeleitete Verfahren auf die für ihn günstigste Weise erledigt, die Unschuldsvermutung also durch Freispruch bekräftigt statt durch eine Einstellung als nur nicht widerlegt behandelt wird 768 . Nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht gilt ohnehin der Grundsatz, daß die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO Vorrang hat vor der nach §§ 153 ff StPO oder wegen eines Verfahrenshindernisses, ein dem Gericht unschwer möglicher (liquider) Freispruch hat Vorrang vor der Einstellung nach § 260 Abs. 3 StPO 769 . 761

So aber wohl IntKommEMRK- Vogler 412. Vgl. IntKommEMRK- Vogler 405; 412; Fenken EuGRZ 1980 260. 763 vgl. Frisier Jura 1988 358; Meyer FS Tröndle 66; vgl. auch SK-StPO-Paeffgen 196 (oft „pragmatische Lösungen"). 764 Dagegen mit Recht IntKommEMRK- Vogler 407; I'artseh 160. 765 Abgesehen davon, daß dieses Verfahren den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 und 3 M R K ; Art. 14 Abs. 1 und 3 IPBPR entsprechen und insbesondere fair sein muß, stellen die Konventionen für den Schuldnachweis keine eigenen Anforderungen auf, sie überlassen es dem nationalen Recht, auf welchem Weg das Gericht seine volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewinnen kann. 76f. vgl. die Forderung nach verfassungskonformer ein762

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767

76S

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engender Auslegung in BGH NStZ 1995 125 (erweiterter Verfall); NJW 1995 1567 (Vermögensstrafe); Weßlau StV 1991 226 je mit weit. Nachw. Etwa BVerfGE 74 358, 372; 82 104, 117; NJW 1990 2741; Bruns StV 1982 19; a.A Kühl NJW 1984 1264; 1988 3329; Kusch NStZ 1987 427; gegen das Abstellen auf Schuldspruchreife aus völlig anderen Gründen auch Paulus NStZ 1990 600. So IntKommEMRK- Vogler 437; ob man innerhalb der Unschuldsvermutung in dieser Weise differenzieren kann, erscheint fraglich, vgl. LR-Rieß § 206a StPO, 69; ferner Kühl Unschuldsvermutung 40 ff; 88 ff. Vgl. LR-Beulke § 153 StPO Rdn. 35 ff; LR-Graalmann-Scheerer § 170 StPO, Rdn. 9, 10; LR-Rieß § 206a StPO, Rdn. 7, 61; LR-Golhvitzer § 260 StPO Rdn. 100.

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Als nicht mit einer Sanktion abschließenden Verfahrensabschluß genügt es für die Einstellung, wenn das Gericht ohne volle Durchführung des Verfahrens feststellt, daß die gesetzlichen Voraussetzungen des jeweiligen Einstellungsgrundes gegeben sind. Ist dabei das M a ß einer etwaigen Schuld mitzubewerten, widerspricht es der Unschuldsvermutung nicht, wenn hypothetisch geprüft wird, ob das Ausmaß der möglicherweise bestehenden Schuld der Einstellung entgegensteht. Wenn, was die Regel ist, das Verfahren noch nicht bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist, darf das einstellende Gericht dann aber nicht in seiner Entscheidung zum Ausdruck bringen, daß es eine Straftat des Beschuldigten auf Grund der bisherigen Beweislage für gegeben hält 770 . Aus seiner Entscheidung muß hervorgehen, daß sie auf der Grundlage einer hypothetischen Bewertung der bestehenden Verdachtslage ergeht und keine endgültige gerichtliche Schuldzuweisung bedeutet 771 . Dies gilt auch, wenn das Ermittlungsverfahren nach § 153 StPO ohne Zustimmung des Angeklagten eingestellt wird 772 . Auch eine Einstellung unter Auflagen wurde als mit der Unschuldsvermutung vereinbar angesehen, wenn der Beschuldigte ihr zugestimmt und damit auch auf eine mündliche Verhandlung zur Klärung der Schuldfrage verzichtet hat 773 . N u r wenn ausnahmsweise das Gericht die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten aufgrund einer mit allen Verfahrensgarantien bis zur Schuldspruchreife (einschließlich letztem Wort) durchgeführten Hauptverhandlung gewonnen haben sollte, könnte es nach allerdings strittiger Ansicht 774 ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung bei der Verfahrenseinstellung die erwiesene Schuld feststellen, wie etwa auch bei einer erst nach Durchführung des Verfahrens beschlossenen Einstellung aufgrund einer Amnestie. Eine solche Feststellung könnte dann ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung auch die Grundlage für eine dem Angeklagten nachteilige Nebenentscheidung mit sanktionsähnlichem Charakter bilden, so die Auferlegung von Verfahrenskosten oder die Ablehnung der Auslagenerstattung 775 . Ein Nachverfahren, das dem Gericht erlauben würde, nach Erledigung des eigentlichen Verfahrens dieses allein wegen Nebenentscheidungen nochmals aufzugreifen und bis zur Schuldspruchreife durchzuführen, sieht die StPO nicht vor 776 . Wird erst nach einem rechtskräftigen Freispruch in einem Folgeverfahren durch Schuldfeststellungen oder durch Bekräftigung des fortbestehenden Verdachts der Freispruch in Frage gestellt, verletzt dies nach Ansicht des E G M R die Unschuldsvermutung 7 7 7 . Nach Einstellung des Steuerstrafverfahrens kann dagegen in einem selbständigen Verfahren die Einziehung der unversteuerten Ware ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung ange-

™ Vgl. EGMR 26.3.1982 Adolf/Ö (EuGRZ 1982 297), dazu FroweinlFenken 167; IntKommEMRKVogler 435; ferner BVerfGE 74 379; BVerfG NJW 1990 2741. EGMR 25.8.1987 Englert/D (NJW 1988 3257); 25.8.1987 Lutz/D (EuGRZ 1987 399), 25.8.1987 Nölkenboekhof/D (EuGRZ 1987 410); kritisch dazu Kühl NJW 1988 3232; Westerdiek EuGRZ 1987 393; dazu ferner FroweinlFeukeri 168; Meyer-Ladewig 86; LiemersdorflMiebach NJW 1980 371, 374 und ablehnend TntKommEMRK- Vogler 442. Vgl. ferner BVerfGE 82 106, 118 mit abw. Meinung Mahren holz 122 ff; BVerfG NJW 1992 1612.

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Vgl. BVerfGE 82 106, 118 (aber Vorrang des Freispruchs); IntKommEMRK- Vogler 436; Sluekenherg 119; 565 krit. SK-StPO-Paeffgen 206 (Zustimmungsbedürftigkeit wünschenswert, von EGMR 26. 3.1982 Adolf/Ö - EuGRZ 1982 297 - aber nicht gefordert); vgl. auch HsserblO.

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EGMR 27.2.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 667); die Frage ist bei § 153a StPO strittig; vgl. dazu Esser 608 ff; SK-StPO-Paeffgen 197 Sickenberg 565 ff, ferner LR-Beulke § 153a, 9, 12, 14, 39 ff je mit weit. Nachw. Vgl. BVerfG MDR 1991 892 (Einstellung nach § 153a StPO ist kein Schuldnachweis); ferner nachfolgende Fußnote. BVerfGE 74 370; NJW 1990 2741; vgl. zur Problematik des Abstellens auf die Schuldspruchreife LRBeulke § 153, 80 mit weit. Nachw.; a. Α (nur bei rechtskräftiger Verurteilung) Kühl'NTW 1984 1265; 1988 3238; Kusch NStZ 1987 427. BVerfG (Kammer) M D R 1991 213; Kühl Unschuldsvermutung 120. EGMR 25.8.1993 Sekanina/Ö (ÖJZ 1993 816); 21.3.2000 Rushiti/Ö (ÖJZ 2001 155); 10.7.2001 Lamanna/Ö (ÖJZ 2001 910); FroweinlPeukert 169; Meyer-Ladewig 86; FUnacek ÖJZ 2001 546, 554.

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ordnet werden, denn in diesem (objektiven) Verfahren ist keine Entscheidung über die Schuld einer bestimmten Person zu treffen 778. h) Kosten und Auslagen. Für die Auferlegung der Auslagen des Strafverfahrens ist inzwischen weitgehend anerkannt, daß bei einem Freispruch der an sich irrelevante Kostenausspruch 7 7 9 bei Verbindung mit einem Ausspruch über eine letztlich noch nicht bewiesene Schuld der Entscheidung einen sanktionsähnlichen Charakter (stigmatisierende Wirkung) verleihen kann und deshalb mit der Unschuldsvermutung unvereinbar ist 780 . Etwas anderes gilt, wenn die Kostenentscheidung nicht an tatbezogene Erwägungen anknüpft, sondern wenn das Kostenrecht in Abweichung vom vorherrschenden Erfolgsprinzip gestattet, einem davon unabhängigen vorwerfbaren Verfahrensverhalten Rechnung zu tragen (vgl. § 467 Abs. 2 StPO: „schuldhaftes Säumnis" oder § 467 Abs. 3 Satz 1 StPO: „Selbstanzeige wegen vorgetäuschter Straftat") 7 8 1 . Bei einer Einstellung des Verfahrens dürfen dem Angeklagten seine notwendigen Auslagen nicht mit der Begründung auferlegt werden, daß er bei Durchführung des Verfahrens „wahrscheinlich" verurteilt worden wäre 782 ; ob die Schuld des Angeklagten geringfügig wäre, hat das Gericht nur in einer hypothetischen Bewertung der Verdachtslage zu entscheiden, durch die die Unschuldsvermutung nicht widerlegt werden kann. Daß der Beschuldigte der Einstellung zugestimmt hat, ersetzt nicht den vollen Schuldnachweis 783 . Gleiches gilt auch bei der Verfahrenseinstellung im Privatklageverfahren nach § 383 Abs. 2 StPO 784 , obwohl die Kostenverteilung damit zu Lasten des Privatklägers geht 785 . Ausgeschlossen wird die Überbürdung aber nur, wenn sie als eine Bestätigung eines noch nicht erwiesenen strafrechtlichen Verschuldens zu werten ist; auf andere Gründe kann sie gestützt werden, so auch darauf, daß nach dem nicht aufklärungsbedürftigen Sachverhalt der Privatbeklagte durch sein gesamtes Verhalten nachvollziehbaren Anlaß zur Klageerhebung gegeben hat 786 . Vor der Übernahme der notwendigen Auslagen des Angeklagten auf die Staatskasse kann das Gericht ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung auch absehen, wenn der Angeklagte nur wegen eines Verfahrenshindernisses nicht verurteilt wird (§ 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO) 787 , er aber nach den bereits getroffenen Feststellungen des Gerichts ohne dessen Vorliegen verurteilt worden wäre. Bleibt die Verurteilung dagegen auch aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen zweifelhaft, ist § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO nicht anwendbar, auch die Unschuldsvermutung würde dann ausschließen, einen nicht geklärten Verdacht zur Grundlage einer für den Angeklagten negativen Entscheidung zu machen 788 . Wird das Verfahren auf Grund einer Ermessensentscheidung ohne Schuldfeststellung eingestellt, kann ein fortbestehender Verdacht die Ablehnung der Überbürdung der notwendigen Auslagen auf die Staatskasse rechtfertigen 789 oder auch, daß 778

785 VerfG Brandenburg N S t Z 1997 93. Vgl. E K M R bei S f / m s e r E u G R Z 1985 628. 780 Vgl. die Nachweise in den vorangehenden Fußnoten, ferner BVerfG N S t Z 1988 84; N J W 1990 2741; SK786 S t P O - P a e j f g e n 203; sowie LR-Hilger § 467 StPO Entstehungsgeschichte u n d Rdn. 1. 781 E t w a O L G Köln StV 1991 116, Schweiz.BGer. E u G R Z 1984 79; LiemersdorflMiebach N J W 1980 787 372, 376; vgl. Villiger H d B 497; ferner SK-StPOPaeffgen 203; LR-Hilger § 467 StPO, R d n . 24 ff, 788 28 fT mit weit. Nachw. 782 789 BVerfG N S t Z 1992 289. 783 BVerfG M D R 1991 891. 784 BVerfGE 74 358, 370 mit Anm. Krehl N J W 1988 3254; BVerfG M D R 1991 213; L G Koblenz StV 1991 117; auch Nierwetberg N J W 1989 1978, vgl. LR-Hilger § 471 StPO R d n . 32 mit weit. Nachw. 779

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Vgl. BVerfG ( K a m m e r ) M D R 1991 214 (wenn bei vernünftiger Betrachtungsweise die Tat als geringfügig bewertet werden kann, m u ß Privatkläger mit Kostenrisiko rechnen). BVerfG M D R 1991 213, wonach im R a h m e n des § 471 Abs. 3 S t P O auch das Vorliegen einer objektiv schwerer wiegenden Verfehlung mit in Betracht gezogen werden k a n n . BVerfG N J W 1992 1612; N S t Z 1993 195; LR-Hilger § 467 StPO R d n . 54 mit weit. Nachw. Vgl. LR-Hilgei § 467 StPO R d n . 53. E G M R 25. 8.1987 Englert/D ( N J W 1988 3257); BVerfG N J W 1990 2741; 2002 1867; VerfG Brandenburg JR 2003 101 (Einstellung nach § 47 Abs. 3 OWiG); Meyer-Gußner47 15.

Walter Gollwitzer

143

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

bei der Einstellung eines Verfahrens wegen einer Ordnungswidrigkeit dem Betroffenen die Auslagen nicht erstattet werden. Die Überbürdung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers auf den nichtverurteilten Angeklagten wird durch die Unschuldsvermutung grundsätzlich ausgeschlossen, da ihr wegen des im Kostenrecht vorherrschenden Erfolgsprinzips ein strafrechtlicher Sanktionscharakter beigemessen wird 790 . 144

Bei der Entscheidung über Erstattungsansprüche des nicht verurteilten Angeklagten wegen seiner verfahrensbedingten Auslagen oder über eine Entschädigung für eine erlittene Strafverfolgungsmaßnahme zwingt die Unschuldsvermutung an sich nicht zum Ersatz dieser Kosten durch die Staatskasse. Es mag zwar im Regelfall einer unverschuldeten Verfahrensverstrickung die letzte Konsequenz eines rechtsstaatlichen Schutzes sein, daß der Staat gehalten ist, jeden Nachteil zu entschädigen, der durch ein Verfahren entstanden ist, das mit keiner Verurteilung endet 791 , zwingend gebieten dies die Konventionsgarantien 792 aber ebensowenig wie die Verfassung 793 . Die Entscheidung, die einen Auslagenersatz im Verhältnis zur Staatskasse ablehnt, ist, anders als die Auferlegung der Verfahrenskosten, als solche keine strafähnliche Sanktion und auch nicht notwendig der Ausdruck eines an strafrechtliche Schuld anknüpfenden sozialethischen Unwerturteils 794 . Es ist zulässig, die Versagung von Ersatzansprüchen an ein prozessuales Verschulden des nicht verurteilten Angeklagten zu knüpfen 7 9 5 .

145

Strittig ist, wieweit dort, wo das Gesetz die Ablehnung der Auslagenerstattung oder die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen in das Ermessen des Gerichts stellt, das Fortbestehen eines Verdachtes oder die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung bei der Ermessensentscheidung mitberücksichtigt werden darf. Mehrere Entscheidungen des E G M R 7 9 6 und BVerfG NJW 1990 2741 sahen in der Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung 7 9 7 . Die Entscheidung, die notwendigen Auslagen nicht zu übernehmen, sei keine Strafe oder eine ihr gleichkommende Maßnahme, die nur nach erbrachtem Schuldnachweis im gesetzlichen Verfahren ergehen dürfte 7 9 8 . Strittig ist, ob bei der Ermessensentscheidung auch ein fortbestehender Verdacht oder die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung mitberücksichtigt werden darf, wenn das Verfahren nicht bis zur Schuldspruchreife fortgeführt worden war 799 . Bei der ™ E G M R 25.3.1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475); BVerfG (Kammer) NStZ 1988 84; auch BVerfGE 74 370; BVerfG NJW 1990 2741. Zur Berücksichtigung der aus der Unschuldsvermutung folgenden Beschränkungen bei der Billigkeitsentscheidung nach § 472 Abs. 2 StPO vgl. LR-Hilger § 472 StPO Rdn. 17. 791 Zur Entwicklung der Gesetzgebung vgl. Kühl ZStW 100 (1988) 613; NJW 1988 3236. 752 EGMR 25.8.1987 Englert/D (EuGRZ 1987 405); 25.8.1987 Nölkenbockhoff/D (EuGRZ 1987 410); Meyer-Goßner47 15; Meyer-Ladewig 86; Pilnueek ÖJZ 2001 546, 556; strenger früher E G M R 25. 3. 1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475). Zu der diesen Fall nicht umfassende Entschädigungsverpflichtung nach Art. 14 Abs. 6 TPBPR (Art. 3 des 7. ZP MRK); vgl. unten Rdn. 155; ferner LR-Iiiiger § 467 StPO Rdn. 54, 60. ™ Vgl. BVerfG EuGRZ 1979 638. 754

755

E G M R 25. 8.1987 Englert/D (EuGRZ 1987 405); BVerfG NStZ 1988 84; NJW 1990 2741; BGHZ 64 353; OLG Köln NJW 1991 507 mit weit. Nachw.; strittig, vgl. Kühmm 1988 3235; NStZ 1989 135. E G M R 25. 8.1987 Englert/D (EuGRZ 1987 405);

25.8.1987 Nölkenbockhoff/D (EuGRZ 1987 410); OLG Köln NJW 1991 507 mit weit. Nachw.; ferner etwa Schweiz.BGer. EuGRZ 1990 322 (Veranlassung oder Erschwerung der Durchführung des Strafverfahrens durch vorwerfbare Verletzung einer Verhaltensnorm); auch schon EuGRZ 1984 79; Kühl NJW 1988 3238; LiemersdorßMiebach NJW 1980 372; Nierweiherg NJW 1989 1978; vgl. LRIlilger § 467 StPO Rdn. 28 ff und die Kommentare zu § 5 Abs. 2, 3, § 6 Abs. 1 Nr. 1 S t r E G j e mit weit. Nachw.; ferner die vorangehende Fußn. 796 797

798

Vgl. vorangehende Fußn. Zu den strittigen Fragen vgl. LR -Hilger § 467 StPO, Rdn. 55; 57; 67; ferner auch LR-Rieß § 206a StPO, Rdn. 68. EGMR 25.8.1987 Lutz/D (EuGRZ 1987 399); 25. 8.1987 Englert/D (EuGRZ 1987 405); 25. 8.1987 Nölkenbockhoff/D (EuGRZ 1987 410); BVerfG NJW 1990 2741 mit abw. Meinung Mahrenholz; OLG Köln NJW 1991 506; kritisch dazu Kühl NJW 1988 3233; NStZ 1989 135; Westerdiek EuGRZ 1987 393; SK-StPO-ftK/^CT 203; auch OLG Hamm NJW 1986 734.

™ Vgl. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 422 (zu-

Stand: 1.10.2004

(366)

R e c h t a u f ein f a i r e s V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Einstellung wegen eines Yerfahrenshindernisses wird die Prognose über den Verfahrensausgang, die das Gesetz der von anderen Umständen abhängigen eigentlichen Ermessensentscheidung über die Auslagenerstattung vorschaltet (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO), von der vorherrschenden Meinung als mit der Unschuldsvermutung vereinbar angesehen 800 . i) Mitberücksichtigung nicht verfahrensgegenständlicher Straftaten. Im Strafverfahren selbst sind mitunter Feststellungen zu strafrechtlichen Verfehlungen notwendig, die nicht die verfahrensgegenständliche Straftat des Angeklagten oder eines Mitangeklagten betreffen, die aber trotzdem entscheidungserheblich sind, etwa, weil für die richtige Anwendung des materiellen Strafrechts festgestellt werden muß, ob eine am Verfahren nicht beteiligte und auch noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Person Vortäter oder Haupttäter war. Wenn die Nachweise ausreichen, darf das Gericht die Begehung der Vortat oder Haupttat mit Wirkung gegenüber dem Angeklagten feststellen, ohne gegenüber diesem oder gegenüber einem nicht am Verfahren Beteiligten die Unschuldsvermutung zu verletzen 801 . Gleiches gilt, wenn die zur Überzeugung des Gerichts erwiesenen Umstände der Begehung einer anderen, noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Straftat als Indiz für die Modalitäten der Begehung der angeklagten Tat herangezogen werden 802 . Rechtskräftig abgeurteilte Taten dürfen sowohl bei der den Schuldspruch tragenden Beweiswürdigung als auch im Rahmen der Strafzumessung herangezogen werden 803 . Ausgeschiedene Tatteile, über die im Erkenntnisverfahren nicht endgültig entschieden wurde, dürfen weder bei der Strafzumessung berücksichtigt noch in die Bewährungsauflage, den Schaden wiedergutzumachen, einbezogen werden 804 .

146

Strittig ist, wieweit im Rahmen der Strafzumessung noch nicht rechtskräftig abgeurteilte oder überhaupt nicht mehr verfolgbare andere Straftaten des Angeklagten als Indiz für das M a ß seiner Schuld und seiner Persönlichkeitsstruktur berücksichtigt werden dürfen 8 0 5 . Nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht folgt aus der Exklusivität der Schuldfeststellung, daß über den Tatvorwurf ausschließlich in dem Verfahren entschieden werden darf, das diese Tat selbst zum Gegenstand hat; dieser Grundsatz schütze auch vor strafrechtlichen Auswirkungen, die unter Umgehung eines solchen Verfahrens an den Tatvorwurf geknüpft werden 806 . Geht man davon aus, daß die Un-

147

m

>

lässig, wenn auf Existenz der Anklage, nicht auf

noch nicht rechtskräftig abgeurteiltes, strafbares

Schuld abgestellt wird); ferner Peukert

Verhalten in einem anderen gerichtlichen Verfahren

EuGRZ

1980 261; a. Α etwa L G D a r m s t a d t M D R 1988 885;

festzustellen und aus dem festgestellten Sachverhalt

vgl. Stuckenberg

für dieses Verfahren bestimmte Schlußfolgerungen

Z S t W 111 (1999) 422; LR-Iiiiger

§ 467 StPO 67 je mit Nachweisen zum Streitstand.

zu ziehen; ebenso Meyer-Goßner47

Vgl. LR-Hilger

1990 600; Peukert

§ 467 StPO R d n . 55; 57 mit Nachw.;

vgl. etwa BVerfG StV 1993 138 (Nichteröffnung

B G H S t . 31 302 = J R 1984 170 mit A n m .

nach § 204 StPO wegen Verfahrenshindernis); BVerfG

LR-Beulke § 154 StPO 57; a . A Vogler F S Klein-

N S t Z 1992 289 und L G D a r m s t a d t M D R 1988 885 (Einstellung nach § 206a SPO); O L G Düsseldorf

knecht 429; F S Tröndle 423; vgl. auch lisser 750. ™

E G M R 10.2.1983 Albert, Le Compte/Belg ( E u G R Z

StV 1990 79; O L G Köln N J W 1991 506; O L G

1983 190); vgl. auch 8.6.1976 Engel

( E u G R Z 1976 221) u n d die Kritik von Esser 715. 804

haeh N J W 1980 373, die dies als Prognose über die

8112

Terhorst;

Zweibrücken N S t Z 1987 425; Kühl A n m . zu O L G M ü n c h e n N S t Z 1989 134; ferner LiemerdorflMie-

8111

14; Paulus NStZ

E u G R Z 1980 261; vgl. auch

Wahrscheinlichkeit des Freispruchs ansehen, dagegen etwa O L G H a m m N J W 1986 734. E K M R bei I n t K o m m E M R K - Vogler 383. B G H S t . 34 209 = N S t Z 1986 127 mit abl. A n m . Vogler = J R 1988 340 mit zust. A n m . Gollwilzer; vgl. auch B G H S t . 34 352 (indizielle Verwertung der U m s t ä n d e einer anderen Tat ist keine Verfolgung der anderen Tat); auch nach BVerfG N S t Z 1988 21 schützt die Unschuldsvermutung nicht davor, ein

(367)

Vgl. O L G F r a n k f u r t M D R

u.a./NdL

1994 499 mit weit.

Nachw. 805

8,16

Vgl. etwa B G H N J W 1951 770; N S t Z 1981 91; Bruns N S t Z 1981 81; zum Ganzen auch LR-Beulke § 154 StPO, 56 ff (für Laten u n d Tatteile, die nach §§ 154, 154a StPO ausgeschieden worden sind); zur indiziellen Verwertung bei der Strafzumessung vgl. R d n . 133. Vogler F S Kleinknecht 436; T n t K o m m E M R K - t i ^ / e r 421 ff.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

schuldsvermutung nicht jede Feststellung über eine nicht angeklagte Straftat verbietet, sondern ihre indizielle Verwertung zuläßt und insoweit nur vor der Berücksichtigung eines unbewiesenen Verdachtes ohne ordnungsgemäß geführten Nachweis schützt, dann dürfte es mit der Unschuldsvermutung vereinbar sein, wenn ein Gericht noch nicht rechtskräftig abgeurteilte andere Straftaten des Angeklagten, deren Sachverhalt im anhängigen Verfahren prozeßordnungsgemäß, etwa auch durch ein überzeugendes Geständnis des Angeklagten 807 , nachgewiesen wurde 808 , als Erkenntnisquelle für die Beurteilung der Person des Täters und auch sonst innerhalb der Grenzen berücksichtigt, die hier für die Strafzumessung vom materiellen Recht 809 und bei eingestellten Straftaten auch vom Verfahrensrecht unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens (Vertrauensschutz) 810 aufgestellt werden. Der E G M R hat die Berücksichtigung früherer Verfehlungen bei der Beurteilung von Vorleben und Charakter für zulässig gehalten 811 . 148

k) Bei der Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung könnte an sich fraglich sein, ob die Unschuldsvermutung bei einem nicht mehr den Schuldspruch sondern nur noch den Strafausspruch betreffenden Entscheidungsteil überhaupt eingreift 812 . Wenn der Widerruf aber mit der Begehung einer neuen, noch nicht rechtskräftig abgeurteilten anderen Straftat begründet wird, gilt die Unschuldsvermutung im Hinblick auf diese neue Tat 813 . Die früher vorherrschende Meinung hielt deren Berücksichtigung bei der Widerufsentscheidung für zulässig, sofern nach ordnungsgemäßer Sachaufklärung und ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs das materiellrechtliche Vorliegen der neuen Straftat, nicht notwendig aber auch deren Verfolgbarkeit, zur Überzeugung des widerrufenden Gerichts sicher feststehen 814 . Nur bei einem rechtskräftigen Freispruch wurde zum Teil eine Bindung des über den Widerruf 807

Vgl. OLG Köln NJW 1991 505; BVerfG (Kammer) NStZ 1991 30; Nach IntKommEMRK- Vogler 412 reicht das Geständnis zur Widerlegung der Unschuldsvermutung nicht aus. sos BVerfG NStZ 1988 21; NJW 1994 377; BGHSt. 30 147; 31 302; 34 209 = NStZ 1987 127 mit Anm. Vogler; OLG Düsseldorf StV 1986 346; Bruns NStZ 1981 81; Meier-Goßner47 14; sowie die Kommentare zu § 46 StGB mit weit. Nachw.; vgl. aber auch Rieß GA 1980 212, der auf den prozeßökonomischen Widerspruch hinweist, wenn ausgeschiedene Tatteile zum Zwecke der Strafzumessung dann doch ordnungsgemäß festgestellt werden. Zu den Bedenken, ob die Praxis immer ausreichende Feststellungen hierzu trifft, BoetUcher NStZ 1991 4; Haberstroh NJW 1984 289. 8,19 Vorherrschende Meinung, vgl. - auch wegen der Einzelheiten - die Kommentare zu § 46 StGB, und die dortigen Nachweise zu Rechtsprechung und Schrifttum. 8111

Vgl. etwa BGHSt. 30 147; 165; 31 302; BGH NStZ 1981 100; Terhor.it M D R 1979 17; JR 1984 170; Vogler FS Kleinknecht 430 ff mit weit. Nachw. si' EGMR 23.11.1976 Engel u. a./NdL (EuGRZ 1976 221), ebenso EKMR nach Peukert EuGRZ 1980 261; bei Bleckmann EuGRZ 1983 422; Fruweinl Peukert 118; Meier-Goßner47 14; nach IntKommEMRK- Vogler 422 reicht die prozeßordnungsgemäße Feststellung der Vor- oder Nachtaten für die strafschärfende Verwertung nicht aus, weil die Unschuldsvermutung nur durch ein Urteil in der Sache

überwunden werden kann; vgl. ferner Vogler FS Kleinknecht 428 ff mit weit. Nachw. Vgl. Rdn. 123. 8I ' Dieselbe Frage stellt sich bei der Aussetzung eines Strafrests zur Bewährung, der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59b StGB), sowie etwa beim Berufsverbot und bei freiheitsentziehenden Maßregeln, wenn deren Aussetzung bei Begehung einer anderen Tat widerrufen werden kann; vgl. Neubacher GA 2004 402. 814 E K M R EuGRZ 1989 212; bei FroweinlPeukerl 118; BVerfG NStZ 1987 118; 1988 21; 1991 30; ferner etwa OLG Bremen StV 1984 125; 1986 165, 1990 118; OLG Düsseldorf StV 1986 346; 1993 35; OLG Hamburg JR 1979 379 m. zust. Anm. Zip/; OLG Hamm VRS 73 (1987) 275; StV 1992 284; KG JR 1983 423; StV 1988 26; OLG Karlsruhe Justiz 1987 192; MDR 1993 780; OLG Koblenz VRS 73 (1987) 276; OLG Stuttgart NJW 1976 200; 1977 1249; Justiz 1990 303; 1991 402; LG Kiel SchlHA 1992 10; Bruns StV 1982 17,19; Frank MDR 1982 360; Peukert EuGRZ 1980 261; zur Gegenmeinung vgl. Fußn. 812, etwa OLG Celle StV 1990 504; zum Streitstand ferner OLG Düsseldorf M D R 1990 1133 und die Rechtsprechungs- und Schrifttumsnachweise in den Kommentaren zu § 56 f StGB sowie ausführlich Neubacher GA 2004 402, 403. Vgl. ferner auch OLG Hamburg NJW 2003 3574 (Widerruf einer Gnadenentscheidung vor Rechtskraft der neuen Verurteilung). 812

Stand: 1.10.2004

(368)

R e c h t a u f ein f a i r e s V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

entscheidenden Gerichts angenommen 8 1 5 . Nach der Gegenmeinung kommt es darauf nicht an, weil allein in dem Strafverfahren, das wegen der neuen Straftat durchgeführt wird, die Unschuldsvermutung in bezug auf diese Tat widerlegt werden kann 8 1 6 . Die E K M R 8 1 7 hatte dies nicht abschließend entschieden, aufgrund ihrer Bedenken hat sich die Bundesregierung aber in einer gütlichen Einigung verpflichtet, auf die Beachtung der Unschuldsvermutung bei der Anwendung der § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB besonders hinzuweisen 818 . In einer neuen Entscheidung vertritt der E G M R 8 1 9 jetzt grundsätzlich die Ansicht, die Unschuldsvermutung schließe die Schuldfeststellung in einem Strafverfahren aus, das nicht vor dem für die Aburteilung zuständigen erkennenden Gericht geführt wird. Nach Ansicht des O L G Köln 820 ist bei Vorliegen des geringsten Zweifels an der neuen Straftat die Rechtskraft des Schuldspruchs im neuen Verfahren abzuwarten, da diesem nicht in einem Schattenprozeß nach Aktenlage vorgegriffen werden könne 821 , deshalb komme praktisch ein Widerruf vor Rechtskraft des Schuldspruchs nur bei Vorliegen eines glaubhaften Geständnisses des Angeklagten in Frage; liege aber ein überzeugendes, in rechtsstaatlich einwandfreier Weise zustande gekommenes Schuldbekenntnis vor, verletze der darauf gestützte Widerruf die Unschuldsvermutung nicht, denn sie gebiete nicht, diesem die Anerkennung zu versagen 822 . Dem ist zuzustimmen. 1) Bei Prognosebeurteilungen, wie etwa im Rahmen des § 57 StGB, dürfen nicht angeklagte und abgeurteilte frühere Handlungen oder eine noch nicht rechtskräftig abgeurteilte neue Tat mitberücksichtigt werden, wenn aufgrund einer den strengen Anforderungen für die Schuldfeststellung genügenden Beweiswürdigung deren Vorliegen auf Grund einer sicheren Beweislage erwiesen ist 823 , vor allem aber, wenn sie vom Angeklagten selbst eingeräumt wird 824 . Eine ungünstige Sozialprognose darf aber nicht allein 815

816

Strittig, gegen Bindung O L G Düsseldorf N S t Z 1990 541; vgl. R d n . 130. E G M R 3.10.2002 B ö h m e r / D (StV 2003 82); IntK o m m E M R K - Vogler 419; Blumenstein N S t Z 1992 132; Boen icher N StZ 1991 1; Mrozynski JZ 1978 255; Ostendorf StV 1990 230; Schwerin SchlHA 1991 205; Vogler F S Kleinknecht 434; Vogler F S Tröndle 423; ferner zum Teil unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung; O L G Celle StV 1990 506; O L G Koblenz N S t Z 1991 253; O L G M ü n c h e n N J W 1991 2302; O L G Schleswig N J W 1991 2303. Vgl. auch O L G Zweibrücken JR 1991 477 mit A n m . Stoll, das seine Befugnis zur eigenen Entscheidung über die neue Tat trotz der formellen Rechtskraft eines derentwegen erlassenen Strafbefehls bejahte; d a dieser in einem summarischen Verfahren ergangen u n d deshalb zwar formell, nicht aber materiell rechtlich einen rechtskräftiugen Uteil gleichzusetzen sei, zustimmend Neubacher G A 2004 402, 414. Zu dem mit anderer Zielrichtung geführten Streit über die Exklusivität der strafgerichtlichen Schuldfeststellung vgl. R d n . 152 ff.

817

818

Vgl. E K M R N d s R p f l 1992 54 (glaubhaftes Geständnis genügt); zur gütlichen Einigung mit der Bundesregierung nach erneuter Befassung vgl. E u G R Z 1989 212. Zu weiteren Entscheidungen der E K R M vgl. Paufy StV 2003 85. E G M R 3.10.2002 B ö h m e r / D (StraFo. 2003 47 mit A n m . Boetticher läßt dies jetzt ausdrücklich offen); dazu Peglau Z R P 2003 242, 244. D a z u Boetticher

(369)

N S t Z 1991 4; Ostendorf

StV 1990

815

230; Strasser E u G R Z 1992 450; vgl. auch nachf. Fußn. E G M R 3.10.2002 B ö h m e r / D ( N J W 2004 43 = StraFo. 2003 47 mit A n m . Boetticher = StV 2003 82 mit A n m . Paufy). D a z u Pegluu Z R P 2003 242; N S t Z 2004 248; S K - S t P O - f t j e / f e w 203 und Neubacher G A 2004 402 ff (die beantragte Verweisung an die große K a m m e r wurde abgelehnt).

820

O L G Köln N J W 1991 505; ähnlich BVerfG N S t Z 1991 30; O L G Düsseldorf M D R 1991 787; 982; O L G Stuttgart Justiz 1991 402; O L G Schleswig N J W 1992 2646 mit A n m . Stree J Z 1993 39; a.A O L G Schleswig N J W 1991 2302, vgl. auch Peglau Z R P 2003 242,243.

821

Neubacher G A 2004 402, 408 ff zeigt die rechtlichen Schwierigkeiten auf, die bei einem zwar wenig wahrscheinlichen, aber immerhin möglichen späteren Freispruch von der den Widerruf begründenden Anlaßtat hinsichtlich der Beseitigung der Widerrufsentscheidung entstehen (analoge Anwendung der Wiederaufnahmeregeln? usw.).

822

Im Ergebnis ebenso Neubacher G A 2004 402, der unter Hinweis auf E G M R 3.10.2002 B ö h m e r / D (StV 2003 82, 85) im glaubhaften Geständnis einen wirksamen Verzicht auf die Unschuldsvermutung sieht; der E G M R hat dies offen gelassen; dazu Peglau Z R P 2003 242, 244.

823

Vgl. etwa O L G Celle N d s R p f l . 1991 207. B G H bei Kusch N S t Z 1994 230; O L G Karlsruhe Justiz 1987 192; 1997 28; Meyer-Goßner47 13 je mit weit. Nachw.

824

Walter Gollwitzer

149

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

darauf gestützt werden, daß der Verdacht besteht, der Verurteilte habe weitere Straftaten begangen 825 . 7. Anwendbarkeit außerhalb eines Strafverfahrens 150

a) Auf Verfahren, die nach ihrer Zielsetzung (tendenziell) nicht auf die Feststellung und Ahndung strafrechtlicher Schuld (im weiten Sinn des Strafrechtsbegriffs der Konventionen) gerichtet sind, sondern die außerhalb der Strafrechtspflege im weiten Sinn der Konventionen eine Entscheidung über andere Rechtsfolgen eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts zum Gegenstand haben, erstreckt sich nach vorherrschender Meinung 826 die Unschuldsvermutung der Konventionen nicht 827 , so auch nicht auf Feststellungen der Zivilgerichte 828 . Diese sind selbst durch einen rechtskräftigen Freispruch nicht gehindert, wegen des fraglichen Sachhergangs einen Schadensersatzanspruch zuzuerkennen; sie dürfen allerdings ihre Entscheidung dann nicht mit einem fortbestehenden Verdacht der strafbaren Handlung begründen oder im Tenor ihres Urteils den Freispruch als solchen in Frage stellen, da dies vom Freigesprochenen als nachträgliche Verurteilung verstanden werden könnte 8281 . Die Unschuldsvermutung schließt auch Hinweise auf ein anhängiges Strafverfahren nicht aus, sofern mit dem Hinweis keine vorweggenommene Feststellung der strafrechtlichen Schuld verbunden ist 829 . Im übrigen ist es grundsätzlich dem nationalen Recht überlassen, eine sachgerechte Lösung dafür zu finden, wieweit die für andere Zwecke in außerstrafrechtlichen Verfahren zu treffenden Feststellungen über ein strafbares Verhalten auf Beweisvermutungen und Beweislastverteilungen gestützt werden dürfen und wieweit dort der bloße Verdacht einer Straftat rechtliche Auswirkungen haben kann 830 , ferner, wieweit als Grundlage bürgerlich-rechtlicher Ansprüche oder eines öffentlich-rechtlichen Einschreitens auch das Vorliegen eines Straftatbestandes von anderen Stellen und Gerichten festgestellt werden darf, sowie, ob und in welchem Umfang ein vorliegendes strafrichterliches Erkenntnis für eine solche Vorfrage Bindungswirkungen entfaltet 831 . Dies gilt für die Verfahren vor den Zivil, Arbeits- oder Verwaltungsgerichten 832 , aber auch für die Entscheidungen der Behörden der öffentlichen Verwaltung 833 und die Verfahren, die die Unterbringung einer Person wegen einer psychiatrischen Erkrankung zum Gegenstand haben 834 .

825

Etwa OLG Düsseldorf StV 1997 91. S26 Vgl. etwa Meyer FS Tröndle 63; Meyer-Goßner47 13; SK-StVO-Rogall Vor § 133, 81 mit weit. Nachw. vgl. auch Paulus NStZ 1990 600. Nach IntKommEMRK- Vogler 386 ist allerdings eine einheitliche Linie bei Beurteilung der Rückwirkung auf andere Verfahren nicht erkennbar. 827 IntKommEMRK- Vogler 383; Peukert EuGRZ 1980 259; Meyer FS Tröndle 63; Paulus NStZ 1990 600; vgl. ferner SK-StPO-Rogall Vor § 133, 81; Stuckenberg 557 f. 828 Frowein/Peukerl 162 mit Hinweisen auf EKMR; ferner nächst. Fußnote. S28a vgl. EGMR 25.8.1993 Sekanina/Ö (ÖJZ 1993 816); 21.3.2000 Asan Rushiti/Ö (ÖJZ 2001 155); 11.2.2003 Ringvold/Norw; 11.2.2003; Y/Norw, dazu Goedeeke JIR 46 (2003) 605, 619, MeyerLudewig 86 je mit weit. Nachw. 8 » E G M R 16.1.2003 Verlagsgruppe News GmbH/Ö (ÖJZ 2003 618).

830

851

852

833

854

In aller Regel wird allerdings auch hier der bloße Verdacht einer Straftat weder nachteilige Rechtsfolgen begründen noch die Beweiswürdigung tragen. Zur Problematik der Verdachtskündigungen im Arbeitsrecht vgl. etwa BAG NJW 1964 1918; Moritz NJW 1978 402. Vgl. etwa BGH M D R 1990 542 (Beweiswürdigung, die auf einen trotz Freispruch fortbestehenden Verdacht gestützt wurde); ferner OLG Düsseldorf MDR 1990 1133. E K M R bei Frowein FS Huber 556; IntKommEMRK- Vogler 383; Meyer FS Tröndle 63; Fenken EuGRZ 1980 259; Meyer-Ladewig 86. Meyer FS Tröndle 63; BVerwG NJW 1988 660 (AusländerG); vgl. IntKommEMRK- Vogler 388; aber auch die dort in Rdn. 387 mitgeteilten Entscheidungen des östr. VfGH. E K M R bei FroweinIFenken 162; IntKommEMRKVogler 385; SiL-StPO-Faeffgen 192.

Stand: 1.10.2004

(370)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

b) Allgemeiner Schutz vor Zuweisung unbewiesener strafrechtlicher Schuld. Entgegen 151 der hier vertretenen Auffassung wird im Schrifttum und mitunter auch von der E K M R und E G M R angenommen 8 3 5 , daß Art. 6 Abs. 2 M R K den einzelnen unabhängig von jedem Strafverfahren davor schützt, daß ein Träger der öffentlichen Gewalt seine Integrität durch Zuweisung strafrechtlicher Schuld antastet, bevor diese in einem gesetzlichen Verfahren vor dem für die Aburteilung der Straftat zuständigen Strafrichter nachgewiesen ist 836 . Diese ausdehnende Auslegung erlangt praktische Auswirkungen, wenn man der verfahrensrechtlichen Komponente der Unschuldsvermutung eine so weitgehende Außenwirkung beimißt, daß nicht nur die eigentliche strafrechtliche Ahndung dem Strafrichter vorbehalten ist, sondern daß auch im nichtstrafrechtlichen Bereich alle anderen Staatsorgane davon ausgesperrt werden, bei den ihnen obliegenden Entscheidungen inzidenter den Tatbestand einer nicht vom Strafrichter vorher rechtskräftig abgeurteilten Straftat festzustellen, weil außerhalb eines nicht notwendig in der Bundesrepublik gegen den Beschuldigten zu führenden Strafverfahrens die „Widerlegung" der Unschuldsvermutung nicht möglich sei 837. c) Exklusivität der strafgerichtlichen Schuldfeststellung? Der Grundgedanke, daß der Schuldnachweis im Strafverfahren zu erbringen ist, gilt für die Aburteilung der Straftat als solcher. Die Ausübung der staatlichen Strafgewalt durch Verhängung einer Strafe oder ihr gleichkommenden M a ß n a h m e mit Sanktionscharakter wegen der nachgewiesenen schuldhaften Begehung einer Straftat 838 (im weiten Sinn des Strafrechtsbegriffs der Konventionen) ist grundsätzlich dem zuständigen gesetzlichen Richter und dem im nationalen Recht dafür vorgesehenen Strafverfahren vorbehalten, für das Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR besondere Rechtsgarantien aufstellen.

152

Mehr garantieren die Konventionen nicht. Der Wortlaut der Absätze 2 schreibt nicht einmal zwingend ein gerichtliches Verfahren vor. Sie lassen selbst hier dem nationalen Recht weiten Raum. Auch in einem Bußgeldverfahren vor der Verwaltungsbehörde kann die Unschuldsvermutung widerlegt werden. Das Erfordernis, daß die Anrufung eines Gerichts möglich sein muß 839 ; folgt aus den Garantien das Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR.

153

Soweit die Konventionsgarantien überhaupt über das eigentliche Strafverfahren hinausreichen, schützen sie den einzelnen grundsätzlich davor, daß staatliche Organe ihr Verhalten gegenüber dem Bürger auf einen unbewiesenen strafrechtlichen Schuldvorwurf gründen. Es ist aber nicht anzunehmen, daß sie ohne Rücksicht auf das jeweilige nationale Rechtssystem, auf das sie Bezug nehmen, ein exklusives Strafrichtermonopol begründen und verbieten wollen, das Vorliegen eines mit Strafe bedrohten Verhaltens in gesetzlichen Verfahren mit anderer Zielrichtung inzidenter festzustellen und zur Grundlage einer dort zu treffenden außerstrafrechtlichen Entscheidung zu machen.

154

Aus der verfassungsrechtlichen Ableitung der Unschuldsvermutung, vor allem dem Rechtsstaatsprinzip, kann, wie oben dargelegt, für das innerstaatliche Recht eine solche weitgehende und letztlich systemfremde Folgerung ebenfalls nicht hergeleitet werden 840 .

155

855

EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 422; im Grunde auch in Anlehnung an Entscheidungen der E K M R E G M R 10.2.1995 Allenet de Ribemont/F (ÖJZ 1995 509); 10.12.2000 Daktaras/Lit (ECHR 2000X); 16.1.2003 Verlagsgruppe News GmbH/Ö (ÖJZ 2003 619); J-'roweinlPeukert 162; l-'rowein FS Huber 554; IntKommEMRK- Vogler 389: 408; Kühl FS Hubmann 246; NJW 1988 3234; Meyer-Ladewig 86; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 75; Nowak 36.

(371)

836

837

838 835 840

Zu den staatlichen Verlautbarungen über ein anhängiges Verfahren wegen des Verdachts einer Straftat vgl. Rdn. 131. Vgl. IntKommEMRK- Vogler 401; Marxen GA 1980 373. IntKommEMRK- Vogler 401; Meyer FS Trödle 69. Vgl. EGMR EuGRZ 1987 399 (Lutz); oben Rdn. 42. Vgl. BVerfG NStZ 1988 21; M D R 1991 891; Rdn. 106 ff.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

156

Im Schrifttum wird dagegen in einer an sich konsequenten Ausdehnung des Strafrichtervorbehalts die Ansicht vertreten 841 , dieser schließe in Verfahren mit anderer Zielsetzung jede behördliche oder gerichtliche Feststellung über eine begangene Straftat aus, nicht nur ihre Ahndung als Straftat. Diese gedankliche Konstruktion überspannt den Inhalt der Anforderungen, die man an eine ungeschriebene Verfassungsgarantie und an den Konventionswortlaut im praktischen Rechtsleben vernünftigerweise stellen darf. Wollte man in jedem nicht zur Aburteilung der betreffenden Straftat durchgeführten gerichtlichen oder behördlichen Verfahren alle Feststellungen über strafrechtlich relevante Tatsachen überhaupt ausklammern oder sie auf die Feststellung erwiesener Verhaltensweisen ohne strafrechtliche Zuordnung beschränken 842 , so müßte ein solcher Strafrichtervorbehalt in einer wohl kaum befürworteten letzten Konsequenz für alle anderen gerichtlichen und behördlichen Verfahren unbeschadet ihrer anderen Zielrichtung gelten.

157

Mit unserem Rechtsschutzsystem ist ein über die Ahndung als Straftat hinausreichendes Strafrichtermonopol unvereinbar. Dieses geht grundsätzlich davon aus, daß die Richter aller Gerichtszweige unabhängig und ohne Bindung an die Erkenntnisse anderer Gerichte die entscheidungserheblichen Vorfragen in dem jeweils für ihre Urteilsfindung erforderlichen Umfang selbst feststellen und entscheiden. Sie sind insoweit die dazu berufenen gesetzlichen Richter und das Verfahren ist das gesetzliche Verfahren für die darin zu treffenden Feststellungen. Eine Verabsolutierung des Strafrichtervorbehalts würde nicht nur in allen anderen gerichtlichen und behördlichen Verfahren jede Aussage über ein strafrechtlich relevantes Verhalten ausschließen; sie müßte auch im Strafverfahren den Richter hindern, Aussagen über nicht verfahrensgegenständliche Taten oder über Straftaten der nicht am Verfahren beteiligten Personen zu treffen, selbst wenn es um deren Verfahrensbeteiligung oder Vortäterschaft geht 843 . Die Unschuldsvermutung ist als Schutz des jeweiligen Beschuldigten vor der Zuweisung und Bestrafung wegen nicht ordnungsgemäß nachgewiesener Schuld gedacht. Sie zwingt die staatlichen Organe bei Entscheidungen über einen anderen Lebenssachverhalt nicht zu der lebensfremden Unterstellung, ein mit Strafe bedrohter Sachverhalt habe sich ungeachtet seiner mitunter unstrittigen Evidenz nicht zugetragen, nur weil er nicht rechtskräftig vom zuständigen Strafgericht abgeurteilt worden ist 844 . Die andere Auffassung hätte in letzter Konsequenz zur Folge, daß jedem Verfahren, in dem es darauf ankommt, ob ein mit Strafe bedrohtes Verhalten vorlag, notwendig Strafanzeige und Strafverfahren vorangehen müßten; das Strafverfahren würde damit zum Vorschaltverfahren für alle anderen, bis zu seiner Erledigung auszusetzenden Verfahren werden. Könnte auf diesem Weg eine strafrichterliche Entscheidung in der Sache nicht erreicht werden, etwa, weil die Straftat verjährt ist oder weil der Staat aus Opportunitätsgründen (vgl. §§ 153 ff StPO) von der Strafverfolgung absieht oder weil die Durchführung des Strafverfahrens an anderen Umständen, wie etwa der Flucht des Angeklagten, scheitert, müßte der Gesetzgeber im Interesse der Gerechtigkeit und in Erfüllung seiner Rechtsgewährungspflicht gegenüber den sonst um seine Rechte gebrachten Geschädigten auch von Konventions wegen ein Ersatzverfahren vorsehen 845 . Dies alles verlangen die Konventionen vom nationalen Recht nicht.

S41

Vgl. TntKommEMRK- Vogler 401; Marxen GA 1980 373; Vogler FS Kiemknecht 436. 842 Vgl. IntKommEMRK- Vogler 423. 84 -' Die E K M R sieht dies zu Recht für zulässig an, vgl. bei IntKommEMRK- Vogler 383. 844 BGHSt. 34 211 = Jura 1988 356 mit Anm. l'rister =

845

JR 1988 340 mit Anm. Gollwitzer = NStZ 1986 127 mit abl. Anm. Vogler, zust. Meyer FS Tröndle 73. Der effektive Rechtsschutz bei Streitigkeiten über „civil rights" (Art. 6 Abs. 1 MRK, Art. 14 Abs. 1 IPBPR, vgl. Rdn. 19 ff) wäre sonst in Frage gestellt.

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Zuzustimmen ist deshalb der Praxis, wonach in Verfahren mit anderer Zielsetzung Feststellungen über Tatsachen, die einen Straftatbestand erfüllen und nötigenfalls auch über dessen Vorliegen selbst (nicht aber über die dem Strafrichter vorbehaltene Sanktionsfrage) in dem für die dortige Entscheidung erforderlichen Umfang als Grundlage für die daran anknüpfenden außerstrafrechtlichen Rechtsfolgen nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Rechts getroffen werden dürfen. Der Zweck der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 M R K , Art. 14 Abs. 2 IPBPR kann nicht darin liegen, andere Gerichte oder staatliche Stellen zu zwingen, bei ihrer Entscheidung eine vom Strafrichter rechtskräftig festgestellte Straftat ohne Rücksicht auf ihre eigenen Erkenntnisse für erwiesen zu unterstellen oder dem nationalen Recht zu verbieten, daß die Gerichte aller Gerichtszweige in eigener Unabhängigkeit und ohne Bindung 8 4 6 in der Regel auch strafrechtliche Vorfragen mitentscheiden. Hier den staatlichen Organen Scheuklappen aufzuzwingen, würde zu unvernünftigen Ergebnissen führen ohne den praktischen Menschenrechtsschutz zu verbessern.

158

Wer entgegen der hier vertretenen Meinung die Verfahrensgarantie der UnschuldsVermutung nicht auf das Verfahren zur Ahndung der strafrechtlichen Schuld beschränkt, sondern ihr eine allgemeine Schutzwirkung gegen jede Zuweisung unbewiesener Schuld beimißt, sollte diese Außenwirkung dadurch praktikabel machen, daß er anerkennt, daß die betreffende Straftat auch durch einen den Anforderungen des jeweiligen Verfahrens entsprechenden Schuldnachweis festgestellt werden kann. Eine solche Schuldfeststellung hätte dann allerdings nur eine auf die Zwecke des jeweiligen Verfahrens begrenzte Wirkung. Die Inzidentfeststellung würde die Unschuldsvermutung für andere Verfahren nicht widerlegen, vor allem könnte sie nicht ausschließen, daß in einem späteren Strafverfahren wegen der gleichen Tat der Angeklagte als unschuldig zu behandeln ist. Ob umgekehrt ein rechtskräftiger Freispruch im Strafverfahren andere Gerichte insoweit bindet, daß sie dann auch unter Ausschöpfung aller ihnen verfügbarer Beweise 847 einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt nicht mehr feststellen, sondern ihre Erkenntnis nur noch auf die dem Freispruch zugrunde liegenden Tatsachen stützen dürfen, wie die E M R K angenommen hat 848 , erscheint ebenfalls zweifelhaft. Auch dies überspannt die Konventionsgarantien und läßt sich auch nicht aus den Verfassungsgarantien, vor allen dem Rechtsstaatsprinzip, herleiten. Diese Grundsätze schreiben kein bestimmtes Rechtsschutzsystem vor, allenfalls bekräftigen sie das vorhandene, das gerade für den Normalfall keine solche Bindungen aufstellt und das durch unterschiedliche Prozeßmaxime in den verschiedenen Verfahrensarten bewußt unterschiedliche Ergebnisse in Kauf nimmt 849 . Wegen des faktischen Gewichts, dem ein Freispruch in anderen Verfahren in der Regel beigemessen wird, wäre eine solche Bindung allerdings praktisch hinnehmbar.

159

Gesetzliche Regelungen schreiben nur in Ausnahmefällen etwas anderes vor, vgl. § 190 StGB. Vgl. Bruns StV 1982 19. E M R K bei Bleckmaim EuGRZ 1983 422; IntKommI M R K - lv);'/i';· 389, vgl. ferner die Entscheidungen des östr. VfGH bei IntKommEMRK- Vogler 387; (373)

849

vgl. ferner zu der bei § 56 f StGB strittigen Frage OLG Düsseldorf MDR 1990 1133; OLG Hamm NJW 1973 911 und die Erläuterungen in den Kommentaren zum StGB. Zu den Streitfragen vgl. Rdn. 128; ferner etwa OLG Düsseldorf NStZ 1990 541.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

VI. Die Verfahrensrechte des Angeklagten (Art. 6 Abs. 3 MRK; Art. 14 Abs. 3 bis 7 IPBPR) 160

1. Allgemeines. Die Konventionen überlassen die Regelung des Strafverfahrens grundsätzlich dem nationalen Recht. Vor allem die Regelung der Beweiserhebung einschließlich des Verbotes der Erhebung und Verwendung bestimmter Beweismittel richten sich nach dem nationalen Recht, das auch bestimmen kann, welche Rechtsfolgen der Verstoß gegen solches Verbot hat. Die Konventionen beschränken sich darauf, für das Strafverfahren in Absatz 3 beispielhaft für typische Verfahrenslagen einige wichtige Erfordernisse festzulegen, die als Grundlinien für die Verfahrensgestaltung im jeweiligen nationalen Recht dem Angeklagten ein insgesamt faires Verfahren sichern sollen. Als Mindestgarantien für ein faires Verfahren verdeutlichen sie die Anforderungen dieses Gebots. Sie geben ihm Konturen 8 5 0 ohne jedoch seinen Gehalt voll auszuschöpfen 851 , sie gehen aber auch nicht darüber hinaus 852 . Als Instrumente eines praktischen Menschenrechtsschutzes dürfen sie nicht als Selbstzweck verstanden und isoliert vom Zweck ihrer Gewährleistung und dem Regelungsgefüge des jeweiligen Verfahrens ausgelegt werden. Geboten ist eine Gesamtschau, die darauf abstellt, daß die aufgeführten Rechte Eckpunkte für ein insgesamt faires Verfahren mit wirksamen Verteidigungsrechten festlegt 853 . Die Modalitäten, in denen die Forderungen des Absatzes 3 ihre Schutzfunktion verwirklichen, bestimmen sich nach dem Verfahrenssystem des jeweiligen nationalen Rechts; sie können also wegen ihres Bezugs auf die jeweilige Verfahrensordnung zu unterschiedlichen Anforderungen führen. Räumt das nationale Verfahrensrecht dem Angeklagten insgesamt faire Verfahrensrechte ein, so kann es zulässig sein, wenn in Ausnahmefällen die in Absatz 3 garantierten Rechte aus einem durch überwiegende öffentliche oder private Belange gerechtfertigten Grund sachgerechte Einschränkungen erfahren. Die Einzelanforderungen der Absätze 3 setzen voraus, daß das Verfahren im nationalen Recht insgesamt so geregelt ist, daß eine effektive und rechtsstaatliche Rechtspflege die wesentlichen Verteidigungsrechte des Angeklagten sichert 854 . Der für alle Konventionsgarantien geltende Grundgedanke eines fairen Ausgleichs zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den Schutzinteressen des einzelnen 855 bestimmt ihre Auslegung, die aber immer darauf achten muß, daß im Einzelfall ein insgesamt faires Verfahren gewährleistet bleibt.

161

Der Anwendungsbereich der einzelnen Grundsätze ist unterschiedlich 856 . Während einige auf die Hauptverhandlung zugeschnitten sind, gelten andere schon ihrem Wortlaut nach auch für das Vorverfahren 857 . Ihre jeweilige Tragweite ist durch sinnorientierte 850 851

852 855

SiL-StPO-Pae/fgen 125. FroweinlPeukerl 172 („Mindestgarantien"); IntKommEMRK/Miehslerl Vogler 467; Meyer-Goßner" 16; Vogler ZStW 189 (1977) 787; SK-StPO-Paeffgen 125. Die durch den unterschiedlichen englischen und französischen Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 M R K („minimum rights" bzw. „notamment" ) ausgelöste Frage, ob es sich insoweit um Beispiele oder um Mindestgarantien für ein faires Verfahren handeln soll, spielt in der Praxis keine Rolle. TntKommEMRK-M/efcfer/ Vogler 468. Vgl. EGMR 24.11.1986 Unterpertinger/Ö (EuGRZ 1987 147); 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); 25.3.1999 Pelisier & Sassi (NJW 1999 3545); 26.7.2002 Meftah u.a./F (ÖJZ 2003 732); ferner EKMR EuGRZ 1986 276 (Can); dazu EGMR EuGRZ 1986 274; EGMR 27.9.1990 Windisch/Ö

854

855 856

857

(ÖJZ 1991 25), sowie etwa E K M R EuGRZ 1978 314; 1986 277; 1989 464; FroweinlPeukerl 172; IntKommEMRK-Miehsler/Vogler 467. SK-StPOPaeffgen 125. Art. 48 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta stellt diesen Grundsatz heraus, wenn dort unter Verzicht auf Einzelaufzählungen jeder angeklagten Person die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. „Fair balance"; vgl. Einf. Rdn. 59. Die EKMR ließ verschiedentlich offen, ob die einzelnen Rechte auch im Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung zum Fragen kommen; so EuGRZ 1986 276 (Can); vgl. IntKommEMRKVogler 468 mit Nachw. EKMR EuGRZ 1986 276; 1988 504.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf ein faires Verfahren

Art. 14 IPBPR

Auslegung zu ermitteln. Für ihr Ziel, dem Angeklagten ein faires Verfahren zu sichern, wird es allerdings in der Regel genügen, daß die von ihnen gewährleisteten Verfahrensrechte insgesamt ausreichend zum Tragen kommen. Ob ein Verstoß gegen einen dieser Grundsätze für sich allein bereits ein solches Gewicht hat, daß die Fairneß des gesamten Verfahrens dadurch unheilbar in Frage gestellt ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab 858 . 2. Unterrichtung über die erhobene Beschuldigung (Art. 6 Abs. 3 Buchst, a MRK; Art. 14 Abs. 3 Buchst, a I P B P R ) a) Zweck. Art. 6 Abs. 3 Buchst, a M R K und Art. 14 Abs. 3 Buchst, a IPBPR fordern sachlich übereinstimmend die alsbaldige Unterrichtung des Beschuldigten 859 über die ihm angelasteten Beschuldigungen. Dies soll die ihn belastende Ungewißheit über den Gegenstand des gegen ihn anhängigen Verfahrens frühzeitig ausräumen. Dies soll zugleich sein Recht auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung einer sachgerechten Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 Buchst, b M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, b IPBPR) sichern 860 . N u r wenn er weiß, wegen welcher Straftaten gegen ihn ermittelt wird und auf welche Tatsachen sich dieser Verdacht gründet, kann er seine Verteidigung wirksam vorbereiten 861 und wirksame Rechtsbehelfe gegen ihn belastende Ermittlungseingriffe ergreifen 862 . Die Bedeutung des Absatzes 3 Buchst, a für ein faires Verfahren liegt darin, daß er möglichst frühzeitig den Beschuldigten in die Lage setzen soll, alles Erforderliche in die Wege zu leiten um sich wirksam gegen die erhobenen Beschuldigungen und auch gegen die darauf gestützten Ermittlungseingriffe wehren zu können 863 .

162

b) Anlaß der Unterrichtung. Das Recht auf Unterrichtung wird durch jede behördliehe Maßnahme ausgelöst, durch die der Betroffene Kenntnis erhält, daß er Beschuldigter eines gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens ist. Dies kann auch die behördliche Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage des Beschuldigten sein, der sich nach dem Zweck polizeilicher Aktivitäten in seinem unmittelbaren Umfeld erkundigt, aber auch sonstige Handlungen, die dem Beschuldigten die Existenz eines gegen ihn geführten Verfahrens zur Kenntnis bringen, wie etwa eine Festnahme oder Durchsuchung 8 6 4 . Der Begriff der Anklage wird hier - ebenso wie bei Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR - materiell im Sinn von Gegenstand eines gegen den Beschuldigten geführten Verfahrens verstanden 865.

163

858 859

860

861

862

E K M R E u G R Z 1977 347. Angeklagte Person („everyone charged with a criminal offence"; „accuse") ist in autonomer Auslegung im weiten Sinne des deutschen „Beschuldigten" zu verstehen, vgl. SK-SlPO-/'7r//i[ « f # gen differieren die Anforderungen zwischen dem erstinstanzlichen und dem Rechtsmittelverfahren; es dürfte vor allem aber auf die Besonderheiten des jeweiligen Falles ankommen, ob auch im Rechtsmittelverfahren die Beiordnung des Verteidigers erforderlich ist. 1067 v g l . E K M R E u G R Z 1983 344 (Pakeiii; zu § 350 StPO), dazu E K M R E u G R Z 1982 39; ferner E G M R 13.5.1980 Artico/1 ( E u G R Z 1980 662); I n t K o m m E M R K - Vogler 528; 532 ff. » s E G M R 13.5.1980 Artico/1 ( E u G R Z 1980 662); 2 8 . 3 . 1 9 9 0 Granger/GB (Series A 174); 2 4 . 5 . 1 9 9 2 Quaranta/CH (ÖJZ 1991 745); 2 5 . 9 . 1 9 9 2 Pham H o a n g / F ( E u G R Z 1992 472); Grabenwarter § 24 Rdn. 70; I n t K o m m E M R K - Vogler 529; SK-StPOPaeffgen 153. '»« E G M R 2 5 . 9 . 1 9 9 2 Pham H o a n g / F ( E u G R Z 1992 472); I n t K o m m E M R K - Vogler 529. 1070 B G H S t 46 178 = JR 2002 121 mit Anm. Tag (auf

Stand:

Vorlage OLG Oldenburg gegen BayObLG StV 1990 103); Basdorf GedSchrift Meyer 19, 31, zu den Streitfragen vgl. auch nachf. Fußn. 11,71

Strittig, vgl. BVerfGE 64 135, 150; ferner etwa OLG Düsseldorf N J W 1989 667; KG N S t Z 1990 402; OLG H a m m NStZ 1990 143; StV 1995 64; OLG Köln NJW 1991 2223; O L G Koblenz M D R 1994 1137; anders BayObLG StV 1990 103; K G 1985 185; 1986 239; O L G Zweibrücken StV 1988 379; N S t Z 1990 51 je mit weit. Nachw. Vgl. ferner I n t K o m m E M R K - Vogler 530 und zur Auslegung des § 140 StPO LR-Lüderssen § 140, 79 ff.

1,172

B G H S t 46 178; OLG H a m m StV 1995 64; Hllger Anm. zu K G N S t Z 1990 405; Nowak 50. I n t K o m m E M R K - Vogler 531 mit Nachw. E K M R nach Frowein! Peukert 197; I n t K o m m E M R K / Vogler 534 (Wünsche des Angeklagten sollten möglichst berücksichtigt werden); Meyer-Goßner47 20; Nowak 50. Für die StPO vgl. LR-Luders,sen § 142 StPO, 12 ff.

11173 11174

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(396)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Interesse der Rechtspflege kann das Gericht bei Vorliegen sachlicher Gründe auch einen anderen Pflichtverteidiger als den vom Angeklagten gewünschten bestellen 1075 . Der Angeklagte hat auch keinen Anspruch darauf, einen Anwalt mit besonderer Sachkunde zugeteilt zu bekommen. Aus dem engl. Text („legal assistance") wird geschlossen, daß bei der M R K „avocat" (vgl. IPBPR: „defenseur") nicht im technischen Sinn zu verstehen ist, so daß die Verteidigung auch weniger qualifizierten Personen nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Rechts übertragen werden kann, wie etwa nach § 142 Abs. 2 StPO einem Gerichtsreferendar 1076 . Aus der Bestellung des Pflichtverteidigers erwächst den dafür zuständigen staatlichen 2 0 6 Stellen eine gewisse Uberwachungspflicht. Sie müssen nötigenfalls durch geeignete Maßnahmen (Ermahnungen, Abberufung) dafür sorgen, daß der Verteidiger die ihm übertragene Aufgabe auch tatsächlich wahrnimmt, da der Angeklagte andernfalls trotz der Bestellung ohne den erforderlichen Beistand bleibt 1077 . Der Pflichtverteidiger führt grundsätzlich die Verteidigung unabhängig vom Staat nach seinem eigenen pflichtgemäßen Ermessen 1078 ; die staatlichen Stellen sind deshalb weder berechtigt noch verpflichtet, stets einzugreifen, wenn sie ein Verhalten des Pflichtverteidigers als unzureichend oder fehlerhaft ansehen. Nur wenn sie davon unterrichtet werden oder wenn offenkundig ist, daß der Angeklagte wegen des Versagens des Pflichtverteidigers wesentliche Verfahrensrechte endgültig einbüßt, sind sie verpflichtet, korrigierend einzugreifen, so etwa, wenn der Betroffene ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel verliert, weil sein Pflichtverteidiger eine einfache Formvorschrift nicht beachtet hat oder weil für das Gericht offensichtlich ist, daß der von ihm bestellte Pflichtverteidiger untätig bleibt 1079 . Auch die offensichtliche Unfähigkeit, die übernommene Aufgabe auszuüben, kann ein Eingreifen des Staates zur Sicherung des fairen Verfahrens und des von Art. 6 Abs. 3 Buchst, c M R K (Art. 14 Abs. 3 Buchst, d IPBPR) garantierten Rechts auf effektive Verteidigung von Konventions wegen erfordern 1080 . D a der Pflichtverteidiger grundsätzlich die Verteidigung in eigener Verantwortung führt, reichen dafür in der Regel Meinungsverschiedenheiten zwischen Verteidiger und Angeklagtem oder die Behauptung von Qualitätsmängeln der Verteidigung allein nicht aus 1081 . Unentgeltlichkeit des Beistands durch einen Pflichtverteidiger bedeutet, daß der An- 2 0 7 geklagte von allen daraus erwachsenden Kosten während des Verfahrens freigestellt ist. Strittig ist, ob diese Freistellung endgültig oder nur vorläufig ist, ob der Staat die ihm daraus erwachsenen Auslagen im Falle einer Verurteilung dann ersetzt verlangen kann, wenn der Verurteilte nicht mehr mittellos ist 1082 . D a die Unentgeltlichkeit hier, anders als bei der Zuziehung eines Dolmetschers 1083 , nur bei Mittellosigkeit garantiert wird, vertritt die vorherrschende Meinung die Ansicht, daß die Konventionen die Verurteilung zum Ersatz dieser Auslagen und - sofern der Angeklagte dann nicht mehr mittellos ist -

11175 11176

11177

11178

E G M R 25.9.1992 Croissant/D (EuGRZ 1992 542). E K M R nach FroweinIPeukerl 197; IntKommIΛ1R K- lv);'/i';· 535; ferner etwa Guradze 34; Pariseh 165. EGMR 13.5.1980 Artico/I (EuGRZ 1980 662); 9.4.1984 Goddi/I (EuGRZ 1985 234); EKMR EuGRZ 1979 495 (Artico); FroweinIPeukert 198; IntKommEMRK- Vogler 540 f; Villiger HdB 521; vgl. auch östr. VfGH EuGRZ 1983 20, feiner BGH NJW 1993 340 (Verteidigungsrechte verletzt, wenn Pflichtverteidiger sie faktisch nicht mehr wahrnimmt).

ll 7

> » E G M R 13.5.1980 Artico/1 (EuGRZ 1980 662); 21.4.1998 Daud/Port (ÖJZ 1999 198); 10.10.2002 Czekalla/Port (NJW 2003 1229). 1,,s " Villiger HdB 521; vgl. auch vorst. und nachf. Fußn. 1081 EGMR 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); 24.11.1993 Imbrioscia/CH (ÖJZ 1994 517); IntKommEMRK- Vogler 537 ff mit Nachw. Froweinl Peukerl 198; Meyer-Ladewig 91. 1082 FroweinlPeukerl 199; IntKommEMRK- Vogler 542; Meyer-Goßner47 21; ferner LR-Häger § 464a StPO, 3 mit Nachw. zum Streitstand. ras Vgl. Rdn. 233 ff.

Villiger HdB 524.

(397)

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

auch deren spätere Beitreibung nicht ausschließen 1084 . Wird dem Angeklagten neben dem von ihm gewählten Verteidiger nach § 141 StPO zusätzlich von Amts wegen zur Sicherung der Interessen der Rechtspflege, etwa um Verfahrensverschleppungen zu verhindern, ein weiterer Verteidiger bestellt, ist strittig, ob die Konventionen ausschließen, daß dann von ihm der Ersatz der Kosten des ihm gegen seinen Willen aufgedrängten zusätzlichen Verteidigers verlangt werden kann 1085 . Ein weiterhin mittelloser Verurteilter darf allerdings in keinem Fall später zu den Kosten herangezogen werden; insoweit genügt es aber, wenn sichergestellt ist, daß bei Mittellosigkeit nicht vollstreckt wird 1086. 208

f) Die Belehrung über das Recht auf einen Verteidiger schreibt nur Art. 14 Abs. 3 Buchst, d IPBPR und nur für den Fall vor, daß ein Beschuldigter noch keinen Verteidiger gewählt hat. Nach der Satzstellung bezieht sich diese Unterrichtungspflicht nur auf die Möglichkeit, daß er mit seiner Verteidigung einen Verteidiger seiner Wahl beauftragen kann, nicht aber darauf, daß ihm andernfalls bei Mittellosigkeit ein Verteidiger von Amts wegen bestellt werden muß, sofern das Interesse der Rechtspflege dies erfordert. Es kann aber zweckmäßig sein, bei einem erkennbar mittellosen Angeklagten auch diese Möglichkeit anzusprechen.

209

Der Zeitpunkt der Belehrung und die Stelle, die sie vorzunehmen hat, werden nicht näher festgelegt. D a die Unterrichtung der Vorbereitung der Verteidigung dient, muß sie jedoch so rechtzeitig vor der Hauptverhandlung vorgenommen werden, daß bei der Wahl eines Verteidigers die Frist von Buchst, b gewahrt und gegebenenfalls auch gesichert ist, daß er das Fragerecht des Angeklagten (Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K ) ausüben kann, wenn Belastungszeugen vernommen werden, die in der Hauptverhandlung eventuell nicht mehr verfügbar sind. Das nationale Recht hat hier einen gewissen Gestaltungsraum. Wenn die StPO (vgl. insbes. §§ 136 Abs. 1; 163a Abs. 3, 4 StPO) diese Belehrung der ersten Einvernahme des Beschuldigten voranstellt, trägt sie diesem Erfordernis Rechnung 1087 . 5. Befragung von Zeugen, Ladung von Entlastungszeugen (Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K ; Art. 14 Abs. 3 Buchst, e I P B P R )

210

a) Allgemein. Die Konventionen überlassen die Regelung des Strafverfahrens weitgehend ihren Mitgliedstaaten. Sie legen für diese weder Verfahrensgrundsätze wie den Grundsatz der Unmittelbarkeit fest noch regeln sie, ob und wann eine Beweisaufnahme erforderlich ist, ob ein Recht auf Einvernahme von Zeugen besteht, wie Beweismittel zu bewerten sind und ob Beweisverbote eingreifen. Dies überlassen sie dem nationalen Recht und der Entscheidung der nationalen Gerichte' 0 8 8 . Der E G M R prüft dagegen, ob 1084

1085

Dazu vor allem IntKommEMRK- Vogler 542 ff, SK-StPO-Pae/fgen 153; ferner E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 422; StV 1985 89; EuGRZ 1992 542; BVerfG NJW 2003 196; OLG Düsseldorf NStZ 1984 283; OLG Hamm NStZ 1990 143; NStZ-RR 2000 160; wistra 2000 240; OLG München NJW 1981 534; OLG Stuttgart Justiz 1984 309; OLG Zweibrüeken M D R 1990 175; MeyerGoßner47 21; und zur Gegenmeinung OLG Düsseldorf NStZ 1982 339; 1985 370 m. abl. Anrn. Schikora; vgl. ferner die Nachw. in der vorangehenden Fußn. Alt. VII Abs. IX Buchst, e Nato-Lruppenstatut verweist wegen der Gebührenermäßigung des Pflichtverteidigers auf die im Aufnahmestaat geltenden Bedingungen. Zulässig

nach

EGMR

25.9.1992

Croissant/D

11186

11187

11188

(EuGRZ 1992 542 mit abl. Anm. Kühne): E K M R bei Siras.ier EuGRZ 1992 280; OLG Zweibrücken StV 1990 363 mit abl. Anm. Beulke, dagegen auch Neumann NJW 1991 266; Meyer-Goßner47 21; SKStPO-Paeffgen 150. Vgl. LR-Lüderssen StPO § 141, 45; LR-Hilger StPO § 464a, 47. E K M R StV 1985 98 (L); Peukeri EuGRZ 1980 276; IntKommEMRK- Vogler 542; Meyer-Goßner47 21. SK-StPO-«o^i//Vor § 133, 98; vgl. im übrigen LRIlanack § 136 StPO, 29. Etwa EGMR 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); 22.4.1992 Vidal/Belg (EuGRZ 1992 440); 25.3.1999 Pelissier & Sassi/F (NJW 1999 3545); 25.9.2001 P.G. und J.H./GB (ÖJZ 2002 911); 6. 5.2003 Perna/I (NJW 2004 2653); Meyer-Ladewig 55; weit. Nachw. vgl. Rdn. 218.

Stand: 1.10.2004

(398)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

das nationale Verfahren insgesamt fair war 1089 . Dies gilt auch, soweit Art. 6 Abs. 3 MRK, Art. 14 Abs. 3 IPBPR für die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage einige der grundsätzlichen Anforderungen eines fairen Verfahrens ausdrücklich aufführen. Das Recht des Angeklagten, Belastungszeugen zu befragen und Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie Belastungszeugen zu laden und vernehmen zu lassen, gewähren beide Konventionen übereinstimmend 1090. Sie sehen darin einen spezifischen Aspekt des durch Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR gewährleisteten fairen Verfahrens. Es soll sichern, daß der Angeklagte bei der für seine Verteidigung besonders wichtigen Beweiserhebung die gleichen Befugnisse wie die Anklagevertretung hat. Die von den Vorstellungen des angelsächsischen Parteiprozesses bestimmte Wortwahl 1091 stellt hier das Prinzip der Waffengleichheit (Chancengleichheit) für den Personalbeweis besonders heraus 1092 und legt der Befugnis der Verteidigung, belastende Zeugenaussagen selbst hinterfragen zu können, besonderes Gewicht für ein faires Verfahren bei 1093 . Überträgt man diesen Grundgedanken auf den vom Amtsermittlungsgrundsatz bestimmten kontinentalen Prozeß, dann gehört auch dort zum fairen Verfahren, daß der Angeklagte bei der Ausschöpfung der persönlichen Beweismittel und bei der Prüfung des Wahrheitsgehaltes der Aussagen grundsätzlich die gleichen Befugnisse haben muß wie der Staatsanwalt. Die Konventionen geben dem Angeklagten zwar nicht das Recht auf eine unmittelbare Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen (Konfrontation im eigentlichen Sinn) 1094 , sie garantieren aber der Verteidigung ein unmittelbares Fragerecht, um das Wissen dieser Zeugen auch für die Verteidigung ausschöpfen zu können und auch, um ihre Glaubwürdigkeit hinterfragen zu können 109 \ Der Wortlaut von Absatz 3 stellt auf den Personalbeweis ab, den Beweis durch 211 Urkunden umfaßt er an sich nicht 1096 . Dieser wird unmittelbar an den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR gemessen; er ist also ebenso daran gebunden, daß bei der Verwendung schriftlicher oder in einer sonstigen Form dokumentierte Beweismittel die Grenzen einer fairen, die Waffengleichheit wahrenden Verfahrensgestaltung eingehalten werden. Soweit ein Beweis durch Urkunden erbracht werden soll, muß die Verteidigung Gelegenheit haben, diese zu überprüfen. Das Gebot eines fairen Verfahrens kann auch verletzt sein, wenn bei der Anklagebehörde vorhandenes verfahrenserhebliches Beweismaterial dem Angeklagten oder seinem Verteidiger verschwiegen wird 1097 . Für Augenscheinsobjekte (Waffen usw.), auf die sich die Anklage stützt, hat 1089

Zur Gesamtprüfung des Verfahrens vgl. Rdn. 69. 1090 £)i e s e s Recht wird auch in Art. 18 Abs. 7 des deutsch-sowjetischen Truppenvertrags vom 12.10. 1990 (BGBl. TT 1991 S. 289) fast wortgleich mit Art. 14 Abs. 3 Buchst, e TPBPR besonders angesprochen, während Art. 7 Abs. TX Buchst, c, d des Nato-Truppenstatuts eine teils engere, teils weitergehenden Fassung (insbes. Gegenüberstellung) haben. 11,91

11192

TntKommEMRK/ Vogler 548; vgl. das 6. Amendment zur Verfassung der USA, dazu und zur Rechtslage in England Dörr 42 ff; Beulke FS Rieß 6; vgl. auch Gollwitzer GedS Karlheinz Meyer 151. Vgl. EGMR 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 235); 6.5.1985 Bönisch/Ö (EuGRZ 1986 127); vgl. auch EKMR bei Strasser EuGRZ 1985 627; Vrowein! Peukert 200; Guradze 35; TntKommEMRK/ Vogler 548; SK-StPO-Pae/feei? 154. Vgl. Schweiz. BGer. EuGRZ 1979 296; 1980 247; für den TPBPR Hofinunn S. 39; Nowak 52. Ferner auch Peukert

(399)

EuGRZ 1980 247; 255 (Waffengleichheit aber nicht verletzt, wenn Staatsanwalt den Zeugen unmittelbar fragen darf, während der Angeklagte seine Fragen über den Richter stellen muß). io93 | |, C | wird der Unterschied deutlich, der zwischen der englischen und der französischen Rechtsauffassung besteht, wenn es darum geht, in welcher Form Zeugenaussagen als zuverlässige Grundlage der gerichtlichen Tatsachenfeststellung in die Verhandlung einzuführen sind, vgl. dazu Gieß ZStW 115 (2003) 131, 143 ff. 10,4

1095 1096

Vgl. EGMR 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 713); Beulke FS Rieß 7. Vgl. dazu Rdn. 219. Zur Ausnahme bei der Verlesung der Protokolle früherer Zeugenvernehmungen vgl. Rdn. 224; 227. EGMR 19.6.2001 Atlan/GB (ÖJZ 2002 698; Wahrheitswidrige Verneinung der Existenz von nicht offen gelegtem Beweismaterial bei der Anklagebehörde). Vgl. auch E G M R 16.12.1992 Edwards/GB (ÖJZ

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

der E G M R gefordert, daß sie in der Hauptverhandlung vorgelegt werden müssen, um der Verteidigung Einwände zu ermöglichen l098 . 212

Bei der Auslegung der formellen Regelung der Konventionen, die auf materielle Kriterien für den Anspruch auf Beweiserhebung verzichtet 1099 , steht deren erkennbare Zielsetzung im Vordergrund, zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens die Verteidigung befugnismäßig mit der Anklagebehörde gleichzustellen; jede den Beweiswert in Frage stellende Einseitigkeit bei der Beweisaufnahme soll vermieden werden. Die Konventionen gehen allerdings davon aus, daß die Befugnis des Angeklagten, die Vernehmung eines für seine Verteidigung wesentlichen Zeugen zu erreichen, im nationalen Recht so geregelt ist, daß er in dieser für ein faires Verfahren notwendigen Verteidigungsmöglichkeit nicht unbillig beschränkt wird 1100 ; insbesondere muß er das Recht haben, einen ihn belastenden Zeugen zu befragen oder durch seinen Verteidiger befragen zu lassen und zu den Ergebnissen der Beweiserhebung Stellung zu nehmen 1101 . Grundsätzlich beurteilen sie diese Befugnis aber nicht isoliert, sondern danach, ob bei einer Gesamtschau aller Verfahrensregelungen des jeweiligen nationalen Rechts und des konkreten Verfahrensverlaufs der Beschuldigte ein faires Verfahren hatte 1102 .

213

Die formelle Unterscheidung zwischen Belastungszeugen und Entlastungszeugen entspricht an sich nicht dem vom Untersuchungsgrundsatz bestimmten kontinentaleuropäischen Strafprozeß 1103 . Da die meisten Zeugen vom Gericht beigezogen werden und ihre Aussagen für und gegen den Angeklagten gewertet werden können, wird man nicht darauf abstellen dürfen, auf wessen Betreiben ein Zeuge geladen wurde. Als Belastungszeugen sind alle Personen anzusehen, deren für die Entscheidungsfindung verwertbare Bekundungen den Angeklagten in irgendeiner Hinsicht im Sinne der Anklage belasten 1104 , während als Entlastungszeugen alle Personen in Betracht kommen, die eine zugunsten des Angeklagten wirkende Tatsache bekunden oder bekunden sollen. D a es auf den mit der Beiziehung der Zeugen verfolgten Zweck ankommt, können auch Zeugen, die den Angeklagten belastet haben, darunter fallen, wenn sich die Verteidigung von ihrer erneuten Einvernahme und Befragung" 0 5 eine Entlastung verspricht, sei es durch Korrektur ihrer früheren Aussagen oder weil die erneute Befragung Zweifel an deren Glaubwürdigkeit aufzeigen soll 1106 . 1993 391); 25.9.2001 P. G„ J. H./GB (ÖJZ 2002 911: Einschränkungen nur, soweit unbedingt erforderlich und wenn anderweitig ausreichend ausgeglichen); ferner Rdn. 62. ™ EGMR 6.12.1989 Barberä u.a./Span (Series A 146); dazu Esser 626; SK-StPO-Paeffgen 166, der die Frage aufwirft, ob es der E G M R als Kompensation hätte genügen lassen, wenn die Verteidigung die Gegenstände im Ermittlungsverfahren hätte besichtigen können. 1099 Anders Art. 8 Abs. 2 Buchst, f AMRK (deutsche Obersetzung EuGRZ 1980 435), wo der Verteidigung neben dem Fragerecht das Recht eingeräumt wird, Personen, die den Tatbestand klären können, als Zeugen zu laden; vgl. Buergenthal EuGRZ 1984 169; Prowein EuGRZ 1980 169, Das Recht, den Belastungszeugen gegenübergestellt zu werden, legt auch Art. VII Abs. 9 Buchst, c des Nato-Truppenstatuts vom 12.6.1951 (BGBl. II 1961 S. 1183, 1190) fest. Iii» Vgl. etwa TriftererlBinner EuGRZ 1977 142. 1101 Das innerstaatlich im Recht auf Gehör verankerte Recht, zum Ergebnis der Vernehmungen Stellung

111.2

111.3 1104 111.5

111.6

zu nehmen, folgt aus dem in Absatz 1 garantierten Recht auf ein faires Verfahren (vgl. Rdn. 71); es ließe sich auch aus dem Sinn des Fragerechts herleiten; vgl. SK-StPO-ftie/Äen 154. So etwa EGMR 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 23.4.1997 Van Mechelen/NdL (StV 1997 619 mit Anm. Waltenberg/Violett; dazu auch Rettzikowski JZ 1999 605); Beulke FS Rieß 7; ferner zu der auch hier Platz greifenden Gesamtbetrachtung des EGMR als (flexibles) Prüfkriterium für ein faires Verfahren Nack NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 46, 50; ferner Rdn. 210 mit weit. Nachw. Vgl. Schweiz.BGer. EuGRZ 1979 296. Grabenwarter § 24 Rdn.72. Die Konventionsgarantie des Fragerechts bei diesen Zeugen deckt sich insoweit weitgehend mit einem weit verstandenen Ladungsrecht, das eine sollte aber das andere nicht ausschließen. Vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 75; SiL-StPO-Paeffgen 163, die ein Recht auf Zuziehung dieser „Belastungszeugen" bejahen.

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Zeuge ist dabei nicht rechtstechnisch im Sinne des jeweiligen nationalen Verfahrens- 2 1 4 rechts zu verstehen. Der Begriff wird autonom ausgelegt1107. Nach dem Zweck der Regelung versteht der E G M R jeden als Zeugen, dessen Angaben vor Gericht als Beweismittel zur Entscheidungsfindung verwendet werden 1108 , also auch der Zeuge, der nicht selbst vor Gericht vernommen wird, dessen Bekundungen aber durch ein anderes Beweismittel in die Verhandlung eingeführt werden. Zeuge in diesem Sinn kann auch ein Sachverständiger1109 sein, ferner, soweit es um die Ausübung des Fragerechts geht, auch ein Mitangeklagter 1110 oder ein Nebenbeteiligter am Verfahren 1111 oder der Privat- oder Nebenkläger 1112 . b) Das Recht, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen zu erwirken, wird 2 1 5 dem Angeklagten nicht als absolutes Recht auf Beiziehung einer unbegrenzten Zahl beliebiger Zeugen gewährt 1113 . Es gilt die wohl als selbstverständlich angesehene ungeschriebene Einschränkung, daß die Ladung und Vernehmung der Zeugen durch das Gericht tatsächlich durchführbar ist, was grundsätzlich auch die Vernehmung im Ausland im Wege der Rechtshilfe mit einschließt 1114 . Das Recht auf Ladung von Zeugen kann im nationalen Recht eingegrenzt werden. Es muß aber insgesamt ein faires, ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten bietendes Verfahren gewährleistet bleiben. In der Ablehnung einer von der Verteidigung beantragten Zeugenvernehmung kann daher ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K liegen, wenn die Verfahrenserheblichkeit des Antrags für den Richter ersichtlich war 1115 . Zur Wahrung der Chancengleichheit müssen für die Entlastungszeugen die gleichen Bedingungen wie bei den Belastungszeugen gelten. Letztere Verknüpfung darf nicht dahin mißverstanden werden, daß ihr genügt sei, wenn im konkreten Einzelfall Verteidigung und Anklage die Zuziehung einer gleichen Zahl von Zeugen erreicht haben. Es kommt nicht auf die vordergründige Gleichheit hinsichtlich der Zahl der Zeugen oder der Dauer ihrer Vernehmung an 1116 , sondern darauf, daß bei allen Zeugen, von denen eine verfahrenserhebliche Aussage zu erwarten ist, die Verteidigung insgesamt die gleiche Möglichkeit für ihre Zuziehung haben muß

1107

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lllB

1110

EKMR 24.11.1986 Unterpertinger/Ö (EuGRZ 1987 151 m. Anm. Treckte!: autonom auszulegen, weiter als im technischen Sinn des nationalen Rechts); EGMR 20.11.1189 Kostovski/NdL (StV 1990 482); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 26.4.1991 Asch/Ö (EuGRZ 1992 417); 22.4.1992 Vidal/Belg (EuGRZ 1992 440); 28.8.1992 Artner/EuGRZ 1992 476); Esser 630; Joachim StV 1992 245; vgl. nachf. Fußn. Vgl. EKMR EuGRZ 1997 148 (Mielke); sowie vorst. Fußn. EKMR bei Strasser EuGRZ 1988 329; 380; IntKommEMRK- Vogler 550; Peukerl EuGRZ 1980 266; E G M R 6.5.1985 Bönisch/Ö (EuGRZ 1986 127) verweist darauf, daß Sachverständiger bei wörtlicher Auslegung kein Zeuge ist, läßt die (entsprechende?) Anwendbarkeit von Buchst, d wegen des bejahten Verstoßes gegen das Gebot eines fairen Verfahrens letztlich aber offen. Etwa EGMR 7. 8.1996 Ferrantelli, St Angelo/1 (ÖJZ 1997 151), dazu SK-StPO-Paeffgen 162; Esser 331; Guradze 35; Peukert EuGRZ 1980 258; zur „Zeugeneigenschaft" des Mitangeklagten auch SK-StPORogall Vor § 133, 123; Walther GA 2003 204, 216, die das Verbot des § 240 Abs. 2 Satz 2 StPO, Mitan-

(401)

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1115 1116

geklagte unmittelbar zu befragen, für problematisch halt. Nach E K M R bei IntKommEMRK- Vogler 549 verbietet die M R K die Vernehmung eines Mitbeschuldigten als Zeugen nicht, vgl. Rdn. 256. Vgl. EGMR 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); Esser 631. Esser 631. E G M R Engel EuGRZ 1976 221); EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1981 115; 116; 118; 1982 447 (Handle); 1983 16; ÖJZ 1989 484; FroweinlPeukert 202; IntKommEMRK- Vogler 570; Nowak 52 (auch zum Scheitern des Vorschlags der Garantie eines weitergehenden Beweiserhebungsrechts beim Entwurf des IPBPR). Enger Art. VII Abs. IX Buchst, d NATO-Truppenstatut, wo das gleichartige Recht nur gewährt wird, wenn die Entlastungszeugen der Gerichtsbarkeit des Aufnahmestaates unterstehen. Vgl. E G M R 22.4.1992 Vidal/B (EuGRZ 1992 440). Der Hinweis bei E G M R 8.6.1976 Engel/NdL (EuGRZ 1976 235), die Nichtladung von Entlastungszeugen sei kein Verstoß, da auch keine Belastungszeugen geladen worden seien, wurde zu Recht kritisiert; vgl. IntKommEMRK- Vogler 569.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wie die Anklage 1117 . War allerdings diese Voraussetzung durch eine entsprechende rechtliche Regelung des Verfahrens und durch eine ihr entsprechende tatsächliche Verhandlungsführung 1 1 1 8 gewahrt, dann wurde es als zulässig angesehen, daß ein Gericht den Antrag der Verteidigung auf Ladung und Vernehmung eines Zeugen ohne weitere Begründung 1119 ablehnte, weil es dessen Aussage nicht für erforderlich hielt 1120 . Etwas anderes kann dann gelten, wenn der Beschwerdeführer darlegen kann, daß die Erheblichkeit der zu erwartenden Aussage für den Tatrichter ersichtlich war oder sein mußte 1121 . 216

Bestimmte Regeln über Zulässigkeit und Verwendung von Beweismitteln stellen die Konventionen nicht auf. Sie fordern nur, daß insgesamt ein faires Verfahren gewahrt ist, das die Verteidigungsrechte einschließlich der Waffengleichheit bei der Ausübung der Verfahrensbefugnisse voll wahrt. Sie überlassen dem nationalen Recht, ob und wie es das materielle Beweisrecht und die Einzelheiten der Beweiserhebung regeln 1122 und wieweit und unter welchen Voraussetzungen es die Ladung von Zeugen zulassen will1123. Es hat dabei hinsichtlich Form und Inhalt einen großen Gestaltungsraum 1 1 2 4 . Es kann die Anträge auf Ladung und Vernehmung von Zeugen an Fristen und Formen knüpfen, wie etwa Benennung des Beweisthemas oder Mitteilung der Anschrift der Zeugen 1125 , und es kann die Form der Ablehnung regeln, wobei aus den Konventionen nicht herzuleiten ist, daß die Ablehnung eines Beweisantrags stets einer förmlichen Begründung bedarf 1126 , wie dies etwa § 244 Abs. 6 StPO vorschreibt. Entsprechend seinem jeweiligen Verfahrenssystem kann das nationale Recht die Beweiserhebung auch sachlich regeln und begrenzen. Es kann bestimmen, welche Beweismittel zulässig sind 1127 , ob und in welcher Form sie in die Verhandlung einzuführen sind" 2 8 und es kann die Verwendung bestimmter Arten von Beweismitteln generell ausschließen 1129 . Das nationale Recht kann die Ent1117 1118 1119

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IntKommEMRK-Fotffe»· 569. Guradze36. EGMR 7.7.1989 Bricmont/Belg (Series A 158); dazu krit. SK-StPO-Paeffgen 167. E G M R 8.6.1976 Engel/NdL (EuGRZ 1976 235); 7.7.1989 Bricmont/Belg (Series A 158); E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1979 116; 1981 115, 116, 118; 1983 17; bei Strasser EuGRZ 1989 467; Froweinl Peukert 138; Guradze 36; TntKommEMRK- Vogler 569 ff; SK-StPO-Paeffgen 167, 168 beanstandet u.a. die darin liegende Beweisantizipation und fordert zumindest eine intersubjektive Plausibilität der Ablehnung. Grabenwarler § 24 Rdn. 74 will darauf abstellen, ob bei einer Gesamtabwägung die Nachteile der Ablehnung durch eine faire Verfahrensführung kompensiert werden. EGMR 6.12.1989 Barberä, Messegue, Jabardo/Span (Series A 146); 22.4.1992 Vidal/Belg (EuGRZ 1992 440); 24.6.2003 Garaudy/F (NJW 2004 3695). EGMR standige Rechtspr. etwa 2.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 27.9.1990 Windisch/Ö (1991 193); 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); 25.3. 1999 Pelissier, Sassi/F (NJW 1999 3545); 12.5.2000 Khan/GB (JZ 2000 993 mit Anm. KühnelNash): 25.9.2001 P.G., J.H./GB (ÖJZ 2002 911); E K M R bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 357; EKMR 1989 467; Schnieder GA 2003 295; TntKommEMRKVogler 571. Widmaier NJW Sonderheft für Gerhard Schäfer 2002 76.

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Etwa E G M R 7.7.1989 Bricmont/Belg (Series A 158); 22.4.1999 Vidal/Belg (ÖJZ 1992 801); 10.4. 2003 Alge/Ö (ÖJZ 2003 816). Vgl. Gfe/iZStW 115 ((2003) 131 ff. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 115; bei Strasser EuGRZ 1985 627. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 116; wieweit aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt, daß die Verteidigung nicht ohne Kenntnis vom Ablehnungsgrund bleibt, ist Sache des Einzelfalls. E G M R 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390: rechtswidrig erlangte Fonbandaufnahmen); 20.11. 1989 Kostovski/NdF (StV 1990 481); 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 426); 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257 mit Anm. Gaede = JR 2004 127, dazu Esser JR 2004 98). Vgl. etwa EGMR 25.9.2001 P.G., J.H./GB (ÖJZ 2002 911: Verwertung durch eine heimliche Abhöranlage gewonnene Erkenntnisse, die der verhandlungsführende Richter der Beurteilung der Geschworenen überließ). Zu den unterschiedlichen Auffassungen über die zuverlässige Sachverhaltsfeststellung in den nationalen Rechtsordnungen, vgl. Gieß ZStW 115 (2003) 131, 143 ff mit Beispielen aus dem englischen und französischen Recht. E K M R Unterpertinger/Ö (EuGRZ 1987 151 mit Anm. Trechsel).

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Scheidung über die Verwendung der Beweismittel weitgehend dem Ermessen des Richters überlassen 1130 , es kann aber auch die Gründe festlegen, in denen die Beweiserhebung im Einzelfall abgelehnt werden darf oder muß. Es ist seine Sache, ob und mit welchem Inhalt es generelle Beweisverbote aufstellt und ob es zum Schutze öffentlicher oder privater Belange die Beweiserhebung einschränkt, so etwa zum Schutze von Geheimhaltungsinteressen des Staates 1131 oder zum Schutze von Zeugen in einer besonderen Lage, wie sie ζ. B. in den Zeugnisverweigerungsrechten des nationalen Rechts festgelegt werden 1132 . Notwendig aus der Sicht der Konventionsgarantien ist aber immer, daß der Angeklagte 2 1 7 insgesamt ein faires Verfahren hatte 1133 , daß also der Verteidigung nicht ohne einen sachlichen Grund die Möglichkeit versagt wurde, die von ihr für erforderlich gehaltenen Zeugen zur Vernehmung zu bringen und das Wissen der Belastungszeugen zu hinterfragen. Der verminderte Beweiswert von Zeugenaussagen, die die Verteidigung nicht unmittelbar befragen konnte, muß bei der Entscheidung ausreichend berücksichtigt werden. Auch hier gilt, daß die Verteidigung bei einer Gesamtwürdigung aller ihr offenen verfahrensrechtlichen Befugnisse insgesamt nicht schlechter gestellt sein darf als die Staatsanwaltschaft. Unter diesem Blickwinkel wird es als mit den Konventionen vereinbar angesehen, daß das Selbstladungsrecht des Angeklagten in § 220 StPO an die Sicherstellung der Auslagen der Beweisperson gebunden ist, denn diese Verteidigungsmöglichkeit wird dem Angeklagten nur zusätzlich zu der Möglichkeit eingeräumt, durch einen Beweisantrag zu erreichen, daß das Gericht alle Beweispersonen hört, von denen sachdienliche Bekundungen zu erwarten sind 1134. Hinsichtlich der Beurteilung der Notwendigkeit der Beweiserhebung haben die natio- 2 1 8 nalen Gerichte einen weiten Ermessensspielraum. Ebenso wie die früheren Konventionsorgane sieht auch jetzt der Gerichtshof seine Aufgabe grundsätzlich nicht darin, an Stelle des Tatrichters die Sachdienlichkeit einer Beweiserhebung oder gar die tatrichterliche Beweiswürdigung nachzuprüfen oder abstrakt zu entscheiden, ob nach nationalem Recht die Verwendung eines rechtswidrig erlangten Beweismittels zulässig war 1135 . Er kontrolliert nur, ob insoweit das Gebot eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens einschließlich der Waffengleichheit gewahrt ist 1136 . Diese kann zum Beispiel dadurch verletzt sein, daß eine Beweiserhebung willkürlich, weil nicht durch vertretbare sachliche Überlegungen gedeckt, abgelehnt wurde oder weil dem Angeklagten eine ersichtlich relevante Verteidigungsmöglichkeit vorenthalten blieb 1137 . Dies setzt aber voraus, daß der

1

So etwa in Frankreich Art. 310 Code de procedure penale. ' " i EKMR bei Strasser EuGRZ 1989 467. 1132 EKMR Unterpertinger/Ö (EuGRZ 1987 151 mit Anm. Trechsel); dazu EGMR 24.11.1986 (NJW 1987 3068); Beulke FS Rieß 9. 1133 E G M R 7.7.1989 Barberä u. a./Span (Series A 146); 26.4.1991 Asch/Ö (EuGRZ 1992 474); 20.9.1993 Saidi/F (ÖJZ 1994 232); 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); BGHSt 46 93, 95. 1134 Strittig; wie hier IntKommEMRK- Vogler 568; a. A Guradze 36. 1135 E G M R 24.11.1986 Unterpertinger/Ö (NJW 1987 3068 = EuGRZ 1987 157); 20.11.1989 Kostovski/ NdL (StV 1990 482); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 356; 357; IntKommEMRK- Vogler 567; Peukert EuGRZ 1980 267; Vogler ZStW 89 (1977) 788. (403)

1136

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Etwa E K M R ÖJZ 1991 324; E G M R 6.5.2003 Perna/I (NJW 2004 2653). Vgl. Rdn. 65 mit weit. Nachw.; ferner IntKommEMRK- Vogler 572 ff; und seine Kritik an dieser auf der sog. „fourth-instanceDoktrin" beruhenden Beschränkung 574 ff". Vgl. etwa E G M R 9.6.1998 Teixeira de Castro/Port (NStZ 1999 47 mit Anm. Sommer): 25.3.1999 Pelissier & Sassi/F (NJW 1999 3545); E K M R bei Strasser EuGRZ 1989 467; Vogler ZStW 89 (1977) 788, ferner UN-AMR nach Nowak 52. Die EKMR konnte sich in den bei Rdn. 215 angeführten Entscheidungen damit begnügen, daß das Gericht sachliche Gründe angeführt hat, weshalb es die erstrebte Beweiserhebung für entbehrlich hielt, sowie damit, daß der Beschwerdeführer entsprechende Anträge nicht wiederholt oder die Erforderlichkeit der Beweiserhebung oder einen Mißbrauch des Ablehnungsrechts nicht aufgezeigt hat.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Angeklagte dargelegt hat, weshalb die von ihm beantragte Zeugenvernehmung für die Wahrheitsfindung erforderlich war 1137a . Wird ein für die Sachaufklärung wichtiger Zeuge von der Exekutive gesperrt, sodaß er vom Gericht nicht vernommen werden kann, erfordert die faire Verhandlungsführung, daß dies vom Gericht bei der dann gebotenen vorsichtigen Beweiswürdigung berücksichtigt wird; meist wird es dann die Möglichkeit nicht ausschließen können, daß der gesperrte Zeuge das Entlastungsvorbringen des Angeklagten bestätigt hätte 1138 . In welchen Fällen der E G M R neben dem Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens zusätzlich zu Art. 6 Abs. 1 M R K auch Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K wegen der ungleichen Beweiserhebungschancen als verletzt ansieht, bleibt mitunter unklar. Vielfach prüft er beides meist gemeinsam, da er Art. 6 Abs. 3 Buchst, d nur als einen Aspekt des fairen Verfahrens betrachtet 1139 , so daß er meist im Rahmen einer Gesamtwürdigung entscheidet, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair war. Dies kann auch der Fall sein, wenn der geltend gemachte Verstoß gegen Absatz 3 im weiteren Verfahren ausgeglichen worden ist 1140 . 219

c) Die Befugnis, die Belastungszeugen zu befragen1141, soll sicherstellen, daß diese Zeugen nicht einseitig vernommen werden und daß bei ihrer Einvernahme auch die für die Verteidigung wichtigen Gesichtspunkte zur Sprache kommen können, sie soll es außerdem ermöglichen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen und den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu hinterfragen 1142 . Dieses Recht, das in der Regel 1143 bei einer unmittelbaren Konfrontation mit dem Zeugen in der öffentlichen (kontradiktorischen) Verhandlung 1144 ausgeübt werden sollte, ist ein wichtiges Verteidigungsrecht. Es muß dem Angeklagten grundsätzlich bei allen vom Gericht gehörten Beweispersonen eingeräumt werden, bevor deren Angaben bei der Entscheidung gegen ihn verwertet werden 1145 , also auch, wenn ein Zeuge nur im Vorverfahren vernommen worden ist 1146 . Daher sollte auch dies nach Möglichkeit bereits in Gegenwart des Angeklagten und seines Verteidigers geschehen 1147 , andernfalls muß diesen nachträglich eine ausreichende Befragung ermöglicht werden. Eine ergänzende Befragung kann auch notwendig sein, wenn der Ange-

»37a Etwa EGMR 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); 7.7.1989 Bricmont/Belg (Series A 158); 6. 5.2003 Perna/T (NJW 2004 2653). 1158 BGH NStZ 2004 343 („EL Motassadeq"-Sperrung eines Zeugen durch die USA) = JZ 2004 924 mit Anm. Müller; zu den Lösungsmöglichkeiten auch Gaede StraFo. 2004 195 (mit Bedenken gegen die Beweiswürdigungslösung des BGH). 11W Etwa EGMR 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 26.4.1991 AschIÖ (EuGRZ 1992 474); vgl. oben Rdn. 216 mit weit. Nachw.; dagegen Wallher GA 2003 204, 219 ff. 11411 Anders Walther GA 2003 204, 219 ff, die fordert, daß die Verstöße gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK für sich allein und losgelöst von der Frage des fairen Verfahrens geprüft werden müssen. Schwede!· GA 2003 293, 297 ff sieht im Abstellen auf das Gesamtverfahren eine Art Beruhensprüfung. 1141 Nach Walther GA 2003 204, 2 verdeutlicht der englische Wortlaut „to examine oder have examined" besser als das „befragen oder befragen lassen" (vgl. franz. Wortlaut „interroger ou faire interroger"), daß hier nicht nur das bloße Stellen von Fragen sondern ein aktives Hinterfragen des Wahrheitsgehalts einer Aussage gemeint ist.

1142 vgl. Waither GA 2003 204, 215 ff. 1143

Die MRK legt keinen Unmittelbarkeitsgrundsatz fest; ihr kann auch genügen, wenn das Fragerecht außerhalb der Hauptverhandlung wirksam ausgeübt werden konnte; vgl. SK-StPO-Paeffgen 164; ferner E G M R 19.2.1991 Isgrö/I (Series A 194-A: ungenügend, wenn Angeklagter ohne Verteidiger teilnahm).

1144

Das Recht auf eine faire (kontradiktorische) öffentliche Verhandlung beurteilt der E G M R im Zusammenhang mit den Rechten des Absatzes 3, diese schließen aber nicht aus, auch außerhalb der Verhandlung gewonnene Beweise in dieser als Beweismittel zu verwenden, so daß dann dem Fragerecht besonderes Gewicht beikommt, vgl. SK-StPOPaeffgen 166. 1145 Zum weiten Begriff des Belastungszeugen vgl. Rdn. 214; ferner zum Fragerecht Gollwitzer GedS Karlheinz Meyer 147 ff. 1146 Zur Verlagerung des Schwerpunkts der Beweiserhebung ins Ermittlungsverfahren und zur Absicherung der Rechte der Verteidigung vgl. Beulke FS Rieß 17 ff. 1147 Vgl. Endriss FS Rieß, 65 ff; SK-StPO-Pae/fgen 164.

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Art. 14 IPBPR

klagte noch keinen Verteidiger hatte, als er einer Einvernahme im Ermittlungsverfahren beiwohnte" 4 8 . Die Gelegenheit zur ausreichenden Befragung muß im Laufe des Verfahrens mindestens einmal gegeben sein 1149 . Ein Recht auf wiederholte Befragung kann bei unveränderter Beweislage aus Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR nicht hergeleitet werden" 5 0 , desgleichen kein Recht auf Anwesenheit des Angeklagten bei kommissarischen richterlichen Zeugeneinvernahmen oder bei Zeugeneinvernahmen durch die Polizei. War die Befragung nach nationalem Recht zunächst nicht möglich oder ist sie zu Unrecht verweigert worden, genügt es den Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR, wenn sie vor Erlaß des Urteils nachgeholt worden ist. Konnte allerdings das Fragerecht in keinem Zeitpunkt des Verfahrens effektiv ausgeübt werden, kann die Verwertung einer solchen Aussage gegen den Angeklagten bedeuten, daß er auch in der Gesamtschau kein faires Verfahren hatte 1151 . Dies wurde angenommen, wenn die Aussage, die von der Verteidigung nicht hinterfragt werden konnte, das einzige die Verurteilung tragende Beweismittel war" 5 2 , und zwar selbst dann, wenn das Gericht im Bewußtsein dieses Umstands die Aussage in seiner Entscheidung besonders sorgfältig geprüft hatte. Unterstützte dagegen die Aussage, deren Hinterfragung nicht oder nur ungenügend möglich war, lediglich ein durch andere Beweismittel gewonnenes Ergebnis, kann ihre Verwendung in der Gesamtschau des Verfahrens noch mit dem Gebot eines fairen Verfahrens vereinbar sein" 5 3 . Diese Grundsätze finden auch Anwendung bei der Verwertung der Aussage eines Zeugen, dessen Aussage nicht hinterfragt werden kann, weil zum Schutz vorrangiger legitimer Interessen seine Personalien geheim gehalten werden und der für eine unmittelbare Befragung nicht zur Verfügung steht 1154 . Die Konventionen verpflichten nur dazu, das Verfahren grundsätzlich so zu gestal- 2 2 0 ten, daß der Angeklagte Gelegenheit zur Ausübung seines Fragerechts hat. Ob er davon Gebrauch macht, ist seine Sache. Vor allem geht zu seinen Lasten, wenn er sich dieser Möglichkeit dadurch begibt, daß er befugt oder unbefugt der Hauptverhandlung oder einer kommissarischen Zeugeneinvernahme fernbleibt, bei der er das Fragerecht hätte ausüben können 1155 , oder wenn er seinen Verteidiger ungenügend informiert. Das Fragerecht der Konventionen wird als Recht der Verteidigung insgesamt verstan- 221 den. Aus dem Wortlaut „oder stellen zu lassen" wird geschlossen, daß das Recht zur Befragung nicht notwendig dem Angeklagten persönlich eingeräumt sein muß, es genügt, wenn der Verteidiger diese Möglichkeit hatte" 5 6 . Das für eine effektive Hinterfragung "is E G M R 19.2.1991 Tsgrö/T (Series A 194-A): Schweiz. 1145 1150

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1152

BGer E u G R Z 1993 290. E K M R nach I n t K o m m E M R K - Vogler 551. Vgl. etwa Schweiz.BGer E u G R Z 1979 296; 1993 290; S K - S t P O - P a e f f g e n 164, 165; Villiger H d B 477. E G M R 24.11.1986 Unterpertinger/Ö (NJW 1987 3068); 6.12.1988 Barberä u.a./Span (Series A 146); 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 19.12. 1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 5.6.1992 Lüdi/CH (StV 1992 499); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 20.9.1993 Saidi/F (ÖJZ 1994 232); 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617); 20.12.2001 P.S./D (NJW 2003 2893); A.M./T (StraFo. 2000 374); dazu Beulke FS Rieß 3, 9 ff; ferner BGHSt 46 93, 95; Widmakr N J W Sonderheft G Schäfer 2002 76, 77 je mit weit. Nachw. Vgl. 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617); E G M R 20.12.2001 P. S./D (NJW 2003 2893) dazu Beulke F S Rieß 3, 13 sowie vorst. Fußn.

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1156

Unter dieser Voraussetzung ist faires Verfahren nicht verletzt, vgl. E G M R 26.4.1991 Asch/Ö ( E u G R Z 1992 476); 28.8.1992 Artner/Ö ( E u G R Z 1992 476); 7.8.1996 Ferrantelli & Santangelo/I (ÖJZ 1997 151); 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); 25.3. 1999 Pellisier & Sassi/F (NJW 1999 2545); Beulke FS Rieß 3, 10 ff; Meyer-Ladewig 56; zur einschneidenden Reduzierung des Beweiswerts nicht hinterfragter Aussagen BGHSt 46 93, 103; Widmaier N J W Sonderheft Gerhard Schafer 2002 76, 79. E G M R 15.6.1992 Lüdi/CH ( E u G R Z 1992 300); 26. 3.1996 D o o r s o n / N d L (ÖJZ 1996 715); vgl. auch 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617); Beulke F S Rieß 3, 13; Meyer-Ladewig 56. Z u den Einzelheiten Gollwilzer GedS Karlheinz Meyer 160 ff. BGHSt 46 93, 95; B G H StV 1996 471; FroweinlPeukert 201; I n t K o m m E M R K - Vogler 552; vgl. auch Guradze35; TrechselEuGRZ 1987 153.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

einer Aussage mitunter erforderliche Sachwissen muß sich der Verteidiger vorher bei seinem Mandanten verschaffen. War ihm dies aus Gründen nicht möglich, die weder er noch sein Mandant zu vertreten hat, kann sich daraus ein Anspruch auf Wiederholung der Einvernahme ergeben 1157 . Ein unbedingtes Anwesenheitsrecht des Angeklagten bei der Einvernahme von Beweispersonen kann aus Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR nicht hergeleitet werden. Diese Bestimmungen sind nicht verletzt, wenn der Angeklagte bei der Vernehmung eines Zeugen aus prozessualen Gründen ausgeschlossen wird. Das Verteidigungsrecht ist auch gewahrt, wenn er nachträglich vom Inhalt der Aussage Kenntnis erhält, etwa durch die Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO, und dann ausreichend Gelegenheit hat, Fragen zu stellen oder stellen zu lassen 1158 . 222

Das Recht, die geladenen Entlastungszeugen zu befragen, wird von den Konventionen nicht ausdrücklich gewährleistet. Bei dem Konzept des Parteiprozesses, das gedanklich die Fassung des Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR mitbestimmte, war diese Befugnis wohl selbstverständlich 1159 . Es wird durch Art. 6 Abs. 3 M R K nicht ausgeschlossen. Da das Fragerecht des § 240 Abs. 2 StPO ohnehin bei allen genannten Personengruppen eingreift 1160 , bedarf diese Frage hier keiner Vertiefung aus der Sicht der Konventionen.

223

Als Adressat des Fragerechts kommen alle Personen in Betracht, die als Beweismittel vor Gericht unmittelbar vernommen werden (Zeugen im formellen, verfahrensrechtlichen Sinn der StPO). Personen, deren Wahrnehmungen nicht durch ihre persönliche Einvernahme, sondern nur mittelbar über andere Personen in das Verfahren eingeführt werden, stehen für eine unmittelbare Befragung nicht zur Verfügung, es sei denn, sie werden nachträglich als Zeugen zugezogen. Diese Unterscheidung entspricht dem Grundgedanken der Regelung, die die Verteidigung dadurch sichern will, daß diese zugezogene Beweispersonen fragen und nicht zugezogene laden lassen darf 1 1 6 1 . Auch „mittelbare Zeugen" können Belastungszeugen im Sinne des autonomen Zeugenbegriffs der Konventionen sein 1162 , so daß sich das von diesen garantierte Fragerecht auch auf sie und ihre Aussage erstreckt" 6 3 . Die Konventionsorgane der M R K haben dies meist pragmatisch vom Ergebnis her unter dem Blickwinkel eines fairen Verfahrens beurteilt, unabhängig von den Besonderheiten des nationalen Rechts 1164 . Erforderlich ist eine differenzierende Betrachtung:

224

Personen, die selbst im Verfahren zu keiner Zeit vernommen wurden, können mangels jedes eigenen Bezugs zum Verfahren nicht Adressaten eines verfahrensinternen Fragerechts sein. Dies gilt auch, wenn eine Privatperson als Zeuge vom Hörensagen darüber berichtet, was ihr ein anderer erzählt hat 1165 . Sind dagegen Personen in einem früheren 1157 1158

1159 11611 1161

1162 1163

Beulke FS Rieß 15. EKMR nach TntKommEMRK- Vogler 552; FroweinlPeukerl 201. Vgl. Gepperl Unmittelbarkeit 246; Schorn 2. Vgl. Gollwilzer GedS Karlheinz Meyer 147. Art. 8 Abs. 2 Buchst, f AMRK stellt diesen Grundgedanken klar heraus, wenn es der Verteidigung das Recht gibt, die vor Gericht anwesenden Zeugen zu befragen und Personen, die die Tatsachen erhellen können, als Zeugen zu laden. Vgl. Rdn. 214, 225. E G M R 20.11.1989 Kostovski /NdL (StV 1990 481); 26.4.1991 Asch/Ö (EuGR 1992 474); 28.8. 1992 Artner/Ö (EuGRZ 1992 476); 20.12.2001 P. S./D (EuGRZ 2002 37); BGHSt 46 93, 97; NStZ 1993 292; StV 1996 471; BGH NJW 1991 646 ließ

11H

1165

dies noch offen. Verneinend früher etwa BGHSt. 17 358; Lohr 176 ff; Tiedemaim MDR 1963 458 (Fragerecht der Konventionen geht nicht über § 240 Abs. 2; §§ 219; 220 StPO hinaus). Vgl. die nachf. Fußnoten. EGMR 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481) stellt bei der autonomen Auslegung des Zeugenbegriffs darauf ab, daß die Aussagen dem Gericht vorlagen und in seine Erwägungen mit einbezogen wurden; vgl. auch BGH NJW 1991 646; 2000 3505. Eine andere Frage ist, ob die Aufklärungspflicht bzw. aus der Sicht der Konventionen das Gebot eines fairen Verfahrens verlangt, daß das Gericht sofern möglich - eine solche Person als Zeugen zuzieht.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Verfahrensstadium behördlich einvernommen worden und werden ihre Aussagen für die Entscheidungsfindung in die Hauptverhandlung eingeführt, so gelten solche Personen nach dem Schutzzweck der Konventionen selbst als Belastungszeugen; das Fragerecht der Verteidigung erstreckt sich auch auf sie und ihre Aussage 1166 . Dabei ist nicht entscheidend, ob und aus welchem Grund ihre früheren Aussagen durch Verlesung des Vernehmungsprotokolls, durch Vorspielen einer Bild/Tonaufzeichnung oder durch Einvernahme einer Verhörsperson oder sonstwie zum Gegenstand der Hauptverhandlung werden und ob sie im Endergebnis für die Urteilsfindung verwendet werden 1167 . Das unmittelbare Fragerecht erstreckt sich vor allem auch auf die Personen, deren Beobachtungen durch die Aussage eines anderen, der dies von ihnen im öffentlichen Auftrag erfragt hat, in die Hauptverhandlung eingeführt werden, weil sie für eine Vernehmung in ihr nicht verfügbar sind, wie dies etwa bei einem verdeckten Ermittler oder einer V-Person der Fall sein kann 1168 . Zeugen vom Hörensagen sind selbst Belastungszeugen 1169 . Sie bekunden eine eigene 2 2 5 Wahrnehmung, die allerdings nur darin besteht, was ihnen eine andere Person über das eigentlich entscheidungsrelevante Geschehen berichtet hat. Wenn diese Auskunftsperson nicht selbst als unmittelbarer „Tatzeuge" im Verfahren vernommen worden ist und nicht vom Angeklagten in der Hauptverhandlung befragt werden kann, schließen weder Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K noch Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBPR aus, daß Zeugen vom Hörensagen an Stelle der eigentlichen Wahrnehmungsperson vernommen und ihre Aussagen verwertet werden dürfen 1170 . Die Konventionsbestimmungen, die keine Gegenüberstellung mit den Belastungszeugen fordern 1171 , garantieren die Verfahrensbefugnisse des Angeklagten bei der Beweisaufnahme vorwiegend unter dem Blickwinkel einer insgesamt fairen, ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten eröffnende Verfahrensgestaltung 1172 , die es ermöglicht, daß das Fragerecht des Angeklagten von diesem selbst oder von seinem Verteidiger in irgend einem Stadium des Verfahrens sachgerecht 1173 ausgeübt werden kann 1174 . Sie überlassen es dem nationalen Recht, ob es die Vernehmung und Befragung der Zeugen der Hauptverhandlung vorbehält oder ob es der Verteidigung schon vorher eine solche Möglichkeit eröffnet, wie etwa durch ein Teilnahmerecht an

1166

E G M R 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481) betrachtet sie in Abweichung von nationalem Recht „für die Zwecke des Buchst, d" als Zeugen, ebenso EGMR 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 19.2.1991 lsgro/1 (Series A 194 A); 22.4.1992 Vidal/Belg (EuGRZ 1992 440); 26.4.1991 Asch/Ö (EuGRZ 1992 471); 28. 8.1992 Artner/Ö (EuGRZ 1992 476); 20.12.2001 P.S./D (EuGRZ 2002 37); Esser 630 ff; Meyer-Ladewig 93. Π67 [ L l d a s Entstehen des Fragerechts als Verteidigungsrecht als solches kann es nur darauf ankommen, ob eine in irgend einer Hinsicht in die Hauptverhandlung eingeführte und potentiell auch gegen den Angeklagten verwertbare also ihn möglicherweise belastende Aussage vorliegt; daß sie vom Gericht bei der Urteilsfindung später nicht verwertet wurde, hat nur Bedeutung, für die Frage, ob sein Urteil auf der Beschneidung des Fragerechts beruht oder ob dieser Umstand die Fairneß des Gesamtverfahrens beeinträchtigen konnte. 1168 1169

EGMR 15. 6.1992 Lüdi/CH (EuGRZ 1992 300). Zur grundsätzlichen Zulässigkeit vgl. etwa BVerfG

(407)

11711

1171

1172 1175

1174

57 283; BVerfG (Kammer) NStZ 1991 445; BGHSt 17 382; 33 178; vgl. BGH NStZ 1982 433; NJW 1991 646. EKMR nach Frowein!Peukert 200; IntKommEMRKMiehslerlVogler 372 ff; 566; je mit weit. Nachw. zum Streitstand; ferner Gepperl Unmittelbarkeit 247; Peukert EuGRZ 1980 267 ff; Meyer-Goßner47 22; SK-StPO-Paeffgen 157; Vogler ZStW 89 (1977) 788; und die Nachw. Fußn. 630; a. Α etwa Grünwald FS Dünnebier 359 und JZ 1966 469, 493; Ilanack }Z 1972 236; Guradze 35; einschränkend auch Dörr 154. BGHSt 46 93, 96; anders als der sonst als Vorbild mit hereinspielende 6. Zusatzartikel zur Verfassung der USA oder Art. VII Abs. IX Buchst, c des NatoTruppen statuts. Vgl. oben Rdn. 223. Vgl. BGHSt 46 93, 102 (vorherige Rücksprache des Verteidigers mit dem Beschuldigten für sachgerechte Fragestellung erforderlich). EGMR 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); BGHSt 46 93, 97.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

einer Einvernahme im Ermittlungsverfahren. Es ist Sache des nationalen Rechts, ob und unter welchen Voraussetzungen es die gerichtliche Verwendung bestimmter Beweismittel, wie etwa der Zeugen vom Hörensagen, einschränken will 1175 . Dies gilt auch für den Sonderfall der Aussagen über Bekundungen anonymer Gewährsleute1176; diese gelten, wenn ihre Bekundungen gegenüber Strafverfolgungsorganen im Verfahren verwendet werden, auch selbst als Belastungszeugen im Sinne der Konvention 1177 , so daß das Fragerecht grundsätzlich auch ihnen gegenüber besteht. Es muß daher im Rahmen des Gesamtverfahrens in irgend einer Form dem Angeklagten oder seinem Verteidiger in dem für die Verteidigung erforderlichen Umfang ermöglicht werden" 7 8 , notfalls auch durch wiederholte Übermittlung schriftlich fixierter Fragen" 79 . Das Einreichen eines Fragenkatalogs vor der Einvernahme schließt das Recht der Verteidigung nicht aus, nach Vorliegen der protokollierten Aussage ergänzende Fragen an den Zeugen zu stellen 1180 . 226

Konventionseigene Grenzen ergeben sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren. Bei dessen Nachprüfung fällt ins Gewicht, ob der Angeklagte ein uneingeschränktes Fragerecht hatte 1181 . Allerdings entscheidet auch bei der Nichteinhaltung eines der in Absatz 3 festgelegten Verfahrensrechte der E G M R darüber in aller Regel nur auf Grund einer Gesamtwürdigung des jeweiligen Verfahrens, da „Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 Buchst, d M R K zusammen zu lesen sind" und es von einer Würdigung des Einzelfalls abhängt, ob ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K bedeutet, daß der Angeklagte insgesamt kein faires Verfahren hatte oder aber ob dies trotzdem zu bejahen ist, weil seine Nichteinhaltung durch andere Verfahrensvorgänge ausgeglichen und die Verteidigungsrechte berücksichtigt wurden 1182 . Je nach Lage des Einzelfalls wird das Recht auf ein faires Verfahren in der Regel verletzt sein, wenn sich das Gericht ungeachtet des meist begrenzten Beweiswerts der Aussage eines Zeugen vom Hörensagen bei Bekundungen von entscheidender Bedeutung allein mit dessen Aussage begnügt hat, ohne alle bestehenden Möglichkeiten zur Zuziehung des eigentlichen „Tatzeugens" auszuschöpfen oder ohne sich die Bekundungen des Zeugen vom Hörensagen durch weitere gewichtige Beweismittel bestätigen zu lassen 1183 . Gleiches gilt, wenn wegen der Unerläßlichkeit des

1175

Gepperl Unmittelbarkeit 246 ff. Z u den hier bestehenden erheblichen Unterschieden in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen Gieß Z S t W 115 (2003) 131, 144. Vgl. ferner E G M R 12.7.1988 Schenk/CH ( E u G R Z 1988 390) zur Zulässigkeit der Verwend u n g einer rechtswidrig gewonnenen T o n b a n d a u f nahme.

1176

B G H S t 17 388, I n t K o m m E M R K - V o g l e r 562; Peukert E u G R Z 1980 267; vgl. auch E G M R 20.11. 1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481), sowie zur englischen Rechtspraxis SK-StPO-Z'ae/j'iien 161. Vgl. R d n . 214, ferner etwa E G M R 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 26.4.1991 Asch/Ö ( E u G R Z 1992 471); B G H S t 46 93, 97; B G H N S t Z 1993 292; StV 1996 471.

1177

1178

Vgl. E G M R 26.3.1996 D o o r s o n / N d L ( Ö J Z 1976 715). Etwa E G M R 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); vgl. R d n . 214, 223. 11811 B G H S t 46 93; schweiz.BGer E u G R Z 1993 290. 118 ' S K - S t P O - P a e f f g e n 157, 160 („Notnagel"). 1182 Etwa E G M R 24.11.1986 Unterpertinger/Ö ( E u G R Z 1987 147); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); Stand:

19.12.1990 Delta/E (ÖJZ 1991 425); 19.2.1991 lsgrö/1 (Series A 194 A); 26.4.1991 Asch/Ö ( E u G R Z 1992 474); 15.6.1992 L ü d i / C H ( E u G R Z 1992 326); 28.8.1992 Artner/Ö ( E u G R Z 1992 470); vgl. auch B G H N J W 1991 646. Zu der auf die Beweislage des Einzelfalls abstellenden „weichen" Lösung des E G M R vgl. etwa Beulke F S Rieß 3, 9 ff; Nack N J W Sonderheft f ü r G. Schafer 2002 46, 50 ff; Widmaier N J W Sonderheft f ü r G. Schafer 2002 76 ff, ähnlich B G H S t 46 93 („Beweiswürdigungslösung") B G H JZ 2004 324 und Anm. Müller; sowie Rdn. 218 mit weit. Nachw. ll8 ' Diese Anforderungen der Konventionen dürften sich zwar im wesentlichen mit der aus der Aufklärungspflicht abgeleiteten Forderung nach Verwendung des tatnächsten Beweismittels decken, vgl. E G M R 20.12.2001 P. S./D (StV 2002 389 mit A n m . Paul}·); LK-Gullwitzer § 250 StPO, 22; 26 ff, sie gehen aber weiter, wenn trotz NichtVerfügbarkeit des Tatopfers (Weigerung der Eltern) die mittelbaren Zeugen u n d ein Glaubwürdigkeitsgutachten als nicht genügend angesehen werden; vgl. nachf. Fußn.

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(408)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Schutzes der Anonymität des unmittelbaren Zeugen dessen durch einen Zeugen vom Hörensagen in die Hauptverhandlung eingeführte entscheidungserhebliche Bekundungen nicht ausreichend von der Verteidigung hinterfragt werden können 1184 oder wenn das Gericht eine Verurteilung allein auf die verlesenen oder durch die Verhörspersonen bekundeten Aussagen anonymer Zeugen vor der Polizei gestützt hat, weil sonst kein weiteres selbständiges Belastungsmaterial vorlag 1185 . Das Fragerecht des Angeklagten ist verletzt, wenn das Gericht zur Schonung des jugendlichen Tatopfers eines Sexualdelikts nur dessen Mutter und den vernehmenden Polizeibeamten über die Angaben zum Tatgeschehen hört und sein Urteil allein auf deren Angaben stützt" 8 6 oder wenn der Verteidigung durch die Verweigerung der unmittelbaren Befragung Gegenbeweise oder die Prüfung der Glaubwürdigkeit unmöglich gemacht wurden 1187 . Ob der Angeklagte ein faires Verfahren hatte, ist aber niemals abstrakt, sondern immer nur in Gesamtwürdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelverfahrens zu beurteilen 1188 . Eine nach nationalem Recht zulässige Verlesung von früheren Vernehmungsnieder- 2 2 7 Schriften schließen die Konventionen nicht aus 1189 , selbst wenn sie an die Stelle der Einvernahme einer Beweisperson in der Hauptverhandlung treten 1190 . Allerdings wird die früher einvernommene Person, deren Aussage verlesen wird, unabhängig vom nationalen Recht auch selbst als Belastungszeuge angesehen 1191 , so daß grundsätzlich das Fragerecht der Verteidigung auch sie einschließt. Hatten der Angeklagte oder sein Verteidiger Gelegenheit, der kommissarischen Einvernahme beizuwohnen, und dort ihr

1184

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1187

Vgl. EGMR 20.9.1993 Saidi/F (ÖJZ 1994 323); 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617 mit Anm. Wattenberg! Violet); 14.12.1999 A.M./! (StraFo. 2000 374); 14.2.2002 Visser/NdL (StraFo. 2002 160). Nach BGHSt 46 93, 103 ist im Rahmen der ßeweiswürdigung zu berücksichtigen, wenn der Angeklagte kein effektives Fragerecht hatte, die Entscheidung muß sich damit in der Begründung eingehend auseinandersetzen; ein Verwertungsverbot folgt daraus aber nicht. Kritisch dazu SKStPO-Paejjgen 160 mit weit. Nachw. E G M R 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); 14.2.2002 Visser/ NdL (StraFo. 2002 160); EKMR bei Strasser EuGRZ 1989 467 unter Hinweis auf EuGRZ 1987 358; 1989 387; E G M R 26.4.1991 Asch/Ö (ÖJZ 1991 518) verneinte eine Verletzung des fairen Verfahrens durch die Reproduktion der früheren Bekundungen bei Aussageverweigerungsrecht. Bei Verwendung eines nach nationalem Recht rechtswidrig erlangten Beweismittels wurde ebenfalls danach abgegrenzt. ob das Verfahren insgesamt fair war und die Verurteilung nicht ausschließlich auf diesem Beweismittel beruhte, E G M R 12.7.1988 Schenk/ CH (EuGRZ 1988 390); kritisch zur deutschen Rechtsprechung SK-StPO-Prtejffef;/; 159, 160. Vgl. auch Differenzierung zu EGMR 20.11.1989 Kostovski/Ndl (StV 1990 481) in BGH NJW 1991 646; ferner BGHSt 46 93, 97. E G M R 20.12.2001 P. S./D (EuGRZ 2003 37); vgl. auch 14.12.1999 A.M./T (StraFo. 2000 375) sowie die nachf. Fußn. EGMR 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481);

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1188

27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); 23.4.1997 Van Mechelen/NdL (StV 1997 617 mit Anm. WatlenberglViolel, Renzikowski JZ 1999 605); BGHSt 46 93, 102; E K M R nach FroweinIPeukerl 202; I nt Komm Ι Λ1R K- V//W/.\lerl Vogler 372. EGMR 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 26.4. 1991 Asch/Ö (EuGRZ 1992 474); BGH NJW 1991 646. Vgl. etwa E G M R 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481: Verwendung im Vorverfahren erlangter Beweismittel für sich allein betrachtet mit Art. 6 MRK nicht unvereinbar); ferner EKMR bei Strasser/Weber EuGRZ 1987 356, wo in der Verlesung der früheren Aussage in Gegenwart des Zeugen kein Verstoß gegen Art. 6 M R K gesehen wurde, da Gelegenheit zu Fragen bestand; E K M R ÖJZ 1989 484 (Gericht könne nicht angelastet werden, wenn die Zeugen, deren frühere Aussage verlesen wurde, in der Hauptverhandlung die Aussage verweigerten, so daß das Fragerecht leer lief)·

11,1

E G M R 24.11.1986 Unterpertinger/Ö (NJW 1987 3068) dazu auch E K M R EuGRZ 1987 151; E K M R bei Stras.ier EuGRZ 1988 380; 1989 465; 467; IntKommEMRK- Vogler 553; BGH NStZ 1985 376; Meyer-Goßner47 22. Autonome Auslegung des Zeugenbegriffs in Buchst, d, vgl. etwa E G M R 23.11.1986 Unterpertinger/Ö (NJW 1987 3068), 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 26.4.1991 Asch (ÖJZ 199f 518), EKMR EuGRZ 1997 148; JntKommEMRK- Vogler 553; vgl. auch Grahenwarter § 5 Rdn. 9 ff.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Fragerecht auszuüben, so sind die Forderungen der Konventionen erfüllt, auch wenn sie diese Gelegenheit nicht wahrgenommen haben sollten. War ihnen dies nach nationalem Recht zu Recht oder Unrecht verwehrt worden, so genügt es - unabhängig von der Zulässigkeit der Verlesung der Vernehmungsniederschrift nach nationalem Recht 1192 nach Ansicht der E K M R den Erfordernissen des Art. 6 Abs. 3 Buchst, d, wenn die Verteidigung in der Hauptverhandlung die Gelegenheit hatte, nach Verlesung der Niederschrift ihre Fragen vorzutragen " 9:! und dadurch eventuell eine nochmalige Vernehmung des Angeklagten auch zu den Fragen zu erreichen oder wenn sie die Möglichkeit hatte, den Zeugen zur Hauptverhandlung zu laden 1194 . Ausnahmsweise wird die Verlesung einer Vernehmungsniederschrift, bei deren Zustandekommen das Fragerecht nicht ausgeübt werden konnte, als zulässig angesehen, wenn die Befragung nicht möglich ist, weil der Vernommene verstorben, vernehmungsunfähig oder unerreichbar ist 1195 . Die Verwertung setzt aber voraus, daß die Verteidigung ihre Einwände gegen den Inhalt der protokollierten Aussage und die nach ihrer Ansicht offenen Fragen dem Gericht vortragen kann. Wo der E G M R die Grenzen jeweils zieht, ist abstrakt schwer zu beurteilen, da die Entscheidungen darauf abstellen, ob im jeweiligen Einzelfall der Angeklagte ein insgesamt faires, seine Verteidigungsrechte ausreichend wahrendes Verfahren hatte. 227a

Zur Sicherung uneingeschränkter Verwertbarkeit der Aussagen in der Hauptverhandlung wird gefordert, daß sich die staatlichen Organe selbst darum bemühen, daß die Verteidigung ihr Fragerecht bereits im Ermittlungsverfahren uneingeschränkt ausüben kann. Dies gilt vor allem, wenn damit zu rechnen ist, daß ein wichtiger Zeuge später für eine Einvernahme und Befragung in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung stehen wird. Dann geht es zu Lasten des Staates, wenn die frühere Befragung durch die Verteidigung nicht unterblieb, weil diese keine entsprechenden Anträge gestellt hatte 1196 , sondern weil sie auf Grund einer dem Staat zuzurechnenden Verfahrensgestaltung nicht möglich war 1197 , etwa, weil versäumt wurde, den Beschuldigten rechtzeitig von der Einvernahme zu benachrichtigen oder einem inhaftierten Beschuldigten rechtzeitig einen Pflichtverteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO zu bestellen. In welchen Fällen die Strafverfolgungsorgane bereits im Vorverfahren dafür sorgen müssen, daß das Fragerecht des Angeklagten effektiv wahrgenommen werden kann, damit es nicht durch eine vorhersehbare spätere Verfahrensentwicklung obsolet wird, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles. So kann ein Verstoß gegen die Konventionsgarantie des Fragerechts darin liegen, daß ein Urteil auf die Aussage des einzigen Belastungszeugen gestützt wird, obwohl die Strafverfolgungsorgane es unterlassen haben, für den Beschuldigten die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 141 Abs. 3 StPO zu beantragen, bevor der Zeuge in Abwesenheit des Angeklagten richterlich vernommen wurde und damit zu rechnen war, daß der Zeuge auf Grund seines Zeugnisverweigerungsrechtes in der Hauptverhandlung nicht mehr befragt werden konnte 1198 . 1192

Vgl. etwa E G M R 26.3.1996 D o o r s o n / N d L (ÖJZ 1996 715); ferner L R - R i e ß § 168c StPO, 56; L R Gollwitzer § 224 StPO, 31. 1193 E K M R nach I n t K o m m E M R K - Vogler 553; vgl. B G H S t 46 93; B G H N S t Z 1983 421; 1985 376. 1194 Vgl. E G M R 19.3.1991 Cardot/F ( E u G R Z 1992437) Rechtsweg nicht erschöpft, wenn Verweigerung dieser Möglichkeit nicht innerstaatlich beanstandet wird. 1195

E K M R E u G R Z 1997 148 (Mielke) unter Hinweis, daß die Aussagen durch anderes Beweismaterial bestätigt wurden; vgl. auch E G M R 28.8.1992 Artner/Ö ( E u G R Z 1992 476); 7.8.1996 Ferrantelli

Stand:

1196

1197

1198

u.a./T ( Ö J Z 1997 151); Peukert E u G R Z 1980 266; aber auch Dörr 154 (nur bei Verstorbenen) vgl. SKStPO -Paeffgen 157). Vgl. E G M R 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412; Keine Zeugenbenennung durch Verteidiger entgegen Wunsch des Angeklagten). Vgl. etwa E G M R 19.12.1990 D e l t a / F (ÖJZ 1991 425); B G H S t . 46 93, 100. B G H S t . 46 93, 100, dazu Widmaier N J W Sonderheft f ü r G. Schäfer 2 0 0 2 76, 78, der der sog. Beweiswürdigungslösung des B G H (Herabstufung des Beweiswerts einer ohne Möglichkeit der Befragung des Zeugen zustande gekommenen Aussage) zustimmt

1.10.2004

(410)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Ob ein Angeklagter trotz der Beeinträchtigung seines Fragerechts insgesamt noch ein 2 2 7 b faires, seine Verteidigungsrechte ausreichend wahrendes Verfahren hatte, läßt sich bei der Variationsbreite der einzelnen Fallgestaltungen nicht generell beantworten. Dies hängt vor allem von der Entscheidungserheblichkeit der Aussage und ihrer Würdigung im Urteil ab, aber auch davon, welche Bedeutung die jeweiligen Einschränkungen des Fragerechts im konkreten Einzelfall nach dem System des nationalen Rechts für das Zustandekommen des Urteils hatten 1199 . So wird in der Regel ein faires Verfahren verneint, wenn es sich um die entscheidungstragende Aussage handelt, auf der das Urteil ausschließlich oder zumindest im Wesentlichen beruht. Die Verwertung von Aussagen, bei denen das Fragerecht nicht oder nur eingeschränkt ausgeübt werden konnte, gefährden das faire Verfahren dagegen nicht, wenn sie nur herangezogen werden, um ein auch durch andere Beweismittel gewonnenes Ergebnis zu bestätigen 1200 oder wenn derartige Aussagen nur im Ermittlungsverfahren als Ansatzpunkte für weitere Erhebungen verwendet wurden 1201 . Einschränkungen des Konfrontationsrechts oder der Formen seiner Ausübung können 2 2 8 durch die Notwendigkeit des Schutzes der Zeugen, etwa des jugendlichen Opfers einer Sexualstraftat, oder aus sonstigen schwerwiegenden Gründen angezeigt sein. Sie können eine Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung oder eine audiovisuelle Vernehmung rechtfertigen 1202, wenn dadurch die Verteidigungsrechte und insbesondere das Fragerecht nicht mehr als zur Erreichung des Schutzzweckes unerläßlich eingeschränkt werden. U m dies zu beurteilen, müssen die Interessen der Verteidigung gegen die mitunter ebenfalls Konventionsschutz genießenden gegenläufigen Interessen 1203 der Auskunftspersonen abgewogen werden 1204. Bei der Vernehmung eines zum Schutze vor Repressionen anonym bleibenden Belastungszeugen sah es der EGMR 1 2 0 5 als nicht ausreichend an, daß der Angeklagte und sein Verteidiger der richterlichen Vernehmung von einem Nebenraum aus zuhören und aus diesem heraus Fragen stellen konnten. Entgegen einer früheren Auffassung 1206 hält der 1. Senat des BGH in einer Anfrage an die anderen Senate die audiovisuelle Vernehmung (§ 247a) eines für die Einvernahme im Gerichtssaal nach § 96 StPO gesperrten Tatzeugen unter elektronischer Verfremdung seiner Gesichtszüge und Stimme für zulässig, da Angeklagte und Verteidiger den Zeugen unmittelbar befragen und trotz der Abschirmung auch seine Reaktion auf direkte Fragen beobachten können 1207. Wieweit solche Einschränkungen, die immerhin noch

1199

und nur bei Verletzung des Rechts des Beschuldigten auf Verteidigerkonsultation oder auf Bestellung eines Pflichtverteidigers ein Verwertungsverbot annimmt. Zum Streit um die Beweiswürdigungslösung vgl. auch nachfolg. Fußn. und Rdn. 218 Fußn. 1138. Gegen die Lösung des BGH, der in solchen Fällen eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung und gegebenenfalls die Anwendung des Zweifelssatzes fordert (so auch BGH NStZ 2004 343), etwa Gaede (StraFo. 2004 195 mit weit. Nachw.), der bei Beweispersonen, deren Verwendung nach § 96 StGB gesperrt ist, einwendet, daß das Vorenthalten deren Wissens durch die Exekutive gegen den aus Art. 6 Abs. 1 M R K folgenden Anspruch auf Offenlegung des Beweismaterials verstößt und der ein Verfahren zur richterlichen Kontrolle der Erheblichkeit des gesperrten Materials ähnlich dem englichen „in camera" Verfahren vorschlägt.

(411)

™ Vgl. etwa E G M R 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481; 26.3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715); vgl. auch BGH NStZ 2000 265; sowie vorstehende Fußn. 1201 lisser 678; Renzikowski JZ 1997 605; SK-StPOPaeffgen 160. 1202 Dazu etwa Kolz NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 35. 1203 Etwa nach Art. 2 oder 8 M R K . 1204 EGMR 26. 3.1996 Doorson/NdL (ÖJZ 1996 715). 1205 EGMR 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617 mit Anrn. Wattenbergl Violet); 14.2.2002 Visser/NdL (StraFo. 2002 160); vgl. zu den Streitfragen im innerdeutschen Recht SK-StPO-Paeffgen 159 ff sowie nachf. Fußn. 12(,( ' Gr. Senat BGHSt 32 115, 124. 1207 BGH NJW 2003 74; Külz NJW Sonderheft für G. Schäfer 2002 35, 39; vgl. Walter StrFo. 2004 224.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

eine bessere (unmittelbare) Erkenntnisquelle erschließen, als die Verlesung einer Vernehmungsniederschrift oder die Einvernahme einer Verhörsperson als Zeugen vom Hörensagen, mit der Garantie eines fairen Verfahrens vereinbar sind, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, vor allem danach, ob und wieweit im konkreten Fall die Verfremdung zum Schutze des Zeugen oder anderer schwerwiegender Gründe unbedingt erforderlich und deshalb eine unerläßliche Voraussetzung für seine Einvernahme war120711, sowie danach, wieweit die Führung der Verteidigung dadurch auch tatsächlich behindert wurde 1207b . Auch wenn überwiegende Interessen die Aufrechterhaltung der Anonymität eines Zeugen rechtfertigen, kann es dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung widersprechen, eine Verurteilung ausschließlich oder aber im wesentlichen nur auf eine von der Verteidigung nur eingeschränkt hinterfragbare Aussage zu stützen 1208 . 229

Bei der kommissarischen Zeugeneinvernahme im Ausland besteht das Sonderproblem, ob auch der für die Vernehmung im Wege der Rechtshilfe verantwortliche ausländische Staat durch die Konvention verpflichtet ist, das Fragerecht zu ermöglichen. Die E K M R hat dies in einem Fall bejaht, obwohl sie davon ausging, daß die Einvernahme im Wege der Rechtshilfe im ersuchten Staat kein Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 M R K war 1209 . Grundsätzlich ist der ersuchende Staat für eine konventionsgemäße Durchführung des Strafverfahrens auch insoweit verantwortlich, als sein eigenes Gericht die Verurteilung auf eine Zeugeneinvernahme im Ausland stützt. Er muß dafür Sorge tragen, daß das Fragerecht dadurch nicht unterlaufen wird 1210 . Unabhängig von dem bei der kommissarischen Einvernahme anzuwendenden ausländischen Recht kann dies in seinem eigenen Rechtsraum dadurch geschehen, daß der Verteidigung ermöglicht wird, nachträglich ihre Fragen vorzutragen und daß diese bei sachlicher Relevanz zum Gegenstand einer erneuten kommissarischen Vernehmung gemacht werden 1211 . Ob durch die Gewährung der Rechtshilfe eine Mitverantwortung des ersuchten Staates für diesen Teil des Strafverfahrens begründet wird, die ihn verpflichtet, auch seinerseits dafür zu sorgen, daß die Verteidigungsrechte insoweit nicht verkürzt werden 1212 , erscheint schon deshalb fraglich, weil die Konventionsgarantien das Fragerecht gerade nicht für den Vorgang jeder einzelnen Einvernahme garantieren, sondern sich damit begnügen, daß es im Gesamtverfahren gewahrt ist 1213 .

230

Die Form, in der das Fragerecht ausgeübt werden kann, überlassen die Konventionen der Regelung im nationalen Recht. Es muß nicht in der wohl wirksamsten Form der unmittelbaren Befragung des Zeugen durch Angeklagten und Verteidiger vor dem erkennenden Gericht gewährt werden. Aus dem Wortlaut „stellen oder stellen zu lassen" wird hergeleitet, daß auch eine mittelbare Form der Befragung genügt, etwa durch Zwischenschaltung des Richters, der die ihm mündlich oder auch schriftlich übermittel-

» ' " E G M R 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617) verneinte das Vorliegen eines trifftigen Grundes, die Zulässigkeit bei schwerwiegenden Gründen blieb offen. 1207b Dazu Walter StrFo. 2004 224 ff (grundsätzlich statthaft), auch Esser 671 ff. Zu den Bedenken nach innerstaatlichem Recht Esser 675 ff und Renzikowsky JZ 1999 605 fT. Vgl. auch Vorst. Fußnote und oben Fußn. 1204, 1205. 121,8 EGMR 23.4.1997 van Mechelen/NdL (StV 1997 617 mit Anrn. Wattenbergl Violet); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193); 20.12.2001 P. S./D (NJW 2003 1893); vgl. auch vorst. Fußn. ™ Peukerl EuGRZ 1980 266; kritisch IntKomm-

12111

IΛ1R K- l 'wjjii· 555 fT, der im Ergebnis aber auch der isolierten Beachtung des Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K bei der kommissarischen Einvernahme zuneigt. TntKommEMRK- Vogler 556; Peukert EuGRZ 1980 266.

1211 1212

1213

FroweinlPeukert 201. Bei essentiellen Menschenrechten, wie etwa dem Verbot einer unmenschlichen Behandlung nach Art. 3 M R K , wird dies angenommen, vgl. Art. 3 MRK Rdn. 11, 14. EKMR EuGRZ 1989 465 überläßt Prüfung dem Hauptverfahren. Vgl. auch OLG Stuttgart NJW 1991 2222.

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R e c h t a u f ein f a i r e s V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

ten Fragen der Beweisperson stellt 1214 , wie dies bei § 240 Abs. 2 Satz 2, § 241a StPO vorgesehen ist. Desgleichen wird es in der Regel für ausreichend erachtet, wenn Fragen schriftlich eingereicht werden, etwa, damit sie bei einer auswärtigen kommissarischen Vernehmung gestellt werden können 1215 , wobei unter Umständen nach Vorliegen der Vernehmungniederschrift ergänzende Fragen gestellt werden können. Inhaltliche Grenzen des Fragerechts ergeben sich nach der wohl vorherrschenden 231 Meinung daraus, daß das Gericht - ebenso wie bei der Ladung der Zeugen - auch Fragen ablehnen darf, die es als nicht erforderlich für die Wahrheitsfindung ansieht 1216 . Das nationale Recht kann insoweit sachbezogene Grenzen für die Zulässigkeit von Fragen aufstellen und dabei auch einem Mißbrauch entgegenwirken, wie dies etwa in § 241 StPO geschieht. Im Hinblick auf § 240 Abs. 2, § 241 StPO erübrigt es sich, näher darauf einzugehen, ob das Fragerecht der Verteidigung in den Konventionen absolut, d . h . unabhängig von einer gleichartigen Befugnis der Staatsanwaltschaft garantiert ist oder ob es genügt, wenn hinsichtlich etwaiger sachlicher Einschränkungen Verteidigung und Anklagevertretung gleichbehandelt werden l217 . Die Organe der MRK beschränkten - ähnlich wie beim Ladungsrecht - ihre Kontrolle insoweit darauf, ob das Fragerecht mißbräuchlich und willkürlich eingeschränkt wurde 1218 und ob durch die Ablehnung einer Frage die Grundsätze eines fairen Verfahrens verletzt wurden l 2 1 9 .

232

6. Kostenlose Beiordnung eines Dolmetschers (Art. 6 Abs. 3 Buchst, e MRK; Art. 14 Abs. 3 Buchst, f I P B P R ) a) Zweck der Garantie ist es, in Ergänzung der Gewährleistungen der Art. 6 Abs. 3 2 3 3 Buchst, a M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, a IPBPR jedem Angeklagten, der der Gerichtssprache nicht hinreichend mächtig ist - dies muß nicht notwendig ein Ausländer sein - , die effektive Wahrnehmung seiner Verfahrensinteressen und damit ein faires Verfahren zu sichern 122°. Fremdsprachige Angeklagte sollen dem Angeklagten gleichgestellt werden, der die Gerichtssprache beherrscht. Mangelnde Sprachkenntnisse sollen sie nicht in ihrer Verteidigung beeinträchtigen, auch das erhöhte Kostenrisiko soll sie nicht an der Zuziehung eines Dolmetschers hindern 1221 . Deshalb wird - anders als beim Recht auf einen Pflichtverteidiger - bei Art. 6 Abs. 3 Buchst, e M R K nicht darauf abgestellt, ob der Angeklagte die hierfür benötigten Mittel aufbringen kann. Der Anspruch wird absolut gewährt. Auch der wohlhabende Angeklagte hat Anspruch auf kostenfreie Zuziehung eines Dolmetschers, soweit der Ausgleich des Sprachdefizits für seine Verteidigung und damit für ein dem Rechtsstaatsgebot entsprechendes faires Verfahren notwendig ist 1222 . Dies ist nicht der Fall, wenn ein Beschuldigter die Gerichtssprache ausreichend versteht, aber aus politischen Gründen ablehnt, sie zu benützen 1223 . Nach innerstaatlichem Verfassungsrecht kann sich die Notwendigkeit der Zuziehung eines 1214 1215

1216

1217

Froweinl Peukert 200; Peukert E u G R Z 1980 255. E K M R nach FroweinlPeukert 200; bei anonymen Belastungszeugen reicht dies mitunter nicht aus, so wenn es auf deren persönlichen Eindruck ankommt, vgl. E G M R 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 27.9.1990 Windisch/Ö (StV 1991 193). E K M R E u G R Z 1982 447 (Handle) mit A n m . SchliUer; Froweinl Peukert 202; Nowak 53. Gegen die Relativierung in E K M R E u G R Z 1987 151 (Unterpertinger) die dortige A n m . von Treehsei

(413)

ms Vgl. E K M R E u G R Z 1982 447 (Handle); Froweinl Peukert 202. 1219

FroweinlPeuken 202; zur Gesamtwürdigung vgl. R d n . 64 ff. Vgl. R d n . 64 ff; 71. i 22 ' E K M R E u G R Z 1977 467 (Luedicke u. a.). 1222 Vgl. BVerfGE 64 145; Basdorf GedS Karlheinz Meyer 20; SK-StPO-ftie/^CT R d n . 171. 122 -' Grabenwarier § 24 R d n . 76. 1220

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Dolmetschers auch aus dem Recht auf Gehör nach Art. 103 Abs. 1 G G ergeben 1224 ; ein genereller Anspruch auf Kostenfreistellung ließe sich daraus jedoch nicht herleiten. Das Bundesverfassungsgericht 1225 begründet deshalb den grundsätzlichen Anspruch eines der deutschen Sprache nicht mächtigen inhaftierten Beschuldigten auf kostenfreie Zuziehung eines Dolmetschers mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG; allein wegen mangelnder Sprachkenntnisse dürfe niemand schlechter gestellt werden als die anderen, mit solchen Kosten nicht belasteten Beschuldigten. 234

Ein Recht auf Auswahl des Dolmetschers, auf Beiordnung einer bestimmten Person als Dolmetscher hat der Angeklagte aufgrund der Konventionen nicht 1226 . Diese regeln auch nicht, wer den Dolmetscher beauftragt. Das nationale Recht kann dies entsprechend seinem jeweiligen System regeln. Der Angeklagte kann auf Grund der Konventionen nur beanspruchen, daß ihm ein für die erforderlichen Sprachübertragungen genügend qualifizierter Dolmetscher zur Seite steht 1227 und daß er mit den Kosten für dessen Zuziehung nicht belastet wird.

235

Ein Recht auf Verhandlung in einer bestimmten Sprache gewähren die Konventionsgarantien nicht 1228 . In Staaten, in denen mehrere Sprachen Amtssprachen sind, richtet es sich nach nationalem Recht, ob die Verhandlung in der Sprache des Angeklagten zu führen ist, sofern diese auch Amtssprache ist 1229 . Wird diese zur Gerichtssprache, greifen weder das Recht auf einen Dolmetscher noch die Kostengarantie ein.

236

Für Taube und Stumme gilt die Konventionsgarantie des kostenlosen Beistands eines Dolmetschers nach ihrem Wortlaut nicht 1230 . Es liegt nahe, die Vorschrift wegen des gleichen Grundgedankens analog anzuwenden. Andernfalls folgt aus der Garantie eines fairen Verfahrens 1231 ebenso wie aus dem Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 G G ) nur das Gebot, daß ein Dolmetscher zuzuziehen ist, wenn das zur Verteidigung notwendige Verständnis aller Verfahrensvorgänge und die Verständigung mit dem Angeklagten nicht anderweitig sichergestellt werden kann 1232 . Die Kostenfrage bliebe davon unberührt, sofern man die Kostenfreiheit nicht mit dem Gleichbehandlungsgebot bei den Konventionsrechten (Art. 14 M R K , Art. 26 IPBPR) rechtfertigt, das - ebenso wie Art. 3 Abs. 3 Satz 2 G G - j e d e Benachteiligung wegen einer Behinderung ausschließt.

237

b) Für alle Verfahren, die eine strafrechtliche Anklage im weiten Sinne des Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR zum Gegenstand haben, also auch für das Bußgeldverfahren1233, garantieren die Konventionen dem Angeklagten den kostenfreien Beistand 1224

Vgl. etwa BVerfGE 40 199; 64 135 = JZ 1983 569 mit Anm. Rüping (strittig; aber Ableitung aus fairem Verfahren); BVerfG (Kammer) NJW 1990 3072; BayObLGNJW 1996 1836. 122? BVerfG NJW 2004 1095 keine Schlechterstellung bei Briefkontrolle und Besucherüberwachung eines Inhaftierten, bei den Kosten für die Übersetzung der Telefonüberwachungsprotokolle soll etwas anderes gelten. Da Art. 3 Abs. 3 G G keinen Gesetzesvorbehalt habe, könnten sich Einschränkungen nur durch Abwägung mit kollidierenden anderen Verfassungsaufgaben rechtfertigen lassen, zu denen die Sicherung der ordnungsgemäßen Durchführung des StrafVerfahrens gehöre. Bei der Abwägung seien die „falltypische Gestaltung" und die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. 1226 Kühne FS H. Schmidt 40. 1227 Zur Problematik der richterlichen Qualitätskontrolle der Sprachübertragung Basdorf GedS Karlheinz Meyer 22.

1228

TntKommEMRK- Vogler 579. Vgl. Schweiz.BGer. EuGRZ 1981 221; 1995 613; aber auch östr. VfGH EuGRZ 1984 19 m. Anm. Stadler; Corte costitutionale EuGRZ 2000 542 (territoriale, nicht personale Garantie); ferner die Nachw. bei IntKommEMRK- Vogler 579. SKStPO-Paeffgen 174. 1230 TntKommEMRK- Vogler 578; SK-StPO-fije//j;efl 172. 1231 Vgl. SK-StPO-ftjeZ/g™ 172. 12 2 -' § 464c StPO, Nr. 1904 Kostenverzeichnis stellt sie zu Recht den Eremdsprachlern gleich; vgl. auch LRWickern § 185 GVG, 18. 1233 E G M R 28.11.1978 Luedicke u. a./D (EuGRZ 1979 34); 21.2.1984 Öztürk/D (EuGRZ 1985 62); l'rowein!Peukert 204; Meyer-Ladewig 95; Sehroth EuGRZ 1985 558; a.A Vogler EuGRZ 1979 44 (Strafbefehl und Bußgeldverfahren fallen nicht unter Art. 6 MRK). 1229

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

eines Dolmetschers 1234 . Die Freistellung von den Dolmetscherkosten gilt auch für das Ermittlungsverfahren, in Bußgeldsachen auch für das Ermittlungsverfahren vor der Verwaltungsbehörde 1235 . Sie ist unabhängig von der Vermögenslage des Betroffenen und endgültig. Auch wenn der Angeklagte nach einer Verurteilung die Verfahrenskosten zu tragen hat, braucht er für die Dolmetscherkosten nicht aufzukommen 1 2 3 6 . Lediglich die Auslagen für den Dolmetscher, die durch sein schuldhaftes Säumnis unnötig entstanden sind, können ihm nach § 464c StPO auferlegt werden 1237. Die Freistellung von den Dolmetscherkosten gilt auch für den Privatbeklagten, nicht aber für den Privatkläger1238 oder Nebenkläger1239. Im Auslieferungsverfahren gelten Art. 6 Abs. 3 Buchst, e M R K , Art. 14 Abs. 3 Buchst, f IPBPR nicht 1240 . c) Voraussetzung des Anspruchs auf Zuziehung eines Dolmetschers ist, daß der 2 3 8 Angeklagte die Gerichtssprache nicht so sicher beherrscht, daß er der Verhandlung folgen, ihre Vorgänge verstehen und sich bei seiner Einlassung und seinen Anträgen so ausdrücken kann, wie es seine zweckentsprechende Verteidigung erfordert 1241 . Es kommt grundsätzlich darauf an, ob der Angeklagte selbst die Gerichtssprache beherrscht 1242 . Ob es genügt, daß der Verteidiger des Angeklagten beide in Frage kommenden Sprachen beherrscht oder daß der Angeklagte von seiner sprachkundigen Ehefrau unterstützt wird, ist zweifelhaft 1243 und wohl allenfalls in ganz einfach gelagerten Fällen zu bejahen. Der Dolmetscher muß die Vorgänge in eine Sprache übertragen, die der Angeklagte sicher versteht, dies muß nicht notwendig die Muttersprache des Angeklagten sein, bei selteneren Sprachen wäre dies mitunter gar nicht möglich. Das Gericht muß unabhängig von einer Antragstellung des Angeklagten 1244 von Amts 2 3 9 wegen prüfen, ob und bei welchen verteidigungsrelevanten Verfahrensvorgängen wegen der unzureichenden Sprachkenntnisse des Angeklagten die Übertragung in eine dem Angeklagten verständlichen Sprache zur Sicherung eines fairen Verfahrens notwendig ist 1245 . Unter Umständen, so etwa, wenn beim Vorwurf schwerer Straftaten Interessengegensätze zwischen mehreren Angeklagten bestehen, kann es notwendig sein, daß das Gericht zur Wahrung der Vertraulichkeit der Gespräche mit dem jeweiligen Verteidiger für jeden einzelnen Angeklagten einen eigenen Dolmetscher bestellt 1246 . Die Zuziehung eines Dolmetschers darf das Gericht ablehnen, wenn es an Hand der ihm bekannten Vorgänge 1247 sicher feststellen kann, daß die für die Verteidigung erforderliche aktive und passive Verständigungsmöglichkeit in deutscher Sprache gegeben ist. Es kommt auf den Einzelfall an. Bei einer Person mit fremder Muttersprache kann eine solche Sprach-

1234

1235

1237 1238

1235

124(1

Diese Garantie findet sich auch in Art. 18 Abs. 7 des deutsch-sowjetischen Truppenvertrags vom 12.10.1990 (BGBl. TT 1991 S. 258), während Art. 7 Abs. TX Buchst, f des Nato-Truppenstatuts nur das Recht auf einen „befähigten Dolmetscher" gewährt. Strittig, vgl. Esser 519; Schrolh EuGRZ 1985 557; Meyer-Lädewig 95. EGMR 28.11.1978 Luedicke u.a./D (EuGRZ 1979 34); I'Isser 516 ff. Vgl. LR-Iiiiger § 464c, 1; Esser 519. TntKommEMRK- Vogler 578 Fußn. 3; vgl. auch BVerfG NStZ 1981 230. BGH NJW 2003 218; LR-Wickem § 185 GVG, 12 mit weit. Nachw. OLG Düsseldorf NStZ 2001 211; kein Verfahren über „strafrechtliche Anklage", vgl. oben Rdn. 35; anders LG Lübeck StraFo. 2004 130 (entsprechende Anwendung bei Abschiebungshaft).

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1241

E G M R 12.2.1985 Colozza/I (EuGRZ 1985 631); 6.12.1988 Barberä u.a./Span (Series A 146); TntKommEMRK- Vogler 580; Meyer-Ladewig 95; BVerfG (Vorprüfungsausschuß) EuGRZ 1986 439. 1242 SK StPO-Paeffgen 169. 1243 So E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1979 118 Unterstützung durch Ehefrau genügt; IntKommEMRKVogler 580; a.A: SK-StPO-Paeffgen 168 mit weit. Nachw. 1244 Art. VIT Abs. TX Buchst, f Nato-Truppenstatut stellt demgegenüber darauf ab, ob der Angeklagte dies für erforderlich hält. 1245 Basdorf GedS Karlheinz Meyer 21; IntKommEMRK- Vogler 581; vgl. LR -Wickern § 185 GVG. ™·' OLG Frankfurt StV 1996 166. 1247 Nach Villiger HdB 528 kann auch aus prozeßfremden Hinweisen auf die Sprachkenntnis des Beschuldigten geschlossen werden.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

fertigkeit auch bei einem längeren Inlandsaufenthalt nicht ohne weiteres vermutet werden, noch weniger gilt dies bei einem im Ausland lebenden Ausländer 1248 . Die E K M R hat die Notwendigkeit einer Sprachübertragung auch selbst beurteilt 1249 . 240

d) Umfang der Beiziehung. Die Regelung will verhindern, daß mangelnde Sprachkenntnisse die Verteidigungschancen des Angeklagten verschlechtern. Aus diesem Zweck folgt, daß die Beiordnung des Dolmetschers sich auf alle für die Verteidigung wesentlichen Vorgänge erstrecken muß, also auf alle Vorgänge, ohne deren Kenntnis ein faires, die Waffengleichheit mit der Anklagevertretung wahrendes Verfahren in Frage gestellt wäre. Wenn der Wortlaut auf die Verhandlungssprache des Gerichts abstellt („language used in court", „langue employee ä l'audience"), so darf dies nicht dahin verstanden werden, daß sich die Beiordnung auf den mündlichen Verkehr mit dem Gericht oder gar nur auf die Hauptverhandlung beschränken darf; mit der Anknüpfung an die Verhandlungssprache wird nur die Voraussetzung, nicht aber der Umfang der Beiordnung festgelegt 1250 . Der Anspruch auf kostenfreie Beiordnung eines Dolmetschers gilt grundsätzlich für das gesamte Strafverfahren1251. Wie auch die eine Unterrichtung in einer dem Angeklagten verständlichen Sprache vorschreibenden Art. 6 Abs. 3 Buchst, a M R K und Art. 14 Abs. 3 Buchst, a IPBPR oder Art. 5 Abs. 2 M R K zeigen, umfaßt der Anspruch auf Sprachübertragung alle für die Verteidigung wesentlichen Vorgänge des gesamten Strafverfahrens einschließlich der Übersetzung der Dokumente, auf deren Kenntnis der Angeklagte für eine sachgerechte Verteidigung angewiesen ist 1252 . Er gilt für den Verkehr mit dem Verteidiger ebenso wie für die kommissarische Einvernahme eines Zeugen in Gegenwart des Angeklagten 1253.

241

Der Anspruch auf kostenfreie Unterstützung durch einen Dolmetscher umfaßt neben der Sprachübertragung in der Hauptverhandlung1254 alle sonstigen Verfahrensvorgänge, bei denen Verständigungsschwierigkeiten die Verteidigung des Angeklagten beeinträchtigen können. Er gilt vor allem für die Anhörung des Beschuldigten im Haftprüfungsverfahren1255 und bei allen Einvernahmen, bei denen der Beschuldigte anwesend ist 1256 . Ist nur sein Verteidiger anwesend, kann es diesem überlassen werden, den Beschuldigten darüber zu unterrichten. Bei partiellen Sprachkenntnissen können Differenzierungen gerechtfertigt sein. Wenn bei einem Beschuldigten feststeht, daß er Schreiben in der Gerichtssprache einwandfrei versteht oder sprachlich einfachen Verhandlungen folgen kann 1257, braucht es dafür keiner Übersetzung. Dies schließt nicht aus, daß die Zuziehung eines Dolmetschers zur Hauptverhandlung notwendig bleibt, weil der Angeklagte Schwierigkeiten hat, sich in der fremden Sprache sicher auszudrücken oder weil ihm sprachlich kompliziertere Vorgänge zur Kenntnis gebracht werden müssen. Ein

1248 Vgl. EKMR EuGRZ 1988 330 (Brozicek). 1249

TntKommEMRK- Vogler 581. 125» EGMR Luedicke u.a./D (EuGRZ 1979 34); vgl. E K M R EuGRZ 1977 467; zur zunächst engeren Auffassung der E K M R (nur für Verständigung zwischen Angeklagtem und Richter) vgl. FroweinlPeukerl 204; IntKommEMRK- Vogler 582 ff; Kühne FS H. Schmidt, 37; Vogler ZStW 89 (1977) 790. Zu dieser Auslegungsfrage beim IPBPR vgl. Nowak 54 ff. 1251

1252

1253

BGHSt 46 178; Staudinger StV 2002 327; MeyerGoßner47 23a; SiL-StPO-Paeffgen 169. Etwa FroweinlPeukert 204; Schweiz.BGer. EuGRZ 1993 290; Grabemvarler § 24 Rdn. 76; SK-StPOPaeffgen 169. EGMR 28.11.1978 Luedicke u.a. (EuGRZ 1979

1254

12,5

1256 1257

34); 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); Meyer-Goßner47 23; Vogler EuGRZ 1979 644; ferner etwa OLG Frankfurt StV 1986 24; vgl. LRWickern § 186 GVG Rdn. 18. Hat der Angeklagte eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in Händen, ist es kein Verstoß gegen das faire Verfahren, wenn ihm ihre Verlesung in der Hauptverhandlung nicht nochmals mündlich übersetzt wird (BVerfG NJW 2004 1443). Daß dieses nicht unter Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR fällt, steht der für des Strafverfahren insgesamt garantierten Kostenfreiheit der Sprachübertragung nicht entgegen, IntKommEMRK- Vogler 584. Guradze 38. Vgl. BGH GA 1963 148.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Recht des Angeklagten auf Zuziehung eines Dolmetschers besteht dagegen nicht, wenn in einer Sprache verhandelt wird, die er beherrscht; etwa bei einer kommissarischen Vernehmung nach § 185 Abs. 2 GVG. Der Anspruch schließt die Übersetzung solcher Schriftstücke mit ein, auf deren Ver- 2 4 2 ständnis der Beschuldigte angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben 1258 , so vor allem Haftbefehl 1 2 5 9 oder Anklageschrift 1260 oder einen Strafbefehl, aber auch eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung 1261 . Ein Anspruch auf Übersetzung des gesamten Akteninhalts erwächst daraus nicht 1262 , ebenso verlangen die Konventionen keine schriftliche Übersetzung des wesentlichen Akteninhalts 1263 . Ob bei den für die Verteidigung wichtigen Schriftstücken eine mündliche Übersetzung genügt oder ob ihre vollständige schriftliche Sprachübertragung erforderlich ist, beurteilt sich nach dem Regelungszweck, dem Angeklagten eine verläßliche Grundlage für die Wahrung seiner Rechte zu geben. Verteidigt sich der Angeklagte selbst und enthält das Schriftstück viele Einzelheiten, mit denen er sich auseinandersetzen muß, dann reicht in der Regel schon wegen der begrenzten Aufnahmefähigkeit die einmalige mündliche Übertragung als Arbeitsgrundlage für seine Verteidigung nicht aus; anders dagegen, wenn der Sachverhalt einfach gelagert und dem Angeklagte ohnehin bekannt ist oder wenn er einen Verteidiger hat, der mit ihm die einzelnen Punkte besprechen kann 1264 . Bei Entscheidungen, die mündlich verkündet werden, genügt es in der Regel, wenn ihr 2 4 3 wesentlicher Inhalt dem anwesenden Angeklagten mündlich übersetzt wird 1265. Ist eine Zustellung an den abwesenden Angeklagten erforderlich, ist eine schriftliche Übersetzung beizufügen 1266. Einen uneingeschränkten Anspruch auf Übersetzung der schriftlichen Urteilsbegründung hat der Angeklagte, dem die mündliche Begründung bei der Verkündung übersetzt wurde, nach der vorherrschenden Meinung nicht 1267 . Nach ihr besteht ein Anspruch auf Übersetzung nur dann, wenn der Angeklagte für seine weitere Verteidigung auf den Wortlaut angewiesen ist 1268 . Dies ist bei einfach gelagerten Sachen nicht

1258

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E G M R 28.11.1978 Luedicke u.a./D (EuGRZ 1979 34); FroweinIPeukerl 205; IntKommEMRK- Vogler 584; SK-StPO-Paeffgen 169; Nowak 56. Vgl. OLG Stuttgart Justiz 1986 307, das dies beim Haftbefehl bejaht, bei der Entscheidung über die Haftbeschwerde aber verneint, wenn diese den Haftbefehl ohne Änderung in einem wesentlichen Punkt bestätigt; ferner oben Rdn. 241 und Art. 5 M R K Rdn. 97. Vgl. EGMR 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); OLG Düsseldorf NJW 2003 2766 (Mündliche Übersetzung kann in einfachen Fällen genügen); Esser 443 f. Nach OLG Hamm StV 2004 364 erfordert das faire Verfahren, daß der Angeklagte in allen Fällen vor der Hauptverhandlung eine schriftliche Übersetzung der Anklage erhält. Vgl. Rdn. 172. IntKommEMRK- Vogler 585; Sommer StraFo. 1995 45, 48; Staudinger StV 2002 327, 328; SK StPOPaeffgen 170; vgl. I'roweinlPeukert 206 (Übersetzung bei Urteilsverkündung oder Beifügung einer schriftlichen Übersetzung bei Zustellung); vgl. ferner LR -Wendisch § 35a StPO, 21; LR-Hilger § 464a StPO, 12 mit Nachw. Vgl. auch BVerfG (Kammer) NStZ 1991 446 (zur Wiedereinsetzung); MeyerGoßner4126. E G M R 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); FroweinlPeukerl 205; IntKommEMRK- Vogler 583;

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Grabenwarier § 24 Rdn. 76; Meyer-Goßner47 18; Meyer-Ladewig 96; SK StPO-Paeffgen 169; Vogler ZStW 89 (1977) 787; OLG Düsseldorf JZ 1986 508; OLG Hamm NStZ-RR 1999 158; vgl. Rdn. 172. 1263 EGMR 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); Meyer-Ladewig 96 (mündliche Übertragung in Hauptverhandlung kann genügen); vgl. auch Vorst. Fußn. 1264 EGMR19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); Kühne FS H. Schmidt 39; vgl. auch BVerfG NJW 1990 3072 (Zivilprozeß). 1265 EGMR 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412). 1266 vgl. Nr. 181 II RiStBV; dazu Basdorf GedS Karlheinz Meyer 25. 1267 IntKommEMRK-Vogler 587; ferner nachf. Fußn.; dagegen SK StPO-Paeffgen 170 mit dem Hinweis auf die Bedeutung der schriftlichen Urteilsgründe, auch für die Akzeptanz des Urteils und die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Anfechtung. 1268 Vgl. E G M R 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412); BVerfG JZ 1983 659; schweiz.BGer. EuGRZ 1993 292; OLG Frankfurt NJW 1980 1238; OLG Hamm StV 1990 101 mit Anm. Kühne; Römer NStZ 1981 474; Meyer-Goßner47 26a; LR-Iiiiger § 464a StPO, 12 mit Nachw.; ferner Basdorf GedS Karlheinz Meyer 26 (für Revision ohne Verteidiger): Esser 515; vgl. auch nachfolgende Fußn.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

immer der Fall 1269 . Es wird von der vorherrschenden Meinung auch verneint, wenn dem Angeklagten bei Einlegung von Berufung oder Revision ein deutscher Verteidiger zur Seite steht12™. 244

Der Verkehr mit dem Verteidiger wird vom Anspruch auf kostenlose Beiziehung eines Dolmetschers umfaßt 1 2 7 1 . Für den Verkehr mit dem Pflichtverteidiger wurde dies schon immer bejaht, während dies für den Verkehr mit dem Wahlverteidiger in Anlehnung an eine ältere Ansicht der E K M R früher überwiegend verneint wurde 1272 . Geht man davon aus, daß die Konventionen nicht nur für den Verkehr mit dem Gericht, sondern bei allen für die Verteidigung wesentlichen Handlungen 1273 erforderlichenfalls die kostenlose Zuziehung eines Dolmetschers vorsehen, dann ist kein stichhaltiger Grund ersichtlich, warum für den Verkehr mit dem Wahlverteidiger der von den Konventionen gewollte Ausgleich dieser zusätzlichen Belastung nicht gelten sollte 1274 . Der B G H hat jetzt auf Vorlage entschieden, daß die Konventionen für den Verkehr mit jedem Verteidiger die Kostenfreiheit der Zuziehung eines Dolmetschers 1275 erfordern, sofern und soweit die dafür von den Konventionen aufgestellten Voraussetzungen (Sprachdefizit, sachliche Erforderlichkeit der jeweiligen Besprechung für die Verteidigung 1276 , nicht aber Mittellosigkeit) gegeben sind 1277. Aus der Sicht der Konventionsgarantie ist allerdings unerheblich, mit welcher Konstruktion dieses Ergebnis im nationalen Recht erreicht wird (Beiordnung durch Gericht, nachträgliche Kostenübernahme bei Zuziehung durch Verteidiger; vorhergehende oder nachfolgende Prüfung der Erforderlichkeit) 1278 . Die Lösung, eine Freistellung von den Dolmetscherkosten mittelbar dadurch zu erreichen, daß dem

1269 FroweinlPeukert 206 (Diebstahl) unter Hinweis auf EKMR. 12711

1271

IntKommEMRK- Vogler 587; vgl. BGH GA 1981 262; OLG Hamburg NJW 1978 2462, bestätigt in BVerfGE 64 151 ff = JZ 1983 659 mit Anm. Ruping; OLG Frankfurt NJW 1980 1238; OLG Stuttgart NStZ 1981 225; OLG Hamm StV 1990 101 mit Anm. Kühne; je mit weit. Nachw.; Ileldmann StV 1981 225; Sieg MDR 1981 281; vgl. ferner Meyer-Goßner47 26a; LR-HUger § 464a 8 mit weit. Nachw.; a. Α SK-StPO-Paeffgen 170 (allenfalls nicht notwendig bei berufungsartigen Rechtsmitteln, aber Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1, wenn es für Verständnis und Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Revision maßgebend auf die schriftlichen Urteilsgründe ankommt).

BGHSt 46 178 = JR 2002 121 mit Anm. Tag, zustimmend Slaudinger StV 2002 327. Die dadurch entstandenen Kosten sind erstattungsfähige Auslagen, vgl. LR-Ililger § 464a StPO, 9 mit Nachw. 1272 EKMR bei I'roweinlPeukeri 205 (Zuziehung ohne Zustimmung des Gerichts); vgl. dazu Vogler EuGRZ 1979 643; LR-HUger § 464a StPO, 9 mit weit. Nachw. 1273 BGHSt. 46 178 = JR 2002 121 mit Anm. Tag; Meyer-Goßner47 25; vgl. nächst. Fußn. und Rdn. 240. 1274 KG NStZ 1990 402 mit Anm. Ililger; OLG Stuttgart StV 1986 491; OLG Zweibrücken NJW 1980 2143; LG Berlin NStZ 1990 450; LG Hamburg StV 1990 16; IntKommEMRK- Vogler 589; Kühne FS H. Schmidt 38; Vogler EuGRZ 1979 643; MeyerGoßner« 25; LR-Ililger § 464a StPO, 9 je mit weit. Nachw.

1275

OLG Karlsruhe Justiz 2000 90; LG Berlin NStZ 1990 449; Meyer-Ladewig 96. Für die allgem. Freistellung des Verkehrs mit dem Wahlverteidiger von den Dolmetscherkosten auch Meyer-Goßner47 2 5; Staudinger StV 2002 327 je mit Nachw.; a. Α früher etwa OLG Stuttgart Justiz 1984 191; Basdorf GedS Karlheinz Meyer 31 ff; Villiger HdB 530; zum Streitstand vgl. auch die nachfolgenden Fußnoten.

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IntKommEMRK- Vogler 591 (Zuziehung im Vorverfahren nur, soweit zur sachdienlichen Verteidigung geboten). BGHSt. 46 178 = JR 2002 121 mit Anm. Tag; vgl. zum Streitstand LR-Ililger § 464a, 9 mit weit. Nachw. Zu den wegen des Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung strittigen einzelnen kostenrechtlichen Konstruktionen vgl. OLG Düsseldorf StV 2000 194; OLG Karlsruhe StV 2000 193 KG NStZ 1990 403 mit Anm. Ililger; ferner etwa OLG Frankfurt StV 1991 457; OLG Hamm StV 1994 457; vgl. KG NStZ 1990 402 mit Anm. Ililger; zu den schon früher strittigen Fragen etwa OLG Düsseldorf GA 1986 79; JMB1NW 1989 34; Basdorf GedS Karlheinz Meyer 29; Kühne FS H. Schmidt 40; LR-Hilger § 464a StPO, 9 mit weit. Nachw.; durch BGHSt 46 178 = JR 2002 121 mitzust. Anm. Tag ist jetzt entschieden, daß die durch den Verkehr mit dem Wahlverteidiger angefallenen Dolmetscherkosten einschließlich der Kosten vorbereitender Gespräche zu erstatten sind, vgl. Meyer-Goßner47 25, ferner LR-Ililger § 464a StPO, 9 mit weit. Nachw. sowie nachfolgende Fußn.

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Angeklagten, der sie nicht aufbringen kann, durch Bestellung eines Pflichtverteidigers zu ihrem Ersatz verholfen wird 1279 , ist ein die Konventionsgarantien nur unvollständig abdeckender Umweg 128°. Es kann auch nicht angenommen werden, daß unzureichende Sprachkenntnisse für sich allein stets die Bestellung eines Pflichtverteidigers zwingend erfordern 1281 . Die Zuziehung des Dolmetschers muß für die Vorbereitung der Verteidigung notwendig sein. Ist für die Vorbesprechungen mit dem Pflichtverteidiger bereits ein Dolmetscher zugezogen worden, so wird man die zusätzliche Zuziehung eines weiteren Dolmetschers für die Besprechung mit dem zusätzlich bestellten Wahlverteidiger nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände als notwendig ansehen können l 2 8 2 . Welche sonstigen Vorgänge unter die Konventionsgarantie der kostenfreien Sprach- 2 4 5 Übertragung fallen, ist strittig. Bei einer vom Staat erzwungenen Überwachung wird man nach dem Zweck der Anordnung abgrenzen müssen. Denn nicht die Belastung mit den Kosten der Strafverfolgung sondern nur der sprachbedingte Nachteil bei Führung der eigenen Verteidigung soll ausgeglichen werden. Auch wenn es in der Praxis schwierig sein wird, zu unterscheiden, ob ein Besuch oder ein Telefongespräch auch der Vorbereitung der eigenen Verteidigung dient und deshalb in Zweifelsfällen die Freistellung bejaht werden muß, gilt die Kostenfreiheit an sich nur für die Kosten der Überwachung einer Kommunikation, die auch der Vorbereitung der Verteidigung im weitesten Sinne dient. Dies kann, muß aber nicht immer auch bei den Kosten der Telefonüberwachung der Fall sein 1283 . In den veröffentlichten Entscheidungen findet sich diese Differenzierung in der Regel nicht. Nach ihr könnten Dolmetscherkosten aus der Freistellung des Art. 6 Abs. 3 Buchst, e M R K herausfallen, so etwa die Kosten der Zuziehung eines Dolmetschers für die Kontrolle des in einer fremden Sprache geführten privaten, nicht auch verteidigungsbezogenen Briefverkehrs 1284 oder bei der Überwachung eines rein privaten Besuchs bei einem Untersuchungsgefangenen 1285 . In der Bundesrepublik steht dem jedoch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das gerade bei der Aufrechterhaltung privater Beziehungen in der Regel Platz greifende Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 G G

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BayObLG StV 1990 103; OLG Düsseldorf NJW 1989 677; KG GA 1977 278; StV 1985 184; 1986 239; OLG Karlsruhe NStZ 1987 522; OLG München StV 1988 422; OLG Zweibrücken StV 1988 379, LG Aachen StV 1989 148; ablehnend KG NStZ 1990 402 unter Aufgabe der früheren Rspr. mit Anm. Hilger; Büsdorf GedS Karlheinz Meyer 29 ff; vgl. ferner Meyer-Goßner47 25; LR-Hilger § 464a StPO, 9 je mit weit. Nachw.

I2S

" Zur Problematik des aufgedrängten Verteidigers vgl. Rdn. 197; ferner TntKommEMRK- Vogler 590 und LR-Hilger § 464a StPO, 9 (Umweg über § 140 Abs. 2 StPO kann Schlechterstellung bedeuten). 1281 BGHSt 46 178 = JR 2002 121 mit Anm. Tag; Staudinger StV 2002 327; so früher schon OLG Koblenz MDR 1994 1137. Es ist eine davon unabhängige Auslegungsfrage des nationalen Rechts, wieweit nach Lage des Einzelfalls eine notwendige Verteidigung vorliegt, vgl. LR-Läderssen § 140 StPO, 79 ff; ferner etwa Büsdorf GedS Karlheinz Meyer 32; Hilger NStZ 1990 405. 1282 1283

Vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999215. Kostentragungspflicht des Staates verneinend OLG Frankfurt NStZ-RR 1998 158; bejahend OLG OLG Köln StV 1994 326; OLG Stuttgart StV 1995 260; OLG Stuttgart StV 1990 79 hatte dies offenge-

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lassen (erst in der abschließenden Kostenentscheidung sei darüber zu befinden); ähnlich LG Berlin StV 1989 350; vgl. LR-Hilger § 464a, 8 mit weit. Nachw. zum Streitstand. Die unter dem Blickwinkel des Diskriminierungsverbots des Art. 3 Abs. 3 G G mit gegenteiligem Ergebnis vorgenommene Abwägung in BVerfG NJW 2004 1095 dürfte nicht den Fall eines zur Vorbereitung der Verteidigung geführten Lelefongespräches betreffen. 12S4 F(j r ^yohl generelle Freistellung LG Stuttgart StV 2001 123; zust. Anm. Paeffgen NStZ 2002 83 Fußn. 19; Meyer-Goßner47 24; a.A OLG Stuttgart Justiz 1984 191; vgl. LR -Hilger § 464a, 8 mit weit. Nachw. zum Streitstand. 1285

Gegen Freistellung Vogler EuGRZ 1979 640; OLG Koblenz NStZ-RR 1996 159; LG Mainz NStZ-RR 1996 32; a.A OLG Düsseldorf NStZ 1991 403 (zu § 119 Abs. 3 StPO; § 27, Abs. 1 TRG); OLG Frankfurt StV 1986 24; LG Berlin StV 1989 350; Paeffgen NStZ 1989 423; 1990 533; 1998 76; Meyer-Goßner47 24; OLG Stuttgart StV 1990 79 läßt dies offen und verneint nur die Vorschußpflicht für die Auslagen; für zumindest vorläufige Kostenübernahme durch die Staatskasse auch LG Berlin StV 1989 350; vgl. LR-Hilger § 464a, 8 mit weit. Nachw. zum Streitstand.

Walter Gollwitzer

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

entgegen, so daß auch insoweit - abgesehen vielleicht von wenigen, eine andere Abwägung gebietenden Ausnahmefällen - alle Überwachungskosten endgültig von der Staatskasse zu tragen sind. Im praktischen Ergebnis führt dies dazu, daß die Dolmetscherkosten bei derartigen Überwachungsmaßnahmen der Staatskasse endgültig zur Last fallen, zumal in der Regel die Trennung zwischen einer rein privaten und einer daneben auch die Vorbereitung der Verteidigung bezweckenden Unterhaltung in der Praxis ohnehin kaum durchführbar ist. Dolmetscherkosten, die dadurch angefallen sind, daß der Angeklagte schuldhaft dem Termin ferngeblieben ist, fallen nicht unter die Freistellung 1286 , wohl aber die Kosten einer durch das Ausbleiben des Dolmetschers notwendig gewordenen Verfahrensaussetzung 1287 . 246

e) Form und Umfang der Sprachübertragung werden nicht näher festgelegt. Den Anforderungen der Konventionen genügen in der Regel sowohl die mündliche als auch die schriftliche Übertragung. Bei den Vorgängen in einer mündlichen Verhandlung wird im allgemeinen eine mündliche Sprachübertragung stattfinden. Die Konventionen fordern nicht die wortwörtliche Übersetzung aller Vorgänge. Sofern es nicht im Einzelfall auf den genauen Wortlaut ankommt oder eine Vielzahl von Einzelheiten nur durch wiederholtes Nachlesen erfaßt werden kann 1288 , genügt es, wenn dem Angeklagten das für seine Verteidigung Wesentliche mündlich simultan oder konsekutiv übersetzt wird 1289, wie etwa der Inhalt einer ihn belastenden Zeugenaussage oder eines in der Hauptverhandlung verwendeten schriftlichen Beweismittels. Will das Gericht den Inhalt einer Urkunde im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO zum Gegenstand der Hauptverhandlung machen, so ist zumindest erforderlich, daß das Gericht dafür sorgt, daß dem Angeklagten der Inhalt der Urkunde übersetzt wird, wenn ihm keine schriftliche Übersetzung zur Verfügung gestellt werden kann. Die Einschränkung, die § 259 Abs. 1 StPO hinsichtlich der Schlußvorträge von Anklage und Verteidigung bringt, dürften bei vernünftiger, die Verteidigungsbelange berücksichtigender Handhabung mit den Konventionen vereinbar sein, die eine Unterrichtung über den für die Verteidigung wichtigen Inhalt, nicht aber eine wörtliche Sprachübertragung fordern.

247

f) Die endgültige Freistellung von den Dolmetscherkosten wird von den Konventionen garantiert 1290 . Die früher vertretene Auffassung, daß die Befreiung nur eine vorläufige sei und nicht daran hindere, einem verurteilten Angeklagten diese Kosten als Auslagen aufzuerlegen 1291 , ist überholt. Zur Tragweite der Kostenfreiheit vgl. L R § 464a StPO Rdn. 10 ff. 7. Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (Art. 14 Abs. 3 Buchst, g I P B P R )

248

a) Allgemeines. Art. 14 Abs. 3 Buchst.g IPBPR führt unter den Mindestrechten des wegen einer strafbaren Handlung ( Art. 14 Abs.3) Angeklagten ausdrücklich auf, daß niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen („nemo tenetur se ipsum accusare/prodere"). Dieses Verbot und das damit verbundene Recht des Beschuldigten zu schweigen, entspricht einem allgemein anerkannten Grundsatz („gemeineuropäisches Gedankengut") 1292, der den Be1286

EKMR EuGRZ 1989 329; so jetzt § 464a StPO. LG Hamburg StV 1985 500; Meyer-Goßner47 24. 1288 Vgl. Kühne FS H. Schmidt 40. 128 » E G M R 19.12.1989 Kamasinski/Ö (ÖJZ 1990 412). 2 i «· EGMR 28.11.1978 Luedicke u. a./D (EuGRZ 1979 34); vgl. auch EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1979 118; l'roweinlPeukert 207; TntKommEMRK- Vogler 1287

1ÄI

1292

593; Nowak 57; LR-Iiiiger § 464a StPO, 8 mit. weit. Nachw. Vgl. die Nachweise bei LR-Hilger § 464a StPO, 8; Meyer-Goßner47 24; SK StPO-Paeffgen 169. Zur Entwicklung aus der angelsächsischen Rechtstradition vgl. etwa Böse GA 2002 98, 108; Dingeldey JA 1984 408 unter Hinweis auf das 5. Amend-

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schuldigten vor jedem Aussagezwang schützt. Die Behörden, die ihm seine Schuld nachweisen müssen, werden dadurch zu eigenen Ermittlungen gezwungen. Dadurch wird auch Fehlentscheidungen vorgebeugt. In der MRK fehlt ein ausdrückliches Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung 1292a . Es wird jedoch, soweit es den Beschuldigten einer Straftat betrifft, aus dem Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 M R K ) hergeleitet 1293 . Der E G M R zählt das allgemein international anerkannte Recht des Beschuldigten, selbst darüber zu entscheiden, ob er zu Beschuldigungen aussagen oder schweigen will, zum Kernbereich eines fairen Verfahrens 1294. Es kann, wie Art. 34 M R K (Art. 25 M R K a. F) zeigt, auch von unmittelbar betroffenen Personengruppen oder juristischen Personen geltend gemacht werden 1295 . Auch die Erzwingung der aktiven Mitwirkung an der eigenen Belastung durch eigenhändige Herausgabe von Beweismaterial, die vom Wortlaut des Art. 14 Abs. 3 Buchst, g IPBPR („gegen sich selbst aussagen") nicht erfaßt wird, kann mit dem Gebot eines fairen Verfahrens unvereinbar sein 1296 , nicht dagegen die bloß passive Duldung der mit Eingriffen in die Körperintegrität verbundenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen 1 2 9 7 . Eine gewaltsame Erzwingung einer Selbstbelastung kann außerdem gegen Art. 3 M R K , Art. 7, 10 Abs. 1 IPBPR verstoßen 1298 . Aus der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 M R K und der den staatlichen Organen obliegenden Beweislast allein dürfte sich ein solches Verbot jedoch nicht unmittelbar ableiten lassen 1299 . Nach innerstaatlichem Verfassungsrecht kommt dem von der StPO als selbstverständ- 2 4 9 lieh vorausgesetzten Verbot 1300 jedes Zwangs zur Selbstbelastung nach einhelliger Meinung Grundrechtsrang zu, ganz gleich, ob man es aus dem Rechtsstaatsprinzip, der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 G G ) und vor allem aus dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG) 1 3 0 1 herleitet, mit ment zur Verfassung der USA; Nowak 59; ferner etwa Esser ZStW 86 (1974) Beih. 144; Lorenz JZ 1992 1000 Nothelfer Die Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang (1989); Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 67 ff; Raping JR 1974 135; Verrel Selbstbelastungsfreiheit, 277; SKStVO-Rogall Vor § 133, 130; SK-StPO-Paeffgen Vor § 112, 31; Art. 6 MRK 80 ff, LR-Rfe/SEinl. I 88 ff je mit weit. Nachw. 1292a Auch die Europäische Grundrechte-Charta spricht es nicht ausdrücklich an. EGMR 25.2.1993 Funke/F (ÖJZ 1993 532); 8.2. 1996 Murray/GB (EuGRZ 1996 587); 17.12.1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32; „Herzstück des fairen Verfahrens"); 3.5.2001 J.B./CH (NJW 2002 499); 8.10.2002 Beckles/GB (ÖJZ 2004 67); 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257); dazu Weiß NJW 1999 2236; Ambus NStZ 2002 628, 632; Grabenwarter § 24 Rdn. 77; Meyer-Ladewig 52; SK-StPO-Äoga// Vor § 133, 130 ff, SK-StPO-Paeffgen 81 je mit weit. Nachw.; Villiger HdB 502; Nowak 59; vgl. aber auch Rogull 112 f. und zur engeren Auslegung des EuGH und des EuG Böse Z R P 2001 403. EGMR 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257 mit Anm. Gaede), vgl. Esser 521 ff; 615 ferner vorst. Fußn. 1295

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Schuler JR 2003 268; Weiß NJW 1999 2236; JZ 1998 289 (in Kritik von BVerfGE 95 220, 241); Meyer-Lädewig 53; vgl. aber auch Am JZ 2003 456; ferner Rdn. 249 am Ende. EGMR 25.2.1993 Funke/F (ÖJZ 1993 532): Grabenwarter § 24 Rdn. 77; SK-StPO-Paeffgen 83. Vgl. Rdn. 253a.

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Nowak 59; 60. '»» Böse GA 2002 123; Rogall 109 ff; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 131; SiL-StPO-Paeffgen 81: a. Α Grabenwarter § 24 Rdn. 77 mit Hinweis, daß E G M R 8.2.1996 Murray/GB (EuGRZ 1996 587), 17.12. 1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32) einen engen Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung annehmen; ferner etwa Guradze FS Loewenstein 160; Dingeldey JA 1984 409; IntKommEMRK- Vogler 466; Schubarth 9, Villiger HdB 502. Ob die vom E G M R nicht schlechtweg ausgeschlossenen Folgerungen aus dem Schweigen (vgl. Rdn. 255) die Unschuldsvermutung verletzen können, so Rüping JR 1974 137, ist eine andere Frage.

Vgl. etwa §§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 1, 243 Abs. 4 StPO; § 393 AO; BVerfGE 38 113; 55 144; Dingeldey JA 1984 408; SiL-StPO-Rogall Vor § 133, 130 mit. weit. Nachw. um BVerfGE 38 113; 55 150 ff; 56 41 ff; 65 46; BVerfG NStZ 1995 555; 2000 488; StV 1999 71; 2002 177; Böse GA 2002 98 ff; Bruns FS Schmidt-Leichner 8; Dingeldey JA 1984 409; Eser ZStW 86 (1974) Beih. 144; Esser JR 2004 98; Kühl JuS 1986 117; NiemöllerlSchuppen AöR 107 (1982) 421; Niebier FS Kleinknecht 306; Rogall 137 ff; Schäfer FS Dünnebier 11; Streck StV 1981 362; Stürner NJW 1981 1757; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 132 ff mit weit. Nachw.; ferner Nothelfer (aaO Fußn. 258), der die Rechtsgrundlage im allgemeinen Persönlichkeitsrecht, im Recht auf informationelle Selbstbestimmung sieht.

Walter Gollwitzer

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Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

der jeder Zwang zu einer Aussage, die die Grundlage für die eigene Verurteilung bilden kann, unvereinbar ist, oder ob man dieses Verfahrensgrundrecht auch aus dem ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürdegarantie wurzelnden Recht auf Verteidigung und Gehör und der Unschuldsvermutung folgert 1302 . Es ist ein Abwehrrecht im Grundrechtsrang und ein besonderes Persönlichkeitsrecht, das sich mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auf Entschließungsfreiheit und dem Recht auf Privatheit 1303 weitgehend überlagert, aber nicht völlig deckt 1304 . Innerstaatlich ist strittig, ob dieses Auskunftsverweigerungsrecht auch juristischen Personen als solchen zusteht, wenn sie selbst einer Ordnungswidrigkeit beschuldigt werden. Das Bundesverfassungsgericht 1305 hat dies unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 3 G G verneint 1306 . 250

b) Gegenstand des Verbots des Art. 14 Abs. 3 Buchs, g IPBPR ist jeder unmittelbare oder mittelbare Zwang, durch den eine Person, der eine strafbare Handlung zur Last gelegt wird, veranlaßt werden soll, sich selbst im Sinne der Anklage förmlich für schuldig zu erklären oder sich durch eine Aussage selbst zu belasten oder sonst selbst aktiv an ihrer Belastung mitzuwirken. Dies gilt für jede für Zwecke der Strafverfolgung abgeforderten Äußerung 1307 , auch die Beantwortung einer darauf abzielenden Frage darf deshalb nicht erzwungen werden.

251

Das Verbot des Art. 14 Abs. 3 Buchst, g IPBPR beschränkt sich seinem Wortlaut nach auf den Aussagezwang bei Personen in Verfahren, in denen sie selbst einer strafbaren Handlung beschuldigt werden 1308 . Strafbare Handlung ist dabei im weiten Sinn des Art. 14 Abs. 1 IPBPR zu verstehen, auch Ordnungswidrigkeiten fallen darunter 1309 , ferner wohl auch berufsrechtlich zu ahndende Verfehlungen und disziplinarrechtlich vom Gericht zu ahndende Verstöße, soweit strafähnliche Sanktionen in Frage kommen l 3 1 0 .

252

In weiter Auslegung soll Art. 14 Abs. 3 Buchst, g IPBPR auf alle einer Auskunftspflicht unterworfenen Personen anwendbar sein, vor allem auf Zeugen, wenn sich diese bei Erfüllung ihrer Zeugenpflicht eine strafbare Handlung im oben verstandenen weiten Sinn selbst bezichtigen müßten. Ob diese Konventionsbestimmung wirklich so weit ausgelegt werden kann, daß damit ein allgemeines „privilege against self-incrimination" völkervertraglich festgelegt wurde l 3 U , kann bei der Vielgestaltigkeit nationalrechtlicher Auskunftspflichten fraglich erscheinen. Dies mag jedoch dahinstehen, da nach unserem innerstaatlichen Verfassungsrecht die Tragweite dieses Grundsatzes über jede engere Auslegung des Art. 14 Abs. 3 Buchst, g IPBPR hinausreichen würde. Sie beschränkt sich nicht auf die Beschuldigten eines Strafverfahrens, sondern schützt auch alle anderen Personen, insbesondere die Zeugen, in gerichtlichen und behördlichen Verfahren vor dem Zwang zu selbstbelastenden Aussagen. Wenn andere öffentliche Interessen eine

1302

131,5 13114

13,15

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13117

Vgl. BVerfGE 35 41, 47; 38 105, 113 ff; 55 144, 150; 56 37, 41; 95 241, SK-StPO-Rogall Vor § 133, 142 ff; S K - S t P O - P a t ^ e f l 80. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen ferner Böse G A 2002 98 ff. Vgl. auch Art. 8 M R K . Z u den Unterscheidungen SK-StPO-Rogall Vor § 133, 134 ff BVerfGE 95 220, 241, kritisch dazu Weiß JZ 1998 189; N J W 1999 2236; Schüler JR 2003, 265, 286. Ebenso der E u G H 18.10.1989 Orkem (Slg. 1989 3283); dazu Schiller JR 2003, 265, 286 mit Nachw. zu Streitstand. Z u r Problematik der Abgrenzung von Offenbarungsu n d Mitteilungspflichten, die anderen öffentlichen Stand:

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13111 1311

Interessen oder auch Interessen Dritter dienen sollen, vgl. E G M R 3. 5.2001 J.B./CH ( N J W 2001 499); Müller E u G R Z 2001 546; S K - S t P O - P a e f f g e n 82. D e r Wortlaut folgt der Garantie f ü r das Strafverfahren im 5. A m e n d m e n t zur Verfassung der U S A , vgl. Dingeldey JA 1984 408, der I P B P R betrifft aber nur natürliche Personen Schuler J R 2003 265, 268 unter Hinweis auf E U G H 18.10.1989 (Orkem) mit weit. Nachw. Vgl. SK-StPO-Rogall Vor § 133, 147, 148; enger Weiß JZ 1998 289; ferner R d n . 30. Vgl. R d n . 34. Rogall 116 ff; SiL-StPO-Rogall Vor § 133, 131; Dingeldey JA 1984 409.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Pflicht zur Offenlegung bestimmter Tatsachen rechtfertigen, ist strittig, wieweit damit ein Schutz vor den strafrechtlichen Folgen verbunden ist 1312 . Unter Zwang sind dabei aber nicht nur die durch Art. 3 M R K , Art. 7 IPBPR geäch- 2 5 3 teten Maßnahmen zu verstehen, sondern jede unmittelbare oder mittelbare Ausübung von Druck auf den Beschuldigten, durch den dieser zu einer Selbstbelastung gebracht werden soll 1313 . Die Androhung von Nachteilen tatsächlicher oder rechtlicher Art, auch für andere, fällt ebenso darunter, wie die Androhung von Gewalt oder die Herbeiführung der Selbstbelastung durch Psychopharmaka 1 3 1 4 oder die Erzwingung zu Angaben oder der Herausgabe von Unterlagen zur Verwertung für die Zwecke eines Strafverfahrens durch Androhung oder Verhängung von Geldstrafen oder Geldbußen 1315 . Da der E G M R es andererseits als zulässig ansieht, daß der Staat Auskunfts- und Dokumentationspflichten für andere öffentliche Zwecke begründet 1316 und solche Auskünfte, vor allem auch für Steuerzwecke, durch Strafsanktionen erzwingt, kann die Abgrenzung schwierig sein. Dies gilt vor allem, wenn solche Angaben, deren Erzwingung für andere Zwecke nicht gegen das nur für Strafverfahren geltende Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung verstößt, später in einem Strafverfahren verwendet werden 1317 . Das Privileg des Schutzes vor jedem Zwang zur Selbstbelastung bietet aber keine Immunität für Handlungen, mit denen der Befragte verhindern will, daß sein strafrechtlich relevantes Verhalten aufgedeckt wird 1318 . Das Verbot ist auch nicht berührt, wenn der Betroffene in einer ihm abverlangten Erklärung selbst falsche Angaben macht 1319 . Wieweit im übrigen Aussagen gegen das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung verstoßen, die eine von ihrem Schweigerecht Gebrauch machende Person unter den von staatlichen Stellen unmittelbar oder mittelbar herbeigeführten psychologischen Druck eines anhängigen oder drohenden Strafverfahrens abgab, hängt von den hier mitunter sehr unterschiedlich zu bewertenden Umständen des Einzelfalls ab, sowie davon, ob deswegen der Betroffene insgesamt kein faires Verfahren mehr hatte. Äußerungen gegenüber Privatpersonen, die ein Beschuldigter mündlich oder schriftlieh abgegeben hat, können auch dann verwertet werden, wenn sich der Beschuldigte auf Fragen der nicht im staatlichen Auftrag handelnden Privatperson selbst belastet hat 1320 . Fraglich ist dagegen, wieweit ihn die durch die Konventionen verbürgte Selbstbelastungsfreiheit dagegen schützt, daß sie von Personen unterlaufen wird, die den schweigenden Betroffenen im verdeckten Auftrag staatlicher Stellen veranlassen, sich zu einem ihm angelasteten Sachverhalt zu äußern 1321 . Gleiches gilt auch für seine Selbstidentifizierung 1512

1313

1314

1315

1316

Vgl. BVerfGE 56 37, 50 („Gemeinschuldner"); LRRieß Einl. I 98; LR-GiM.se/ Einl. Κ 67 (Abwägung); entgegen h. Μ für generelles Beweisverwertungsverbot SK-StPO-Paeffgen 82. Abwehr finaler Zwangsausübung Kühl JuS 1986 117; StV 1986 190; Rugall 145; Stümer NJW 1981 1757; SK-StPO-«oi;rt//Vor§ 133, 139. Dencker NStZ 1982 154; Sü-StPO-Rogall Vor § 133, 140. E G M R 3.5.2001 J.B./CH (NJW 2002 499 mit Anrn. Schöbe NJW 2002 492; Geldbußen wegen Weigerung der Vorlage von Unterlagen im Steuerhinterziehungsverfahren); vgl. dazu Ambos NStZ 2002 628, 632; ferner EGMR 25.2.1993 Funke/F (ÖJZ 1993 534); Meyer-Ladewig 52; sowie nachf. Fußn. Vgl. EGMR 8.4.2004 Weh/Ö (ÖJZ 2004 853) mit weit. Nachw.; Maller EuGRZ 2001 546; LR-Rieß Einl. I 98 ff.

(423)

1317

1318 1319 13211

1321

Tn solchen Fällen wird ein menschenrechtlich/grundrechtlich verbürgtes Beweiserhebungsverbot unter Hinweis auf BVerfGE 56 37 ff im Schrifttum bejaht, vgl. SK-StPO-Paejfgen 82 mit weit. Nachw. ferner LR -Rieß Einl. I 96 ff; LR-G0i.se/Einl. K. EGMR 10.9.2002 Allen/GB (ÖJZ 2003 909). EGMR 10.9.2002 Allen/GB (ÖJZ 2003 909). Etwa BGHSt 27 355, 357; 36 167, 173; ferner der umstrittene Hörfallen-Fall BGHSt 42 139, 153 = NStZ 1996 502 mit Anm. Rieß. Nach Gaede StV 2003 260 kommt es nur darauf an, ob das Verhalten des Informanten dem Staat zuzurechnen ist und ob dieser dem Beschuldigten die selbstbelastende Äußerung entlockt hat. Zur Frage, ob die Freiheit vom Selbstbelastungszwang auch auf den Schutz vor Läuschung ausgedehnt werden sollte vgl. ferner Weigend ZStW 113 (2001) 271; SK-StPO-Paeffgen 84.

Walter Gollwitzer

253a

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

auf einem ihm von der Polizei unter Verschweigen des Zwecks vorgelegten Lichtbild 1322 oder für Angaben, zu denen er von einem Mithäftling durch unlautere Mittel mit Wissen der staatlichen Stellen veranlaßt wurde 1323. Der EGMR hat in einer neueren Entscheidung1324 eine Verletzung des bereits bei einer offiziellen Vernehmung ausgeübten Schweigerechts1325 des Beschuldigten darin gesehen, daß dieser in der Haft durch einen von der Polizei damit beauftragten Mithäftling zu Äußerungen veranlaßt und dadurch sein Schweigerecht gezielt unterlaufen wurde. Maßgebend für die Annahme eines Verstoßes gegen das Gebot eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 M R K war, daß in Würdigung aller Umstände das Gespräch mit dem Informanten das funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung bedeutete, weil der Beschuldigte die Äußerungen nicht spontan von sich aus abgegeben hatte, sondern seine Angaben ihm von seinem Gesprächspartner unter Verschweigen des staatlichen Auftrags bewußt entlockt worden waren1326. Dagegen wurde kein Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens darin gesehen, daß das Gericht die Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen des Beschwerdeführers mit seiner Freundin und mit einem Mithäftling als Beweismittel verwendet hatte, die im Gefängnis mit einer ihm unbekannten Abhörvorrichtung aufgenommen worden waren, deren Vorhandensein er aber für möglich hielt. Der EGMR, der bewußt auf den Einzelfall abstellte, nahm zwar an, daß das Abhören wegen des Fehlens einer hinreichenden Rechtsgrundlage gegen Art. 8 MRK 1327 verstieß; die Verwertung der durch das Abhören gewonnenen Erkenntnisse verletzte aber nach seiner Ansicht nicht notwendigerweise auch das Gebot eines fairen Verfahrens, da der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, in der Verhandlung die Bedeutung und Verläßlichkeit der Aussage in Frage zu stellen 1328. 253b

Nicht gegen das Verbot verstößt eine freiwillige Selbstbelastung, wenn der Beschuldigte durch ein Versprechen dazu veranlaßt wurde 1329 . Auf die Motive, aus denen er sich zur Aussage entschließt, kommt es nicht an, sofern nur die Aussage selbst das Ergebnis seiner eigenen freien Entschließung ist. Hat der Beschuldigte vorher in einem anderen Verfahren Aussagen gemacht oder Unterlagen vorgelegt, weil er dazu kraft Gesetzes unter Androhung von Strafen verpflichtet war, so berührt das an sich das Verbot des Selbstbelastungszwangs nicht, jedoch kann deren spätere Verwendung im Strafverfahren dagegen verstoßen und damit das Gebot eines fairen Verfahrens verletzen, wenn dadurch die Verteidigungsmöglichkeiten erheblich eingeengt werden1330. Hieraus wird 1322 1325

1324

1325

1,26

E G M R 26.3.1996 Doorson NdL (ÖJZ 1996 715). Vgl. BGHSt 44 129 = JR 1999 346 mit Anm. Hanack = NStZ 1999 147 mit Anm. Roxin; zu den strittigen Fragen des innerstaatlichen Rechts lisser JR 2004 98, 101 mit weit. Nachw. EGMR 5.11.2002 Allan/GB (JR 2004 127, Äußerungen in der Gefängniszelle gegenüber von der Polizei mit dem Aushorchen beauftragte Mitgefangene) = StV 2003 257 mit Anm. Gaede: dazu auch lisser JR 2004 98; SK-StPO-ftie/^CT 85; vgl. auch Gaede StV 2004 46, 49. Ob gegen das Gebot eines fairen Verfahrens auch verstoßen wird, wenn ein in Freiheit befindlicher Beschuldigter ausgehorcht wird, bevor er sich auf sein Schweigerecht berufen hat, ließ der E G M R offen; vgl. lisser JR 2004 98, 100; Gaede StV 2004 46, 49. Zur Interpretation der Tragweite dieser Entscheidung, insbesondere auch zur Frage, wieweit sie auch gilt, wenn Angaben aufgezeichnet werden, die

1327

1328

1329

13311

ein in Freiheit befindlicher Beschuldigter freiwillig im Anschluß an eine Vernehmung macht, in der er von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte, vgl. lisser JR 2004 98, 106. Etwa EGMR 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); 12.5.2000 Khan/GB (ÖJZ 2001 654); 5.11. 2002 Allan/GB (JR 2004 127, dazu Esser JR 2004 98 = StV 2003 257 mit Anm. Gaede). E G M R 5.11.2002 Allan/GB (JR 2004 127, dazu lisser JR 2004 98 = StV 2003 257 mit Anm. Gaede); SK-SiPO-Paeffgen 84. Nowak 58 (ein solcher Vorschlag wurde abgewiesen). Vgl. Kühl StV 1986 190; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 140; aber auch die weitergehenden Verbote des § 136a StPO. EGMR 17.12.1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32; rechtlicher Zwang zur Aussage gegenüber den von einer Behörde eingesetzten Inspektoren, deren Protokolle später im Strafverfahren verwendet wurden).

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

dann ein Verwertungsverbot 1331 für die Verwendung in einem späteren Strafverfahren hergeleitet. Ist aber bereits ein Strafverfahren anhängig, dürfte sich daraus unmittelbar ein Recht auf Auskunftsverweigerung ergeben. Letzteres wurde auch angenommen, wenn dem Beschuldigten unter Androhung gesetzlich vorgesehener Sanktionen aufgegeben wurde, selbst belastende Unterlagen vorzulegen 1332. Der Zwang zur Anwesenheit bei der Hauptverhandlung oder zur Duldung einer erkennungsdienstlichen Maßnahme, wie etwa die Entnahme einer Blut-, Urin- oder Gewebeprobe oder sonstigem Körpermaterial oder die Erlangung einer Stimmprobe 1333 oder die Duldung vergleichbarer Eingriffe zu Beweiszwecken fällt nicht unter das Verbot. Gleiches gilt für die Verwendung selbständig existierenden belastenden Materials, das unabhängig vom Willen und Erklärungen des Beschuldigten sichergestellt wurde 1334. c) Adressaten des Verbotes des Art. 14 Abs. 3 Buchst, g IPBPR sind sowohl der 2 5 4 Gesetzgeber, der zumindest im Verfahren wegen strafbarer Handlungen keinen irgendwie gearteten Aussagezwang vorsehen darf, als auch die Gerichte und alle staatlichen Organe, die im konkreten Einzelfall keinen Zwang ausüben dürfen, um eine Schuldigerklärung oder eine selbstbelastende Aussage in bezug auf eine Straftat im weiten Sinn der Konventionen herbeizuführen. Private Dritte werden nicht angesprochen 1335 . In welcher Form das nationale Recht die Äußerungen des Angeklagten in das Verfah- 2 5 5 ren einführt, ist unerheblich. So kommt es nicht darauf an, ob im Strafverfahren eine solche Aussage als Einlassung des Angeklagten unmittelbar für die Entscheidungsfindung verwertbar ist oder ob dort seine förmliche Versetzung in die verfahrensrechtliche Stellung eines „Zeugen in eigener Sache" vorgesehen ist. Nach dem Schutzzweck der Vorschrift ist der Zwang zur Selbstbelastung in jeder Form verboten und zwar unabhängig davon, ob die Verwertung einer erzwungenen Aussage nach nationalem Recht zulässig ist und ob und unter welchen Voraussetzungen ein Gericht das Schweigen des Angeklagten zu konkreten Vorgängen bei seiner Beweiswürdigung zu seinen Lasten berücksichtigen darf 1336 . Bei der Belehrung der Geschworenen darf es der Richter nicht ihnen überlassen, welche Schlußfolgerung sie aus dem Schweigen ziehen wollen; er muß angemessenes Gewicht auf die dafür abgegebenen Erklärungen des Betroffenen legen, so etwa, daß er auf Rat seines Anwalts geschwiegen hat l 3 3 7 . d) Besondere Rechtsfolgen wegen eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz legt der 2 5 6 IPBPR nicht fest; er überläßt es dem nationalen Recht, welche Rechtsfolgen es innerstaatlich daran knüpfen will. Nach diesen ist zu beurteilen, ob der Verstoß ein Verwertungsverbot mit oder ohne Fernwirkung oder ein Offenbarungsverbot zur Folge

1331

1532

1333

1334

1335

Vgl. BVerfGE 56 37, 48 („Gemeinschuldner": Verwertungsverbot), jetzt § 97 TnsO: SK-StPO-ftjeZ/j?™ 82; ferner LR-Rieß Einl. I 98 ff. E G M R 25.2.1993 Funke/F(ÖJZ 1993 534); 5.11. 2002 Allan/GB (JR 2004 127, dazu Esser JR 2004 98 = StV 2003 257 mit Anm. Gaede): 3.5.2001 J. B./CH (NJW 2002 499 mit Anm. Schohe); Ambras NStZ 2002 628, 612 f; Esser 520 ff. E G M R 29.9.2001 P.G., J.H./GB (ÖJZ 2004 911). Vgl. auch nächst. Fußn. Etwa EGMR 17.12.1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32); Grabenwarter § 24 Rdn.77; Meyer-Ladewig 52. Vgl. BVerfG 56 37; SK-StPO-Rogall Vor § 133, 135; 156; OLG Karlsruhe NStZ 1989 287 mit Anm. Rogull.

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ι.» vgl. EGMR 6.2.1996 Murray/GB (EuGRZ 1996 587; „common-sense-Schlußfolgerung zulässig, weil der gegen den Angeklagten ermittelte Sachverhalt eine Erklärung verlangte"); dazu Kähne EuGRZ 1996 571; SiL-StPO-Pae/fgen 84; vgl. auch E G M R 2.5.2000 Condron/GB (ÖJZ 2001 610); 20.3.2001 Telfner/Ö (ÖJZ 2001 613: „wenn nach gesundem Menschenverstand nur eine einzige Schlußfolgerung möglich", nicht aber wenn der Sachverhalt aufklärungsbedürftig bleibt); vgl. auch 8.10.2002 Beckles/GB (ÖJZ 2004 67); Esser 454; 522 ff; Grabenwurier § 24 Rdn. 77; Meyer-Ladewig 54; Villiger HdB 502. 1337

EGMR 8.10.2002 Beckles/GB (ÖJZ 2004 67), vgl. Kühne EuGRZ 1996 571.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

hat 1338 oder ob und unter welchen Voraussetzungen das Gericht bei seiner Beweiswürdigung Schlüsse aus dem Schweigen ziehen darf 1 3 3 9 . Eine Pflicht, eine bestimmte Regelung zu treffen, kann für das nationale Recht weder aus Art. 14 Abs. 3 Buchst, g IPBPR noch aus dem Recht auf ein faires Verfahren hergeleitet werden, auch keine generelle Belehrungspflicht 1340 . Allerdings darf der Staat nicht auf alle rechtlichen Möglichkeiten zur Absicherung dieses Verbotes verzichten 1341 , denn er ist gegenüber den Konventionsorganen für die innerstaatliche Beachtung dieses Verbots verantwortlich. 8. Verfahren gegen Jugendliche (Art. 14 Abs. 4 I P B P R ) 257

a) Allgemeines. Im Gegensatz zur M R K enthält der IPBPR besondere Garantien zum Schutze Jugendlicher. Dies erklärt sich daraus, daß er in Ubereinstimmung mit dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1342 in Art. 24 Abs. 1 den Kindern das Recht auf Schutz durch Familie, Gesellschaft und Staat zuerkennt. Diese allgemeine Verpflichtung wird dann für einige Gewährleistungen konkretisiert, so etwa in Art. 6 Abs. 5 IPBPR (Verbot der Todesstrafe bei Jugendlichen unter 18 Jahren) und in Art. 10 Abs. 2, 3 IPBPR für den Haftvollzug. Zusätzliche Bestimmung enthält auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (vgl. insbes. Art. 37, 40) 1343 .

258

Art. 14 Abs. 4 IPBPR ergänzt durch das Gebot einer jugendgerechten Verfahrensgestaltung die Verfahrensgrundrechte; das Verfahren gegen Jugendliche ist so zu führen, wie es ihrem Alter entspricht und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördert. Damit deckt sich die Ausnahme zum Schutze der Interessen Jugendlicher, die Art. 14 Abs. 1 IPBPR für die öffentliche Verkündung von Urteilen vorsieht 1344 .

259

b) Wer Jugendlicher ist, legt Absatz 4 nicht näher fest, insbesondere stellt er - anders als Art. 6 Abs. 5 IPBPR - keine feste Altersgrenze auf; er überläßt die Festlegung der Altersgruppe dem nationalen Recht. Dieses muß im Rahmen des international Üblichen konkrete Festlegungen treffen 1345 , sowohl für einen dem Entwicklungsstand entsprechenden Beginn der Strafmündigkeit als auch für die volle, uneingeschränkte strafrechtliche Verantwortlichkeit. Letztere kann, muß aber nicht mit der bürgerlich-rechtlichen Volljährigkeit zusammenfallen.

260

c) Absatz 4 begründet eine Pflicht des Staates, das Verfahren gegen Jugendliche so zu gestalten, daß es ihrem Alter und Entwicklungsstand Rechnung trägt, sie also weder vom Verständnis her noch emotional überfordert. Das Verfahren muß außerdem so geführt werden, daß es die Wiedereingliederung der gestrauchelten Jugendlichen in die Gesellschaft fördert; dies gilt sowohl für die Verfahrensgestaltung als auch für das auf

1338

1339 1340 1341

1342

1343

Vgl. dazu SK-StPO-Äog«// Vor § 133, 158 ff. Nach Nowak 59 hat der UN-AMR die Vertragsstaaten aufgefordert, entsprechende Beweisverwertungsverbote vorzusehen. Vgl. oben Rdn. 255. So aber IIof mann S. 40. Zur weitergehenden Schutzpflicht beim Folterverbot. die durch zusätzliche Konventionen detailliert wird, vgl. Art. 3 M R K Rdn. 11. Vom 19.12.1966; BGBl. TT 1973 S. 1570 wegen der Verpflichtung zu Sondermaßnahmen zum Schutze der Kinder vgl. etwa Art. 10 Nr. 3 TPWSKR. BGBl. II 1992 S. 122; für die Bundesrepublik ohne

1344 1345

unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit, vgl. Bek. vom 10.7.1992 BGBl. II S. 990); vgl. Einf. Rdn. 10. Vgl. Rdn. 98. Nowak 61 mit Nachw., zu den Möglichkeiten, die Strafmündigkeit durch generell abstrakte Altersgrenzen oder konkret im Einzelfall zu ermitteln, vgl. Mayer GA 1990 508. Art. 1 des Ubereinkommens über die Rechte des Kindes legt als Altersgrenze die Vollendung des 18. Lebensjahres fest, sofern die Volljährigkeit nach nationalem Recht nicht früher eintritt.

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Jugendliche anwendbare Sanktionssystem, das sich nicht auf repressive Strafen beschränken darf. Einzelheiten werden dem nationalen Recht überlassen, das insoweit einen weiten Gestaltungsraum hat und das nicht einmal ein besonderes Verfahren vor Jugendgerichten einführen muß 1346 . Das nationale Verfahren wird aber insgesamt an den Forderungen der Konvention gemessen. Ein Verfahren, das genauso geführt würde wie ein Verfahren gegen Erwachsene und das das gleiche Strafensystem anwenden würde, wäre mit Absatz 4 nicht vereinbar 1347 . Das Verfahren nach dem JGG wird beiden Vorgaben gerecht. 9. Recht auf Rechtsmittel gegen Verurteilung wegen einer strafbaren Handlung (Art. 14 Abs. 5 I P B P R ) a) Allgemeines. Das Recht des wegen einer strafbaren Handlung Verurteilten auf 261 Nachprüfung des Urteils durch eine höhere Instanz (Art. 14 Abs. 5 IPBPR) ist in der M R K selbst nicht enthalten. Es findet sich erst in Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur M R K vom 22.11.1984, dem die Bundesrepublik nicht beigetreten ist. Dort werden auch Grenzen aufgezeigt. Die Regelung der Gründe, aus denen die Anfechtung zugelassen wird und die Formen der Anfechtung werden dem nationalen Recht überlassen. Dieses kann ferner Ausnahmen vom Recht auf eine zweite Instanz für geringfügige Straftaten vorsehen, also für Taten, denen bei einer Gesamtwürdigung geringes Gewicht beizumessen ist 1348 , wobei diese allgemeine Vorgabe den Staaten wohl einen gewissen Regelungsspielraum für die Abgrenzung der Anfechtbarkeit im nationalen Recht offenläßt. Der Anfechtung können ferner Taten entzogen werden, die von einem obersten Gericht abgeurteilt worden sind 1349 . Die Überprüfung durch eine weitere Instanz kann auch bei Verurteilungen in der zweiten Instanz ausgeschlossen werden, die nach einem erstinstanzlichen Freispruch ausgesprochen wurden 1350 . Die Vorbehalte der Bundesrepublik beim IBPBR entsprechen diesen Einschränkun- 2 6 2 gen. Nach Art. 1 Nr. 3 des Zustimmungsgesetzes vom 15.1 1.1973 1351 ist Art. 14 Abs. 5 IPBPR derart anzuwenden, daß ein weiteres Rechtsmittel nicht in allen Fällen allein deshalb eröffnet werden muß, weil der Beschuldigte erstmals in der Rechtsmittelinstanz verurteilt worden ist (Buchst, a); außerdem muß bei Straftaten von geringer Schwere nicht in allen Fällen die Überprüfung eines nicht auf Freiheitsstrafe lautenden Urteils durch ein Gericht höherer Instanz ermöglicht werden (Buchst, b). b) Jedem wegen einer strafbaren Handlung Verurteilten steht grundsätzlich der Anspruch auf Überprüfung durch eine höhere Instanz zu. Ob dies bei Art. 14 Abs. 5 IPBPR auch gilt, wenn es sich um geringfügige Straftaten handelt oder ob hier das nationale Recht, auf das verwiesen wird, Ausnahmen zulassen kann, ist zweifelhaft 1352. Für die Bundesrepublik folgt die Zulässigkeit von Ausnahmen zugunsten kleinerer

Nowak 63. Vgl. ital. Corte Costituzionale bei Ritterspach EuGRZ 1988 107 (gleiches Erkenntnisverfahren gegen Jugendliche und Erwachsene im Staate New York); ferner Mayer GA 1990 572 (Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Kindes). Vgl. Trechsel FS Ermacora 195, 204 zur Frage, ob sich die Geringfügigkeit abstrakt nach der Strafdrohung bemißt oder, da es sich um die Frage der Anfechtbarkeit handelt, nach der Art der abgeurteilten Tat und der im Urteil erkannten Strafe. (427)

1349 vgl. Trechsel FS Ermacora 195, 204: zu den Fällen, in denen besondere Straftaten vor dem höchsten Gericht erstinstanzlich abgeurteilt werden. 1350

1351

1352

Dazu Trechsel FS Ermacora 195, 204: Nur bei reformatorischen Rechtsmitteln, der Ausschluß auch kassadorischer Rechtsmittel wäre dem Betroffenen kaum zumutbar. BGBl. II 1973 S. 1533; der inhaltlich gleiche Text des Vorbehalts findet sich bei Nowak S. 803. Zur nicht ganz eindeutigen Entstehungsgeschichte und zur Praxis des UN-AMR vgl. Nowak 66 ff.

Walter Gollwitzer

263

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Delikte, sofern sie nicht mit Freiheitsstrafe geahndet wurden, bereits aus ihrem Vorbehalt. Die Einschränkungen der Anfechtungsmöglichkeit, wie sie etwa nach §§ 79 ff OWiG bestehen, verstoßen deshalb nicht gegen Art. 14 Abs. 5 IPBPR, so daß es keiner Erörterung bedarf, ob auch hier die Ordnungswidrigkeiten dem autonomen Begriff der strafbaren Handlungen im Sinne der Konventionen zuzurechnen sind. 264

Eine Ausnahme bei den Personen, die von einem obersten Gericht verurteilt werden, besteht in der Bundesrepublik mangels eines Vorbehaltes nicht 1353 . Man ging wohl davon aus, daß die für Staatsschutzsachen vorgesehene Zweistufigkeit den Anforderungen der Konvention genügt und daß die im Grundgesetz oder den Länderverfassungen vorgesehenen Entscheidungen der Verfassungsgerichte bei Präsidenten-, Minister-, Abgeordneten- oder Richteranklagen den Verurteilungen wegen strafbarer Handlungen nicht gleichzuachten sind 1354.

265

c) Der zweite Instanzenzug wird von dem bewußt allgemein gefaßten Art. 14 Abs. 5 IPBPR nach Maßgabe der jeweiligen innerstaatlichen Gesetze gewährt. Die Vertragsstaaten können also seine Modalitäten entsprechend ihrem jeweiligen Verfahrenssystem regeln; das Recht auf ein Rechtsmittel als solches ist damit aber nicht in ihr Ermessen gestellt 1355 . Es muß sich um die Einschaltung eines übergeordneten Gerichts handeln, daß dasselbe Gericht die Sache nochmals überprüft, genügt nicht 1356 . Im übrigen können die Vertragsstaaten die formellen Voraussetzungen für Einlegung und Durchführung des Verfahrens der zweiten Instanz und die Einzelheiten seiner Ausgestaltung festlegen. Sie können dabei auch regeln, ob der Angeklagte zur Verhandlung persönlich erscheinen muß und ob und in welchen Fällen er sich von einem Verteidiger vertreten lassen kann (vgl. Rdn. 189 ff).

266

Für die Regelung von Art und Umfang der Anfechtung und der dabei zu beachtenden Formalien dürften die Vertragsstaaten einen großen Spielraum haben, zumal die Entstehungsgeschichte zeigt, daß der zweite Instanzenzug nur im Grundsatz festgelegt werden, im übrigen aber die Art des Rechtsmittels dem jeweiligen nationalen Recht überlassen bleiben sollte 1357. Notwendig ist jedoch eine echte substantielle Überprüfung der erstinstantiellen Verurteilung durch das Rechtsmittelgericht. Ist diese gewährleistet, werden neben meritorischen auch kassatorische Rechtsmittel als ausreichend angesehen 1358. Die Revision in ihrer Ausgestaltung nach §§ 333 ff StPO genügt diesen Anforderungen; vereinzelt wird allerdings bezweifelt, ob ein auf Rechtsfragen beschränktes Verfahren dazu ausreicht 1359 .

267

Dem Erfordernis eines zweiten Instanzenzugs und der Möglichkeit der nochmaligen Überprüfung eines verurteilenden Erkenntnisses durch eine zweite Instanz ist auch genügt, wenn das Urteil der zweiten Instanz zu einer schwereren Strafe führt 1 3 6 0 . Ob dies auch gilt, wenn nach einem Freispruch in der ersten Instanz erstmals in der zweiten Instanz verurteilt wurde, oder ob trotz Gewährleistung des geforderten zweistufigen Instanzenzuges in diesem Fall ein weiterer Rechtsmittelzug eröffnet werden muß 1361 , mag zweifelhaft sein. Wegen des Vorbehaltes der Bundesrepublik kann dies dahinstehen.

1333

Z u r Tragweite eines e n t s p r e c h e n d e n italienischen Vorbehaltes vgl. Nowak 69. 1154 A n d e r s als die strafrechtliche Ministerverantwortlichkeit in Italien, vgl. Nowak 69. 1355 Vgl. U N - A M R E u G R Z 1982 329; Nowak 66. 1356 Devolutiver nicht remonstrativer Rechtsbehelf, Nowak 65 u n t e r Hinweis auf U N - A M R . 1357

Vgl. Nowak

1358

Nowak 65. Nowak 65. i3«) Mowak 68, der bezweifelt, o b die hierauf abzielenden Vorbehalte m e h r e r e r westeuropäischer Staaten n o t w e n d i g waren. 1361 Nowak 68 hält ein weiteres Rechtsmittel f ü r erforderlich. 1359

65.

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

10. Entschädigung bei Fehlurteil (Art. 14 Abs. 6 I P B P R ) a) Allgemeines. Das Recht auf Entschädigung des Verurteilten bei schlüssigem Nach- 2 6 8 weis eines Fehlurteils ist aufgrund des Art. 14 Abs. 6 IPBPR für die Bundesrepublik verbindlich. In der M R K ist es nicht enthalten, wohl aber in Art. 3 des 7. Zusatzprotokolls zur M R K vom 22.11.1984 1362 , dem die Bundesrepublik nicht beigetreten ist, so daß insoweit der E G M R nicht angerufen werden kann. Die Voraussetzungen für die Entschädigung sind in beiden Konventionen eng begrenzt 1363. Die Entschädigung wird nur für den Fall der nachträglichen Aufhebung eines rechtskräftig gewordenen und ganz oder teilweise vollstreckten Fehlurteils gefordert 1364 , nicht aber für Schäden, die durch Strafverfolgungsmaßnahmen entstanden sind, die nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt haben. Ob und wieweit diese entschädigt werden, bleibt deshalb der freien Entscheidung des nationalen Gesetzgebers überlassen 1365. b) Die Voraussetzungen der Entschädigungspflicht nach Art. 14 Abs. 6 IPBPR aa) Es muß die rechtskräftige Verurteilung wegen einer strafbaren Handlung (im 2 6 9 weiten Sinn der Konventionen) 1366 zu einer Strafe vorliegen, die der Verurteilte ganz oder teilweise verbüßt haben muß. Unter Urteil ist dabei jede Straferkenntnis zu verstehen, unter Strafe jede Art von strafrechtlicher Sanktion, auch die Geldstrafe oder Maßregeln der Sicherung und Besserung. bb) Das Urteil muß förmlich aufgehoben worden sein, und zwar im Wiederaufnahme- 2 7 0 verfahren oder durch eine Begnadigung. Beides muß darauf beruhen, daß durch neue oder neu bekanntgewordene Tatsachen schlüssig bewiesen wird, daß ein Fehlurteil vorlag, der Angeklagte also unschuldig ist. D a ß die aufgehobene verurteilende Entscheidung selbst rechtswidrig war, ist dagegen keine Voraussetzung für die Entschädigung l 3 6 7 . Die Begnadigung hat diese Wirkung nur, wenn sie zur Beseitigung des Fehlurteils aus Rechtsgründen gewährt wurde 1368, nicht, wenn sie auf allgemeinen Billigkeitserwägungen beruhte 1369 ; gleiches dürfte für eine allgemeine Amnestie gelten. Wird der Angeklagte im Wiederaufnahmeverfahren nicht wegen erwiesener Unschuld sondern nur mangels ausreichendem Nachweis der Schuld freigesprochen, begründet Art. 14 Abs. 6 IPBPR keine Entschädigungspflicht 137°. cc) Keine Entschädigungspflicht besteht, wenn nachgewiesen ist, daß die Tatsache, die 271 das Vorliegen eines Fehlurteils schlüssig beweist, vom Verurteilten selbst zurückgehalten worden ist. Damit soll vor allem vermieden werden, daß jemand zu entschädigen ist, der seine falsche Verurteilung bewußt herbeigeführt oder hingenommen hat, etwa, um den wirklichen Täter zu decken 1371 . Auf dem gleichen Grundgedanken beruht der Ausschluß der Entschädigung nach § 5 Abs. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG, zu deren Auslegung Art. 14 1362

Vgl. Trechsel FS Ermacora 195, 205 zu der zu engen Begrenzung der Entschädigung und zum Unterschied der Entschädigungspflicht nach Art. 5 Abs. 5 M R K . ' Zu den gleichartigen Voraussetzungen des Art. 3 des 7. ZP Meyer-Ladewig 3. 1364 Vgl. § 1 StrEG. 1365 Vgl. §§ 2 bis 4 StrEG. 1366 Nowak 73. 1367 Vgl. für Art. 3 des 7. ZP Meyer-Ladewig 2; FroweinlPeukeri 1. 136S Vgl. Nowak 74, mit Beibehaltung dieses kritisierten Zusatzes sollten auch die Fälle erfaßt werden, in (429)

denen der zu Unrecht Verurteilte nur begnadigt wurde. UN-AMR EuGRZ 1985 565; Nowak 75. 136 » UN-AMR EuGRZ 1985 565; Nowak 75. 13711 Ebenso für Art. 3 des 7. ZP Meyer-Ladevig 2. Vgl. die Kritik von Treuer FS Ermacora 195, 206 gegen die Beibehaltung dieser zu engen Entschädigungspflicht in Art. 3 des 7. ZP sowie zur Ungereimtheit, daß bei Freispruch in noch laufenden Verfahren keine Entschädigung vorgesehen und der Freispruch zweiter Klasse beibehalten wird, obwohl dies mit der Unschuldsvermutung kaum vereinbar ist. 1371

Nowak 76.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Abs. 6 IPBPR heranzuziehen ist 1372 . Soweit diese bei der hier allein in Frage kommenden Entschädigung für ein Fehlurteil nach § 1 StrEG anwendbar sind, dürften sie die Grenzen der Konvention einhalten. 272

c) Die Entschädigung ist entsprechend dem Gesetz zu gewähren. Maßgebend ist also die jeweilige Regelung in den Vertragsstaaten. Diese sind zu einer gesetzlichen Regelung verpflichtet 1373, um eine sichere Rechtsgrundlage für die Entschädigung zu schaffen. Im übrigen ist dem nationalen Recht nur aufgegeben, die Entschädigung entsprechend den Vorgaben des Art. 14 Abs. 6 IPBPR näher zu regeln. Der Gesetzgeber kann die Modalitäten für die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs sowie seine Höhe festlegen; er darf aber nicht die Entschädigung an zusätzliche sachliche Voraussetzungen knüpfen, die ihre Gewährung nach Beseitigung eines Fehlurteils über die Konvention hinaus einschränken 1374 . Ob die Erben bei Tod eines Verurteilten einen Ersatzanspruch haben, ist der Regelung des nationalen Rechts überlassen 1375.

273

Bei Freiheitsentziehungen kann auch ein Entschädigungsanspruch nach Art. 5 Abs. 5 M R K , Art. 9 Abs. 5 IPBPR in Betracht kommen, der nicht von der förmlichen Beseitigung eines rechtskräftig gewordenen Fehlurteils abhängt, sondern davon, daß die Freiheitsentziehung als solche rechtswidrig war 1376 . 11. Verbot der Doppelaburteilung („ne bis in idem", Art. 14 Abs. 7 I P B P R )

274

a) Allgemeines. Der Grundsatz, daß niemand wegen der gleichen Tat zweimal verfolgt werden darf und daß eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung im Strafverfahren es ausschließt, daß der Betroffene wegen derselben Tat nochmals strafgerichtlich belangt werden kann, ist ein allgemeiner Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit 1377 . Als eine Grundlage des sozialen Friedens sichert er die Freiheit des einzelnen ebenso wie die Rechtskraft des richterlichen Urteils 1378. Art. 14 Abs. 7 IPBPR übernimmt ihn in die Konventionsgarantien in einer Fassung, die seine Tragweite klarstellen soll 1379 . In die M R K war der Grundsatz nicht aufgenommen worden 1380 , er findet sich mit einigen Erweiterungen und Einengungen 1381 erst in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur MRK vom 22.11.1984, das die Bundesrepublik nicht ratifiziert hat. Dort wird seine Tragweite dadurch verdeutlicht, daß ausdrücklich herausgestellt wird, daß das Verbot nur die wiederholte Aburteilung innerhalb des gleichen Staates betrifft 1382 und daß es einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht entgegensteht. Das Verbot wird durch Art. 4 1372 1373

Schälzier StrEG § 5 R d n . 36. Nowak 78; anders Art. 3 des 7. Z P M R K , wo neben der gesetzlichen Regelung auch die Ü b u n g des jeweiligen Staates als ausreichende Grundlage für die Entschädigung angesehen wird.

1379

1380

1374

Nowak IS. Vgl. Nowak 71, wonach ein Ersatzanspruch der Erben im Falle der Hinrichtung nicht in die Konvention a u f g e n o m m e n wurde. 1376 Tretter F S E r m a c o r a 195, 206; vgl. Nowak 77; ferner Art. 5 M R K R d n . 130. 1377 F ü r die Bundesrepublik in Art. 103 Abs. 3 G G festgelegt; zu den Stadien seiner Entwicklung BonnK o m m - R a p i n g Art. 103 Abs. 3 G G R d n . 1 flf. vgl. ferner BVerfGE 3 248, 250; 75 1, 8. L R - R i e ß Einl. J 86 ff. 1378 Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.3.1984 und den Begründungsantrag dazu E u G R Z 1984 349, 355. 1375

Stand:

1381

1382

Z u r Entstehungsgeschichte u n d den wechselnden Fassungsvorschlägen vgl. Nowak 80. O b die doppelte Verfolgung der gleichen Tat im gleichen Staat mit dem Gebot eines fairen Verfahrens vereinbar ist, hat die Kommission nicht abschließend entschieden, vgl. kroweinl Peukeri 173. Z u den Unterschieden vgl. Treuer F S E r m a c o r a 195, 207 ff. E G M R 3.6.2003 G r a f / Ö (ÖJZ 2 0 0 3 856); Villiger HdB. 695. D a s Europäische Parlament hat in einer Entschließung vom 16.3.1984 ( E u G R Z 1984 355) u . a . unter Hinweis auf die Freizügigkeit in der E G die Ausdehnung des Grundsatzes auf ausländische Urteile gefordert; zur Rechtslage in einzelnen europäischen Staaten vgl. die Begründung des Entschließungsantrags E u G R Z 1984 349.

1.10.2004

(430)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Abs. 3 des 7. ZP M R K notstandsfest gewährleistet, während Art. 4 Abs. 2 IPBPR es nicht bei den notstandsfesten Gewährleistungen aufzählt. Als objektiver Verfassungsgrundsatz der Bundesrepublik, der gleichzeitig ein Prozeßgrundrecht gewährleistet 1383 , schließen Art. 103 Abs. 3 GG und gleichartige Vorschriften in den Länderverfassungen eine doppelte Aburteilung der gleichen Tat durch innerdeutsche Gerichte aus 1384 . Eine doppelte Aburteilung liegt auch dann vor, wenn eine Vorverurteilung nachträglich versehentlich in zwei verschiedene Gesamtstrafen einbezogen wurde 1385. Das Verbot der doppelten Aburteilung gilt mit einigen Einschränkungen auch für die vor dem 3.10.1990 ergangenen Urteile der Gerichte der ehemaligen D D R , weil diese der inländischen Gerichtsbarkeit zugerechnet werden 1386. Für die Urteile ausländischer Gerichte gilt es grundsätzlich nicht 1387 , sofern nicht durch einen völkerrechtlichen Vertrag diese Urteile auch als innerstaatlich wirksam und vollstreckbar anerkannt werden und damit zugleich auch auf den innerstaatlichen Strafanspruch verzichtet wird 1388. Nach Art. 50 der Europäischen Grundrechte-Charta1389 soll das Verbot der doppelten Verfolgung oder Bestrafung künftig im Verhältnis zwischen allen Mitgliedstaaten gelten. Er sieht vor, daß niemand, der in der Union wegen einer Straftat nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, dort in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf. b) Verboten nach Art. 14 Abs. 7 IPBPR ist die erneute Verfolgung und Bestrafung 2 7 5 wegen einer strafbaren Handlung, wenn der Betreffende wegen dieser bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist. Dabei wird vorausgesetzt, daß dies in einem ordnungsgemäßen Verfahren in Übereinstimmung mit dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes geschehen ist. Ob und welche anderweitige Erledigung des Verfahrens das Verbot auslöst, ist im einzelnen strittig 1390 . Für die unanfechtbare gerichtliche Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO hat der BGH 1 3 9 1 jetzt bejaht, daß sie einer erneuten Strafverfolgung der gleichen Tat entgegensteht, nur wenn sich die Tat nachträglich als Verbrechen darstellt, kann sie erneut aufgegriffen werden. Das Verbot betrifft die nochmalige strafrechtliche Verfolgung der gleichen Person 2 7 6 wegen der gleichen strafbaren Handlung („offence", „infraction"). Was darunter zu verstehen ist, legen die Konventionen nicht fest. Der Geltungsbereich dieses Verbotes ist aber enger als der auch verschiedene strafbare Handlungen einschließende Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG. Da der IPBPR weitergehendes innerstaatliches Recht nicht einengt (vgl. Art. 5 Abs. 2 IPBPR), kommt bei Verurteilungen in der Bundesrepublik die engere Eingrenzung dieses Verbotes im IPBPR nicht zum Tragen. Die nationalen Rechtsordnungen gehen im übrigen von sehr unterschiedlichen Tat- 2 7 6 a begriffen aus 1392: Eine unterschiedliche Abgrenzungen der res iudicata im nationalen Recht ist mit Art. 14 Abs. 7 IPBPR vereinbar, wenn der Kernbereich seiner Garantie unangetastet bleibt. Dieser schließt es aus, daß das gleiche tatsächliche Verhalten unter einem gleichartigen rechtlichen Vorwurf erneut strafrechtlich verfolgt und geahndet 1383

1384 1385

1386

1387 1388 1389

BonnKomm-JMpmg· Art. 103 Abs. 3 GG Rdn. 15; Ν iemöllerl Schuppen AöR 107 (1982) 472. Vgl. etwa BVerfGE 12 62, 66; 1,16. Dazu llelkbrand NStZ 2004 64 (Rückgängigmachung durch Wiederaufnahme). Vgl. Art. 18 EV, dazu LR-Rieß Einl. J 111; Meyer(loßner47 Einl. 176 je mit weit. Nachw. dazu auch BVerfGE 12 62; 36 1; 37 57. Vgl. LR-«fe/jEml. J 107 ff. Vgl. dazu Rdn. 279. Diese soll als Teil der Europäischen Verfassung mit dieser in Kraft treten; vgl. Einf. Rdn. 47 ff.

(431)

139

» Vgl. BGH JZ 2004 737; LR-Beulke § 153 StPO, 91; SK-StPO- Weßlau § 153 StPO, 57 je mit weit. Nachw. zum Streitstand. 1391 BGH JZ 2004 737 mit insoweit zustimmender Anm. Kühne, der bei der Einstellung nach § 153 Abs. 1 Satz 1 und auch bei der alleinigen Einstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO annimmt, daß sie nach Art. 54 SDÜ im Bereich der Mitgliedstaaten ebenfalls ein begrenztes Verbot der Strafverfolgung bewirkt. 1392 Vgl. Ungern-Slernberg ZStW 94 (1982) 84; 1RGKomm- Vogler § 73, 26.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 6

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wird 1393 und er verbietet wohl auch, daß der gleiche Unrechtsgehalt des tatsächlichen Kerngeschehens nacheinander auf Grund unterschiedlicher, materiell sich aber teilweise überdeckender Vorschriften abgeurteilt wird 1394. Die Identität der natürlichen Handlung als solche löst nach dem EGMR das konventionsrechtliche Verbot der Doppelaburteilung nicht aus1395. Wo die Grenzen der Konventionsgarantie zu ziehen sind, kann im Einzelfall bei einer nur teilweisen Überdeckung der Straftatbestände und ihres Unrechtsgehalts zweifelhaft sein. Für die Bundesrepublik kann dies jedoch offenbleiben, da sie auf keinen Fall über das innerstaatliche Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG hinausgehen dürfte, das innerhalb einer gewissen Bandbreite den weiten, an den einheitlichen Lebensvorgang anknüpfenden prozessualen Tatbegriff der StPO absichert1396 und daher auf jeden Fall dem Verbot des Art. 14 Abs. 7 IPBPR genügt. Soweit Gerichte der Bundesrepublik eine im Ausland begangene Tat selbst aburteilen, sind sie ebenfalls durch Art. 103 Abs. 3 GG gebunden, auch wenn am Tatort das engere konventionsrechtliche Doppelaburteilungsverbot die erneute Strafverfolgung zulassen würde. Bei der Übernahme der Vollstreckung einer ausländischen Verurteilung dagegen ist das ausländische Urteil nicht am Maßstab des Art. 103 Abs. 3 GG zu prüfen. 277

Die ausdrückliche Bezugnahme auf das Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes bestätigt ferner, daß das Verbot der Doppelaburteilung erst eingreift, wenn die erste Entscheidung in Rechtskraft erwachsen ist. Im Laufe des gleichen anhängigen Verfahrens darf dieselbe Tat Gegenstand einer wiederholten richterlichen Würdigung und Aburteilung sein, wie es in dem von Art. 14 Abs. 5 IPBPR ausdrücklich geforderten Rechtsmittelzug ja die Regel ist. Dies spricht ferner dafür, daß das Verbot der Konvention nicht entgegensteht, wenn herkömmlich neben der Strafverfolgung das gleiche Verhalten auch unter nichtstrafrechtlichen Gesichtspunkten in einem anderen Verfahren, etwa einem Disziplinarverfahren, gewürdigt wird1397. Hier stellt sich allerdings das Problem der autonomen Auslegung des Begriffs Straftat und strafrechtliche Anklage in Art. 6 MRK 1398, da ein danach als Strafverfahren eingestuftes Disziplinarverfahren das Verbot der Doppelaburteilung auslösen muß 1399 , sofern man hier nicht ebenfalls den Lebensvorgang rechtlich aufspaltet 1400 . 1393 vgl. EGMR 23.10.1995 Gradinger/Ö (ÖJZ 1995 954) sowie östr. VerfG (EuGRZ 1997 169) und die

1394

unterschiedlich beurteilte Entscheidung vom 30.7. 1998 Oliveira/CH (ÖJZ 1999 77), wo der E G M R die mehrfache Ahndung eines einheitlichen tatsächliehen Vorgangs unter dem Blickwinkel verschiedenartiger Rechtsverletzungen als mit Art. 4 des 7. ZP für vereinbar hielt, kritisch dazu Esser 95 (Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs lebensfremd, widerspricht dem Schutzzweck des Verbots der doppelten Aburteilung). Vgl. ferner EGMR 14.9.1999 Ponsetti u.a./F (ECHR 1999-VI: zwei Steuerstraftaten bei Unterlassen einer Erklärung); nach Meyer-Ladewig 3 kommt es darauf an, ob die Straftaten im wesentlichen auf denselben Elementen beruhen; Grubenwuner § 24 Rdn. 97 interpretiert die Entscheidungen des E G M R dahin, daß die vom E G M R jetzt geforderte „Identität der wesentliehen Elemente der Straftatbestände" bei Gesetzeskonkurrenz, nicht aber bei Tdealkonkurrenz vorliegt, vgl. auch Villiger HdB 696 sowie nachf. Fußnoten. Zu der in gleicher Richtung gehenden engeren Eingrenzung des Verbots der doppelten Strafverfolgung im US-amerikanischen Recht vgl. Sluekenherg ZStW 113 (2001) 146.

15 5

EGMR 29.8.2001 Fischer/Ö (ÖJZ 2001 657); 30.5. 2002 W. F./Ö (ÖJZ 2003 476).

» So noch EGMR 23.10.1995 Gradinger/Ö (ÖJZ 1995 954); anders dagegen 30.7.1998 Oliveira/CH (ÖJZ 1999 77); vgl. ferner 29.8.2001 Fischer/Ö (ÖJZ 2001 657); 30.5.2002 W.F./Ö (ÖJZ 2003 476) und 24.6. 2003 Garaudy/F (NJW 2004 3691; 5 parallel geff führte Strafverfahren wegen verschiedener Textpassagen in zwei Auflagen eines Buches), 1 V g l . BVerfGE 56 27 ff; ferner zur Rspr. des BVerfG zum Tatbegriff NiemöllerlSchupperl AöR 107 (1982) 473; für Abkoppelung des Tatbegriffes des Art. 103 Abs. 3 G G von der materiellrechtlichen Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses Maatz FS MeyerGoßner 257; § 264 StPO, 4 ff. L 97 ' Grubenwuner § 24 Rdn. 96; h. Μ zu Art. 103 Abs. 3 GG, vgl. etwa BVerfGE 21 378, 391; 27 180. 1398 Vgl. oben Rdn. 28 ff. 1399 Vgl. Meyer-Ladewig 4 unter Hinweis auf EGMR 23.10.1995 Gradinger/Ö (ÖJZ 1995 954). 1400 Esser 99 weist auf diese von ihm abgelehnte Tendenz hin.

Stand: 1.10.2004

(432)

R e c h t a u f ein faires V e r f a h r e n

Art. 14 IPBPR

Die Wiederaufnahme des Verfahrens als eine im nationalen Yerfahrensrecht verankerte 2 7 8 Korrekturmöglichkeit ist ein Annex des ursprünglichen Verfahrens; der Grundsatz des ne bis in idem steht ihr auch in der Form des Art. 14 Abs. 7 IPBPR nicht entgegen 1401 . c) Die Verurteilung durch einen ausländischen Staat hindert nach Art. 14 Abs. 7 2 7 9 IPBPR (Art. 4 des 7. ZP) grundsätzlich ein erneutes Strafverfahren wegen der gleichen Tat im Inland nicht 1402 , da sie auf einem anderen Recht und einer anderen Strafgewalt beruht. Es ist Sache des nationalen Rechts und zunehmend auch besonderer völkerrechtlicher Vereinbarungen, ob und wieweit eine Anrechnung ausländischer Strafen stattfindet und ob der Verurteilung durch eine fremde Staatsgewalt eine auch die eigene Strafgewalt bindende Erledigungswirkung 1403 beigemessen werden soll 1404 . Die auf europäischem Gemeinschaftsrecht beruhenden Entscheidungen der Gerichte der E G sind als solche keine Ausübung ausländischer Gerichtsbarkeit 1405 . Die grenzüberschreitende Ausdehnung des Verbots der Doppelaburteilung und die damit verbundene Anerkennung des in einem anderen Staat ergangenen Strafurteils ist in den Staaten der Europäischen Union Gegenstand völkerrechtlicher Ubereinkommen geworden l406 . Die Zusammenarbeit der Staaten, nicht zuletzt auch die Möglichkeit der Übernahme der Vollstreckung der Urteile anderer Staaten, setzt die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Verurteilungen und damit auch die Einbeziehung der Urteile anderer Staaten in das Verbot der Doppelaburteilung voraus. Dies wurde in Art. 54 S D Ü zwischen den Schengener Vertragsstaaten vereinbart, das die wechselseitige Anerkennung rechtskräftiger Urteile vorsieht, während die gegenseitige Anerkennung anderer Formen der Verfahrenserledigung zunächst strittig war 1407 . In einer auf Vorlage ergangenen Entscheidung hat der EuGH diese Regelung unter Hinweis auf deren Zweck so weit ausgelegt, daß nicht nur gerichtliche Entscheidungen die Strafklage europaweit verbrauchen, sondern auch Verfügungen der Staatsanwaltschaft, die das Verfahren endgültig erledigen. Der EuGH hat dies für den Fall entschieden, daß ein Strafverfahren ohne Mitwirkung eines Gerichts nach Erfüllung bestimmter Auflagen eingestellt wurde 1408 .

um vgl. Nowak 82. wonach die diesbezüglichen Vorbehalte einiger westeuropäischer Staaten nicht notwendig gewesen sind. Die Urteile der ehem. Besatzungsgerichte (BGHSt. 6 176) lösen das Verbot der Doppelaburteilung nur aus, soweit dies vertraglich anerkannt wurde; vgl. zum Überleitungsvertrag vom 30.3.1955 (BGBl. 11 S. 405); BGHSt. 12 36; LRRieß Einl. J 112. 1402

1403

1404

E G M R 3.6.2003 Graf/Ö (ÖJZ 2003 856); UNAMR EuGRZ 1990 15; Nowak 81; Villiger HdB 695; vgl. LR-Ä/e/iEinl. J 107 ff. Zu den strittigen Fragen, welche nationalen Entscheidungen nach Art. 54 SDÜ jeweils der Aburteilung in einem anderen Vertragsstaat entgegenstehen, vgl. Harms FS Rieß 725 ff; dort auch zu der durch die Einbeziehung des SDÜ in den Regelungsbereich des EuGH-Gesetzes vom 6.8.1998 (BGBl. I S. 2035) geschaffenen Möglichkeit, strittige Fragen der Erledigungswirkung einer ausländischen Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EG-Vertrag) beim EuGH zu klären: dazu ferner BGH NJW 2002 2653; Hecker StV 2001 306; Schomhurg StV 1999 246; LR-Ä/e/iEinl. J 109; Meyer-Goßner47 Einl. 146. So Art. Vll Abs. Vlll Nato-Truppenstatut, dazu OLG Stuttgart NJW 1977 1019; OLG Nürnberg

(433)

NJW 1975 2151; ferner Art. 18 Abs. 6 des deutschsowjetischen Truppenvertrags vom 12.10.1990 (BGBl. 11 1991 S. 258); vgl. ferner § 56 111 1RG. 1405 BGHSt. 24 54 (Kartellordnungswidrigkeit); LR-Rieß Einl. J 107. 1406 So das Übereinkommen vom 25.5.1987 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot doppelter Strafverfolgung (Ges. vom 7.9.1998 BGBl. 11 S. 2226). Vgl. LRRieß Einl. J 108 und Rdn. 280. 14( « Etwa BGHSt 45 123 = StV 1999 478 mit Anm. Kühne, ferner Bohnertl Lagodny NStZ 2000 636; BGHSt 46 301 = NStZ 2001 557 mit Anm. Radke; BGH NJW 1999 1270, 3134; 2001 692; NStZ 1998 149 mit Anm. WyngaerllLagodny: StV 1999 244 mit Anm. Schomburg: StV 2000 349; Hecker StV 2001 306; Kühne JZ 1998 876; RadkelBusch EuGRZ 2000 421; Schomburg StV 1997 383; StängelRilinger StV 2001 540; BayObLGSt 2000 78; zu Besonderheiten der Verfahrenserledigungen in den einzelnen Europäischen Staaten vgl. ferner Harms FS Rieß 725; LK-Rleß Einl. J 109. ι*® EuGH (Plenum) NJW 2003 1173, dazu Kühne JZ 2003 305; RadtkelBusch NStZ 2003 281; Stein NJW 2003 1162.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 7

280

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Staatenübergreifende Verbote der doppelten Aburteilung sehen auch weitere zwischenstaatliche Ubereinkommen vor, so etwa das sogen. „EG ne bis in idem Ubereinkommen" 1409, ferner Art. 7 des Übereinkommens auf Grund von Art. Κ 3 des E U Vertrags über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26.7.1995 1410 oder Art. 10 des Ubereinkommens der EU über die Bekämpfung der Bestechung vom 25.6.1997. Zur Umsetzung eines Rahmenbeschlusses des Rates der E U ist jetzt auch das IRG geändert worden 1411 . Nach dem neuen § 83 Nr. 1 IRG ist die Auslieferung an einen Mitgliedstaat der E U nicht zulässig, wenn dieselbe Tat von einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist und die Sanktion im Falle der Verurteilung bereits vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann. Ein Verbot der Doppelaburteilung enthält jetzt auch Art. 20 des Römischen Status des Internationalen Strafgerichtshofs 1412 .

Art. 7 MRK (Art. 15 IPBPR) MRK Artikel 7 Keine Strafe ohne Gesetz*

IPBPR

(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.

(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder nach internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer strafbaren Handlung durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist das mildere Gesetz anzuwenden.

(2) Dieser Artikel schließt nicht aus, daß jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.

(2) Dieser Artikel schließt die Verurteilung oder Bestrafung einer Person wegen einer Handlung oder Unterlassung nicht aus, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.

Artikel 15

Dazu der Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland, wonach sie Art. 7 Abs. 2 MRK nur in den Grenzen von Art. 103 Abs. 2 GG anwenden werde (Bek. vom 15.12.1953 1 ).

Dazu Ratifizierungsgesetz vom 15.11.1973: Artikel 1 Dem ... Pakt ... wird mit folgender Maßgabe zugestimmt: (1) ... (2) ...

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S. 1054).

1409 Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vom 25.5.1987 (BGBl. TT 1998 S. 2226), noch nicht in Kraft, aber im Vorgriff zwischen der Bundesrepublik und einzelnen Staaten schon anwendbar; vgl. Schomburg StV 1997 383; NJW 1999 540, StV 1999 246. Art. 54 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union sieht vor, daß das Verbot der Doppelaburteilung zwischen allen Mitgliedstaaten der Union gelten soll. 14111

BGBl. II S. 2324; Protokoll vom 27.9.1996 (BGBl. II S. 2342).

(3) ... 4. Artikel 15 Abs. 1 des Paktes wird derart angewandt, daß im Falle einer Milderung der zur Zeit in Kraft befindlichen Strafvorschriften in bestimmten Ausnahmefällen das bisher geltende Recht auf Taten, die vor der Gesetzesänderung begangen wurden, anwendbar bleiben kann. 1411

1412

1

Europäisches Haftbefehlsgesetz vom 21.7.2004 (BGBl. TS. 1748). BGBl. 2000 TT S. 1393). Das Verbot der Doppelaburteilung gilt ferner für die Entscheidungen der Internationalen Strafgerichtshöfe für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Jugoslawien und Ruanda (vgl. Gesetz vom 10.4.1995 - BGBl. I S. 485 bzw. Gesetz vom 4. 5.1998 - BGBl. Τ S. 843); LR-«fe/jEinl. J 110. BGBl. II 1954 S. 14; dazu Süsterham DVB1. 1955 753; vgl. Rdn. 4.

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Keine Strafe ohne Gesetz

Art. 15 IPBPR

Schrifttum (Auswahl): Arnold!Karsten!Kreicker Menschenrechtsschutz durch Art. 7 Abs. 1 E M R K , N J 2001 51; Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, E u G R Z 1992 177; Rau Deutsche Vergangenheitsbewältigung vor dem E G M R - Hat der Rechtsstaat gesiegt? NJW 2001 3008. Übersicht Rdn. 1. Allgemeines

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2. Vorbehalte der Bundesrepublik

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3. Gesetzliche Festlegung des Straftatbestandes und der Strafbarkeit a) Rückwirkungsverbot b) Rückwirkende Anwendung milderer Gesetze

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Rdn.

7

c) Bestimmtheit der gesetzlichen Umschreibung des Straftatbestandes Grenzen für die Anwendung des materiellen Strafrechts a) Begrenzung der staatlichen Strafbefugnis b) Verfahrensregelungen

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Die Ausnahme der Absätze 2

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1. Allgemeines. Das Verbot der Verurteilung wegen einer Handlung, die zur Zeit 1 ihrer Begehung nicht mit Strafe bedroht war, macht jede Strafbarkeit davon abhängig, daß die Tat bereits im Zeitpunkt ihrer Begehung in einer gültigen und hinreichend konkreten Norm mit Strafe bedroht ist („nulla poena sine lege"). Dieses Verbot schließt eine Bestrafung in analoger Anwendung eines anderen Straftatbestandes ebenso aus wie die Verurteilung aufgrund eines erst nach der Begehung erlassenen Strafgesetzes. Dieses Verbot ist eine grundlegende Norm jedes rechtsstaatlichen Freiheitsschutzes. Es gewährleistet die Rechtssicherheit als Grundlage einer selbstverantwortlichen Lebensführung, da es vor willkürlicher Verfolgung und Bestrafung schützt 2 und den Handlungsraum transparent festlegt, der ohne Furcht vor einer Bestrafung ausgeschöpft werden darf 3 . Das auf dem Gedankengut der Aufklärung beruhende Verbot 4 fordert im Interesse der Rechtssicherheit sowohl die vorgängige rechtliche Festlegung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch die Festlegung der Strafsanktion. Soweit dies einem formellen Parlamentsgesetz vorbehalten ist 5 , wird damit zugleich auch die Gewaltentrennung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung festgeschrieben 6 . Das Rückwirkungsverbot bei Straftatbeständen und Strafen hat als freiheitssicherndes und willkürvorbeugendes Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit 7 in vielen Verfassungen Aufnahme gefunden. Auch Art. 103 Abs. 2 G G verbürgt diesen Grundsatz innerstaatlich mit Verfassungsrang. Es wird als ein allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsamer allgemeiner Grundsatz angesehen, der nach Art. 6 Abs. 2 EUV zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zählt 8 . Die Aufnahme dieses Verbotes in Art. 49 Abs. 1 der Europäischen Grundrechte-Charta9 bestätigt dies. Zusätzlich wird dort vorgeschrieben, daß die mildere Strafe zu verhängen ist, wenn Strafmaß oder Strafart nach Begehung der Tat geändert wurde, sowie zusätzlich, daß das Strafmaß gegenüber der Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf (Art. 49 Abs. 3)10. Art. 49 Abs. 2 stellt klar, daß eine Bestrafung wegen einer Handlung oder Unterlassung 2

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E G M R 22.3.2001 Streletz, Kessler, Krenz/D (NJW 2001 3035); Meyer-Ladewig 1. FrowemiPeukerl 1; Villiger HdB 533. Vgl. Art. 8 der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte vom 26.8.1789; ferner etwa Guradze 2 und die Kommentare zu Art. 103 Abs. 2 GG. E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59). Grabemvarter § 24 Rdn. 84. Zu diesem Doppelzweck des Art. 103 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 78 374.

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E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59); E u G H bei / / / / / E u G R Z 1985 343; Graben warter § 24 Rdn. 85. Text E u G R Z 2000 554. Die Charta, die ausschließlich für den Bereich des Gemeinschaftsrechts gilt (Art. 53 Abs. 1), soll als Teil der Europäischen Verfassung mit dieser Geltung erlangen. Vgl. Grabemvarter § 24 Rdn. 85: Bedeutung für Strafen, die keine Freiheitsstrafen sind.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 7

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

auch zulässig ist, wenn sie zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war. 2

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 hat den Grundsatz, daß niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war, in Art. 11 mit der Unschuldsvermutung und dem Recht auf Verteidigung im Strafverfahren zusammengefaßt. Wegen seiner Bedeutung bringen M R K und IPBPR diesen Grundsatz jeweils in einem gesonderten Artikel", der IPBPR ergänzt ihn noch durch die Verpflichtung, ein erst nach der Tat erlassenes milderes Gesetz anzuwenden (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 IPBPR). Beide Konventionen legen, offensichtlich beeinflußt durch die Verhältnisse nach Beendigung des zweiten Weltkriegs 12 , jeweils in einem Absatz 2 fest, daß dieser Grundsatz nicht die Bestrafung von Personen hindert, die sich zwar nicht nach ihrem nationalen Recht, wohl aber nach international allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar gemacht haben.

3

Die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes, daß niemand wegen einer Tat bestraft werden darf, die nicht bereits bei ihrer Begehung mit Strafe bedroht war, ergibt sich auch daraus, daß ihn beide Konventionen notstandsfest gewährleisten (Art. 15 Abs. 2 M R K , Art. 4 Abs. 2 IPBPR).

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2. Vorbehalte der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik hat zu Art. 7 MRK erklärt, daß sie diesen nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 G G anwenden werde 13 . Die Erklärung ist nach ihrem Inhalt kein echter Vorbehalt. Sie wäre entbehrlich gewesen. Art. 7 M R K enthält keine über Art. 103 Abs. 2 G G hinausgehenden Verbürgungen; die Anwendung weitergehender Gewährleistungen des nationalen Rechts wird nach Art. 53 M R K ohnehin nicht ausgeschlossen, so daß schon deshalb die Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 G G nicht eingeschränkt werden konnte 1 4 .

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Zu Art. 15 Abs. 1 IPBPR hat die Bundesrepublik keinen gleichartigen Vorbehalt wie bei Art. 7 M R K abgegeben. Sie hat sich aber entsprechend Art. 1 Nr. 4 des Ratifizierungsgesetzes 15 vorbehalten, daß bei einer Milderung der zur Zeit der Tat in Kraft befindlichen Strafvorschriften in bestimmten Ausnahmefällen das zur Tatzeit geltende Recht auf Taten, die vor der Gesetzesänderung begangen wurden, weiterhin anwendbar bleiben kann (vgl. Rdn. 7). 3. Vorgängige gesetzliche Festlegung des Straftatbestandes und der Strafbarkeit

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a) Rückwirkungsverbot. Beide Konventionen legen in ihrem Absatz 1 den Grundsatz fest, daß eine Bestrafung unzulässig ist, wenn die Strafbarkeit durch Gesetz und Rechtsprechung 16 nicht bereits bei der Begehung der Tat ausreichend deutlich festgelegt war 17 . Der Straftatbestand muß im Gesetz so genau umschrieben sein, daß alle vom Gesetz betroffenen Personen 18 aus dem Wortlaut des Gesetzes, gegebenenfalls unter Berück-

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Zur Entstehung vgl. Nowak 1, 2. Zum Zustandekommen des Absatzes 2 vgl. i'roweinlPeukert 1, 8; Nowak 18; Pariseh 171. BGBl. II 1954 S. 14; vgl. Meyer-Ladewig 13. Vgl. die bei Meyer-Ladewig 13 wiedergegebene Erklärung der Bundesregierung; ferner etwa v. Weber Z S t W 65 (1953) 347; Jescheck N J W 1954 785 (bloß „Ausdruck der Mißbilligung"); sowie Ambos StV 1997 39, 40, wonach die strikte Positivität von Art.

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103 Abs. 2 G G in der Bundesrepublik keinen Rückgriff' auf ungeschriebene Rechtsgrundsätze erlaubt. Gesetz vom 15.11.1973, BGBl. TT S. 1533. E G M R 8.7.1999 Baskaya & Okcuoglu/Türk ( N J W 2001 1995); Meyer-Ladewig 6. Z u der auch von Art. 7 M R K vorausgesetzten Bestimmtheit der Straftatbestände Grabenwarter § 24 Rdn. 92. Bei Vorschriften, die sich nur an einen bestimmten

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Art. 15 IPBPR

sichtigung seiner Auslegung durch die Gerichte, ersehen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist. Rechtsvorschriften, vor allem Parlamentsgesetze, müssen in Kraft getreten sein, wozu auch ihre Veröffentlichung oder eine sonstige Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit gehört 19 . Eine Dauertat, die vor dem Inkrafttreten der Strafvorschrift begonnen, danach aber weitergeführt wurde, ist strafbar, wenn die strafbaren Handlungen des Täters auch nach dem Inkrafttreten der Strafvorschrift noch fortgesetzt wurden 20 . Es genügt, wenn für den Täter bei Begehung der Tat oder bei deren Fortführung nach Eintritt der Strafbarkeit, vorhersehbar 2 1 ist, daß sein Verhalten nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht oder aber nach internationalem Recht 22 strafbar ist. Auch die Strafe muß bereits nach Art und Höchstmaß bei Begehung der Tat angedroht worden sein („nulla poena sine lege"). Die strikte Gesetzesbindung der Strafbarkeit schließt aus, Strafen in analoger Anwendung einer anderen Strafvorschrift festzusetzen. Sie verbietet vor allem aber, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen und verhindert auch, daß eine Verschärfung der Rechtsfolgen rückwirkend auf eine vor ihrem Inkrafttreten begangenen Tat angewendet wird. Eine verbotene Rückwirkung liegt auch vor, wenn ein für nichtig erklärtes Gesetz rückwirkend ersetzt werden soll 23 , nicht jedoch bei der gesetzestechnischen Ersetzung einer Strafvorschrift durch eine gleichlautende andere 24 . Werden Zweifelsfragen zum Nachteil des Betroffenen entschieden 25 oder führt die Änderung der Auslegung einer Strafnorm dazu, daß ein Sachverhalt mit einbezogen wird, der nach einer bei Tatbegehung vertretenen Rechtsmeinung von dieser nicht erfaßt wurde 26 , so wird dies nicht als verbotene rückwirkende Bestrafung angesehen. Die geänderte Auslegung muß sich allerdings im Rahmen vernünftiger Grenzen („reasonable interpretation") halten, vernünftigerweise vorhersehbar sein und das Wesen der Straftat nicht verändern 2 7 . Notwendig ist immer, daß der einzelne im Zeitpunkt der Tatbegehung die mögliche Strafbarkeit seines Verhaltens auf Grund der ihm möglichen Beurteilung der Verhältnisse selbst erkennen kann 2 8 oder daß er zumindest die Möglichkeit hat, aus allgemein zugänglichen Quellen, vor allem durch den Gesetzestext und dessen Auslegung durch die Gerichte, aber auch durch Erkundigungen zu erfahren, welche Handlungen und Unterlassungen möglicherweise unter eine existierende Strafnorm fallen 29 . Wegen der Maßregeln der Besserung und Sicherung vgl. Rdn. 12.

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Personenkreis richten, reicht es, wenn diese auf Grund ihres Spezialwissens und ihrer berufsbezogenen Informationspflichten die Strafbarkeit erkennen können, vgl. E G M R 15.11.1996 Cantoni/F (EuGRZ 1999 193); Grabenwarter § 24 Rdn. 93. Vgl. Villiger HdB 535. Vgl. Meyer-Ladewig 9 unter Hinweis auf EGMR 27.2.2001 Ecer, Zeyrek/Türk (ECHR 2001-11). Hierbei können auch Regelungsgegenstand, Beruf und Kenntnisstand der Normadressaten, insbesondere auch seine beruflichen Fachkenntnisse ins Gewicht fallen; vgl. etwa EGMR 15.11.1996 Cantoni/ F (EuGRZ 1999 193, dazu Winkler EuGRZ 1999 181); 1.2.2000 Schimanek/Ö (ÖJZ 2000 817); 22.3.2001 Streletz, Kessler, Krenz/D (NJW 2001 3035); Meyer-Ladewig 6; Villiger HdB 535. Vgl. dazu Rdn. 10. E K M R nach FroweinIPeukerl 3. EKMR bei Frowein! Peukert 5 (Greek case). Zum Fall einer technischen Strafbarkeitslücke zwischen Tatbegehung und Aburteilung vgl. BVerfG NJW 1990 1103.

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Villiger HdB 536. Vgl. EGMR 22.11.1995 C R/GB (Series A 335 C); 22.11.1995 SW/GB (ÖJZ 1996 356: Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe in Fortentwicklung des common law entgegen einem dies straffrei stellenden Gesetz von 1736); dazu Grabenwarter § 24 Rdn. 88; Meyer-Ladewig 6; Villiger HdB 536. 27 Vgl. vorst. Fußn.; ferner EGMR 22.3.2001 Streletz, Kessler, Krenz (NJW 2001 3035); dazu Grabenwaner § 24 Rdn. 89, 90; EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 16; BVerfG NStZ 1990 537. 28 Vgl. EGMR 22. 3.2001 Κ Η W/D (NJW 2001 3042 „Mauerschützen"), dazu Rau NJW 2001 3008; Roellecke NJW 2001 3024; Grabenwarter § 24 Rdn. 90, 92; Meyer-Ladewig 8. ® E G M R 15.11.1996 Cantoni/F (EuGRZ 1999 193, dazu Winkler EuGRZ 1999 181); 8.7.1999 Baskaya. Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995); Frowein! Peukert 4; Grabenwarter § 24 Rdn. 92, 93; Villiger HdB 536. 26

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M R K Art. 7

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

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b) Die rückwirkende Anwendung milderer Gesetze ist dagegen möglich 30 . Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPBPR schreibt dies im Gegensatz zur M R K sogar zwingend vor 31 , wobei der Zeitpunkt der letzten Aburteilung die Pflicht zur Anwendung des milderen Gesetzes begrenzt 32 . K r a f t ihres Vorbehalts gilt die Pflicht zur Anwendung des milderen Gesetzes jedoch nicht ausnahmslos für die Bundesrepublik, so daß bei Zeitgesetzen im Sinne des § 2 Abs. 4 StGB die Anwendung des alten, schärferen Rechts zulässig bleibt.

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c) Das Erfordernis der genügend bestimmten gesetzlichen Umschreibung des Straftatbestandes (nullum crimen sine lege) wird aus Art. 7 Abs. 1 M R K , Art. 15 Abs. 1 IPBPR hergeleitet, daraus folgt auch das Verbot, den Anwendungsbereich einer Strafvorschrift durch Analogie zu Lasten des Angeklagten auf andere, wenn auch vergleichbare Sachverhalte auszudehnen 3 3 . Die Grenze zwischen zulässiger Auslegung 34 und unzulässiger Analogie wird grundsätzlich dort gezogen, wo auch noch für den Laien erkennbar ist, daß sein Verhalten unter eine bestehende Strafnorm fallen kann 3 5 . Innerhalb der Erkennbarkeitsgrenze ist auch die Verwendung allgemeiner Begriffe und unbestimmter Rechtsbegriffe möglich. Bei Blankettvorschriften ist erforderlich, daß bereits aus dem ermächtigenden Gesetz die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Höhe der Strafdrohung zu ersehen sind; im übrigen kann der Straftatbestand durch andere Rechtsvorschriften im Range unter dem Gesetz näher konkretisiert werden 36 . Wegen der Einzelheiten muß auf Schrifttum und Rechtsprechung zu § 2 StGB und zu Art. 103 Abs. 2 G G verwiesen werden, da sich dort die gleichen Grenzfragen stellen.

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Die Festlegung durch geschriebenes Recht ist nach den Konventionen - anders als nach Art. 103 Abs. 2 G G 3 7 - nicht unerläßlich. In welcher Form die notwendige konkrete Festlegung zu geschehen hat, bestimmen die Konventionen nicht, dies richtet sich nach der jeweiligen nationalen Verfassungslage. Wo diese ein formelles Parlamentsgesetz erfordert, weil die Grundentscheidung über die Strafbarkeit eines Verhaltens dem Parlament vorbehalten ist 38 , kann die vorgängige Festlegung der Strafbarkeit im Sinne des Art. 7 M R K , Art. 15 IPBPR grundsätzlich auch nur durch ein solches begründet werden. Im Bereich des common law genügt es, daß aufgrund der Rechtsprechung der Tatbestand feststeht und auch der Strafrahmen umgrenzt ist 39 . Es genügt, wenn die Grenzen auf Grund der Rechtsprechung feststellbar sind 40 . Eine Fortentwicklung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch Richterrecht wird dadurch nicht ausgeschlossen, sofern sie mit dem Wesen der strafbaren Handlung in Einklang steht und vernünftigerweise vorhergesehen werden kann 4 1 .

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Die Strafbarkeit nach internationalem Recht, die Art.7 Abs. 1 M R K und Art. 15 Abs. 1 IPBPR der Strafbarkeit nach nationalem Recht gleichstellen, muß ebenfalls bereits im Zeitpunkt der Begehung der Tat gegeben sein. Liegt sie bei Tatbegehung vor, ist es unschädlich, wenn gleichartiges nationales Recht die Tat erst nach ihrer Begehung mit Strafe bedroht 42 . Die Anerkennung des internationalen Rechts als eine zur aus10

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Zur Problematik der milderen Sanktion vgl. Nowak 12 ff. Dazu Nowak 13 ff. Nowak 14 (UN-AMR: „implied limitations"). EKMR Vrowein!Peukert 2, 4; Guradze 7; Nowak 4; Villiger HdB 536; Vogler AöR 89 (1977) 791. Vgl. EKMR NJW 1984 2753 (Sprayer von Zürich): „Grenzen einer vernünftigen Auslegung nicht überschritten", ferner etwa BVerfGE 47 120; 55 152. E K M R nach FroweinlPeukerl 4. Guradze 5; vgl. BVerfGE 14 185; 22 19; 23 265; 32 362; 38 371; 75 342; 78 374.

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Zum Ausschluß des Gewohnheitsrechts BVerfGE 14 185; vgl. etwa Maunz-Dürig Art. 103 Abs. 2 GG Rdn. 106. Nach BVerfGE 78 374 ist dies einer der Zwecke des Art. 103 Abs. 2 GG. EKMR EuGRZ 1977 38 (Handyside); EKMR nach FroweinlPeukerl 4; Nowak 5. FroweinlPeukerl 4. E G M R 22.11.1995 SW/GB (ÖJZ 1996 356: Vergewaltigung in der Ehe strafbar entgegen einer Ausnahme des common law von 1736). Grabenwarter § 24 Rdn. 90.

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reichenden Festlegung der Strafbarkeit 4 3 geeignete Strafandrohung kann Bedeutung erlangen, wenn ein Täter von einem anderen Staat wegen einer Straftat abgeurteilt wird, für die sein nationales Recht oder das Recht des Tatorts keine Strafe angedroht haben 4 4 . An sich könnte die Strafbarkeit nach internationalem Recht auch unmittelbar aus dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht hergeleitet werden 45 . In aller Regel folgt sie aber aus dem Völkervertragsrecht, sofern dieses die Vertragsstaaten nicht nur zum Erlaß nationaler Straftatbestände verpflichtet 46 sondern das strafbare Verhalten selbst festlegt, wie etwa die Genfer Konventionen bei Verstößen gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht 47 oder die Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder die Kriegsverbrechen nach dem Römischen Statut über den internationalen Strafgerichtshof 4 8 . Das Rückwirkungsverbot des Absatzes 1 gilt auch bei der Anwendung vertraglich begründeter neuer völkerrechtlicher Straftatbestände 49 . Die in vielen internationalen Ubereinkommen zu findende völkerrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine Tat innerstaatlich mit Strafe zu bedrohen, fällt nur unter die erste Alternative, da das internationale Recht in diesem Fall Straftatbestand und Strafe nicht selbst für jedermann verbindlich festsetzt sondern nur die einzelnen Vertragsstaaten zum Erlaß entsprechender nationaler Strafnormen verpflichtet 50 , manchmal es ihnen auch nur anheimstellt.

4. Grenzen für die Anwendung des materiellen Strafrechts a) Absatz 1 bindet die staatliche Strafbefugnis an die vorherige Festlegung des straf- 11 baren Verhaltens durch eine Rechtsnorm. Dies gilt für jede Bestrafung wegen einer Straftat. Beide zusammengehörende Begriffe sind unabhängig von Bezeichnung, Zuordnung und Dogmatik des jeweiligen nationalen Rechts autonom auszulegen 51, wobei auch der systematische Zusammenhang mit den anderen sich auf Straftaten beziehende Garantien der Konventionen, insbes. Art. 6 M R K , Art. 14 IPBPR zu berücksichtigen ist. Entsprechend dem Schutzzweck 52 und dem übernommenen (geschichtlich tradier-

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Auch insoweit muß die Strafbarkeit konkret festgelegt sein, die bloße Kennzeichnung als strafwürdig genügt nicht nach dem Regelungszweck, der auch die vorherige Androhung der Strafe umfaßt. Vgl. aber Partsch 172 (strafwürdiges Verhalten); ferner Guradze 4, wonach im angelsächsischen Recht vom Verbot auf die Strafbarkeit geschlossen wird. Vgl. FroweinlPeukert 6 unter Hinweis auf Bestrafung eines Kriegsgefangenen wegen Verstöße gegen das Kriegsrecht nach Art. 85, 99 der dritten Genfer Konvention. Partsch 171 verneint die Existenz solcher Strafvorschriften im allgemeinen Völkerrecht; bei der Piraterie wurde dies angenommen (vgl. FroweinlPeukert 7); Villiger HdB 539 hält demgegenüber für fraglich, ob insoweit die notwendige Bestimmtheit des Strafmaßes gegeben ist. Inzwischen legen internationale Übereinkommen den Tatbestand des Seeraubs und das Recht der Staaten zu seiner Aburteilung gemäß den festzulegenden Strafen fest; vgl. Art. 15 des Genfer Übereinkommen über die Hohe See vom 29.4. 1958 (BGBl. II 1972 S. 1089); ferner Art. 100 ff des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (BGBl. II 1994 S. 1799). Meist wird nur eine Staatenverpflichtung zum Erlaß nationaler Strafvorschriften begründet, diese hat die

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Vertragsstaaten, nicht den einzelnen als Adressaten; mitunter würde sie auch nicht den Bestimmtheitserfordernissen für eine Strafvorschrift genügen; vgl. etwa Art. 4 der UN-Antifolterkonvention (Art. 3 M R K Rdn. 4). Bei der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (BGBl. II 1954 S. 729) ist dies strittig, zu Recht verneinend Froweinl Peukert 6; wohl bejahend Nowak 6. 47

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Vgl. Guradze 9; Froweinl Peukert 6 (auch zur Ahndung von Verstößen gegen das Kriegsrecht durch den späteren Gewahrsamsstaat). Etwa Art. 25 ff des Statuts von Rom des Internationalen Strafgerichtshofs (BGBl. II 2000 S. 1394); Grabenwart er § 24 Rdn. 90. Froweinl Peukert 6; Nowak 6; Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs legt dies in seinem Art. 24 ausdrücklich fest. So etwa Art. 4 der UN-Antifolterkonvention. EGMR 9.2.1995 Welch/GB (ÖJZ 1995 511: Beschlagnahme); UN-AMR bei Nowak EuGRZ 1983 14; llofmann S. 42; Nowak 7, 10. E G M R 9.2.1995 Welch/GB (ÖIZ 1995 511) stellt darauf ab, ob eine Maßnahme unabhängig von ihrem äußeren Erscheinungsbild (behind appearances) dem Wesen nach eine Strafe ist, ähnlich EGMR 8.6.1995 Jamil/F (ÖJZ 1995 796).

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ten) Vorverständnis wird vom Begriff der Bestrafung jede zur Vergeltung oder zur Abschreckung wegen eines bestimmten schuldhaften Verhaltens als Ausdruck gesellschaftlicher Mißbilligung verhängte Sanktion erfaßt 5 3 . Dies gilt für alle im innerstaatlichen Recht als Strafe vorgesehenen Sanktionen, wie etwa Freiheitsstrafen, Geldstrafen oder Ersatzfreiheitsstrafen 54 , aber auch für an ein Verschulden gebundene Nebenfolgen mit Strafcharakter 5 5 , ferner für Sanktionen, die wegen ihrer Art oder Schwere einer Strafe gleichzuachten sind. Dem Verbot unterfallen nicht nur echte Kriminalstrafen, wie sie etwa das StGB normiert, sondern auch die Geldbußen des OWiG 5 6 . Ob und wieweit es auch bei Disziplinarmaßnahmen gilt, ist strittig 57 , es wird für die Maßnahmen des Disziplinarrechts bejaht, deren Verhängung wegen Art und Höhe der Sanktion einer strafrechtlichen Anklage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 M R K gleichgeachtet wird 58. Wegen des weitergehenden innerstaatlichen Verfassungsrechts hat diese Streitfrage für die Bundesrepublik aber kaum Bedeutung, da Art. 103 Abs. 2 G G grundsätzlich, wenn auch mit Auflockerungen hinsichtlich der Konkretisierung der einzelnen Pflichtverletzung, disziplinarrechtliche und ehrengerichtliche Sanktionen umfaßt 59. 12

Bei Maßregeln der Besserung und Sicherung, die nicht begangenes Unrecht ahnden sondern künftigen Straftaten vorbeugen sollen, gilt das Rückwirkungsverbot nach § 2 Abs. 6 StGB nicht. Ob dies mit Art. 103 Abs. 2 G G vereinbar ist, ist strittig 60 ; die jetzt auch vom Bundesverfassungsgericht 61 bestätigte vorherrschende Meinung nimmt dies an. Grenzt man den Begriff der Verurteilung im Sinne des Art. 7 Abs. 1 M R K , Art. 15 Abs. 1 IPBPR ebenso eng ab, fallen unter deren Rückwirkungsverbot weder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 6 2 noch andere Maßnahmen der Besserung und Sicherung, vor allem aber auch nicht die Anordnung der Sicherungsverwahrung 63 . Der Bundesgesetzgeber ging davon aus; er hat die in § 2 Abs. 6 StGB festgelegte Ausnahme für Maßregeln, die der Prävention dienen, als mit Art. 7 Abs. 1 Satz 2 M R K , Art. 15 Abs. 1 IPBPR vereinbar angesehen 64 . Auch der E G M R hat eine aus Präventivgründen angeordnete Freiheitsentziehung nicht als dem Art. 7 M R K unterfallend behandelt 65 .

UN-AMR bei Nowak EuGRZ 1983 14; ferner etwa Nowak 10, 11; Grabenwarter § 24 Rdn. 86 (Gesamtbetrachtung); vgl. auch BVerfGE 26 203; 42 262. EGMR 8.6.1995 Jamil/F (ÖJZ 1995 796: Ersatzfreiheitsstrafe bei Nichtzahlung einer Geldstrafe); Grabenwarter § 24 Rdn. 87; Meyer-Ladewig 10. E G M R 9.2.1995 Welch/GB (ÖJZ 1995 511: Beschlagnahme). Für das innerstaatliche Recht vgl. BVerfGE 38 371; 41 319; 42 263; 55 152; 71 114. BVerfG NJW 1990 1103. Verneinend Meyer-Gofiner47 1; Morvay ZaöRV 21 (1961) 341; Vogler ZStW 89 (1977) 791; mit Einschränkungen auch FroweinlPeukert 5 (fraglich, soweit Disziplinarverfahren als Strafverfahren im Sinne des Art. 6 Abs. 1 MRK angesehen werden); vgl. auch Guradze 4; je mit weit. Nachw. Grabenwarter § 24 Rdn. 86; Meyer-Ladewig 10; Villiger HdB Rdn. 534; vgl. Art. 6 Rdn. 29 fif. Etwa BVerfGE 26 203; 44 115; 45 351; 60 233; 66 355; BGHSt 19 90; MaunzlDiirig Art. 103 Abs. 2 Rdn. 116. Die vorherrschende Meinung verneint die Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 GG; vgl. dazu die Nachweise bei Best ZStW 114 (2002) 88, 93, der die Gegenansicht vertritt. Der Streit ist neuerdings im

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65

Zusammenhang mit den jetzt durch § 66b StGB ersetzten Eandesgesetzen, die eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung vorsahen, wieder aufgeflammt, vgl. Best ZStW 114 (2002) 88 ff. Kinzig StV 2000 330, 332; Peglau NJW 2001 2436; Ullenbruch NStZ 1998 326, 329; ferner nachf. Fußn. BVerfG EuGRZ 2004 73 ordnet Maßregeln der Besserung und Sicherung, die die Verhinderung zukünftiger Straftaten bezwecken, nicht dem Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 G G zu, dessen Normzweck der erhöhte rechtsstaatliche Schutz gegenüber spezifisch strafrechtlichen Maßnahmen ist, mit denen der Staat auf schuldhaftes Unrecht antwortet; BVerfG NStZ-RR 2000 281 ließ die Frage noch offen. Guradze 4. Vgl. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1982 540 (X/Ö), wo dies aber letztlich offen blieb. So Begr. zu Art. 2 Abs. 6 StGB Entw. 1962 BTDrucks. 4 650 S. 108, und ihr folgend ein Teil der Kommentare zu § 2 Abs. 6 StGB mit dem Hinweis, daß auch andere Unterzeichnerstaaten zwischen Strafe und Maßregel unterscheiden; ferner etwa Peglau NJW 2000 179, 181. E G M R 1.7.1961 Lawless/lrl (Series A 3); MeyerLadewig 10.

Stand: 1.10.2004

(440)

Keine Strafe ohne Gesetz

Art. 15 IPBPR

Die nachträgliche E i n f ü h r u n g von Maßnahmen zur Förderung der Resozialisierung des Täters wurde nicht dem Verbot unterstellt 6 6 , desgleichen nicht die nachträgliche Ä n d e r u n g der Voraussetzungen f ü r die bedingte Aussetzung der Strafe eines bereits Verurteilten 6 7 oder die M a ß n a h m e n und Modalitäten des Strafvollzugs 6 8 oder die Regelungen über die Eintragungen ins Strafregister 6 9 .

13

Beugemaßnahmen fallen weder in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 G G 7 0 noch in den der Art. 7 M R K , Art. 15 I P B P R . Gleiches gilt f ü r andere M a ß n a h m e n des Verwaltungszwangs oder sonstige belastende Maßnahmen der öffentlichen Gewalt 71 oder bürgerlich-rechtliche Ansprüche 72 , wie den Anspruch auf Schmerzensgeld.

14

b) Verfahrensregelungen fallen nicht unter das Verbot 7 3 . Dies gilt auch für VerjährungsVorschriften, die nachträglich aufgehoben oder verlängert werden können, da dies nichts d a r a n ändert, d a ß die Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung bereits mit Strafe bedroht war 7 4 . O b etwas anderes gilt, wenn die Tat bereits verjährt war, bevor das Verlängerungsgesetz erlassen wurde, ließ der E G M R offen 7 5 .

15

5. Die Ausnahme der Absätze 2, wonach Absatz 1 der Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht entgegensteht, wenn die H a n d l u n g im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von der „Völkergemeinschaft" (IPBPR) bzw. von den „zivilisierten Völkern" ( M R K ) allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war 7 6 , sollte nach den Motiven 7 7 die auf rückwirkende Vorschriften gestützten Prozesse der Siegermächte gegen Kriegsverbrecher, vor allem auch die Nürnberger Prozesse, u n d die Prozesse in verschiedenen L ä n d e r n gegen Kollaborateure 7 8 , absichern.

16

Die Ausnahmeregelung gilt unabhängig von dem Anlaß für ihre Aufnahme fort. Sie greift ein, wenn ein nationales Recht Taten privilegiert, die nach den allgemein in der Völkergemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar sind 7 9 . Diese Rechtsgrundsätze brauchen aber, anders als bei Absatz 1, nicht in verbindlichen Völkerrechtssätzen selbst ihren Ausdruck gefunden haben. Es dürfte genügen, d a ß ein Verhalten weltweit im nationalen Strafrecht der einzelnen Staaten als Straftat angesehen wird, so d a ß auch der Täter über die grundsätzliche Strafbarkeit seines Verhaltens keinen Zweifel haben konnte, wie dies bei verschiedenen Grunddelikten, etwa Tötungsdelikten oder anderen Gewaltverbrechen, der Fall ist. N u r wenn diese Voraussetzung, die wohl nur theoretisch enger ist als die „von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze" (Art. 7 Abs. 2 M R K ) , vorliegt, schließt Absatz 1 nicht aus, d a ß

17

Vgl. Nowak 16; E u G R Z 1982 528 ( U N - A M R f ü r nachträgliche E i n f ü h r u n g einer obligatorischen Bewährungshilfe in K a n a d a ) . 67 E K M R bei Pansch 174. 68 E K M R bei FroweinlPeukert 5; Grabenwarter § 24 R d n . 86; Meyer-Ladewig 5; Pansch 175; Villiger H d B 537. ® E K M R bei Partsch 175; Grabenwarter § 24 Rdn. 86. 70 Vgl. etwa v. Münch!Kunig Art. 103 Abs. 2 G G R d n . 20. 71 Vgl. E G M R 1.7.1961 Lawless/Irl (Series A 3); Pansch 175. 72 E K M R bei Partsch 175. 73 E K M R bei Froweinl Peukert 5; Villiger H d B 537. 7 " E G M R 22.6.2000 Coeme u.a./Belg ( E C H R 2000VII); BVerfG 25 269; Grabenwarter § 24 R d n . 89; Meyer-Ladewig 7; vgl. auch E G M R 27.9.1995 G / F (Series A 325 B); ferner das Übereinkommen über 66

(441)

75

76

77

78

79

die Nichtanwendbarkeit gesetzlicher Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 26.11.1968 (Simmal Fastenralh Nr. 16). E G M R 22. 6.2000 Coeme u.a./Belg ( E C H R 2000VII). Auf die von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätze stellt auch Art. 38 Abs. 1 Buchst, c des Statuts des Internationalen Gerichtshofs ab; vgl. Grabenwarter § 24 R d n . 91. Z u r Entstehungsgeschichte vgl. FroweinlPeukeri 8; Nowak 6, 18; Partsch 171 ff. Vgl. E G M R 27.3. 1962 D e Becker/Belg. (Series A 4); Ambos St V 1997 41; Froweinl Peukert 8 unter Hinweis auf E K M R ; Grabenwarter § 24 Rdn. 91; Meyer-Ladewig 11. Vgl. ferner Art. 24 des Römischen Statuts des internationalen Strafgerichtshofs.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

solche Taten nachträglich d u r c h Gesetz für strafbar erklärt und verfolgt werden80. e r m ä c h t i g t aber nicht dazu, d u r c h Völkerrecht selbst n e u e S t r a f b e s t i m m u n g e n

Sie

rückwir-

k e n d z u s c h a f f e n 8 1 u n d sie s c h l i e ß t a n s i c h n i c h t a u s , d a ß i n l ä n d i s c h e s V e r f a s s u n g s r e c h t f ü r d a s R ü c k w i r k u n g s v e r b o t d u r c h die F o r d e r u n g der A u f n a h m e der Strafbarkeit in d a s g e s c h r i e b e n e R e c h t eine e n g e r e G r e n z e festlegt (vgl. A r t . 53 M R K ;

Art. 5

Abs.2

IPBPR)82.

Art. 8 MRK (Art. 17 IPBPR) MRK Artikel 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens*

IPBPR

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privatund Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

(1) Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

(2) Jedermann hat Anspruch auf rechtlichen gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

Vgl. auch Art. 2 der (1). ZP MRK.

Artikel 17

Vgl. Art. 23, 24 IPBPR.

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 17. 5. 2 0 0 2 (BGBl. II S.1054).

Schrifttum (Auswahl): Breitenmoser D e r S c h u t z d e r P r i v a t s p h ä r e g e m ä ß A r t . 8 E M R K (1986); Brötel D e r S c h u t z d e s F a m i l i e n l e b e n s , R a b e l s Z 1999 580; Ellger D i e E u r o p ä i s c h e M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n u n d d e u t s c h e s P r i v a t r e c h t . D i e E i n w i r k u n g v o n A r t . 8 u n d 10 E M R K a u f d i e d e u t s c h e P r i v a t r e c h t s o r d n u n g , R a b e l s Z 1999 625; Fahrenhorst Familienrecht u n d Europäische Menschenr e c h t s k o n v e n t i o n (1994); Fahrenhorst F o r t p f l a n z u n g s t e c h n o l o g i e n u n d E M R K , E u G R Z 1 9 8 8 125; Fahrenhorst Sorge- u n d U m g a n g s r e c h t n a c h d e r E h e s c h e i d u n g u n d d i e E M R K , F a m R Z 1988 238; Gaede D a s V e r b o t d e r U m g e h u n g d e r E M R K d u r c h d e n E i n s a t z v o n P r i v a t p e r s o n e n bei d e r S t r a f v e r f o l g u n g , StV 2 0 0 4 46; Giegerich S c h u t z d e r P e r s ö n l i c h k e i t u n d M e d i e n f r e i h e i t n a c h A r t . 8, 10 E M R K im Vergleich z u m G r u n d g e s e t z , R a b e l s Z 1999 471; von Gunten D a s G r u n d r e c h t a u f U n v e r letzlichkeit d e r W o h n u n g (1992); Hailbronner D i e E i n s c h r ä n k u n g v o n G r u n d r e c h t e n in e i n e r d e m o k r a t i s c h e n G e s e l l s c h a f t . Z u d e n S c h r a n k e n v o r b e h a l t e n d e r E M R K , F S M o s l e r 359; Hillgruberl Jestaedt D i e E u r o p ä i s c h e M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n u n d d e r S c h u t z n a t i o n a l e r M i n d e r h e i t e n (1993); Kley-Struller D e r S c h u t z d e r U m w e l t d u r c h die E u r o p ä i s c h e M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n ,

80

81

Der gleiche Grundgedanke findet sich in Art. 1 Buchst, b des Übereinkommens vom 26.11.1968 (oben Fußn. 44), wonach Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch solche Handlungen sein können, die nach dem innerstaatlichen Recht des Landes, in dem sie begangen wurden, nicht strafbar sind. Nowak 19. Art. 24 des Römischen Statuts des internationalen Strafgerichtshofs (BGBl. II 2000 1399)

:

schreibt ebenfalls vor, daß niemand nach diesem Statut für ein Verhalten strafrechtlich verantwortlich ist, das vor seinem Inkrafttreten stattgefunden hat. Zur Problematik des Verhältnisses zwischen Art. 7 Abs. 2 M R K und dem innerstaatlichen Rückwirkungverbot nach Art. 103 II GG bei der Strafbarkeit der Schüsse an der Mauer vgl. BVerfGE 95 99 = StV 1997 14; Ambos StV 1997 39 ff.

Stand: 1.10.2004

(442)

Schutz

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

E u G R Z 1995 507; Kopper-Reifenberg Kindschaftsreform und Schutz des Familienlebens nach Art. 8 E M R K (2001); Kugelmann Schutz privater Individualkommunikation nach der E M R K , E u G R Z 2003 16;Palm-Risse Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie (1990); Villiger Expulsion and the right to respect for private and family life (Art. 8 of the Convention) - an introduction to the Commissions case-law, FS Wiarda (1988) 657; Wildhaber Die dänischen SexualErziehungsfälle. Anmerkung zum Urteil des E G M R , E u G R Z 1976 493; Wittinger Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz (1999).

Übersicht Rdn.

Rdn. b) Abschließende Aufzählung der zulässigen EingrifTszwecke c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

I. Allgemeines 1. A c h t u n g des privaten Lebensbereiches als Schutzgut

1

2. Recht auf Privatheit als Menschenrecht a) Grundlagen b) Andere Konventionsgewährleistungen c) Sonstige völkerrechtliche Vereinbarungen

4

3. Innerstaatliches Verfassungsrecht . . . .

5

2 3

4. Tragweite der Konventionsgarantien a) Schutzgegenstand b) Eingriffe des Staates c) Positive Schutzpflichten d) Verfahrensgarantien

III

17 20

Die geschützten Bereiche 1. Privatleben a) Begriff b) Erscheinungsformen c) Nicht allein dem Privatleben zuzurechnende Vorgänge

22 23 27

6 7 8 10

2. Familienleben a) Schutzbereich Familie b) Positive Rechte c) Eingriffe

28 30 32

1. Rechtsbindung der Eingriffe

11

3. Wohnung a) Begriff b) Eingriffe

33 35

2. Verbot rechtswidriger und willkürlicher Eingriffe (Art. 17 I P B P R )

13

3. Die besonderen Schranken des Art. 8 Abs. 2 M R K a) Rechtliche Festlegung

4. Korrespondenz a) Schutzbereich b) Staatliche Überwachungsmaßnahmen c) Staatliche Schutzpflichten

37 39 40

16

5. Ehre und Ruf

41

II. D i e Zulässigkeitsvoraussetzungen für staatliche Regelungen und Eingriffe

Alphabetische

Übersicht

Rdn. Abgrenzung Privatleben/Familienleben Abgrenzung privat/öffentlich Abhörvorrichtung Abtreibung Abwägung widerstreitender Interessen, insbes.

Abwehr staatlicher Eingriffe A c h t u n g der Konventionsrechte Adoption Akten Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Allgemeininteresse Alltagsleben A n h ö r u n g des Betroffenen Anwesenheitsliste

(443)

Rdn.

29 27 34,36 27 5,9,11,19, 25, 25b, 26 f, 32 11, 29 2, 5 f, 8, 26 28,30 10, 18c 2 8 8 21, 30, 32 25

Arztliche Unterlagen Arztwahl, freie Aufenthaltsrecht Aufzeichnungen, systematische Ausgewogenes Verhältnis („fair balance") Auskunftsanspruch A u s k u n f t über Telefonverbindungen Auskunft über Vermögensverhältnisse Auslieferung Ausweisung A u t o n o m e Lebensgestaltung Beteiligung am Entscheidungsprozeß Beobachtung, ständige Berufliche Aktivitäten Beruflich genützte R ä u m e Besteuerung der Wohnung Betretungsrecht

Walter Gollwitzer

18c 23 31 25 7a, 8, 10 10 25b, 37 25 21 31 f 22 21 25a f 25 33 33 36

MRK Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Rdn.

Rdn. Betreuungsverhältnis Betriebsgebäude

28 33

Gefängniszelle Gefahrenabwehr

33 36

Beweismaterial, beschlagnahmtes Beurteilung ex ante Beurteilungsspielraum des Staates

40 17

Geheimhaltungspflichten Gemeinwohl

25a 24, 31

insbes.

9, l l f , 17 f

Geruchsbelästigung Geschäftsunterlagen

34 36

Geschlechtsumwandlung Geschwister

23 28

Beziehungen zu anderen M e n s c h e n

18d, 21, 25a, 30, 32, 39a 22 f

Bild, Recht a m eigenen Bild-Tonaufnahmen

8, 25b 6

8 11

Bildung

30

Gesetzgeber Gesetz im materiellen Sinn, insbes. G e s e t z e s b i n d u n g > R e c h t s b i n d u n g der Eingriffe

Blutentnahme

24

Gesundheit

8, 18c, 19,

Briefgeheimnis Briefkontrolle Briefverkehr mit Verteidiger

1 f, 39 39a 39a

Gesundheitsdaten

23 f, 30, 34 25a

c o m m o n law

16

Daseinsfürsorge Datenschutz

9 2, 4 f, 25a f

D e m o k r a t i s c h e Gesellschaft, insbes.

5, 11,18a, 20 f, 25b, 31 f, 39a

Gesundheitsgefährdung

8, 23a, 34

Gleichgeschlechtliche Beziehung Großeltern G u t e r Ruf Haager Kindesentführungsabkommen

28, 35 28 1 f, 42 30

Haartracht H a n d l u n g s f r e i h e i t , allgemeine Häuslicher Lebensbereich

23 5 5, 8 33 34,37

Demonstrationen

25,27

Devisenkontrolle Diskriminierung Durchsuchung

18b 21, 32a, 35 25b, 33 ff

Hausboot Hausdurchsuchung Heilbehandlung

23 f

Ehe

3, 28 f, 31

25, 25b

Ehre Eingriffe D r i t t e r Eingriff, staatlicher

2, 5, 8, 41 ff 40 7 f, 9 ff,

heimliche Bild- und T o n a u f n a h m e n Heirat > E h e Hörfalle Horoskop Hundehaltung

7,38 5 27

Immissionen

25a

I n f o r m a t i o n s p f l i c h t des Staates Interessenabwägung

25a 8 f, 26, 30

Tnteressenwiderstreit Itentität; persönliche

8 23

Juristische Personen Kaserne Kernbereich der Persönlichkeitsphäre

6 33 5, 22

16 ff, 22, 27 Einsicht in U n t e r l a g e n Eltern, insbes.

10 9, 18, 18c,

Erbrecht

2 1 , 2 8 , 30 30

Erheblichkeitsschwelle Erkennungsdienstliche Beha n d l u n g Ermessensspielraum > Beurteilungsspielraum

5,7a 24

Erscheinungsbild, äußeres E r z i e h u n g der K i n d e r

23 3, 28, 30

Kernkraftwerk Kinder

34 5 , 9 , 18c, 21,

Europäische Grundrechte-Charta E u r o p ä i s c h e Rechtsvorschriften

2 31

Kindererziehung

23, 28, 30 f 30

Faires Gleichgewicht der Interessen Faires Verfahren

7a, 9 f, 21 10, 21, 32

Kindeswohl

19, 30, 32 f

Familie, tatsächlich gelebte Familienleben

28 1 f, 6, 9, 19,

Kind, Unterbringung Kleidung Kommunikation

18c, 30 23 1 f, 22, 36 ff

22, 26 ff, 31 34

Kommunikationssysteme

37, 40

Fluglärm

K o n t r a d i k t o r i s c h e s Verfahren

32a

Formalbeleidigung

42

Fortpflanzungstechnologie Fotos

23 8,21

K o n t r o l l b e f u g n i s des E G M R Kontrollen, staatliche Kopien

21 12 37

freie E n t f a l t u n g der Persönlichkeit Freiheitsrechte F r e i r a u m f ü r Eigenleben

1, 5 1 1

Korrespondenz Krankenakten

25b, 37 ff 10,18c

Führerschein Fürsorgeakten

27 10

Ladengeschäft Lebensbereich, privater

33 5

Gefangene

39a

Lebensweise L ö s c h u n g von D a t e n

23 25b

Stand:

1.10.2004

(444)

R e c h t a u f A c h t u n g des Privat- u n d F a m i l i e n l e b e n s

Art.

Rdn. Massenmedien > Presseveröffentlichungen Meinungsfreiheit Menschenwürde Minderjährige Minderheiten Mißbrauch Mitgliedstaaten als Vergleichsmaßstab Moral Namen Nationales Recht, insbes. Nationale Sicherheit > öffentliche Sicherheit und Ordnung Notstand Notwendigkeit eines Eingriffs Öffentliche Erklärungen Öffentliche Gewalt Öffentliche Interessen Öffentliche Sicherheit und Ordnung

Rdn.

5 41 1, 5 6f 23 39 f 20 18d, 19,27 23, 27 f, 30 11, 13,21, 29, 32, 35

18a 11, 13, 18a, 22 25 11

18 f, 27, 31 f, 39 Öffentlichkeit 7, 8a, 18c, 24 f, 27 Öffentlichkeitsbezug eines Verhaltens 18d,26f Optische Überwachung 36 Örtliche Anschauungen 21, 28 Opfereigenschaft 7, 34 f Petitionsrecht 39 Pflegekinder 28 Pflegerbestellung 18c, 24 Planungen, staatliche 21 Pluralismus 20 Portokosten 39a Postgeheimnis 1 Postkarte 38 Presseveröffentlichungen 5 f, 8 Privat bereich 1, 5 ff, 18d, 21 f, 36 f Privatbereich, funktionelle Abgrenzung 7a, 25 Privatgespräch 25 Privatleben, Begriff 1,22 > Privatbereich Privatpersonen, staatliche Ermittlungen durch 7a, 38 24 Psychiatrische Klinik Rechte anderer 19, 24 Rechtsbehelf, wirksamer 25b Rechtsbindung der Eingriffe 11, 13, 16 f, 25b, 35, 39 f Rechtsstaat 11, 20, 32 Regelungspflicht des Staates 7 ff, 43 > Schutzpflichten des Staates Regelungsszweck 17 Religionsfreiheit 3 Richterrecht 16 Richtervorbehalt 35 Romanma nuskript 25b (445)

1 7 I P B P R

Sachverständigengutachten Sammlung persönlicher Daten Satzungsrecht Scheidung Schutzpflichten des Staates

Schwangerschaft Sexualleben Sicherheit, öffentliche Sicherheitsgurt Sozialversicherungsträger Staatsangehörigkeit Staatsfreier Raum Statusregelungen Stimmenaufzeichnung Strafverfolgung Strafvorschriften Tagebuch Telefonüberwachung Terrorismusbekämpfung Tonaufnahmen Traditionen Transsexuelle Trinkwasserfluoridierung Übereinkommen über die Rechte des Kindes Überwachungsmaßnahmen, geheime Überzeugung, religiöse Umwelteinflüsse Unabhängige Stelle, Anrufung Unterhaltsgewährung Unterlassungen des Staates Untersuchung, zwangsweise Vaterschaftsfeststellung Vater, natürlicher Verdeckte Ermittlungen Verfahrensgarantien Verfassungsrecht, innerstaatliches Verhältnismäßigkeit, insbes. Verhütung von Straftaten Verjährung Verkehr mit EGMR Verkehrsvorschriften Videoüberwachung Volkszählung Vorenthalten der Post Vorführung Werbung Willkür

Wirtschaftliches Wohl des Staates Wohnraumbewirtschaftung Wohnrecht, Bewilligung, Entzug Wohnung

Walter Gollwitzer

32a 25 f 16 29 5, 7 ff, 23, 25b, 26, 28 ff, 32, 40, 43 26 6, 22 f 31 27 25a 25 6, 22 7 24 18, 24, 35 f 5,7,21 25b 12, 25b, 35 20 6 21 22 f 27 4 5, 7, 25b, 36, 39 3 34 10, 32a 28 7a 24 25 9, 28, 30 25 10, 32 5 15, 18a ff, 26, 31 f, 35 18 ff 9 3a, 39 27 25 18b 39a 18c 25 1, 7a, 11 f, 14 f, 25, 32, 35 18b, 19 18b, 35 33 f 1 f, 21 f, 32 ff

MRK Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Rdn. Wohnungsnahe Flächen Wohnwagen Züchtigung

Rdn.

33 33 30

Zustimmungserfordernis des Betroffenen 10 Zwangsumsiedlung 34

I. Allgemeines 1. Recht auf Privatheit als Schutzgegenstand 1

a) Das Recht auf Privatheit im weit verstandenen Sinne als Anspruch auf Achtung des gesamten privaten Lebensbereiches, das auch dessen einzeln aufgeführten Schutzbereiche wie Familienleben, private Kommunikation und Wohnung mit einschließt, gehört zu den wesentlichen Freiheitsrechten des Menschen. Die Achtung seiner Menschenwürde erfordert, daß ihm für die Entwicklung seiner Persönlichkeit ein eigener Handlungsraum gesichert ist, wo er in freier Selbstbestimmung 1 über seine private Lebensführung entscheiden kann 2 . Die unvermeidliche Einbindung des einzelnen in die Gemeinschaft darf nicht so weit gehen, daß ihm kein geschützter Freiraum für die Entwicklung seines Eigenlebens und damit eines wesentlichen Teils der Entfaltung seiner eigenen Persönlichkeit verbleibt. Der Zweck von Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR ist, den einzelnen vor sachlich ungerechtfertigten oder willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in seinen privaten Lebensbereich zu schützen, einschließlich seines Familienlebens, seines guten Rufs, seiner Wohnung und seiner Kommunikation mit anderen 3 . Während im vergangenen Jahrhundert die Gewährleistung einzelner besonders schutzwürdig erscheinender Rechte dieses Bereichs, wie etwa des Brief- oder Postgeheimnisses oder die grundsätzliche Unverletzlichkeit der Wohnung im Vordergrund staatlicher Gewährleistungen standen, hat die moderne Entwicklung die Notwendigkeit eines umfassenden Schutzes der gesamten Privatsphäre ergeben 4 . Wenn die Konventionen die Schutzbereiche Privatleben, Familienleben, Wohnung und Korrespondenz besonders aufführen, so bedeutet dies nicht, daß diese einzelnen Aspekte der Privatsphäre voneinander klar abtrennbar wären. Sie überlagern sich weitgehend, so daß ein Eingriff oft mehrere der aufgeführten Schutzbereiche berührt 5 . In ihrer Gesamtheit garantieren sie einen Freiheitsraum, in der der einzelne seine Persönlichkeit frei entfalten und Eingriffe des Staates abwehren kann 6 . So schließt das Privatleben weitgehend auch das Familienleben mit ein, es ist allerdings der weitere Begriff, der auch Sachverhalte umfaßt, die nicht zum Familienleben gerechnet werden. Vielfach sind auch die Eingriffe in die Korrespondenz oder in die Wohnung zugleich Eingriffe in das Privatleben und mitunter auch in das Familienleben 7 .

1

Anders als Art. 2 Abs 1. GG enthalten die Konventionen keine besondere Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit; Art. 8 MRK, Art. 17 IPBPR dienen daher in solchen Fällen oft als Auffangvorschrift. 2 Vgl. EGMR 29.4.2002 Pretty/GB (NJW 2002 2851); zu der Menschenwürde als Schutzziel der sie nicht ausdrücklich erwähnenden M R K vgl. MeyerLadewig NJW 2004 981. 3 EGMR 9.2.1967 Belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975

4

298); 13.6.1979 Marckx/Belg (1979 454); 2. 8.1984 Malone/GB (EuGRZ 1985 17). Zur Bedeutung des Rechts auf Privatheit und zur Entwicklung Nowak 1 ff; ferner livers EuGRZ 1984 281.

5

6 7

Etwa FroweinIPeukert 1; IntKommEMRK/Wr/i/haberl Breilenmoser 1. Vgl. Grabenwarter § 22 Rdn. 1; Villiger HdB 555. Vgl. \ntKommEMRKI IVildhaberl Breitenmoser 1 mit weit. Beispielen.

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

2. Recht auf Privatheit als Menschenrecht a) Grundlagen. Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 2 1948 untersagt, jemanden willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr und rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes auszusetzen. Art. 17 IPBPR erweitert dies, wenn er neben den willkürlichen auch die „rechtswidrigen" Beeinträchtigungen verbietet. Demgegenüber erkennt Art. 8 Abs. 1 MRK jedermann den Anspruch auf Achtung 8 seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs zu. Entsprechend dem auch bei anderen Artikeln der M R K gewählten System begnügt er sich aber nicht mit einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Er legt in Absatz 2 in einer Aufzählung die Fälle fest, in denen das nationale Recht vorsehen darf, daß öffentliche Stellen in den geschützten Privatbereich eingreifen dürfen. Hinsichtlich des Schutzgutes ist sein Wortlaut auch insoweit enger als Art. 17 IPBPR, als Ehre und Ruf bei den Schutzgütern nicht besonders erwähnt werden (vgl. aber Art. 10 Abs. 2 M R K ) . Die Europäische Grundrechte-Charta gewährleistet in ihrem Art. 7 ebenfalls das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung und der Kommunikation. Der Schutz der persönlichen Daten wird in ihrem Art. 8 besonders gewährleistet, wobei Art. 8 Abs. 3 die Kontrolle durch eine unabhängige Stelle fordert. b) Andere Konventionsgewährleistungen, die besondere Rechte des Privatbereichs mit 3 erfassen, konkretisieren und verstärken einzelne Aspekte des Rechts auf Privatheit hinsichtlich der von ihnen garantierten einzelnen Gesichtspunkte, so etwa die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 M R K , Art. 18 IPBPR), das Recht auf Ehe und Familie (Art. 12 M R K , Art. 23 IPBPR) oder die Verpflichtung des Staates, das Recht der Eltern auf Erziehung der Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu achten (Art. 2 des 1. ZP M R K , Art. 18 Abs. 3 IPBPR). Soweit der ungehinderte schriftliche und mündliche Verkehr mit den Konventions- 3a Organen besonderen Garantien unterfällt, wie etwa im Europäischen Abkommen über die an Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen9, gehen diese als Spezialregelungen dem allgemeinen Schutz der Kommunikation durch Art. 8 M R K vor 10 . Gleiches gilt für ähnliche Vorschriften in internationalen Abkommen, die die Kommunikation mit bestimmten internationalen Einrichtungen vor Eingriffen schützen sollen, so etwa die Vorschriften über den ungehinderten Verkehr mit dem Gerichtshof im Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Strafgerichtshofs vom 9.9.2002 l 0 a . c) Andere völkerrechtliche Vereinbarungen schützen die in den Art. 8 M R K , Art. 17 4 IPBPR gewährleisteten Rechte ebenfalls. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Europäische Datenschutzkonvention11, die sich mit der Beschaffung, Verarbeitung und Verwahrung personenbezogener Daten befaßt und die u. a. die automatische Verarbeitung personenbezogener Daten über Strafurteile von einem geeigneten Schutz durch das innerstaatliche Recht abhängig macht (Art. 6). Weitere Verpflichtungen der Staaten zum

livers EuGRZ 1984 284: Formelkompromiß, der auf höherer Abstraktionsebene als die unmittelbare Gewährleistung den Ausgleich divergierender Auffassungen erlaubt. « Vom 23.10.1996 (BGBl. TT 2001 S. 359), vgl. Anhang Rdn. 20. 1(1 TntKommEMRK/Ro^e Art. 25 (a.F) Rdn. 177. 8

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11,11

11

Mit Zustimmungsgesetz vom 19. 8.2004 abgedruckt BGBl. II S. 1138. Übereinkommen zum Schutze der Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten vom 28.1.1981 (BGBl. TT 1985 S. 539), in Kraft seit 1.10. 1985 (Bek. vom 26.9.1985, BGBl. TT 1985 S. 1134).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Datenschutz finden sich z.B. auch in Art. 16, 40 Abs. 2 Buchst, b, vii des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 l 2 . 5

3. Mit dem innerstaatlichen Verfassungsrecht13, das vor allem in den Art. 4, 6, 10 und 13 G G einzelne zum Privatbereich zählende Grundrechte besonders schützt, decken sich die Gewährleistungen der Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR weitgehend. Art. 2 G G garantiert über die Konventionsverbürgungen hinaus die allgemeine Handlungsfreiheit. Diese schließt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit mit ein und garantiert in Verbindung mit der Achtung der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 G G das damit untrennbar verbundene Recht auf einen Freiraum für die private Lebensführung. Dieser reicht über den häuslichen Lebensbereich hinaus und umfaßt auch die Orte, an denen jemand objektiv erkennbar von Dritten ungestört sein will 133 . Dieser private Lebensbereich ist in seinem Kernbereich 14 für den Staat unantastbar, im übrigen darf der Staat in ihn nur aufgrund eines Gesetzes und nur nach einzelfallbezogener Güterabwägung im Interesse vorrangiger öffentlicher Interessen eingreifen 15 . Dies setzt innerstaatlich auch den staatlichen Maßnahmen zur geheimen Überwachung eines Betroffenen verfassungsrechtliche Schranken, vor allem, wenn sie in den Kernbereich der Persönlichkeitssphäre eingreifen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Erläuterungen zu den §§ 100a ff, 100c ff StPO verwiesen 151 . Der Grundrechtsschutz umfaßt auch das Recht am gesprochenen Wort und die Befugnis, selbst zu bestimmen, wem der Kommunikationsinhalt zugänglich sein soll 16 , ferner das grundsätzliche Recht auf Selbstbestimmung über Erfassung, Speicherung und Verwendung der Daten, die die Privatsphäre der eigenen Person betreffen 17 . Diese den Eingriffen staatlicher Organe gezogenen Schranken umreißen zugleich auch die Schutzpflicht des Staates, der angemessene strafrechtliche 171 oder zivilrechtliche Vorschriften schaffen muß, um dem einzelnen ausreichende Schutzmöglichkeiten bei jeder ins Gewicht fallenden Verletzung seiner Privatsphäre durch Dritte zu eröffnen. Dies gilt im verstärkten Maße bei Kindern, die ein eigenes Recht auf ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit 1713 haben. Diese kann durch Eingriffe Dritter, vor allem aber durch das Kind betreffende Veröffentlichungen in den Massenmedien nachhaltig gestört werden; deshalb besteht hier eine erhöhte Schutzpflicht des Staates 17c .

4. Tragweite der Konventionsgarantien 6

a) Als Schutzgegenstand nennt Art. 8 M R K den Anspruch auf Achtung des Privatlebens, dagegen gewährleistet Art. 17 IPBPR das Privatleben selbst, allerdings nur im Rahmen der Gesetze 18 . Ein großer praktischer Unterschied ist damit nicht verbunden.

12

Vgl. Einf. Rdn. 10. Vgl. BVerfGE 76 79 ff. "" Vgl. BVerfGE 101 361, 382; BGH JZ 1997 39 mit Anm. Forkel; JZ 2004 622. 14 Vgl. etwa BVerfGE 27 6; 350; 32 378; 34 245; 80 367; Schmitt-Glaeser in /sensedKirchof Handbuch des Staatsrechts Bd. 5 § 129, 35; Geis JZ 1991 112. 15 Wegen der umfangreichen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und dem Schrifttum zu diesen strittigen Eragen kann nur generell auf die Nachweise in den Kommentaren zum GG verwiesen werden. 15a Vgl. insbes. die bei LR-Schäfer § 100c StPO, Rdn. 1 ff eingehend erläuterte Entscheidung des BVerfG vom 3.3.2004 (NJW 2004 999). 15

16

Vgl. etwa BVerfGE 34 238, 246; 54 148, 154; BVerfG NJW 1992 815; BGHZ 27 284; 286, BGH NJW 1988 1016; 2003 1727 je mit weit. Nachw. 17 Vgl. E K M R EuGRZ 1980 170. Zum „Recht auf informationelle Selbstbestimmung" BVerfGE 65 1 ff; ferner Schmitt-Glaeser in Isensee/Kirchhoff Handbuch des Staatsrechts Bd. 5 § 129, 76 ff. I7 " Etwa § 201a StGB (Strafbarkeit unbefugter Bildaufnahmen im höchstpersönlichen Lebensbereich). ™ Vgl. BVerfGE 24 119, 144; 45 400, 417; 72 122, 137; BVerfG NJW 2003 3262. 17c BVerfGE 101 361, 385; ferner BVerfG NJW 2003 3262 (Veröffentlichung des Horoskops eines Kindes in der Presse). 18 Dazu Evers EuGRZ 1984 283.

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Geschützt wird der ganze private Bereich in seinen vielfachen Aspekten und in allen Abstufungen der Privatheit 19 . Dazu rechnen nicht nur die höchstpersönlichen Verhältnisse der eigenen Person, ihre physische und psychische Integrität 20 , ihr Recht auf einen staatsfreien Raum und auf Autonomie der eigenen Lebensführung in Bereichen, die Dritte nicht berühren können, sondern auch der private Umgang mit anderen Menschen, alle Beziehungen, Handlungen und Unterlassungen, die unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände und Verhältnisse der Sphäre des Nicht-Öffentlichen zuzurechnen sind 21 . Hierher gehören die vielgestaltigen mitmenschlichen Beziehungen einschließlich des Familien- und Sexuallebens und die verschiedenen Formen der Kommunikation, ferner alles, was Vorgänge aus diesem Bereich erfassen und für andere einsichtig machen kann, wie etwa Ton- und Bildaufnahmen 2 2 , Unterlagen und Dokumentationen. Selbst geschäftliche und berufliche Aktivitäten können dem Privatbereich zuzurechnen sein 23 , ebenso sein Schutz vor beinträchtigenden oder schädigenden Immissionen aus der Umwelt 24 . Träger der Rechte aus diesen Konventionsgarantien sind alle natürlichen Personen; auch Minderjährige haben eigene Rechte, die in ihrem Namen mitunter auch von Personen für sie geltend gemacht werden können, die nach innerstaatlichem Recht sonst nicht zu ihrer Vertretung berechtigt sind 25 . Soweit juristische Personen Träger der in Art. 8 M R K garantierten Rechte sein können, wie etwa Schutz der Wohnung, der Kommunikation oder der Daten, können auch sie die Verletzung ihrer Konventionsrechte beanstanden 2 6 . b) Eingriffe des Staates in diesen weitgespannten Bereich können sowohl die kon- 7 krete Einschränkung der Ausübung eines Konventionsrechts im Einzelfall sein als auch vorgelagerte Beschränkungsmaßnahmen, welche die Ausübung des garantierten Rechts von vorneherein unmöglich machen 2 7 , ganz gleich, ob sie nur einen Einzelfall betreffen oder schon generell abstrakt die Ausübung eines in den Konventionen garantierten Rechts vereiteln oder ohne sachlich rechtfertigenden Grund erschweren 28 . Dies kann eine das Familienleben unmittelbar beeinträchtigende Statusregelung sein 29 oder auch die Strafbarkeit bestimmter, dem Privatleben zuzurechnenden Verhaltensweisen; dem Betroffenen ist in solchen Fällen meist nicht zuzumuten, daß er abwartet, ob tatsächlich ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wird 30 . Auch bei geheimen Überwachungsmaßnahmen braucht nicht abgewartet zu werden, bis es tatsächlich zu einem Eingriff gekommen ist; es kann genügen, wenn das Recht des Betroffenen auf unüberwachte Kommunikation bereits durch das Vorhandensein von Gesetzen und Vollzugspraktiken, welche das geheime Abhören ermöglichen, geschmälert wird 31 ; bei einer außerhalb der gesetzlichen

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Vgl. etwa EGMR 25.9.2001 Ρ G, J H/GB (ÖJZ 2002 911: weiter Begriff, einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich). E G M R 25.3.1993 Costello-Roberts GB (ÖJZ 1993 707); 6.2.2001 Bensaid/GB (ECHR 2001-1); MeyerLadewig 5. Zu den Abgrenzungsfragen vgl. TntKommEMRK/ Wildhaberl Breitenmoser 96ff",insbes. 114 ff; MeyerLadewig 3 ff und zur teleologischen, wertenden Abgrenzung Evern EuGRZ 1984 284. Vgl. E G M R 24.6.2004 Caroline v. Hannover/D (NJW 2004 2647. Fotos aus dem Privatleben). EGMR 16.12. 1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); 25.6.1997 Halford/GB (ÖJZ 1998 311). Meyer-Ladewig 17; vgl. Rdn. 26, 34. Grabemvarter § 22 Rdn. 3; IntKommEMRK/WildhaberlBreilenmoser 40.

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Grabenwarter § 22 Rdn. 3, 4. Vgl. EGMR 21.2.1975 Golder/GB (EuGRZ 1975 91: Untersagung des Briefverkehrs); IntKommEMRK-WildhaberlBreiienmoser 46 ff. IntKommEMRK- WildhaberlBreilenmoser 47 ff, auch zum Zusammenhang mit der für die Beschwerdebefugnis des Art. 34 MRK erforderlichen Verletzung in einem Konventionsrecht „Opfereigenschaft". E G M R 13.6.1996 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); IntKommEMRK- WildhaberlBreilenmoser 47; vgl. Rdn. 29 ff. Etwa EGMR 26.10. 1988 Norris/Trl (EuGRZ 1992 477: Strafbarkeit der Homosexualität). IntKommEMRK- WildhaberlBreilenmoser 47; vgl. Rdn. 38.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Möglichkeiten liegenden Überwachung muß der Betroffene aber aufzeigen können, warum vernünftigerweise die Wahrscheinlichkeit besteht, daß er Opfer eines gesetzlich nicht vorgesehenen Eingriffs in seinen Privatbereich war 32 . Im allgemeinen reicht aber die bloße Möglichkeit, künftig von einer solchen Regelung selbst betroffen zu werden, für die Bejahung eines (gegenwärtigen) Eingriffs nicht aus 33 . Ein Eingriff des Staates kann auch vorliegen, wenn staatliche Stellen zur Erreichung eines mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen Zweckes sich privater Personen bedienen, etwa dadurch, daß sie die unmittelbare Ausführung des Eingriffs privaten Personen überlassen, etwa, daß sie diese mit der Ausforschung eines anderen beauftragen oder ihnen die Vorrichtungen zur Verfügung stellen, mit denen belastende Äußerungen zu Beweiszwecken erfaßt und aufgezeichnet werden können 34 , etwa durch Aufzeichnung privater Telefongespräche („Hörfalle") 35 . 7a

Ein Eingriff liegt vor, wenn eine staatliche Maßnahme konkret den Genuß der Konventionsgarantie vereitelt oder nicht nur unwesentlich erschwert oder behindert hat 3 6 . Dies wird verneint, wenn der Betroffene nach den Umständen vernünftigerweise nicht erwarten kann, daß auf seine Privatsphäre individuell Rücksicht genommen wird, weil er sich in der Öffentlichkeit bewegt 37 und allgemeine Regelungen befolgen muß, die der Staat generell und ohne konkrete Zielrichtung auf bestimmte Einzelpersonen allgemein für bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen und Verhaltensweisen trifft 3 8 , wie etwa die Verkehrsvorschriften oder die sonstigen Vorschriften, die im Interesse eines geregelten Zusammenlebens in der modernen Gesellschaft das private Verhalten bestimmten Regeln unterwerfen und die von jedermann zu beachten sind. Solche allgemeinen staatlichen Maßnahmen liegen in der Regel unter der Erheblichkeitsschwelle eines individuellen Eingriffs. Sie lassen die Substanz der Konventionsgarantien unberührt und sind daher auch nicht an deren Eingriffsvoraussetzungen zu messen 39 . In solchen Fällen erübrigt sich eine Rechtsgüterabwägung, die dann allerdings ohnehin meist zugunsten einer sachlichen Rechtfertigung des Eingriffs ausfiele. Der Gerichtshof hat wiederholt beides zusammen geprüft und ohne Festlegung, ob er eine staatliche Maßnahme als Eingriff ansieht, sich damit begnügt, ihre Vereinbarkeit („compliance") mit der Konvention festzustellen, so vor allem, wenn dem Staat vorgeworfen wurde, durch Unterlassen einer Regelung gegen die Konvention verstoßen zu haben 4 0 . Der Schutz vor Eingriffen staatlicher Stellen betrifft grundsätzlich Maßnahmen negatorischer Art zu ihrer Abwehr. Ob auch ein Unterlassen des Staates als Eingriff anzusehen ist, wenn dadurch konkret eine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Betroffenen ausgelöst wurde, ist strittig. Soweit ersichtlich hat der E G M R diese Frage bisher nicht aufgegriffen. Im Schrifttum 4 1 findet sich die Ansicht, daß die Nichterfüllung einer aus den Konventionsgarantien ab-

Etwa EGMR 25.6.1997 Halford/GB (ÖJZ 1998 311). IntKommEMRK-Äogge Art. 25 (a.F) 204 ff; Meyer-Ladewig hit. 34, 13. EGMR 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257 mit Anm. Gaede = JR 2004 127, dazu Esser JR 2004 98) mit weit. Nachw. Vgl. EGMR 8.4.2003 MM/Ndl (StV 2004 1), dazu Gaede StV 2004 46. Ferner etwa E G M R 23.11.1993 A/F (ÖJZ 1994 392); 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257) dazu Esser JR 2004 19; Gaede JR 2004 127, Grabemvarter § 17 Rdn. 6, 7; vgl. Rdn. 38. EGMR 24.10. 1996 Guillot/F (ÖJZ 1997 518); Raninen/Finnl (Rep. 1997 VIII). Peters 153.

EGMR 25.9.2001 Ρ G; Η J/GB (ÖJZ 2002 913). Vgl. E G M R 24.2.1998 Botta/I (ÖJZ 1999 76: Keine Behindertentoiletten am Badestrand); Peters 155. [ntΚomin I Vi Κ Κ - lliU/iahci'!Ηινϊίαππ.\cr 61ff unter Hinweis auf die hier bestehende Grauzone und die Spruchpraxis der EKMR, die darauf abstellte, ob die fraglichen staatlichen Maßnahmen Zwangscharakter hatten. IntKommEMRK- WildhaberlBreitenmoser 53 ff; Lux-Wesener EuGRZ 2003 555, 556; Peters 155 (bei Unterlassungssituationen trennt EGMR nicht zwischen Eingriff und Rechtfertigung). IntKommEMRK-Wildhaber/Breitenmoser 55 ft".

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

geleiteten positiven Handlungs- und Schutzpflicht42 wegen ihrer Auswirkungen auf den Betroffenen einem Eingriff des Staates durch Unterlassen gleichzuachten ist, mit der Folge, daß dann auch die in der Nicht-Achtung liegende Verletzung der Schutzpflicht an den Eingriffsschranken des Art. 8 Abs. 2 M R K zu messen wäre. Der E G M R sieht in der Verletzung einer sich aus Art. 8 Abs. 1 ergebenden Schutzpflicht einen unmittelbaren Verstoß gegen die von Art. 8 Abs. 1 gebotene Achtungspflicht 4 3 , so daß sich die Frage nach einer Eingriffsrechtfertigung durch Art. 8 Abs. 2 an sich gar nicht stellt. Im Ergebnis geht er aber davon aus, daß beide Fallgestaltungen voraussetzen, daß die Auswirkungen auf den Betroffenen eine gewisse Intensitätsschwelle überschreiten 44 und daß sie auch sonst mitunter voneinander schwer abzugrenzen sind 45 . Er stellt in beiden Fällen darauf ab, daß ein gerechter Ausgleich zwischen den in Art. 8 Abs. 2 M R K fixierten Interessen der Gemeinschaft und den durch Art. 8 Abs. 1 M R K geschützten Rechten gewahrt bleibt 46 oder durch die betreffenden staatlichen Maßnahmen hergestellt werden soll. In beiden Fällen wird eine Einschränkung der Konventionsrechte nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß ein Lebensvorgang der Privatsphäre zuzuordnen ist oder sie mit berührt. Es liegt in der Natur der Sache, daß im Privatbereich alle Rechte des einzelnen ihre Grenze in den gleichen Rechten des anderen finden 4 7 und daß sie auch mit den Anforderungen und Rechten der Gemeinschaft, in der der einzelne lebt, in einem ausgewogenen Verhältnis („fair balance") stehen müssen. Die deshalb nötige Abgrenzung 4 8 erfordert zur Verhinderung von Willkür und im Interesse der Vorhersehbarkeit staatlicher Einwirkungen in der Regel ihre rechtliche Verankerung 49 . c) Positive Schutzpflichten ergeben sich für den Staat aus beiden Konventionsverbür- 8 gungen. Art. 17 Abs. 2 IPBPR spricht ausdrücklich aus, daß jedermann Anspruch auf rechtlichen Schutz des in Absatz 1 umschriebenen Privatbereichs durch den Gesetzgeber 50 hat. Bei Art. 8 M R K werden diese Schutzpflichten des Staates aus seiner Pflicht zur Achtung der dort garantierten Rechte hergeleitet 51 . Der Staat muß sich nicht nur jedes ungerechtfertigten Eingriffs enthalten; er muß auch dafür sorgen, daß jeder in seinem Herrschaftsbereich diese Rechte genießen kann. Aus dem Achtungsanspruch folgt die „immanente" positive Pflicht 52 des Staates, einzugreifen, wenn die garantierten Rechte des einzelnen durch Dritte beeinträchtigt oder bedroht werden. Er muß für einen gerechten Ausgleich („fair balance") der kollidierenden Einzelinteressen und auch für dessen Vereinbarkeit mit den allgemeinen Interessen der Gemeinschaft sorgen 53 . Des-

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Vgl. Rdn. 8. Vgl. etwa EGMR 13.2. 2003 Odievre/F (NJW 2003 2145); Rdn. 8 mit weit. Nachw. Verneinend etwa EGMR 24.2.1998 Botta/I (ÖJZ 1999 76: Verpflichtung am Badestrand Behindertentoiletten zu schaffen). Etwa EGMR 24.4.2003 Sylvester/Ö (ÖJZ 2004 113). Vgl. Meyer-Ladewig 2. Grabenwarter § 22 Rdn. 47; Meyer-Ladewig 2; so schon Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.1789; vgl. femer Art. 2 Abs. 1 GG. Nach \ntKommEMRK-Wildhaberl Breitenmoser 6, 9 werden die unbestimmten und unbestimmbaren Grundrechte aus Art. 8 erst durch den Schrankenvorbehalt näher eingegrenzt und umschrieben. Vgl. dazu Rdn. 11. Weitere Vorgaben für die Regelungsbefugnis können sich aus dem Diskriminie-

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rungsverbot des Art. 14 ergeben, vgl. IntKommEMRK-Wildhaberl Breitenmoser 12. „Protection of the law" bzw. „protection de la Ιοί"; Nowak 6 weist darauf hin. daß die deutsche Übersetzung dies nicht klarstellt. Etwa E G M R 26.3.1985 Χ,Υ/NdL (EuGRZ 1985 297); 9.10.1979 Airey/Irl (EuGRZ 1979 626); 17.10.1986 Rees/GB (Series A 106); 21.2.1990 Powell, Rayner/GB (ÖJZ 1990 418); 29.9.1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173); 19.2.1998 Guerra/I (ÖJZ 1999 33); Grabenwarter § 22 Rdn. 1, 47 ff; Meyer-Ladewig 2. Vgl. EGMR 29.9.1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173); BVerfGE 76 80. EGMR 7.7.1989 Gaskin/GB (Series A 160); 29.9. 1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173); 9.6.1998 McGinley & Egan/GB (ÖJZ 1999 355); 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2147).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

halb muß der Staat eine Rechtsordnung und ein wirksames rechtliches Instrumentarium schaffen, das die Achtung des Privatlebens auch im Verhältnis der Bürger untereinander wirksam sichert 54 und das zumindest bei schwerer wiegenden Eingriffen dem Betroffenen ermöglicht, wirksame gerichtliche Hilfe zu erlangen, sei es im Wege eines zivilen Rechststreits oder aber durch Herbeiführung eines Strafverfahrens. Der einzelne muß einen wirksamen Schutz des Bereichs seiner privaten Lebensführung erlangen können; so etwa, wenn unbefugte Dritte einen der Öffentlichkeit entzogenen Bereich unter Überwindung der bestehenden Hindernisse ausspähen und darüber in der Presse berichten 5411 oder wenn unerlaubte Fotoaufnahmen von Vorgängen der privaten Lebensgestaltung und deren Veröffentlichung in der Presse das Recht am eigenen Bild verletzten 55 . Selbst die Gefährdung der Gesundheit einzelner Personen kann unter besonderen Umständen vom Staat ein Tätigwerden auf Grund einer aus Art. 8 M R K abzuleitenden Schutzpflicht erfordern 5 6 , so etwa die Verpflichtung zu ausreichenden Informationen über die Gefahren, denen die Einwohner einer Gemeinde durch eine Fabrik ausgesetzt waren 57 , aber auch sonst ein Tätigwerden, wenn dies zum Schutze vor übermäßigen Immissionen notwendig ist 58 . 9

Dem Staat wird in der Regel ein weiter Beurteilungsspielraum zuerkannt. Es wird ihm überlassen, auf welchem Weg er seine Schutzpflicht erfüllen und den gebotenen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen herbeiführen will 59 . Er muß mit dem Ziel eines gerechten Ausgleichs die Gesichtspunkte des Allgemeininteresses mit denen des betroffenen Privatinteresses abwägen, um zu entscheiden, ob besondere Umstände sein Tätigwerden zur Sicherung des Privatlebens und der anderen garantierten Rechte erfordern 60 und welche Maßnahmen dafür angezeigt sind. Dies müssen nicht notwendig Strafvorschriften sein. Hat der Staat aber für einen bestimmten Bereich ein Schutzsystem auf der Grundlage strafrechtlicher Sanktionen gewählt, so kann sich daraus unter gewissen Umständen, etwa bei besonders schutzbedürftigen Personen, für ihn die Pflicht ergeben, eine Lücke des nationalen Strafrechts zu schließen, um so einen anderweitig nicht erreichbaren Schutz zu gewährleisten 61 . Da die Schutzpflicht auch bei Art. 8 M R K unmittelbar aus der Konventionsgarantie in Absatz 1 hergeleitet wird, gelten nach vorherschender Meinung die Eingriffsschranken des Art. 8 Abs. 2 M R K nicht unmittelbar 6 2 ; mittelbar geben sie jedoch Anhaltspunkte für die auch hier zum Errrei54

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E G M R 9.10.1979 Airey/Irl( EuGRZ 1979 626). BGH JZ 2004 622 (Luftbildaufnahmen vom privaten Feriendomizil Prominenter und deren Veröffentlichung). EGMR 24.6.2004 Caroline ν Hannover/D (NJW 2004 2647), dazu Ilddrich NJW 2004 2634; Mann NJW 2004 3220 (auch zu den von BVerfG NJW 2004 3407 ff angesprochenen Problemen, die sich innerstaatlich daraus ergeben, daß EGMR den geschützten Bereich bei Personen der Zeitgeschichte weiter gezogen hat als das insoweit für konventionswidrig erklärte Urteil des BVerfG NJW 2000 10219). Zur Auskunftspflicht des Staates etwa EGMR 9.6. 1998 McGinley & Egan/GB (ÖJZ 1999 356 Information über Folgen von Atomtest); ferner 9.6.1998 L C B/GB (ÖJZ 1998 353, wo in einem ähnlichen Fall Art. 2 MRK im Vordergrund stand); MeyerLadewig 17, 34. EGMR 19.2.1998 Guerra/I (NVwZ 1999 57, dazu Dörr JuS 1999 809), 18.6.2002 Öneryildiz/Türk nach Meyer-Ladewig 17; Grabenwarter § 22 Rdn. 49. E G M R 21.2.1990 Powell,Rayner/GB (ÖJZ 1990

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418 Fluglärm); 9.12.1994 Lopez Ostra/Span (EuGRZ 1995 530 Unterlassung des Eingreifens bei Geruchsbelästigung); 2.10.2001 Hatton/GB (Fluglärm); (Irabenwaner § 22 Rdn. 13, 48, Meyer-Ladetvig 17; 34; vgl. auch Rdn. 34. Etwa EGMR 9.10.1979 Airey/Irl( EuGRZ 1979 626); 28.5.1985 Abdulaziz u.a./GB (EuGRZ 1985 567); 26.5.1994 Keegan/lrl (EuGRZ 1995 13); 22.10.1996 Stubbings u.a./GB (ÖJZ 1997 436); 24.2.1998 Botta/1 (ÖJZ 1999 76); EKMR bei Strasser EuGRZ 1985 523; enger wohl EGMR 24.6.2004 Caroline ν Hannover/D (NJW 2004 2647). E G M R 26.3.1985 X, Y/NdL (EuGRZ 1985 297 Schutz Untergebrachter vor sexuellem Mißbrauch); 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2147). EGMR 26.3.1985 X; Y/Ndl: (EuGRZ 1985 297 sexueller Mißbrauch im Heim untergebrachter geistig Behinderter); vgl. auch Nowak 6. Etwa E G M R 17.10.1986 Rees/GB (Series A 106); Powell/Rayner/GB (ÖJZ 1990 418) 9.12.1994 Lopez Ostra/Span (EuGRZ 1995 530); 13.2.2003

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Art.

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chen eines gerechten Ausgleichs erforderliche Abwägung der kollidierenden öffentlichen und privaten Interessen63. Regelt der Staat (befugt) aus einem der in Art. 8 Abs. 2 M R K angeführten Gründe Verhältnisse des Privatbereichs, muß er dafür sorgen, daß sich daraus bei einer Abweichung von den geregelten Normalfällen oder bei einer Änderung der Verhältnisse keine Beeinträchtigungen in einem höchstpersönlichen Bereich ergeben, die für den einzelnen unzumutbar sind 64 . Der Staat muß für einen gerechten Ausgleich zwischen widerstreitenden öffentlichen oder privaten Interessen sorgen 65 . So erfordert etwa die Achtung des Familienlebens, daß der Staat seine Rechtsordnung so gestaltet, daß sie erlaubt, ein normales Familienleben herzustellen und zu führen; die Feststellung des Bestehens familiärer Beziehungen, wie etwa zwischen einem nichtehelichen Kind und seinem Vater darf nicht durch rechtliche Hürden unnötig erschwert werden 66 . Die Schutzpflicht des Staates besteht zeitlich nicht unbegrenzt, sie schließt angemessene Verjährungsregelungen nicht aus 67 . Ein Anspruch auf positive Leistungen der Daseinsfürsorge kann aus der Schutzpflicht nicht abgeleitet werden 68 . c) Verfahrensgarantien. Art. 8 M R K enthält - ebenso wie in Art. 17 IPBPR - keine ausdrücklichen Verfahrensgarantien; trotzdem wird - mitunter unter Hinweis auf die staatliche Schutzpflicht - gefordert, daß jeder staatliche Entscheidungsprozeß in einem fairen Verfahren 69 ergehen muß, in dem alle Betroffenen ihre Belange ausreichend vertreten können™, bevor er im Einzelfalle zu einem auf Art. 8 Abs. 2 M R K gestützten Eingriff führt. Soweit aus dem Recht auf Achtung des Privat- oder des Familienlebens neben dem Anhörungsrecht auch Ansprüche auf Auskunft oder auf Einsicht in Unterlagen hergeleitet werden, die die eigene Person betreffen, wie etwa Kindschafts-, Kranken· oder Fürsorgeakten, stehen dem mitunter Interessen der Allgemeinheit oder auch der Schutz anderer Personen gegenüber, so daß auch deren Zustimmung erforderlich sein kann. Bei der Entscheidung ist auf ein „faires Gleichgewicht" zwischen den betroffenen Interessen zu achten 71 . In solchen komplexen Lagen ist es nach Ansicht des E G M R für die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht unerläßlich, daß die Betroffenen die Entscheidung einer unabhängigen Stelle herbeiführen können; so etwa auch bei Verweigerung der Auskunft durch die aktenführende Behörde 72 .

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Odievre/F (NJW 2003 2147). Zu der strittigen Frage vgl. Rdn. 7a. Vgl. Lux- Wessener EuGRZ 2003 555, 556. E G M R 13.6.1979 Marekx/Belg (EuGRZ 1979 454); 9.19.1979 Airey/Irl (EuGRZ 1979 626); 26.6. 1985 X, Y/Ndl (EuGRZ 1985 297); EKMR 1979 566 (van Oosterwijk); Frowein! Peukert 2; einschränkend livers EuGRZ 1984 284 (keine Akte der Nichtachtung), a. A Guradze 4. E G M R 26.5.1994 Keegan/Irl (EuGRZ 1995 13); Mayer-Ladewig 2. EGMR 13.6. 1979 Marckx/B (EuGRZ 1979 454); EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1988 45. EGMR 22.10.1996 Stubbings u.a./GB (ÖJZ 1997 436).

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6S

Nowak 7. ® Etwa 24.2.1995 McMichael/GB (ÖJZ 1995 704); 25.9.1996 Buckley/GB (ÖJZ 1997 313); 11.7.2000 Ciliz/D (NVwZ 2001 547); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); vgl. nachf. Fußn. 70 EGMR 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 13.7. 2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 17.2.2002 Venema/Ö (ÖJZ 2004 375); Grabenwarter § 22, 45; IntKommEMRK- WildhaberlBreilenmoser 396 ff; Meyer-Ladewig 29, 43 je mit weit. Nachw.; ferner Rdn. 32. 71 EGMR 7.7.1989 Gaskin/GB (Series A 160); 24.9. 2002 Μ G/GB (ÖJZ 2004 65). 11 EGMR 7.7.1989 Gaskin/GB (Series A 160); 24.9. 2002 Μ G/GB (ÖJZ 2004 65).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für staatliche Regelungen und Eingriffe in den geschützten Bereich 11

1. Rechtsbindung der Eingriffe. Wie bei den innerstaatlichen Grundrechten 7 3 schließt die Privatbezogenheit eines Vorgangs eine staatliche Regelung und Eingriffe des Staates nicht grundsätzlich aus. Erforderlich ist jedoch, daß eine hinreichend klare vorherige Regelung des nationalen Rechts dies zuläßt. Für Eingriffe der öffentlichen Gewalt in den Privatbereich fordern Art. 8 M R K und Art. 17 IPBPR ein Gesetz im materiellen Sinn74. Die Regelung muß dem Bürger zugänglich und so hinreichend bestimmt sein, daß Willkür ausgeschlossen und zumindest in den Grundzügen vorhersehbar ist, in welchen Fällen ein staatlicher Eingriff in Frage kommen kann 7 5 . Nicht erforderlich ist, daß es sich um ein (Parlaments)Gesetz im formellen Sinn handelt, es genügt jeder von einer dafür zuständigen nationalen Stelle erlassene Rechtssatz 76 . Die materiellen Voraussetzungen eines Eingriffs und das dabei einzuhaltende Verfahren müssen in der Regel bereichsspezifisch genügend konkret festgelegt sein 77 , damit sie für den einzelnen vorhersehbar und berechenbar sind; dadurch soll den Erfordernissen der Rechtssicherheit genügt, jeder Willkür staatlicher Organe entgegengewirkt und eine Nachprüfung ihrer Entscheidungen erleichtert werden 78 . Dies setzt voraus, daß die Regelung allgemein bekanntgemacht worden ist, etwa durch ihre Veröffentlichung 79 oder daß sie dem Betroffenen sonst zugänglich 80 ist. Nicht veröffentlichte und nur intern an die jeweilige Behörde gerichtete VerwaltungsVorschriften genügen dieser Anforderung nicht 81 . Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit hängt dabei vom jeweiligen Gegenstand der Regelung, ihren Adressaten und und ihrem sonstigen Anwendungsbereich ab 82 ; die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe kann der Rechtsprechung überlassen werden. Wird der Eingriff in das Ermessen einer Behörde gestellt, muß dessen Ausübung nach Ziel und Anwendungsbereich so eingegrenzt werden, daß eine objektive Nachprüfung möglich und ein Mindestmaß an Rechtschutz für den Betroffenen gesichert bleibt 83 . Der Abwehranspruch gegen rechtswidrige und willkürliche Eingriffe öffentlicher Stellen darf nicht daran scheitern, daß der handelnden Stelle ein unbegrenztes Ermessen eingeräumt ist. Daß sie gene-

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Vgl. etwa Art. 2, 5 Abs. 2, Art. 6, 7, 10, 13 GG. EGMR 24.4.1990 Kruslin u.a./F (ÖJZ 1990 564); vgl. Rdn. 11. Zur sachlichen Übereinstimmung der Schrankenformulierung („prescibed by law", „prevues par la loi") mit der des Art. 10 (..in accordance with the law", „prevues par la loi") vgl. IntKommEMRK-Wildhaberl Breitenmoser 533. EGMR 20.2.1999 Rekvenyi/Utig. (NVwZ 2000 421 allgemein gehaltene Verfassungsbestimmung ausreichend); 25.9.2001 Ρ G, J H/GB (ÖJZ 2002 911); Meyer-Ludewig 38 ff. Wegen weiterer Einzelheiten vgl. Rdn. 11. Zur Entwicklung eines autonomen, vom nationalen Recht unabhängigen materiellen GesetzesbegrifTs vgl. TntKommEMRK-Wildhaberl Breitmoser 538 ff. E K M R EuGRZ 1990 167 (Abhören von Telefongesprächen), BVerfGE 100 313, 359 ff; BVerfG NJW 2003 2733; 2004 2213, hinsichtlich des Umfangs der Konkretisierungspflicht wird auf die bei Eingriffen nach Art. 10 MRK zu beachtenden Grundsätze verwiesen; vgl. auch östr.VfGH EuGRZ 1986 190 mit Anm. Treuer; BGH M D R 1991 885; Kombach JZ 1991 78.

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EGMR 20.5.1999 Rekvenyi/Ung (NVwZ 2000 421); TntKommEMRK-H/i7i/Ärt/)er/Äretenmo.sei'555ff; Meyer-Ladewig 38; vgl. Art. 10 Rdn. 17. 79 IntKommEMRK-Wildhaher/Breilenmoser 558. » E G M R 25.3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147: Gefängnisordnung). Vgl. ferner E K M R bei IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 557; Froweinl Peukert 4 (unveröffentlichte Verwaltungsanordnungen genügen nicht, da keine Rechtsvorschriften). 81 E G M R 25.3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 24.11.1986 Gillow/GB (Series A 109); 30.3.1989 Chappel/GB (Series A 152 A); IntKommEMRKWildhaberlBreitenmoser 557, 558. 8 - EGMR 20.9.1995 Vogt/D (NJW 1996 375); vgl. 25.8.1993 Chorherr/Ö (EuGRZ 1991 203 „Erregung öffentlichen Ärgernisses" reicht); Meyer-Laden /if 36; wegen weiterer Beispiele auch für unzureichende Bestimmtheit vgl. Art. 10 Rdn. 17. 83 Etwa EGMR 25.3.1992 Campbell /GB (ÖJZ 1992 595); Meyer-Ladewig 36, 38, 40 mit weit. Nachw.; ferner etwa BVerfGE 83 130, 145; BVerfG NJW 2004 2213, 2216.

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

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relle und auslegungsbedürftige Begriffe enthält, die auch veränderten Umständen Rechnung tragen sollen und die erst durch die Rechtsprechung Konturen erhalten, schließt nicht aus, daß sie dem Erfordernis der Bestimmtheit noch genügt. Für den Ausschluß der Willkür reicht es, wenn der einzelne - gegebenenfalls nach Einholung fachkundigen Rats - ihren Inhalt und ihre Tragweite erkennen kann 8 4 . Dies gilt auch für Vorschriften, die der Behörde einen gewissen Ermessensspielraum einräumen, sofern Gegenstand, Zweck und Ausmaß der Ermessensausübung genügend eingegrenzt sind 85 . In Bereichen, in denen allerdings die Gefahr unkontrollierter und willkürlicher Eingriffe besonders groß ist, wie etwa bei der geheimen Telefonüberwachung, muß die Regelung die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs, seinen Umfang , für den Umgang mit den daraus gewonnenen Daten sowie auch etwa erforderliche Kontrollmaßnahmen genau festlegen 86 . Nur wenn das nationale Recht diese Eingriffsvoraussetzungen ausreichend festgelegt hat und wenn diese im konkreten Fall auch eingehalten werden, ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und deshalb zulässig, sofern auch seine anderen Voraussetzungen gegeben sind; der Eingriff also unter dem Blickwinkel einer demokratischen Gesellschaft zur Verfolgung eines legitimen Zieles im Sinne des Art. 8 Abs. 2 M R K notwendig und verhältnismäßig ist 86a . Die Eingriffe sind auf die Fälle beschränkt, in denen sie im Interesse übergeordneter Rechtsgüter „notwendig" sind; dies ist mehr als nur „zweckmäßig" oder „wünschenswert" oder „nützlich" 87 . Der Umfang des jeweiligen Schutzes der angeführten Privatbereiche kann nicht aus dessen Umschreibung allein gewonnen werden, sondern immer nur aus einer wertenden Zusammenschau der Bedeutung des jeweiligen Schutzbereiches und der den Eingriff rechtfertigenden Prinzipien im Einzelfall. Im übrigen verfolgen Art. 8 M R K und Art. 17 IPBPR bei Begrenzung der zulässigen Eingriffe unterschiedliche Methoden.

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2. Art. 17 IPBPR enthält - anders als Art. 8 Abs. 2 M R K - keine materiell determinierte Aufzählung der Gründe, die staatliche Eingriffe in die gewährleisteten Privatbereiche rechtfertigen; er begnügt sich mit dem Verbot rechtswidriger oder willkürlicher Eingriffe 88 . Rechtswidrig hat dabei die Bedeutung, daß nur Eingriffe zulässig sind, die im Einklang mit der nationalen Rechtsordnung stehen; daß sie durch ein formelles Gesetz gedeckt werden, ist nicht notwendig 89 . Eingriffe, die nicht durch das jeweilige nationale Recht gedeckt sind, verstoßen ohne Rücksicht auf die Vertretbarkeit ihrer Zielsetzung gegen Art. 17 IPBPR.

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Das neben der Rechtmäßigkeit stehende Willkürverbot hat eine zweifache Bedeutung: Zum einen wendet es sich an die ausführenden staatlichen Stellen, die das nationale Recht frei von Willkür anwenden müssen, zum anderen betrifft es die Rechtsetzung selbst, die vom IPBPR nicht durch Festlegung der Eingriffsziele eingegrenzt wird. Hier folgt aus dem Willkürverbot, daß die Eingriffe nicht durch eine zu unbestimmte Fassung ihrer Voraussetzungen für den Betroffenen unberechenbar werden dürfen; das Ermessen

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EGMR 25.3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); LroweinlPeukert 3; TntKommEMRK -Wildhaber/ Breitenmoser 559 ff. Vgl. E G M R 24.3.1988 Olsson/Sehwed (EuGRZ 1988 591); Erieson/Schwed (Series A 156); Froweinl Peukert 4; IntKomEMRK- WildhaberlBreitenmoser 561, 565, 571. EGMR 2.8.1984 Malone/GB (EuGRZ 1985 17); ähnlich für geheime Unterlagen EGMR 16.2.2000

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Amann/CH (ÖJZ 2001 71); 4.5.2000 Rotar/Rum (ÖJZ 2001 74); ferner für die Briefkontrolle in der Haft Meyer-Ladewig 40 mit weit. Nachw. 86 " Vgl. E G M R 8.4.2003 Μ M/NdL (StV 2004 1). 87 Meyer-Ladewig 42. 88 Nach Nowak 8 bleibt der Schutz des Art. 17 IPBPR deshalb aber nicht wesentlich hinter dem des Art. 8 MRK zurück. 85 Nowak U.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

der Vollzugsorganen muß eingegrenzt und nachprüfbar sein 90 . Außerdem darf bei der Normierung der Tatbestände nicht willkürlich - also unter Mißachtung sachbezogener Gesichtspunkte oder in unzulässiger Diskriminierung bestimmter Personengruppen verfahren werden 91 . 15

Dem nationalen Recht entsprechende Einzelmaßnahmen, die in die Privatsphäre hineinwirken, unterfallen ebenfalls der Willkürkontrolle. Die Behörden dürfen Maßnahmen nur zur Erreichung eines zulässigen Zweckes (vgl. Art. 18 M R K ) in einem diesem angemessenen Ausmaß (Verhältnismäßigkeit) anordnen, sofern ein den Eingriff im konkreten Fall ausreichend rechtfertigender Anlaß besteht 9 2 . Solche Gründe lassen sich im Wege der Interpretationshilfe auch aus den in anderen Artikeln geschützten Werten und den dort materiell festgelegten Eingriffsvoraussetzungen (vgl. Art. 12 Abs. 3, Art. 18 Abs. 3, Art. 19 Abs. 3, Art. 21 Satz 2, Art. 22 Abs. 2 IPBPR) erschließen. Auch auf den Katalog von Art. 8 Abs. 2 M R K kann zurückgegriffen werden 93 . Willkür würde vorliegen, wenn eine Behörde in Wirklichkeit mit der M a ß n a h m e einen anderen als den vorgegebenen Zweck erreichen will, also bei der Anordnung nicht bona fide handelt 9 4 . 3. Die besonderen Schranken des Art. 8 Abs. 2 M R K

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a) Art. 8 Abs. 2 MRK fordert bei staatlichen Eingriffen in den durch Art. 8 Abs. 1 M R K geschützten Bereich ebenfalls die vorherige rechtliche Festlegung und damit auch die allgemeine Vorhersehbarkeit der Voraussetzungen und des Umfangs möglicher Eingriffe. Dies geschieht in der Regel durch hinreichend klare und bestimmte geschriebene Rechtsnormen 9 5 , auch ein (vom Staat abgeleitetes) Satzungsrecht erfüllt diese Voraussetzungen 96 . Eine Festlegung durch das common law 97 und durch ein auf konstanter Rechtsprechung beruhendem Richterrecht 98 wurde ebenfalls als ausreichend angesehen. Zur Ausschluß von Willkür sind nach Art. 8 M R K an Rechtssetzung und Vollzug die gleichen Anforderungen zu stellen wie nach Art. 17 IPBPR (vgl. Rdn. 15). Der staatliche Handlungsraum wird aber bei Art. 8 M R K darüber hinaus dadurch weiter eingegrenzt, daß der Eingriff zusätzlich nur zu einem der in Absatz 2 aufgeführten sachlichen Zwecke zulässig ist und daß er auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein muß.

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b) Die zulässigen Eingriffszwecke zählt Art. 8 Abs. 2 M R K abschließend auf 99 . Zu anderen Zwecken ist ein Eingriff in die durch Art. 8 Abs. 1 geschützten Rechte nicht zulässig (Art. 18 MRK) 1 0 0 . Die einzelnen Katalogfälle sind jedoch weit gespannt, da zu ihrer Umschreibung unbestimmte Rechtsbegriffe wie „öffentliche Ordnung", „Sicher-

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Vgl. R d n . 11. Vgl. U N - A M R E u G R Z 1981 39 (maurizische Frauen); dazu Nowak 14. Vgl. E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 121; Nowak 12 ft"; ähnlich f ü r das innerstaatliche Recht etwa BVerfG N J W 1991 690. Nowak 13. Vgl. R d n . 21. Vgl. BVerfGE 100 313, 359 ff; BVerfG N J W 2004 2213; sowie bei R d n 11; ferner etwa FrowemlPeukert Vorbem. zu Art. 8 bis 11, 2. Vgl. E G M R 25.3.1985 Barthold/D ( E u G R Z 1985 170: Berufsordnung). Vgl. E G M R 26.4.1979 Sunday Times/GB ( E u G R Z 1979 386), 22.10.1981 D u d g e o n / G B ( E u G R Z 1983 488); 2.8.1994 M a l o n e / G B ( E u G R Z 1985 17); 30.3. 1989 Chappel/GB (Series A 152 Α) Fruweinl

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11111

Peukert Vorbem. zu Art. 8 bis 11, 2 ff, I n t K o m m E M R K - WildhaberlBreilenmoser 542 ff. F ü r das Richterrecht des franz. Kassationshofs E G M R 24.4.1990 Kruslin u . a . / F (ÖJZ 1990 564); 24.4.1990 Huvig/F (Series A 176 Β), kritisch dazu JntKommEMRK-IVildhaber/Breitenmoser 542 ff, allerdings mit dem Hinweis (Rdn. 550), d a ß nur solches Richterrecht Rechtsgrundlage sein kann, dessen Existenz u n d Tragweite durch eine konstante Rechtsprechung allgemein verwurzelt ist. Vgl. etwa E G M R 21.2.1975 G o l d e r / G B ( E u G R Z 1975 91): Froweinl Peukert Vorbem. zu Art. 8 bis 11, Rdn. 11; Meyer-Ladewig 37, 41. IntKomEMRiL-Wildhaberl Brei iemnoser 588; ferner zur Ablehnung „immanenter" oder „stillschweigender" zusätzlicher Schranken 579.

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heit" usw. verwendet werden. Dies eröffnet den Staaten einen weiten Beurteilungsspielraum für Regelungen, der aber durch das zusätzliche Erfordernis der Notwendigkeit der jeweiligen Regelung in einer demokratischen Gesellschaft eingegrenzt wird 101 . Die einen Eingriff zulassenden Regelungsziele werden alternativ aufgeführt. Es genügt, wenn eines der angeführten Ziele den Eingriff rechtfertigt. Mitunter werden dies jedoch mehrere dieser Regelungszwecke tun, denn die Aufzählungen decken und überschneiden sich zum Teil102. Sie sind mehr nach ihrer Zielsetzung als nach dem Wortlaut auszulegen 103 . Ob eine staatliche M a ß n a h m e von einem der aufgeführten Eingriffszwecke gerechtfertigt wird, muß auf Grund der Sachlage und des Kenntnisstandes der handelnden Stelle im Zeitpunkt des Eingriffs beurteilt werden, ex ante und nicht ex post 104 . Eingriffsregelungen sind nach Art. 8 Abs. 2 M R K zulässig im Interesse der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, des wirtschaftlichen Wohls des Landes, der Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhütung von Straftaten 105 , zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer. Damit werden weitgehend alle Maßnahmen gedeckt, die in den modernen demokratischen Staaten das öffentliche Leben und die Teilhabe des einzelnen daran regeln und vor Gefahren schützen. Im Gegensatz zur Verhütung von Straftaten wird die Strafverfolgung nicht besonders erwähnt. Sie wird meist entweder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zugerechnet 106 oder aber der Verhütung von Straftaten, da Strafverfolgungsmaßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Prävention auch diesem Zwecke dienen 107 . Sie dient aber auch dem Schutz der „öffentlichen Sicherheit („public safety", „surete publique") 108 und kann zusätzlich noch durch andere Schutzzwecke gerechtfertigt sein.

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Die Interessen der nationalen Sicherheit können auch schwerwiegende Einschränkungen der Konventionsrechte rechtfertigen; erforderlich ist in solchen Fällen jedoch eine schwerwiegende Bedrohung des Staates und seiner Einrichtungen, die allerdings nicht soweit gehen muß, daß die Voraussetzungen vorliegen, unter denen der bedrohte Staat den Art. 8 M R K auf Grund der Notstandsklausel des Art. 15 M R K außer Kraft setzen könnte 109 . Mit den Hinweisen auf die nationale Sicherheit wurden Maßnahmen zur Bekämpfung staatsgefährdender Bestrebungen gerechtfertigt 110 . In den meisten Fällen werden Eingriffe im polizeilichen Bereich aber auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit oder die Aufrechterhaltung der Ordnung gestützt, der zusammen mit der als weiteres Ziel genannten Verhütung von Straftaten dem Staat einen weiten Regelungsbereich eröffnet und der auch, gleichgültig wo man sie zuordnet, die Verfolgung von Straftaten mit einschließt 111 . Die Grenzen werden auch hier nicht so sehr durch den abstrakten Rege-

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Vgl. unten Rdn. 20, 21. Der E G M R begnügt sich dann meist unter Verzicht auf Abgrenzungen auf die Herausstellung eines den Eingriff rechtfertigenden Zieles, vgl. etwa EGMR 6.9. 1978 Klass/D (EuGRZ 1979 278); 22.10. 1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); FroweinlPeukert 13; IntiLomEMRiL-WildhaberlBreitemno.ier 591 ff mit weit. Nachw. Vgl. den etwas anders gefaßten Katalog zulässiger Einschränkungen in Art. 9 des Europäischen Datenschutzübereinkommens, oben Rdn. 4. Etwa EGMR 29.1.1997 Bouchelkia/F (ÖJZ 1998 116); 25.2.1997 Z/Finnl. (ÖJZ 1998 152). Hier besteht ein Textunterschied la defense de l'ordre et ä la prevention des infractions penales" bzw „for de prevention of disorder or crime" aus dem bisher keine Schlußfolgerungen gezogen wurden, vgl. Rdn. 18a.

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IntKomEMRK-Wildhaber/Breilenmoser 620 ff vgl. aber ferner 621 mit Angabe der umfangreichen Rechtsprechung, wo Maßnahmen der Strafverfolgung der Verhinderung strafbarer Handlung zugerechnet werden. 107 Vgl. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 18 (Gefahr der Bestrafung bei Besuch der Mutter); ferner Frowein/Peukerl 28; 30 (Wohnungsdurchsuchung). 1,18 Die frühere deutsche Übersetzung verwendete dafür den weniger zutreffenden Begriff' „Öffentliche Ruhe und Ordnung", vgl. IntKomEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 601 ff". llB IntYjjmmEMRiL-WildhaberlBreilenmoser 598. "» Vgl. etwa EGMR 6.9.1978 Klass u.a./D (NJW 1979 1755); 26.3.1987 Leander/Schwed (Series A 116); IntKommEMRK-WildhaberlBreitenmoser 598 mit weit. Nachw. 111 Vgl. oben Rdn. 18.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

lungszweck sondern dadurch gezogen, daß alle Regelungen die Voraussetzungen der Demokratieüblichkeit und Notwendigkeit erfüllen müssen und daß die Verhältnismäßigkeit des jeweiligen Eingriffs gewahrt werden muß. 18b

Bei den Maßregeln im Interesse des wirtschaftlichen Wohls des Landes wurde ursprünglich vor allem an die Devisenkontrolle und die Wohnraumbewirtschaftung 1 1 2 gedacht 113 , es dürften dadurch aber alle Maßregeln zur Sicherung der Wirtschaftsordnung erfaßt werden. Auch die Begründung strafbewehrter Mitwirkungspflichten bei einer obligatorischen Volkszählung 114 fällt hierunter.

18c

Der Regelungszweck Schutz der Gesundheit wird weit verstanden. Er umfaßt sowohl das psychische und physische Wohlbefinden einzelner Personen oder Personengruppen als auch die öffentliche Gesundheit als Ganzes 115 . Er rechtfertigt vor allem Maßnahmen, die im Interesse der Allgemeinheit zur Bekämpfung von Krankheiten notwendig sind 116 oder die allgemein Gesundheitsschäden vorbeugen sollen. Auch die Beschlagnahme ärztlicher Unterlagen und die Aussagen der Ärzte über die HIV-Infektion eines Angeklagten in einem Strafverfahren werden dadurch gerechtfertigt, nicht aber, daß die Akten darüber mit allen Unterlagen nach zehn Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen 117 . Gedeckt werden aber auch Maßnahmen, die im Interesse der physischen oder psychischen Gesundheit eines einzelnen notwendig sind, wie etwa die Unterbringung eines Kindes entgegen dem Willen der Eltern 118 oder die Vorführung einer Person im Verfahren zur Bestellung eines Pflegers 119 .

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Welche Maßnahmen zum Schutz der Moral getroffen werden dürfen, kann nicht generell gesagt werden. Die Auffassungen in den Vertragsstaaten sind dafür zu unterschiedlich 120 . Ähnlich wie beim Sittengesetz in Art. 2 Abs. 1 G G ist bei der Auslegung auf die allgemein anerkannten Moralvorstellungen in der jeweiligen nationalen Gesellschaft zurückzugreifen 121 . Die einzelnen Staaten haben hier einen weiten Beurteilungsspielraum. Eingriffe in höchst intime Bereiche des Privatlebens ohne unmittelbaren Öffentlichkeitsbezug bedürfen jedoch schwerwiegender Gründe, um sie zu legitimieren 122 .

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Zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer können die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 M R K ebenfalls eingeschränkt werden 123 . Dies trägt dem Grundsatz Rechnung, daß die Rechte des einzelnen notwendig durch die gleichen Rechte der anderen begrenzt werden 124 und der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht mitunter eingreifen muß, wenn die Konventionsgarantien durch Dritte gefährdet werden. So können auch Belange des Kin-

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FroweinlPeukerl 32 m. weit. Hinw. (ruradze 3. EKMR EuGRZ 1983 410. TntKomEMRK- WildhaberlBreitenmuser 632. IntKomEMRK- WildhaberlBreit enmoser 64; 637. Vgl. die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung aus diesem Grund nach Art. 5 Abs. 1 Buchst, e M R K . EGMR 25.2. 1997 Z/Finnl. (ÖJZ 1998 152). TntKomEMRK- Wildhaberl Breitenmuser 638; vgl. aber auch EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 18, bei Sirasser EuGRZ 1985 522; 523, wo die Interessen des Kindes als dem Recht der Eltern vorrangiges „Recht eines anderen" gewertet werden. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 18 (auch für Vermögensverwaltung). TntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 640; vgl. auch nachf. Fußn.

121

E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); krit. dazu Ermacora EuGRZ 1977 363 (Übernahme des innerstaatlichen Moralbegriffes statt Entwicklung eines Europäischen Standards); vgl. auch E G M R 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); 24.5.1988 Müller u.a./CH (EuGRZ 1988 543); ferner UN-AMR EuGRZ 1983 342 (kein weltweit geltender gemeinsamer Maßstab); vgl. Art. 10 MRK Rdn. 27.

122

EGMR 26.10. 1988 Norris/Trl (ÖJZ 1989 629). -' Zur nachtraglichen Einfügung dieses Einschränkungsgrundes vgl. IntKommEMRK- Wildhüberl Breitenmoser 640. 124 EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 19 (Räumung eines unbefugt bewohnten Hauses); vgl. TntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 650. 12

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Art.

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deswohls dem Recht der Eltern auf gelebte Familienbeziehungen vorgehen 125 . Die vorgegebenen (immanenten) Schranken des Privatbereichs erfordern immer eine Rechtsgüterabwägung im Einzelfall 126 . Auch sonst können M a ß n a h m e n , die z u m Schutze oder der Durchsetzung des Rechtes oder der Freiheiten anderer notwendig sind, bei W a h r u n g des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Beschränkungen u n d Eingriffe in den Privatbereich rechtfertigen 1 2 7 . Meist werden aber daneben kummulativ auch weitere Eingriffsgründe angeführt, wie etwa die Verhinderung strafbarer Handlungen oder der Schutz der Gesundheit und der M o r a l oder das wirtsschaftliche Wohl des Landes 1 2 8 . c) In einer demokratischen Gesellschaft notwendig m u ß jede Regelung oder A n o r d nung sein, mit der einer oder mehrere der zulässigen Zwecke verfolgt werden soll. Sie m u ß also aus der Sicht eines demokratischen Staatsbildes einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen. Es genügt nicht, wenn sie aus der Sicht einer demokratischen Gesellschaft nur nützlich oder zweckmäßig erscheint. Die Notwendigkeit des Eingriffs folgt nicht schon daraus, d a ß mit ihm ein zulässiges Ziel im Sinne das Art. 8 Abs. 2 M R K verfolgt wird. Die Notwendigkeit des Eingriffs für den konkreten Zweck ist aus der Sicht der Werte einer demokratischen Gesellschaftsordnung zu beurteilen. Sie ist also nicht an dem M a ß s t a b einer abstrakten Staatsraison zu messen, die vom absoluten Vorrang des Staates u n d seiner Ziele bestimmt wird, sondern an einem Staatsverständnis, das vom Leitbild einer f ü r die Meinungsvielfalt offenen, pluralistischen Demokratie geprägt ist, in der das Verhältnis zwischen Staat u n d Bürger von typischen, Staatsmacht und Staatszwecke begrenzenden Wertvorstellungen, wie Toleranz, Pluralismus der Meinungen, Volkssouveränität, Rechtsstaatsprinzip (rule of law) 129 u n d Anerkennung der Grundrechte u n d insbesondere von dem G r u n d s a t z der Verhältnismäßigkeit beherrscht wird 130 . Dies schließt nicht aus, besondere zeitbedingte Umstände, wie etwa die Erfordernisse der Terrorismusbekämpfung, mitzuberücksichtigen 1 3 1 . Als Indiz für die Demokratie-Üblichkeit wird dabei gewertet, d a ß auch eine Reihe anderer Mitgliedstaaten in ihrer Rechtsordnung gleichartige M a ß n a h m e n zulassen.

20

Der Beurteilungsspielraum, der die einzelnen Staaten auch insoweit haben, wird hin- 21 sichtlich der Wahl der M a ß n a h m e n , die sie im Interesse eines der in Art. 8 Abs. 2 aufgeführten Zweckes treffen wollen, unterschiedlich weit bemessen. Maßgebend d a f ü r ist eine wägende Gesamtschau, bei der die Art des Eingriffs, die besonderen U m s t ä n d e des Einzelfalls und das Gewicht der kollidierenden Interessen 1 3 2 ebenso zu berücksichtigen sind wie die Auswirkung der konkreten M a ß n a h m e auf den einzelnen u n d die Bedeutung des vom Eingriff betroffenen Rechts in einer demokratischen Gesellschaft.

125

126

Vgl. etwa E G M R 24.3.1988 Olsson/Schwed (EuG R Z 1988 591); sowie nachf. F u ß n . Vgl. etwa E G M R 24.3.1988 Olsson/Schwed ( E u G R Z 1988 591); 30.3.1989 Chappel/GB (Series A 152 A); 7.7.1989 Gaskin/GB (Series A 160); IntK o m m E M R K - WildhuberlBreilenmoser 650 u n d die weiteren Beispiele 652 ff.

127

E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1983 18 (Vermutung, d a ß N o t a r geisteskrank, wenn er ärztliche Untersuchung verweigert, die wegen seiner f ü r die Allgemeinheit wichtigen F u n k t i o n zum Schutze Dritter erforderlich).

128

Vgl. etwa E G M R 24.3.1988 Olsson/Schwed ( E u G R Z 1988 591); IntKommEMRK-lFi/tf/irt/ier/ Breitenmoser 646 mit weit. Nachw. sowie nachf. Fußn.

(459)

129

130

1.1 1.2

Etwa E G M R 7.12.1976 Handyside/GB ( E u G R Z 1973 38); 13.8. 1981 Young u.a./GB ( E u G R Z 1981 559); vgl. ferner 8.7.1987 W / G B ( E u G R Z 1990 533). Vgl. etwa E G M R 18.2.1991 Moustaquim/Belg (ÖJZ 1991 452); 29.4.1999 Chassagnou/F ( N J W 1999 3695); Meyer-Ladewig 42. Auch eine der Schwere des Eingriffs entsprechende Einbeziehung der Betroffenen in den Entscheidungsprozeß durch A n h ö r u n g u n d Information k a n n dazu gehören, vgl. E G M R 8.7.1987 W / G B ( E u G R Z 1990 533). E K M R E u G R Z 1983 430 (MCVeigh u. a.). Etwa E G M R 7.8.1996 Johansen/Norw ( Ö J Z 1997 75); 29.9. 1996 Buckley/GB ( Ö J Z 1997313).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Grundsätzlich wird die Freiheit des Staates, selbst zu entscheiden, welche M a ß n a h m e im jeweiligen Fall zweckmäßig ist, vom Gerichtshof anerkannt 1 3 3 . Dieser hat wiederholt hervorgehoben, daß die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts Sache der innerstaatlichen Behörde und Gerichte ist. Er sieht es nicht als seine Aufgabe an, Gesetze abstrakt nachzuprüfen oder seine eigene Auffassung über die Zweckmäßigkeit einer innerstaatlichen Maßnahme oder über die damit von dem jeweiligen Staat verfolgte Politik an die Stelle der Auffassung der nationalen Behörden zu setzen, zumal diese unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten, Bedürfnisse und Traditionen darüber sachnäher entscheiden können 134 . Er behält sich aber die einzelfallbezogene Kontrolle darüber vor, ob eine konkrete Maßnahme in einem demokratischen Staate wirklich notwendig ist und die dafür angeführten Gründe stichhaltig und ausreichend sind 135 . Dabei wird vorausgesetzt, daß die Staaten bei Erlaß der einschlägigen Regelungen und bei Anordnung eines Eingriffs „vernünftig, sorgfältig und in gutem Glauben" handeln 136 und daß ihre Entscheidungen nicht von Gesichspunkten beeinflußt sind, die eine unzulässige Diskriminierung bedeuten 137 . Die Maßnahmen dürfen im Einzelfall 138 den Wesensgehalt des verbürgten Privatbereiches nicht aushebeln 139 ; vor allem müssen sie gegenüber dem mit ihnen verfolgten legitimen Zweck verhältnismäßig sein 140 . Es muß ein faires Gleichgewicht zwischen den kollidierenden Interessen bestehen. So wird etwa der Anspruch des Betroffenen auf Achtung seines Privat- und Familienlebens abgewogen mit den Interessen anderer Personen, vor allem mit dem Wohl betroffener Kinder 1 4 1 oder dem Interesse des einzelnen am Schutz seiner Wohnung und den Landschafts- und Bauplanungen öffentlicher Stellen 142 oder den Interessen der Gemeinschaft an der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung strafbarer Handlungen 1 4 3 . Soweit bei der Gewichtung der kollidierenden Interessen auch Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen sind, die in der Person eines Betroffenen liegen, ist dieser nach Möglichkeit in angemessener Form in den Entscheidungsprozeß miteinzubeziehen und zu den beabsichtigten Maßnahmen und den vorliegenden Beweismitteln zu hören. Die für die Feststellung eines fairen Gleichgewichts notwendige Abwägung erfordert grundsätzlich, daß der Betroffene vorher eine ausreichende Möglichkeit hatte, auch selbst seine Belange geltend zu machen, damit sie bei der erforderlichen Abwägung angemessen berücksichtigt werden können, diese also das Ergebnis eines fairen Verfahrens 144 ist.

135

134

135 136

137

138

139

Etwa E G M R 6.9.1978 Klass ua/D (EuGRZ 1979 278); ferner etwa E G M R 7.12.1996 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); Froweinl Peukert 14. Vgl. EGMR 26.3.1987 Leander/Schwed (Series A 116); 29.9.1996 Buckley/GB (ÖJZ 1997 313). Meyer-Ladewig 44. Vgl. etwa E G M R 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1981 121; Froweinl Peukert Vorbem. zu Art. 8 bis 11 Rdn. 15; Meyer-Ladewig 45; ferner UN-AMR EuGRZ 1981 394. Vgl. etwa E G M R 23.6.1993 Hoffmann/Ö (EuGRZ 1996 648: Religionszugehörigkeit). Vgl. etwa E K M R bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 560 (keine allgemeine Aussage über Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Maßnahmen bei Kontrolle der Gefangenenpost). Froweinl Peukert Vorbem. zu Art. 8 bis 11 Rdn. 15.

1411

141

142

145

144

Vgl. E G M R 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 448); 25.3.1985 Barthold/D (1985 174); 26.10.1988 Norris /Irl. (1992 447). Etwa EGMR 26.6.1994 Keegan/Trl (EuGRZ 1995 113); 7. 8.1996 Johansen/Norw (ÖJZ 1997 75). Etwa E G M R 29.9.1996 Buekley/GB (ÖJZ 1997 313: stationärer Wohnwagen); Meyer-Ladewig, 33. E G M R 26.3.1992 Beldjoudo/F (EuGRZ 1993 556); 29.1.1997 Bouchelkia/F (ÖJZ 1998 116); 25.9. 2001 Ρ G, J H/GB (ÖJZ 2002 911); 28.1.2003 Peck/ GB (ÖJZ 2004 651) mit weit. Nachw. Etwa 8.7.1987 W.K/GB (EuGRZ 1990 533); 26.5. 1994 Keegan/lrl (EuGRZ 1995 113); 24.2.1995 McMichael/GB (ÖJZ 1995 704); 25.9.1996 Buckley/GB (ÖJZ 1997 313); 11.7.2000 Ciliz/D (NJW 2001 547); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 17.12.2002 (ÖJZ 2004 275); Grabenwarter § 22, 45; Meyer-Ladewig 29, 43; vgl. Rdn. 32a.

Stand: 1.10.2004

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R e c h t a u f A c h t u n g des Privat- u n d F a m i l i e n l e b e n s

Art. 17IPBPR

III. Die geschützten Bereiche 1. Privatleben a) Der Begriff des Privatlebens, den beide Konventionen nicht näher bestimmen, 2 2 entzieht sich weitgehend einer begrifflichen Abgrenzung 145 . Er umfaßt das Recht auf persönliche Entwicklung und auf physische und moralische Sicherheit14511. Dies umschließt die körperliche, geistige und seelische Befindlichkeit der Person 146 , alle ihre Individualität kennzeichnenden Befugnisse, wie ihr Recht auf einen Namen 1 4 7 oder ihr Recht am eigenen Bild 148 , ferner den gesamten Bereich der individuellen und autonomen Lebensgestaltung des einzelnen mit all seinen Handlungen, Unterlassungen aber auch seine Beziehungen zu anderen Personen einschließlich des Sexualverhaltens, soweit dabei die Grenzen des Privaten nicht verlassen werden 149 . Der Bereich des Nichtöffentlichen darf nicht eng ausgelegt werden 150 . Dazu gehört das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, vor allem dort, wo Rechte Dritter nicht berührt sind 151 ; dies schließt selbst das Recht ein, in einer Gefängniszelle nicht heimlich abgehört oder durch verdeckte Videoaufnahmen erfaßt zu werden 152 . Zum Bereich des Nichtöffentlichen gehört aber auch die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen Menschen anzuknüpfen und zu unterhalten 153 , sich mit ihnen auch außerhalb der Wohnung im öffentlichen R a u m zu treffen, Lokale zu besuchen oder sonst etwas gemeinsam zu unternehmen. Privatleben umfaßt letztlich, negativ abgegrenzt, alles, was nicht der Teilnahme am Leben der Gemeinschaft und dem dazu gehörenden allgemeinen Umgang mit anderen Personen zuzurechnen ist 154 . Das Privatleben schließt zumindest in wesentlichen Teilen auch die als Schutzgut besonders erwähnten Bereiche der Familie, der Wohnung und der Kommunikation mit anderen Personen mit ein, es geht aber darüber hinaus 155 . Eine erschöpfende abstrakte Abgrenzung des geschützten Bereiches erscheint wegen der sich mit den Verhältnissen und Anschauungen ändernden Grenzen des staatsfreien Raumes und wegen der vor allem in den Randbereichen auftretenden Zweifels- und Wertungsfragen kaum erfolgversprechend 156 . Sie würde bei der Beurteilung der konkreten Fälle kaum weiterführen, da diese sich meist nur im Zusammenhang mit der Frage nach der Zulässigkeit staatlicher Eingriffe bzw. der Verletzung des staatlichen Schutz- und Achtungsanspruchs stellt. Abge-

145

Etwa EGMR 25.9.2001 Ρ G & J H/GB (ÖJZ 2002 913). Zu den Schwierigkeiten einer allgemeingültigen Begriffsbestimmung und zum pragmatischen Vorgehen vgl. TntKommEMRK-Wildhaberl Breitenmoser 96 ff. I45 · EGMR 12.3.2003 Kück/D (NJW 2004 2505 Transsexualität). Weitere Beispiele Rdn. 23. 146 E G M R 26.3.1985 Χ,Υ/Ndl (EuGRZ 1985 297); 15.3.1993 Costello-Roberts/GB (ÖJZ 1993 707); 22.2.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559); EKMR ÖJZ 1993 320 (Friedl/Ö); östr. VfGH EuGRZ 1990 162; livers EuGRZ 1984 283, Meyer-Ladewig 5. 147 Art. 24 Abs. 2, 3 IPBPR bestätigen das für die eigene Identität wichtige Recht auf einen Namen, wenn sie ausdrücklich das Recht jedes Kindes unverzüglich nach der Geburt einen Namen zu erhalten und registriert zu werden sowie sein Recht auf den Erwerb einer Staatsangehörigkeit ausdrücklich garantieren. Vgl. auch Rdn. 25. 148 E G M R 24.6.2004 Caroline v. Hannover/D (NJW 2004 2647). (461)

149

IntKommEMRK- Wildhaber/Breitenmoser 124 ff; ferner 143, 152 ff (in der Öffentlichkeit angebotene Prostitution); Meyer-Ladewig 3; vgl. ferner die Entscheidungen des EGMR Rdn. 24. 15(1 EGMR 16.2.2000 Amann/CH (ECHR 2000 TT); 4. 5.2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74). 151 Nowak 15. 152 E G M R 5.11.1001 Allan/GB (JR 2004 127, dazu Esser JR 2004 98 = StV 2003 257 mit Anm. Gaede). 153 Vgl. etwa EKMR EuGRZ 1979 566 (van Oosterwijk). 154 livers EuGRZ 1984 284 („Abzugsverfahren"). 155 Vgl. etwa EKMR bei Strasser EuGRZ 1985 511 (Recht auf Eösung der Familienbande; Ehelichkeitsanfechtung). 1?f ' EKMR und EGMR definieren sie nicht erschöpfend. Vgl. EKMR EuGRZ 1980 170 (X/Belg); zu den einzelnen Abgenzungsversuchen TntKommEGMK-WiidhaberlBreitenmoser 96 ff.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

sehen von dem nur selten berührten, für den Staat unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeitssphäre 157 korrespondieren aber die nach Ort, Zeit und Anschauungen in den Randbereichen oszillierenden Grenzen des Privatbereichs auch mit den vom Gesetzgeber vorgesehenen und von Art. 8 Abs. 2 M R K unter den Voraussetzungen der Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Demokratieüblichkeit zugelassenen Eingriffsmöglichkeiten 158 , da diese im Umkehrschluß auch dessen aktuellen R a u m verdeutlichen. 23

b) Zu den vielgestaltigen Erscheinungsformen, in denen sich die private Individualität einer Person ausdrückt und die deshalb dem Privatleben zuzurechnen sind, gehört das Recht auf Identität und der Entwicklung der eigenen Person einschließlich der Kenntnis der dafür wesentlichen Umstände der eigenen Herkunft, wie Geburt und Identität der natürlichen Eltern 159 , ferner das für die persönliche Identifizierung in der Gemeinschaft wichtige Recht auf Vor- und Familiennamen 160 . Mit dem Privatleben wird auch das Recht auf eine selbstgewählte private Lebensführung mit allen dazu gehörenden Tätigkeiten und Konsequenzen in allen Varianten 161 geschützt, so auch der private Umgang mit anderen Personen und das grundsätzliche Recht, das Bild der äußeren Erscheinung, wie Kleidung oder Haartracht, selbst zu bestimmen 162 . Auch die körperliche und seelische Integrität und die geistige Gesundheit gehören dazu 163 . Die Verfügungsmacht über den eigenen Körper schließt die Befugnis ein, sich Gefahren auszusetzen sowie sich für eine ungesunde Lebensweise zu enscheiden, zu rauchen oder zu trinken sowie grundsätzlich auch, sich den Arzt selbst auszuwählen oder auch eine ärztliche Behandlung abzulehnen 164 . Auch die durch Art. 2 M R K nicht eingeschränkte Befugnis, sich auf Grund einer eigenen freien Willensentscheidung selbst zu töten 165 , rechnet dazu. Teil der privaten Lebensführung ist auch das im Gefühlsbereich für die Entwicklung und Erfüllung der eigenen Persönlichkeit wichtige Recht, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen, zu unterhalten und zu beenden 166 , wozu auch das Sexualleben gehört 167 , ferner sich durch Kinder fortzupflanzen 168 , sich dabei auch der Mittel der Fortpflanzungstechnologie zu bedienen 169 oder aber sich gegen eine Fortpflanzung zu entscheiden 170 , ferner auf Anerkennung einer vollzogenen (irreversiblen) Geschlechtsumwandlung mit allen damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen 171 . Die Achtung des Privatlebens kann auch die 157

BVerfG stand. Rspr., etwa BVerfGE 34 245; Schmitt-Gläser in Tsensee/Kirchhoff Handbuch des Staatsrechts. Bd. 5 § 129, 35; ob es einen solchen gibt oder ob nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur die Anforderungen an die Eingriffsvoraussetzungen wachsen, ist strittig, vgl. LR-Gollwitzer §244 StPO 201; Geis JZ 1991 112.

165 166

167

158

Vgl. Rdn. 20 ff. E G M R 7.2.2002 Miculic/Kroatien (Rep 2002-1); 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2145: Geheimhaltung der Personalien der Mutter nach anonymer Geburt); dazu Benda JZ 2003 533; Lux-Wesener EuGRZ 2003 555; Verschruegen ÖJZ 2004 1). ™ Vgl. EGMR 22.2.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559); 25.11.1994 Stjerna/Finnl (Series A 299; Kein Recht auf Namensänderung), 24.10.1996 Guillot/E (ÖJZ 1997 518). Das Recht der Eltern, ihrem Kind einen Vornamen zu geben, kann im Interesse des Kindes zahlenmäßig begrenzt werden (vgl. BVerfG NJW 2004 1586; keine 12 Vornamen). 161 162 165

Vgl. Meyer-Ladewig 3 ff. InÜfLommEMRifL-WildhaberlBreilenmoser 121. E G M R 6.2.2001 Bensaid/GB (Rep 2001-1); 13.2. 2003 Odievre/F (NJW 2003 2145); Meyer-Ladewig 3.

168 169

1711 171

\ntKommEMV3t-WildhaberlBreitenmoser 270 ff, auch zu den Fragen der Sterbehilfe; Nowak 18. IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmo.ier 267 ff. E K M R EuGRZ 1978 199 (Brüggemann); Frowein/ Peukert 4; Nowak 24. Etwa einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen EGMR 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); 26.10. 1988 Norris/Irl (EuGRZ 1992 477); 22.4.1993 Modinos/Zyp (ÖJZ 1993 821); ferner auch 27.9.1999 Smith,Grady/GB (NJW 2000 2089: Entlassung aus der Armee); FroweinlPeukert 4; Meyer-Ladewig 7; Nowak 25. IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 184 ff. Dazu Fahrenhorst EuGRZ 1988 125; IntKommEMRK/ Wildhaberl Breitenmoser 192 ff. IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 189. Unter Hinweis auf die verändernden Anschauungen jetzt E G M R 11.7.2000 Goodwin/GB (NJWRR 2004 289); 12.6.2003 Kück/D (NJW 2004 2505: Kostenerstattung für geschlechtsangleichende Maßnahmen); zurückhaltender früher 22.9.1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173) und 25.3.1992 B/F (ÖJZ 1992 625); Namensänderung, aber keine Verpflichtung des Staates zur Änderung der Eintra-

Stand: 1.10.2004

(462)

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Rücksichtnahme auf die Sitten und Gebräuche einer Minderheit und die Respektierung einer ihr gemäßen Lebensweise erfordern 172 . Die wirksame Achtung des Privatlebens verbietet den Staat aber nicht nur Eingriffe in dieses ohne einen dies rechtfertigenden ausreichenden Grund. Neben den negativen Unterlassungspflichten können sich für ihn unter besonderen Unständen aus der Achtungspflicht auch positive Schutzpflichten ergeben 173 . Die Grenze des eigenen Privatbereichs ist dort überschritten, wo durch dessen Aus- 2 4 leben unbeteiligte Personen unmittelbar beeinträchtigt werden, insbesondere Rechte Dritter verletzt werden, ferner, wo das Verhalten in öffentliche Belange hineinwirkt. Im übrigen darf der Staat in Manifestationen der Individualität nur eingreifen, wenn dies aus einem der in Art. 8 Abs. 2 M R K aufgeführten triftigen Gründe des Gemeinwohls unerläßlich ist, etwa für Zwecke einer erkennungsdienstlichen Behandlung wegen des Verdachts einer Straftat 1 7 4 oder aus hygienischen Gründen 1 7 5 . Der Eingriff, der in einer zwangsweisen Untersuchung, Blutentnahme; Stimmenaufzeichnung für den Stimmenvergleich 176 und dergleichen 177 liegt, ist auf Grund eines Gesetzes im Interesse der Strafverfolgung oder ähnlicher wichtiger Belange im Sinne des Art. 8 Abs. 2 M R K , wie etwa die Vaterschaftsfeststellung 178 zulässig; dies gilt auch für die hierbei oder aus anderem Anlaß gewonnenen Erkenntnisse über körperliche, geistige und seelische Befindlichkeiten 179 . Zu den Eingriffen in die körperliche und geistige Unversehrtheit rechnen auch staatliche Maßnahmen der Heilbehandlung oder Betreuung, wie die Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder die Bestellung eines Pflegers 180 . Aus dem Schutz der Privatheit folgt das Recht, vom Staat in diesem Bereich in Ruhe 2 5 gelassen zu werden. Im Verbot für Gastwirte, Alkohol in der angrenzenden Wohnung aufzubewahren, wurde aber ein durch Art. 8 Abs. 2 M R K gerechtfertigter Eingriff in den Privatbereich gesehen 181 . Ein Eingriff liegt auch im Verlangen von Auskünften über die eigenen Vermögensverhältnisse oder die Verwendung eigener Mittel; eine solche staatliche Maßnahme kann aber durch Art. 8 Abs. 2 M R K gedeckt sein182. Gleiches gilt grundsätzlich auch bei Eingriffen in berufliche oder geschäftliche Aktivitäten 183 , die zum Privatbereich gerechnet werden, soweit sie nicht aus diesem heraus in die Öffentlichkeit treten, wie etwa bei der Werbung. Soweit sich Vorgänge im öffentlichen Raum vollziehen,

gung im Geburtenregister); 30.7.1998 Sheffield; H o r s h a m / G B (ÖJZ 1999 571); E K M R E u G R Z 1979 566 (van Oosterwijk); 1981 127; vgl. ferner E G M R 23.4.1997 X, Y, Z / G B (ÖJZ 1998 271: kein Recht auf Eintragung als Vater eines Kindes nach künstlicher Insemination des Partners); zur Entwicklung der Rechtsprechung Froweinl Peukeri 10; Meyer-Ladewig 8; Peters 157; vgl. ferner Nowak 17; BVerfGE 49 286. 172

173 174

175

E G M R 25.5.2000 N o a c k u . a . / D (NVwZ 2001 307 L: Sorben, Gemeinde Horno); vgl. auch E G M R 18.1.2001 C h a p m a n ua/GB (Reports 2001-T: Wohnwagen von Roma); Meyer-Ladewig 16. Vgl. dazu. R d n . 26, 34. E t w a E G M R 17.12.1996 Saunders/GB (ÖJZ 1998 32); E K M R E u G R Z 1983 430 (McVeigh); Froweinl Fenken 7; Nowak 17; ferner Art. 3 M R K R d n . 28. Vgl. E K M R E u G R Z 1981 119; bei Bleckmann E u G R Z 1982 311 (Befehl, H a a r e schneiden zu lassen); dazu [nt Komm I Vi R Κ - 1\ΊΙίί1ιαΐΗ_Ί·! Hycucnmoser 123.

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18(1 181

182

183

E G M R 25.9.2001 Ρ G & J H / G B (ÖJZ 2002 911). E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 120; 1982 537; Froweinl Fenken 12; I n t K o m m E M R K - Wildhaberl Breiienmoser 254, 255. E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 120; Froweinl Peukert 12. Vgl. etwa E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1982 537 (Untersuchung des Geisteszustands u n d Aufbewahrung der D a t e n hierüber); vgl. I n t K o m m E M R K WildhaberlBreiienmoser 120. E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1982 311. E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1982 311 (Schutz vor U m g e h u n g eines der Gesundheit dienenden Verbots); FroweinlFeukeri 1. E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1983 425 (Auskunft an Finanzbehörde); Froweinl Feukeri 12; I n t K o m m EMRK-WildhaberlBreiienmoser 123. E G M R 16.12.1992 Niemietz/D ( E u G R Z 1993 65 Durchsuchung einer Anwaltskanzlei); ferner 25. 6. 1997 H a l f o r d / G B ( Ö J Z 1998311).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wird man unterscheiden müssen: An sich endet die Privatsphäre nicht bereits dadurch, daß sich jemand in der Öffentlichkeit bewegt; denn Privatsphäre ist nicht räumlich sondern vom Schutzzweck her funktional zu verstehen 184 . Ein Privatgespräch zwischen zwei Personen ist auch dann Bestandteil ihres Privatbereichs, wenn sie es auf der Straße oder in einem öffentlichen Lokal führen 185 . Soweit der Betroffene sich aber bewußt selbst zum Teil der Öffentlichkeit macht, etwa weil er an besonderen öffentlichen Ereignissen aktiv teilnimmt oder weil er Tätigkeiten ausübt, bei denen er weiß oder zumindest damit rechnen muß, daß sie zum Gegenstand öffentlicher Berichte gemacht oder aufgezeichnet werden, endet in der Regel sein Privatbereich, da er vernünftigerweise insoweit keinen besonderen Schutz erwarten kann 186 . Gleiches gilt für Situationen, wo er undifferenziert mit einer Mehrzahl von Personen von allgemeinen Maßnahmen der Überwachung und Kontrolle betroffen wird. Sein Privatbereich ist nicht verletzt, wenn er bei der generellen Video-Überwachung einer Straße, eines Bahnhofs oder eines Kaufhauses mit aufgenommen wird 187 . Die Offenlegung der bei einer generellen Straßenüberwachung gewonnenen Aufnahmen einer Person durch eine öffentliche Stelle kann aber einen schweren Eingriff in das Privatleben des Betroffenen bedeuten 18711 . Der Privatbereich ist nicht verletzt, wenn ein Teilnehmer an einer Veranstaltung sich ebenso wie alle anderen in eine Anwesenheitsliste eintragen muß. Erst recht ist der Privatbereich nicht berührt, wenn jemand öffentliche Erklärungen abgibt oder sich auf Tätigkeiten einläßt, von denen er weiß, daß sie für die Öffentlichkeit aufgezeichnet werden; dies kann anders zu beurteilen sein, wenn der ihm bekannt gegebene Verwendungszweck solcher Aufzeichnungen überschritten wird oder wenn das im öffentlichen Bereich gewonnene Material ohne sein Wissen von einer Stelle systematisch gesammelt oder ausgewertet wird 188 . Eine gezielte systematische oder ständige heimliche Aufzeichnung vom Verhalten oder von Äußerungen des Betroffenen, etwa im Rahmen einer verdeckten Ermittlung, greifen in seine Privatsphäre ein, selbst wenn die Aufzeichnungen nur im öffentlichen R a u m gemacht wurden 189 . Fotos, die die Polizei von den Teilnehmern einer öffentlichen Demonstration gemacht hatte, wurden dagegen nicht als Verletzung von deren Privatsphäre eingestuft 190 . Dem ist zuzustimmen, denn die Teilnehmer einer Demonstration bezwecken ja damit, daß die Öffentlichkeit ihr Engagement für eine bestimmte Sache wahrnimmt. Ein Eingriff in die Privatsphäre liegt aber vor bei heimlichen Stimm- und Tonaufnahmen in einer Polizeizelle, auch wenn dadurch nur Material für einen Stimmvergleich gewonnen werden sollte 191 . Ein Recht, die Staatsangehörigkeit eines bestimmten Staates zu erlangen, kann aus Art. 8 M R K grundsätzlich nicht hergeleitet werden; allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen könnte die willkürliche Verweigerung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit und die daraus sich ergebenden Folgen auch unter dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Schutzpflicht aus Art. 8 (Familie) zu prüfen sein 192 .

1S4

Vgl. IntKommEMRK-Wildhaber/Breilenmnser 118, ferner Rdn. 96 ff zu den Schwierigkeiten einer allgemeinen Abgrenzung und Rdn. 114 ff zur Praxis der Konventionsorgane. 185 E G M R 25.9.2001 P. G & J. H/GB (ÖJZ 2002 911). 186 E G M R 25.9.2001 P. G & J. H/GB (ÖJZ 2002 911: signifikanter, wenn auch nicht notwendig endgültig entscheidender Umstand). 187 EGMR 25.9.2001 P. G & J. H/GB (ÖJZ 2002 911). 18 '= EGMR 28.1.2003 Peck/GB (ÖJZ 2004 651: Verhinderung eines Selbstmordes auf der Straße dank Videoüberwachung; Veröffentlichung von Bildern der sich daran anschließenden Vorgänge ohne ausreichende Unkenntlichmachung der Person).

188

189

19,1

191 192

E G M R 25.9.2001 P. G & J. H/GB (ÖJZ 2002 911) unter Hinweis auf die gleiche Lage beim gezielten Sammeln von Informationen in Akten EGMR 16.2. 2000 Amann/CH (ÖJZ 2001 71); 4.5.2000 Rotaru/ Rum (ÖJZ 2001 74). Vgl. Rdn. 25b; ferner zu dem in der heimlichen Telefonüberwachung zugleich vorliegenden Eingriff in die Korrespondenz Rdn. 36, 37. Vgl. EKMR Friedl/Ö (ÖJZ 1993 320); EGMR 25.9.2001 P. G & J. H/GB (ÖJZ 2002 911) und Meyer-Ludewig 3. E G M R 25.9.2001 P. G & J. H/GB (ÖJZ 2002 911). E G M R 12.1.1999 Karrassen/Finl (NVwZ 2000 3001); Meyer-Ladewig 15.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Der Schutz persönlicher Daten gehört ebenfalls zur Achtung des Privatlebens. Der in 25a ihrer Sammlung, Speicherung, Verarbeitung, Weitergabe und Verwendung durch andere Stellen liegende Eingriff einer öffentlichen oder privaten Stelle ist deshalb nur zulässig, wenn der Betroffene zugestimmt hat oder wenn eine Rechtsnorm dies gestattet, weil es für einen der in Art. 8 Abs. 2 M R K aufgeführten Zwecke notwendig ist. Bei der erforderlichen Interessenabwägung zwischen dem jeweiligen Eingriffszweck 193 und den schutzwürdigen Belangen des betroffenen Einzelnen kommt es darauf an, zu welchem Zweck die Daten verwendet werden sollen, an wem sie weitergegeben werden und ob der Empfänger ebenfalls zu deren Geheimhaltung verpflichtet ist, ferner, wie sensibel die jeweiligen Daten sind und wie stark deshalb der mit der Weitergabe verbundene Eingriff in den Privatbereich ist. Bei der Weitergabe persönlicher Daten über den Gesundheitszustand spielt es daher eine Rolle, ob diese Daten von einem Krankenhaus an einen ebenfalls zur Geheimhaltung verpflichteten Sozialversicherungsträger übermittelt wurden 194 oder aber der Öffentlichkeit zugänglich werden 195 . Ob ein Eingriff zum Schutze demokratischer Einrichtungen notwendig ist, ist eng auszulegen 196 , im übrigen aber wird dem Staat hierbei sowie auch hinsichtlich Art und Ausmaß des konkreten Eingriffs ein gewisser Beurteilungsspielraum zuerkannt 1 9 7 . Sowohl das geheime Erforschen personenbezogener Informationen als auch deren Auf- 25b bewahren greift in den Privatbereich der davon betroffenen Personen ein. Es bedarf daher eines den Eingriff rechtfertigenden Grundes nach Art. 8 Abs. 2 M R K ; die Schwere und Intensität des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem mit ihm verfolgten Zweck stehen, er muß außerdem zu seiner Vorhersehbarkeit zum Ausschluß von Willkür eine hinreichende Rechtsgrundlage 198 haben und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Zur Achtung des Privatbereiches gehört das Freisein von einer ständigen Beobachtung im eigenen Heim ebenso wie in anderen Räumen 1 9 9 oder in der Öffentlichkeit. Auch darin, daß die Polizei einem Bürger ein Gerät zur Aufzeichnung der Telefongespräche mit zu überwachenden Personen zur Verfügung stellt, liegt ein Eingriff in das Privatleben dieser Personen 200 . Geheime Ton- oder Bildaufzeichnungen bedürfen deshalb einer ausreichenden Rechtsgrundlage 201 und der Rechtfertigung durch einen der Schwere des Eingriffs angemessenen Grund 2 0 2 . Gleiches gilt aber bereits für das systematische Erfassen und Speichern persönlicher Daten, ohne Rücksicht darauf, ob sie offen oder verdeckt gewonnen wurden und wie sensibel ihr Inhalt ist 203 . Bei allen solchen Eingriffen genügt es aber nicht, daß der Staat sich bei Sammeln, Aufbewahren und Weiter-

193

195 196 197

198

Vgl. EGMR 25.9.2001 Ρ G, JH/GB (ÖJZ 2002 911 Stimmproben für Sprachidentifizierung). EGMR 27.8.1997 Μ S/Schwed (ÖJZ 1998 587); vgl. auch 27. 8.1997 Anne-Marie Anderson/Schwed (ÖJZ 1998 585), wo dies nur unter dem Blickwinkel des Zugangs zum Gericht nach Art. 6 Abs. 1 M R K behandelt wurde. E G M R 25.2.1997 Z/Finnl (ÖJZ 1998 152). EGMR 4.5.2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74). EGMR 25.2.1997 Z/Finnl (ÖJZ 1998 152); MeyerLadewig 12; vgl. auch die Vorabentscheidung des EuGH 20. 5.2003 (EuGRZ 2003 232) zur Richtlinie 95/46 EG und den (engen) Voraussetzungen, unter denen die Namensnennung der Bezieher höherer Gehälter in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Bericht des Rechnungshofes zulässig sein kann. 25.3.1998 Kopp/CH (ÖJZ 1999 115); 25.9.2001 Ρ G, J H / G B (ÖJZ 2002 119).

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m

Vgl. EGMR 5.11.2002 Allan/GB (StV 2003 257: geheime Ton- und Videoaufzeichnungen in der Gefängniszelle); auch EGMR 25.9.2001 Ρ G, Η J/GB (ÖJZ 2002 911; Aufzeichnung für Stimmvergleich). ™ EGMR 8.4.2002 MM/Ndl; Guedecke Jahrbuch für internationales Recht 44 (2003) 606, 621. 201 E G M R 2.8.1984 Malone/GB (EuGRZ 1985 17); 12.7.1988 Schenk/CH (EuGRZ 1988 390); 25.3. 1998 Kopp/CH (ÖJZ 1999 115); 12.5.2000 Kahn/ GB (JZ 2000 993 mit Anm. Kühne!Nash); 16.10. 2000 Amann/CH (ECHR 2000 TT); 25.9.2001 Ρ G, J H / G B (ÖJZ 2002 911). 202 FroweinlPeukerl 7. Meyer-Ladewig 10; zur Telefonüberwachung vgl. Rdn. 38. 203 EGMR 16.2.2000 Amman/Ch (ÖJZ 2001 71); 4.5. 2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74); 25.9.2001 Ρ G, J H / G B (ÖJZ 2002 911).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

gäbe der Daten in den ihm durch das nationale Recht in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 2 M R K vorgegebenen Grenzen hält; auch bei einem danach zulässigen Eingriff erwachsen ihm Schutzpflichten. Er muß nicht nur die jeweils erforderlichen Garantien gegen eine mißbräuchliche Verwendung dieser Daten vorsehen 204 , er muß, zumindest bei Bekanntwerden des Vorhandenseins solcher Daten, dem Betroffenen gegen deren Speicherung und Inhalt einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf nach Art. 13 M R K eröffnen 2 0 5 und er muß auch ausdrücklich regeln, daß derart erlangte Daten gelöscht werden, wenn sie für den Zweck, der ihre Erhebung gerechtfertigt hat, nicht mehr gebraucht werden. Die Aufbewahrung entgegen einer nationalen Löschungsvorschrift verletzt Art. 8 MRK 2 0 6 . Das Einholen von Auskünften über die von einem bestimmten Anschluß aus hergestellten Telefonverbindungen ist ebenfalls ein Eingriff in das Privatleben und auch in die Korrespondenz 207 . Vergleichbare Anforderungen gelten für andere staatliche Eingriffe, wie etwa für Durchsuchungen und Beschlagnahmen zum Zwecke der Strafverfolgung. Solche Maßnahmen berühren den Privatbereich über den Eingriff in die Wohnung hinaus, wenn sie sich auf private Schriften erstrecken, wie etwa eigene Aufzeichnungen, vor allem Tagebücher, aber auch ein Romanmanuskript 2 0 8 . Sie müssen daher nach Anlaß, Art, Ausmaß und Auswirkungen den Anforderungen der Konventionen an Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs genügen. Geschützt vor Ausspähung, Dokumentation und nicht gewollter Verbreitung sind ferner alle nichtöffentlichen Äußerungen, wie überhaupt Tatsache und Inhalt jeder privaten Kommunikation mit anderen Personen 209 , ferner das eigene Bild und die auf die eigene Person bezogenen Daten 210 . 26

Positive Schutzpflichten können sich für den Staat aus dem Achtungsanspruch ergeben, wenn besondere Umstände sein Tätigwerden zur Sicherung eines essentiellen Aspektes des Privatlebens erfordern 211 , so, wenn anderfalls wegen seiner Untätigkeit das Privatleben des Betroffenen schutzlos schwerwiegende Eingriffen durch Dritte ausgesetzt wäre. Die Grenze zwischen den positiven und negativen Verpflichtungen des Staates ist allerdings nicht immer genau zu ziehen, die anwendbaren Grundsätze sind aber ähnlich, da in beiden Fällen der Staat einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Belange herstellen muß 212 . Mitunter stehen sich auch positive und negative Pflichten des Staates spiegelbildlich gegenüber, wenn dieser darüber zu entscheiden hat, ob die Achtung des Privatlebens der einen Person den Eingriff in das Privatleben einer anderen rechtfertigt. In solchen Fällen erfordert der gerechte Ausgleich eine Abwägung der widerstreitenden Privatinteressen. Gleiches gilt aber auch im Verhältnis zwischen den Allgemeininteressen und einem Individualinteresse, für das eine Schutzpflicht in

204

EGMR 6.9.1978 Klass ua/D (NJW 1979 1755); 4. 5. 2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74); Meyer-Ladewig 13. 205 EGMR 4. 5.2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74). ™ Vgl. E G M R 16.2.2000 Amann/CH (ÖJZ 2001 71), wo die Aufbewahrung einer Karteikarte entgegen einer Eöschungsvorschrift als nicht gesetzlich vorgesehen und damit gegen Art. 8 MRK verstoßend angesehen wurde. 207 EGMR 25.9.2001 Ρ G, JH/GB (ÖJZ 2002 911) mit Hinweis, daß das Aufzeichnen der Telefonverbindung zum Zwecke der Abrechnung durch die Betreibergesellschaft nicht gegen Art. 8 M R K verstößt. 208 Etwa EKMR bei I-rowein/Peukert 6.

209 2111

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212

Zur Überwachung der Kommunikation vgl. Rdn. 39. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1981 120; 1982 537; bei Strasser EuGRZ 1990 198; 199; livers EuGRZ 1984 290 ff; Frowein!Peukert 5; Nowak 21. E G M R 26.3.1985 Χ,Υ/NdL (EuGRZ 1985 297: Schutz Untergebrachter vor sexuellem Mißbrauch durch ausreichende Strafvorschriften); 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2147). So etwa EGMR 24. 6.2004 Caroline ν Hannover/D (NJW 2004 2647); IntkommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 55 ff wenden sich deshalb dagegen, daß zwischen dem Eingriff durch ein Handeln des Staates und dem Eingriff, für den der Staat wegen Nichterfüllung seiner Schutzpflicht einzustehen hat, unterschieden wird.

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Anspruch genommen wird 213 . Im letzteren Fall wird nicht zusätzlich darauf abgestellt, ob die Eingriffsvoraussetzungen das Absatzes 2 vorliegen 214 . c) Nicht allein dem Bereich des Privatlebens zuzurechnen sind dagegen Handlungen 2 7 mit Öffentlichkeitsbezug, wie freiwillige öffentliche Erklärungen im Gerichtssaal 215 oder die Teilnahme an einer öffentlichen Demonstration 2 1 6 ; mit der notwendigerweise die Aufmerksamkeit anderer erregt werden soll. Nicht allein dem Privatbereich zugerechnet werden auch sonstige Verhaltensweisen mit einem sich nicht in der Unterhaltung privater persönlicher Beziehungen erschöpfenden Außenbezug, so wenn sie das Verhältnis zu anderen Menschen betreffen, vor allem aber, wenn sie mit deren Rechte oder mit den in Absatz 2 aufgezählten öffentlichen Interessen kollidieren, oder auch mit der in Art. 8 Abs. 2 M R K erwähnten Moral. Die von der Gewichtung der hereinspielenden öffentlichen und privaten Interessen abhängige Grenzziehung ist in den Randbereichen fließend. Große praktische Auswirkungen sind damit nicht verbunden, da es auch bei Annahme eines staatlichen Eingriffs in den Privatbereich darauf ankommt, ob dieser durch eine gesetzliche Regelung und die weitgespannten Zulässigkeitsgründe von Art. 8 Abs. 2 M R K gedeckt ist 217 . Beispielsweise wurden die Schwangerschaft und damit auch die Regelung der Abtreibung nicht zum alleinigen Privatbereich der Frau und auch nicht zu dem des Vaters gerechnet 218 , ferner nicht allgemeine Vorschriften, die wie etwa Verkehrsregeln219, das Verhalten in der Öffentlichkeit für jedermann zu dessen Schutz oder im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit regeln, ohne speziell persönlichkeitsrelevant zu sein 220 ; dazu rechnen etwa die Pflicht, eine Fußgängerunterführung zu benutzen oder Sicherheitsgurte oder Schutzkleidung anzulegen oder das Erfordernis eines Führerscheins, aber auch die Trinkwasserfluoridierung 221 . Nicht der alleinigen Privatsphäre zugerechnet wurde ferner die Eintragungsfähigkeit eines Vornamens 222 oder das Verbot der Hundehaltung in Reykjavik 223 .

2. Familienleben a) Zum Schutzbereich gehören alle Formen, in denen die persönlichen Beziehungen 2 8 zwischen den Mitgliedern einer Familie sich verwirklichen, der gegenseitige Umgang

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Etwa E G M R 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2147: Auskunftspflicht bei anonymer Geburt); vgl. auch nachf. Fußn. EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979454); 17.10.1986 Ress/GB (Series A 106); 21.2.1990 Powell, Rayner (ÖJZ 1990 418); 9.12.1994 Lopez Ostra/Span (EuGRZ 1995 530); Lux-Wesener EuGRZ 2003 555, 556, die aber die in Absatz 2 primär für Eingriffe aufgeführten Zwecke mittelbar auch bei der Abwägung im Rahmen des Achtungsanspruchs berücksichtigen will; vgl. aber auch IntkommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 53 ff (gegen die Beschränkung des Absatzes 2 auf die negativen Verpflichtungen). E K M R nach FroweinlPeuken 5. E G M R 25.9.2001 Ρ G; JH/GB (ÖJZ 2002 911); EKMR ÖJZ 1993 320 (Friedl/Ö) hat dies auch für die aktenmäßige Aufbewahrung solcher Aufnahmen zur Dokumentation, nicht zur Weiterverwendung verneint. Vgl. aber FroweinlPeukert 5, wo zu Recht darauf hingewiesen wird, daß die Aufbewah-

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rung von Daten über eine öffentliche Betätigung oder Erklärung eines einzelnen in dessen Privatbereich eingreift. Vgl. Rdn. 16 ff. EKMR bei Froweinl Peukert 4; vgl. EKMR EuGRZ 1976 397 (Brüggemann); EKMR EuGRZ 1981 20 (Paton), ausführlich dazu unter Hinweis auf die Rechtsprechung in einzelnen Staaten IntKommEMRK-WildhaberlBreitenmoser 225 ff. Verkehrsregeln, vgl. E K M R bei Bk'ckmann EuGRZ 1981 121, sowie nachf. Fußnoten. IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 139. EKMR X/Belg (EuGRZ 1980 170); IntKommEMRK- WildhaberlBreiienmoser 139 mit weiteren Beispielen aus der Spruchpraxis der EKMR; FroweinIPeukerl 7 zweifelnd. EGMR 24. 10.1996 Guillot/F (ÖJZ 1997 518). EKMR bei Froweinl Peukert 7; krit. dazu IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 132 ff, wonach auch Beziehungen zu einem Haustier Teil des geschützten Privatlebens sein können.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ebenso wie das Recht der Eltern auf Namensgebung 2 2 4 und auf Erziehung der Kinder sowie die vielfältigen Formen des Zusammenlebens, der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung einschließlich der Gewährung von Unterhalt. Familie ist nicht im Sinne der Definitionen des jeweiligen nationalen Rechts zu verstehen, sondern autonom als natürliche Familie („famille naturelle") 225 , so daß nicht nur die durch Eheschließung begründete Familie (vgl. Art. 12 M R K , Art. 23 IPBPR) darunter fällt, wie etwa die aus den Ehepartnern und den Kindern gebildete Kernfamilie, sondern auch eine ohne Eheschließung tatsächlich gelebte Familie226. Auch das auf Dauer angelegte Zusammenleben von Personen, das auf einer gleichgeschlechtlichen Beziehung beruht, kann dem Schutz des Familienlebens nach Art. 8 M R K unterfallen 227 . Der Schutzbereich des Familienlebens umfaßt stets die Personen, zwischen denen enge blutsmäßige Bande bestehen, wie auch im Verhältnis der unehelichen Kinder zur Mutter und zu ihrem natürlichen Vater 228 , ferner etwa zwischen den Geschwistern 229 oder den Großeltern und den Enkeln 230 . Im Verhältnis zwischen den Elternteilen und ihren Kindern wird das Band des Familienlebens bereits durch die Geburt begründet 231 und kann nur durch ganz außergewöhnliche Umstände zerrissen werden. Das Familienleben wird nicht schon dadurch beendet, daß die zunächst gelebten Beziehungen zwischen den Eltern selbst zerbrochen sind 232 , auch wenn ein Kind nach der Trennung nur bei einem Elternteil lebt 233 . Es endet auch nicht, wenn ein Kind von den Eltern getrennt und in öffentliche Obhut genommen wird 234 , wohl aber mit der vollen Aufnahme des Kindes in eine neue Familie durch 224

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EGMR 24.10. 1996 Guillot/F (ÖJZ 1997 518); zur Beschränkung dieses Rechts im Interesse des Kindes vgl. BVerfG NJW 2004 1586 (keine 12 Vornamen). Etwa E G M R 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 20.6.2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344). EGMR 18.12.1986 Johnston u.a./Trl (EuGRZ 1987 313); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 20.6.2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344: auch trotz Eheschließung mit einer anderen Frau)); E K M R bei Strasser EuGRZ 1988 46; Wagner EuGRZ 1986 422. Auch die durch Art. 23 Abs. 1 IPBPR als Institut garantierte Familie umfaßt die tatsächlich gelebte Familie, vgl. Nowak Art. 23, 8. E G M R 21.12.1999 Salgueiro da Silva Monta/Port (Rep. 1999-IX); Grabenwarler § 22 Rdn. 14; vgl. auch E G M R 24. 7.2003 Karner/Ö (ÖJZ 2004 36). EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 26.5.1994 Keegan/Irl (EuGRZ 1995 113); 24.4.1996 Boughanemi/F (ÖJZ 1996 834); 13.7. 2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 6.12.2001 Petersen/D (NJW 2003 1921); E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 423; Brölel RabelsZ 1999 580, 586; FroweinlFenken 15; 16; Nowak 27; 28. Dies ist unabhängig davon, ob kraft einer gesetzlichen Vermutung bei einer noch fortbestehenden Ehe der seit Jahren verschwundene Ehemann als Vater des Kindes gilt; E G M R 27.10.1994 Kroon/NdL (ÖJZ 1995 296). Zu den Problemen der Vaterschaftsanfechtung durch den biologischen Vater nach deutschem Recht vgl. BVerfG NJW 2003 2151; Roth NJW 2003 3153. Die Samenspende für eine künstliche Insemination begründet keine Familienbande, EKMR nach FroweinlPeukert 15.

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EGMR 9.6.1998 Bronda/I (ÖJZ 1999 436); 13.7. 2000 Scozzari & Giunta/I (ÖJZ 2002 74); EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 423; Froweinl Peukert 16; Meyer-Ladewig 18; Nowak 28. Während der E G M R sonst ein Recht auf Begründung des Familienlebens schon aus der Geburt ableitet (vgl. Rdn. 30), beurteilt die entscheidungstragende Mehrheit in EGMR 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2145) den Anspruch des Kindes auf Auskunft über seine Mutter bei einer anonymen Geburt unter dem Gesichtspunkt auf Achtung seines Privatlebens. EGMR 21.6. 1988 Berrehab/NdL (ÖJZ 1989 220); 23.9.1994 Hokkanen/Finl (ÖJZ 1995 271); 26.5. 1994 Keegan/Irl (EuGRZ 1995 113); 24.5.1995 McMichael/GB (ÖJZ 1995 704); 7.8.1996 Johansen/Norw (ÖJZ 1997 75); 19.2.1996 Gül/CH (ÖJZ 1996 593) 8.13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 6.12.2001 Petersen/D (NJW 2003 1921); 20.6.2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); Brötel RabelsZ 1999 580, 588; vgl. auch nachf. Fußn. Etwa E G M R 21.6.1988 Berrehab/NdL (EuGRZ 1993 547); 23.9.1994 Hokkanen/Finl (ÖJZ 1995 271); 19.2.1996 Gül/CH (ÖJZ 1996 593); 28.11. 1996 Ahmut/NdL (ÖJZ 1997 676); 27.4.2000 (NJW 2001 2319 L); 11.7.2000 Ciliz/NdL (NVwZ 2001 547); 20.6.2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344). E G M R 24.3.1988 Olsson/Schwed (EuGRZ 1988 591); 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 7. 8.1996 Johansen/Norw (ÖJZ 1997 75); 13.7.2000 Scozzari & Giunta/I (ÖJZ 2002 74); EKMR bei Strasser EuGRZ 1988 572; 575 (Fürsorgeerziehung). Vgl. auch Brötel RabelsZ 1999 580, 587; Grabenwarter §22 Rdn. 17,38.

Meyer-Ludewig 18. Stand: 1.10.2004

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Adoption 2 3 5 . Im übrigen, vor allem zwischen Erwachsenen, müssen besondere, über die üblichen gefühlsmäßigen Bindungen hinausreichende 236 enge familiäre Bindungen auch tatsächlich bestehen und gelebt werden, damit der Schutz des Art. 8 M R K eingreift 237 . Ob solche de facto Familienbeziehungen bestehen, ist stets auf Grund einer Gesamtwürdigung aller Umstände zu beurteilen, wie Dauer und Intensität der Beziehungen, Art und Form des Zusammenlebens, Bestehen eines Abhängigkeits- oder Betreuungsverhältnisses, gegenseitige Unterhaltsgewährung 2 3 8 und Verbundenheit durch gemeinsame Kinder 2 3 9 . Personen, die in die Familie eingegliedert wurden, wie Adoptivkinder 240 , Pflegekinder oder nahe Verwandte eines Ehepartners 241 unterfallen dem Schutzbereich des Familienlebens, sofern dadurch auch tatsächlich nahe persönliche Beziehungen entstanden sind. Diese engen zwischenmenschlichen Beziehungen können auch zwischen Personen bestehen, die nicht ständig zusammenleben. Es muß aber ersichtlich sein, daß die den Konventionsschutz auslösenden engen familiären Bindungen auf Dauer angelegt sind und auch tatsächlich gelebt werden. Wo bei Angehörigen der weiteren Familie die Grenzen zu ziehen sind, richtet sich immer nach den gelebten konkreten Beziehungen, aber auch nach den örtlichen Anschauungen, die je nach Kulturkreis verschieden sein können 242 . Die Grenzziehung zwischen Privat- und Familienleben hat für die Abwehr staatlicher 2 9 Eingriffe nur geringe Bedeutung. Eingriffe in das Familienleben sind in der Regel immer auch Eingriffe in das Privatleben 243 . Für die Notwendigkeit ihrer Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 M R K ändert sich nichts, wenn man sie nur unter diesem Gesichtspunkt beurteilt. Die Besonderheiten des Schutzgutes Familienleben fallen dagegen ins Gewicht, soweit daraus positive Gewährleistungspflichten des Staates hergeleitet werden, wie etwa, daß er bei staatlichen Entscheidungen auch deren Auswirkungen auf die Besonderheiten des Familienlebens der davon Betroffenen in Bedacht nimmt oder wenn von ihm verlangt wird, daß er bestimmte Formen des Familienlebens schützt. Hier darf der Staat nach den Formen des Zusammenlebens differenzieren 244 . Bei der nach Art. 12 M R K , Art. 23 IPBPR geschützten Ehe hat er unter Umständen gesteigerte Schutzpflichten. Das Recht auf Schließung einer Ehe folgt primär aus diesen Bestimmungen und nicht aus den Schutzpflichten der Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR. Nach diesen kann der Staat aber mitunter sogar verpflichtet sein, zum Schutze des Privatlebens einen für den einzelnen durchsetzbaren Weg zur Beendigung einer für ihn nicht mehr tragbaren Ehegemeinschaft zu eröffnen 245 ; die Pflicht, im nationalen Recht die Scheidung vorzusehen, läßt sich aus der M R K aber nicht herleiten 246 . Desgleichen ist der Staat nicht ver-

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EGMR 26.2.2002 Frette/F; FroweinlFenken 17; IntKommEMRK/ Wildhaberl Breitenmoser 379; Grabenwarter § 22 Rdn. 15. Meyer-Ladewig 24 je mit weit. Nachw. E G M R 17.4.2003 Yilmaz/D (NJW 2004 2147) mit weit. Nachw. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 119; 1983 423; 509; bei Strasser EuGRZ 1985 523; BVerwG 65 188; Schweiz.BGer EuGRZ 1984 82; 1985 38; 1990 181; 183; Nowak 228. E K M R EuGRZ 1977 497; bei Bleckmann EuGRZ 1981 119; schweiz.BGer. EuGRZ 1990 183; Froweinl Feukert 13, 14. Vgl. auch BVerwGE 65 188. Vgl. EGMR 27.10.1994 Kroon/Ndl (ÖJZ 1995 269); 22.4. 1997 Χ Y Z/GB (ÖJZ 1998 271); 20.6. 2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); vgl. auch vorst. Fußn.

(469)

240

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246

E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 424; Froweinl Peukert 17; IntKommEMRK-Wildhaber/Breitenmoser 379; Meyer-Ladewig 24. Brötel RabelsZ 1999 580, 587; Grabenwarter § 22 Rdn. 17. Nowak 27; Art. 23, 8. E K M R EuGRZ 1977 497; bei Bleckmann EuGRZ 1 9 8 3 425. Vgl. Froweinl Peukert 13. EGMR 9.10.1979 Airey/Trl (EuGRZ 1979 616); FroweinlFeukert 19. E G M R 18.12.1986 Johnston ua/Irl (EuGRZ 1986 313) unter Hinweis auf Entstehungsgeschichte; dazu Alt. 12 Rdn. 6.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

pflichtet, dafür zu sorgen, daß alle der faktischen Familie zuzurechnenden Personen ein Erbrecht erhalten 247 . Der Verhaftung eines Ehegattens steht Art. 8 M R K nicht entgegen; er wird aber verletzt, wenn einem Verhafteten jeder Kontakt mit den nächsten Familienangehörigen, vor allem dem Ehegatten, verweigert oder in einem Ausmaß beschränkt wird, das die Aufrechterhaltung der Familienbande nicht mehr ermöglicht, obwohl kein dies rechtfertigender Ausnahmefall vorliegt 248 . 30

b) Eine Verpflichtung des Staates, die ungehinderte Begründung eines Familienlebens und einen daraus sich erst entwickelnden gegenseitigen Umgang 2 4 9 zu sichern, wird nur für den Bereich der engsten Familie anerkannt. So wird den wechselseitigen Beziehungen zwischen Eltern und Kinder als dem grundlegenden Element des Familienlebens ein so hoher Stellenwert beigemessen 250 , daß der Staat unter Umständen 2 5 1 verpflichtet ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß solche Familienbeziehungen tatsächlich hergestellt und aufrechterhalten werden können 252 . Daraus kann ein Recht der Betroffenen erwachsen, daß die Existenz eines derartigen Familienverhältnisses rechtlich verbindlich festgestellt wird 253 . Keinesfalls aber dürfen die staatlichen Behörden das Entstehen solcher Beziehungen behindern, sofern dies nicht ein schwerwiegender Grund rechtfertigt 254 . Bei einem Eingriff in Eltern/Kind Beziehungen hat das Kindeswohl im Vordergrund aller Regelungen zu stehen; bei dessen Würdigung haben die Behörden einen weiten Beurteilungsspielraum. Maßnahmen, die dem Kindeswohl zuwiderlaufen, etwa weil sie Gesundheit oder Entwicklung des Kindes beeinträchtigen, kann kein Elternteil verlangen 255 . Die Behörden müssen aber im übrigen stets auf einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen der beiden Elternteile 256 bedacht sein und deshalb auch nach Anordnung einer getrennten Unterbringung der Kinder für die Aufrechterhaltung aller mit dem Kindeswohl zu vereinbarenden Kontakte zwischen Eltern und Kindern sorgen sowie sich auch um eine eventuelle spätere Wiederzusammenführung bemühen 257 . Die Behörden müssen deshalb nach Möglichkeit die Eltern frühzeitig und im ausreichenden Umfang in den Entscheidungsprozeß einbinden 258 . Bei der Voll247

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E G M R 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); bei StrasserIWeber EKMR EuGRZ 1989 563. EKMR EuGRZ 1983 430; schweiz.BGer. EuGRZ 1981 528; vgl. auch Rdn. 39. Vgl. EGMR 21.06.1988 Berrehab/NdL (EuGRZ 1993 547: Beziehungen beider Elternteile zum gemeinsamen Kind, auch wenn diese nicht zusammenleben); 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 11.7.2000 Ciliz/NdL (NJW 2001 2315); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315; mit Kindeswohl begründete Verweigerung des Umgangsrechts); vgl. auch vorst. Fußn. E G M R McMichael/GB (ÖJZ 1995 704); 7.8.1996 Johansen/Norw (ÖJZ 1997 75). Maßgebend ist hier vor allem der Vorrang des Kindeswohls vgl. etwa EGMR 27.11.1992 Olsson/ Schwed (EuGRZ 1988 591); vgl. auch vorst. Fußn. E G M R 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454; K T/Finnl (NJW 2003 809); 26.2.2004 Görgülü/D (NJW 2004 3397). Vgl. aber auch E G M R 13 . 2 . 2003 Odievre/F (NJW 2003 2145), wo der AnSpruch eines erwachsenen Kindes auf die wegen der anonymen Geburt geheimgehaltene Auskunft über seine Eltern unter dem Blickwinkel des Schutzes des Privatlebens geprüft und wegen des Vorrangs des staatlich geschützten Geheimhaltungsinteresses der Mutter verneint wurde.

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E K M R bei StrasserIWeber EuGRZ 1988 45 (FestStellung der Abstammung vom unehel. Vater); aber auch EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 18 (kein Recht auf Feststellung der unehelichen Vaterschaft beim Mann, der mit der Kindsmutter nicht zusammenlebt). Etwa E G M R 26. 5.1994 Keegan/lrl (EuGRZ 1995 113 Freigabe zur Adoption ohne Beteiligung des unehel. Vaters). EGMR 7.8.1996 Johansen/Norw (ÖJZ 1997 75); 27.4.2000 (NJW 2001 2319 L); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 13.7.2000 Scozzani, Giuntal/1 (ÖJZ 2002 74); 8.7.2003 Sahin/D und Sommerfeld/D (EuGRZ 2004 707; 711); 26.2.2004 Görgülü/D (NJW 2004 3397); 8.4.2004 Haase/D (NJW 2004 3401). Etwa E G M R 26.2.2004 Görgülü/D (NJW 2004 3397); 8.4.2004 Haase/D (NJW 2004 3401); MeyerLadewig 21. E G M R 27.11.1992 Olsson (2)/Schwed (ÖJZ 1993 353); 13.7.2000 Scozzari,Giunta/I (ÖJZ 2002 74); 8.4.2004 Haase/D (NJW 2004 3401) Grabenwarter § 22 Rdn. 17. Vgl. auch vorst. Fußn. E G M R 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 14.2. 1995 McMichael/GB (ÖJZ 1995 704); 17.12.2002 Venema/Ndl (ÖJZ 2004 275); Meyer-Ladewig 29.

Stand: 1.10.2004

(470)

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Streckung einer Entscheidung, die nach der Ehescheidung die Wiedervereinigung eines Kindes mit einem seiner Elternteile anordnet, erfordert die positive Pflicht zur Beachtung des Familienlebens, daß sich der Staat gemäß dem Haager Kindesentführungsübereinkommen um die schnelle Vollstreckung bemüht, denn die künftigen Beziehungen zwischen einem Elternteil und seinem Kind dürfen nicht allein durch bloßen Zeitablauf entschieden werden 259 . Bei einem nichtehelichen Vater/Kind-Verhältnis können aus Art. 8 Abs. 1 M R K nicht schon per se besondere Rechte des Vaters hergeleitet werden 260 ; so kann ein unehelicher Vater, der damit einverstanden war, daß sein Sohn den Nachnamen seiner Mutter erhielt, sich später nicht gegen eine Änderung des Nachnamens wenden 261 . Der Vater eines außerehelichen Kindes hat aber grundsätzlich ein Umgangsrecht mit diesem Kind, vorausgesetzt, daß Gründe des auch hier vorrangigen Kindeswohls nicht entgegenstehen. Er darf nach Ansicht des E G M R insoweit nicht schlechter gestellt werden als ein Vater bei einer geschiedenen Ehe26111. Über diese Verpflichtungen zum Schutze bestehender und zur Förderung ernsthaft angestrebter Vater-Kind-Beziehungen hinaus werden die staatlichen Stellen durch Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR allein nicht verpflichtet, von sich dafür zu sorgen, daß im konkreten Fall eine Familienbeziehung gegründet und gelebt wird. Diese Konventionsgarantien geben keinen Anspruch auf eine im nationalen Recht nicht vorgesehene Adoption262 und garantieren weder ein Recht auf Bildung noch ein Monopol der Eltern auf Erziehung der Kinder263. Der Staat muß aber nach Art. 2 des 1. ZP und nach Art. 18 Abs. 4 IPBPR das Recht der Eltern achten, die Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen religiösen und sittlichen Überzeugungen - auch abweichend von der herrschenden Meinung - zu erziehen 264 . Wieweit dieses Recht eine körperliche Züchtigung deckt oder der Schule verbietet, ist offen 265 ; das Erziehungsrecht rechtfertigt aber nie Maßnahmen, die nach der übereinstimmenden Rechtsauffassung aller Mitgliedstaaten strafbar sind 266 . D a die Konventionen als Ganzes zu sehen sind, kann ein Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern aber auch einen Eingriff in das Familienleben bedeuten 267 . Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR begründen auch unter dem Blickwinkel der Achtung 31 des Familienlebens kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat 268 . Soweit nicht das Recht der Europäischen Union 2683 oder besondere Verträge dies einschränken, sind 255

EGMR 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 24.4. 2002 Sylvester/Ö (ÖJZ 2004 113); 26.2.2004 Görgülü/D (NJW 2004 3397; 8.4.2004 Haase/D (NJW 2004 3401); Meyer-Ladewig 21 mit weit. Nachw. 2 «> So EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1988 45; aber auch EuGRZ 1977 497 (Beziehungen nur Privatleben, nicht Familienleben); Froweinl Peukert 13. Zu der sich anbahnenden anderen Beurteilung vgl. nachf. Fußnoten. 261 E G M R 6.12.2001 Petersen/D (NJW 2003 1921). 261a E G M R 8.7.2003 Sommerfeld/D, 8.7.2003 Sahin/D (EnGRZ 2004 707; 711; dazu Goedecke JIR 46 (2003) 606, 625, 630; 26.2.2004 Görgülü/D (NJW 2004 3397); EGMR 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315) ließ die Frage noch offen; vgl. auch Art. 14 Rdn. 16. 262 FroweinlPeukert 15. 2 « EGMR 23.2.1967 belg. Sprachenfall(EuGRZ 1975 298). 264 Vgl. Art. 9 MRK Rdn. 6. 265 Vgl. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 424; bei StrasserlWeber EuGRZ 1988 47; 48; FroweinlPeukert 22. (471)

266

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1

EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 425; vgl. auch FroweinIPeukerl 20. EGMR 23.2.1967 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298 1); E G M R 7.12.1976 Kjeldsen u.a./Dan (NJW 1977 487 Sexualkunde); dazu Wildhaber EuGRZ 1976 489; Froweinl Peukert 22. Etwa EGMR 20. 6.2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); vgl. auch nachf. Fußnoten und BVerfGE 76 80. So etwa die zur Sicherung der Freizügigkeit der Unionsbürger ergangenen Regelungen der EU, die im Eichte des Art. 8 M R K ausgelegt werden; dadurch werden die Regelungen des nationalen Rechts über die Versagung der Aufenthaltserlaubnis (Rdn. 11) zum Schutze des Familienlebens von EuGH erheblich eingeschränkt; vor allem, wenn es um die Aufenthaltsrechte der einem Drittstaat angehörenden Kinder und Ehegatten eines EU-Bürgers geht; vgl. etwa EuGH EuGRZ 2002 596; 2003 607; 2004 422, zur Problematik vgl. Einf. Rdn. 49.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

die Vertragsstaaten entsprechend einem anerkannten Grundsatz des Völkerrechts berechtigt, über Einreise, Aufenthalt und Ausweisung eines Nichtinländers zu bestimmen. Vor allem bei der Einreise muß er nicht die Wahl der Eheleute anerkennen, in welchem Land sie gemeinsam leben wollen 269 . Er ist auch nicht gehindert, Straftäter auszuweisen 270 . Die Verweigerung der Einreise und vor allem die Ausweisung kann jedoch in das gemeinsame Familienleben eingreifen, da es seine Wiederherstellung oder Fortsetzung in dem betreffenden Land ganz oder auf längere Zeit unmöglich macht 2 7 1 . Maßgebend dafür, ob eine staatliche M a ß n a h m e in das Familienleben eingreift, sind die Familienverhältnisse in dem Zeitpunkt, in dem der Eingriff rechtlich verbindlich wird; bei einem Aufenthaltsverbot hat der E G M R auf die Rechtskraft dieses Verbotes abgestellt 272 . Ein unverhältnismäßiger Eingriff in dieses wurde aber verneint, wenn es den Betroffenen möglich und bei objektiver Würdigung ihrer Verhältnisse auch zuzumuten ist, die Familiengemeinschaft in einem anderen Land zu beginnen oder fortzusetzen 273 , so vor allem, wenn gegen ein Verbleiben oder eine Wiedereinreise in das Gastland schwerwiegende Gründe des Gemeinwohls oder der öffentlichen Sicherheit sprechen 274 . Art. 8 M R K gewährleistet nicht das Recht, den geeignetsten Ort für die Entwicklung des Familienlebens selbst zu wählen 275 . Dies gilt besonders, wenn der wegen schwerer Straftaten Ausgewiesene erst nach Anordnung seiner Ausweisung geheiratet hat 2 7 6 oder wenn die Familienbande auch vom Ausland aus gepflegt werden können, so etwa, wenn die üblicherweise getrennt wohnenden erwachsenen und wirtschaftlich selbständigen Kinder die Möglichkeit zu Besuchen bei den Eltern und zu ihrer finanziellen Unterstützung haben 277 oder wenn ein Ausgelieferter nach Erledigung des Verfahrens zurückkehren kann 2 7 8 . 32

c) Eingriffe. Staatliche Maßnahmen, die in diesen Schutzbereich eingreifen, müssen zur Erreichung eines der in Art. 8 Abs. 2 M R K aufgeführten Zwecke gesetzlich vorgesehen und auch in einer Demokratie notwendig sein. Die erforderliche faire Abwägung der für eine solche Maßnahme sprechenden Gründe des öffentlichen Wohls oder des Schutzes anderer mit den Belangen des Betroffenen und seiner Familie muß sie rechtfertigen 279 . So kann eine Ausweisung wegen einer Straftat zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder der nationalen Sicherheit oder zur Verhütung von Straftaten in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Die staatlichen Behörden haben hier auch wegen ihrer besseren Kenntnis der örtlichen Verhältnisse einen weiten Beurteilungsspielraum. Der Eingriff in das Familienleben muß aber fair sein, die für ihn angeführten

2

® E G M R 19.2.1996 Gül/CH (ÖJZ 1996 593); 20.6. 2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344). 2711 EGMR 26. 3. 1992 Beldjoudi/F (EuGRZ 1993 556); 4.10.2001 Adam/D (NJW 2003 2595), 17.4.2003 Yilmaz/D (NJW 2004 2147) mit weit. Nachw. Vgl. auch BVerfG EuGRZ 2004 317. 271 E G M R 28. 5.1985 Abdulaziz ua/GB (EuGRZ 1985 567); 20.6.2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); östr.VfGH EuGRZ 1986 190 mit Anm. Tretter (bereits Aufenthaltsverbot, nicht erst Vollstreckung). 272 EGMR 29.1.1997 Bouchelkia/F (ÖJZ 1998 116); 26.9.1997 El Bouljaldi/F (ÖJZ 1998 626); 17.4. 2003 Yilmaz/D (NJW 2004 2147). 275 E G M R 20.3.1991 Cruz Varas/Schwed (EuGRZ 1991 203); schweiz.BGer. EuGRZ 1985 38. 274 Vgl. EGMR 30.11.1999 Baghli/F (NVwZ 2000 1401; Ausweisung und zehnjähriges Einreiseverbot wegen Drogenhandels).

275

E G M R 28.11.1996 Ahmut/NdL (ÖJZ 1997 676 unter Hinweis auf das faire Gleichgewicht zwischen den Interessen des Beschwerdeführes und der Zuwanderungskontrolle). 276 EGMR 29.1.1997 Bouchelkia/F (ÖJZ 1998 116); 4.10.2001 Adam/D (NJW 2003 2595); vgl. ferner 30.11.1999 Baghli/F (NVwZ 2000 1401: Unbeachtlichkeit einer erst nach der Ausweisung eingegangenen Beziehung), ebenso E G M R 6.2.2003 Jakupovic/Ö (ÖJZ 2003 567). 277 Vgl. BVerfG EuGRZ 2004 317; schweiz.BGer. EuGRZ 1990 181. 278 E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1982 311. ™ Vgl. oben Rdn. 12, 21; ferner etwa E G M R 26.3. 1992 Beldjoudi/F (ÖJZ 1992 773); 13.7.1995 Nasri/F (ÖJZ 1995 908); 24.4.1996 Boughenemi/F (ÖJZ 1996 834).

Stand: 1.10.2004

(472)

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Gründe müssen ein berechtigtes Ziel verfolgen, stichhaltig sein und auch den durch Art. 8 M R K geschützten Belangen Rechnung tragen 280 . Der Eingriff darf vor allem im Hinblick auf das verfolgte Ziel nicht unverhältnismäßig sein 281 , dies hat der E G M R aber angenommen, weil eine an sich berechtigte Ausweisung wegen der familiären Bindungen des Ausgewiesenen an Deutschland nicht befristet worden war 282 . Aus der Schutzpflicht des Art. 8 M R K in Verbindung mit dem Konzept der Recht- 32a mäßigkeit und der Vorherrschaft des Rechts hat der E G M R auch Verfahrensgarantien für die Eingriffe in das Familienleben hergeleitet. Der Staat ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß alle in diese grundlegenden Menschenrechte eingreifenden Maßnahmen in einem fairen Verfahren ergehen, in dem - abgesehen von Eilfällen 283 - die Betroffenen auch zu den anstehenden Fragen und den vorliegenden Beweismitteln ausreichend vorher gehört worden sind 284 . In einigen Fällen, die Maßnahmen zum Wohl eines Kindes betrafen, hat der E G M R sogar gefordert, daß die nationalen Behörden vor ihrer Entscheidung ein psychologisches Sachverständigengutachten einholen, um die Belange des Kindes zutreffend beurteilen zu können 285 . Die Anordnung der Ausweisung muß im Regelfall nach Art. 13 IPBPR in einem kontradiktorischen Verfahren von einem unabhängigen Organ überprüft werden können 286 , dabei sind die maßgebenden Beweise nachzuprüfen. Dem Betroffenen muß die Möglichkeit offen stehen, der Auffassung der Behörde vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes entgegenzutreten, um so jedem Rechtsmißbrauch vorzubeugen und Willkür auszuschließen 287 . Neben dieser grundlegenden Forderung an die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung prüft der E G M R im übrigen das ihr zugrunde liegende nationale Recht und seine Anwendung daraufhin, ob es den Ausweisungstatbestand frei von unzulässigen Diskriminierungen (vgl. Art. 14 M R K ; Art. 2 IPBPR) festgelegt hat 288 und ob es von den Behörden bona fide angewendet wurde 289 .

3. Wohnung a) Begriff. Die Wohnung als elementarer Lebensraum des einzelnen 290 wird als tradi- 33 tioneller Bestandteil des Privatbereiches besonders herausgestellt. Wohnung („home" bzw. weiter „domicile") sind die Räumlichkeiten mit allen Nebengelassen, die der jeweils Betroffene tatsächlich bewohnt, wobei unerheblich ist, ob er Eigentümer oder Mieter ist 291 . Für den Schutz des Individualbereichs ist lediglich maßgebend, daß er sie tatsächlich zu Wohnzwecken in Besitz hat 292 . Durch eine zeitweilige Abwesenheit verliert er diesen Schutz nicht. Ein bisher nicht bewohntes Grundstück, auf dem der Bau eines Wohnhauses geplant ist, fällt aber nicht unter den Schutz des Art. 8 293; desgleichen nicht ein 280

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Vgl. E G M R 11.7.2000 Ciliz/NdL (NVwZ 2001 547 Abschiebung, obwohl Verfahren zu einem Probetreffen mit Sohn eingeleitet worden war). EGMR 18.4.2002 Aronica/D (EuGRZ 2002 514); Meyer-Ladewig 44. EGMR 17.4.2002 Yilmaz/D (NJW 2004 2147) unter Hinweis auf E G M R 21.6.1988 Berrehab/NdL (EuGRZ 1993 547); 26.9.1997 Mehemi/E (ÖJZ 1998 625). EGMR 12.7.2001 K,T Finnl (ECHR 2001-VTT); Meyer-Ladewig 44. EGMR 8.7.1987 B/GB (Series A 121); 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 26. 5.1994 Keegan/Irl (EuGRZ 1995 113); 24.2.1995 McMichael/GB (ÖJZ 1995 704); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 17.2.2002 Venema/Ndl (ÖJZ 2004 275); vgl. auch nachf. Fußn. und Rdn. 30.

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285

E G M R 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); 11.10.2001 Sommerfeld/D (EuGRZ 2001 588); kritisch dazu Benda EuGRZ 2002 282; Grabenwarter § 22 Rdn 45; Meyer-Ladewig 43. 286 Vgl. Art. 13 TPBPR (bei Art. 4 des 4. ZP). 287 E G M R 20. 6.2003 Al-Nashif/Bulg. (ÖJZ 2003 344). 288 UN-AMR EuGRZ 1981 391 (maurizische Frauen), vgl. Nowak 14; EGMR 28.5.1985 Abdulaziz u.a./ GB (EuGRZ 1985 567). 2S « UN-AMR EuGRZ 1981 394. 290 vgl. BVerfGE 42 219; 51 110. 2,1 Meyer-Ladewig 33. 252 E G M R 24.7.2003 Karner/Ö (ÖJZ 2004 36); FroweinlPeukerl 28; Nowak 32. 293 E G M R 18.12.1996 Loizidou/Fürk (EuGRZ 1997 555).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

auf einer öffentlichen Fläche abgestelltes Fahrzeug 294 . Geschützt wird von Art. 8 M R K die für Wohnzwecke benützte Sphäre des privaten Lebensraums 295 . Die bei einer Wohnung befindliche Garage und wohnungsnahe Gebäudeteile und Flächen, wie etwa eine Terrasse oder ein Innenhof oder der umfriedete Garten zählen dazu 296 , desgleichen bei Benützung für Wohnzwecke ein Wohnwagen297 oder ein Hausboot 298 , auch wenn ein ortsfester Standort fehlt 299 . Betrieblich im gleichen Haus befindliche oder beruflich genutzte Räume, wie etwa eine Anwaltskanzlei 300 , wurden dazu gerechnet 301 . Ob auch Gebäude und Räumlichkeiten dazu zählen, die wegen ihrer Zweckbestimmung und ihrer Zugänglichkeit für viele Personen nicht dem Privatbereich zugerechnet werden können, wie Betriebsgebäude, Fabrikhallen oder Ladengeschäfte, mag fraglich sein 302 . In den nach Art. 53 M R K , Art. 5 Abs. 2 IPBPR unberührt bleibenden, weitergehenden Schutz des Art. 13 G G sind letztere dagegen mit einbezogen 303 . Ein Anspruch auf eine Wohnung kann aus Art. 8 ebensowenig wie aus Art. 13 G G hergeleitet werden 304 , desgleichen keine Einwände gegen die Besteuerung der Wohnung 305 , auch nicht das Recht, in einer bestimmten Gemeinde zu wohnen 306 . Die Zelle eines Strafgefangenen ist keine Wohnung im Sinne des Art. 8 MRK 3 0 7 , desgleichen eine Kaserne; ihre Durchsuchung kann aber den Bereich des Privatlebens berühren 308 . 34

Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR erfassen alle Eingriffe in eine vorhandene Wohnung. Diese können in den verschiedensten Formen vorkommen, so durch Vertreibung aus der Wohnung, einem Verbot der Rückkehr in die Wohnung 309 , durch einen sonstigen Entzug des Wohnrechts 310 , eine Zwangsumsiedlung 311 oder auch durch eine Zerstörung der Wohnung wie etwa durch Niederbrennen des Hauses 312 , aber auch durch Hausdurchsuchungen 313 oder durch Anbringen einer heimlichen Abhörvorrichtung 3 1 4 , ferner durch Maßnahmen der Wohnungsbewirtschaftung 315 . Auch durch übermäßige Umwelteinflüsse kann das Recht des einzelnen an seiner Wohnung beeinträchtigt werden, so wenn öffentliche Stellen durch eine Genehmigung für deren Quelle mit verantwortlich sind, wie etwa bei 294

Grabenwarter § 22 Rdn. 19 mit Hinweis auf EKMR. Vgl. TntKommEMRK-WildhaberlBreitenmoser 458 (Räumlichkeit, der eine gewisse Privatsphäre anhaftet). 2,6 FroweinlFenken 28; Grabenwaner § 22 Rdn. 19; Nowak 32. 297 E G M R 25.9.1996 Buckley/GB (ÖJZ 1997 313 Zigeuner) ferner mit weit. Nachw. Grabenwarter § 22 Rdn. 15 (jedenfalls, soweit sie als Lebensmittelpunkt benützt werden). 298 Nowak 32. 299 Grabenwaner § 22 Rdn. 20: auch Schutz besonderer Lebensformen wie das Umherziehen im Wohnwagen. "'» EGMR 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65). 301 EGMR 30.3.1989 Chappel/GB (Series A 152: Wohnung und Betrieb im gleichen Haus); Meyer-Ladewig 33; verneinend EuGH EuGRZ 1989 395 (Hoechst AG); vgl. auch FroweinlFeuken 28 (noch nicht ausreichend geklärt); zur Ausdehnung auch auf diesen Bereich Nowak 28. 302 So aber wohl Meyer-Ladewig 33 unter Hinweis auf E G M R 16.4.2002 STES Colas Est/E. 303 Vgl. BVerfGE 32 68; 42 219; 44 371. 304 FroweinlFeuken 28. 305 EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1982 311. jot, offen gelassen von EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 19. 295

3 7

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Vgl. EGMR 5. 11.2002 Allan/GB (JR 2004 128 dazu Hsser JR 2004 91, 103: heimliche Überwachung der Zelle verletzt Recht auf Privatleben). 3118 FroweinlFeuken 33; IntKommEMRK- Wildhaberl Breitenmoser 411. ™ E G M R 24.11.1986 Gillow/GB (Series A 109); 10. 5. 2001 Zypern/Griech (ECHR 2001-IV); EKMR bei l'roweinIPeukert 28 (Cypern); Grabenwarter § 22 Rdn. 20; Meyer-Ladewig 34. 3111 EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 19; ferner bei FroweinlFeukert 31 (Häuser in Guernsey und Jersey). 311 EGMR 25.5.2000 Noak u.a./D (NVwZ 2001 307 L: Umsiedlung der Einwohner der Gemeinde Horno). 312 EGMR 16.11.2000 Bilgin/Türk; Meyer-Ladewig 34. 313 Etwa EGMR 6.9.1978 Klass u.a./D (NJW 1979 1755); 25.2.1993 Cremieux/E (ÖJZ 1993 534); 25.2. 1993 Eunke/E (ÖJZ 1993 532); 16.12.1997 Camenzind/C.H (ÖJZ 1998 797); Grabenwaner § 22 Rdn. 41. 314 L'rowein-Peukert 13, 31; ob die Telefonüberwachung auch ein Eingriff in die Wohnung ist, hat EGMR 6.9.1978 Klass/D (NJW 1979 1765) offen gelassen; E G M R 25.9.2001 Ρ G, JH/GB (ÖJZ 2002 911) behandelt die Verwendung einer geheimen Abhöranlage in der Wohnung als Eingriff in das Privatleben. 315 l'roweinlPeukert 31.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

dem durch einen Flughafen verursachten Fluglärm 3 1 6 oder bei erheblichen Geruchsbelästigungen durch eine Abfallbeseitigungsanlage 317 . Im Unterlassen jeder Information der benachbarten Bevölkerung über die von einem Chemiewerk ausgehenden erheblichen Gesundheitsgefahren und über die gegebenenfalls erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen hat der E G M R einen Verstoß der Behörden gegen Art. 8 und Art. 10 M R K gesehen 318 . Bei der Verlängerung der Betriebsgenehmigung eines Kernkraftwerkes hat der E G M R dagegen die für die Klagebefugnis erforderliche Darlegung eines zivilrechtlichen Anspruchs im Sinne des Art. 6 Abs. 1 M R K verneint, da die für die Opfereigenschaft erforderliche konkrete Gesundheitsgefährdung nicht dargelegt worden sei 319 . b) Eingriffe in die Wohnung sind nur aufgrund eines Gesetzes 320 zulässig. D a ß sie - 3 5 ähnlich wie bei Art. 13 Abs. 2 G G - grundsätzlich vom Richter angeordnet werden müssen, fordern die Konventionen nicht. Sie dürfen aber nur aus den in Art. 8 Abs. 2 M R K festgelegten Zwecken angeordnet werden. Neben der ausreichenden Rechtsgrundlage muß das nationale Recht hinreichende Sicherheiten gegen Mißbrauch und gegen willkürliche Eingriffe bieten. Eingriffe müssen eine vernünftige Rechtfertigung haben, dürfen nicht unverhältnismäßig 321 sein und auch nicht diskriminierend angewendet werden. Darin, daß dem überlebenden Partner einer homosexuellen Beziehung das einem überlebenden Ehegatten zustehende Recht auf Eintritt in ein bestehendes Mietverhältnis verweigert wurde, hat der E G M R eine gegen Art. 8 in Verb, mit 14 M R K verstoßende Diskriminierung gesehen 322 . Nach Art. 8 Abs. 2 M R K sind vor allem die zum Zwecke der Strafverfolgung angeordneten Durchsuchungen323 zulässig. Die Anordnung einer Durchsuchung durch den Richter bei ausreichendem Verdacht genügt diesen Anforderungen, sofern deren Zweck und die betroffenen Räume genügend eingegrenzt sind 324 und dies nicht in Ausnahmefällen zu unverhältnismäßigen Eingriffen führt 3 2 5 . Eingriffe in die Wohnung können ihre Rechtfertigung auch aus anderen Gesichtspunkten herleiten. So können Eingriffe im Rahmen der Wohnungsbewirtschaftung unter dem Blickwinkel des wirtschaftlichen Wohls des Landes 3 2 6 oder aber auch der öffentlichen Planung 3 2 7 gerechtfertigt sein; sofern dies nicht - gemessen an dem damit verfolgten Ziel - zu einem unverhältnismäßigen Eingriff führt 3 2 8 . Die von Art. 8 Abs. 1 M R K , Art. 17 Abs. 1 IPBPR erfaßten Eingriffe in die Wohnung 3 6 sind in der Regel zugleich Eingriffe in das Privatleben. Sie können zusätzlich auch noch Eingriffe in das Familienleben oder in die private Kommunikation bedeuten, wie dies etwa 316

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318

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320

EGMR 21.2.1990 Powell & Rayner/GB (ÖJZ 1990 418: staatliche Genehmigung des von Privaten betriebenen Flughafens Heathrow, nur unter dem Blickwinkel eines vertretbaren Anspuchs im Sinne des Art. 13 M R K geprüft); vgl. Schräder NVwZ 1999 40; FroweinlPeukeri 29; Meyer-Ladewig 34; ferner Peters S. 207 ff unter Hinweis auf das noch bei der Großen Kammer anhängige Verfahren Hatton/ GB, vgl. Rdn. 23. EGMR 9.12.1994 Lopez Ostra/Span (EuGRZ 1995 530), vgl. KleylStruller EuGRZ 1995 507; Villiger HdB 563. E G M R 19.2.1998 Guerra u.a./I (EuGRZ 1999 188); Dörr JuS 1999 809; Peters 205; Villiger Hdb 563. EGMR 26.8.1997 Balmer-Schafroth/CH (EuGRZ 1999 183), dazu Kley EuGRZ 1999 177; EGMR 6.4.2000 Athanassoglou/CH (ÖJZ 2001 317); Meyer-Lädewig 17; Peters 210 ff. Vgl. Rdn. 11.

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EuGH EuGRZ 1989 395 (Hoechst), ferner etwa EGMR 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); 25.2. 1993 Funke u.a./F(ÖJZ 1993 532); 25.2. 1993 Cremieux/F (ÖJZ 1993 534); 25.2.1993 Miailhe/F (Series A 256 C); FroweinlPeukeri 30; Meyer-Ladewig 45. E G M R 24. 7.2003 Karner/Ö (ÖJZ 2004 36). J3 Begriff" Verhinderung von Straftaten umfaßt auch die Strafverfolgung begangener Taten, vgl. dazu Rdn. 18. E G M R 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); Grubenwurier § 22 Rdn. 42. E G M R 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); Froweinl Peukeri 30. FroweinlPeukert 32; vgl. Rdn. 18b. EGMR 25.9.1996 Buckley/GB (ÖJZ 1997 313 Wohnen im Wohnwagen auf eigenem Grund). Vgl. E G M R 24.11.1986 Gillow/GB (Series A 109); EKMR bei FroweinlPeukeri 32, beide zu Wohnungsverboten in Guernsey. e r

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

bei Abhören eines in der Wohnung geführten Telefongesprächs 329 oder beim Anbringen einer geheimen Abhöranlage 330 oder bei einer optischen Überwachung der von einer Familie bewohnten Räume der Fall sein kann 331 . In den Schutz der Wohnung greifen alle Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ein, die deren exklusive Privatheit ohne Einwilligung des Inhabers ganz oder teilweise aufheben. Neben dem unbefugten Eindringen und den oben bereits erwähnten Maßnahmen der Ausspähung gehören vor allem auch Durchsuchungen zum Zwecke der Strafrechtspflege dazu, selbst wenn dabei nur nach Geschäftsunterlagen gesucht wird 332, oder wenn dies im Rahmen einer Vollstreckungsmaßnahme geschieht. Ein Eingriff in die Wohnung liegt ferner in deren Betreten aus Gründen der Gefahrenabwehr 333 oder in Ausübung eines spezialgesetzlichen Betretungsrechts, wie es sich - begrenzt auf den jeweiligen Zweck - in Verwaltungsgesetzen findet.

4. Private Kommunikation 37

a) Schutzbereich. Als besonders schützenswerter Teil des Privatbereichs wird die Korrespondenz (Art. 8 Abs. 1 M R K ) bzw. Schriftverkehr (Art. 17 Abs. 1IPBPR) besonders erwähnt. In weiter, zweckorientierter Auslegung wird aber unter die in beiden Konventionen verwendeten Begriffe: „correspondence"/„correspondance" nicht nur der Austausch schriftlicher Mitteilungen gerechnet, wie beim eigentlichen Briefverkehr einschließlich aller modernen Formen der Nachrichten- und Datenübermittlung, wie etwa Telegraphie, Telekopie oder Ε Mail 334 , auch die fernmündliche Kommunikation im Rahmen der bestehenden Kommunikationssysteme fällt darunter 3 3 5 . Unerheblich ist es dabei, ob diese vom Staat oder von Privaten betrieben werden und in welcher Rechtsform dies geschieht 336 ; ferner, ob für die Gespräche ein Privatanschluß oder ein Büroanschluß benutzt wird und ob dies innerhalb oder außerhalb eines öffentlichen Netzes 337 stattfindet. Auch die Aufzeichnung der von einem bestimmten Anschluß aus angerufenen Nummern durch die Betreibergesellschaft des jeweiligen Netzes zur Gebührenerfassung rechnet dazu 338 . Der Schutzbereich reicht über den unmittelbaren Vorgang des Austausches der Mitteilungen hinaus; er umfaßt sowohl die Kopien der abgesandten als auch die vom Empfänger nach ihrem Zugang aufgehobene Korrespondenz 3 3 9 , ferner die Tonaufzeichnungen von Telefongesprächen. Dies gilt auch für die Einsichtnahme in die vorgefundene Korrespondenz bei Hausdurchsuchungen 3 4 0 .

® 3311 331

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335

EGMR 6.9.1978 Klass u.a./D (EuGRZ 1979 278) ließ dies noch offen. EGMR 25.9.2001 Ρ G, J H/GB (ÖJZ 2002 911). E G M R 12.5.2000 Kahn/GB (JZ 2000 993 mit Anm. Kühne/Nash); FroweinlPeukert 31; von EGMR Klass/D (EuGRZ 1979 278) offengelassen; vgl. ferner Rdn. 25b. EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1983 423; Fruweinl Peukert 30; Nowak 34. Nowak 35. Vgl. Grabenwarter § 22 Rdn. 21; Kugelmann EuGRZ 2003 16. 21 (nicht aber öffentlich zugängliche Newsgroups und Homepages). EGMR 6.9.1978 Klass/D (NJW 1979 1755 m. Anm. Arndt); 2.8.1984 Malone/GB (EuGRZ 1985 17); 24.4.1990 Huvig/F (ÖJZ 1990 564); 25.6.1992 Lüdie/CH (EuGRZ 1992 301); 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); 23.11.1993 A/F (ÖJZ 1994 392); 25.6.1997 Halford/GB (ÖJZ 1998 311); EKMR bei Strasserl Weber EuGRZ 1987 358; Gra-

benwarter § 22 Rdn. 21; Meyer-Ladewig 35; Partseh 189; a. A Guradze 22 (Privatleben). 336 BVerfG JZ 2003 1104 mit Anm. Förster JZ 2003 1111; FroweinlPeukert 33; Nowak 36. 337 E G M R 25.6.1997 Halford/GB (ÖJZ 1998 311: Bürotelefon des nicht-öffentlichen Polizeinetzes). 338 EGMR 25.9.2001 Ρ G, J H / G B (ÖJZ 2002 911; Verwendung für Strafverfahren zulässig, da Erfassung gesetzlich vorgesehen und für Betroffnenen vorhersehbar). 33 » E G M R 25.2.1992 Miailhe/E (Series A 256-C); 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); 25.2. 1993 Funke/F (ÖJZ 1993 532); Grabenwarter § 22 Rdn. 21; a.A 1ntK.ommEMRKI Wildhaberl Breitenmoser 496 unter Hinweis auf EKMR (nur bis zum Empfang durch Adressaten, danach Schutz des Privatbereichs). 3411 EGMR 16.12.1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); vgl. Grabenwarter § 22 Rdn. 42 (Eingrenzung der Einsichtnahme bei Anordnung der Hausdurchsuchung).

Stand: 1.10.2004

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Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Art.

17IPBPR

Geschützt werden alle an der Kommunikation teilnehmenden Personen, der Absender 3 8 ebenso wie der Empfänger einer Mitteilung, der Inhalt ebenso wie die Tatsache der Korrespondenz. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese gegen eine Einsichtnahme oder ein Mithören besonders gesichert ist oder ob ihr Inhalt offen zu Tage liegt, wie etwa bei einer Postkarte 341 . Auch die mit Billigung eines der Gesprächsteilnehmer, aber ohne Wissen des anderen vorgenommene Tonbandaufzeichnung oder das Mithören eines Telefongesprächs verletzt das Recht des anderen Teilnehmers auf Achtung seiner Korrespondenz 342 . Handelt der private Gesprächsteilnehmer dabei im Auftrag oder auf Anraten staatlicher Stellen, ist dieser Eingriff auch dem Staat zuzurechnen 3421 . In die Korrespondenz eingegriffen wird nicht nur durch die unbefugte Kenntnisnahme von dem Inhalt der jeweiligen Mitteilung oder deren Aufzeichnung, sondern auch, wenn die Korrespondenz verzögert oder verhindert wird, so etwa dadurch, daß Briefe zurückbehalten oder vernichtet werden 343 . b) Staatliche Überwachungsmaßnahmen, wie etwa Einsichtnahme, Zensur, Abhören 3 9 usw. werden dadurch nicht ausgeschlossen, sofern sie im Interesse der nationalen Sicherheit, der Verfolgung oder Verhütung von Straftaten auf gesetzlicher Grundlage angeordnet werden und angemessene und wirksame Garantien gegen einen Mißbrauch bestehen 344 . Unerheblich ist dabei, ob es sich um die Kontrolle der privaten Korrespondenz oder um Eingaben an Behörden handelt 345 . Es müssen aber die Grenzen beachtet werden, die sich aus dem innerstaatlichen Recht, so aus dem grundsätzlich geschützten Briefgeheimnis oder auch aus dem Petitionsrecht des Art. 17 G G oder aus völkerrechtlichen Garantien, wie etwa dem Recht auf ungehinderten Verkehr mit dem EGMR 3 4 6 , ergeben. Überwachungsmaßnahmen ohne ausreichende Rechtsgrundlage verstoßen gegen die Konventionen 347 . Für die Überwachung der Korrespondenz Gefangener beurteilt sich die Zulässigkeit 3 9 a von Eingriffen nach den gleichen Grundsätzen, es bedarf für deren Anordnung eines rechtfertigenden Grundes. Alle Beschränkungen der Kommunikation, die auch bei Gefangenen in deren Privatleben und zutreffendenfalls auch in deren Familienleben eingreifen, sind nur zulässig, wenn sie eine ausreichende Rechtsgrundlage haben, in der Voraussetzungen und Ausmaß der Kontrolle und die bei der Ermessensausübung zu beachtenden Grundsätze genügend konkret festlegt werden 348 . Auch dann muß der Eingriff im Einzelfall nach Zweck (vgl. Art. 8 Abs. 2 M R K ) und Anlaß notwendig sein, der mit ihm verfolgte Zweck darf nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des jeweiligen Kommunikationsvorgangs stehen. Unter diesen Voraussetzungen darf der Briefverkehr der Gefangenen von den Gefängnisbehörden grundsätzlich kontrolliert werden 349 . Wieweit 341

Guradze 22. Vgl. E G M R M M / N d L (StV 2004 1; dazu Gaede StV 2004 46 mit weit. Nachw); ferner etwa BVerfG JZ 2003 1104 mit A n m . Foersler JZ 2003 1111. 542 · Vgl. E G M R 23.11.1993 A / F (ÖJZ 1994 392); 8.4.2003 Μ M / N d L (StV 2004 1); zur HörfallenProblematik Gaede StV 2004 46; ferner R d n . 7 mit weit. Nachw. 343 Grabenwarter § 22 R d n . 28, 43. 544 E G M R 6.9.1978 Klass/D ( N J W 1979 1755 m. A n m . Arndt); 24.4.1990 Kruslin u. a./F (ÖJZ 1990 564); E K M R E u G R Z 1980 170; vgl. auch E G M R 2.8.1984 M a l o n e / G B ( E u G R Z 1985 17); E K M R bei Strasser E u G R Z 1990 167; LroweinlPeukert 11; Schorn 6; 7; ferner BVerfGE 30 17; schweiz.BGer. E u G R Z 1984 223. 545 E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 121.

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Europäische Übereinkommen über die an Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof f ü r Menschenrechte teilnehmenden Personen vom 23.10. 1996 (BGBl. TT 2001 S. 359). D a s am 1.11.2001 in K r a f t getretene A b k o m m e n ersetzt das gleichartige frühere A b k o m m e n vom 6.5.1969 (BGBl. II 1975 S. 1445). Vgl. R d n . 3a; A n h a n g Rdn. 20. E G M R 25. 3.1998 K o p p / C H ( Ö J Z 1999 115: Abhören eines Rechtsanwalts entgegen Gesetz); dazu Villiger H d B 565; 12.5.2000 K h a n / G B (JZ 2000 993 mit A n m . Kühne/Nash). Vgl. E G M R 6.4.2000 Labita/1 ( E C H R 2000 IV); Meyer-Ladewig 36; 40. E G M R 25.3. 1983 Silver u . a . / G B ( E u G R Z 1984 149); 25.3.1992 Campbell/GB (ÖJZ 1992 595); Grahenwarter § 22 R d n . 43; Meyer-Ladewig 36.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 8

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

die Weigerung der Gefängnisbehörde, die Portokosten zu übernehmen, ein Eingriff in die Korrespondenz des Gefangenen ist. kann fraglich sein350, in den Fällen einer übermäßigen Korrespondenz ist dies aber zu verneinen. Ein Eingriff in die Korrespondenz liegt auch im Vorenthalten der Post, etwa im Rahmen einer Kontrolle oder Beschränkung der Korrespondenz inhaftierter Personen 351 , ferner auch, wenn die Gefängnisverwaltung einen Gefangenen nicht davon verständigt, daß ein von ihm abgesandter Brief wegen unvollständiger Adresse zurückgekommen ist352. Der Briefverkehr eines Gefangenen mit seinem Verteidiger oder seinem Prozeßvertreter unterliegt hinsichtlich der darin enthaltenen Mitteilungen grundsätzlich keiner Kontrolle 353 . Nur in besonderen Ausnahmefällen (terroristische Vereinigung) oder bei der Notwendigkeit besonderer Schutzvorkehrungen gegen einen Mißbrauch im Einzelfall kann auch dies als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden 354 . 40

c) Aus der Pflicht des Staates zur Achtung des Privatbereichs (Art. 8 Abs. 1 M R K ) bzw. aus der staatlichen Schutzpflicht (Art. 17 Abs. 2 IPBPR) wird ferner hergeleitet, daß der Staat ausreichende gesetzgeberische und administrative Vorkehrungen zur Wahrung der Privatheit der Kommunikation gegen unbefugte Eingriffe Dritter treffen muß 3 5 5 . Dies gilt besonders, wenn der einzelne selbst nicht in der Lage ist, für einen entsprechenden Schutz zu sorgen, weil die private Korrespondenz als Beweismaterial beschlagnahmt und vom Staat verwahrt wird 356. Aus der Schutzpflicht kann aber kein Anspruch gegen den Staat auf Einrichtung von neuen Kommunikationswegen oder auf Funktionieren der Postverbindungen hergeleitet werden 357 .

41

5. Ehre und Ruf. Anders als Art. 8 M R K nimmt Art. 17 Abs. 1 IPBPR auch die Ehre und den Ruf in seinen Schutzbereich mit auf; der Schutzbereich ist allerdings enger, da er nur rechtswidrige Angriffe („unlawful attacks", „atteintes illegal") verbietet 358 . Aus der Entstehungsgeschichte wird hergeleitet, daß damit nur Eingriffe von einer gewissen Erheblichkeit gemeint sind, die vorsätzlich Ehre und Ruf eines anderen durch unwahre Behauptungen beeinträchtigen sollen 359. Die Äußerung wahrer Tatsachen, auch wenn sie für jemanden abträglich sind, sollte dadurch nicht verhindert werden 360 . Weitergehende gesetzliche Einschränkungen der durch Art. 19 IPBPR garantierten Meinungsfreiheit sind zugunsten der Achtung der Rechte oder des Rufes anderer aber zulässig (Art. 19 Abs. 3 Buchst, a IPBPR; vgl. auch Art. 10 Abs. 2 M R K ) . 3511

351

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Verneinend EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1982 311, vgl. aber auch Grabenwarter § 22 Rdn. 43 unter Hinweis auf EGMR 29. 1.2002 A.B, wonach Gefängnisverwaltung Kosten für Schreibmaterial und Porto zu tragen hat; ferner zur Pflicht des Staates, die Kosten einer Übersetzung zu übernehmen Art. 6 Rdn. 245. Dazu ausführlich Guradze 26; Partsch 188; ferner UN-AMR EuGRZ 1982 13 (Pinkney); EGMR 25.3. 1983 Silver u.a/GB (EuGRZ 1984 149); vgl. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 121; auch E K M R EuGRZ 1983 430; Hofmann S. 43; Nowak 38. EKMR bei Strasser EuGRZ 1988 535. EGMR 5.7.2001 Erdem/D (NJW 2003 1439) unter Hinweis auf die Wichtigkeit der unkontrollierten Kommunikation mit dem Verteidiger; ferner etwa E G M R 28.6.1984 Campbell & Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 28.11.1991 S/CH (EuGRZ 1992 298); Meyer-Ladewig 36; vgl. auch Grabenwarter § 22

Rdn. 43 (allenfalls äußere Kontrolle des Inhalts durch Öffnen des Umschlags, am besten in Gegenwart des Gefangenen). 354 Vgl. E G M R 25.3.1992 Campbell/GB (ÖJZ 1992 595); 5.7.2001 Erdem/D (NJW 2003 1439: Überwachung des Briefverkehrs mit Verteidiger nach §148 Abs. 2 StPO); E K M R bei StrasserIWeber EuGRZ 1987 560; Grabenwarter § 22 Rdn. 43. 355 l-'roweinlPeukert 34; Nowak 36; zur staatlichen Schutzpflicht vor privaten Eingriffen vgl. auch Gaede StV 2004 46, 52. 3,6 Vgl. E G M R 17.7.2003 Craxi (2)/l (amtlich verwahrte private Korrespondenz als Grundlage für Medienberichte über Privatleben). 357 EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1981 121 (Nachsendung von Post). 338 Die amtliche deutsche Übersetzung mit „Beeinträchtigungen" ist zu weit, vgl. Nowak 39 Fußn. 83. 359 Nowak 39 flf. 3 ® Nowak 39.

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Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

Art. 18IPBPR

Unter Ruf ist dabei die Einschätzung eines Menschen durch andere zu verstehen, was 4 2 notwendig voraussetzt, daß die verletzende Handlung einer Mehrzahl anderer Personen oder der Öffentlichkeit bekanntwerden muß. Bei der Ehrverletzung ist dies nicht der Fall, da die Ehre den Anspruch jedes Menschen auf Achtung seiner selbst umfaßt, so daß eine Verletzung auch unter vier Augen erfolgen kann 3 6 1 . Die Ehre kann auch durch Formalbeleidigungen oder eine sonstige erniedrigende Behandlung verletzt sein. Art. 17 IPBPR verpflichtet den Staat und seine Organe, selbst jeden Angriff auf Ruf 4 3 oder Ehre einer Person durch rechtswidrige Behauptung unwahrer Tatsachen zu unterlassen. Aus der ausdrücklichen Schutzpflicht des Absatzes 2 folgt ferner, daß der Staat durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen dafür sorgen muß, daß der einzelne auch gegen Angriffe privater Dritter ausreichend geschützt wird, wie dies der strafrechtliche Ehrenschutz und die zivilrechtlichen Regelungen ermöglichen. Die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht kann aber auch erfordern, daß einzelne Staatsorgane zugunsten des Ehrenschutzes eingreifen und Ehrverletzungen rügen und ihre Fortsetzung unterbinden, wie dies etwa dem Vorsitzenden im Rahmen seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO obliegt.

Art. 9 MRK (Art. 18 IPBPR) MRK

IPBPR

Artikel 9 G e d a n k e n - , G e w i s s e n s - u n d R e l i g i o n s f r e i h e i t *

Artikel 18

(1) J e d e Person hat d a s Recht auf G e d a n k e n - , G e w i s s e n s - u n d Religionsfreiheit; d i e s e s Recht u m f a ß t die Freiheit, s e i n e Religion o d e r W e l t a n s c h a u u n g z u w e c h s e l n , u n d die Freiheit, s e i n e Religion oder W e l t a n s c h a u u n g e i n z e l n o d e r g e m e i n s a m mit a n d e r e n öffentlich o d e r privat d u r c h G o t t e s d i e n s t , Unterricht o d e r Praktizieren v o n B r ä u c h e n u n d Riten z u b e k e n n e n .

(1) J e d e r m a n n hat d a s Recht auf G e d a n k e n - , G e w i s s e n s u n d Religionsfreiheit. D i e s e s Recht u m f a ß t die Freiheit, eine Religion o d e r e i n e W e l t a n s c h a u u n g e i g e n e r W a h l z u h a b e n o d e r a n z u n e h m e n , u n d die Freiheit, s e i n e Religion o d e r W e l t a n s c h a u u n g allein o d e r in G e m e i n s c h a f t mit a n d e ren, öffentlich o d e r privat durch G o t t e s d i e n s t , B e a c h t u n g religiöser B r ä u c h e , A u s ü b u n g u n d Unterricht z u b e k u n d e n .

(2) Die Freiheit, s e i n e Religion- o d e r W e l t a n s c h a u u n g zu b e k e n n e n , darf nur E i n s c h r ä n k u n g e n u n t e r w o r f e n w e r d e n , die gesetzlich v o r g e s e h e n u n d in einer d e m o k r a t i s c h e n G e s e l l s c h a f t n o t w e n d i g s i n d für die öffentliche Sicherheit, z u m S c h u t z e der ö f f e n t l i c h e n O r d n u n g , G e s u n d h e i t u n d M o r a l o d e r z u m S c h u t z e der R e c h t e u n d Freiheiten anderer.

(2) N i e m a n d darf e i n e m Z w a n g a u s g e s e t z t w e r d e n , der s e i n e Freiheit, e i n e Religion o d e r eine W e l t a n s c h a u u n g seiner W a h l z u h a b e n oder a n z u n e h m e n , b e e i n t r ä c h t i g e n würde.

Dazu a u c h Art. 2 S a t z 2 d e s 1. Z P * ... Der Staat hat bei A u s ü b u n g der v o n i h m auf d e m G e b i e t der E r z i e h u n g u n d d e s Unterrichts ü b e r n o m m e n e n A u f g a b e n d a s Recht der Eltern zu a c h t e n , die E r z i e h u n g u n d d e n Unterricht e n t s p r e c h e n d ihren e i g e n e n religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.

(3) Die Freiheit, s e i n e Religion o d e r W e l t a n s c h a u u n g z u b e k u n d e n , darf nur d e n g e s e t z l i c h v o r g e s e h e n e n Eins c h r ä n k u n g e n u n t e r w o r f e n w e r d e n , die z u m S c h u t z der ö f f e n t l i c h e n Sicherheit, O r d n u n g , G e s u n d h e i t , Sittlichkeit o d e r der G r u n d r e c h t e u n d -freiheiten a n d e r e r erforderlich sind. (4) Die V e r t r a g s s t a a t e n v e r p f l i c h t e n sich, die Freiheit der Eltern u n d g e g e b e n e n f a l l s d e s V o r m u n d s o d e r P f l e g e r s z u a c h t e n , die religiöse u n d sittliche E r z i e h u n g ihrer K i n d e r in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit ihren e i g e n e n Ü b e r z e u g u n g e n sicherzustellen.

Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

361

Nomik

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42.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 9

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Schrifttum (Auswahl): Abel Die Entwicklung der Rechtsprechung zu neueren Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften, N J W 2001 410, 2003 264: Battisl'Pultmann Was folgt f ü r den Gesetzgeber aus dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts? J Z 2004 581; Bausback Religions· u n d Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, E u R 2000 261; Bleckmann Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 E M R K z u m Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (1995); Blum Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit n a c h A r t . 9 der Europäischen M e n schenrechtskonvention (1992); Böckenförde Kopftuchstreit auf dem richtigen Weg? N J W 2001 723; Böse Die Glaubens- u n d Gewissensfreiheit im R a h m e n der Strafgesetze, Z S t W 113 (2001) 40; Frowein F r e e d o m of Religion in the Practice of the E u r o p e a n C o m m i s s i o n and C o u r t of H u m a n Rights, Z a ö R V 46 (1986) 249; Goerlich Distanz und N e u t r a l i t ä t im Lehrberuf. Z u m K o p f t u c h und anderen religiösen Symbolen, N J W 1999 2929; Globig Die Lohengrin-Klausel des Grundgesetzes, Z R P 2002 107; Heckel Religionsunterricht f ü r Muslime, JZ 1999 741; HeiniglMorlok Von Schafen u n d Kopftüchern, J Z 2003 777; HiUgruber Der deutsche Kulturstaat u n d der muslimische Kulturimport, J Z 1999 538; Kimminich Religionsfreiheit und Menschenrecht (1990); Lücke Z u r D o g m a t i k der kollektiven Glaubensfreiheit, E u G R Z 1995 651; Michael Verbote von Religionsgemeinschaften, JZ 2002 482; Pabel Der Grundrechtsschutz f ü r das Schächten in rechtsvergleichender Perspektive, E u G R Z 2002 220; Ohler/Weiß Glaubensfreiheit versus Schutz von Ehe u n d Familie, N J W 2002 194; Roellecke Die E n t k o p p e l u n g von Recht und Religion, JZ 2004 105; Sacksofsky Die K o p f t u c h - E n t s c h e i d u n g - von der religiösen zur föderalen Vielfalt, N J W 2003 3297; Schwarz Die karitative Fätigkeit der Kirchen im Spannungsfeld von nationalem Recht u n d Gemeinschaftsrecht, EuR 2002 192; Spiess Verschleierte Schülerinnen in Deutschland u n d Frankreich, N V w Z 1993 637; Stark Staat u n d Religion, J Z 2000 1; Thüsing Religion u n d Kirche in einem neuen Antidiskriminierungsrecht, J Z 2004 172; Weber Kontroverse z u m Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Amtsrecht, N J W 2003 2067; Waldhoff Kirchliche Selbstbestimmung und E u r o p a r e c h t , J Z 2003 978; Wilms A m t s h a f t u n g der Kirche f ü r Äußerungen ihrer Sektenbeauftragten, NJW 2003 2070. Vgl. ferner die Länderberichte auf der XI. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte über die Rechtsprechung zur Bekenntnisfreiheit von HassemerlHönig E u G R Z 1999 525; Hungerbühler/Ferand E u G R Z 1999 563; Kucsko-Stadlmayer E u G R Z 1999 505; Wille E u G R Z 1999 543. Übersicht Rdn. 1. Allgemeines 2. Überblick über den Inhalt der Garantien a) Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit b) Ausübung

1

Rdn.

1

c) Religiöse und sittliche Erziehung der Kinder 3. Einschränkungen

3 5

4. Engere Grenzen des innerstaatlichen Rechts

6 7 10

1. A l l g e m e i n e s . D i e G e d a n k e n - , G e w i s s e n s - und Religionsfreiheit ist e i n in d e r W ü r d e des M e n s c h e n w u r z e l n d e s u n d f ü r die selbstverantwortliche L e b e n s f ü h r u n g existentielles G r u n d r e c h t . Sie w i r d in A b s a t z 1 b e i d e r K o n v e n t i o n e n j e d e r m a n n g e w ä h r l e i s t e t . D a d u r c h ist sie z u g l e i c h a u c h e i n e r d e r G r u n d l a g e n d e r a u f d e m P l u r a l i s m u s d e r A n s c h a u ungen aufbauenden demokratischen Gesellschaft1. Die Konventionen übernehmen im w e s e n t l i c h e n d e n A r t . 18 d e r A l l g e m e i n e n Erklärung der M e n s c h e n r e c h t e v o m 1 0 . 1 2 . 1948. D i e B e d e u t u n g d e r R e l i g i o n s - u n d Ü b e r z e u g u n g s f r e i h e i t u n d d i e N o t w e n d i g k e i t , sie v o r D i s k r i m i n i e r u n g e n z u s c h ü t z e n , h a t d i e G e n e r a l v e r s a m m l u n g d e r V e r e i n t e n N a t i o n e n in d e r Erklärung über die Beseitigung aller F o r m e n von Intoleranz und D i s k r i minierung aufgrund der Religion oder der Ü b e r z e u g u n g v o m 2 5 . 1 1 . 1 9 8 1 2 b e s o n d e r s h e r v o r g e h o b e n . D i e Europäische G r u n d r e c h t e - C h a r t a 3 e r k e n n t in A r t . 19 A b s . 1 e b e n f a l l s

Vgl. E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech ( O J Z 1994 59); Grabenwarter § 22 R d n . 66; Meyer-Ludew&l. Res. 36/55; deutsche Übersetzung: Menschenrechte;

5

D o k u m e n t e und Deklarationen Nr. T, 7; Hrsg.: Bundeszentrale f ü r politische Bildung, E u G R Z 2000 554.

S t a n d ; 1.10.2004

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Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

Art.

18IPBPR

das Recht auf Gedanken-. Gewissens- und Religionsfreiheit im gleichen U m f a n g e und mit gleicher Tragweite an u n d zwar so, wie sie in der M R K garantiert sind (Art. 52 Abs. 1, 3). Ihr Art. 19 Abs. 2 garantiert d a n n noch ausdrücklich das in den Menschenrechtskonventionen an anderer Stelle (Art. 4 Abs. 3 Buchst, b M R K , Art. 8 Abs. 3 Buchst, c ii IPBPR) angesprochene Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, dieses wird aber nur nach M a ß g a b e der staatlichen Ausführungsgesetze geschützt. Die Europäische Gemeinschaft kann schon bisher auf G r u n d des Art. 13 EGV im R a h m e n ihrer Zuständigkeiten Diskriminierungsverbote erlassen, die u. a. auch jede Diskriminierung auf G r u n d der Religion oder Weltanschauung verbieten 4 . Art. 18 IPBPR wird durch Art. 4 Abs. 2 IPBPR notstandsfest garantiert. Er wird andererseits durch Art. 20 Abs. 2 I P B P R eingeschränkt, wonach jedes Eintreten f ü r nationalen, rassischen oder religiösen H a ß , durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, durch Gesetz zu verbieten ist. In Art. 15 Abs. 2 M R K ist Art. 9 M R K unter den notstandsfesten Rechten nicht aufgeführt; jedoch schließt Art. 15 Abs. 1 letzter Halbsatz jede Einschränkung aus, die im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten steht, wozu in den Mitglied Staaten des I P B P R auch die Uneinschränkbarkeit der Religionsfreiheit gehört. Im übrigen ist ein rechtfertigender G r u n d f ü r eine staatliche Einschränkung der inneren Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit auch unter den Erfordernissen eines N o t stands k a u m denkbar. Für die Form der äußeren Religionsausübung erlauben ohnehin Art. 9 Abs 2 M R K , Art. 14 Abs. 3 I P B P R die erforderlichen Einschränkungen.

2

2. Überblick über den Inhalt der Garantien a) Die garantierten Freiheiten umfassen, wie Art. 9 Abs. 1 M R K , Art. 18 Abs. 1 , 2 I P B P R mit unterschiedlichen Worten, aber im wesentlichen inhaltlich übereinstimmend ausdrücken, die auch durch das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR) nach außen besonders abgesicherte (innere) Gedankenfreiheit sowie die Gewissensfreiheit, die an sich die daneben besonders erwähnte Religionsfreiheit mit einschließt. Wesentlich f ü r diese ist das Recht jedes einzelnen, unbeeinflußt vom Staat nach eigener freier Wahl eine bestimmte Religion oder Weltanschauung 5 anzunehmen oder abzulehnen, sich privat u n d öffentlich zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu bekennen, diese zu wechseln 6 , sich mit Gleichgesinnten zu einer neuen Religionsgemeinschaft zusammenzuschließen 7 oder über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu schweigen 8 . Wie das Nebeneinander von Religion u n d Weltanschauung zeigt, ist dieses Freiheitsrecht weit auszulegen, es u m f a ß t auch die Ansichten von Außenseitern u n d Sektierern. Erforderlich ist nur, d a ß ein Mindestmaß an geistigem Gehalt die Religion identifizierbar macht, wenn die Religionsfreiheit f ü r ein bestimmtes Verhalten in Anspruch genommen wird 9 . D a ß die Ansichten auch f ü r Außenstehende 4

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6

Vgl. Ri 2000/78 EG vom 27.11.2000 (Verbot Arbeitnehmer u. a. wegen Religion oder Weltanschauung zu diskriminieren); vgl. dazu Thiising JZ 2004 172; Waldhoff ZZ 2003 978. Zur Schwierigkeit der wegen der Gleichstellung letztlich nicht entscheidenden Abgrenzung zwischen der ein Mindestmaß von Identifizierbarkeit erfordernden Religion und einer Weltanschauung vgl. Grabenwarler § 22. Rdn. 71; Art. 9 erfaßt auch nicht-religiöse Weltanschauungen, vgl. Nowak 14. Vgl. EKMR EuGRZ 1986 648; zur Pflicht des Staates, den Austritt aus einer Religionsgemein-

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schaft zu ermöglichen, wenn diese keinen Austritt kennt, vgl. FroweinlPeukerl 10; Grabenwarler 22 Rdn. 75; BVerfGE 44 49. Zur Entstehung der Fassung von Art. 18 Abs. 1 Satz 2 IPBPR Nowak 13. Zur religiösen Vereinigungsfreiheit vgl. etwa BVerfGE 83 341, 355ff; Lücke EuGRZ 1995 651. Zum Inhalt der Religionsfreiheit vgl. Art. 1, 6 der Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 25.11.1981 (Eußn. 2). Grabenwarter § 22 Rdn. 71; Meyer-Ladewig 4; vgl. BVerfG 83 341 353; Ilassemerlllönig EuGRZ 1999 526.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

rational einsichtig sind, ist dagegen nicht erforderlich. Der Staat ist nicht befugt, darüber zu entscheiden, ob religiöse Anschauungen oder die Formen, in denen sie ausgedrückt werden, berechtigt oder sinnvoll sind. Er darf deshalb auch nicht die Möglichkeit gemeinsamer Religionsausübung bestimmter Gruppen durch bürokratische Hemmnisse behindern 10 . Erst recht ist ihm untersagt, seinen Bürgern eine bestimmte Religion oder Weltanschauung aufzudrängen 1 1 . Art. 18 Abs. 2 IPBPR stellt noch besonders klar, daß insoweit jeder Zwang verboten ist. Dieses Verbot erfaßt auch indirekte Zwangsmittel, wie etwa sachlich nicht erforderliche rechtliche oder tatsächliche Erschwerungen des Religionswechsels oder die faktische Behinderung der Ausübung einer bestimmten Religion durch unnötige bürokratische Hürden. Öffentliche oder bürgerliche Rechte dürfen nicht von einer bestimmten Religionszugehörigkeit abhängig sein 12 ; diese darf auch nicht entgegen dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 14 M R K für eine Entscheidung über Vorund Nachteile ausschlaggebend sein 13 . Soweit der Staat im Bereich der Bildung und des Unterrichts tätig wird, verpflichten ihn Art. 2 des 1. ZP zur M R K , Art. 18 Abs. 4 IPBPR noch besonders, das Recht der Eltern zu achten, Erziehung und Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen 14 . 3a

Soweit die Garantien auch kollektiv auszuübende Rechte umfassen, können religiöse Zusammenschlüsse der Mitglieder, die Kirchen ebenso wie auch kleinere Gruppen, sie selbst geltend machen 15 . Der Staat darf die Bildung solcher Zusammenschlüsse nicht behindern oder ihre Anerkennung als Träger eigener Rechte nicht verweigern 16 . Sie haben das Selbstverwaltungsrecht 17 und sind insoweit ebenfalls Grundrechtsträger 1 8 , sie unterliegen aber im Kernbereich ihres Wirkens nicht den Bindungen, die staatlichen Organen aus der Pflicht zur Gewährleistung dieser Freiheitsgarantien erwachsen, wie etwa der Neutralitätspflicht 19 oder religionsrelevanten Diskriminierungsverboten 20 . Vor allem kann der einzelne gegen die religiöse Gemeinschaft, deren Mitglied er ist, aus Art. 9 M R K , Art. 18 IPBPR kein persönliches Recht auf Anerkennung einer abweichenden Glaubensauffassung oder auf Übertragung eines religiösen Amtes herleiten 21 ; stimmt er mit deren Auffassungen nicht überein, muß er notfalls austreten. Ein Individualrecht, dessen ungehinderte Ausübung der Staat durch Einräumung der Möglichkeit einer Austrittserklärung vor einer staatlichen Stelle sicherstellen muß, wenn die betroffene Religionsgemeinschaft dies nicht vorsieht 22 . Der Anspruch des einzelnen Mitglieds auf staatlichen Rechtsschutz gegen Maßnahmen seiner eigenen Religionsgesellschaft, die dem Bereich der Religionsausübung und Glaubensfreiheit zuzurechnen sind, wird bei der ge-

E G M R 26.2.1996 Manoussakis u.a./Griech. (ÖJZ 1997 352: Behinderung der Zeugen Jehovas bei Verwendung eines Raumes für Gottesdienste). EGMR 7.12.1976 Kjeldsen u.a./Dän (EuGRZ 1976 478 im Zusammenhang mit Sexualkundeunterricht); FroweinIPeukerl 2. Nowak 17, 18. E G M R 23. 6.1993 Hoffinann/Ö (EuGRZ 1996 648 mit Anm Lahrenhorst EuGRZ 1996 633); Froweinl Peukert 7. Vgl. Rdn. 6a. FroweinIPeukerl 9; Grabenwarter § 22 Rdn. 68, beide auch zur Entwicklung der Spruchpraxis der EKMR; ferner etwa E G M R 16.12.1997 Canea Catholic Church/Griech (ÖJZ 1998 750); 27.6.2000 Cha'are Shalom Ve Tsedek/F (ÖJZ 2001 774); Lücke EuGRZ 1995 651.

Grabenwarter § 22 Rdn. 81 unter Hinweis auf E G M R 13.12.2001 Eglise Metrolipotaine des Bessarabie u.a. Vgl. Schwarz EuR 2002 192, 204. Ob dies auch die karitative Tätigkeit mit einschließt, ist strittig, vgl Schwarz EuR 2002 603. Vgl. Sachs/Höfling Grundgesetz 3 Art. 1, 102 („Träger des Grundrechts, nicht Bindungsadressat"); Lücke EuGRZ 1995, 651, 656. Vgl. zur Problematik mit dem EG-Recht Thüsing JZ 2004 172; Waldhoff ]Z 2003 978. Vgl. etwa E K M R EuGRZ 1986 648; FroweinIPeukerl 9 unter Hinweis auf die Spruchpraxis der EKMR; Grabenwarter § 22 Rdn. 77. Froweinl Peukert 10; Frowein ZaöRV 46 (1986) 256; Grabenwarter § 22 Rdn. 89.

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Art.

18IPBPR

botenen Abwägung zwischen der staatlichen Justizgewährungspflicht und der Gewährleistung der kollektiven Glaubensfreiheit und der grundsätzlich zu beachtenden Pflicht des Staates zur Neutralität meist zurücktreten 23 . Dies gilt auch bei den sogen. „Staatskirchen" 24 . Eine Staatsreligion oder eine Staatskirche, die manche Mitgliedsstaaten haben, wäh- 4 rend andere sie in ihrer Verfassung ausdrücklich verbieten 25 , ist mit dieser Freiheit nicht unvereinbar. Es müssen aber neben der Staatsreligion auch andere Religionen zugelassen sein. Es darf kein direkter oder indirekter Zwang ausgeübt werden, die Staatsreligion anzunehmen oder beizubehalten 26 , sich deren Riten zu unterziehen oder an sie Abgaben zu entrichten 27 . Eine vom Staat geregelte Kirchensteuerpflicht ist mit den Konventionsgarantien vereinbar, sofern der einzelne frei ist, sich ihr durch Aufgabe seiner Mitgliedschaft in der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu entziehen 28 . Eine Benachteiligung des einzelnen in seinen Konventionsrechten wegen seiner Weltanschauung oder seiner Religionszugehörigkeit verstößt zugleich auch gegen die Diskriminierungsverbote in Art. 14 M R K , Art. 2 Abs. 1, 26, 27 IPBPR 2 9 , die umgekehrt aber auch den Staat verpflichten können, danach zu differenzieren, ob ein bestimmtes Verhalten religiös bedingt war 30 . Aus der Pflicht des Staates, die innere Überzeugung des einzelnen zu respektieren und auch die Ausübung der mit ihr zusammenhängenden Gebräuche innerhalb der auch hierfür geltenden allgemeinen Schranken nicht zu behindern, folgt jedoch nicht, daß der Staat von Konventions wegen auch verpflichtet ist, selbst besondere Organisationsformen für religiöse Gruppen vorzusehen 31. Er muß ermöglichen, daß sich religiöse Zusammenschlüsse ungehindert bilden können 3 2 , im übrigen steht es ihm aus der Sicht der Konventionen frei, ob und in welchem Umfang er besondere Rechtsformen für den Zusammen-

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24

25 26

Nach BGH NJW 2000 1555; 2003 2097 schränkt das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften die staatliche Rechtsmäßigkeitskontrolle innerkirchlicher Maßnahmen ein; die staatliche Justizgewährungspflicht beschränkt sich auf eine Wirksamkeitskontrolle (Vereinbarkeit mit den Grundprinzipien der staatlichen Ordnung, Willkürverbot. ordre public). BVerfG NJW 2004 3099 ließ dies offen. Vgl. zum Streitstand auch nachf. Fußn. sowie Lücke EuGRZ 1995 561 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte; ferner zu den Problemen des kirchlichen Arbeitsrechts Thüsing JZ 2004 172. Vgl. BVerfGE 18 385, 387; 42 312, 331 (Kirchen werden dadurch in ihrem eigentlichen Bereich nicht zu Institutionen der mittelbaren Staatsverwaltung). Soweit den Religionsgemeinschaften in Randbereichen staatliche Aufgaben übertragen sind (etwa Friedhofsverwaltung), üben sie grundrechtsgebundene Staatsgewalt aus, vgl. etwa Sachs!Höfling Grundgesetz 3 Art. 1 Rdn. 102. Die Abgrenzung der staatlichen Rechtsgewährungspflicht von der Autonomie der Kirchen ist vor allem im Bereich des Amtsrechts strittig, vgl. etwa BVerwG NJW 2003 2112; BVerwGE 95 379; 116 86; BVerfG JZ 2004 791 mit krit. Anm. Goerlich; BGH NJW 2000 1559; Weber NJW 2003 2067; Waldhoff JZ 2003 978 ff. Vgl. etwa Lücke EuGRZ 1995 651. E K M R bei Strasser EuGRZ 1990 410; Frmveinl Peukert 2, 6; Nowak 16; vgl. auch BVerfGE 44 59, 66; 55 32, 36.

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EKMR bei Strasser EuGRZ 1990 410 (Darby; zwangsweise Einbeziehung in eine Aktivität für eine Religionsgemeinschaft); BVerfG NVwZ 2002 1496 (Kirchensteuer als autonomes Satzungsrecht); dazu Gohm NVwZ 2002 1475, ferner die nachfolg. Fußn. Villiger HdB 596; vgl. auch schweiz.BGer. EuGRZ 2001 128 (Kirchensteuerpflicht für juristische Personen). Nowak 16; vgl. auch E G M R 23.10.1990 Darby/ Schwed (EuGRZ 1990 504), wo wegen der gegen Art. 14 M R K verstoßenden Verweigerung der Kirchensteuerermäßigung bei Wohnsitz im Ausland von einer Prüfung des Art. 9 MRK abgesehen wurde, während EKMR bei Strasser EuGRZ 1990 411 in der gleichen Sache umgekehrt verfuhr. Vgl. E G M R 6.4.2000 Thlimmenos/Griech (ÖJZ 2001 518): Art. 14 in Verb, mit Art. 9 M R K ist auch verletzt, wenn der Staat ohne objektive und vernünftige Rechtfertigung eine Differenzierung unterläßt, so daß die Verurteilung wegen einer aus religiösen Gründen begangenen Tat (Zeuge Jehovas, Weigerung Uniform zu tragen) in gleicher Weise wie echte kriminelle Verfehlungen die Ablehnung der Zulassung als Wirschaftsprüfer begründet. Dies schließt nicht aus, daß sich - meist historisch bedingt - aus dem jeweiligen innerstaatlichen Recht Verpflichtungen ergeben können. Vgl. etwa BVerfGE 83 341, 355 ff.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

schluß von Glaubensgemeinschaften aufstellt, so vor allem, ob und unter welchen Voraussetzungen er eine Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkennen will 33 . 4a

Schutzpflichten des Staates können sich aus seiner Verpflichtung ergeben, die Religionsfreiheit aller seiner Bürger ohne jede Diskriminierung (Art. 14 M R K ) zu achten und auch zu gewährleisten. Der Staat muß für den religiösen Frieden und für ein Klima der religiösen Toleranz in der Gesellschaft sorgen. Er muß unter Umständen eingreifen, um sicherzustellen, daß alle Personen in seinem Herrschaftsbereich auch tatsächlich ihre Religion frei und ungestört ausüben können 3 4 (Art. 1 M R K , Art. 2 Abs. 1, 2 IPBPR). Die Religionsfreiheit jeder Gruppe findet eine Schranke dort, wo sie auch die Religionsfreiheit einer anderen Gruppe respektieren muß. Der Staat und seine Organe dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn die von den Konventionen garantierten Freiheiten einem Teil der Bewohner durch dominante gesellschaftliche oder religiöse Gruppen faktisch verweigert werden. Er muß den Betroffenen zumindest die Möglichkeit eröffnen, gegen sie unberechtigte herabsetzende Äußerungen anderer religiöser Gruppen gerichtlich vorzugehen 35 und er muß in schwerwiegenden Fällen auch selbst eingreifen, um die Religions· und Glaubensfreiheit der betroffenen Gruppe oder den religiösen Frieden zu wahren und die gegenseitige Toleranz sicherzustellen. Auch aus den in Art. 9 Abs. 2 M R K , Art. 18 Abs. 3 IPBPR aufgeführten Gründen kann mitunter ein Eingreifen des Staates nicht nur zulässig sondern zur Wahrung der Religionsfreiheiten anderer Gruppen sogar geboten sein 36 . In schwerwiegenden Fällen kann auch erforderlich sein, daß der Staat durch eigene Maßnahmen die religiösen Gefühle einer Gruppe seiner Bürger vor Beleidigungen ihrer Religion durch andere schützt 37 . Grundsätzlich hat der Staat dafür zu sorgen, daß in seinem Herrschaftsbereich die unterschiedlichen religiösen Anschauungen der verschiedenen Gruppierungen geachtet und daß die öffentliche Ausübung religiöser Gebräuche vor gezielten Störungen Dritter, auch durch andere religiöse Gruppen, geschützt werden 38 und daß allen genügend Raum für eine religiöse Betätigung bleibt. Er muß aber auch die religiöse Überzeugungen des einzelnen schützen 39 ; dieser kann zwar nicht verlangen, daß er innerhalb der religiösen Gruppierung, der er angehört, völlig frei auch konträre Meinungen vertreten kann, sein Recht, sich von dieser Gruppierung zu trennen, muß der Staat aber notfalls sicherstellen 40 .

4b

Eine besondere Schutzpflicht hat der Staat dort, wo er die Lebensführung des einzelnen besonderen Regelungen oder Zwängen unterwirft, die notwendig auch Bereiche der Religionsausübung mit einschließen, wie etwa in der Schule, der Bundeswehr, den Strafvollzugsanstalten usw. D a n n ist er verpflichtet, den davon Betroffenen durch positive Maßnahmen die Wahrnehmung ihrer Rechte aus den Konventionsgarantien zu ermöglichen 41 . So muß er auch sicherstellen, daß das Recht der Eltern auf Erziehung der Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen oder weltanschaulichen Uberzeugungen

Vgl. BVerfGE 102 370 (Ablehnung bei Zeugen Jehovas); dazu Abel NJW 2001 410; Uillgruber NVwZ 2001 1347; Wilms NJW 2003 1083. E G M R 29.9.1994 Otto Preminger Institut/Ö (ÖJZ 1995 154); 25.11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714). Vgl. etwa BGH NJW 2003 1308 Amtshaftung der Kirchen für Äußerungen ihres Sektenbeauftragten, dazu Wilms NJW 2003 2070. Vgl. Rdn. 7 ff. Vgl. etwa E G M R 29.9.1994 Otto Preminger Institut/Ö (ÖJZ 1995 154: Einschränkung des Art. 10

MRK zum Schutze der religiösen Auffassungen anderer), dazu l'roweinlPeukert 8; Grabenwarter ZaöRV 55 (1995) 128; Grabenwarter § 22 Rdn. 89; Stark JZ 2000 1, 7 ff; Villiger HdB 602. Zur Schutzpflicht des Staates vgl. BVerfGE 41 29, 49; 52 233, 240; 93 1, 16; östr.VfGH EuGRZ 2001 330; ferner die vorst. Fußnoten. EG TT MR 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59); vgl. auch vorst. Fußn. Vgl. Rdn. 3a. Villiger HdB 599.

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Art.

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(Art. 2 des 1. ZP zur M R K , Art. 18 Abs. 4 IPBPR) geachtet wird. Soweit wegen der besonderen Lage Einschränkungen der Religionsausübung erforderlich sind, müssen sie sich auf das nach der jeweiligen Sachlage Notwendige beschränken. b) Das allgemeine Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit wird durch 5 das Recht auf private oder öffentliche Ausübung der Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen ergänzt (Art. 9 Abs. 1 Halbsatz 2 M R K , Art. 18 Abs. 2 Satz 2 IPBPR). Als Formen der Ausübung und Bekundung der Religion bzw. der Weltanschauung werden neben dem Gottesdienst und dem Unterricht im Sinne der Vermittlung der religiösen Lehren der jeweiligen Religionsgemeinschaft 42 das „Praktizieren von Bräuchen und Riten" („practice and observance", „les pratices et l'accomplissement des rites") besonders angeführt 4 3 . Damit sollen die meist aus alten Bräuchen überkommenen besonderen Formen des religiösen Brauchtums geschützt werden, aber auch neue, sich erst entwickelte Formen religiöser Rituale fallen hierunter, selbst wenn nur ein kleiner Personenkreis sie praktiziert. Es werden aber nicht alle Handlungen geschützt, die im Einzelfall religiös oder weltanschaulich motiviert sind, sondern nur solche, bei denen der Ausdruck der jeweiligen Religion oder Weltanschauung in einem deutlich auf sie bezogenen Verhalten in Erscheinung tritt 44 , wie etwa bei Veranstaltungen zur gemeinsamen Religionsausübung, bei den herkömmlichen Prozessionen oder beim Läuten der Kirchenglocken 45 . Die Abgrenzung der intersubjektiv als Religionsausübung oder Ausdruck einer Weltanschauung einzureihenden Handlungen von denen, die nur von einem persönlichen Motiv eines einzelnen mitbestimmt werden, kann schwierig sein. In dem für das öffentliche Leben maßgebenden Bereich lösen sich die Fragen aber vielfach dadurch, daß andernfalls auch andere, mitunter weiter reichende Konventionsrechte (insbes. Art. 8, 10 oder 11 M R K , Art. 17, 19, 21, 22 IPBPR) einschlägig sind und daß der Staat in diese meist aus den gleichen Gründen, wie bei Art. 9 Abs. 2 M R K , Art. 18 Abs. 3 IPBPR eingreifen und sie unter bestimmten Voraussetzungen sogar verbieten darf. Kritische Verlautbarungen staatlicher Stellen über bestimmte Religionsgemeinschaf- 5a ten sind mit der staatlichen Neutralitätspflicht vereinbar, sofern die zuständigen staatlichen Organe sich darauf beschränken, in Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben zu negativen Tendenzen bestimmter religiösen Gruppierungen Stellung zu nehmen und öffentlich vor den davon ausgehenden Gefahren zu warnen46, sofern dies ihnen zum Schutze der Bevölkerung oder bestimmter Gruppierungen erforderlich erscheint. Sie müssen bei solchen Verlautbarungen aber Zurückhaltung und Sachlichkeit wahren und jede mit der staatlichen Neutralitätspflicht unvereinbare parteiergreifende Einmischung vermeiden 47 . Ein formeller Eingriff in die Religionsfreiheit, der über die Aufgabenzuweisung hinaus eine besondere gesetzliche Eingriffsermächtigung erfordern würde, dürfte in einer solchen Warnung nicht liegen, auch wenn sie mittelbar diese berühren kann. In solchen Fällen dürfte es genügen, wenn einer der in Art. 9 Abs. 2 M R K , Art. 14 Abs. 3 IPBPR aufgeführten Zwecke die Warnung rechtfertigt.

42

42

G e m e i n t ist hier die religionsinterne U n t e r w e i s u n g und nicht der schulische U n t e r r i c h t im Sinne des Art. 18 Abs. 4 I P B P R , Art. 2 des 1. ZP; Grabemvarter § 22 R d n . 73, dazu R d n . 6. N e u e deutsche Übersetzung; die Tragweite dieser U m s c h r e i b u n g möglicher F o r m e n der Religionsb e k u n d u n g ist n o c h wenig geklärt; sie u m f a s s e n nach Ansicht der E K M R auch H a n d l u n g e n zur B e k u n d u n g einer nichtreligiösen W e l t a n s c h a u u n g ; vgl. l-'roweinlPeukert 11, 12; Nowak 25; ferner Art. 1

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46 47

u n d 6 der E r k l ä r u n g der G e n e r a l v e r s a m m l u n g v o n 25. 11.1981 ( F u ß n . 2). l'roweinlPeukert 13. Vgl. etwa B o n n e r K o m - Z i p p e l i u s Art. 4, 104; BVerwG E 68, 68. Grabenwarter § 22, 89. Vgl. etwa B V e r f G E 105 279, 295 ff; BVerfG N J W 2002 3458; E u G R Z 2002 448; B V e r w G J Z 1989 977 (Transzendentale Meditation); Fnmein Z a ö R V 46 (1986) 249, 259.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 9

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

6

c) Art. 18 Abs. 4 IPBR verpflichtet die Vertragsstaaten außerdem, die Freiheit der Eltern und sonstigen Erziehungsberechtigten zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen 48 . Die gleiche Verpflichtung begründet Art. 2 Satz 2 des 1. Z P M R K , wonach der Staat bei der Erfüllung der übernommenen Unterrichts- und Bildungsaufgaben dem Recht der Eltern auf Erziehung und Unterrichtung ihrer Kinder gemäß ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen Rechnung tragen muß. In welcher Form diese Verpflichtung erfüllt werden kann, ist den staatlichen Organen überlassen, die in einer pluralistischen Gesellschaft flexible Lösungen finden müssen, die der Verpflichtung zum Schutz verschiedener religiöser Gruppierungen Rechnung tragen 49 . Auch hier können sich Grenzen bei einer durch Abwägung zu lösenden Kollision mit vorrangigen Schutzgütern ergeben 50 . Dieses Recht wird aber nicht schon dadurch angetastet, daß der Staat gegen den Willen von Eltern einen (objektiv gehaltenen) Sexualkundeunterricht in der Schule 51 vorsieht oder ein Kind von Sektenangehörigen nicht von der Teilnahme an einer Schulparade aus Anlaß eines nicht religionsbezogenen Staatsfeiertages freistellt, weil ihr Glaube die Teilnahme an einer Gedächtnisfeier für einen Krieg verbiete 52 .

7

3. Einschränkungen. Im Gegensatz zum höchstpersönlichen Recht auf interne Gedanken·, Gewissens- und Religionsfreiheit ist die Freiheit der Ausübung nicht absolut garantiert 5 3 . Ausübung und Bekundung der Religion oder Weltanschauung können durch Gesetz 54 eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung 5 5 , Gesundheit 5 6 und Moral oder zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer 5 7 (IPBPR „Grundrechte und Grundfreiheiten anderer" 5 8 ) notwendig ist (Art. 9 Abs. 2 M R K ; Art. 18 Abs. 3 IPBPR) 5 9 . Bei verfassungsfeindlichen gewaltbereiten religiösen Gruppierungen kann der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ord4:

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H

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Dort als Recht der Eltern, nicht der Kinder garantiert (vgl. EGMR 24.3.1988 Olsson/Schwed, EuGRZ 1988 591); Meyer-Ladewig 6; Träger des Rechts auf Religionsfreiheit sind aber auch diese selbst. Zur Kindstaufe vgl. FroweinlFenken 10. Vgl. E G M R 25. 5.1982 Campbell ua/GB (EuGRZ 1982 153) kein Ausschluß von der Schule, weil Eltern körperliche Strafen ablehnen. Zur eventuellen Freistellung vom Religionsunterricht vgl. Rdn. 9. Vgl. BVerfG NJW 2002 206; dazu Ohler/Weiß NJW 2002 194; Froweinl Pauker t 7. Vgl. auch die zur Personensorge unter dem Blickwinkel des Art. 8 M R K ergangene Entscheidung des EGMR 23.6.1993 Hoffmann/Ö (EuGRZ 1996 648); die sich auch mit der Möglichkeit einer religiös begründeten Verweigerung der Bluttransfusion durch die Mutter befaßte; dazu Fahrenhorst EuGRZ 1996 648. Vgl. E G M R 2.7.1976 Kjeldsen/Dan (EuGRZ 1976 478); 25.5.2000 Jimenez Alonso u.a./Span (ECHR 2000-VT); vgl. Art. 2 des 1. ZP Rdn. 3. EGMR 18.12.1996 Valsamis/Griech (ÖJZ 1998 114). FroweinlFenken 1; vgl. E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59) dazu und zu zwei weiteren die Zeugen Jehovas in Griechenland betreffenden Entscheidungen des EGMR (Manoussakis, Valsamis- ÖJZ 1997 352, 1998 114) Fahrenhurst EuGRZ 1996 633.

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Insoweit gelten hier die gleichen Voraussetzungen wie bei Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 M R K . Vgl. Grahenwarter § 22 Rdn. 85, wonach der Staat allgemeinschädliches Verhalten auch bei Religionsgemeinschaften untersagen darf; ferner etwa E K M R bei Bleekmann EuGRZ 1983 425 (Belästigung von Straßenpassanten); zum IPBPR vgl. Nowak 38. Vgl. EGMR 27. 6.2000 Cha'are Shalom Ve Tsedek/ F (ÖJZ 2001 774: Schächten); Grahenwarter § 22 Rdn. 86; Motorradschutzhelm bei Siks E K M R nach FroweinlFenken 24. Dies kann auch den Schutz der Religionsfreiheit der Bürger vor aggressiver religiöser Werbung religiöser Gruppen mit einschließen, vgl. EGMR 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59); Grahenwarter § 22 Rdn. 86. Art. 18 Abs. 3 IPBPR läßt die Einschränkung nur zum Schutze der nach nationalem Recht bestehenden Grundrechte und Grundfreiheiten anderer zu (Nowak 43 ft), ist also enger als bei vergleichbaren Regelungen in anderen Artikeln und als Art. 9 Abs. 2 MRK, der dies allgemein zum Schutze der Rechte anderer erlaubt. Zu den legitimen Schutzzielen Grahenwarter § 22 Rdn. 85, 86, ferner etwa BVerwG NJW 2001 1365 (Keine Ausnahme vom Verbot des Canabisanbaus für rituellen Canabisgenuß).

Stand: 1.10.2004

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Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

Art.

18IPBPR

nung deren Verbot rechtfertigen 60 . Die Eingriffe des Staates müssen aber in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, insbesondere dürfen sie nicht außer Verhältnis zu dem mit ihnen verfolgten Ziel stehen 61 . Die allgemeine Schutzpflicht, die dem Staat nach Art. 1 M R K , Art. 2 IPBPR zur Aufgabe macht, allen Personen und Gruppen in seinem Herrschaftsbereich die ungehinderte Ausübung der ihnen durch die Konventionen gewährleisteten Rechte zu ermöglichen, kann ihn auch verpflichten, zur Sicherung der Toleranz und der Respektierung der verschiedenen Überzeugungen gegen Personen oder Personengruppen einzuschreiten, die andere an der Ausübung eines der in Art. 9 M R K , Art. 18 IPBPR geschützten Rechte hindern oder sie dabei stören 62 . Ob, unter welchen Umständen und mit welchen Einschränkungen auch ein Verbot der aggressiven Werbung für den eigenen Glauben zum Schutze anderer zulässig ist, kann im einzelnen fraglich sein 63 . Der kommerzielle Vertrieb religiöser Gegenstände fällt nicht unter Art. 9 M R K , Art. 18 IPBPR 6 4 ; desgleichen nicht wirtschaftlich motivierte Anzeigen zu Werbezwecken 65. Art. 20 Abs. 2 IPBPR verpflichtet darüber hinaus die Vertragsstaaten, jedes Eintreten 8 für religiösen Haß, das zu Diskriminierung, Feindseligkeiten oder Gewalt aufstachelt, durch Gesetz zu verbieten. Die Zulässigkeit einer Einschränkung der Religionsausübung kann deshalb für diesen Grund auch aus Art. 20 IPBPR abgeleitet werden; für Art. 9 M R K folgt sie bereits aus der Zulässigkeit der in einer demokratischen Gesellschaft üblichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. D a diese Einschränkungen grundsätzlich in die gleiche Richtung gehen, dürfte es keine praktischen Auswirkungen haben, daß beide Konventionen weitergehende Garantien grundsätzlich nicht ausschließen (Art. 53 M R K , Art. 5 Abs. 2 IPBPR). Zulässige Beschränkungen in den äußeren Formen der Religionsausübung können in 9 vielen Bereichen des Zusammenlebens mit anderen in Betracht kommen. Ob eine einschränkende Regelung zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Moral erforderlich ist, muß der Staat bei Erlaß der jeweiligen Regelung beurteilen, wobei er das Gewicht des verfolgten jeweiligen Schutzinteresses und seine Bedeutung für ein geordnetes Zusammenleben in der Gemeinschaft mit der Einschränkung abwägen muß, die der Betroffene in seinem Recht auf äußere Religionsausübung hinzunehmen hat 66 . Der Staat hat dabei einen gewissen Beurteilungsspielraum. Der E G M R berücksichtigt die Wertungen des Mitgliedstaates, er überprüft aber, ob die jeweiligen staatlichen Maßnahmen durch die vorgetragenen Gründe grundsätzlich gerechtfertigt und verhältnismäßig sind 67 . 60

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Vgl. BVerfG E u G R Z 2003 746 (Vereinsverbot des „Kalifatstaates" wegen Bereitschaft, verfassungswidrige Ziele notfalls mit Gewalt durchzusetzen); Michael JZ 2002 482; ferner Rdn. 8. E G M R 26.9.1996 Manoussakis /Griech (ÖJZ 1996 352, dazu Fahrenhorst E u G R Z 1996 633); MeyerLadewig 4; 25.11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 718); Grahenwarter § 22 Rdn. 87 unter Hinweis auf E G M R 13.12.2001 Metropolitenkirche von Bessarabien/Moldavien (Verweigerung der staatlichen Anerkennung zur Sicherung der territorialen Integrität unverhältnismäßig). Grabenwarter § 22 Rdn. 88. Ähnliches gilt auch nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 G G , dessen Schranken sich auch aus den kollidierenden Grundrechten anderer ergeben, vgl. BVerfGE 41 29, 50; 52 223, 247; ferner etwa Bonner KomI'/Appelius Art. 4, 79, 108 ff mit weit. Nachw.

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f,? 66

«

Vgl. E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59: unverhältnismäßig); Grahenwarter § 22 Rdn. 86; Meyer-Ladewig 8 stellt auf die Verhältnismäßigkeit ab; anders wohl Frowein!Peukert 25 (grundsätzlich unzulässig). E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 122; FroweinlPeukert 17; Frowein ZaöRV 46 (1986) 249, 259; Villiger H d B 600. Meyer-Ladewig 4. E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59); 15.2.2001 Dahlab/CH (NJW 2001 2871); vgl. auch Schweiz.BGer. E u G R Z 1996 470 (Entnahme einiger Haare bei Sikh zum Nachweis des Drogenkonsums); BArbG N J W 2003 2815 (islam. Kopftuch am Arbeitsplatz). E G M R 25.5.1993 Kokkinakis/Griech (ÖJZ 1994 59); 15.2.2001 Dahlab/CH (NJW 2001 2871); Grahenwurder § 22 Rdn. 87 (Plausibilitätsprüfung).

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M R K

Art. 9

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

9a

Einzelfälle: Ähnlich wie bei der Meinungsfreiheit ergibt sich die Notwendigkeit, im jeweiligen Einzelfall die anerkannten anderen Schutzzwecke mit der Konventionsgarantie der Religionsfreiheit abzugleichen. So widerspricht es Art. 9 M R K , wenn der Eid ausnahmslos mit einer religiösen Beteuerungsformel abverlangt wird 68 oder wenn allgemein das Werben für Religionsgemeinschaften unter Strafe gestellt 69 wird oder wenn eine Verurteilung wegen einer ausschließlich aus religiöser Überzeugung begangenen Verfehlung später als Grund für eine objektiv damit nicht zu rechtfertigende Versagung der Zulassung zu einem bestimmten Beruf herangezogen wird™. Wieweit das Verbot der Schächtung von Tieren gegen die Freiheit der Religionsausübung verstößt, ist strittig 71 .

9b

Im Schulbereich72 hat der Staat keine Kompetenz, die religiösen Inhalte des Religionsunterrichts für alle Schüler verbindlich festzulegen; er ist aber nicht gehindert, den organisatorischen Rahmen dafür zu schaffen und alternativ dazu einen objektiv gestalteten und die unterschiedlichen Überzeugungen achtenden Ethikunterricht vorzuschreiben 73 . Er darf auch einem Geometrielehrer verbieten, in seinen Unterrichtsstunden statt Geometrie Religion zu lehren 74 . Kollisionen mit dem Erziehungsrecht der Eltern kann der Staat mitunter auch dadurch ausräumen, daß er einen Schüler von der Teilnahme an einem abgelehnten Religionsunterricht dispensiert oder ihm gestattet, an seinen religiösen Feiertagen von der Schule fernzubleiben 75 . Auf Grund der BekleidungsVorschriften des Islam wurde auch ein Anspruch auf die Befreiung vom gemeinsamen Turn- oder Schwimmunterricht anerkannt 7 6 . Ein Schulgebet, bei dem den Schülern die Teilnahme ausdrücklich freigestellt wird, wurde nicht als Verletzung der religiösen Neutralitätspflicht angesehen 77 , desgleichen bei Freiwilligkeit der Teilnahme am Tischgebet in einem kommunalen Kindergarten 7 8 . Ein staatliches Verbot, daß Lehrer in der Schule bewußt ein äußerliches Kennzeichen einer bestimmten Weltanschauungs- oder Glaubensrichtung (Kopftuch, Kleidung oder Kennzeichen einer Sekte) tragen, hat der E G M R als mit Art. 9 M R K vereinbar angesehen, da die Staaten hier einen weiten Beurteilungsspielraum haben 7 9 . In der Bundesrepublik ist strittig, ob dies vom Staat untersagt werden kann,

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E G M R 18.2.1999 Buscarini ua/San M a r i n o (EuG R Z 1999 213 Parlamentarier-Eid). Verbot des Proselytismus E G M R 25.5. 1993 Kokkinakis/Griech ( Ö J Z 1994 59); 2 4 . 2 . 1 9 9 8 Larissis/ Griech (Rep 1998-1); Grabenwarder § 22 R d n . 7 8 ; vgl. auch Meyer-Ludewig 4. E G M R ( G r K ) 6.4.2000 Thlimmenos/Griech (ÖJZ 2001 518 Verurteilung wegen Weigerung Uniform zu tragen als G r u n d f ü r die Nichtzulassung als Wirtschaftsprüfer). Vgl. E G M R 27.6.2000 C h a a r e Shalom Ve Tsedek/E (ÖJZ 2001 774: Verweigerung der Zulassung des Vereins zum Schächten kein Verstoß gegen Art. 9 M R K . wenn bereits ein größerer Verein die Ausnahmegenehmigung d a f ü r hat); Grabenwartcr § 22 R d n . 73, 86; ferner BVerfGE 104 337 (Schächten keine Religionsausübung, aber als Ausdruck religiöser Überzeugung einer G r u p p e geschützt); östr. VerfGH E u G R Z 1999 600; sowie etwa Kästner JZ 2002 491; Waldhoff iZ 2003 978; 980 (Ausnahmen vom Betäubungsgebot in der Tierschutzrichtlinie der E G (Ri 39/119 EWG); Sachs!Kokott G r u n d gesetz 3 Art. 4, 62 mit weit. Nachw. Soweit Art. 2 des 1. Z P (Art. 18 Abs. 4 1PBPR) zum Schutze der Elternrechte eingreifen (vgl. R d n . 6), Stand:

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enthalten diese die speziellere Garantie, Grabenwarter § 22 Rdn. 60, 90. U N - A M R E u G R Z 1981 389; Ileckel J Z 1999 741; vgl. auch BVerG J Z 1999 353; Sachs!Kokott G r u n d gesetz 3 Art. 4, 34. FroweinlPeukerl 17. Vgl. I n t K o m m E M R K - Wüdhaber Art.2 des 1. ZP, 80 ff, 83. Vgl. BVerwG N V w Z 1994 578; schweizBGer. E u G R Z 1993 400. BVerfGE 52 233, vgl andererseits auch Hess.StGH N J W 1966 31. Sachs!Kokoll Grundgesetz 3 Art. 4 Rdn. 32; vgl. ferner I n t K o m m E M R K - Wildhaber Art. 2 des 1. Z P Rdn. 92 ff.

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VG Gießen N J W 2003 1265 (freiw. Tischgebet); V G H Hessen N J W 2003 2846; BVerfG E u G R Z 2003 756 hat in dieser Sache vorl. Rechtsschutz abgelehnt, aber f ü r das Hauptverfahren einige Hinweise gegeben (Verbot gezielten Einwirkens, Vermeidung einer Exponierung des a m Gebet nicht teilnehmenden Kindes).

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E G M R 15.2.2001 D a h l a b / C H ( N J W 2001 2871; Verbot an Lehrerin, K o p f t u c h zu tragen); dazu Goerlich N J W 2001 2862; ebenso E K M R bei Bleckmann E u G R Z 1981 121 (Verbot an Lehrer, in der

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Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

Art.

18IPBPR

wenn es als Zeichen einer mit Art. 3 Abs. 2, 3 G G unvereinbaren Weltanschauung dem Grundsatz der konfessionellen Neutralität der Schule und dem Schutz der religiösen Gefühle der Schüler und ihrer Eltern 8 0 unvereinbar ist 81 . Die Konventionsgarantie ist nicht verletzt, wenn einem Lehrer im Beamtenverhältnis nicht gestattet wird, der Schule während der Dienstzeit wegen des Freitagsgebetes mehrere Stunden fernzubleiben 82 . Ein im Klassenzimmer angebrachtes Kruzifix ist zu entfernen, wenn Erziehungsberechtigte eines Schülers ernsthafte und einsehbare Gründe dagegen vorbringen können 8 3 . Gleiches gilt bei den Einwänden gegen das Vorhandenseins eines Kruzifixes im Gerichtssaal 84 . Bei Untersuchungsgefangenen und Strafgefangenen sind in der Regel Einschränkun- 9 c gen mit den Konventionsgarantien vereinbar, die zur Wahrung der Sicherheit und Ordnung in der Vollzugsanstalt hinsichtlich Ort und Zeit der Religionsausübung 85 , Beschaffung besonderer Kultgeräte 86 , religiöser Literatur 87 , Kleidung 88 , Barttracht 8 9 und auch hinsichtlich sonstiger äußerer Anforderungen ihrer Religion angezeigt sind 90 . Andererseits besteht aber auch eine Pflicht des Staates, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auf die religiösen Bedürfnisse und Verpflichtungen der Gefangenen Rücksicht zu nehmen 9 1 , ihnen den Besuch des Gottesdienstes zu ermöglichen und für ihre religiöse Betreuung zu sorgen 92 . Um dies zu ermöglichen, darf die Gefängnisverwaltung den Gefangenen nach seiner Religionszugehörigkeit befragen 93 , verweigert er darüber die Auskunft, ist es allein ihm anzulasten, wenn Besonderheiten seiner Religion unberücksichtigt bleiben. Behauptet ein Gefangenen einen Religionswechsel, muß die Gefängnisverwaltung zwar prüfen, daß dieser ernsthaft und nicht nur zur Erlangung einer Vergünstigung vorgetäuscht ist, die Anerkennung des Religionswechsels darf aber nicht von einer schriftlichen Bescheinigung des Religionsbeauftragten abhängig gemacht werden 94 . 4. Engere Grenzen des innerstaatlichen Rechts. Art. 4 G G setzt den Einschränkungen der Religionsausübung engere Grenzen. Während die Regelungsvorbehalte der Konventionen allgemein einfachgesetzliche Einschränkungen zulassen, bedürfen nach Art. 4 G G alle Eingriffe einer unmittelbaren verfassungsrechtlichen Legitimation. Art. 4 G G

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Schule religiöse Abzeichen zu tragen); E K M R bei Villiger H d ß 599 (Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuchs in türkischen Universitäten), ebenso türk.VerfGH EuGRZ 1990 146). Vgl. Art. 18 Abs. 2 IPBPR, oben Rdn. 6. BVerfG NJW 2003 3111 (= JZ 2003 1164 mit Anm. Kästner) läßt dies offen, fordert aber eine Regelung durch den Gesetzgeber; dazu kritisch Ipsen NVwZ 2003 1210; Pofalla NJW 2004 1218; Sacksofsky NJW 2003 3297; vgl. ferner etwa BattislBultmann JZ 2004 581; Böckenförde NJW 2001 723; Debus NVwZ 2001 1355; BVerwG NJW 2002 3344 = JZ 2003 254 mit krit Anm. Michael·, und andererseits für den nichtstaatlichen Bereich BAG NJW 2003 1685 (Kopftuch einer Verkäuferin im Kaufhaus kein Kündigungsgrund für privaten Arbeitgeber). Vgl. ferner TntKommEMRK-tK/W/irt/)«· Art. 2 des 1. ZP, 95 ff. E K M R EuGRZ 1981 326. BVerfGE 93 1 = EuGRZ 1999 497; ferner zur Widerspruchslösung BayVerfGH BayVwBl 1997 686; BayVGH BayVerwBl 2002 400; schweizBGer. EuGRZ 1991 89; TntKommEMRK- Wildhaber Art. 2 des 1. ZP, 89 ff.

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Vgl. BVerfGE 35 375 (Kein Zwang; entgegen der eigenen Überzeugung in einem mit Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal zu verhandeln). Vgl. etwa EKMR EuGRZ 1981 328; ferner östr. VfGH bei Folz FS Verosta 218. E K M R nach Frmvein/Peukerl 22; vgl. Rdn. 7 ff. Vgl. E K M R nach FroweinlFenken 24, kein angeblich religiöses Buch über Kampftechniken. Zur Weigerung nordirischer Strafgefangener, Gefängniskleidung zu tragen EKMR bei P'roweinlPeukert 13. EKMR nach Frowein/Peukerl 24 Verbot eines Kinnbartes. Vgl. E K M R bei FrmveinlFenken 22, 24; Nowak 39. Zur Beachtung religiöser Speisevorschriften vgl. EKMR bei FroveeinlPeukert 22; ferner § 21 Satz 3 StVollzG EKMR nach FroweinlPeukert 22; Grahemvarter § 22 Rdn. 90; Frowein ZaöRVR 46 (1986) 258; vgl. ferner §§ 53 bis 55 StVollzG. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 425. OLG Köln NStZ 1994 207.

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M R K Art. 9

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

selbst gewährleistet ohne jeden Vorbehalt das Recht des einzelnen, sich seine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu bilden, sie zu haben und zu bekennen 95 . Deshalb greifen bei ihm nur die immanenten Schranken Platz, die sich aus anderen Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben 96 . So setzen ihr die kollidierenden Grundrechte anderer Grundrechtsträger sowie andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter Schranken 97 , die nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz auszugleichen sind. Dies kann das Verbot eines religiösen Vereins rechtfertigen, wenn nach sorgfältiger Sachaufklärung sich ergibt, daß dieser aggressiv-kämpferisch das Ziel verfolgt, Verfassungsprinzipien im Sinn des Art. 79 Abs.3 G G zu untergraben 9 8 . 11

Art. 4 G G wird durch Art. 140 GG in Verb, mit Art. 136 WV ergänzt, der klarstellt, daß der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis sind 99 , daß niemand verpflichtet ist, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren und daß die Behörden nur insoweit das Recht haben, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert (Art. 136 Abs. 3 WV). Dieses Verbot ist auch im Strafverfahren zu beachten 100 . Bei inhaftierten Personen ist die Feststellung der Religionszugehörigkeit durch die Gefängnisverwaltung zulässig, da sie Voraussetzung für die religiöse Betreuung der Gefangenen ist 101 . Ferner darf niemand zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden (§ 136 Abs. 4 WV). Die StPO trägt diesen Anforderungen Rechnung 102 . Auch sonst kann Art. 4 G G erfordern, bei der Durchführung der Verhandlung den religiösen Bindungen einzelner Rechnung zu tragen, sei es bei der Terminsanberaumung 1 0 3 , sei es bei der äußeren Gestaltung der Verhandlung 104 , oder den Anforderungen an das äußere Erscheinungsbild eines Verhandlungsteilnehmers l 0 \ Grenzen ergeben sich aber auch hier aus dem Zusammentreffen mit anderen Verfassungsgarantien, vor allem aus der Kolission mit den Grundrechten anderer 106 .

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Wegen der zahlreichen weiteren Auslegungsfragen zu Art. 4 G G muß auf die Erläuterungen dieses Artikels in den einschlägigen Kommentaren zum Grundgesetz verwiesen werden.

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Vgl. BVerfGE 69 1, 33 ff; 93 1, 15; BVerfG EuGRZ 2003 746 („vorbehaltslos aber nicht schrankenlos"). 96 vgl. BVerfGE 32 98, 107; 41 29, 50; 52 223, 246; BVerfG NJW 1989 3270; 2003 2815; IleiniglMorlock JZ 2003 777. 97 BVerfGE 28 243, 261; BVerfG EuGRZ 2003 746; ferner Vorst. Fußn. »8 BVerfG EuGRZ 2003 746 („Verbot des Kalifenstaats"). 99 Zur Problematik des Widerspruchs zwischen staatlicher Neutralitätspflicht und äußerer Betonung der Religionszugehörigkeit vgl. Rdn. 9. '»" LR-Dahs § 68 StPO 7; LR-Gollwilzer § 243 StPO 45.

1111

E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1983 425 zu Art. 9 MRK. 11,2 Vgl. LR-Dahs § 66c StPO, 1, § 66d StPO, 1. 1,13 Vgl. BGHSt. 13 123; LR-Gullwitzer § 213 StPO 5; RiStBV Nr. 116 Abs. 2. 1114 Vgl. BVerfGE 35 375 (Kein Zwang; entgegen der eigenen Überzeugung in einem mit Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal zu verhandeln). ins vgl. etwa Tragen einer Kopfbedeckung, VG Wiesbaden NVwZ 1985 137; ferner allgemein zu der mit dem Gesundheitsschutz begründeten Pflicht, Motorradhelme aufzusetzen bei Sikhs Schweiz.BGer. EuGRZ 1993 595; FnnveinIPeuken 24. 1M

Vgl. HeiniglMorlock JZ 2003 777, 781.

Stand: 1.10.2004

(490)

Art. 19IPBPR

Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 10 MRK (Art. 19 IPBPR) MRK Artikel 10 Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g *

IPBPR

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit u n d die Freiheit ein, Informationen u n d Ideen ohne behördliche Eingriffe u n d o h n e Rücksicht auf Staatsgrenzen zu e m p f a n g e n u n d weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, f ü r Hörfunk-, Fernseh- oder K i n o u n t e r n e h m e n eine Genehm i g u n g vorzuschreiben.

(1) J e d e r m a n n nungsfreiheit.

Artikel 19

(2) Die A u s ü b u n g dieser Freiheiten ist mit Pflichten u n d V e r a n t w o r t u n g v e r b u n d e n ; sie kann daher Formvorschriften, B e d i n g u n g e n , E i n s c h r ä n k u n g e n oder S t r a f d r o h u n g e n u n t e r w o r f e n werden, die gesetzlich v o r g e s e h e n u n d in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft n o t w e n d i g s i n d für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit oder zur A u f r e c h t e r h a l t u n g der O r d n u n g oder der Verhütung von Straftaten, zum Schutze der Gesundheit oder der Moral, z u m Schutze des g u t e n Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur W a h r u n g der Autorität u n d der Unparteilichkeit der R e c h t s p r e c h u n g .

Dazu Art 16 MRK:*

hat

das

Recht

auf

unbehinderte

(2) J e d e r m a n n hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen u n d Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, d u r c h K u n s t w e r k e oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen u n d weiterzugeben. (3) Die A u s ü b u n g der in Absatz 2 v o r g e s e h e n e n Rechte ist mit b e s o n d e r e n Pflichten u n d einer besonderen Verantw o r t u n g verbunden. Sie kann daher b e s t i m m t e n , gesetzlich v o r g e s e h e n e n E i n s c h r ä n k u n g e n u n t e r w o r f e n werden, die erforderlich s i n d a) für die A c h t u n g der Rechte oder des Rufs anderer; b) für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen O r d n u n g (ordre public), der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit.

Vgl. Art. 20 IPBPR (Verbot der Kriegspropaganda und der Aufhetzung zur Gewalt und Diskriminierung aus nationalem, rassischem oder religiösem Haß); nach Art.10 MRK erläutert.

Dazu Ratifizierungsgesetz v o m 15.11.1973: Artikel 1:

Die Artikel 10, 11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken.

Dem ... Pakt... wird mit folgender Maßgabe zugestimmt: 1. Artikel 19, 21 und 22 in Verbindung mit Artikel 2 Abs. 1 des Paktes werden in dem Artikel 16 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 entsprechenden Rahmen angewandt. 2. ...

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. vom 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

Schrifttum (Auswahl): Bartsch C o n t e m p t of C o u r t u n d Pressefreiheit, E u G R Z 1977 464; Blumenwitz Die Meinungs- u n d Informationsfreiheit nach Art. 19 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, F S E r m a c o r a (1988) 67; Britz Die Freiheit der K u n s t in der Europäischen Kulturpolitik, E u R 2004 1; Calliess Zwischen Souveränität und europäischer Effektivität: Z u m Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten im R a h m e n des Art. 10 E M R K , E u G R Z 1996 293; Dörr/Zorn Die Entwicklung des Medienrechts, N J W 2001 2837; Engel Der Z u s a m m e n h a n g von Sende- und Empfangsfreiheit unter der Europäischen Menschenrechtskonvention Z U M 1988 511; Engel Privater R u n d f u n k vor der Europäischen Menschenrechtskonvention(1993); Engel Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit, Archiv f ü r Presserecht 1994, 1; Frowein Art. 10 E M R K in der Praxis vom Kommission u n d Gerichtshof, Archiv f ü r Presserecht 1986 197; Giegerich Schutz der Persönlichkeit u n d Medienfreiheit n a c h Art. 8, 10 E M R K im Vergleich mit dem Grundgesetz, RabelsZ 1999 471; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte (1988); Grabenwarter F i l m k u n s t im Spannungsfeld zwischen Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g u n d Religionsfreiheit. A n m . zum Urteil des E G M R im Fall „ O t t o Premminger-Institut", Z a ö R V 55 (1995) 128; Hoffmeister Art. 10 E M R K in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs f ü r Menschenrechte 1994 bis 1999, E u G R Z 2000 358; Kiethe!Fuhrmann A b w ä g u n g zwischen Meinungsfreiheit und kollidierenden (491)

Mei-

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

R e c h t s g ü t e r n , M D R 1994 115; Kriele E h r e n s c h u t z u n d M e i n u n g s f r e i h e i t , N J W 1994 1897; Kühling D i e K o m m u n i k a t i o n s f r e i h e i t als e u r o p ä i s c h e s G e m e i n s c h a f t s g r u n d r e c h t (1999); Kulms W e r b u n g : G e s c h ü t z t e M e i n u n g s ä u ß e r u n g o d e r u n l a u t e r e r W e t t b e w e r b ? Z u m V e r h ä l t n i s v o n A r t . 10 E M R K u n d U W G , R a b e l s Z 1999 520; Lampe ( H r s g ) M e i n u n g s f r e i h e i t als M e n s c h e n r e c h t (1998); Langenfeld! Zimmermann Interdependenzen zwischen nationalem Verfassungsrecht, E M R K und E G R e c h t , Z a ö R V 52 (1992) 259; Nolle W e r b e f r e i h e i t u n d E u r o p ä i s c h e M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n , R a b e l s Z 1999 507; Prebeluh D i e E n t w i c k l u n g d e r M a r g i n o f A p p r e c i a t i o n - D o c t r i n im H i n b l i c k a u f die P r e s s e f r e i h e i t , Z a ö R V 61 (2001) 771; Preslmayr Vergleichende Werbung u n d Äußerungsfreiheit g e m . A r t . 10 E M R K , E u G R Z 1985 221; Scheyli D i e A b g r e n z u n g z w i s c h e n ideellen u n d k o m m e r z i ellen I n f o r m a t i o n s g e h a l t e n als B e m e s s u n g s g r u n d l a g e d e r „ m a r g i n of a p p r e c i a t i o n " i m R a h m e n v o n A r t . 10 E M R K , E u G R Z 2 0 0 3 488; Tretter J ü n g s t e E n t w i c k l u n g i m öster. R u n d f u n k r e c h t , E u G R Z 1996 77; Zimmermann Verbreitung von Informationen über Schwangerschaftsunterbrec h u n g e n u n d E u r o p ä i s c h e M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n , N J W 1 9 9 3 2966.

Rdn. 1. Allgemeines zu den Kommunikationsfreiheiten a) Bedeutung 1 b) Einschränkung der Garantien 3 c) Innerstaatliches Grundrecht 4 d) Recht der Europäischen Union 4a 2. Schutzgut a) Freiheit der Meinungsbildung 5 b) Freiheit der Meinungsäußerung 6 c) Freiheit der Tnfbrmationsbeschaffung . . 9 d) Pressefreiheit, Massenkommunikationsmittel 10 e) Freiheit der Kunst und Wissenschaft . . 11 f) Grenzübergreifende Garantie 12 3. Tragweite der Garantien a) Schutz gegen staatliche Eingriffe b) Schutzpflicht des Staates c) Geschützte Personen d) Wahlrecht

13 13b 14 14b

4. Beschränkungen; allgemeine Voraussetzungen (Alt. 10 Abs. 2 MRK; Art. 19 Abs. 3 IPBPR)

Alphabetische Rdn. Abwägung bei Eingriffen Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Amtliche Schriftstücke Angehörige des öffentlichen Dienstes Annoncen Ausforschung, staatliche Ausgewogenheit der Programme Ausländer Ausland Berufsausübung Beleidigung Berufsrecht Beschlagnahme Bestimmtheit der Regelung

4 1 24 14a, 28a 4 5 10a 3, 14 12 17,21 24, 28 f 17, 23, 28 27 17

Rdn. a) b) c) d)

Allgemein Gesetz Berechtigtes Ziel Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft e) Verhältnismäßigkeit f) Einschätzungsspielraum der Staaten . . . 5. Die einzelnen Zwecke einer zulässigen Beschränkung

15 17 18 19 20 21

a) Schutz der nationalen Sicherheit b) Öffentliche Ordnung c) Ansehen und Unparteilichkeit der Rechtspflege d) Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten e) Schutz der Gesundheit f) Schutz der Moral und der öffentlichen Sittlichkeit g) Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer

22 23 24 25 26 27 28

Übersicht Rdn. Bestrafung Binnenpluralität Bürgerrechte chilling effect common law contempt of court Demokratische Gesellschaft

21 10a 1, 14b 21c 17 24 1,4, 6, 10 ff, 13, 14a f, 18 ff, 20, 21a ff, 23 ff, 27 Dienstleistungsfreiheit 4a Diskriminierungsverbot 5, 14, 21d, 23a Dringendes gesellschaftliches Bedürfnis 19a

Stand: 1.10.2004

(492)

Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art.

Rdn. Drittwirkung Ehrverletzungen Eigentumsrecht Eingriff, staatlicher, insbes.

Eingriffszwecke Einrichtungen, öffentliche Einschätzungsspielraum des Staates, insbes.

Rdn.

13 21, 28 f 29 3,4a, 10 f, 13 f, 15 ff, 19a, 21 ff, 27 f 15, 18 ff 23a,28a

10a, 13 ff, 20 ff, 21c ff, 27 ff Einzelfall, maßgebend seine Umstände 21, 21b Entlassung aus dem öffentlichen Dienst 14a Europäische Union 4a, 12 Europäische Grundrechte-Charta 4a Eurapäisches Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen 12 Faires Verfahren 24 Fernsehen 2, 10a ff 12 Fernsehrichtlinie der EU Filme 7, 23a Flugblätter 7 Fragen von allgemeinem Interesse 1,13a,21,21c Freie Berufe 17, 21 Freiheit, sich Informationen zu beschaffen Freiheit, Informationen zu empfangen 13, 19,21 1 f, 6, 11 f, 23 Freiheit der Kunst 1, 5 f, 10a, Freiheit der Meinungsäußerung 13 f, 14a f, 17, 19, 21 ff, 28 Freiheit der Meinungsbildung 1, 5 f, 9 ff, 13 1,6,11 Freiheit der Wissenschaft Gedankenfreiheit 5 Gefangene 13b Gegendarstellung 8, 13b 5, 19 f Gehirnwäsche 1 Geistige Auseinandersetzung Geheimhaltung der Informationsquellen 21d Gemeinsamer internationaler Standard 19b Genehmigung, staatliche 2, 10a, 23 Gefahr der Einschüchterung („chilling effect") 21c Gerichtsberichterstattung 21 d 15 ff Gesetzliche Regelungen 21 ff, 28 Gesamtschau Gesundheit 18, 28 5 Gewissensfreiheit Gewinnerzielung 13 12 Grenzübergreifende Informationen Grundrechte, innerstaatliche 4, 17,21c Güter- und Interessenabwägung 17, 19a ff, 21b ff, 28 f Guter Ruf 18, 24, 28 f (493)

1 9 I P B P R

Herausgeber Tndoktrinierung, einseitige Informationsbeschaffung Informationsquelle, Geheimhaltung Informationsweitergabe Integrität, persönliche Internationale Übereinkommen Internet Interviews Journalisten Juristische Personen Kabelfernsehen kommerzielle Zwecke Kommunikationsformen Kommunikationsmittel, fremde Kriegspropaganda Kritik, öffentliche Kunst Lichtspielunternehmen Maßnahmen des Staates Medien

Medienkonzentration Meinungsäußerung Meinungsbildung Menschenwürde Mildere Mittel Mindermeinung Mißbrauchsklausel Mißstände, Erörterung Mitteilung von Tatsachen Moral Nachprüfung durch E G M R Nationales Recht, insbes. Nennung des Namens Notwendigkeit eines Eingriffs Öffentliche Aufgabe der Presse Öffentlicher Dienst, Beschränkungen Öffentliche Sicherheit und Ordnung Öffentliches Interesse Öffentliche Warnung Öffentlichkeit der Rechtspflege Öffentlichkeit, Tnformationsanspruch Örtliche Verhältnisse Offene Diskussion Parlamentarische Rechte Parteiverbot Personen des öffentlichen Lebens Pluralismus der Medien Pluralität der Meinungen Politiker Politische Auseinandersetzung Polizeibeamte

Walter Gollwitzer

10 5 1,9, 12, 21d 21d 1, 12 21e 10a 9 21d 10, 21d, 28 17 10a 10a 6f 8 3,22 1, 21c f, 28 f 1,11,27, 29 2, 10a, 23 16, 2 2

1,4a, 8, 10 f, 12, 13 f, 21, 21d, 22, 28 10a, 13b 1,5 ff, 10, 17,21c 21b ff, 28 21c, 21e 19b, 21b 11 3 21c f 6 18, 27 21a, 21c f 8, 10a, 13, 16 f, 21a 28 15, 18 ff, 21a ff 16

5, 19 f 18, 23 f, 25 21,21b, 28 f 17 24 21c f 21a, 27 28 14b 22 21c, 28 f 4a, 10a, 13 f, 9 4a, 13, 19 21c f, 28 21, 21c f, 28 14a, 28

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Rdn.

Rdn.

Pornographische Schriften Presse, öffentliche Aufgabe

27 10, 20 f, 21d, 28a Presse als Wachhund der Öffentlichkeit 21d 21 d Presse, polemische Übertreibung Presse, Sorgfaltspflicht 21d 4 f, 10, 20 f, Pressefreiheit 21d Private Dritte 13a f, 21 d Privatheit 5, 15, 21df, 28 f Progammgestaltung 10a Propaganda 5, 23a Provokation 21d Quellen, allgemein zugängliche 9, 21 d Rassenhaß 3 Realakte als Meinungsäußerung 7 Rechte anderer 4, 9, 23, 28 f Rechtsanwälte 24, 28 18,24 Rechtspflege, Schutz der Religionsfreiheit 5, 17,23 Religiöse Ansichten und Gefühle 21e, 23 f, 27, 29 Richter 24 Richterrecht 17 Rundfunk, Fernsehen 2, 4a, 8 f, 10a, 23 f Rundfunkmonopol 10a Rundschreiben 7 Rundumwirkung 13 Sachlichkeitsgebot 17 Satelitenfernsehen 10a Schranken 2, 3, 5 Schuluniform 6 Schutzpflicht des Staates 9, 13a, 21b Sendefrequenzen 10a Sicherheit, nationale 18, 22, 23a Soldaten 14a Staatsgeheimnisse 22 Staatsgrenzen 1,4a, 12 Steuergeheimnis 25

Störung des Empfangs eines Senders Straftaten Strafvorschriften Straßenverkehr Feilhabe am öffentlichen Eeben Feiekommunikation Foleranz Übung anderer Staaten Unschuldsvermutung Verbot der Veröffentlichung Verbot neonazistischer Betätigung Verbreitung vertraulicher Nachrichten Verfassungstreue Verfassungsrecht Verhältnismäßigkeit, insbes. Verleger Vermummungsverbot Veröffentlichung der Anklageschrift Verschwiegenheitspflicht Verwirkung Videokassetten Völkerrechtliche Rechtsakte Vorzensur Wahlbeteiligung Wahrheitsbeweis Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse Warenverkehrsfreiheit Warnung, staatliche Warnungshinweis auf Verpackung Weiterverbreitung Weltanschauung Werbung Werturteile Wettbewerb Willkür Wirtschaftliche Betätigung Zeugnisverweigerungsrecht

9, 12 18,23a 17 23a 1 23a 13, 19, 21d 19b, 21a 28 10 22 24 14a 17 19 ff, 28 10 23a 24 14a 4 7,27 17 10 14b 21d 21e 4a 17a 26 12 21e 4a, 6, 13a, 21,23,26 21 d 17,21 17,21b 13a, 20 f, 21e 10

1. Allgemeines zu den Kommunikationsfreiheiten 1

a) Bedeutung. Nach Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 1948 hat jedermann das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung, wobei zu diesem Recht auch die Freiheit gehört, sich ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. Hieran knüpfen Art. 10 MRK und Art. 19 IPBPR an, wenn sie jedermann die grundsätzliche Freiheit der Meinungsbildung einschließlich der dafür notwendigen freien Informationsbeschaffung und der Meinungsäußerung garantieren 1 . Diese Rechte sind eine Grundvoraussetzung für die selbstverantwortliche geistige Existenz des Menschen. Sie ermöglichen im gesell1

Zur Entstehungsgeschichte (Art. 10 MRK): Froweini Fenken 2; Farlsch 200. (Art. 19 IPBPR): Blumen-

n /'/r FS Ermacora 67 ff; Nowak insbes. 5, 7 ff.

Stand: 1.10.2004

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

schaftlichen Bereich die freie Entfaltung des geistigen Lebens und fördern die freie geistige Auseinandersetzung mit Meinungen und Ereignissen. Sie sind unerläßlich für eine funktionierende Demokratie, denn der freie ungehinderte Austausch von Nachrichten und Gedanken über die nationalen Grenzen hinweg und die ungehinderte Möglichkeit sich zu informieren und Kritik zu üben, sind grundlegende Voraussetzungen für jede echte Teilhabe am staatlichen Leben und für eine aktive Ausübung der Bürgerrechte 2 . Die Garantien schließen auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit mit ein. Die Regelungen in den beiden Konventionen weisen bei übereinstimmender Grund- 2 tendenz in den Einzelheiten Unterschiede auf. So zählt Art. 19 Abs. 2 IPBPR im Gegensatz zu Art. 10 M R K die wichtigsten Medien der Meinungsbildung und Meinungsäußerung ausdrücklich auf (Wort, Schrift, Druck, durch Kunstwerke) ohne diese jedoch abschließend festzulegen („andere Mittel der eigenen Wahl"). Andererseits fehlt bei Art. 19 IPBPR der bei Art. 10 Abs. 1 M R K enthaltene Bezug auf den Eingriff öffentlicher Behörden und der Hinweis auf die Zulässigkeit einer staatlichen Genehmigung für Rundfunk-, Lichtspiel- und Fernsehunternehmen 3 . Auch der Katalog der Gründe, die Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsbeschaffung rechtfertigen können, ist in Art. 10 Abs. 2 M R K detaillierter ausgeformt. Er ist zum Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung des E G M R 4 geworden. b) Eine Einschränkung der Garantien des Art. 10 M R K über den Katalog des Ab- 3 satzes 2 5 hinaus erlaubt Art. 16 M R K , der es den Vertragsstaaten gestattet, der politischen Tätigkeit von Ausländern Beschränkungen aufzuerlegen 6 . Art. 19 IPBPR enthält diese Einschränkung nicht, so daß seine Garantien für Inländer und Ausländer gleichermaßen gelten. Bei der Ratifikation des IPBPR hat die Bundesrepublik sich deshalb vorbehalten, Art. 19 IPBPR ebenfalls nur innerhalb des dem Art. 16 M R K entsprechenden Rahmens anzuwenden 7 . Die politische Meinungsfreiheit wird ferner durch Art. 20 IPBPR eingeschränkt, der die Vertragsstaaten verpflichtet, Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen und religiösen H a ß durch Gesetz zu verbieten 8 . Auch aus der Mißbrauchsklausel des Art. 17 M R K , Art. 5 Abs. 1 IPBPR können sich zusätzliche legitime Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung ergeben 9 .

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Etwa EGMR 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 23. 5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16); Sunday Times/GB (Series A 217); 23.4.1992 Castells/Span (Series A 236), 25.6. 1992 Thorgeirson/Tsl (ÖJZ 1992 810). FroweinlPeukert 1; Nowak 3. Zum beim IPBPR bestehenden Unterschied zwischen dem liberalen (westlichen) Freiheitsverständnis und dem der ehem. sozialistischen Staaten vgl. Blumenwitz FS Ermacora 67; Hofmann 45; Nowak 1 ff. Zum Vergleich beider s. auch Gutachten des 1AGMR EuGRZ 1986 371. Vgl. die Obersicht über die allein von 1994 bis 1999 entschiedenen 48 Fälle bei Hoffmeister EuGRZ 2000 368. In dessen Rahmen muß der Staat auch seiner Verpflichtung zum Schutze anderer Konventionsrechte, insbesondere des durch Art. 8 MRK geschützten Privat- und Familienlebens durch Herstellung einer praktischen Konkordanz Rechnung tragen; vgl. Giegerich RabelsZ 1999 471, 474 ff. Bei EU-Bürgern greift diese Einschränkung nicht,

(495)

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vgl. E G M R 27.4.1995 Piermont/F (ÖJZ 1995 751); FroweinlPeukert Art. 16, 1; Giegerich RabelsZ 1999 471, 472; vgl. § 16 Rdn. 3. Die Veranstalterfreiheit ist durch die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) gedeckt, die jedoch Sonderregelungen für Ausländer aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zuläßt (Art. 55, 46 EGV). Art. 1 Nr. 1 des Ratifikationsgesetzes vom 15.11. 1973 (BGBl. 11 S. 1533). Zu diesem Schrankenvorbehalt vgl. Nowak Art. 20 IPBPR 2 ff; Blumenwitz FS Ermacora 70, 77; ferner Iloffmeister EuGRZ 2000 358. EGMR 23.9.1994 Jersild/Dän. (ÖJZ 1995 227; kein Schutz rassistischer Äußerungen durch Art. 10 MRK). Zum Anwendungsbereich des Art. 17 M R K Klein ZRP 2001 397, 399 f; ferner Meyer-Ladewig 1 bis 3; Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 360: „Verbot der Auschwitzlüge" wird durch 17 MRK dem Schutz des Art. 10 MRK entzogen mit Hinweis auf obiter dictum in E G M R 23.8.1998 Lehideux, Isone/F (ÖJZ 1999 656; Verwendung für Marschall Petain).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

4

c) Das innerstaatliche Grundrecht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten (Art. 5 Abs. 1 GG), stimmt mit den Konventionsgarantien im wesentlichen überein; dies gilt auch, soweit die von Art. 19 Abs. 2 IPBPR nur inhaltlich umschriebene und in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 M R K überhaupt nicht ausdrücklich erwähnte Pressefreiheit als Individualrecht garantiert wird 10 . Die Beschränkbarkeit der von Art. 5 G G gewährleisteten Grundrechte ist zwar insofern weiter, als dafür generell die allgemeinen Gesetze ausreichen, die nicht auf die in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR genannten Regelungszwecke beschränkt sein müssen. Praktisch dürfte aber gegenüber der vom Grundgesetz gebotenen Abwägung bei der Auslegung grundrechtseinschränkender Gesetze wegen der weiten Fassung der zulässigen Eingriffszwecke in Art. 10 Abs. 2 M R K k a u m ein ins Gewicht fallender Unterschied bestehen, zumal der Vorbehalt der Rechte anderer generalklauselartig wirkt 11 . Die nur von Art. 10 Abs. 2 M R K geforderte Notwendigkeit der Einschränkung in einer demokratischen Gesellschaft findet im wesentlichen eine Entsprechung 12 in der vom Grundgesetz gebotenen restriktiven Anwendung der einschränkenden Normen, die ihrerseits im Lichte der Bedeutung der Meinungsfreiheit im demokratisch verfaßten Staat des Grundgesetzes unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen sind 13 . Die Möglichkeit einer Verwirkung des Grundrechtes nach Art. 18 G G dürfte von den Einschränkungen der Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3, Art. 20 IPBPR gedeckt sein. Ohne auf die Divergenzen im einzelnen einzugehen, sollen im Rahmen dieser Kommentierung nur die Grundzüge der Gewährleistungen beider Konventionen angesprochen werden.

4a

d) Das Recht der Europäischen Union rechnet die Ausstrahlung von Rundfunk- und Fernsehsendungen einschließlich deren Weiterverbreitung in Kabelnetzen sowie das Zurverfügungstellen des Anzeigenraums in Druckerzeugnissen zu den freien Dienstleistungen 14 , während für den Vertrieb von Druckerzeugnissen einschließlich des Vertriebs von Presseerzeugnissen die Freiheit des Warenverkehrs gilt. Diese Konventionsgarantien sind daher auch durch die Freiheitsverbürgungen des Gemeinschaftsrechtes abgesichert 15 . Die Europäische Grundrechte-Charta16 bekräftigt in ihrem Art. 11 ebenfalls das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung sowie die Freiheit, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Nach Art. 11 Abs. 2 werden die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet 17 . Art. 52 Abs. 2 der Charta stellt klar, daß die Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte, die in den Gemeinschaftsverträgen oder dem Vertrag über die Europäische Union begründet sind, im Rahmen der darin festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt, während Art. 52 Abs. 3 festlegt, daß die der M R K entsprechenden Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie in der M R K . 2. Schutzgut

5

a) Die Freiheit der Meinungsbildung, die sich als Vorgang des Innenlebens mit der durch Art. 9 M R K , Art. 18 IPBPR besonders geschützten Gedanken-, Gewissens- und Frowein/Peukerl 2; vgl. Rdn. 10. Zu den Unterschieden vgl. Giegerich RabelsZ 1999 471 ff; Zusammenfassung 505 ff. lichterhölter JZ 1956 146; Ilofmann S. 46; Schorn 13. BVerfGE 7 198, stand. Rspr. Vgl. etwa BonnerKom/Degenhart Art. 5 GG, 660.

Vgl. etwa Dörr/Zorn NJW 2001 2837; SachslBelhge GG Art. 5, 7 ff mit weit. Nachw. Text EuGRZ 2000 554. Damit wird auch der Medienpluralismus festgeschrieben, vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 1.

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

Religionsfreiheit und zum Teil auch mit einigen Erscheinungsformen des Rechts auf Privatheit des Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR überschneidet, wird in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 M R K , Art. 19 Abs. 1 IPBPR als Voraussetzung der freien Meinungsäußerung uneingeschränkt und uneinschränkbar gewährleistet18. Der Staat hat das Recht des einzelnen auf seine eigene Meinung zu achten. Er darf versuchen, durch Informationen und Propaganda im Rahmen des in der modernen Kommunikationsgesellschaft üblichen Informationsangebotes auf den Meinungsbildungsprozeß des einzelnen einzuwirken; er darf ihm aber nicht gegen seinen Willen durch unerlaubte Mittel, wie Gehirnwäsche und sonstige gegen Art. 3 M R K , Art. 7 IPBPR verstoßende Methoden oder durch einseitige Indoktrinierung eine bestimmte Meinung aufzwingen 19 oder ihn veranlassen, entgegen seiner inneren Überzeugung eine bestimmte Meinung nach außen zu vertreten. Dies deckt sich mit Art. 14 M R K , Art. 2 Abs. 1 IPBPR, die bei der Gewährleistung der Konventionsrechte jede Differenzierung nach politischen oder sonstigen Anschauungen verbieten und mit Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR, die den einzelnen vor der unbefugten Ausforschung seiner Meinung durch den Staat schützen. b) Die Freiheit der Meinungsäußerung („right to freedom of expression" „droit ä la 6 liberte d'expression") garantiert das Recht, eine intern gebildete eigene Meinung auch nach außen frei und unbehindert kundzutun. Meinung ist dabei aber nicht nur im engen Sinn einer wertenden Äußerung zu verstehen; auch die bloße Mitteilung von Tatsachen und jede sonstige Äußerung 2 0 , auch als Äußerungen zu wertende Realakte 21 unterfallen der Konventionsgarantie. Geschützt wird grundsätzlich das jedermann zustehende Recht, sich in jeder beliebigen Art und Weise und zu jedem beliebigen Zweck frei auszudrücken. Art. 10 Abs. 1 Satz 2 M R K spricht von der „Mitteilung von Nachrichten und Ideen" („informations and ideas", „des informations ou des idees") ebenso Art. 19 Abs. 2 IPBPR mit dem verdeutlichenden Zusatz, daß „Nachrichten und Gedankengut jeder Art", geschützt werden. Beide Konventionen garantieren also das Recht auf Äußerungen aller Art und in jeder Form, von der bloßen Mitteilung oder Weitergabe von Tatsachen, Nachrichten, wertenden Stellungnahmen oder Verbreitung neuer Ideen bis zur Werbung ideeller oder kommerzieller Art 2 2 , ohne Rücksicht auf den damit verfolgten Zweck 23 , oder darauf, ob die Äußerung von anderen als positiv oder als verletzend und schockierend aufgefaßt wird 24 . Auch die in Art. 10 M R K nicht besonders angesprochene Freiheit der Wissenschaft und die Freiheit der Kunst sind Teil der Meinungsfreiheit 25 . Als Recht mit Sozialbezug ist die Freiheit der Äußerung wichtig für die zwischenmenschlichen Beziehungen und für das politische Leben in einer Demokratie. N u r aus den in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 2 IPBPR umrissenen Gründen kann sie durch 18

" 20

21 22

UN-AMR Allgemeine Bemerkung 10/19 Nr. 1 (EuGRZ 1984 421); Froweinl Peukert 3, 4: „Freiheit vor Indoktrinierung"; Grabenwarter § 23 Rdn. 3; Meyer-Ladewig 10; Nowak 7. Vgl. E G M R 7.12.1976 Kjeldsen/Dän (EuGRZ 1976 478); Nowak 9, sowie Vorst. Fußn. Blumenwitz FS Ermacora 71 (keine abschließende Aufzählung der Äußerungsinhalte); Meyer-Ladewig 5; vgl. auch Grabenwarter § 23 Rdn. 4 (keine Unterscheidung von Meinungen und Tatsachen auf der Schutzbereichsebene sondern erst bei der Rechtfertigung). Vgl. Rdn. 7. E G M R 20.11.1989 markt intern Verlags GmbH u. a./D (EuGRZ 1996 302) dazu Calliess EuGRZ 1996 293; EGMR 28.3. 1990 Groppera Radio/CH

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24

25

(EuGRZ 1990 255); offen gelassen in 25.3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); 17.10.2002 Stambuk/D (EuGRZ 2002 589); ferner EGMR 20.5. 1998 Schöpfer/CH ( ÖJZ 1999 237); EKMR NJW 1992 963 (Werbeverbot für Anwälte); östr.VfGH ÖJZ 1987 61; 1997 252; Presimayr EuGRZ 1985 221; FroweinlFenken 9 mit weit. Nachw. Froweini Peukert 5; Nowak 10. Ständ. Rechtspr.; vgl. etwa EGMR 26.11.1991 Observer and Guardian/GB (EuGRZ 1995 16), EGMR 21.3.2000 Wabl/Ö (ÖJZ 2001 108); 27.2. 2001 Jerusalem/Ö (ÖJZ 2001 693); weit. Nachw. Rdn. 13. E G M R 24.5.1988 Müller/CH (NJW 1989 379); 20.9.1994 Otto-Premminger-Tnstitut/Ö (ÖJZ 1996 154); vgl. Britz EuR 2004 1.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Gesetz eingeschränkt werden. Das Recht auf Meinungsfreiheit umfaßt auch das Recht, nicht zur Vertretung einer abgelehnten Meinung gezwungen zu werden. Die Pflicht, eine Schuluniform zu tragen, verstößt aber nicht gegen Art. 10 M R K 2 6 , ebensowenig die Teilnahme als Schüler an einer Schülerparade 2 7 . 7

Das Recht, sich frei zu äußern, ist nicht auf bestimmte Kommunikationsmittel oder Kommunikationsformen beschränkt. Art. 19 Abs. 2 IPBPR verdeutlicht dies, wenn er Wort, Schrift oder Druck, Kunstwerke oder andere Mittel der eigenen Wahl besonders aufzählt. Auch Video-Kassetten und Filme 28 fallen hierunter, wie die Erwähnung der Kinounternehmen in Art. 10 Abs. 1 Satz 3 M R K zeigt. Nach Art. 10 Abs. 1 M R K kann der Äußernde jedes ihm dafür verfügbare Mittel wählen 29 . Die Verteilung von Flugblättern, Rundschreiben oder Zeitschriften kann eine eigene Meinungsäußerung des Verteilers sein, wenn sich der Verteilende mit deren Inhalt identifizieren will 30 . Auch Realakte, mit denen das Mißfallen an bestimmten Verhaltenweisen anderer ausgedrückt 3 1 oder provokant gegen andere Stellung genommen wird, wie etwa durch demonstratives Verbrennen einer Flagge oder durch die Herabwürdigung politischer oder religiöser Symbole 32 , fallen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit.

8

Das Recht auf Kundgabe der eigenen Meinung begründet keinen Anspruch, dafür auch fremde Kommunikationsmittel benutzen zu können. Grundsätzlich ist jeder auf die Kommunikationsmittel beschränkt, über die er selbst verfügen oder sich durch eine Absprache mit anderen verschaffen kann oder die ihm von der nationalen Rechtsordnung für bestimmte Zwecke eröffnet werden, wie etwa der presserechtliche Anspruch auf Gegendarstellung33. Ohne eine solche Rechtsgrundlage besteht kein Anspruch auf freien Zugang zu Kommunikationsmitteln, über deren Verwendung andere Personen zu bestimmen haben. Vor allem kann aus den Konventionsgarantien grundsätzlich kein allgemeines Recht Privater hergeleitet werden, die Massenmedien, wie etwa Rundfunk oder Fernsehen, zur Verbreitung ihrer eigenen Ansichten benützen zu können 34.

9

c) Die Freiheit, sich Informationen zu beschaffen und zu empfangen, sichert die Grundlagen für eine verantwortliche eigene Meinungsbildung und Meinungsäußerung 3 5 . Im freien zwischenmenschlichen Meinungsaustausch ist das eine ohne das andere nicht denkbar. Die Gewährleistung richtet sich gegen den Staat, der in die Freiheit, auch über die Grenzen hinweg 36 Informationen zu empfangen oder sich zu beschaffen, nicht ohne einen rechtfertigenden Grund im Sinne von Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR eingreifen darf. Anders als Art. 19 Abs. 2 IPBPR erwähnt zwar Art. 10 Abs. 1 M R K das E K M R nach Villiger HdB 604. Vgl.(zu Art. 9 MRK) E G M R 18.12.1996 Valsamis/Griech (ÖJZ 1998 116), dazu Fahrenhorst EuGRZ 1996 633. Zum Begriff und zur Abgrenzung vom Rundfunk vgl. etwa Boniiei'Kom/7)ri[i7///i/;7 904 ff. FroweinlPeukert 2, 5. E G M R 23.9.1998 Steel/GB (Rep. 1998 VII); EKMR nach FroweinlPeukert 6; Ilojfmeist er EuGRZ 2000 358, 359. Etwa EGMR 23.9.1998 Steel/GB (Rep. 1998-VII); 25.11.1999 Hashmann, Harrup/GB (ECHR 1999VIII) provokante Störung der lagdausübung durch langsames Gehen oder Hornblasen, vgl. dazu Hoffmeister EuGRZ 2000 358, 359 mit weit. Beispielen; Grahenwarter § 23 Rdn. 4; Meyer-Ladewig 8. Grabenwarter § 23 Rdn. 4. Ob aus Art. 10 MRK ein Recht des einzelnen gegen

54

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den Staat auf Einführung eines solchen Anspruchs abzuleiten wäre, ist zweifelhaft, vgl. FroweinlPeukerl 16; ferner Giegerieh RabelsZ 1999 471, 479 unter Hinweis auf den US Supreme Court, wonach Recht auf Gegendarstellung Pressefreiheit verletzt. Vgl. E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 122 (kein Recht, die eigene Meinung im Rundfunk zu verbreiten); UN-AMR EuGRZ 1982 2342 (Hertzberg), dazu Nowak 19: ferner auch zu den hier nicht zu erörternden Ausnahmefällen Frowein!Peukert 10, 16; Nowak 18, 19. Vgl. Grahenwarter § 23 Rdn. 6, sogen, passive Informationsfreiheit, die aber auch das Recht schützt, sich um Informationen zu bemühen. Zur völkerrechtlichen Absicherung der grenzübergreifenden Informationsfreiheit durch Vereinbarungen über den „free flow of information" vgl. Blumenwitz FS Ermacora 67, 73 ff.

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

Recht, Informationen zu sammeln, nicht besonders; das Recht, Informationen zu empfangen, schließt aber auch das Recht mit ein, sich aktiv um Informationen zu bemühen 3 7 und dafür auch alle allgemein zugänglichen Quellen 38 zu benützen. Dazu gehört auch der Zugang zum Internet, für den die allgemeinen Grundsätze über die Freiheit der Informationsbeschaffung gelten und nicht die Sonderregelungen für Rundfunk und Fernsehen 39 . Der Staat darf die Freiheit der Informationsbeschaffung nicht behindern, er muß vielmehr dafür sorgen, daß ein Informationssystem besteht, das dem einzelnen ermöglicht, sich über alle wesentlichen Fragen zu unterrichten 40 . Er wird aber durch Art. 10 M R K und Art. 19 IPBPR nicht verpflichtet, seinerseits selbst Informationen zu sammeln und von sich aus zu publizieren 41 . Es genügt, wenn der einzelne frei und unbehindert vom Staat um Informationen bei jeder dazu bereiten Person oder Stelle nachfragen kann. Ohne einen dies rechtfertigenden triftigen Grund im Sinne des Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR darf der Staat in das Informationsbeschaffungsrecht des einzelnen nicht eingreifen; er darf weder die Benutzung dafür notwendiger Einrichtungen oder Empfangsgeräte 4 2 verbieten, noch den Empfang der Sendungen stören 43 . Eine Beeinträchtigung des freien Informationsaustausches durch staatliche Maßnahmen kann sowohl die Konventionsrechte des Verbreiters als auch die des am Empfang der Information Interessierten verletzen. Der potentielle Empfänger oder Interessent an einer Information kann sich dagegen wenden, wenn sein Recht Informationen zu empfangen, dadurch verletzt wird, daß der Staat ohne rechtfertigenden Grund die Verbreitung einer auch für ihn wichtigen Mitteilung unterbunden hat 4 4 . Das aktive Informationsbeschaffungsrecht hat der einzelne aber immer nur im Rahmen der ihm offenen und rechtlich zulässigen Möglichkeiten45. Es begründet keinen Anspruch auf Daten, die ihm von ihrer Zweckbestimmung her nicht zugänglich sind. Gesetzliche Regelungen, die dies ausschließen, sowie entgegenstehende Rechte anderer 4 6 setzen dem Informationsbeschaffungsrecht Schranken; so vor allem auch, soweit der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht aus Art. 8 M R K 4 7 der Informationsbeschaffung Grenzen setzen muß. Ein allgemeiner Anspruch auf ungehinderten Zugang zu allen Informationen, die bei den Einrichtungen der öffentlichen Hand angesammelt sind, oder auf eine umfassende Auskunft über diese durch staatliche Einrichtungen läßt sich auch aus Art. 19 Abs. 2 IPBPR nicht herleiten 48 . 37

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4,1

Östr.VfGH EuGRZ 1987 237; schweiz.BGer. EuGRZ 1907 93; FroweinlPeukerl 11; (Irabenwarler § 23 Rdn. 6; a. Α Pansch 201. Diese in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 G G enthaltene ausdrückliche Einschränkung fehlt zwar in den Konventionsgarantien, sie ergibt sich bei ihnen aber daraus, daß diese ihrer Schutzrichtung nach grundsätzlich weder gegen private Dritte noch gegenüber staatlichen Stellen weitergehende Auskunftsansprüche begründen; vgl. Berka EuGRZ 1982 413; Grabenwarter § 23 Rdn. 6; Villiger HdB 611; Nowak 16. Ob ein auf eigene Angelegenheiten beschränkter Auskunftsanspruch unmittelbar daraus hergeleitet werden kann, ist fraglich, vgl. schweiz.BGer. EuGRZ 1979 3; NowaklRosenmayrlSchwaighofer Bericht über Kolloquium in Sevilla EuGRZ 1986 233; FroweinlPeukerl 13. Vgl. Giegerich RabelsZ 1999 471, 476 ff; Grabenwarter § 23 Rdn. 9 (Subsumtion unter allgemeine Informations- und Meinungsfreiheit nicht unter Rundfunkfreiheit). Vgl. FroweinlPeukerl 13; (irabenwarler § 23 Rdn. 6, 42.

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Östr.VerfGH (EuGRZ 1999 427); Blumenwilz FS Ermacora 67, 71; Goose NJW 1974 1305; 1307; Grabenwarler § 23 Rdn. 14, 42; Unterrichtungspflichten des Staates können sich aber aus anderen Schutzpflichten ergeben, so aus Art. 8 MRK; vgl. EGMR 19.2. 1998 Guerra/T (NVwZ 1999 57). E G M R 22.5.1990 (EuGRZ 1990 261); E K M R bei Slrasser EuGRZ 1990 291 (beide Autronic AG; Parabolantenne); vgl. ferner etwa BVerfGE 90 27, 33; 92 126; Berl.VerfGH NJW 2002 2166; Dörrt /Mm NJW 2001 1837, 2840; Sachs! Bethge G G Art. 5, 59; Ellger RabelsZ 1999 655. Gamig EuGRZ 1988 5. E G M R 26. 3.1987 Leander/Schwed (Series A 116) 1.1.1989 Gaskin/GB (Series A 160); 29.10.1992 Open Door and Dublin Well Womann/lrl (EuGRZ 1992 484); FroweinlPeukert 13. Vgl. l-roweintPeukert 11, 13; Nowak 16 ff. Z.B. auch urheberrechtliche Vorschriften, vgl. FroweinlPeukerl 7; ferner Rdn. 29. Vgl. Art. 8 M R K Rdn. 8. Östr.VfGH EuGRZ 1990 427; Berka EuGRZ 1982 413; Nowak 17; Goose NJW 1974 1307. Zur Ver-

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

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d) Die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsverbreitung durch die sonstigen Massenkommunikationsmittel wird in den Konventionen nicht besonders erwähnt. Diese gehen davon aus, daß die Konventionsgarantien die Verbreitung und Weiterverbreitung von Informationen auf jede technisch mögliche Art umfassen 4 9 und daß ihre Schranken grundsätzlich auch für alle Medien gelten 50 . Die Zuordnung zur Pressefreiheit hat aber insofern Bedeutung, als deren Hauptträger, die periodischen Zeitschriften, eine herausgehobene Stellung für die Meinungsbildung in einer demokratischen Staatsordnung haben und daher die staatlichen Eingriffe sehr viel höheren Schranken unterliegen 51 . Der erhöhte Schutz umfaßt sowohl die Arbeit der Journalisten selbst als auch die dazu gehörenden Rahmenbedingungen. Ihm unterfallen neben den Journalisten auch die Verleger und Herausgeber im Außen- wie im Innenverhältnis 52 . Als eine Grundvoraussetzung der Pressefreiheit genießt auch das Zeugnisverweigerungsrecht der journalistischen Berufe über ihre Informationsquellen diesen Schutz, andernfalls wäre die für die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe der Presse unentbehrliche Gewinnung von Informationen gefährdet 5 3 . Ein ausdrückliches Verbot der Vorzensur der Presse, also das Abhängigmachen einer Veröffentlichung von einer vorherigen behördlichen Kontrolle, fehlt in beiden Konventionen 54 . Dies beruhte wohl auf der Ansicht, daß eine Regelung, die eine Veröffentlichung formell von einer vorherigen staatlichen Kontrolle oder Bewilligung abhängig macht, mit der Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar sei55. Völlig ausgeschlossen wird ein staatlicher Eingriff durch das Verbot einer beabsichtigten Veröffentlichung im Einzelfall aber nicht; so vor allem, wenn schwerwiegende Gründe dies zum Schutze wichtiger Rechtsgüter rechtfertigen, der Eingriff nur vorläufigen Charakter hat und seine Berechtigung in einem gerichtlichen Verfahren alsbald geprüft werden kann 5 6 . Sind die Tatsachen, deren Veröffentlichung verhindert werden soll, jedoch bereits anderweitig veröffentlicht, kann der Schutzzweck entfallen, der den Eingriff rechtfertigt 57.

10a

Bei den Rundfunk-, Lichtspiel- und Fernsehunternehmen bestätigt der Hinweis auf die Zulässigkeit einer staatlichen Genehmigung in Art. 10 Abs. 1 Satz 3 M R K den Grundsatz, daß die Garantien der Freiheit der Meinungsbildung und Meinungsäußerung für alle Medien gelten 58 . Die Einschränkung war durch die staatlichen Rundfunkmonopole ankerung des Grundsatzes des „free flow of information" in anderen Verträgen Blumenwitz FS Ermacora 73. Zu der in der Spruchpraxis offenen Frage, ob allgemein ein Anspruch auf angemessene Information beseht, vgl. Froweinl Peukert 13. ® Vgl. Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 362 ff. 511 E G M R 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 28.3.1990 Groppera Radio/CH (EuGRZ 1990 255); 23. 5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); EuGH EuGRZ 1991 279 (Fernsehmonopol); FroweinlPeukert 16; Grabenwarter § 23, 7; Guradze 8; Nowak 13. 7 Grabenwarter § 23 Rdn. 7; vgl. Rdn. 13. 52 Vgl. EGMR 11.1.2000 NewsVerlagsGmbH & Co KG/Ö (ÖJZ 2000 394); Grabenwarter § 23 Rdn. 8. 53 Vgl. E G M R 27.3.1996 Goodwin/GB (ÖJZ 1996 795); 20. 5.1999 Bladet Tromso u. a./Norw (EuGRZ 1999 453); Grabenwarter § 23 Rdn. 36; Meyer-Ladewig 25. 54 Vgl. E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); Froweinl Peukert 25; Grabenwarter § 23 Rdn. 13; Nowak 30; Hofmann S. 46, sowie nachf. Fußn.

«

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FroweinlPeukert 24; Villiger HdB 621; ferner unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 2 IPBPR Nowak 20, 30; ferner Blumenwitz FS Ermacora 69, 73; vgl. auch EGMR 19. 12, 1994 Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs, Gubi/Ö (ÖJZ 1995 314: Weigerung des Dienstherrn, Zeitschrift zu verbreiten ist Eingriff). E G M R 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16: geheime Informationen, sog. „Spycatcher Fälle"); Grabenwarter § 23 Rdn. 28; Meyer-Ladewig 15; vgl. auch nachf. Fußn. und Rdn. 21. Vgl. E G M R 9.2.1995 Verenigung Weekblad Bluff Ndl (ÖJZ 1995 469); dazu auch Rdn. 21 FroweinlPeukert 19; bei Art. 19 IPBPR wurde von der Aufnahme einer ähnlichen Bestimmung abgesehen, zumal sich die Einführung einer staatlichen Genehmigungspflicht mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung (Art. 19 Abs. 3 IPBPR) rechtfertigen läßt, vgl. Nowak 14.

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

veranlaßt, die bei Unterzeichnung der M R K im Jahre 1950 in den meisten Mitgliedstaaten nicht zuletzt auch wegen der damals nur begrenzt verfügbaren Sendefrequenzen bestanden 5 9 . Eine Festschreibung bestimmter Organisationsformen für den Betrieb dieser Massenmedien liegt darin nicht 60 . Der Satz wird jedoch dafür angeführt, daß zumindest die Zulassung ihres Betriebs und dessen technische Vorgaben durch staatliche Regelungen auch aus anderen als den in Absatz 2 angeführten Gründen eingeschränkt werden können 6 1 . Eine staatliche Lizenzierung oder ähnliche Regelungen, die die Errichtung privater Sendestationen von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Erfordernissen, den Rechten und Bedürfnissen eines bestimmten Publikums abhängig macht oder die Umsetzung der Verpflichtungen aus internationalen Ubereinkommen bezweckt, können deshalb nach dem dritten Satz des Absatzes 1 zulässig sein 62 , selbst wenn sie keinem der in Art. 10 Abs. 2 genannten Ziele dienen 63 . Abgesehen von solchen Regelungen, die es erlauben, den Gegenstand des Sendebetriebs zur Sicherung bestimmter allgemeiner Zielsetzungen, wie etwa die Ausgewogenheit und Qualität der Programme generell festzulegen 64 , bedarf jede staatliche Einflußnahme auf den Inhalt von Sendungen einer Rechtfertigung durch einen der in Absatz 2 aufgeführten Schutzzwecke 65 . Gleiches gilt für sonstige Eingriffe der öffentlichen Hand in die inhaltliche Programmgestaltung 6 6 . Alle Eingriffe 67 müssen vom Gesetz vorgesehen sein, eine legitime Zielsetzung haben und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, also einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen 68 . Bei dieser Beurteilung haben die Behörden einen Ermessensspielraum, der je nach der Art der Programminhalte unterschiedlich weit bemessen ist; er ist weiter, wenn ein Veranstalter vorwiegend Sendungen zu kommerziellen Zwecken beabsichtigt 69 . Ob im Hinblick auf den technischen Fortschritt ein staatliches Monopol für ein terrestrisches Fernsehen auch dann mit Art. 10 M R K noch vereinbar ist, wenn es eine objektive und ausgewogene Berichterstattung („Binnenpluralität") garantiert 70 , hängt nach Ansicht des E G M R auch davon ab, ob anderen potentiellen Betreibern durch einen nur unzulänglichen Zugang zum terrestrischen Fernsehen 71 oder durch den völligen Ausschluß davon unmöglich gemacht wird, Meinungen

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Vgl. Villiger HdB 628. EKMR bei I-rowein/Peukert 19 ff; vgl. auch EGMR 28.3.1990 Groppera Radio/CH (EuGRZ 1990 255); EuGH EuGRZ 1991 279 (Fernsehmonopol); Grabenwarter § 23 Rdn. 37; vgl. auch nachf. Fußn. E G M R 24.11.1993 Informationsverein Lentia/Ö (EuGRZ 1994 549); 20.10.1997 Radio ABC/Ö (ÖJZ 1998 151): 21.9.2000 Tele 1 Privatfernsehgesellschaft/Ö (ÖJZ 2001 157); 5.11.2002 Demuth/ CH (EuGRZ 2003 489); dazu Scheyli EuGRZ 2000 455); vgl. auch Dörr/Zorn NJW 2001 2837; MeyerLüdewig 37. So etwa E G M R 5.11.2002 Demuth/CH (EuGRZ 2003 489; dazu Scheyli EuGRZ 2000 455). Vgl. die bei Villiger HdB 629 aufgeführten Beispiele für solche Gesichtspunkte; FroweinlPeukert 18 ff; MeyerLadewig 37; sowie die vorst. Fußn., ferner EuGH EuGRZ 1991 279. E G M R 21.9.2000 Tele 1 Privatfernsehgesellschaft mbH/Ö (ÖJZ 2001 156); Grabemvarier § 23 Rdn. 37; Meyer-Ladewig 37; ferner vorst. Fußnoten. Vgl. EGMR 5.11.2002 Demuth/CH (EuGRZ 2003 489); ferner Grabenwarter § 23 Rdn. 9 (Einschränkung im Interesse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens).

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Vgl. EGMR 28.3.1990 Groppera Radio/CH (EuGRZ 1990 255); 22.5.1990 Autronic/CH (EuGRZ 1990 261); 24.11. 1993 Informationsverein Lentia/Ö (EuGRZ 1994 549); Strasser EuGRZ 1994 549; Frowein/Peukert 19; Grabenwarter § 23 Rdn. 37; Meyer-Ladewig 37; Villiger HdB 629. 66 Vgl. E K M R Villiger HdB 630: Verbot, ein direktes Interview mit Angehörigen einer terroristischen Vereinigung zu senden. 67 Zum Zusammenhang zwischen Sende- und Informationsfreiheit vgl. Engel ZUM 1988 11. 68 Vgl. E G M R 5.11.2002 Demuth/CH (EuGRZ 2003 489 CarTV, Verweigerung der Sendekonzession für Spartenprogramm), krit. dazu Scheyli EuGRZ 2003 455. ® EGMR 5.11.2002 Demuth/CH (EuGRZ 2003 489 CarTV). 70 Vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 38 (Begrenzte Bevorzugung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dann zulässig). 71 Vgl. EGMR 20.10. 1997 Radio ABC/Ö (ÖJZ 1998 151: zu geringes Frequenzangebot trotz weitergehender technischer Möglichkeiten).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

im Wege des Fernsehens zu verbreiten, oder ob sie für ihre eigenen Programme sonstige dazu geeignete Medien, wie Kabel- oder Satellitenfernsehen, haben, die eine lebensfähige Alternative zum terrestrischen Fernsehen bieten 72 . Auf die Fragen, ob sich aus den als Individualfreiheitsrecht garantierten Konventionsrechten auch eine Garantie zur Erhaltung des Pluralismus der Medien 73 und damit nicht nur ein Recht 74 sondern auch eine Pflicht des Staates zur Verhinderung einer übermäßigen Medienkonzentration 7 5 herleiten läßt, sowie, ob die Konventionen auch außerhalb einer öffentlich-rechtlichen Trägerschaft medienintern die Binnenpluralität, vor allem Äußerungsfreiheit und Meinungsvielfalt gewährleisten 76 , kann hier nicht näher eingegangen werden. 11

e) Die Freiheit der Kunst und Wissenschaft wird in Art. 10 M R K nicht besonders erwähnt, da dieser nicht nach den Ausdrucksformen unterscheidet 77 . Art. 19 Abs. 2 IPBPR nennt als Medium für die Weitergabe von Informationen und Gedankengut ausdrücklich auch die Kunstwerke. Den Konventionsgarantien liegt ein offener Kunstbegriff zu Grunde, der nicht auf bestimmte Formen und Inhalte begrenzt ist und auch diejenigen mit einschließt, die die Kunstwerke der Öffentlichkeit zugänglich machen 78 . Bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs in diese Freiheiten werden an die erforderliche Abwägung wegen ihrer fundamentalen Bedeutung in einer demokratischen Gesellschaft hohe Anforderungen gestellt; es wird unter Umständen auch zwischen den staatlichen Sanktionen unterschieden (hier Geldbuße und Vernichtung als unzüchtig empfundene Bilder) 79 . Die Wissenschaftsfreiheit umfaßt Forschung, Lehre und Publikation wissenschaftlicher Erkenntnisse, auch wenn es sich um eine Mindermeinung handelt 8 0 . Für sie gelten die allgemeinen Schranken.

12

f) Grenzübergreifende Garantie. Beide Konventionen stellen ausdrücklich heraus, daß die Freiheit der Äußerung und der Information nicht an den Landesgrenzen endet; sowohl das Recht, sich zu erklären als auch das Recht auf Informationsbeschaffung gelten auch in bezug auf das Ausland 8 '. Die Möglichkeit, im Ausland seine Meinung zu verbreiten, etwa durch Ausstellung eigener Kunstwerke 82 , wird dadurch ebenso vor aktiven staatlichen Eingriffen geschützt wie umgekehrt der Bezug ausländischer Presseerzeugnisse oder politischer Broschüren 8 3 und der Empfang ausländischer Radio- und Fernsehsender, auch zum Zwecke der Weiterverbreitung 84 . Die Störung des Empfanges solcher Sendungen ist dem Staat verboten 8 5 . Der grenzüberschreitende Informations72

73 74

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76

77

Vgl. zur Rechtslage in Österreich die Differenzierungen in E G M R 20.10.1997 Radio ABC/Ö (ÖJZ 1998 151); 21.9.2000 Tele 1 Privatfernsehgesellschaft/Ö (ÖJZ 2001 157); östr.VfGH EuGRZ 1996 106; Grabenwarter § 23 Rdn.37; Tretter EuGRZ 1996 77; sowie vorst. Eußn; ferner Dörr/Zorn NJW 2001 2837, 2845 ff mit weit. Nachw. und zur Rechtslage in der Bundesrepublik etwa SaehslBethge GG Art. 5, 99 ff So Schorn 8 (Institutionsgarantie). Vgl. EGMR 28.6.2001 Verein gegen Tierfabriken/ CH (ÖJZ 2002 855). Vgl. etwa Frowein/Peukert 18; Meyer-Lüdewig 38; Nowak 18; 46; ferner Grabenwarter § 23 Rdn. 41 mit Hinweis auf eine Reihe von diesbezüglichen Erklärungen des Ministerkomitees und der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Vgl. UN-AMR EuGRZ 1982 343 (Hertzberg); Nowak 19. E G M R 24.5.1988 Müller u.a./CH (NJW 1989 379); Meyer-Ladewig 17. Villiger HdB 609.

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85 84

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Grabenwarter § 23 Rdn. 11 („Kunstmittler"); vgl. E G M R 20.9.1994 Otto Premminger-lnstitut/Ö (ÖJZ 1995 154), ferner vorst. Eußn. Vgl. einerseits andererseits EKMR EuGRZ 1986 702 (beide Müller/CH); dazu Villiger Hdb 609. Grabenwarter § 23 Rdn. 11. Vgl. Blumenwitz FS Ermacora 73 ff insbes. auch zum weiterreichenden Grundsatz des „free flow of Information". Vgl. EGMR 24. 5.1988 Müller u.a./CH (NJW 1989 379); oben Fußn. Östr.VfGH EuGRZ 1990 427. E G M R EGMR 28.3.1990 Groppera Radio/CH (EuGRZ 1990 255); 22.5.1990 Autronic/CH (EuGRZ 1990 261); E K M R bei Strasser EuGRZ 1990 287 (Groppera Radio); Villiger HdB 631. Gornig EuGRZ 1988 1; Ilufmann 46; Villiger HdB 632; vgl. Rdn. 9.

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

austausch über die Massenmedien ist inzwischen auch Gegenstand internationaler Übereinkommen. Die Fernsehrichtlinie der EU sichert dies im Verhältnis zwischen den Mitgliedsländern der EU 8 6 , während im Verhältnis zu den anderen Staaten das Europäische Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 5.5.1989 8 7 gilt. 3. Tragweite der Garantien a) Schutz gegen staatliche Eingriffe gewähren die Art. 10 Abs. 1 M R K , Art. 19 Abs. 1 13 IPBPR als individuelle Freiheitsgarantie grundsätzlich jedermann. Geschützt wird jeder in seiner für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unerläßlichen Freiheit, sich aus allen legal zugänglichen Quellen zu informieren und seine Meinung privat und öffentlich zu äußern, ganz gleich, ob seine Nachrichten und Ideen den herrschenden Ansichten entsprechen und welchen Zweck er damit verfolgt, dies gilt auch, wenn mit der Meinungsäußerung die Absicht verbunden ist, Gewinn zu erzielen 88 . Innerhalb der durch die Absätze 2 gezogenen Grenzen ist auch unerheblich, ob sie günstig aufgenommen werden oder ob sie einzelne Personen oder Personengruppen beunruhigen, verletzen oder schockieren 89 . Dies erfordern Pluralismus, Toleranz und offene Geisteshaltung, ohne die eine demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht existieren kann. Soweit es um die Teilhabe am öffentlichen Geschehen im weitesten Sinne geht, kann die Ausübung dieser für die demokratische Staatsordnung konstituierenden Freiheiten 90 vom Staat aus den nach Art. 10 Abs. 2 M R K zulässigen Gründen nur in sehr engen Grenzen und nur im absolut notwendigen Umfang eingeschränkt werden 91 . Dem Staat wird dagegen ein größerer Regelungsspielraum zuerkannt, soweit sich 13a Äußerungen nur auf den privaten Bereich beschränken oder nur die wirtschaftliche Betätigung betreffen, insbesondere bei der reinen Werbung 92 , wobei sich dieser Regelungsraum aber verengt, wenn dabei auch Fragen von Allgemeininteresse angesprochen werden 93 . Art. 10 M R K schützt, wie der Wortlaut von Absatz 1 Satz 2 zeigt, vor Eingriffen öffentlicher Stellen in die garantierten Freiheiten, die nur im begrenzten Umfang und nur zu den in Absatz 2 aufgeführten Zwecken zulässig sind. Dies gilt gleichermaßen, ob 86

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Fernsehlichtlinie 89/552 EU vom 3.10.1989 in der Neufassung der Richtlinie 97/36 EU (ABl 1989 L298/23; 1997 L 202/60); dazu etwa BonnerKom/ Degenhart Art. 5 GG, 663 ff; Dörr/Zorn NJW 2001 2837, vgl. Rdn. 4a. In der Bundesrepublik in Kraft seit 1.11.1994 (Bek. vom 30.9.1994, BGBl. 11 S. 3627), geändert durch das Protokoll vom 9.9.1998 (Ges. vom 1.9. 2000; in der Bundesrepublik in Kraft seit 1.3.2000 Bek vom 29.4.2002, BGBl. II S. 1524). Etwa E G M R 22.5.1990 Alitronic AG/CH (EuGRZ 1990 261); Kulms RabelsZ 1999 520, 521 ff; FroweinlPeukerl 9. EGMR 29.4.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 26.11.1991 Observer and Guardian/GB (EuGRZ 1995 16), 23.4. 1992 Castells/Span (ÖJZ 1992 802); 19.12.1994 Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs & Gubi/Ö (ÖJZ 1995 314); 23.9.1998 Lehideux,Isomi/E (ÖJZ 1999 656); 8.7.1999 Baskaya & Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995); 21.3. 2000 Wabl/Ö (ÖJZ 2001 108); 27.2.2001 Jerusalern/Ö (ÖJZ 2001 693). Vgl. Scheyli EuGRZ 2003 455, 460: „preferred freedoms".

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Etwa E G M R 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 23.5. 1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); 25.6.1992 Torgeir Torgeirson/Isl (ÖJZ 1992 810); 28.8.1992 Schwabe/Ö (ÖJZ 1993 67); 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636); 23.9.1994 Jersild/Dän (ÖJZ 1995 227); 26.4.1995 Präger und Oberschlick/Ö (ÖJZ 1995 675); 8.7.1999 Baskaya & Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995); ferner vorst. Fußn. sowie Grabenwarter VVDStL 60 (2000) 309; Iluffmeister EuGRZ 2000 358; Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 783 ff; ferner Scheyli EuGRZ 2003 455, 460.

92

Zu der trotz wirtschaftlicher Zielsetzung erforderlichen Abgrenzung zwischen kommerziellen und ideellen Informationsgehalten Scheyli EuGRZ 2003 455, 456 in Kritik an EGMR 5.11.2002 Demuth/ CH (EuGRZ 2003 488); vgl. auch Nolte RabelsZ 1999 507, 515 ff; Kulms RabelsZ 1999 521 527 f (kein pauschal weiter Beurteilungsspielraum sondern am Einzelfall orientierte Verhältnismäßigkeitsprüfung); vgl. ferner vorst. Fußn.

93

EGMR 25. 8.1998 Hertel/CH (ÖJZ 1999 614); vgl. auch EGMR 25.3. 1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

sich der Eingriff gegen die Person des für die Äußerung Verantwortlichen richtet oder gegen den für ihre Verbreitung eingeschalteten Medienträger oder gegen das Medium selbst, mit dem die Meinung ausgedrückt wird und in dem sie vielfach auch verkörpert ist 94 . Ein unmittelbares Recht des einzelnen gegen private Dritte läßt sich daraus nicht herleiten 95 . Bei Art. 19 Abs. 2 IPBPR wurde die Beschränkung der Garantie auf behördliche Eingriffe nicht aufgenommen; hieraus wird geschlossen, daß der Garantie eine „Rundumwirkung" zukomme 9 6 . Eine unmittelbare Drittwirkung ist jedoch zu verneinen. 13b

b) Die allgemeine Schutzpflicht des Staates nach Art. 1 M R K , Art. 2 IPBPR umschließt auch das für das Demokratieprinzip unverzichtbare Gebot, dafür zu sorgen, daß die in Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR garantierten Freiheiten nicht durch Dritte zunichte gemacht werden können. Daraus kann sich die Verpflichtung des Staates ergeben, tätig zu werden, um die Freiheit der Meinungsäußerung zu ermöglichen und zwar sowohl im Verhältnis zwischen Privatpersonen 97 als auch zum Schutze eines Presseorgans und seiner Bediensteten, wenn diese wegen einer Meinungsäußerung laufend Ziel von Gewalttaten sind 98 . Durch welche Maßnahmen der Staat dieser Schutzpflicht im einzelnen nachkommen will, steht in seinem Einschätzungsermessen, das nach den gleichen Gesichtspunkten wie bei den staatlichen Eingriffen enger oder weiter bemessen wird 99 . Wieweit diese staatliche Schutzpflicht reicht, ist vor allem im Bereich der Massenmedien noch wenig geklärt 100 . Es wird die Ansicht vertreten, daß dem Staat eine extreme Meinungsbeeinflussung verwehrt ist101 und daß er verpflichtet ist, eine Ordnung zu schaffen, in der der einzelne ungehindert durch Dritte seine ihm durch die Konventionen garantierten Rechte, insbesondere sein Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben und daß er seine Informationsrechte uneingeschränkt wahrnehmen kann, vor allem aber auch, daß er dazu auf eine Vielzahl konkurrierender Medien zurückgreifen kann 102 . Daraus wird die Pflicht des Staates hergeleitet, zu verhindern, daß das Informationsangebot, das durch die Meinungsvielfalt in der Presse gegeben ist, durch eine exzessive Pressekonzentration hinfällig wird 103 . Fraglich ist, ob sich aus den Konventionsrechten, insbes. Art. 8 M R K auch weitergehende Schutzansprüche des Betroffenen gegenüber dem Staat herleiten lassen, etwa, daß der Staat verpflichtet ist, dem Betroffenen gegen ihn beeinträchtigende Presseveröffentlichungen ein durchsetzbares Recht auf Gegendarstellung einzuräumen 104 . Soweit der Staat eine Person einem Sonderstatus unterwirft, der ihre gesamten Lebensverhältnisse reglementiert, können ihm daraus weitergehende positive Verpflichtungen zur Sicherung der Mindestrechte erwachsen, etwa bei Gefangenen die Ermöglichung einer ausreichenden Information über die Ereignisse der Außenwelt oder

94

Zu der verschiedenen Zielrichtung staatlicher Eingriffe vgl. Nowak 20 ff; Iluffmeister EuGRZ 2000 358, 365 (unter Hinweis auf EGMR 8.7.1999 Sürek/ Türk - Verantwortlichkeit als Verleger). 55 Vgl. Parlsch 203 Fußn. 680. 56 Nowak 18. 97 Grabenwarier § 23 Rdn. 40. 98 EGMR 16.3.2000 Özgür Gündem/Türk (ECHR 2000-TTT); Grabenwarier § 23 Rdn. 40; Meyer-Ladewig 9; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 822 f. " Vgl. E G M R 21.2.1990 Powell, Rayner/GB (ÖJZ 1990 418) mit Hinweis, daß die Grenze zwischen positiven Verpflichtungen und Eingriffen manchmal schwierig zu ziehen ist; dazu Prepeluh ZaöRV 61 (2001)771, 822. 10 » Vgl. UN-AMR Allgemeine Bemerkung 10/19 Nr. 2 (engl. Text, Nowak S. 883).

11.1

FroweinlPeukerl 4. EGMR 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 24.11.1993 Tnformationsverein Lentia/Ö (EuGRZ 1994 549). 1113 E G M R 24.11.1993 Informationsverein Lentia/Ö (EuGRZ 1994 549); FroweinlPeukerl 4; E K M R nach FroweinlPeukerl 17; Meyer-Ladewig 9. im Vgl. EKMR (Abweisung ratione personae) bei Frowein/ Peukert 16 (ev. Ableitung aus Art. 8 MRK in Verbindung mit Art. 10); Meyer-Ladewig 9; Villiger HdB 622; vgl. auch Giegerieh RabelsZ 1999 471, 479 (zumindest sind alle zvilrechtlichen Schutzansprüche für Medienopfer in Deutschland durch Art. 10 Abs. 2 M R K gedeckt). Die Amerikanische Menschenrechtskonvention gewährleistet in Art. 14 das Gegendarstellungsrecht ausdrücklich. Der US Supreme Court verneint ein solches Recht vgl. Rdn. 8. 11.2

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

die Beschaffung wichtiger Unterlagen 105 , ferner auch das Zurverfügungstellen von Papier und Schreibzeug für Eingaben 106 . c) Geschützte Personen. Die Rechte aus diesen Konventionsartikeln werden grundsätzlich jedermann, Inländern und Ausländern gleichermaßen, garantiert. Nur hinsichtlich der politischen Tätigkeit von Ausländern läßt Art. 16 M R K Einschränkungen der durch Art. 10 M R K garantierten Freiheiten zu 107 . Im übrigen stehen diese jedem ohne Ansehen der Person zu, eine unterschiedliche Behandlung nach der Person des Trägers würde gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 M R K , Art. 2 Abs. 1 IPBPR verstoßen. Für Personen, die sich im öffentlichen Dienst befinden 108 , für Soldaten 109 oder Polizeibeamte 110 gelten grundsätzlich ebenfalls die Rechte aus Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR, ferner auch für Personen, denen die Freiheit entzogen ist, wie etwa S t r a f g e f a n g e n e . Aus dem Sonderstatus können sich aber zum einen besondere Pflichten für den Staat ergeben 112 , andererseits kann er seinen öffentlichen Bediensteten auch besondere, durch die Zwecke des Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR legitimierte Einschränkungen auferlegen 113 . So kann er Angehörige des öffentlichen Dienstes zur Verschwiegenheit verpflichten oder ihre politische Betätigung Einschränkungen unterwerfen 114 , die sich vor allem aus ihrer Pflicht zur Verfassungstreue und zur Unparteilichkeit ergeben 115 . Sie sind gehalten, bei ihren Äußerungen nach Form und Inhalt sachlich zu bleiben und insbesondere auch bei Kritik an den öffentlichen Verhältnissen oder auch an ihrem Dienstherrn Zurückhaltung zu üben 116 . Ob der Staat eine solche Zurückhaltung aus einem der in Absatz 2 aufgezählten Gründe im konkreten Einzelfall verlangen kann, hängt aber davon ab, ob dies bei Berücksichtigung des hohen Stellenwertes der freien Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, was eine Abwägung aller Umstände des jeweiligen Falles erfordert. Die grundsätzlich auch den öffentlichen Bediensteten zustehende Freiheit der Meinungsäußerung entfällt nicht schon deshalb, weil die Äußerung unter den gegebenen Umständen aktuelle politische Bedeutung hat. Ein Recht auf Zugang zum öffentlichen Dienst gewährleisten die Konventionen bewußt nicht 117 . Eine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen bestimm-

11.5

E K M R bei FrowemlFenken 14 (Beschaffung von Gesetzestexten auf eigenen Kosten). 11.6 EKMR nach Villiger HdB 604; Meyer-Ladewig 15. vgl. Rdn. 14a. 107 Vgl. Rdn. 3, auch zu den Ausnahmen für Unionsbürger. los Vgl. für Angehörige des öffentlichen Dienstes EGMR 28.8.1986 Kosiek/D (EuGRZ 1986 509); 28.8.1986 Glasenapp/D (EuGRZ 1986 497); 26.9. 1995 Vogt/D (EuGRZ 1995 590); 28.10. 1999 Wille/ Liechtenstein (NJW 2001 1195); 22.11.2001 Volkmer/D (NJW 2002 3087); Meyer-Ladewig 18; Nowak 47; Villiger HdB 608; aber keine Verletzung bei Ablehnung des Zugangs zum öffentlichen Dienst; vgl. EGMR 28. 8.1986 Glasenapp/D (EuGRZ 1986 497); ferner Frowein! Peukert 36, sowie die ähnlichen Fragen bei Vertretung einer religiös oder weltanschaulich bedingten Auffassung bei Art. 11 MRK. E G M R 8.6.1976 Engel/NdL (EuGRZ 1976 221); 19.12.1994 Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs,Gubi/Ö (ÖJZ 1995 314); vgl. auch EGMR 25. 11.1997 Grigoriades/Griech (ÖJZ 1998 794; Beleidigung der Armee); Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 360; Grabenwarter § 23 Rdn. 27.

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E G M R 20.5.1999 Rekvenyi/Ung (NVwZ 2000 231), vgl. Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 360. Vgl. etwa EGMR 25.3. 1983 Silver (EuGRZ 1984 147, dort aber nur Art. 8 MRK geprüft); EKMR bei Frowein/Feuken 14 (Recht, Gesetzestexte auf eigene Kosten zu beschaffen oder einsehen zu können); ferner Guradze 21 I; Nowak 47, 48; Art. 8 M R K Rdn. 39a; vgl. auch Rdn. 14. Vgl. Rdn. 13a. Vgl. EGMR 28. 10.1999 Wille/Liechtenstein (NJW 2001 1195); Meyer-Ladewig 19; Villiger HAB 608. E G M R 20. 5.1999 Rekvenyi/Ungarn (NVwZ 2000 421). Vgl. EGMR 28.8.1986 Glasenapp/D (EuGRZ 1986 497); 26.9. 1995 Vogt/D (NJW 1996 375); Grabenwarter § 23 Rdn. 27; Meyer-Ladewig 18, 36. Meyer-Ladewig 36. Vgl. E G M R 28.10.1999 Wille/Liechtenstein (NJW 2001 1195, wo aber ein Eingriff wegen der noch laufenden Amtszeit bejaht wurde); kritisch dazu Grabenwarter § 23 Rdn. 17 (kein Recht auf Wiederernennung); Iloffmeister EuGRZ 2000 359.

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14

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ter Meinungsäußerungen oder einer jetzigen oder früheren politischen Betätigung wird jedoch an Art. 10 M R K gemessen, ihre Gründe bedürfen daher einer einzelfallbezogenen Rechtfertigung durch einen der Gründe des Absatz 2 118 . 14b

d) Das Recht zur Teilnahme an allgemeinen Wahlen folgt als ein jeweils nur bestimmten Gruppen von Bürgern (Gemeindeangehörige, Staatsangehörige, EU-Angehörige) zustehendes politisches Bürgerrecht nicht aus Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR sondern aus Art. 3 des 1. ZP zur MRK 1 1 9 ; desgleichen gehören die vom jeweiligen Parlamentsrecht festgelegten Rechte der Parlamentarier in der Volksvertretung, insbesondere ihr dortiges Antrags- und Rederecht, nicht zum Schutzbereich des Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR 1 2 0 . 4. Allgemeine Voraussetzungen der Beschränkung der Ausübung (Art. 10 Abs. 2 MRK; Art. 19 Abs. 3 I P B P R )

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a) Allgemein. Unter dem Hinweis auf die Pflichten und die Verantwortung (IPBPR: „besondere Pflichten und besondere Verantwortung"), die die Ausübung der Meinungsund Informationsfreiheit mit sich bringt 121 , legen Art. 10 Abs. 2 MRK, Art. 19 Abs. 3 IPBPR die Voraussetzungen fest, unter denen in die dort garantierten Freiheiten eingegriffen werden darf oder sogar eingreifen muß, wenn dies zur Erfüllung einer ihm aus einer anderen Konventionsgarantie erwachsenen Schutzpflicht geboten ist, so etwa zum Schutze des Lebens (Art. 2 M R K ) oder des Privat- und Familienlebens (Art. 8 M R K ) oder der Religionsfreiheit (Art. 9 M R K ) oder auf Grund des Art. 20 IPBPR. Die Aufzählung der Eingriffsgründe in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR ist abschließend; aus anderen als den angeführten Gründen kann ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung nicht gerechtfertigt werden 122 . Die Eingriffe müssen gesetzlich geregelt123 und für die dort jeweils angeführten Zwecke notwendig sein. Anders als Art. 19 Abs. 3 IPBPR engt Art. 10 Abs. 2 M R K dies weiter dahin ein, daß die Notwendigkeit aus der Sicht einer demokratischen Gesellschaft bestehen muß 124 .

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Als in Betracht kommende Maßnahmen des Staates, mit denen die in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR aufgeführten Schutzgüter durchgesetzt werden können, zählt Art. 10 Abs. 2 M R K Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen auf. Er hat also eine Bandbreite, unter der sich alle praktisch in Betracht kommenden Regelungen und Maßnahmen subsumieren lassen 125 , so daß die Aufzählung keine Einengung gegenüber Art. 19 Abs. 3 IPBPR bedeutet, der bestimmte gesetzliche Einschränkungen ohne nähere Klassifizierung der Art den zulässigen staatlichen Maßnahmen zurechnet.

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b) Gesetzlich vorgesehen muß jede zulässige Einschränkung der Meinungsfreiheit anderer sein. Ihre Voraussetzungen müssen also in einem Gesetz im materiellen Sinn als

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E G M R 26.9.1995 Vogt/D (EuGRZ 1995 590 Entlassung als Lehrerin wegen Mitgliedschaft in D K P nicht gerechtfertigt); 22.11.2001 Volkmer/D (NJW 2002 3087 Stasi-Informant); Meyer-Ladewig 19. EKMR bei Froweinl Peukert 6; vgl. EGMR 18.2. 1999 Matthews/GB (NJW 1999 3101: Gibraltar). Froweinl Peukert 6 unter Hinweis auf den anderen Lösungsasatz der EKMR; vgl. SaehslBeihge GG Art. 5. 40 ff (Organkompetenzen). Dieser Satz enthält aber keine eigenständige Rechtsgrundlage für Einschränkungen sondern erklärt lediglich die anschließend daran abschließend

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aufgezählten Eingriffsgründe; vgl. EGMR 25.6. 1992 Thorgeirson/lsl (ÖJZ 1992 810); FroweinlFenken 22. Vgl. östr.VfGH ÖJZ 1996 590 (Kollegialität; Ehre und Würde des Standes). Dazu können auch Vorschriften des EG-Rechts gehören; zu dem Verbraucherleitbild des EuGH, der strengere Anforderungen an die irreführende Werbung stellt, vgl. Kulms RabelsZ 1999 520, 534. Dazu Rdn. 19 ff. Froweinl Peukert 24.

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

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Rechtssatz festgelegt sein. Auch Normen des Verfassungsrechts oder völkerrechtliche Rechtsakte 126 können als Rechtsgrundlage für einen Eingriff ausreichen, ferner nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Verfassungsrechts auch Normen im Range unter einem formellen Gesetz 127 oder auch das von den Standesvertretungen erlassene Berufsrecht 128 . Gleiches gilt für die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze des common law 129 und auch für richterrechtlich entwickelte Grundsätze 13°. Voraussetzung ist, daß die jeweilige Regelung dem Betroffenen zugänglich und ihr Inhalt aus sich selbst heraus verständlich ist oder aber in Verbindung mit ihrer Auslegung durch die Gerichte so hinreichend genau bestimmt werden kann, daß ihre willkürliche Anwendung ausgeschlossen ist 131 . Eine absolute Gewißheit, die jeden Auslegungszweifel ausschließt, kann nicht verlangt werden 132 . Für den Betroffenen muß aber genügend vorhersehbar sein, was der jeweiligen Regelung vernünftigerweise unterfällt, so daß er sein Verhalten darauf einstellen kann 1 3 3 , wie etwa bei Wettbewerbsbeschränkungen zur Verhütung unlauteren Wettbewerbs 134 . Auch komplexe Spezial-Vorschriften können diese Anforderung noch erfüllen, wenn sie sich an einen Personenkreis wenden, der die nötigen Spezialkenntnisse hat oder sich verschaffen kann 1 3 5 . Greift der Staat mit einer Strafvorschrift in die Meinungsfreiheit ein, muß diese nicht nur im Zeitpunkt der Tatbegehung sondern auch noch im Zeitpunkt ihrer Aburteilung gesetzlich vorgesehen sein, dies setzt den wirksamen Fortbestand der Regelung voraus 136 . Der Gesetzesvorbehalt gilt für alle konkreten Eingriffe in die durch Art. 10 M R K garantierten Freiheiten. Bei einer öffentlichen Verlautbarung, durch die die zuständigen staatlichen Stellen in Erfüllung einer ihnen obliegenden Aufgabe die Allgemeinheit vor bestimmten Entwicklungen warnen oder sie über bestimmte Gefahren aufklären wollen, genügt es, daß die handelnde Stelle dazu sachlich befugt ist. Eine zusätzliche besondere gesetzliche Eingriffsermächtigung, wie von Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR für einen unmittelbaren (administrativen) Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung des Betroffenen gefordert wird, bedarf es bei solchen allgemeinen Verlautbarungen nicht 137 . Die Meinungsäußerungsfreiheit der Betroffenen bleibt dadurch ebenso unberührt wie deren Freiheit, sich eine eigenen Meinung zu bilden und sie beizubehalten. Solche Äußerungen

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EGMR 28.3.1990 Groppera Radio AG/CH (EuGRZ 1990 255); 22.5.1990 Autronic AG/CH (EuGRZ 1990 261); Grabenwarter § 23 Rdn. 20. Enger zu Art. 19 1BPBR Nowak 36 (Gesetz im formellen Sinn); zur strikten Gesetzesbindung der Eingriffe in die Meinungsfreiheit bei Art. 5 Abs. 2 GG vgl. etwa BVerfGE 83 130, 142; 108 282, 297; BVerfGNJW 2004 2814. EGMR 25.3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 15, Satzung); 24.2.1994 Casado Coea/Span (ÖJZ 1994 637), zum öffentlich-rechtlichen Status von Standesvertretungen vgl. auch E G M R 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 23.11.1983 Van der Mussele/Belg(EuGRZ 1985 477); 30.11. 1987 H/Belg (ÖJZ 1988 220). Etwa EGMR 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 25.11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714). E G M R 29.10.1992 Open Door and Dublin Well Woman/Trl (EuGRZ 1992 484). Vgl. etwa EGMR 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16); 25.11.1996 Wingrove/ GB (ÖJZ 1997 714). Vgl. etwa Garbenwarter § 23 Rdn. 20.

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i« Etwa EGMR 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 387); 25.3.1985 Barthold (EuGRZ 1985 173); 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16); 13.7.1995 Tolstoy Miloslavsky/ GB (ÖJZ 1995 949); 27.3.1996 Goodwin/GB (ÖJZ 1996 795); E G M R 20.5.1999 Rekvenyi/Ung (NVwZ 2000 421); Nowak 36; ferner etwa E G M R 25.11.1999 Hashman, Harrup/GB (Störung einer Fuchsjagd „contra bona mores" zu unbestimmt) dazu Dörr/Zorn NJW 2001 1837, 2856. Grabenwarter § 23 Rdn. 20; vgl. Art. 8 M R K Rdn. 11. 134 E G M R 20.11.1989 markt intern Verlag GmbH ua/D (EuGRZ 1996 302); News Verlags GmbH & Co KG/Ö (ÖJZ 2000 394). 135

EGMR 20.3.1990 Groppera Radio/CH (EuGRZ 1990 755); anders für den gleichen Fall EKMR bei Slrasser EuGRZ 1990 287. 136 E G M R 8.7.1999 Baskaya & Okcoglu/Türk (NJW 2001 1995 unter Hinweis auf den Unterschied zu Art. 7 MRK). i " Vgl. Hoff meist er EuGRZ 2000 358, 359 unter Hinweis auf EGMR 28.10.1999 Wille/Liechtenst. (NJW 2001 1195), wo ebenfalls keine formale Rechtsgrundlage gefordert wurde.

Walter Gollwitzer

17a

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

werden auf Grund der Organkompetenz abgegeben und nicht etwa in Ausübung eines dem Staat nicht zustehenden Grundrechts auf Meinungsfreiheit; die staatlichen Stellen sind deshalb bei ihren Äußerungen zur Zurückhaltung und zur ausgewogenen Sachlichkeit verpflichtet 138 . Wirkt sich eine öffentliche Verlautbarung mittelbar auf die Rechtsstellung anderer, etwa auf die Berufsausübungsfreiheit der von ihr Betroffenen aus, muß dafür ein sachlicher Anlaß von hinreichendem Gewicht bestehen. Soweit Zusammenschlüsse von Personen, vor allem juristische Personen, selbst Träger des Grundrechtes der Freiheit der Meinungsäußerung oder vergleichbarer Konventionsrechte, wie etwa die Religionsfreiheit, sind, können sie sich auch ihrerseits bei ihren Äußerungen darauf berufen, wenn sie von ihrer Freiheit Gebrauch machen, um vor gesellschaftlichen Entwicklungen oder Gefahren zu warnen 139 . D a ß dann kollidierende Rechte auf freie Meinungsäußerung einander gegenüberstehen, liegt in der Natur der Meinungsfreiheit. Dies ist auch bei der Abwägung zu berücksichtigen, wenn deren Schranken zu bestimmen sind. 18

c) Ein berechtigtes Ziel muß jeder Eingriff in die in Art. 10 Abs. 1 M R K , Art. 19 Abs. 2 IPBPR garantierten Rechte verfolgen. Die zulässigen Eingriffszwecke zählt Art. 10 Abs. 2 M R K auf. Gleich wie bei Art. 8 Abs. 2 M R K werden die nationale Sicherheit, allerdings ergänzt durch die territoriale Unversehrtheit, die öffentliche Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit, der Moral und der Rechte anderer aufgeführt, wobei bei letzteren allerdings der Schutz des guten Rufes besonders erwähnt wird. Zu diesen Rechten anderer gehören auch die durch die Konventionen besonders geschützten Rechte, vor allem das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 M R K , Art. 17 IPBPR), aus denen dem Staat gegenüber dem Betroffenen besondere Schutzpflichten erwachsen, die mit den Ansprüchen aus Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden müssen 140 . Ergänzt werden diese Eingriffszwecke durch bereichsbezogene Zwecke wie die Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen und die Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Diese weitgefächerten Zwecke, mit denen praktisch viele Eingriffe gerechtfertigt werden könnten, werden dadurch erheblich eingeschränkt, daß im Einzelfall jeder darauf gestützte Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung des legitimen Eingriffszwecks notwendig („necessary", „necessaires") sein muß.

19

d) Die Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft wird in Art. 10 Abs. 2 MRK als wertsetzender Beurteilungsmaßstab herausgestellt. Ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis muß den Eingriff erfordern 141 . Die Existenz einer freien demokratischen Gesellschaft in den Mitgliedstaaten wird von der M R K vorausgesetzt. Für eine solche Gesellschaft ist der ungehinderte Austausch der Meinungen, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsgewinnung durch deren Bürger unerläßlich. Unerläßlich für den freien Meinungsaustausch ist aber auch die Anerkennung des Pluralismus der Meinungen und damit auch die Toleranz gegenüber unerwünschten 138

Die Befugnis zu solchen wertenden Äußerungen ist durch die unmittelbar auf dem Grundgesetz bzw. auf den Landesverfassungen beruhenden Organkompetenz gedeckt, auch wenn dadurch faktisch ein Grundrechtsbereich mittelbar betroffen werden sollte; vgl. Sachs!Befhge G G Art. 5, 40; ferner etwa BVerfGE 105 252, 367 (marktbezogene Produktinformation), aber auch BVerfGE 105 279, 303 (Sektenbroschüre der Bundesregierung).

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Vgl. etwa Sachs!Bethge G G Art. 5, 40, 43; problematisch insoweit BGH NJW 2003 1308 (Sorgfaltspflicht des Sektenbeauftragten einer öffentlichrechtlichen Religionsgemeinschaft). Vgl. EGMR 24.6.2004 Caroline v.Hannover/D (NJW 2004 2647: Veröffentlichung von Fotos aus dem Privatbereich in Zeitschriften). Vgl. E G M R 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16).

Stand: 1.10.2004

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oder für falsch erachteten Auffassungen. In diesen Wettbewerb konkurrierender Meinungen darf der Staat in einer demokratischen Gesellschaft grundsätzlich nur eingreifen, wenn dies auch aus deren Blickwinkel notwendig ist, um ihre Funktion und das freie Zusammenleben der Bürger zu sichern 142 . Die Vereinbarkeit eines Eingriffs mit den pluralistischen Strukturen einer freien Demokratie ist sowohl bei der gesetzlichen Regelung der Eingriffsvoraussetzungen als auch bei den darauf gestützten Entscheidungen der Exekutivorgane und der Gerichte zu beachten. Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ist im Hinblick auf den hohen Rang des garantierten Freiheitsrechtes und seiner grundlegenden Bedeutung für die das Funktionieren einer Demokratie eng auszulegen143. Gefordert wird, daß im konkreten Fall ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis („Pressing social need") für das staatliche Einschreiten besteht 144 , daß dieses in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit ihm verfolgten Zweck steht 145 und daß der verfolgte Zweck nicht auch schon durch einen weniger schweren Eingriff erreicht werden kann 146 . Insoweit hat jeder Staat ein gewisses Einschätzungsermessen, das je nach dem vom Eingriff betroffenen Gegenstand unterschiedlich weit bemessen ist 147 . Der Eingriff muß zwar nicht zwingend geboten sein, es genügt, wenn bei der Abwägung für ihn so schwerwiegende Gründe sprechen, daß sie alle dagegensprechenden Gesichtspunkte 1 4 8 deutlich überwiegen. Dies muß überzeugend dargetan werden. D a ß der Eingriff den Umständen nach zweckmäßig oder vernünftig ist, reicht dafür in der Regel allein noch nicht 149 .

19a

Bei Art. 19 Abs. 3 IPBPR wurde der Hinweis auf die Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft bewußt nicht aufgenommen 1 5 0 . Trägt man der Entstehungsgeschichte Rechnung, wäre die Erforderlichkeit des Eingriffs nur nach der Zweck/MittelRelation zu beurteilen, bei der das Gewicht des Eingriffs am Rang des damit im konkreten Fall verfolgten Zweckes gemessen wird 151 . Dies läuft auf eine Güterabwägung hinaus, die aber nicht mit dem bei allen staatlichen Eingriffen geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gleichgesetzt 152 werden sollte, denn auch zum Schutze eines höherrangigen Rechtsguts ist ein Eingriff dann nicht zulässig, wenn er zu dessen Schutze nicht unbedingt erforderlich ist, weil dafür andere, in die Menschenrechte weniger eingreifende Mittel verfügbar sind. Wegen der Bedeutung der garantierten Freiheiten wird man ihrer Aushöhlung durch die weitreichenden legitimen Eingriffszwecke auch im Rahmen des IPBPR nur dadurch begegnen können, daß man die notwendigen Grenzen aus den Mindestanforderungen des gemeinsamen internationalen Standards gewinnt 153 . Die Übung in

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E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 23.9.1994 Jersild/Dän (ÖJZ 1995 227); 21.1. 1999 Janowski/Pol (NJW 1999 1319); ferner die Entscheidungen bei Rdn. 18 ff. Vgl. etwa EGMR 28.6.2001 Verein gegen Tierfabriken VgT/CH (ÖJZ 2002 855); 6.11.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG NR. 2/Ö (ÖJZ 2004 316); Dörr/Zorn NJW 2001 1837, 2846; Nowak 37. Vgl. etwa EGMR 25.3. 1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 174 ); 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 22.5.1990 Autronic/CH (EuGRZ 1990 261); 22.5. 1990 Weber/CH (NJW 1991 623); 23.9.1998 Lehideux & lsomi/F (ÖJZ 1999 656); 21.1.1999 Fressoz & Roire/F (NJW 1999 1315); 8.7.1999 Baskaya & Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995); IAGMR EuGRZ 1986 371; Partsch 205 zu EKMR (De Becker); ferner die Nachw. bei Rdn. 13. Die „Clear and Present Danger" Rechtsprechung des US Supreme Court wurde von den Organen der M R K

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nicht als Eingriffsrechtfertigung übernommen, vgl. Solliaux ZaöRV 63 (2003) 653, 666 ff). EGMR 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 20.5.1999 Tromso & Stensaas/Norw (EuGRZ 1999 453) E G M R 27. 3.1996 Goodwin/GB (ÖJZ 1996 795). Dazu Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771 ff; vgl. Rdn. 15; 20 ff. Dazu gehört auch die möglicherweise bestehende Gefahr einer Beeinträchtigung der freien Berichterstattung durch die einschüchternde Wirkung des Eingriffs („chilling effect"), vgl. Rdn. 21c. E G M R 25. 3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170). Der Antrag zur Aufnahme dieser Einschränkung wurde abgelehnt, vgl. Nowak 37. EGMR 29.10. 1992 Open Door & Dublin Well Woman/Irl (EuGRZ 1992 486); vgl. auch Rdn. 20. So aber Nowak 37. Vgl. Nowak 48.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

den Staaten, die ihren Bürgern die in Art. 19 IPBPR garantierten Freiheiten versagen, muß dabei unbeachtlich bleiben, so daß im Endergebnis auch hier nur auf die Übung in den von den Konventionsgarantien geprägten, also freiheitlich verfaßten Staatsordnungen, zurückgegriffen werden sollte; dadurch ergeben sich weitgehend die gleichen Grenzen wie bei der Orientierung an dem in einer demokratischen Gesellschaft üblichen Standard 1 5 4 . 20

e) Verhältnismäßigkeit. Auch bei einem an sich berechtigten Ziel darf der Eingriff nicht unverhältnismäßig gegenüber den durch Art. 10 M R K , Art. 19 IPBPR geschützten Rechtsgütern sein. Dies begrenzt den Ermessensraum 1 5 5 der Staaten, denen grundsätzlich überlassen ist, ob und welche Regelungen sie zum Schutze eines der in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. IPBPR aufgezählten Zwecke und ob sie im Einzelfall überhaupt einschreiten wollen 156 . Die Zulässigkeit jedes staatlichen Eingriffs hängt davon ab, daß er nicht außer Verhältnis zu den von ihm betroffenen Rechtsgütern und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung steht 157 . Bei der Abwägung werden der Zweck des staatlichen Eingriffs, sein Gegenstand sowie seine Art und Schwere und seine unmittelbaren und mittelbaren Rechtsfolgen berücksichtigt 158 ; vor allem auch die Auswirkungen, die der Eingriff auf das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft hat. Soweit nur die wirtschaftliche Betätigung betroffen ist, etwa, weil der Eingriff die wirtschaftliche Werbung betrifft, hat der Staat einen größeren R a u m für Eingriffe als auf dem Gebiet der eigentlichen demokratischen Meinungsbildung und den damit verbundenen Auseinandersetzungen 159 , die die unverzichtbare Grundstruktur für jede freie demokratische Gesellschaft bilden 160 und in die der Staat nur unter ganz besonderen Umständen eingreifen darf 1 6 1 . Der Bedeutung einer freien Presse für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft wird dabei ein besonders hoher Stellenwert beigemessen 162 .

21

f) Ein Einschätzungsspielraum („margin of appreciation", „marge d'appreciation") wird den Staaten zugebilligt für die Entscheidung, ob und welche Regelungen sie zum Schutze eines der in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 2 IPBPR angeführten Zwecke treffen und ob und mit welchen Mitteln sie eingreifen wollen 163 . Dieser Beurteilungsraum wird dadurch begrenzt, daß der jeweilige Eingriff auch bei einem an sich berechtigten Ziel, etwa weil der Staat damit ein ihm gegenüber dem Betroffenen obliegende Schutzpflicht erfüllen muß, nicht unverhältnismäßig gegenüber den geschützten Rechtsgütern sein darf 1 6 4 . Liegt der staatliche Eingriff erst in der nachträglichen Bestrafung einer bereits geäußerten Meinung, ist bei der Abwägung neben der Höhe der ausgesprochenen Strafe oder dem Gewicht sonstiger Rechtsfolgen auch zu berücksichtigen, welche Wirkung dies auf die Bereitschaft zur offenen Diskussion von Mißständen hat 165 . Wird

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Vgl. auch die vergleichende Gegenüberstellung im Gutachten des IAGMR EuGRZ 1986 371. 155 D a z u R d n . 21. 156 Etwa EGMR 20.11.1989 markt intern Verlag GmbH u.a./D (EuGRZ 1996 302); 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 637). 157 EGMR 11.12.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG (Nr. 3)/Ö (ÖJZ 2004 398); Meyer-Ladewig 27. 158 Etwa E G M R 6. 5.2003 Perna/1 (NJW 2004 2653); vgl. Grabenwaner § 23 Rdn. 30; Hoffmeister EuGRZ 2000 358,362. 159 Vgl. Rdn. 21. ™ Vgl. Rdn. 19 ff. 161 E G M R 8.7.1999 Baskaya & Okcouoglu/Türk (NJW 2001 1995); vgl. Rdn. 19.

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Vgl. etwa EGMR 29.8.1997 Worm/Ö (ÖJZ 1998 35); Hoffmeisler EuGRZ 2000 358, 363 ff; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771,781. 163 prepeiuh ZaöRV 61 (2001) 771 ff; ferner Einf. Rdn. 64. !« Etwa EGMR 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636); 23.6. 1994 Jacubowski/D (EuGRZ 1996 306); 11.12.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG (NR 3)/Ö (ÖJZ 2004 398: Beanstandung einer preisvergleichenden Werbung unverhältnismäßig und daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig"). 165 EGMR 13.7.1995 Tolstoy Miroslavsky/GB (ÖJZ 1995 949); vgl. Grabenwaner § 23 Rdn. 29, 30; Hoffmeisler EuGRZ 2000 358, 362, ferner Rdn. 19a.

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bereits die Tatsache eines staatlichen Eingriffs als solche als konventionswidrig angesehen, kommt es auf Art und Höhe der Sanktion nicht an; umgekehrt kann aber auch die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs allein in Art oder H ö h e der verhängten Sanktion liegen 166 . Je nach der Bedeutung der geschützten Freiheit für die demokratische Gesellschaft und der Art und Schwere des Eingriffs 167 ergeben sich dadurch unterschiedlich hohe Eingriffsschranken 168 , die gleichzeitig auch den Umfang des staatlichen Beurteilungsspielraums begrenzen. So hat etwa der Staat bei Eingriffen in den Bereich der wirtschaftlichen Betätigung, vor allem der kommerziellen Werbung und des unlauteren Wettbewerbs einen größeren Ermessensspielraum, seine Abwägung der kollidierenden Interessen wird vom E G M R in der Regel hingenommen 169 . Dieser Spielraum verringert sich jedoch bereits, wenn in Verbindung damit auch Fragen von allgemeinem Interesse170 aufgeworfen werden, wie dies etwa bei Äußerungen von Wissenschaftlern oder Angehörigen freier Berufe zu ihrem Arbeitsfeld angenommen wird, selbst wenn diese damit auch eine werbewirksame Publizität angestrebt haben 171 . Das staatliche Einschätzungsermessen ist dagegen eng bei Äußerungen, mit der die persönliche Auffassung zu einer Frage von öffentlichem Interesse vertreten oder an einer politischen Auseinandersetzung teilgenommen wird 172 . In diesem Bereich ist die Freiheit, Informationen zu empfangen und die eigene Meinung ungehindert zu äußern und an den damit verbundenen Auseinandersetzungen teilzunehmen, konstituierend für eine demokratische Staatsordnung 173 , so daß der Staat in diese nur in den unbedingt nötigen Fällen eingreifen darf. Dies gilt besonders bei den Veröffentlichungen in der Presse 174 . Ob ein Eingriff in die garantierten Freiheiten als notwendig anerkannt wird, ist letztlich aber immer das einzelfallbezogene Ergebnis einer wägenden Gesamtschau von Anlaß und Gewicht der Äußerung, von Form und den Umständen, unter denen sie abgegeben wurde und von Zweck und Ausmaß des jeweiligen Eingriffs 175 . Es ist grundsätzlich Sache der zuständigen innerstaatlichen Stellen, zu beurteilen, wel- 21 a che Maßnahmen im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten notwendig sind, welche gesetzlichen Regelungen erforderlich sind 176 und wie sie das innerstaatliche Recht auslegen und anwenden wollen 177 . Der E G M R erkennt an, daß die nationalen 166 167

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Vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 30. Vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 30; Hoffmeisler EuGRZ 2000 358, 362. Dazu etwa Hoffmeisler EuGRZ 2000 358 ff; MeyerLadewig 27; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771 ff; Scheyli EuGRZ 2003 455; vgl. ferner Rdn. 20; 21b ff. Etwa E G M R 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636); 5.11.2002 Demuth/CH (EuGRZ 2003 179); 20.3.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG u.a./Ö (ÖJZ 2003 812); Grabenwarter § 23 Rdn. 26; Meyer-Ladewig 35; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 785; vgl. auch nachf. Fußn. Vgl. E G M R 28.6.2001 Verein gegen Fierfabriken/ CH (ÖJZ 2002 805). E G M R 25.3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); 17.10.2002 Stambuk/D (NJW 2003 497), enger bei Rechtsanwälten wegen ihrer Stellung in der Rechtspflege EGMR 20.5. 1998 Schöpfer/CH (ÖJZ 1999 237); vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 25. Zur Schwierigkeit der Abgrenzung in Grenzbereichen, vgl. etwa E G M R 20.11.1989 markt intern Verlags- GmbH ua/D (EuGRZ 1996 302), 23.6. 1996 Jacubowski/D (EuGRZ 1996 306) zu beiden

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Collies EuGRZ 1996 293; vgl. ferner Grabenwarter § 23 Rdn. 25; Hoffmeisler EuGRZ 2000 358, 361. Etwa E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 26.4.1979 Sunday Fimes/GB (EuGRZ 1979 386); 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16); 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636); 22.11.2001 Volkmer/D (NJW 2002 3087); Grabenwarter VVDStF 60 (2000) 210, 290; Grabenwarter § 23 Rdn. 26; vgl. auch Rdn. 19a. Etwa E G M R 29. 8.1997 Worm/Ö (ÖJZ 1998 35); vgl. Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 363 ff; MeyerLadewig 27; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 781. Vgl. UN-AMR Allgemeine Bemerkung 10/19 Nr. 3 (EuGRZ 1984 421); ferner Sottiaux ZaöRV 63 (2003) 653, 669 ff zur Rechtsprechung des EGMR, vor allem zu den türkischen Pressefallen wie Zana/ Türk (25.11.1997 = ÖJZ 1998 715) u.a. Zu den Schutzpflichten des Staates vgl. Rdn. 13b. EGMR 26.9.1995 Vogt/D (EuGRZ 1995 590); 29.8.1997 Worm/Ö (ÖJZ 1998 35); 22.11.2001 Volkmer/D (NJW 2002 3087); 25.11.1997 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714); vgl. Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771,779.

Walter Gollwitzer

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Stellen hier auf Grund ihrer Sachnähe die Erforderlichkeit eines Eingriffs besser beurteilen können, zumal in den Mitgliedstaaten in einigen Bereichen die Auffassungen und die Rechtslage sehr unterschiedlich sind 178 . Der Gerichtshof will zwar grundsätzlich die Würdigung der Lage durch die innerstaatlichen Stellen nicht durch seine eigene Sicht ersetzen 179 . Er prüft aber mitunter eingehend nach, ob im Lichte des Gesamtzusammenhangs, in dem die betroffenen Meinungskundgaben standen, die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung eines Eingriffs herangezogenen Gründe auch wirklich für diesen maßgeblich waren und ob sie solches Gewicht hatten, daß sie den Eingriff rechtfertigen können 180 . Dies ist nicht der Fall, wenn eine Zeitschrift der ihr auf Grund eines Mediengesetzes auferlegten Veröffentlichungspflicht in der Zeit nicht nachkam, in der ein Gericht eine solche Verpflichtung verneinte; und zwar auch dann, wenn dessen Urteil später aufgehoben und die Verpflichtung obergerichtlich bejaht wurde 181 . Die Notwendigkeit eines Eingriffs muß zur eigenen Überzeugung des E G M R feststehen. Die von den Behörden für den Eingriff angeführten Gründe müssen sich auf eine vertretbare Beurteilung des maßgebenden Sachverhalts stützen und einem Standard entsprechen, der im Einklang mit den in den Konventionen enthaltenen Grundsätzen steht 182 . Hierbei kann es vor allem für die Beurteilung der Demokratieüblichkeit von indizieller Bedeutung sein, ob auch andere Mitgliedstaaten ähnliche Eingriffe vorsehen oder ob dort vergleichbare Einschränkungen fehlen. Im letzteren Fall obliegt es in der Regel dem betroffenen Staat aufzuzeigen, warum auf Grund der bei ihm bestehenden besonderen Verhältnisse die fragliche Regelung trotzdem notwendig ist. Dabei kann es auch eine Rolle spielen, ob innerstaatlich überhaupt eine einheitliche Staatspraxis besteht 183 . Es kommt aber stets auf die Beurteilung an, ob und wieweit im Einzelfall solche Umstände den Beurteilungsspielraum des Staates einschränken 184 . 21b

In Bereiche, in denen sich die öffentliche Meinungsbildung vollzieht, darf der Staat nur eingreifen, wenn dies schwerwiegende Gründe oder seine Schutzpflicht erfordern. Der mit dem Eingriff verfolgte legitime Zweck muß die Verhältnismäßigkeit gegenüber dem hohen Rang der von Art. 10 M R K geschützten Rechte wahren 185 . Berücksichtigt wird dabei auch, ob die staatliche Rechtsordnung andere, weniger eingreifende Mittel bietet, mit der der erstrebte Schutz erreichbar ist186. Die abschließende Gesamtbeurteilung, ob

178 Vgl. Prepeluh ZaöRV 61 (2000) 771, 774 ff: europäischer Standard („common ground") ergibt sich aus Vergleich der Rechtssysteme und der Praxis in den Mitgliedstaaten, die in der demokratischen Grundordnung weitgehend übereinstimmen, während vor allem im kulturellen und religiösen Bereich größere Unterschiede bestehen. 179



Etwa EGMR 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1981 488); 13.7.1995 Tolstoy, Miloslavsky/GB (ÖJZ 1995 949) 6.11.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG (Nr. 2)/Ö (ÖJZ 2004 316). EGMR 26.11.1991 Observer & Guardian/GB (EuGRZ 1995 16); 27.3.1996 Goodwin/GB (ÖJZ 1996 7795); 29.8.1997 Worrn/Ö (ÖJZ 1998 35); 25.11.1997 Zana/Türk (ÖJZ 1998 715); 21.1.1999 Fressoz & Roire/F (NJW 1999 1315); 20.5.1999 Tromso & Stensaas/Norw (EuGRZ 1999 453); 21.3.2002 Wingerter/D (EuGRZ 2002 329). Zu der mitunter bestehenden Tendenz des EGMR, trotz formaler Anerkennung eines staatlichen Beurteilungsspielraums die Abwägungen selbst zu treffen, ohne dabei die entscheidungsrelevanten

181

182

185

184 185

186

Obersätze klar herauszustellen vgl. Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 361, 367 ff. E G M R 6.11.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG (Nr. 2)/Ö (ÖJZ 2003 316: Geldbuße nach dem östr. Mediengesetz). EGMR 15.11.1997 Zana/Türk (ÖJZ 1995 394); 23.9.1998 Lehideux & Isomi/F (ÖJZ 1999 656); vgl. auch vorst. und nachf. Fußn. Vgl. EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38: Beschlagnahme nur in England, nicht in Schottland oder Nordirland). Vgl. Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 775 f. EGMR 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 20.11.1989 markt intern/D (EuGRZ 1996 302); 28.10.1999 Wille/Liechtenstein (NJW 2001 1195); 21.3.2000 Wabl/Ö (ÖJZ 2001 108), 26.2.2002 Krone Verlag GmbH & Co KG/Ö (ÖJZ 2002 466); Krone Verlag GmbH & Co KG (Nr. 2)/Ö (ÖJZ 2004 316). E G M R EGMR 23.9.1998 Lehideux & Isomi/F (ÖJZ 1999 565).

Stand: 1.10.2004

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

der Eingriff bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, trifft der Gerichtshof unter Hinweis auf seine Überwachungsaufgabe selbst 187 , auch wenn er sich in einigen Entscheidungen mit der Feststellung begnügt hat, daß die nationalen Gerichte die Abwägung in nachvollziehbarer Weise vorgenommen haben 188 . Das Verbot der Willkür gilt auch für das staatliche Handeln in diesem Bereich. Willkür liegt aber nicht schon darin, daß Zivil- und Strafgerichte bei der Beurteilung einer Äußerung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, zumal auch die Beweislast in den jeweiligen Verfahrensarten unterschiedlich verteilt ist 189 . Bei Fragen von öffentlichem Interesse, die Gegenstand der politischen Erörterung oder sonst der öffentlichen Meinungsbildung und damit Grundlage der für die demokratische Gesellschaft notwendigen offenen Auseinandersetzung sind, ist der Handlungsspielraum des Staates für Regelungen und Einzeleingriffe sehr eng. Der Staat muß sich zurückhalten, wenn Fragen der Politik oder sonst von öffentlichem Interesse mitunter kontrovers erörtert werden. Dies schließt auch die Kritik an den im öffentlichen Leben wirkenden Personen, vor allem an Politikern, mit ein 190 . Nur besonders schwerwiegende Umstände gestatten ein staatliches Eingreifen 191 . Die existentielle Bedeutung der freien Meinungsäußerung für das Funktionieren eines demokratischen Staatswesens ist dann gegenüber dem Schutz der in Art. 10 Abs. 2 M R K genannten Rechtsgüter abzuwägen. Dabei fällt auch ins Gewicht, daß es zur umfassenden Unterrichtung der Bürger äußerst wichtig ist, daß sich niemand aus Angst vor Sanktionen davon abhalten läßt, seine Meinung zu Themen von allgemeinem Interesse privat oder öffentlich auszusprechen und Kritik an öffentlichen Zuständen zu üben 192 . Nur wo im Rahmen einer öffentlichen Auseinandersetzung schwerwiegende Mißbräuche und Rechtsverletzungen auftreten, kann ein Eingreifen des Staates zum Schutze einer der in Art. 10 Abs. 2 M R K , Art. 19 Abs. 3 IPBPR aufgeführten Gründe nötig sein, um wichtige Allgemein- oder Einzelinteressen, nicht zuletzt auch die unantastbare Menschenwürde 1 9 3 zu schützen, so wenn Mitteilungen über das Privatleben auch bei einer im öffentlichen Leben stehenden Person mit keinem achtenswerten öffentlichen Informationsinteresse mehr gerechtfertigt werden können 1 9 4 oder bei Ahndung oder Verhütung einer auch bei politischen Aus187

Etwa E G M R 26.4.1979 Sunday Times/GB ( E u G R Z 1979 386); 26.11.1991 Oberver & G u a r dian/GB ( E u G R Z 1995 16); 27.3.1996 Goodwin/ G B ( Ö J Z 1996 795). Vgl. Prepeluh ZaöRV 61 (2000) 771, 780, wonach der engere oder weitere Beurteilungsspielraum der Staaten spiegelbildlich einer größeren oder geringeren Kontrolldichte des Gerichtshofs entspricht.

188

Vgl. E G M R 25. 11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714); Calliess E u G R Z 1996 293 sowie die nachf. Fußnoten. E G M R 20. 3.2003 K r o n e Verlag-GMBH & Co KG u . a . / Ö (ÖJZ 2003 812). Vgl. Grabenwarler § 23 R d n . 33 unter Hinweis auf E G M R 28.9.2000 Lopez G o m e z d a Silva/Port (Nr. 37698/97); Meyer-Ladewig 30. E G M R 25. 8.1998 Hertel/CH ( Ö J Z 1999 614 Warnung vor Gesundheitsrisiko); 25. 3.1985 Barthold/ D ( E u G R Z 1985 170; statt Wettbewerb Beitrag zur öffentlichen Diskussion, deshalb - anders als bei den Fällen in den Vorst. F u ß n o t e n - kein weiter Ermessensspielraum). Vgl. die Entscheidungen bei R d n . 20, 21.

185

190

191

192

22.2.1989 B a r f o d / D K (ÖJZ 1989 695); 23.5.1991 Oberschlick/Ö ( E u G R Z 1991 216); 25.11.1996 Wingrove/GB ( Ö J Z 1997 714). Vgl. auch House of Lords E u G R Z 1993 197; I-rowein/Peukert 25; 32; ferner etwa BVerfGE 54 129; 83 130; 145; N J W 1992 1442, 1444; 2074; kritisch dazu Kriele N J W 1994 1897, 1899. Z u r G e f a h r des sogen, „chilling effect" vgl. R d n . 19b. 193

Vgl. BVerfG 75 369, 380; 93 266, 293; 102 347, 367; Grimm N J W 1995 1697, 1703; ferner BVerfG N J W 2003 1303 (zur Benetton Werbung: sorgfältige Abwägung, ob die Ausübung eines Grundrechts, das wie die Meinungsfreiheit selbst in der Menschenwürde wurzelt, die Menschenwürde eines anderen verletzt); zur Schockwerbung vgl. auch Nolle RabelsZ 1999 507, 518.

194

Vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 33 unter Hinweis auf E G M R 6.2.2001 Famer/Estl (Nr. 41205/98) sowie E G M R 24. 6.2004 Caroline v. H a n n o v e r / D ( N J W 2004 2647: Fotos aus Privatbereich, wobei der E G M R den geschützten Bereich weiter zieht als vorher BVerfG N J W 2000 1021 und B G H N J W 1996 1128 bei Auslegung von §§ 22, 23 K U G ) .

E G M R 8.7.1986 Lingens/Ö ( E u G R Z 1986 424);

(513)

Walter Gollwitzer

21c

M R K

Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

einandersetzungen nicht zulässigen bewußt ehrverletzenden Äußerungen195 oder bei der Bekämpfung illegaler Maßnahmen oder Gewalttätigkeiten. Der E G M R bewertet aber auch hier die Erforderlichkeit der jeweiligen Maßnahmen selbst und wägt es gegen das auch hier bestehende Recht der Bevölkerung auf umfassende Informationen und gegen die Nachteile ab, die der für eine Demokratie notwendigen freien Auseinandersetzung bei einer zu restriktiven Handhabung der Einschränkungen entstehen können 196 . Dazu zählt auch die Gefahr, daß die für die Information der Bevölkerung wichtige, unbegrenzt offene Erörterung echter oder vermeintlicher Mißstände wegen der dann möglicherweise befürchteten Nachteile - und sei es auch nur wegen der Notwendigkeit zur Rechtfertigung in einem Verfahren - beeinträchtigt werden kann 197 . 21 d

Bei Eingriffen in die Pressefreiheit und in die Freiheit der Berichterstattung der anderen Medien werden deshalb an die Erforderlichkeit des staatlichen Einschreitens wegen der Bedeutung einer freien Presse für die Information der Öffentlichkeit und der ungehinderten Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft und dem Recht der Bürger auf unbehinderte Information besonders hohe Anforderungen gestellt 198 . Grundsätzlich können sich die Angehörigen der Presse ebenso wie jeder andere, durch das Vertreten eigener Meinungen am öffentlichen Meinungsbildungsprozeß beteiligen 199 , wobei jedoch die Meinungsäußerungen durch ihre Publizierung höhere Bedeutung erlangen können. Dies ist bei der erforderlichen Abwägung ebenso zu berücksichtigen wie die besondere Bedeutung der Presse in einem demokratischen Staatswesen, in dem ihr als „Wachhund der Öffentlichkeit" („public watchdog") die Aufgabe zukommt, auch belastende Informationen von ernsthafter öffentlicher Bedeutung zu verbreiten 200 und dazu Stellung zu nehmen und so den gerade auch bei öffentlichen Mißständen bestehenden Informationsanspruch der Öffentlichkeit zu erfüllen 201 . Dies gilt besonders für die öffentlichen Tätigkeiten eines Politikers 202 , für öffentliche Aktivitäten von Personen und Vereinigungen 203 oder bei Straftaten politischer Natur 2 0 4 . Der verantwortlichen Berichterstattung in der Presse kommt in der demokratischen Gesellschaft eine unersetzliche Funktion für die Verbreitung von Nachrichten und Ideen über alle Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu. Bei der Berichterstattung über Gerichtsverhandlungen trägt sie zu deren von den Konventionen geforderten Öffentlichkeit bei 205 . Ein strengerer Maßstab ist dagegen an Presseveröffentlichungen anzulegen, wenn diese außerhalb ihrer oben erwähnten Funktion in der demokratischen Gesellschaft Berichte und Fotos aus dem Alltagsleben einer Person bringt, die keinerlei Bedeutung für die öffentliche Diskus195

196

197

198

Vgl. E K M R Ö J Z 1990 124. Eine Schmähkritik, bei der nicht die Auseinandersetzung mit der Sache sondern die Diffamierung einer Person im Vordergrund steht, wird nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt, sie tritt hinter dem Achtungsanspruch des Betroffenen zurück, vgl. BVerfGE 61 1, 12; 82 272, 284; BVerfG E u G R Z 1993 146. E G M R 25.11.1997 Z a n a / T ü r k ( Ö J Z 1998 715); 8.7.1999 Baskaya & Okcuoglu/Türk ( N J W 2001 1995); vgl. auch Grimm N J W 1995 1697, 1703. G e f a h r der Einschüchterung (sog. „chilling effect" in der Verfassungsrechtsprechung der USA); vgl. Giegerich RabelsZ 1999 471, 478, 489; ferner etwa E G M R 23.9.1994 Jersild/Dän ( N S t Z 1995 237); 20.5. 1999 Bladet Tromso & Stensaas/Norw ( E u G R Z 1999 453); 6. 5.2003 Perna/I ( N J W 2004 2653); Grabenwarter § 23 R d n . 29; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771,819.



2111

21,2

2115 2114

21,5

23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ (1991 216); 22. 5.1990 Weber/CH ( N J W 1991 623); E K M R bei Strasserl Weber E u G R Z 1988 91. Vgl. Hoffmeister E u G R Z 2000 364. Etwa E G M R 26.11.1991 Observer & G u a r d i a n / G B ( E u G R Z 1995 16); 27.3.1996 G o o d w i n / G B (ÖJZ 1996 795); 21.01.1999 Fressoz & Roire/F ( N J W 1999 1315); 20.5.1999 Bladet Tromso & Stensaas/Norw ( E u G R Z 1999 453); 6.5.2003 Perna/T ( N J W 2004 2653); Grabenwarter § 23 R d n . 31. E G M R 7.12.1976 Kjeldsen u . a . / D a n ( E u G R Z 1976 478); Grabenwarter § 23 Rdn. 31. E G M R 26.2.2002 K r o n e Verlags G r n b H / Ö (ÖJZ 2002 466). E G M R 27.2.2001 Jerusalem/Ö ( Ö J Z 2001 693). E G M R 26.2.2002 K r o n e Verlags G m b H / Ö (ÖJZ 2002 466). E G M R 29. 8.1997 Worm/Ö (ÖJZ 1998 35).

E G M R 8.7.1986 Lingens/Ö ( E u G R Z 1986 428); Stand:

1.10.2004

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

sion einer Frage von allgemeinem Interesse haben. Für solche Veröffentlichungen kann sich die Presse nicht auf ihren öffentlichen Auftrag berufen, so daß der Schutz des Privatlebens der Betroffenen nach Ansicht des E G M R Vorrang hat 206 . Diese Gesichtspunkte fallen bei der Abwägung der Zulässigkeit eines staatlichen Eingriffs ins Gewicht 207 , ohne daß dadurch aber die sich aus Art. 10 Absatz 2 erster Halbsatz M R K ergebenden Pflichten und Verantwortlichkeiten entfallen 208 . Die Verantwortlichkeit der Medienberichterstattung umschließt grundsätzlich die Verpflichtung zur Sorgfalt bei eigenen Ermittlungen und im Rahmen des Möglichen auch die Prüfung der von anderen mitgeteilten Tatsachen 209 , bevor darüber im guten Glauben berichtet wird 210 . Die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte anderer verbietet außerdem jede nach dem Berichtszweck unnötige Herabsetzung. Bei der Wiedergabe amtlicher Berichte entfällt die Prüfungspflicht 2 ". Bei Interviews dürfen grundsätzlich die Antworten der befragten Person verbreitet werden, selbst wenn diese strafbare Äußerungen (rassistische Diskriminierungen) enthalten, sofern sich der Interviewer damit nicht identifiziert; denn grundsätzlich hat die Öffentlichkeit einen Anspruch, über derartige Meinungen, die Personen, die sie vertreten, und deren Herkunft und Hintergründe unterrichtet zu werden 212 . Der journalistischen Freiheit wird ein gewisser Grad von polemischer Ubertreibung und Provokation zugestanden 213 , von den betroffenen Politikern, die sich mit ihrer öffentlichen Tätigkeit der Kritik der Öffentlichkeit unterstellen, wird ein höheres M a ß an Toleranz gefordert 214 . Die Grenzen, die die Staaten der freien Meinungsäußerung in diesem Bereich setzen dürfen, müssen nach der Sachlage unbedingt erforderlich sein. Sie müssen berücksichtigen, daß Art. 10 M R K die Kritik am Staat und seinen Organen, an den sonstigen öffentlichen Einrichtungen und an den bestehenden Verhältnissen sowie auch an den im öffentlichen Leben stehenden Personen in einem viel weiteren Umfang zuläßt als bei Privatpersonen 215 . Im übrigen müssen sich alle staatlichen Eingriffe im Rahmen des Zumutbaren und Möglichen halten. So kann zwar auch bei Werturteilen verlangt werden, daß sie auf einer Tatsachengrundlage beruhen 216 , bei allgemein gehaltenen Wert2116

Vgl. E G M R 24.6.2004 Caroline v. Hannover/D (NJW 2004 2647). 21,7 EGMR 23.9.1994 Jersild/Dän (ÖJZ 1995 227); 24.2.1997 De Haes & Gijsels/ Belg (ÖJZ 1997 912), 20.5.1999 Bladet Tromso & Stensaas/Norw (EuGRZ 1999 453); 2.5.2000 Bergens Titende u.a./Norw (ÖJZ 2001 110); Grahenwarier W D S t L 60 (2000) 290, 309. 2,18 Etwa EGMR 27.3.1996 Goodwin/GB (ÖJZ 1996 795); 21.1.1999 Fressoz & Roire/F (NJW 1999 1315); 2.5.2000 Bergens Titende u.a./Norw (ÖJZ 2001 110); Iluffmeister EuGRZ 2000 358, 364, ferner vorst. Fußn. 2 ®> Vgl. E G M R 25.6.1992 Thorgeir Torgeirson/Isl (ÖJZ 1992 810) keine weitere Nachprüfung bei glaubhaften Miteilungen über Brutalitäten der Polizei; 20.5.1999 Bladet Tromso & Stensaas/Norw (EuGRZ 1999 453); Grabemvarter § 23 Rdn. 35; Meyer-Lädewig 23. 210 Bei Kenntnis von der Unwahrheit entfallt jede Rechtfertigung, gleiches gilt bei Kenntnis von der illegalen Herkunft eines Dokuments. 211 Vgl. EGMR 21.1. 1999 Fressoz & Roire/F (NJW 1999 1315); 20.5.1999 Bladet Tromso & Stensaas/ Norw (EuGRZ 1999 453); Meyer-Ladewig 23. Hoffmeister EuGRZ 2000 358, 366. 212 E G M R 23.9.1995 Jersild/Dän (NStZ 1995 237) mit (515)

213

dem Hinweis, daß andernfalls die Medien ihre Aufgabe als „öffentlicher Wachhund" nicht erfüllen würden; vgl. Hoffmeister EuGRZ 2000 358; 364; Meyer-Ladewig 22. Vgl. etwa EGMR 26.4.1995 Prager & Oberschlick/Ö (ÖJZ 1995 675), 1.7.1997 Oberschlick/Ö (NJW 1999 1315; 21.1.1999 Fressoz & Roire/F (NJW 1999 1315); 21.1.1999 Janowski/Pol (NJW 2000 1015); 20.5.1999 Bladet Tromso & Stensaas/Norw (EuGRZ 1999 453); 8.7.1999 Baskaya, Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995); 21.3.2000 Wabl/Ö (ÖJZ 2001 108); 12.7.2001 Feldek/Slowakei (ÖJZ 2002 814); 6.5.2003 Perna/I (NJW 2004 1253); 13.11.2003 Scharsach, News Verlagsgesellschaft/Ö (ÖJZ 2004 512): Meyer-Ladewig 20. Für andere Berufe gilt dieses Recht zur Überzeichnung nicht (vgl. östr.VFGH EuGRZ 1994 571; Rechtsanwalt).

214

E G M R 8.6.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 9.6.1998 Incal/Türk (Rep. 1998-IV); 13.11.2003 Scharsach, News Verlagsgesellschaft/Ö (ÖJZ 2004 512). 2 i? EGMR 8.7.1999 Baskaya,Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995); vgl auch nachf. Fußn. 216 E G M R 20.3.2003 Krone Verlag GmbH & Co KG ua/Ö (ÖJZ 2003 812); 13.11.2003 Scharsach, News Verlagsgesellschaft/Ö (ÖJZ 2004 512).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

urteilen („würdelos"; „Opportunismus") kann jedoch kein Wahrheitsbeweis gefordert werden 217 . Anerkannt wird auch das Recht der Journalisten, ihre Informationsquelle geheim zu halten, da hierin eine Grundvoraussetzung der für eine demokratische Gesellschaft unerläßlichen Pressefreiheit gesehen wird 218 . 21 e

Bei Einzelfragen des privaten Bereichs, bei denen nicht das Funktionieren des öffentlichen Lebens unmittelbar berührt ist sondern das Verhältnis zwischen einzelnen Bürgern, ihre gegenseitigen Rechte, ihre persönliche Integrität oder ihre weltanschaulichen und religiösen Auffassungen 219 oder auch der private Wettbewerb 220 , hat der Staat einen größeren Regelungsraum, vor allem, wenn er kollidierende Freiheitsrechte zwischen den Bürgern ausgleichen 221 oder einem starken Wandel in den wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragen muß 222 . Stehen sich auf beiden Seiten die Rechte auf freie Meinungsäußerungen gegenüber, ist der Staat, der in der Sache die konträren Meinungen beider Seiten achten muß, darauf beschränkt, gegen Mißbräuche einzuschreiten, so vor allem, wenn das Recht auf Achtung der Menschenwürde 2 2 3 oder ein sonstiges vorrangiges Recht eines Beteiligten verletzt werden. 5. Die einzelnen Zwecke einer zulässigen Beschränkung

22

a) Der Schutz der nationalen Sicherheit, die auch die nur in Art. 8 Abs. 2 M R K besonders erwähnte territoriale Unversehrtheit mit umfaßt, rechtfertigt Einschränkungen der Äußerungs- und Informationsbeschaffungsfreiheit zur Verhütung einer Gefährdung des Staates. Darunter fällt etwa die Bekämpfung seperatistischer Aktivitäten und Aussagen 224 oder der strafrechtliche Schutz von Staatsgeheimnissen 225 , aber auch das Verbot, in der Presse usw. über eine gerichtliche Verhandlung oder den Inhalt eines die Sache betreffenden amtlichen Schriftstücks zu berichten, wenn in einer gerichtlichen Verhandlung die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit ausgeschlossen wurde (§ 174 Abs. 2 GVG; § 353d Nr. 1 , 2 StGB). Unter bestimmten Umständen kann ferner das Einschreiten gegen die Aufforderung zur Fahnenflucht damit gerechtfertigt werden 226 . Die durch Art. 20 Abs. 1 IPBPR ausdrücklich festgelegte Verpflichtung, 217

218

219

22,1

221

E G M R 8.7.1986 Lingens/Ö(EuGRZ 1986 424); vgl. auch 23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); 27.2.2001 Jerusalem/Ö (ÖJZ 2001 693); 13.11. 2003 Scharsach, News Verlagsgesellschaft/Ö (ÖJZ 2004 512); Froweinl Peukert 26; Meyer-Ladewig 28. E G M R 27.3.1996 Goodwin/GB (ÖJZ 1996 795 gerichtliche Offenlegungsorder und Strafe wegen Nichtbefolgung); zum Schutze von Informanten und des Redaktionsgeheimnisses Grabenwarier § 23 Rdn. 36. Vgl. EGMR 25.11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714), andererseits aber EGMR 20.9.1994 OttoPremminger-lnstitut/Ö (ÖJZ 1995 154); dazu Grabenwanei- ZaöRV 55 (1995) 128. Etwa EGMR 25.3.1985 Barthold /D (EuGRZ 1985 170); 20.11.1989 markt intern/D (EuGRZ 1996 302); 24.2.1994 Casado Coca/ Span (ÖJZ 1994 636); 23.6.1994 Jacubowski/D (NJW 1995 857 Wettbewerbsverstoß durch Rundbrief), zu beiden Collies EuGRZ 1996 293; Kulms RabelsZ 1999 520, 524; Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 779 ff, 785. EGMR 25. 11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714, Schutz vor Blasphemie).

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226

Etwa E G M R 24.2.1994 Casado Coca/ Span (ÖJZ 1994 636). Vgl. BVerfGE 75 369, 380; 102 347; BVerfG NJW 2002 1303; Grimm NJW 1995 1697, 1703. Vgl. Iloffmeister EuGRZ 2000 358, 361 zu den 13 Entscheidungen des E G M R in den Jahren 1998, 1999 gegen die Türkei (Bekämpfung seperatistischer pro-kurdischer Äußerungen). EGMR 16.12.1992 Hadjianastassiou/Griech (EuGRZ 1993 70); ferner die sog. Spycatcher Fälle EGMR 26.11.1991 Observer and Guardian/GB (EuGRZ 1995 16) und 26.11.1991 Sunday Times Nr. 2/GB (Series A 217); ferner Nowak 44. Zu den Einschränkungen des Geheimnisschutzes bei bereits anderweitig der Öffentlichkeit zugänglichen Informationen vgl. EGMR 9.2.1995 Vereniging Weekblad Bluf/NdL (ÖJZ 1995 469 kein Schutzbedürfnis mehr); ähnlich EGMR 21.1.1999 Fressoz, Roire/F (EuGRZ 1999 5); dazu Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 812. EKMR bei Froweinl Peukert 29; (Nordirland, konkrete Hinweise auf Desertationsmöglichkeiten).

Stand: 1.10.2004

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Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g

Art. 1 9 I P B P R

Kriegspropaganda durch Gesetz zu verbieten, fällt ebenfalls hierunter 227 . Das Verbot einer neonazistischen oder faschistischen Betätigung wurde ebenfalls hierzu gerechnet 228 , ferner auch der Eingriff in Art. 10 M R K , der mit einem Parteiverbot verbunden ist 229 . Bei ernsthaften Konflikten und Spannungen besteht eine besondere Sorgfaltspflicht der Medien bei ihrer Berichterstattung, damit sie nicht zur Verbreitung von Haß und Gewalt mißbraucht werden 230 . b) Die öffentliche Ordnung, die in Art. 19 Abs. 3 IPBPR durch den Begriff „ordre 2 3 public" definiert wird 231 , rechtfertigt ebenfalls Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit. Dieser sehr weite Begriff deckt vielfach auch die Eingriffe ab, die bei Art. 10 Abs. 2 M R K unter die dort detaillierter aufgeführten legitimen Eingriffsziele fallen. Auch die Konzessionierung von Rundfunk-, Lichtspiel- und Fernsehunternehmen wird hierdurch gedeckt 232 . Bei der großen Spannweite dieses Begriffes, der vielgestaltige Maßnahmen im öffentlichen Interesse umfassen kann, erlangen die aus den allgemeinen Grundsätzen 2 3 3 , vor allem die aus der Notwendigkeit und der Demokratieüblichkeit ableitbaren Schranken besondere Bedeutung, so etwa auch bei der Beurteilung berufsrechtlicher Werbeverbote 234 . Art. 10 M R K versucht eine Eingrenzung des weiten Begriffes der öffentlichen Ord- 23a nung dadurch, daß er die für die Beschränkung wichtigen Gesichtspunkte, „öffentliche Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung und Verbrechensverhütung" nebeneinander aufzählt. Unter Ordnung wird die allgemeine öffentliche Ordnung verstanden, die vom Schutz der demokratischen Institutionen und der staatlichen Strukturen gegen Störungen bis zu der Regelung einzelner Sachbereiche reicht, wie etwa die Ordnung des Straßenverkehrs oder der Telekommunikation oder die Maßnahmen zur Verhütung von gegenseitigen Störungen beim Betrieb von Rundfunkanlagen 2 3 5 . Auch die interne Ordnung einzelner öffentlicher Einrichtungen, wie Behörden, Armee 2 3 6 oder Strafanstalten 237 , fallen hierunter. Bei der Beurteilung, ob und welche Maßnahmen im konkreten Fall zur Aufrechterhaltung der Ordnung angezeigt sind, haben die Staaten und ihre Organe einen gewissen Beurteilungsspielraum, der dadurch begrenzt wird, daß die jeweiligen Maßnahmen auch in einer demokratischen Gesellschaft als zur Erreichung des mit ihnen angestrebten Zweckes notwendig angesehen werden können und daß sie die Verhältnismäßigkeit gegenüber dem mit ihnen angestrebten Zweck wahrten 2 3 8 . Die Verhütung von Straftaten rechtfertigt die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit durch die „klassischen" Straftatbestände. Vor allem sollen Äußerungen, die zur Begehung einer Straftat auffordern, unterbunden werden können 239 . Beim Vermummungsverbot überwiegt das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr und der Verhütung strafbarer

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232 233 234

255

Vgl. Nach Art. 10 MRK Art. 20 TPBPR Rdn. 1,4. E K M R bei FroweinlFenken 29; Nowak 44; näher liegend wohl öffentliche Ordnung vgl. Rdn. 23. Vgl. Art. 11 Rdn. 9b. Vgl. EGMR 18.7.2000 Sener/Türk (ÖJZ 2001 696); Meyer-Ladewig 23. Die engl.Fassung „public order" bringt diesen Begriff als Klammerzusatz. Zur Entstehung vgl. Nowak 45. Nowak 46. Vgl. oben Rdn. 18 ff. Vgl. etwa EGMR 25.3. 1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); 24.2.1994 Casado Coca/Span (ÖJZ 1994 636), dazu Villiger HdB 618. E G M R 22. 5.1990 Autronic AG/CH (EuGRZ 1990

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261); EKMR bei Strasser EuGRZ 1990 291 (Autronic AG); FroweinlFenken 30. E G M R 8.6.1976 Engel/Ndl (EuGRZ 1976 221); 19.12.1994 Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs/Ö (ÖJZ 1995 314); FroweinlPeukert 30; Grabenwarier § 23 Rdn. 21. EGMR 21.2.1975 Golder (EuGRZ 1975 91); 25.3. 1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); FroweinlPeukeri 30 (auch zum Verbot, Artikel aus dem Gefängnis zu schreiben); vgl. ferner Frebeluh ZaöRV 61 (2001) 771,791. Vgl. EGMR 25.8.1993 Chorherr/Ö (ÖJZ 1994 174); 27.4.1995 Piermont/F (ÖJZ 1995 751). Frebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 794.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Handlungen den damit verbundenen Eingriff in die nur in der äußeren Form ihrer Ausübung betroffene Meinungsfreiheit 240 . Die Bestrafung der Verbreitung von Propagandamaterial verfassungswidriger Organisationen wurde als zum Schutze der nationalen Sicherheit für gerechtfertigt angesehen 241 . Der Schutz der öffentlichen Ordnung rechtfertigt auch Maßnahmen zur Durchsetzung des in Art. 20 IPBPR ausdrücklich verbotenen Eintretens für nationalen, rassischen oder religiösen Haß, durch das zur Diskriminierung, Feindseligkeiten oder Gewalt aufgestachelt wird 242 . Äußerungen, die sich gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte richten, genießen nicht den Schutz des Art. 10 243. Die Beschlagnahme und Einziehung eines Filmes wegen der Verletzung der religiösen Gefühle eines großen Teiles der Bevölkerung durch diesen Film wurde vom E G M R unter dem Blickwinkel des Aufrechterhaltens der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der Rechte anderer für gerechtfertigt gehalten 244 ; desgleichen das im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse mit Art. 9 M R K gerechtfertigte Verbot der religiösen Radiowerbung in Irland 2443 . 24

c) Ein Sonderfall der öffentlichen Ordnung ist die in Art. 10 Abs. 2 M R K besonders aufgeführte Gewährleistung des Ansehens und die Unparteilichkeit der Rechtspflege. Diese wohl von der angelsächsischen Vorstellung des contempt of court 2 4 5 beeinflußte Zielsetzung wird auch von der Überlegung mitbestimmt, daß die Richter durch ihre Verschwiegenheitspflicht mitunter gehindert sind, einer öffentlichen Kritik entgegenzutreten 246 . Gesetzliche Regelungen und Einzelanordnungen zum Schutze des Ansehens des Gerichts und der Richter und zur Sicherung der Autorität des Gerichts werden deshalb als zulässig angesehen, so etwa die Versagung des Zutritts nach § 175 G V G oder die Ahndung eines ungebührlichen Verhaltens vor Gericht nach § 178 G V G oder die Ahndung von herabwürdigenden Äußerungen über Berufs- und Laienrichter 247 . Gestattet sind vor allem Maßnahmen, die die Funktion der Rechtspflege schützen und nicht zuletzt auch die Laienrichter vor einer Beeinflussung durch die Massenmedien bewahren sollen 248 , wie etwa die Verbote des § 353d StGB oder die Verpflichtung zur Wahrung der Vertraulichkeit einer strafrechtlichen Untersuchung 2 4 9 . Bei einem Einschreiten gegen eine Presseveröffentlichung ist ein strenger Maßstab anzulegen. Eingriffe in die Berichterstattung über Maßnahmen der Rechtspflegeorgane sind nur in Ausnahmefällen zulässig. Hier fällt ins Gewicht, daß die Rechtspflege grundsätzlich öffentlich ist 250 , so daß 24,1 241 242

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Vgl. Schweiz.BGer. EuGRZ 1992 137. EKMR nach Frowein! Peukert 29. Vgl. UN-AMR EuGRZ 1998 271 (Faurisson), wo der Zweck, eines französischen Gesetzes. Antisemitismus zu bekämpfen, als mit Art. 19 Abs. 3 IPBPR vereinbar angesehen, eine abstrakte Beurteilung dieses auch das Leugnen anderer historischer Tatsachen unter Strafe stellenden Gesetzes aber abgelehnt wurde; zur Problematik Weiß EuGRZ 1998 274. Iluffmeister EuGRZ 2000 358; 360. E G M R 23.9.1998 Lehideux & lsomi/Fr (ÖJZ 1999 656). EGMR 20.9.1994 Otto Premminger Tnstitut/Ö (ÖJZ 1996 154), die EKMR hatte eine Verletzung des Art. 10 angenommen; dazu Grabenwarter ZaöRV 55 (1995) 128; Meyer-Ladewig 39; Villiger Hdb Art. 9 Rdn. 602; Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 809 f; vgl. auch E G M R 25.11.1996 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714: blasphemisches Video). EGMR 10.7.2003 Murphy/Tri (besondere religiöse Lage in Irland, Benachteiligung finanzschwacherer

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25,1

Religionsgemeinschaften bei Zulassung); vgl. Goedecke JTR 46 (2003) 606, 626. Vgl. etwa EGMR 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); Brit. High Court (EuGRZ 1992 594); FroweinIPeukert 35. Grabenwarler § 23 Rdn. 21. EGMR 24.2.1997 De Haes, Gijsels/Belg (ÖJZ 1997 912); Grabenwarter § 23 Rdn. 15. EGMR 22.2.1989 Barford/Dän (ÖJZ 1989 695); vgl. auch Corte Constituzionale EuGRZ 2002 613 mit Anm. Luther (Kontrollaufgabe des Abgeordneten rechtfertigt nicht Beleidigung eines Staatsanwalts). Guradze 19. EGMR 22. 5.1990 Weber/CH (NJW 1991 623); wo allerdings die Bestrafung der Veröffentlichung einer bereits vorher bekanntgewordenen Tatsache als nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen wurde. Vgl. Art. 6 MRK Rdn. 86 ff.

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der Information der Öffentlichkeit besonderes Gewicht zukommt 2 5 1 . Die Zulässigkeit von Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerungen im Interesse des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtspflege berechtigen den Staat nicht, bereits jede öffentliche Erörterung einer bei Gericht anhängigen Sache einzuschränken 252 . D a f ü r bedarf es eines schwerwiegenden Grundes. Art und Umfang der Einschränkung müssen den Umständen nach unerläßlich sein. So kann beispielsweise zur Sicherung eines fairen Verfahrens die Erörterung eines laufenden Verfahrens nach nationalem Recht geahndet werden, wenn sie objektiv geeignet war, dessen Ausgang zu beeinflussen 253 . Auch das Verbot, den Gang einer Verhandlung stark verkürzt im Fernsehen nachzuspielen, wurde als gerechtfertigt angesehen 254 . Der Sicherung des Gerichts gegen Beeinflussung dient auch § 353d Nr. 3 StGB, der die Veröffentlichung der Anklageschrift oder amtlicher Schriftstücke eines Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahrens vor ihrer Verwendung im Verfahren oder vor dessen Abschluß mit Strafe bedroht. Sachliche Kritik an einer getroffenen Entscheidung kann, selbst wenn einseitig und überzogen, nicht mit dem Hinweis auf das Ansehen des Gerichts unterbunden werden, die Gerichte müssen sie hinnehmen 255 , nicht aber Versuche, schon vorher durch unsachliche öffentliche Kritik den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen 256 oder Beleidigungen der Berufs- oder Laienrichter 257 . Auch Rechtsanwälte müssen durch ihr Verhalten vor Gericht, auch durch Inhalt und Form ihrer Ausführungen, zu einer ordnungsgemäßen Rechtspflege beitragen, ihr notwendiger großer Freiraum für Art und Form ihrer Ausführungen bei der nachdrücklichen Vertretung der Rechte ihrer Klienten ist nicht unbegrenzt 258 ; dies gilt vor allem für persönliche Beleidigungen. Wegen der Bedeutung einer nicht durch die Befürchtung nachträglicher Sanktionen beeinflußten Wahrnehmung des Verteidigungsinteressen in der Verhandlung sah der E G M R allerdings nur in Ausnahmefällen eine Einschränkung der Äußerungsfreiheit des Verteidigers als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig an 259 . d) Art. 10 Abs. 2 M R K erwähnt als legitimes Eingriffsziel noch besonders die Verhin- 2 5 derung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten260. Damit dürften sowohl der Schutz vertraulich zu behandelnde Tatsachen aus dem öffentlichen Bereich261 wie auch aus dem zivilen Bereich gedeckt sein. Dazu gehören auch Maßnahmen zum Schutz des Steuergeheimnisses 262 . Nach Ansicht des E G M R kann ein Eingriff in die Pressefreiheit nicht 2,1

Vgl. E G M R 26.4.1979 Sunday Times/GB ( E u G R Z 1979 386); I-rowein/Peukert 35. 252 E G M R 29. 8.1997 Worrn/Ö ( Ö J Z 1998 35). 253 E G M R 29. 8.1997 Worrn/Ö ( Ö J Z 1998 35). 2.4 E K M R bei Slrasser E u G R Z 1988 613. 2.5 Vgl. E G M R 26.4.1979 Sunday Times/GB ( E u G R Z 1979 386); E K M R bei SlrasserlWeher E u G R Z 1988 91. Froweint Peukeri 35. 256 Vgl. E G M R 26.4.1995 Prager & Oberschlick/Ö ( Ö J Z 1996 675); 29.8.1997 W o r m / Ö (ÖJZ 1998 35); Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 815; Villiger H d B 623. 257 E G M R 22.2.1989 Barfod / D a n (ÖJZ 1989 695); 26.4.1995 Prager&Oberschlick/Ö (ÖJZ 1996 675); Meyer-Ladewig 41. 258 Vgl. E G M R 20.5.1998 Schöpfer/CH ( Ö J Z 1999 237); dazu Villiger H d B 618; E G M R 21.3.2002 Wingerter/D ( E u G R Z 2002 329); 21.3.2002 Nikula/Finnl (ÖJZ 2003 430). 259 E G M R 21.3.2002 Nikula/Finnl (ÖJZ 2003 430). 2«) L'rowein-Peukert 34; Guradze 18 (Vorschriften zum Schutz von Berufs- und Amtsgeheimnissen ge(519)

deckt). vgl. dort auch zum Unterschied zwischen dem nur die Vertraulichkeit der Mitteilung schützenden englischen Text und dem auch die Vertraulichkeit des Inhalts mitumfassenden französischen Text. 261

Bei staatlichen Geheimnissen überschneidet sich dieser EingrifTsgrund mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, vgl. die sog. Spycatcher Fälle E G M R 26.11.1991 Observer and G u a r d i a n / G B ( E u G R Z 1995 16); 26.11.1991 Sunday Times Nr. 2/ G B (Series A 217); ferner E G M R 9.2.1995 Vereniging Weekblad B l u f / N d L (ÖJZ 1995 469), wo der staatliche Eingriff wegen der Veröffentlichung an sich geheimer Informationen unter dem Blickwinkel der nationalen Sicherheit gesehen wurde. Vgl. ferner E G M R 21.1.1999 Fressoz, Roire/F ( E u G R Z 1999 5) dazu Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 812; sowie Schweiz.BGer. E u G R Z 2001 416 (Veröffentlichung eines vertraulichen amtlichen Papiers).

262

Vgl. E G M R 21.1.1999 Fressoz, Roire/F (N JW 1999 1315); Meyer-Ladewig 29.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

mehr mit dem Schutzbedürfnis geheimer Informationen gerechtfertigt werden, wenn diese Informationen sachlich richtig und bereits vorher der Öffentlichkeit zugänglich waren 263 . Ob und wieweit andere Eingriffsziele, wie etwa der Schutz der Rechte anderer den Eingriff rechtfertigen können, ist in Abwägung der dort zu berücksichtigenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Beim IPBPR, der diesen Eingriffsgrund nicht besonders erwähnt, rechtfertigen sich Schutzmaßnahmen je nach der Art der Nachricht unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Sicherheit des Staates oder der öffentlichen Ordnung oder bei vertraulichen Nachrichten über den Privatbereich unter dem des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer. 26

e) Der Schutz der Gesundheit wird in beiden Konventionen besonders erwähnt. Art. 19 Abs. 3 IPBPR spricht von „Volksgesundheit" („public health"). D a ß Art. 8 Abs. 2 M R K auch im Sinne der Belange der öffentlichen Gesundheitspflege zu verstehen ist, liegt nahe, kann aber dahinstehen; denn staatliche Maßnahmen, die die Gesundheit einzelner vor Schädigungen bewahren sollen, werden auch durch den Eingriffszweck des Schutzes der Rechte anderer gerechtfertigt 264 . Der Gesundheitsschutz rechtfertigt Eingriffe in die Meinungsfreiheit, so etwa Verbot einer irreführenden Werbung. In die Meinungsfreiheit wird aber nicht dadurch eingegriffen, daß der Staat den Abdruck seines Warnungshinweises auf der Verpackung eines Produkts vorschreibt 265 .

27

f) Der Schutz der Moral (Art. 8 Abs. 2 M R K : „protection of morals", „protection de la morale") bzw. nach Art. 19 Abs. 3 IPBPR der öffentlichen Sittlichkeit („public ... morals", „moralite publique") kann Eingriffe des Staates rechtfertigen. Auch Art. 10 Abs. 2 M R K dürfte die öffentliche Moral im Sinne der allgemein anerkannten Moralvorstellungen meinen, bei Verstoß dagegen kann auch das Recht der Betroffenen staatliche Schutzmaßnahmen rechtfertigen. Maßgebend sind dabei nicht die individuellen Moralvorstellungen einzelner, sondern der in der jeweiligen Gesellschaft zeitlich und örtlich vorherrschende allgemeine Standard. Dieser ist bei den Konventionsstaaten sehr unterschiedlich und auch dem Wandel unterworfen 266 . Die Konventionsorgane räumen deshalb den nationalen Stellen einen weiten Ermessensspielraum ein, da diese wegen ihrer Sachnähe die von der jeweiligen Tradition und den in der Gesellschaft jeweils vorherrschenden Anschauungen beeinflußten örtlichen Moralvorstellungen besser beurteilen können 267 . Dies kann zu Differenzierungen führen 268 . Der Eingriffszweck erlaubt etwa das Einschreiten gegen pornographische Schriften 269 oder Videos 270 durch Verbote

So im sogen. Spycatcher-Fall EGMR 26.11.1991 Observer and Guardian/GB (EuGRZ 1995 16) und 26. 11.1991 Sunday Times Nr. 2/GB (Series A 217), wo das Buch bereits in den USA erschienen war, ferner EGMR 9.2.1995 Vereniging Weekblad Bluff NdL (ÖJZ 1995 469). Im Fall E G M R 21.1.1999 Fressoz, Roire/F (NJW 1999 1315) war das veröffentlichte versteuerte Einkommen für jedermann aus den Steuerlisten der Gemeinde ersichtlich. 264 265

266

Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 793. Vgl. BVerfGE 95 173, 182 dazu Di Fabio NJW 1997 2863 (Verpflichtung zum Abdruck eines Warnhinweises des Bundesministers auf Tabakerzeugnisse betrifft Berufsausübung, nicht Meinungsfreiheit); ferner Sachs!Bethge G G Art. 5, 38b; Nolte RabelsZ 1999 507, 517 (Vorrang des Gesundheitsschutzes); Nowak 49. Vgl. Frowein/Peukeri 31; Meyer-Ludewig 35, ferner nachf. Fußn.

267

Vgl. EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 24.5.1988 Müller/CH (NJW 1989 379); EGMR 29.10.1992 Open Door & Dublin Well Woman/Irl (EuGRZ 1992 486); 20.9.1994 OttoPremminger-Institut/Ö (ÖJZ 1995 154); 25.11.1997 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714); UN-AMR EuGRZ 1982 342 (Hertzberg); dazu Weiß EuGRZ 1998 274; Iloffmeister EuGRZ 2000, 358; FroweinlPeukert 31; Nowak 50; Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 793 f; Villiger HdB 610.

268

Im Gegensatz zum E G M R 24. 5.1989 Müller/CH (NJW 1989 379) hielt E K M R (EuGRZ 1986 702) in der gleichen Sache zwar die Bestrafung, nicht aber die Beschlagnahme, die auch die Ausstellung im Ausland verhinderte, für notwendig zum Schutze der örtlichen Moralvorstellungen; vgl. dazu Frowein/Peukeri 31; Villiger HdB 615 f. 269 Nowak 50; Guradze 16; Villiger HdB 616. 2 ™ EGMR 25.11. 1997 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714).

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und Strafen oder die Bestrafung wegen der Ausstellung unzüchtiger Kunstwerke und deren Beschlagnahme 271 . Bei Beurteilung, ob ein Einschreiten zum Schutze der Moral notwendig ist, fällt auch ins Gewicht, wenn durch die staatliche M a ß n a h m e eine ernsthafte Verletzung und Kränkung der religiösen Gefühle eines Teiles der Bevölkerung 272 oder schädliche Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verhindert werden sollen 273 . g) Der Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer gestattet ebenfalls Einschrän- 2 8 kungen der Meinungsfreiheit; er rechtfertigt vor allem die Bestrafung wegen beleidigenden oder herabwürdigenden Äußerungen, die grundsätzlich auch in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze des guten Rufes und der Rechte anderer notwendig ist 274 . Gleiches gilt grundsätzlich für das vom Staat zu schützende Recht des einzelnen, Eingriffe Dritter in seinen durch Art. 8 M R K geschützten privaten Lebensbereich, insbesondere Presseveröffentlichungen darüber, mit Hilfe der Gerichte abzuwehren 275 . Der Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer setzt aber auch der politischen Auseinandersetzung Schranken, wobei hier vor allem bei einem Politiker, soweit er in öffentlicher Funktion auftritt, die Grenzen vertretbarer Kritik nach Form und Inhalt weiter gezogen werden als zwischen Privatleuten 276 . Vertreter des Staates und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens277 müssen sich ein erhöhtes M a ß an öffentlicher Erörterung und Kritik gefallen lassen 278 . Grundsätzlich ist aber auch in diesem Bereich öffentlicher Auseinandersetzungen die Notwendigkeit des Schutzes der persönlichen Belange einschließlich des Ehrenschutzes abzuwägen gegen das schwerwiegende, für jede demokratische Gesellschaft existentielle öffentliche Interesse an der offenen Diskussion aller Fragen, denen im jeweiligen Zeitpunkt politische oder sonstwie öffentliche Bedeutung beigemessen wird 279 . Fraglich erscheint deshalb, ob Art. 10 M R K auf Grund einer „Gesamtbetrachtung" die Bezeichnung eines Politikers als „Trottel" deckt, weil sie im Rahmen einer polemischen Kritik an einer von diesem in einer Rede vertretenen, als Provokation empfundenen Auffassung noch als (sachbezogene) Reaktion auf diese Auffassung und nicht als persönlich Beleidigung verstanden werden kann 2 8 0 . Bei der erforderlichen Abwägung ist zu unterscheiden, ob sich Kritik gegen die Führung des öffentlichen Amtes oder ihrer Rolle im öffentlichen Leben oder aber gegen ihr Privatleben und ihr Verhalten als Einzelperson richtet 281 . Auch in den öffentlichen Bereichen, die der

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E G M R 24.5.1988 Müller/CH (NJW 1989 379); E K M R EuGRZ 1986 702 (Müller), dazu Würkner NJW 1989 369. Vgl. EGMR 20.9.1994 Otto-Premminger-Institut/Ö (ÖJZ 1995 154); 25.11.1997 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714). E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38) maß diesem Gesichtspunkt besonderes Gewicht bei, ebenso UN-AMR EuGRZ 1982 342 (Hertzberg). EKMR bei Bleckmann EuGRZ 1981 122; zu den einschlägigen Entscheidungen der EKMR I-'rmveinl Fenken 32; vgl. Kriele NJW 1994 1897 ff (Schutz der persönlichen Ehre kommt zu kurz). Vgl. Giegerich RabelsZ 1999 471, 498. EGMR 8.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424); 23. 5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); 28. 8. 1992 Schwabe/Ö (ÖJZ 1993 67); EKMR ÖJZ 1990 124; Frmvein/Peukerl 32; Nowak 40, vgl. Rdn. 21e. Vgl. E G M R 21.1.1999 Fressoz, Roire/E (EuGRZ

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1999 5: Veröffentlichung der Steuererklärung eines Generaldirektors). Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 796 ff. EGMR 23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216).

280

EGMR 1.7.1996 Oberschlick/Ö (ÖJZ 1997 956) nahm das an, dazu Prebelnh ZaöRV 61 (2001) 771, 797, unter Hinweis auf E G M R 28.9.2000 Lopes Gomes da Silva/ Port., wo eine ähnlich herabwürdigende Kritik eines Politikers als zulässig angesehen wurde. Auch die Bezeichnung als „Kellernazi" in Verbindung mit dem Vorwurf einer ungenügenden Abgrenzung von der extremen Rechten wurde als zulässig angesehen, E G M R 13.11.2003 Scharsach, News Verlagsgesellschaft/Ö (ÖJZ 2004 512).

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I-rowein/Peukert 32; vgl. Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771; 795, wobei den Staaten wegen der Bedeutung der Presseberichterstattung in der demokratischen Gesellschaft bei der erforderlichen Abwägung kaum ein eigener Beurteilungsspielraum eingeräumt wird.

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Kritik weitgehend offen stehen, kommt den Pflichten und Verantwortlichkeiten der Journalisten erhöhte Bedeutung zu 282 , da sie hier auch nach der Funktion des Betroffenen unterscheiden müssen. Dies kann vor allem eine Rolle spielen bei nachgeordneten Beamten und Verwaltungsangehörigen, die sich zwar hinsichtlich ihrer Amtsführung im weiteren Maße als im Privatleben der Kritik stellen müssen, die aber im Interesse ihrer Amtsführung auch insoweit einen Anspruch auf Schutz vor beleidigenden verbalen Attacken genießen 283 . Auch bei der Medienberichterstattung über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse wurde es in dessen Abwägung mit den legitimen privaten Interessen des Betroffenen als nach Art. 10 Abs. 2 M R K gerechtfertigt angesehen, daß die Gerichte ein Nachrichtenmagazin zur Zahlung einer Entschädigung an einen Beamten verurteilten, den es unter Hinweis auf ein eingeleitetes Strafverfahren mit vollem Namen nannte, was ihn einer die Unschuldsvermutung mißachtenden Medienjustiz auslieferte, ohne daß das öffentliche Interesse an der Berichterstattung die Nennung des vollen Namens erfordert hätte 284 . Als nicht unverhältnismäßig hat der E G M R die anwaltsgerichtliche Verwarnung eines Anwalts wegen der Verunglimpfung des guten Rufes der ortsansässigen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte in einem Kostenfestsetzungsverfahren angesehen 285 . 28a

Soweit der Staat selbst und seine Einrichtungen wie Verwaltungsstellen, Polizei usw. als solche Gegenstand einer öffentlichen Kritik, vor allem in der Presse, sind, hat die Erörterung der kritisierten Vorgänge in der Öffentlichkeit wegen ihrer Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen Kontrolle besonderes Gewicht. Hier werden für ein staatliches Vorgehen gegen eine solche Kritik noch viel engere Grenzen gezogen als bei den im öffentlichen Leben stehenden Personen 286 .

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Die Achtung der Rechte anderer entspricht als grundsätzliche Grenze der Meinungsund der Informationsbeschaffungsfreiheit den besonderen Pflichten und der besonderen Verantwortung, die für die Ausübung dieser Konventionsrechte auch privaten Dritten gegenüber zu beachten ist. Andere können sowohl Einzelpersonen als auch bestimmte, in irgend einer Hinsicht übereinstimmende Personengruppen sein. Entgegenstehende Rechte anderer können in vielfältiger Form bestehen. Sie umfassen die auch vom Schutz des guten Rufes gerechtfertigte Strafbarkeit der üblen Nachrede 2 8 7 und der Beleidigung anderer 288 den Persönlichkeitsschutz, den Urheberschutz oder die gewerbliche oder geschäftliche Betätigung 289 sowie das Eigentumsrecht Dritter, das auch der künstlerischen Betätigung an fremden Gegenständen Schranken setzt 290 . Sie schließen den Schutz

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286

287

E G R M 23.9.1994 Jersild/Dän (ÖJZ 1995 227); Prager & Oberschlick/Ö (ÖJZ 1995 674); 26.2.2002 Unabhängige Initiative Tnformationsvielfalt/Ö (ÖJZ 2002 468). E G M R 21.1.1999 Janowski/Polen (ÖJZ 1999 735): Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 798. E G M R 14.11.2002 „Wirtschafts-Trend" Zeitschriften-Verlagsgesellschaft mbH/Ö (ÖJZ 2003 155). EGMR 14.9. 1998 Wingerter/D (EuGRZ 2002 330: offensichtlich unbegründet und daher unzulässig). Vgl. etwa E G M R 23.4.1992 Castells/Span (ÖJZ 1992 893); 25.6.1992 Thorgeir Thorgeirson/lsl (ÖJZ 1992 810); 8.7.1999 Baskaya,Okcuoglu/Türk (NJW 2001 1995), Prebeluh ZaöRV 61 (2001) 771 799 mit weit. Nachw. Der EGMR unterscheidet ebenfalls, ob eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil vorliegt, wobei aber auch bei Werturteilen eine ausreichende

Tatsachengrundlage verlangt wird, E G M R 24.2. 1997 De Haes & Gijsels/Belg (ÖJZ 1997 912); 1.7. 1997 Oberschlick/D (NJW 1999 1321); 27.2.2001 Jerusalem/Ö (ÖJZ 2001 693); 20.3.2003 Krone Verlag GMBH & Co KG u.a./Ö (ÖJZ 2003 812). Vgl. aber auch EGMR 18.7.1986 Lingens/Ö (EuGRZ 1986 424: Wahrheitsbeweis für allgemein herabsetzende Würdigung des Verhaltens eines Politikers unverhältnismäßig); Meyer-Ladewig 28. 288

Vgl. Rdn. 28. ® Etwa. E G M R 25.3.1985 Barthold/D (EuGRZ 1985 170); 2.5.2000 Bergens Tidende/Norw (ÖJZ 2001 110); Preslmayr EuGRZ 1985 221; vgl. Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 801: Eingriffe in die geschäftliche Betätigung werden unter dem Aspekt der Konsumenten oder Konkurrenten und nicht als Eingriffe in die Privatsphäre gesehen. »" E K M R EuGRZ 1984 259 (Sprayer von Zürch). 2

Stand: 1.10.2004

(522)

Verbot der Kriegspropaganda

Art. 2 0 I P B P R

der religiösen Überzeugung anderer vor blasphemischer Herabwürdigung 2 9 1 oder vor Beunruhigung durch rassistische oder herabwürdigende Äußerungen 2 9 2 mit ein. Zum Schutz der Rechte Dritter gehört vor allem auch deren Recht auf hinreichenden Schutz ihrer persönlichen Daten und ihres Privatbereiches293: Zu diesem Zweck ist der Staat berechtigt, unter Umständen zur Erfüllung seiner Schutzpflicht aus Art. 8 M R K , Art. 17 Abs. 2, 20 IPBPR aber auch verpflichtet, der Informationserlangung und -Verbreitung Schranken zu setzen 294 . Dies rechtfertigt beispielsweise Einschränkungen der Presseberichterstattung über Angelegenheiten aus dem Privatbereich anderer, für deren Erörterung kein schützenswertes öffentliches Interesse besteht oder den Ausschluß der Öffentlichkeit bei bestimmten gerichtlichen Verfahren (vgl. § 170 ff GVG). Dem nationalen Gesetzgeber obliegt es, kollidierende Rechte in einer der Bedeutung der Informations· und Meinungsfreiheit einerseits und dem Schutzbedürfnis des betroffenen Dritten andererseits Rechnung tragenden Abwägung zu einer Konkordanz zu bringen, wobei ihm hier ein größerer, der Nachprüfung des E G M R aber nicht entzogener Beurteilungsspielraum für die Regelungen vorbehalten ist 295 .

Nach Art. 10 MRK (Art. 20 IPBPR) IPBPR Hinweis auf MRK

Artikel 20

In der MRK fehlt eine ausdrückliche Verbotspflicht entsprechend dem Art. 20 IPBPR.

(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten. (2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Haß, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.

Die dort geforderten Verbote können aber auf Grund des Art. 10 Abs. 2 MRK erlassen werden.

Ubersicht Rdn. 1. Allgemeines a) Bedeutung b) Andere völkerrechtliche Verpflichtungen c) Innerstaatliches Recht

Rdn. a) Verpflichtung, Kriegspropaganda zu verbieten b) Verbot der Verhetzung c) Verpflichtung zum Erlaß allgemeiner gesetzlicher Verbote

1 2 3

2. G r u n d z ü g e der Regelung

4 5 6

1. Allgemeines a) Bedeutung. Art. 20 IPBPR, der in der M R K keine Entsprechung findet, normiert 1 im Gegensatz zu den anderen Konventionsgewährleistungen kein subjektives Recht des einzelnen, sondern eine für alle Konventionsgarantien, insbesondere aber für die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 19 IPBPR) geltende obligatorische Schranke1. Er begrün291

292

293

Vgl. E G M R 25. 11.1997 Wingrove/GB (ÖJZ 1997 714: blasphemisches Video). E G M R 24.6.2003 G a r a u d y / F ( N J W 2004 3691: Infragestellung des Holocaust); vgl. auch U N - A M R Faurisson/F ( E u G R Z 1998 271: D a s Infragestellen von l u d e n m o r d u n d G a s k a m m e r n verletze die jüdische Gemeinde und damit Rechte anderer, Verbot durch Art. 19 Abs. 3 Buchst, a IPBPR gerechtfertigt). Vgl. etwa E G M R 24.6.2004 Caroline v. H a n n o ver/D ( N J W 2004 2647); FroweinlPeukerl 33; Nowak 42; ferner Art. 8 M R K Rdn. 6.

(523)

294

295

1

Vgl. E G M R 24.6.2004 G a r a u d y / F ( N J W 2004 3693); R d n . 23a; 28. Vgl. etwa E G M R 22.2.1989 B a r f o d / D ä n (ÖJZ 1989 695); 22.5.1990 Weber/CH ( N J W 1991 623); Giegerich RabelsZ 1999 471, 493 ff, 503; Prepeluh ZaöRV 61 (2001) 771, 800; Nowak 41. Zur Entstehungsgeschichte im Rahmen der Beratungen des Art. 19 IPBPR Blumenwitz F S E r m a cora 67, 68 ff; Nowak 3 ff.

Walter Gollwitzer

MRK Nach Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

det eine Handlungspflicht der Mitgliedstaaten. Während sonst die Konventionen nur dazu ermächtigen, die gewährleisteten Rechte und Freiheiten, vor allem die Freiheit der Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit erforderlichenfalls aus bestimmten Gründen durch Gesetz zu beschränken, ohne in der Regel sonst eine Pflicht zum Tätigwerden zu begründen, verpflichtet Art. 20 IPBPR die Mitgliedstaaten ausdrücklich zu Verboten. Die Verpflichtung, durch Gesetz die Kriegspropaganda und die Aufstachelung zur Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt aus nationalem, rassischem oder religiösem H a ß zu verbieten, konkretisiert die allgemeiner gehaltenen (zweckgebundenen) Eingriffsvorbehalte bei den anderen Garantien des IPBPR und ergänzt sie durch eine Regelungspflicht für die genannten Spezialfälle. An sich könnten die von Art. 20 IPBPR geforderten Verbote auch mit den als Eingriffsgründe anerkannten Zwecken der nationalen Sicherheit (Verbot der Kriegspropaganda) oder der öffentlichen Ordnung (Verbot der Verhetzung) gerechtfertigt werden 2 . Deshalb ergeben sich bei der MRK, in der eine dem Art. 20 IPBPR entsprechende Verpflichtung fehlt, keine Schwierigkeiten, die von Art. 20 IPBPR geforderten Verbote mit den Eingriffsvorbehalten der jeweiligen Garantien zu rechtfertigen, insbesondere mit Art. 10 Abs. 2 M R K . Das Verbot zweckwidriger Einschränkungen in Art.18 M R K steht solchen Regelungen nicht entgegen. Voraussetzung ist allerdings, daß sich auch die Verbote des Art.20 IPBPR in den für alle Eingriffe festgelegten allgemeinen Grenzen wie Verhältnismäßigkeit, Demokratieüblichkeit usw. halten müssen 3 . Art. 17 M R K schließt andererseits die mißbräuchliche Verwendung der Garantien der M R K zur Friedensstörung und Rassenhetze ausdrücklich aus 4 . Für die Verfahrensrechte, die die M R K jedermann einäumt, gilt dies nicht 5 . Ob gleiches auch für das Verfahren vor dem U N Auschuß für Menschenrechte nach dem FP-IPBPR 6 gilt, ist strittig 7 . 2

b) Andere völkerrechtliche Verpflichtungen gehen über Art. 20 IPBPR hinaus, so das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966 8 . Vor allem in dessen Art. 4 Buchst, a verpflichten sich die Staaten grundsätzlich, jede Verbreitung von Ideen, die sich auf die Überlegenheit einer Rasse oder den Rassenhaß gründen, jedes Aufreizen zur Rassendiskriminierung und jede Gewalttätigkeit gegen eine Rasse oder Personengruppe anderer Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit oder jede Aufreizung dazu sowie jede Unterstützung rassenkämpferischer Betätigung zu einer nach dem Gesetz strafbaren Handlung zu erklären. Diese Verpflichtung wird u.a. durch Art. 4 Buchst, b dieses Abkommens ergänzt, der den Staaten auferlegt, alle Organisationen und alle organisierten oder sonstigen Propagandatätigkeiten, welche die Rassendiskriminierung fördern oder dazu aufreizen, als gesetzwidrig zu erklären und zu verbieten und die Beteiligung an derartigen Organisationen oder Tätigkeiten als eine nach dem Gesetz strafbare Handlung anzuerkennen. Art. 4 des Abkommens hebt ausdrücklich hervor, daß die Staaten bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie die in Art. 5 dieses Abkommens nochmals besonders herausgestellten Bürgerrechte, wie vor allem das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung und die Religionsfreiheit gebührend berücksichtigen müssen. Die Verpflichtungen bestehen also auch hier nicht absolut, sondern nur in dem Umfang, der sich nach Abwägung mit der Bedeutung der Menschenrechte ergibt, in die die geforderten Verbote eingreifen. Es ist den Mitgliedstaaten also auch hier überlassen, die kolli-

2 3 4 5

Vgl. NmvakK, 19. Nowak 19; vgl. Rdn. 5, 6. Vgl. EKMRbeiFroweinIPeukertAii. Vgl. Art. 17 M R K Rdn. 4.

6 7

17 Rdn. 2bis 4.

8

Vgl. Anhang Rdn. 86 ff. Vgl. Rdn. 7. BGBl. 11 1969 S. 962.

Stand: 1.10.2004

(524)

Verbot der Kriegspropaganda

Art. 2 0 I P B P R

dierenden Pflichten des Menschenrechtsschutzes zu einer praktischen Konkordanz zu bringen. c) Innerstaatliches Recht. Die Unzulässigkeit jeder Ungleichbehandlung aufgrund der 3 Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat oder Herkunft, des Glaubens oder religiöser oder politischer Anschauungen folgt bereits aus Art. 3 Abs. 3 GG. D e m Verbot des Art. 20 Abs. 1 IPBPR entspricht das Verbot des Art. 26 GG, der Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, für verfassungswidrig erklärt und - über Art. 20 IPBPR hinaus - auch verlangt, daß sie unter Strafe gestellt werden (vgl. §§ 80, 80a StGB). Die Strafbarkeit der Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhaß oder die den öffentlichen Frieden gefährdende Beschimpfung religiöser Bekenntnisse nach Maßgabe der §§ 130, 131, 166 StGB trägt Forderungen des Art. 20 Abs. 2 IPBPR Rechnung. 2. Grundzüge der Regelung a) Die Verpflichtung, Kriegspropaganda durch Gesetz zu verbieten (Absatz 1), soll 4 nach der Entstehungsgeschichte nicht jede Meinungsäußerung über den Krieg erfassen, sondern nur eine propagandistische9, d.h. vorsätzlich auf die Beeinflussung anderer Menschen abzielende Tätigkeit, mit der für einen völkerrechtlich unzulässigen Friedensbruch geworben wird. Unter Krieg ist hier nur ein mit der Charta der Vereinten Nationen und den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten unvereinbarer Friedensbruch durch Akte einer bewaffneten Aggression zu verstehen; völkerrechtlich zulässige Kriegshandlungen, wie Maßnahmen zur Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, fallen nicht hierunter 10 . b) Das von Absatz 2 geforderte Verbot der Verhetzung soll in Ergänzung der anderen 5 Diskriminierungsverbote der Art. 2 Abs. 1, 3, Art. 26 IPBPR die ausdrückliche Aufhetzung zur Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt unterbinden, sofern diese durch ein Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Haß bestimmt wird 11 . Die Entstehungsgeschichte dürfte dafür sprechen, daß diese Pflicht nur ins Gewicht fallende Verstöße erfassen soll; vor allem die den inneren und äußeren Frieden gefährdende öffentliche Hetze gegen Angehörige einer anderen Nationalität, einer anderen Rasse oder einer anderen Religion soll dadurch unterbunden werden 12 . Zum gleichen Ergebnis führt eine Auslegung, die sich an der detaillierteren Regelung im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung orientiert; dort wird ebenfalls die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für die in Freiheitsrechte eingreifenden Verbote gefordert. Meinungsäußerungen im privaten Kreis, die nicht zu Gewalt aufstacheln, müssen nicht verboten werden 13 . Eine Verurteilung auf Grund eines französischen Sondergesetzes („Gayssot-Gesetz") wegen einer öffentlichen Äußerung, in der der Völkermord an den Juden und die Existenz der Gaskammern bezweifelt wurde, hat der U N - A M R nicht unter dem Blickwinkel der Aufhetzung zum Rassenhaß nach Art. 20 Abs. 2 IPBPR behandelt; er hat sie als zum Schutze der Rechte anderer (jüdische Gemeinde) als nach Art. 19 Abs. 3a IPBPR gerechtfertigt angesehen 133 . c) Art. 20 IPBPR verpflichtet jeden Mitgliedstaat zum Erlaß entsprechender allgemei- 6 ner gesetzlicher Verbote, also nicht nur zu solchen, die für die Staatsorgane gelten. Bei

9

1(1

11

Zum nicht definierten Propagandabegriff vgl. Nowak 11. U N - A M R Allgem. Bemerkung 11/19 (Nowak S. 884); Hof mann S. 47; Nowak 12. Zu den Unklarheiten dieser Bestimmung vgl. Nowak 14.

(525)

12 13 Ä

Nowak 15. Nowak 15. U N - A M R Faurisson/F ( E u G R Z 1998 271; vgl. Art. lORdn. 29.

Walter Gollwitzer

MRK Nach Art. 10

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

den unscharfen Konturen der Konventionsverpflichtungen und der Erforderlichkeit, diese mit den gleichfalls garantierten Freiheitsrechten zu einer praktischen Konkordanz zu bringen, dürfte den Staaten ein gewisser Regelungsspielraum zustehen, auch deshalb, weil sie eine mit dem sonstigen innerstaatlichen Recht übereinstimmende (systemkonforme) Lösung finden müssen. Eine unbedingte Pflicht, alle verbotenen Handlungen auch mit Strafe zu bedrohen, folgt aus Art. 20 IPBPR nicht 14 , wohl aber die Verpflichtung, durch angemessene Sanktionen oder sonstige staatliche Reaktionen für die Effektivität der Verbote zu sorgen. Die strittige Frage ist in den Staaten, die dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung beigetreten sind, wegen der aus dessen Art. 4 folgenden Verpflichtung zum Erlaß von Strafvorschriften 15 nur für die Fälle von Bedeutung, die nicht in den Schutzbereich dieses Abkommens fallen. 7

Art. 20 IPBPR begründet eine Handlungspflicht der Mitgliedstaaten. Während sonst die Konventionen nur dazu ermächtigen, die gewährleisteten Rechte und Freiheiten, vor allem die Freiheit der Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit sowie die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit erforderlichenfalls aus den dort aufgeführten Gründen durch Gesetz einzuschränken, ohne in der Regel eine Pflicht zum Tätigwerden zu begründen, verpflichtet Art. 20 IPBPR die Mitgliedstaaten ausdrücklich zu Verboten 16 . Die Verpflichtung, durch Gesetz die Kriegspropaganda und die Aufstachelung zur Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt aus nationalem, rassischem oder religiösem H a ß zu verbieten l 7 , konkretisiert die allgemeiner gehaltenen (zweckgebundenen) Eingriffsvorbehalte bei den anderen Garantien des IPBPR und ergänzt sie durch eine Regelungspflicht für die genannten Spezialfälle. An sich könnten die von Art. 20 IPBPR geforderten Verbote auch mit den als Eingriffsgründe anerkannten Zwecken der nationalen Sicherheit (Verbot der Kriegspropaganda) oder der öffentlichen Ordnung (Verbot der Verhetzung) gerechtfertigt werden 18 . Deshalb ergeben sich bei der MRK, in der eine dem Art. 20 IPBPR entsprechende Verpflichtung fehlt, trotz Art. 18 M R K keine Schwierigkeiten für die Rechtfertigung der von Art. 20 IPBPR geforderten Verbote mit den Eingriffsvorbehalten der jeweiligen Garantien. Voraussetzung ist, daß man davon ausgeht, daß sich auch diese Verbote in den für alle Eingriffe festgelegten allgemeinen Grenzen wie Verhältnismäßigkeit, Demokratieüblichkeit usw. halten müssen 19 . Art. 17 M R K schließt außerdem die mißbräuchliche Verwendung der Garantien zur Friedensstörung und Rassenhetze aus 20 . Auf die strittige Frage, ob der Verstoß gegen Art. 20 IPBPR die Zurückweisung einer Beschwerde nach dem FP-IPBPR ohne Sachprüfung als unzulässig („unvereinbar mit IPBPR ratione materiae") rechtfertigt 21 , soll hier nur hingewiesen werden. Für das Verfahren vor der E K M R hat sie keine unmittelbare Bedeutung. Die Mißbrauchsklausel des Art. 17 M R K schließt Verfahrensrechte nicht aus 22 .

14 15 16 17

Nowak 13, 15; strittig. Vgl. Rdn. 2. Zur Entstehungsgeschichte Nowak 3 ff. Vgl. etwa UN-AMR EuGRZ 1983 409 (Ausschluß vom Telefondienst wegen unzulässiger Rassendiskriminierung auf Grund eines kanadischen Gesetzes berechtigt).

18 19 2,1

21

22

Vgl. Nowak 19. Nowak 19; vgl. Rdn. 5, 6. Vgl. EKMR bei I-nnvein/Peukert Art. 17 Rdn. 2 bis 4. So UN-AMR EuGRZ 1983 409; dagegen Nowak 17 ff. Vgl. Art. 17 MRK Rdn. 4.

Stand: 1.10.2004

(526)

Art. 21, 22IPBPR

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Art. 11 MRK (Art. 21, 22 IPBPR) MRK Artikel 11 V e r s a m m l u n g s - u n d V e r e i n i g u n g s f r e i h e i t *

IPBPR

(1) Jede Person hat das Recht, sich frei u n d friedlich mit anderen zu v e r s a m m e l n u n d sich frei mit anderen zusammenzuschließen, dazu gehört auch das Recht, z u m Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu g r ü n d e n u n d Gewerks c h a f t e n beizutreten.

Das Recht, sich friedlich zu v e r s a m m e l n , w i r d anerkannt. Die A u s ü b u n g dieses Rechts darf keinen anderen als den gesetzlich v o r g e s e h e n e n E i n s c h r ä n k u n g e n u n t e r w o r f e n werden, die in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der ö f f e n t l i c h e n O r d n u n g (ordre public), zum Schutz der Volksg e s u n d h e i t , der ö f f e n t l i c h e n Sittlichkeit oder z u m Schutz der Rechte u n d Freiheiten anderer n o t w e n d i g sind.

(2) Die A u s ü b u n g dieser Rechte darf nur Einschränkungen u n t e r w o r f e n werden, die gesetzlich v o r g e s e h e n u n d In einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft n o t w e n d i g s i n d für die nationale u n d öffentliche Sicherheit, zur A u f r e c h t e r h a l t u n g der O r d n u n g oder zur V e r h ü t u n g v o n Straftaten, z u m Schutze der Gesundheit oder der Moral oder z u m Schutz der Rechte und Freihelten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen E i n s c h r ä n k u n g e n der A u s ü b u n g dieser Rechte f ü r A n g e h ö r i g e der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverw a l t u n g nicht entgegen.

Dazu: Artikel 16* Die Artikel 10, 11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken. Artikel 17* Die Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.

Artikel 21

Artikel 22 (1) J e d e r m a n n hat das Recht, sich frei mit anderen zus a m m e n z u s c h l i e ß e n sowie z u m Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden u n d ihnen beizutreten. (2) Die A u s ü b u n g dieses Rechts darf keinen anderen als den gesetzlich v o r g e s e h e n e n E i n s c h r ä n k u n g e n unterworfen werden, die in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der ö f f e n t l i c h e n Sicherheit, der öffentlichen O r d n u n g (ordre public), z u m Schutz der Volksgesundheit, der ö f f e n t l i c h e n Sittlichkeit oder z u m Schutz der Rechte u n d Freiheiten anderer n o t w e n d i g sind. Dieser Artikel steht gesetzlichen E i n s c h r ä n k u n g e n der Ausü b u n g dieses Rechts für A n g e h ö r i g e der Streitkräfte oder der Polizei nicht entgegen. (3) Keine B e s t i m m u n g dieses A r t i k e l s ermächtigt die Vertragsstaaten des Ü b e r e i n k o m m e n s der Internationalen Arbeitsorganisation von 1948 über die Vereinigungsfreiheit u n d den Schutz des Vereinigungsrechts, gesetzgeberische Maßnahmen zu treffen oder Gesetze s o anzuwenden, daß die Garantien des o b e n g e n a n n t e n Ü b e r e i n k o m m e n s beeinträchtigt werden. Vgl. Art. 1 Nr. 4 des Ratifizierungsgesetzes vom 15.11.1973 (bei Art. 10 MRK).

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

S c h r i f t t u m ( A u s w a h l ) : Breitbach

D a s Versammlungsverbot innerhalb von Bannmeilen u m Parla-

m e n t e u n d s e i n e A u s n a h m e r e g e l u n g e n , N V w Z 1 9 8 8 5 8 4 ; Breitbach surverbot,

NJW

1 9 8 8 8; Fahlbeck

Gewerkschaftsfreiheit und

Versammlungsfreiheit und ZenDiskriminierungsverbot

im

Fall

schwedischer L o k o m o t i v f ü h r e r v e r b a n d u n d im Fall S c h m i d t u n d D a h l s t r ö m , E u G R Z 1976 471; Höllein

D a s V e r b o t r e c h t s e x t r e m i s t i s c h e r V e r a n s t a l t u n g e n , N V w Z 1 9 9 4 6 3 5 ; Jäggi

f r e i h e i t g e m ä ß A r t 11 E M R K , J I R 19 ( 1 9 7 6 ) 2 3 8 ; Klein

Die Koalitions-

Parteiverbotsverfahren vor dem

i s c h e n G e r i c h t s h o f f ü r M e n s c h e n r e c h t e , Z R P 2 0 0 1 3 9 7 ; Mann/Ripke

Überlegungen zur

u n d Reichweite eines G e m e i n s c h a f t s g r u n d r e c h t s der Versammlungsfreiheit, E u G R Z Marauhn

Die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit zwischen menschenrechtlicher

EuropäExistenz

2004

125;

Gewährleistung

u n d p r i v a t r e c h t l i c h e r A u s g e s t a l t u n g . Z u r B e d e u t u n g v o n A r t . 11 E M R K f ü r d a s k o l l e k t i v e A r b e i t s recht u n d d a s Gesellschaftsrecht, R a b e l s Z 1999 537.

(527)

Walter Gollwitzer

M R K A r t . 11

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Übersicht Rdn.

Rdn.

1. Allgemeines

1

b) Gesetzlich vorgesehen

2. Versammlungsfreiheit

5

c) N o t w e n d i g k e i t in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft

3. Vereinigungsfreiheit a) Allgemeine Vereinigungsfreiheit b) Koalitionsfreiheit 4. Staatliche Eingriffe

9 9a

5. A n g e h ö r i g e der Streitkräfte, der Polizei u n d der Verwaltung

10

6. Positive Schutzpflichten des Staates

11

. . . .

a) Eingriffszweck

1

1. Allgemeines. Art. 20 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 1948 legt fest, daß jedermann das Recht auf Versammlungs- und Vereinsfreiheit für friedliche Zwecke hat und daß niemand gezwungen werden darf, einer Vereinigung anzugehören. Art. 11 MRK übernimmt diese Rechte. Neben dem Recht auf friedliche Versammlung gewährleistet er das Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschließen1 und verdeutlicht es dahin, daß diese Vereinigungsfreiheit das Recht einschließt, Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten. Mit gleichen Worten gewährleistet Art. 22 Abs. 1 IPBPR die Vereinigungsfreiheit, während das Recht, sich friedlich zu versammeln, getrennt in Art. 21 Abs. 1 IPBPR garantiert wird.

2

Art. 16 MRK schränkt die Garantien dahin ein, daß die Vertragsparteien dadurch nicht gehindert werden, der politischen Tätigkeit von Ausländern (weitergehende) Beschränkungen aufzuerlegen 2 . Aufgrund des Vorbehaltes der Bundesrepublik 3 gilt diese Einschränkung auch bei den Art. 21, 22 IPBPR.

3

Art. 22 Abs. 3 IPBPR hebt außerdem hervor, daß dieser Artikel die Vertragsstaaten des Übereinkommens (Nr. 87) der Internationalen Arbeitsorganisation über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes von 1948 4 nicht zu Maßnahmen ermächtigt, die die Garantien dieses Übereinkommens beeinträchtigen. Der Absatz ist an sich überflüssig, da sich bereits aus Art. 5 Abs. 2 IPBPR ergibt, daß weitergehende Gewährleistungen unberührt bleiben 5 ; für die M R K folgt dies aus Art. 53 M R K . Für die Auslegung der Tragweite der gewährleisteten Koalitionsfreiheit kann jedoch die ausdrückliche Verknüpfung mit dem ILO Abkommen Bedeutung haben 6 .

4

Andere Konventionen enthalten vergleichbare Verpflichtungen. So verpflichtet Art. 8 des IPWSKR 7 die Staaten, das Recht des einzelnen zur Gründung und zum Beitritt zu Gewerkschaften und die freie Betätigung der Gewerkschaften zu gewährleisten. Dies erkennt auch die Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961 8 als von allen Staaten zu verfolgendes Ziel nach Teil I Nr. 5 und als eine nach Maßgabe des Teils III zu übernehmende Verpflichtung in Teil II Art. 5 an. Art. 5 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung von jeder Form der Rassendiskriminierung9 verpflichtet die Staaten zur Unterlassung jeder Diskriminierung; als Anwendungsfälle des Verbots werden u.a. das Recht, sich friedlich zu versammeln und friedliche Vereinigungen zu bilden und das Recht, Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten (Art. 5 Buchst, d, ix, Buchst, e, ii) besonders aufgeführt. Für das Europäische Gemeinschaftsrecht hat der E u G H die in den Art. 10

Z u m Verständnis als klassisch liberales Freiheitsrecht etwa Mann/ Ripke E u G R Z 2004 125, 128 mit weit. N a c h w . auch zur G e g e n m e i n u n g . F ü r U n i o n s b ü r g e r gilt diese E i n s c h r ä n k u n g nicht,

BGBl. TT 1956 S. 2073.

vgl. Art. 16 Rdn. 3; FroweinlFenken Art. 16, 1.

BGBl. II 1973 S. 1570. BGBl. II 1964 S. 1262. BGBl. TT 1969 S. 962.

Vgl. A r t . 1 Nr. 1 des Gesetzes v o m (BGBl. TIS. 1533).

15.11.1973

Vgl. Nowak Art. 22, 34. Vgl. E K M R Cheall/GB ( N J W 1986 1412);

Nowak

35; 36; aber auch FroweinlFenken 14.

Stand: 1.10.2004

(528)

V e r s a m m l u n g s - u n d Vereinigungsfreiheit

Art. 21, 22IPBPR

und 11 M R K gewährleisteten Rechte zumindest konkludent als verbindlich anerkannt; sie sind bei der Auslegung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs mitzuberücksichtigen 10 . Die derzeit rechtlich noch nicht bindende Grundrechte-Charta der Europäischen Union 11 bestätigt für den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts 1 2 in Art. 12 Abs. 1 ebenfalls das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einschließlich des Rechts, Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten; Art. 12 Abs. 2 hebt die Bedeutung der politischen Parteien für die Willensbildung auf der Ebene der Union hervor. Art. 52 Abs. 3 dieser Charta legt fest, daß die in ihr garantierten Rechte, soweit sie Rechten der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechen, die gleiche Tragweite und Bedeutung wie diese haben. 2. Die Versammlungsfreiheit, die notwendig die Meinungsfreiheit mit einschließt 13 , 5 wird mit der Einschränkungsmöglichkeit für die politische Tätigkeit ausländischer Personen durch Art. 16 MRK 1 4 jedermann für friedliche Versammlungen garantiert; dies schließt auch den Zugang zu einer sich bildenden Versammlung und alle Maßnahmen zu deren Vorbereitung sowie deren Leitung mit ein 15 . Versammlung wird weit verstanden als jedes gewollte Zusammenkommen mehrerer Menschen zu dem Zweck einer gemeinsamen Erörterung von Fragen, zu einer kollektiven Meinungsbildung oder auch nur zur gemeinsamen Kundgabe von Meinungen, ganz gleich, ob dies in privaten Räumen oder in der Öffentlichkeit geschieht 16 . Nicht notwendig ist, daß alle dort die gleiche Meinung vertreten wollen; auch wer eine gegenteilige Ansicht als die Veranstalter vertritt, genießt den Schutz der Versammlungsfreiheit 17 . Diese erfaßt auch Umzüge und Demonstrationen sowie andere kollektive Formen, mit denen eine Mehrzahl von Menschen gemeinsam in der Öffentlichkeit eine bestimmte Überzeugung kundtun will 18 , wie etwa Lichterketten oder sonstige Maßnahmen, die allgemeine Aufmerksamkeit auslösen wollen 19 . Auch Spontanversammlungen unterfallen dem Schutz 20 . Ein Zusammenkommen von Menschen aus einem rein gesellschaftlichen Anlaß oder ein zufälliges Zusammentreffen mehrerer Personen ist an sich noch keine Versammlung 2 1 , daraus kann sich aber eine gewollte Versammlung im Sinne des Art. 11 M R K entwickeln. Friedlich bezieht sich auf die Art und Weise der Durchführung einer Versammlung 2 2 . Eine Versammlung ist nicht friedlich, wenn bestimmte Ziele gewaltsam durchgesetzt werden sollen 23 . Eine Sitzblockade, bei der sich die Teilnehmer rein passiv verhielten, wurde als friedlich ange-

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EuGH Schmidtberger/Ö (EuGRZ 2003 492); dazu MannIRipke EuGRZ 2004 125. Text EuGRZ 2000 554; vgl. Einf. Rdn. 47. Vgl. die Erläuterung zu Art. 52 Nr. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta EuGRZ 2000 569. EKMR EuGRZ 1980 36, vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 44: lex spezialis gegenüber Art. 10 M R K . Vgl. oben Rdn. 2. FroweinIPeukert 5, vgl. BVerfGE 69 315, 349; 84 203, 209. Etwa EGMR 21.6.1988 Plattform „Ärzte für das Leben"/Ö (EuGRZ 1989 522); FroweinIPeukert 2. Grabenwarter § 23 Rdn. 44 (Kollektivität der Äußerung); MannIRipke EuGRZ 2004 125, 127 (mindestens 2 Personen, strittig ob mindestens 3 Teilnehmer nötig); vgl. östr.VfGH EuGRZ 1989 528; 1990 550. Vgl. etwa BVerfGE 84 203, 209. Etwa E G M R 21.6.1988 Plattform „Ärzte für das Leben"/Ö (EuGRZ 1989 522); E K M R EuGRZ

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1980 36; 1981 217; FroweinIPeukert 2; Villiger HdB 611; Nowak 6; MannIRipke (EuGRZ 2004 125, 128) halten die Begrenzung des Schutzbereiches auf Meinungsbildung und Meinungskundgabe für nicht erforderlich. Auch sogen, „sit ins" auf öffentlicher Straße, vgl. MannIRipke EuGRZ 2004 125, 129 unter Hinweis auf EKMR. MannIRipke EuGRZ 2004 125, 129. Vgl. BVerfGE 104 92,104; Östr.VfGH EuGRZ 1989 528; FroweinIPeukert 2; Meyer-Ladewig 4 (Schutz durch Art. 8 MRK); Nowak 6; für die Einbeziehung gesellschaftlicher Zusammenkünfte MannIRipke EuGRZ 2004 125, 128; Villiger HdB 633. FroweinIPeukert 4; MannIRipke EuGRZ 2004 125, 129; Nowak 8. EGMR 2.10.2001 Stankow u. a./Maz (HRLJ 2001 404); FroweinIPeukert 4; Grabenwarter § 23 Rdn. 47; Meyer-Ladewig 5; MannIRipke EuGRZ 2004 125, 130.

Walter Gollwitzer

M R K A r t . 11

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

sehen 24 . D a ß die Teilnehmer unbewaffnet sein müssen (vgl. Art. 8 Abs. 1 GG), fordern die Konventionen nicht ausdrücklich, jedoch kann die erkennbare Bewaffnung und Gewaltbereitschaft einer größeren Zahl von Teilnehmern den Charakter einer friedlichen Versammlung aufheben 2 5 . Das Tragen von Schutzkleidern oder Helmen ist aber noch keine Bewaffnung 26 ; ob darin in Verbindung mit anderen Umständen ein Indiz für die Gewaltbereitschaft gesehen werden kann, hängt vom Einzelfall ab. D a ß einzelne Teilnehmer am Rande der Demonstration gewalttätig werden, läßt den Charakter einer friedlichen Demonstration für die anderen aber noch nicht entfallen 27 , desgleichen nicht die Gefahr einer Gegendemonstration 2 8 . Eine friedliche Demonstration liegt dagegen nicht vor, wenn die gewaltsame Durchsetzung bestimmter Ziele bereits von Anfang an erkennbar mit eingeplant ist 29 . Wer nur zum Zwecke der Störung und Verhinderung an einer Versammlung teilnehmen will, kann sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen, wenn staatliche Organe ihn daran hindern 3 0 . Anders als bei Art. 8 Abs. 1 G G fehlt in den Konventionen eine grundsätzliche Freistellung von der formellen Anmelde- oder Erlaubnispflicht, die Konventionen hindern also nicht daran, im innerstaatlichen Recht eine solche für bestimmte Arten von Versammlungen vorzusehen, sofern in der Sache das Recht, sich auf öffentlicher Straße friedlich zu versammeln, als solches nicht eingeschränkt wird und die Anmelde- oder Erlaubnispflicht nur bezweckt, die Überprüfung des friedlichen Charakters zu erleichtern oder rechtzeitige Vorkehrungen für den störungsfreien Verlauf zu treffen 31 . Dies kann auch deshalb angezeigt sein, weil dem Staat mitunter auch Schutzpflichten erwachsen, wenn andernfalls das Recht des einzelnen, sich mit Gleichgesinnten öffentlich zu versammeln und insbesondere zu demonstrieren, nicht verwirklicht werden könnte 3 2 . Der Konventionsschutz erstreckt sich auf alle, die in irgend einer Form an einer friedlichen Versammlung teilnehmen, sie vorbereiten oder leiten oder sonst zu deren Zustandekommen oder Durchführung beitragen. Dies gilt für Einzelpersonen ebenso wie für Personenvereinigungen und juristische Personen 33 . Auch Ausländer können sich darauf berufen, sofern keine nach Art. 16 M R K zulässigen Einschränkungen bestehen. Geschützt wird aber auch das Recht, einer Versammlung fernzubleiben und jede Mitwirkung an deren Zustandekommen abzulehnen 34 .

3. Vereinigungsfreiheit 6

a) Die allgemeine Vereinigungsfreiheit umfaßt, ebenso wie die besonders erwähnte Koalitionsfreiheit, das Recht auf Gründung einer Vereinigung, das Recht, in einer Vereinigung Mitglied zu werden und auch die Mitgliedschaft zu beenden und jede Tätigkeit für ihre Zwecke. Ob auch wirtschaftliche Vereinigungen unter diese Garantie fallen ist strittig, wird aber für beide Konventionen zu bejahen sein 35 . Es ist Sache des nationalen Rechts, die Rechtsformen zu regeln, mittels derer die gewährleisteten Rechte verwirklicht werden können 3 6 . Ein Anspruch der Vereinigungen, daß der Staat sie als Rechts24 25 26 27

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EKMR nach Grabenwarter § 23 Rdn. 47. MannIRipke EuGRZ 2004 125, 130; Nowak 9. Vgl. Nowak 9; MannIRipke EuGRZ 2004 125, 130. E G M R 26.4.1991 Ezelin/F (Series A 202); Froweinl Peukerl 4. EKMR EuGRZ 1981 216, EGMR 21.6.1988 Plattform „Ärzte für das Leben'VÖ (EuGRZ 1989 522). FroweinlPeukert 4; Nowak Art. 21, 9; Villiger HdB 634. Vgl. BVerfGE 84 203, 209. Vgl. E K M R EuGRZ 1980 36; 1981 216; Froweinl Peukert 3, Meyer-Ladewig 5; Villiger HdB 633.

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Villiger HdB 635; vgl. Rdn. 8. EKMR EuGRZ 1980 36; 1981 216; FroweinlPeukert 5; Grabenwarter § 23; Rdn. 48; MannIRipke EuGRZ 2004 125, 131; vgl. Nowak Art. 2 Rdn. 25 (nicht geklärt, ob 1PBPR juristische Personen und Personenzusammenschlüsse erfaßt). Negative Versammlungsfreiheit vgl. BVerfGE 69 315,343. Bejahend Maraubn RabelsZ 1999 537, 551 mit Angaben zum Streitstand bei der MRK; Nowak 6. FroweinlPeukert 6; Maraubn RabelsZ 1999 537, 554.

Stand: 1.10.2004

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V e r s a m m l u n g s - u n d Vereinigungsfreiheit

Art. 21, 22IPBPR

persönlichkeiten anerkennt oder daß er ihnen eine bestimmte Organisationsform zur Verfügung stellen muß, begründen die Konventionen nicht, sofern sich die geschützten Freiheitsrechte auch im Rahmen der nach dem nationalen Recht möglichen Formen entfalten können 3 7 . Die Vereinigungsfreiheit wird allen Vereinigungen gewährleistet, ganz gleich, ob sie ideelle oder wirtschaftliche Zwecke verfolgen 38 . Die Freiheit, politische Parteien zu bilden, wird ebenfalls von dieser Konventionsgarantie umfaßt 3 9 . Wegen ihrer Bedeutung für die Willensbildung in der Demokratie sind hier staatlichen Verboten sehr enge Grenzen gesetzt 40 . Die negative Vereinsfreiheit, das Recht des einzelnen, Vereinigungen fernzubleiben, 6a wird ebenso wie in Art. 9 Abs. 1 G G von den Konventionen gewährleistet, auch wenn es im Gegensatz zu Art. 20 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht ausdrücklich erwähnt wird 41 . D a ß der Staat zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben öffentlich-rechtliche Zusammenschlüsse mit Zwangsmitgliedschaft gründet, wird dadurch nicht ausgeschlossen 42 , wohl aber das Verbot, neben dem öffentlich-rechtlichen Verband einen freiwilligen privaten Verein zu gründen 4 3 . Die Zwangsmitgliedschaft in einem Jagdverband ist aber konventionswidrig, wenn sie den betroffenen Grundstückseigentümer unverhältnismäßig belastet 44 . b) Die Koalitionsfreiheit, also die Freiheit, Gewerkschaften zur Vertretung gemein- 7 samer Interessen zu gründen und ihnen beizutreten, wird als besonders wichtiges Recht der Vereinigungsfreiheit in den Konventionen besonders hervorgehoben 45 . Diese garantieren sowohl den Gewerkschaften wie auch dem einzelnen Mitglied einen Freiheitsraum zur Selbstorganisation einschließlich der Regelung der Mitgliedschaft 4 6 sowie für die gewerkschaftliche Betätigung, vor allem für die Vertretung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder 47 . Mit diesem Recht aus Art. 11 M R K ist es unvereinbar, wenn das staatliche Recht den Arbeitgebern gestattet, den Arbeitnehmern wesentliche Lohnerhöhungen anzubieten, die mit der Beendigung kollektivvertraglicher Vereinbarungen einverstanden waren, während die Arbeitnehmer, die nicht bereit waren, auf ihre Vertretung durch die Gewerkschaft zu verzichten, diese Lohnerhöhungen nicht erhielten 48 . Wieweit das in Art. 11 M R K nicht erwähnte Streikrecht durch Art. 11 M R K , Art. 22 IPBPR mit garantiert wird, ist weitgehend offen 49 ; generell ausgeschlossen werden darf es nicht, wenn sich die Staaten in Art. 6 Abs. 4 der Europäischen Sozialcharta zu seiner Anerkennung

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Villiger HdB 637 unter Hinweis auf EKMR. Zur wirtschaftlichen Vereinigungsfreiheit Marauhn RabelsZ 1999 537. Anders als beim GG. wo neben Art. 9 GG die Sonderregelung des Art. 21 GG steht. Etwa E G M R 30.1.1998 Vereinigte kommunistische Partei der Türkei/Türk (Rep. 1998 1); 25.5.1998 Sozialistische Partei/Türk (Rep. 1998-TII); 8.12. 1999 Partei der Freiheit und Demokratie/Türk (ECHR 1999-VIII); 13.2.2003 Refah Partisi u.a./ Türk u.a./Türk (EuGRZ 2003 207); (Irabenwarler § 23 Rdn. 61. 68 mit weit. Nachw.; (Irabenwarler W D S t L 60 (2000) 290, 310; Meyer-Ladewig 8, 22; ferner Pabel AöRV 63 (2003) 921, 924. Vgl. Rdn. 9b. Etwa EGMR 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); 10.2.1983 Albert, Le Compte/ Belg (EuGRZ 1983 190); 30.6.1993 Sigurdur Sigurjönsson/lsl (ÖJZ 1994 207); FroweinlPeuken 8; Meyer-Ladewig 22; vgl. Nowak Art. 22 Rdn. 9.

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Vgl. vorst. Fußn. ferner etwa Grabemvarter § 23 Rdn. 60. EGMR 23.6.1981 Le Compte u.a./Belg (EuGRZ 1981 551); l'rowemlPeukert 6; Meyer-Ladewig 12; Villiger HdB 638. E G M R 29.4.1999 Chassagnou/E (NJW 1999 117). Vgl. Marauhn RabelsZ 1999 537, 541. EKMR Cheal/GB (NJW 1986 1413: Recht, Gewerkschaften zu bilden, schließt Recht auf eigene Satzung mit ein, die der einzelne bei Beitritt hinnehmen muß). Vgl. etwa E G M R 27.10.1975 Belg. Polizeigewerkschaft (EuGRZ 1975 562); ferner 6.2.1976 Schwed. Lokomotivführer/Schwed (EuGRZ 1976 62); 6.2. 1976 Schmidt/Dahlström/Schwed (EuGRZ 1976 68); Grabenwarter § 23 Rdn. 62; Villiger HdB 254. E G M R 2.7.2002 Wilson & The National Union of Journalists u. a./GB (ÖJZ 2003 729). Vgl. FroweinlPeuken 13; Marauhn RabelsZ 1999 537, 547 (aber kein vollständiger Ausschluß).

Walter Gollwitzer

M R K A r t . 11

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

verpflichtet haben 5 0 . Seine Ausübung kann aber den nach Art. 11 Abs. 2 M R K , Art. 22 Abs. 2 IPBPR zulässigen Einschränkungen unterworfen werden 51 ; so etwa sein Ausschluß bei Beamten 5 2 oder Einschränkungen zum Schutze der Rechte anderer 53 . Es ist im Kern wohl nur insoweit garantiert, als es den Gewerkschaften zur Wahrnehmung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder nur versagt werden könnte, wenn der Staat ihnen dafür andere angemessene und gleich effektive Mittel zur Wahrung dieser Interessen zur Verfügung stellt 54 . Ein Streikrecht der Gewerkschaften zu anderen, insbesondere zu politischen Zwecken gewährleistet Art. 11 M R K nicht. Er schließt staatliche Zwangsgewerkschaften und ein Monopol der bestehenden Gewerkschaften aus 55; er sichert andererseits das Recht, jederzeit neue Gewerkschaften zu gründen. Die Pflicht, mit einer Gewerkschaft Tarifverträge abzuschließen oder beizubehalten, kann aus Art. 11 M R K nicht hergeleitet werden 56 ; ebensowenig die Verpflichtung, einer Arbeitgebervereinigung beizutreten oder ein eigenes Abkommen mit einer Gewerkschaft zu schließen 57 . Zumindest, wenn zureichende Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, gilt dies auch, wenn eine staatliche Stelle als Arbeitgeber mit anderen Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen hat 5 8 . Ein Recht einer Gewerkschaft, bei Maßnahmen des Staates konsultiert zu werden, läßt sich daraus nicht ableiten 59. 7a

Die negative Koalitionsfreiheit wird zumindest in dem für seinen Freiheitsraum unerläßlichen Kernbereich von der Garantie mit umfaßt 6 0 . Der Staat kann verpflichtet sein, in Ausübung seiner Regelungsbefugnisse nach Art. 11 Abs. 2 M R K den einzelnen gegen Mißbräuche zu schützen, die sich aus der beherrschenden Stellung einer Gewerkschaft ergeben können 6 1 . Der E G M R hat aber im Falle des Boykotts eines Betriebes den Staat für nicht verpflichtet gehalten, sich in diese Auseinandersetzung durch ein Verbot des nach dem nationalen Recht zulässigen Boykotts einzumischen 62 . Zu den Schutzpflichten des Staates vgl. im übrigen Rdn. 11.

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l''roweinlPeukert 12; Grabenwarter § 23 Rdn 62; Meyer-Ladewig 16. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 11 1992 S. 1247) gewahrleistet es in Art. 8 Abs. 1 Buchst, d nur in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung, die ihrerseits allerdings die Übereinkommen im Rahmen der internationalen Arbeitsorganisation beachten muß; vgl. Froweinl Peukert 14. Etwa E G M R 6.2.1976 Schmidt & Dahlström/ Schwed (EuGRZ 1976 68); Frowin/Peukert 13; Grabenwarter § 23 Rdn. 62; Villiger HdB 639. Vgl. EGMR 10.1.2002 Unison/GB (ÖJZ 2003 276). EGMR 6.2.1976 Schmidt & Dahlström/Schwed (EuGRZ 1976 68); EGMR 10.1. 2002 Unison/GB (ÖJZ 2003 276) läßt dies weitgehend offen; vgl. Frowein/Peukert 13; Grabenwarter §23 Rdn. 62; Villiger HdB 639. EKMR EuGRZ 1980 450; EGMR 13.8.1981 Young u.a./GB (EuGRZ 1982 2717); zu den strittigen Einzelheiten vgl. Frowein!Peukert 10; Nowak Art. 22, 13; Villiger HdB 641. EGMR 10.1.2002 Unison/GB (ÖJZ 2003 276); 2.7. 2002 Wilson & The National Union of Journalists ua/GB (ÖJZ 2003 729); vgl. auch nachf. Fußn. EGMR 25.4.1996 Gustavson/Schwed (ÖJZ 1996 869).

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EGMR 6.2.1976 Schwed. Lokomotivführer/ Schwed (EuGRZ 1976 62); dazu Fahlbeck EuGRZ 1976 471. » E G M R 27.10.1975 Belg. Polizeigewerkschaft/Belg (EuGRZ 1975 562), unter Hinweis, daß sich ein solches Recht auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Sozialcharta ergibt. «· EGMR 13.8.1981 Young u.a./GB (NJW 1982 2717, closed shop Vertrag); vgl. dazu auch vorst. Fußn., ferner EGMR 30.6.1993 Sigurdur Sigurjönsson/Tsl (ÖJZ 1994 207 Bindung der Taxi-Konzession an Mitgliedschaft in privatrechtl. Berufsvereinigung); vgl. zur Bedeutung der negativen Koalitionsfreiheit Marauhn RabelsZ 1999 537, 542. 61

EGMR 13.8.1981 Young u.a./GB (NJW 1982 2717); 20.4.1993 Sibson/GB (ÖJZ 1994 35); 25.4.1996 Gustafsson/Schwed (ÖJZ 1996 869); E K M R Cheal/GB (NJW 1986 1413), dazu gehört aber nicht notwendig, dafür zu sorgen, daß sich rückwirkende Lohnerhöhungen auch auf die nicht am Arbeitskampf beteiligten Personen erstrecken, vgl. EGMR 6.2.1976 Schmidt & Dahlström/ Schwed (EuGRZ 1976 68), dazu Fahlbeck EuGRZ 1976 471; Grabenwarter § 23 Rdn. 62, vgl. zur Rechtsprechung auch Marauhn RabelsZ 1999 537, 543.

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Vgl. EGMR 25.4.1996 Gustafsson/Schwed (ÖJZ 1996 869).

Stand: 1.10.2004

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V e r s a m m l u n g s - u n d Vereinigungsfreiheit

Art. 21, 22IPBPR

4. Staatliche Eingriffe a) Die Eingriffszwecke, die dem Staat eine Einschränkung dieser Gewährleistungen 8 gestatten, werden in Art. 11 Abs. 2 M R K , Art. 21 Satz 2, Art. 22 Abs. 2 IPBPR aufgezählt. Die Einschränkungsgründe, die dem Muster der Art. 8 Abs. 2, 10 Abs. 2 M R K folgen, stimmen trotz einiger Unterschiede im wesentlichen mit diesen überein. Einschränkungen rechtfertigen den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, wozu nicht nur private Rechte sondern auch das Recht auf eine friedliche Demonstration sowie die negative Vereins- und Koalitionsfreiheit gehören 63 . Einschränkungen sind aber auch zur Sicherung bestimmter öffentlicher Aufgaben zulässig, so im Interesse der nationalen oder öffentlichen Sicherheit oder zum Schutz der öffentlichen Ordnung 6 4 , die auch die in Art. 11 Abs. 2 M R K besonders erwähnte Verhütung von Straftaten mit umfaßt, ferner zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und Moral 6 5 . Dies kann direkt durch gesetzliche Regelungen, wie etwa durch ein absolutes Versammlungsverbot innerhalb der Bannmeile eines Parlaments 6 6 geschehen oder auch im Vollzug eines Gesetzes durch Einzelanordnungen, wie etwa Versammlungs- oder Demonstrationsverbote zur Verhütung einer anderweitig nicht vermeidbaren ernsthaften Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung 6 7 . Erforderlich ist, daß die getroffenen Maßnahmen eine ausreichende Rechtsgrundlage haben, durch triftige Sachgründe gerechtfertigt sind, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren und insgesamt Ausnahmecharakter haben 6 8 . Die abschließende Aufzählung der Zwecke einer zulässigen Einschränkung soll verhindern, daß offen oder verdeckt zu einem anderen Zweck in die Versammlungs- oder Vereinsfreiheit eingegriffen wird (vgl. Art. 18 M R K ) . Die legitimen Eingriffszwecke sind aber so weit gefaßt, daß sie dem Staat einen großen Handlungsspielraum für erforderliche Maßnahmen eröffnen 6 9 , so daß sich die Grenzen meist erst aus den allgemeinen Schranken, vor allem aus der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft (Rdn. 9a) und der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergeben. b) Alle Eingriffe müssen im Interesse ihrer Vorhersehbarkeit und zum Ausschluß von 9 Willkür gesetzlich vorgesehen sein; sie müssen eine Grundlage im innerstaatlichen Recht haben. Diese muß den Betroffenen zugänglich und so hinreichend bestimmt sein, daß er sich gegen Willkürmaßnahmen wehren kann. Letzteres wird nicht schon dadurch in Frage gestellt, daß das Gesetz einen gewissen Ermessensspielraum einräumt, sofern dessen Ausmaß und Modalitäten mit hinreichender Genauigkeit für den Betroffenen feststellbar ist, um ihn vor Willkür zu schützen 70 . Alle Eingriffe müssen ferner ein legitimes Ziel verfolgen, wie sie in Absatz 2 aufgezählt sind, so etwa die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, die Verteidigung der Rechtsordnung oder die Verbrechensverhütung oder den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer 71 . c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Eingriffe in die Vereinsfreiheit 9a sind auch bei Erfüllung aller anderen Voraussetzungen nur zulässig, wenn sie in einer 63

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Vgl. E G M R 21.6.1988 Plattform „Ärzte für das Leben"/Ö (EuGRZ 1989 522); östr.VfGH (EuGRZ 1990 550); ferner Rdn. 7a. Vgl. FroweinIPeukerl 16 ff; Villiger HdB 636. Art. 11 MRK spricht zwar nur allgemein von Gesundheit und Moral, gemeint ist jedoch auch hier der öffentliche Bezug dieser Schutzgüter, wie etwa die Störung der Friedhofsruhe (vgl. östr.VerfGH EuGRZ 2001 330); der private Bezug fallt unter die Rechte anderer. Östr.VfGH EuGRZ 1996.

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E K M R EuGRZ 1981 216 (Verbot für Demonstrationsmärsche für zwei Monate); Villiger HdB 638. 68 Vgl. Rdn. 9. ® Vgl. etwa E K M R EuGRZ 1980, 36; 1981 216 (Demonstrationsverbote); FroweinIPeukerl 16. 70 Dies kann auch eine Verfassungsbestimmung sein; vgl. auch EGMR 13.2.2003 Refah Partisi, Erbakan u. a./Türk (EuGRZ 2003 206 mit weit. Nachw.). 71 EGMR 13.2.2003 Refah Partisi, Erbakan u. a./Türk (EuGRZ 2003 206; Bedeutung des Laizismus).

Walter Gollwitzer

M R K A r t . 11

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

demokratischen Gesellschaft zur Erreichung des jeweiligen Schutzzweckes notwendig sind 72 . Sie dürfen also nicht den durch Meinungspluralismus, Toleranz, Aufgeschlossenheit und Volkssouveränität geprägten Grundwerten eines demokratischen Staatswesens widersprechen 73 . Diese sind das grundlegende Element der europäischen öffentlichen Ordnung, das als einziges politisches Modell mit der M R K vereinbar ist 74 . Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundwerte einer demokratischen Staatsordnung fällt zusätzlich als Eingriffsschranke ins Gewicht. Beim Verbot einer politischen Partei hat die Bindung an die Grundwerte einer demokratischen Staatsordnung als Eingriffsschranke besonderes Gewicht, da die Demokratie strukturell die Konkurrenz der Meinungen und der sie vertretenden politischen Parteien erfordert. Es bedarf daher eines gewichtigen Rechtfertigungsgrundes, wenn der Staat eine politische Partei verbietet. Dies setzt voraus, daß sie nach ihrem Programm - oder aber auch nur nach den Äußerungen ihrer Funktionäre 7 5 - grundlegende staatliche und gesellschaftliche Veränderungen anstrebt, die unvereinbar mit dem Demokratieverständnis der M R K sind. Diese wird grundsätzlich von der Koexistenz und Konkurrenz pluralistischer Auffassungen, von der Meinungs- und Religionsfreiheit und einer dies ermöglichenden staatlichen Neutralität geprägt, die die Ausübung dieser für ein demokratisches Staatswesen unerläßlichen Freiheiten ermöglicht und schützt. Bestrebungen zur Abschaffung eines demokratisch strukturierten Staatswesens können deshalb nicht durch eine formale Berufung auf die Rechte aus Art. 10 und 11 M R K 7 6 gerechtfertigt werden, dem steht auch das Mißbrauchsverbot des Art. 17 M R K entgegen 77 . Eine Partei, die zu Gewalt anstachelt oder grundlegende demokratische Prinzipien mißachtet oder auf deren Zerstörung oder auf die Mißachtung der von diesen gewährleisteten Rechte und Freiheiten abzielt, wird durch Art. 11 nicht vor einem Verbot geschützt 78 . Das System der Konventionen erfordert einen Ausgleich zwischen den Notwendigkeiten der Verteidigung einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft und der Wahrung individueller Rechte auch in Bezug auf staatliche Reformen 79 . Damit ist vereinbar, daß von einer Partei Änderungen der staatlichen Ordnung angestrebt werden, sofern dies mit demokratischen Mitteln erreicht werden soll. Auch bestehende staatlichen Strukturen dürfen dabei in Frage gestellt werden, nicht aber die demokratische Grundstruktur des Staates 80 . Die Ausnahmen, die ein Parteiverbot rechtfertigen 81 , sind wegen der Bedeutung, die den

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Zur Aufnahme des in der MRK, nicht aber sonst beim TPBPR üblichen Regulativs der Demokratieüblichkeit in Art. 21 Satz 2, Art. 22 Abs. 2 TPBPR vgl. Nowak Art. 21, 19. Vgl. E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 13. 8.1981 Young u.a./GB (EuGRZ 1981 559); Nowak Art. 21, vgl. Rdn. 8. EGMR 30.1.1998 Vereinigte kommunistische Partei u. a./Türk (Rep. 1998-1); 13.2.2003 Refah Partisi, Erbakanu. a./Türk (EuGRZ 2003 206). E G M R 13.2.2003 Refah Partisi, Erbakan u.a./ Türk (EuGRZ 2003 206); Pabel ZaöRV 63 (2001) 921. Beide gehören zusammen, da die Vereinigungsfreiheit des Art. 11 MRK die Ausübung der Meinungsfreiheit des Art. 10 einer in organisierter Form zusammengefaßten größeren Zahl von Personen gewährleistet; die Mehrheit solcher Zusammenschlüsse fördert auch den für die demokratische Willensbildung unverzichtbaren Pluralismus der Meinungen. Die EKMR hat damit am 20.7.1957 die Beschwer-

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811 81

de der KPD als unzulässig abgelehnt, vgl. Golsong NJW 1957 1349; kritisch dazu I-rowein/Peukert Art. 17 Rdn. 3; Klein ZRP 2001 397, 399; Pabel ZaöRV 63 (2001) 921, 929; Grabenwarler § 23 Rdn. 68. Meyer-Ludewig 22. E G M R 13.2.2003 Refah Partisi, Erbakan u.a./ Türk (EuGRZ 2003 206) unter Hinweis auf EGMR 9.4.2002 Yazar u. a./Türk (unveröffentlicht); dazu Pabel ZaöRV 63 (2003) 921, 926 (Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat, Einführung der Scharia, Diskriminierung durch unterschiedliche Rechtssysteme). EGMR 13.2.2003 Refah Partisi, Erbakan u.a./ Türk (EuGRZ 2003 206); vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 68; Grabenwarter VVDStL 60 (1990) 290, 310 mit weit. Nachw. Grabenwarler § 23 Rdn. 68. E G M R 13. 2. 2003 Refah Partisi, Erbakan u.a./ Türk (EuGRZ 2003 206) rechtfertigt dies mit der Schutzpflicht zur Sicherung der demokratischen Gesellschaft aus Art. 1 M R K .

Stand: 1.10.2004

(534)

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Art. 21, 22IPBPR

Parteien für den freien demokratischen Meinungsbildungsprozeß nach Art. 10 M R K zukommt, eng auszulegen. Der E G M R räumt den Staaten hier nur einen engen Beurteilungsspielraum ein, die Entscheidungen ihrer Organe prüft er in jeder Hinsicht (Rechtsgrundlage, Eingriffsgrund, Sachverhaltsbeurteilung usw.) voll nach 8 2 . Bei allen anderen Vereinigungen ist bei Eingriffen des Staates in die Vereinsfreiheit zu berücksichtigen, daß Vereinigungen aller Art, gleich ob mit politischen, weltanschaulichen, religiösen, wirtschaftlichen oder kulturellen Zielsetzungen in einer demokratischen Gesellschaft vernünftigerweise notwendig sind, weil sie die kollektive Verwirklichung der Religions- und Meinungsfreiheit bedeuten und damit einem wichtigen gesellschaftlichen Bedürfnis Rechnung tragen. Den staatlichen Behörden wird deshalb für die Notwendigkeit von korrigierenden Eingriffen und für ein präventives Einschreiten gegen Parteien ein nicht sehr weiter Beurteilungsspielraum zuerkannt. Die getroffenen Einschränkungen müssen stets sachlich gerechtfertigt sein und nach Art und Intensität der Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren 8 3 und insgesamt Ausnahmecharakter haben 84 .

9c

5. Besondere Einschränkungen bei Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei und der 10 Staatsverwaltung. Nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 M R K können diese besonderen gesetzlichen Einschränkungen 8 5 hinsichtlich der Ausübung der Vereinigungsfreiheit unterworfen werden (Art. 22 Abs. 2 Satz 2 IPBPR); Art. 11 Abs. 2 Satz 2 M R K läßt dies auch hinsichtlich der Versammlungsfreiheit zu. Bei Art. 21 IPBPR fehlt diese Klausel, die Zulässigkeit besonderer Beschränkungen kann hier jedoch aus den Zwecken des Art. 22 Abs. 2 IPBPR gerechtfertigt werden 86 . Die Ausnahmeregelung für die Staatsverwaltung dürfte aber wohl nur solche Personen umfassen, die, ähnlich wie die Streitkräfte und die Polizei, für den Staat hoheitliche Aufgaben wahrnehmen 8 7 . Die Einschränkungen müssen „rechtmäßig" sein. Sie müssen eine ausreichende Grundlage im nationalen Recht, in der Regel also in einem Gesetz, haben 8 8 und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren 8 9 . Sie müssen also durch schwerwiegende Interessen des Gemeinwohls gerechtfertigt sein. Ob außerdem auch ein die Einschränkungen rechtfertigender Grund im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 M R K vorliegen muß, ist strittig 90 , wird aber zu bejahen sein 91 . Bei der Weite der eine Einschränkung rechtfertigenden Gesichtspunkte dürfte dies in der Regel kaum Probleme bereiten. 6. Auch positive Schutzpflichten des Staates können sich aus den Konventionsgaran- 11 tien ergeben. Diese sind zwar in erster Linie Abwehrrechte, die den Eingriffen des Staa82

83 84

85

Vgl. Grabenwarler § 23 R d n . 68; Meyer-Ladewig 22; ferner zu den Entscheidungen der E K M R Frowein! Peukert 16 und zu dem Unterschied der Prüfungsvoraussetzungen beim BVerfG und E G M R vgl. Klein Z R P 2001 397, 398.

86

Vgl. Grabenwarler § 23 R d n . 67. Vgl. E K M R Ö J Z 1993 320 (Auflösung eines verkehrsbehindernden „sit in"); E G M R 13.2.2003 Refah Partisi, E r b a k a n u.a./Türk ( E u G R Z 2003 206); Froweinl Peukert 16; Villiger H d B 638 je unter Hinweis auf von der E K M R entschiedene Eälle.

88

Z u r Tragweite, die bis zum Verbot reichen kann, aber Art. 18 M R K beachten m u ß , FroweinlPeukert 18; Grabenwarter § 23 R d n . 69; Villiger H d B 642; vgl. ferner den Vorbehalt zugunsten des innerstaatlichen Rechts bei Polizei und Streitkräften in Teil Π Art. 5 der Europäischen Sozialcharta.

(535)

87

89

'» 91

Nowak Alt. 21, 15. Vgl. Marauhn RabelsZ 1999 637, 548; E G M R 26.9.1995 Vogt/D ( N J W 1996 375) ließ offen, ob Lehrer unter diese Einschränkungsmöglichkeit fallen. Vgl. Marauhn RabelsZ 1999 537, 549. FrohweinIPeukeri 18; Grabenwarler § 23 R d n . 69 unter Hinweis auf von der E K M R entschiedenen Eälle; ebenso Meyer-Ladewig 24; ferner E G M R 26.9.1995 Vogt/D ( N J W 1996 375: Entlassung einer Lehrerin wegen Zugehörigkeit zu der nicht verbotenen D K P verstieß gegen Art. 11 M R K ) . E G M R 20. 5.1999 Rekvenyi/Ung (NVwZ 2000 421) läßt dies offen. Meyer-Ladewig 24.

Walter Gollwitzer

M R K A r t . 11

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

tes in den gewährleisteten Freiheitsraum Grenzen setzen. Wird jedoch die garantierte Freiheit des einzelnen in einem wesentlichen Umfang aus Gründen illusorisch, die von ihm nicht beeinflußbar sind, weil sie in vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wurzeln, kann der Staat auf Grund seiner Gewährleistungspflicht nach Art. 1 M R K , Art. 2 IPBPR je nach den Umständen auch verpflichtet sein, durch angemessene und vernünftige Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die gewährleisteten Rechte auch ausgeübt werden können. So muß der Staat etwa die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausübung der garantierten Rechte schaffen, wobei er in deren Ausgestaltung aber völlig frei ist und auch nicht verpflichtet ist, den jeweiligen Gruppen Mittel für die Durchsetzung ihrer Interessen zur Verfügung zu stellen 92 . Ist der Schutzzweck durch verschiedene Mittel erreichbar, ist es dem Staat überlassen, welche er wählen will 93 . Er hat insoweit einen weiten Beurteilungsspielraum94. Dies kann beispielsweise im Einzelfall das Ergreifen angemessener Maßnahmen zum Schutz einer Versammlung 95 oder genehmigten Demonstration vor Störungen durch Gegendemonstrationen 9 6 erfordern und bis zum Verbot einer Partei reichen 97 . Auch im übrigen kann der Staat generell verpflichtet sein, durch entsprechende Ausgestaltung seiner Gesetze den einzelnen vor dem Druck übermächtiger Vereinigungen zu schützen, so, wenn ihm außergewöhnliche Härten oder schwerwiegende berufliche Nachteile wegen des Nichtbeitritts zu einer bestimmten Gewerkschaft oder Vereinigung erwachsen könnten 9 8 . Umgekehrt darf der Staat das Recht der Gewerkschaften, für die Interessen ihrer Mitglieder zu kämpfen, nicht im Wege der Gesetzgebung dadurch unterlaufen, daß er den Arbeitgebern ermöglicht, nicht organisierte Arbeitnehmer bevorzugt einzustellen 99 . Dem Staat wird ein weiter Beurteilungsspielraum zugebilligt, ob und auf welchem Weg er eingreifen will. Eine Verpflichtung, unter allen Umständen die Ausübung der garantierten Rechte gegenüber allen von Dritten kommenden Störungen durchzusetzen, trifft ihn nicht 100 . Er ist auch nicht verpflichtet, privaten Vereinigungen die Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen zur Verfügung zu stellen 101 . Eine Erörterung weiterer Einzelheiten ist hier nicht möglich.

92 93

94

55

56

Grabenwarter § 23 Rdn. 70. Vgl. E G M R 27.10. 1975 belg. Polizeigewerkschaft/ Belg ( E u G R Z 1975 562). E G M R 21.6.1988 Plattform „Ärzte für Leben" ( E u G R Z 1989 522); 25.4.1996 Gustafsson/Schwed (Rep 1996 TT); Grabenwarter § 23 R d n . 70; MeyerLadewig 3. Vgl. östr.VfGH E u G R Z 1990 550 (Beseitigung störender Transparente). E G M R 21.6.1988 Plattform „Ärzte für Leben" ( E u G R Z 1989 522). Vgl. BVerfG E u G R Z 1991 361 (kein Grundrechtsschutz, wenn ausschließlich VerStand:

hinderung einer anderen Versammlung beabsichtigt). 97 E G M R 13.2.2003 Refah Partisi, E r b a k a n u . a . / T ü r k ( E u G R Z 2003 206). 98 E G M R 13.8.1981 Young u . a . / G B ( E u G R Z 1980 450 closed shop); E K M R N J W 1986 1413; Vrowein! Peukert 10, 15; Nowak An. 21, 13. 99 E G M R 2.7.2002 Wilson/GB; vgl. Grabenwarter § 23 Rdn. 70. '»» E G M R 25.4.1996 Gustafsson/Schwed (Rep. 1996II). 11,1

E K M R nach Grabenwarter § 23 R d n . 70.

1.10.2004

(536)

Recht auf Eheschließung

Art. 23 IPBPR

Art. 12 MRK (Art. 23 IPBPR) MRK Artikel 12 Recht auf Eheschließung* Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechtes regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.

IPBPR Artikel 23 (1) Die Familie ist die natürliche Kernzelle der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat. (2) Das Recht von Mann und Frau, im heiratsfähigen Alter eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, wird anerkannt. (3) Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden. (4) Die Vertragsstaaten werden durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, daß die Ehegatten gleiche Rechte und Pflichten bei der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben. Für den nötigen Schutz der Kinder im Falle einer Auflösung der Ehe ist Sorge zu tragen.

N e u e d e u t s c h s p r a c h i g e U b e r s e t z u n g in der F a s s u n g der Bek. v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S. 1054).

Schrifttum (Auswahl): Fahrenhorst Familienrecht und Europäische Menschenrechtskonvention (1994); Palm-Risse Völkerrechtlicher Schutz von Ehe u n d Familie (1990). Vgl. auch bei Art. 8 MRK. Übersicht Rdn.

Rdn.

1. A l l g e m e i n e s

b) Freiwilligkeit d e r E h e s c h l i e ß u n g

a) G r u n d l a g e n

1

b) I n n e r s t a a t l i c h e G a r a n t i e n

3

bei E h e a u f l ö s u n g d) I n s t i t u t s g a r a n t i e d e r F a m i l i e

2. Ü b e r b l i c k ü b e r d e n S c h u t z b e r e i c h a) R e c h t a u f E h e u n d F a m i l i e

6

c) G l e i c h b e r e c h t i g u n g . S c h u t z d e r K i n d e r

4

Einschränkungen

7 9 10

1. Allgemeines a) Grundlagen. Nach Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 1 10.12.1948 haben Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter das Recht auf Eheschließung und Familiengründung ohne Beschränkungen aufgrund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion. Sie haben gleiche Rechte bei der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe. Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden. Art. 12 MRK und Art. 23 IPBPR entsprechen grundsätzlich diesem Vorbild, wobei Art. 23 IPBPR weitergeht als Art. 12 M R K . Dieser ist erst später durch Art. 5 des 7. Zusatzprotokolls vom 22.11. 1984 ergänzt worden, der festschreibt, daß die Ehegatten während der Ehe und bei Auflösung der Ehe untereinander und auch in ihren Beziehungen zu ihren Kindern die gleichen privatrechtlichen Rechte und Pflichten haben 1 , während Art. 23 Abs. 4 IPBPR die Staaten nur verpflichtet, für den Schutz der Kinder bei Auflösung der Ehe zu sorgen. Art. 3 IPBPR verpflichtet darüber hinaus die Vertragsstaaten allgemein, die Gleichberechtigung von M a n n und Frau bei der Ausübung aller in diesem Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen 2 . 1

D i e B u n d e s r e p u b l i k ist d i e s e m P r o t o k o l l n i c h t bei-

2

Vgl. A r t . 14 M R K R d n . 10.

g e t r e t e n ; vgl. Einf. R d n . 22. (537)

Walter Gollwitzer

M R K Art. 12

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

2

Auch andere Konventionen schützen die Gleichberechtigung beim Recht auf Ehe und die freie Wahl des Ehegatten, so Art. 5 Buchst, d, iv des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 3 oder der zusätzlich auch detailliert die Gleichberechtigung in der Ehe fordernde Art. 16 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 4 . Die Freiheit der Eheschließung wurde auch schon in Art. 1 Buchst, c, Art. 2 des Zusatzübereinkommens über die Abschaffung der Sklaverei vom 7.9.1956 5 aufgeführt. Der Schutz der Kinder bei Eheauflösung wird auch im Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 6 angesprochen. Die Europäische Grundrechte-Charta7 bestätigt in Art. 9 nur allgemein das Recht, eine Ehe einzugehen 8 und eine Familie zu gründen „nach Maßgabe der die Ausübung dieser Rechte regelnden einzelstaatlichen Gesetze". Weitere Artikel befassen sich mit der Gleichberechtigung (Art. 23), dem Recht der Kinder auf Beziehungen zu beiden Elternteilen (Art. 24 Abs. 3) sowie dem rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie (Art. 33).

3

b) Innerstaatlich stellt Art. 6 G G Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates; er gewährleistet auch die Freiheit der Eheschließung 9 . Die Gleichberechtigung von Mann und Frau folgt aus Art. 3 Abs. 2 G G ; hinsichtlich der Gleichstellung der unehelichen Kinder mit den ehelichen wird Art. 3 G G durch die Spezialnorm 10 des Art. 6 Abs. 5 G G ergänzt. 2. Überblick über den Schutzbereich

4

a) Recht auf Ehe und Familie. Art. 12 M R K garantiert Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, wobei diese Garantie nach Maßgabe des jeweiligen innerstaatlichen Rechts gewährt wird. Eigene Schranken legt Art. 12 M R K nicht fest: wegen der Bindung der Garantie an das innerstaatliche Recht war dies entbehrlich 11 . Geschützt wird die traditionelle Ehe zwischen Personen verschiedenen biologischen Geschlechts 12 ; ob dies auch für Transsexuelle nach einer vollzogenen Geschlechtsumwandlung gilt, war strittig, wird aber jetzt vom E G M R unter Hinweis auf die geänderten Auffassungen bejaht 1 3 . Einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches auf die eheähnliche Verbindung Homosexueller steht der Wortlaut entgegen, der von Männern und Frauen spricht 14 . Art. 23 Abs. 2 IPBPR garantiert ebenfalls das Recht auf Ehe, wobei der Ausdruck, daß dieses Recht „anerkannt" wird, keine grundsätzliche Abschwächung der Garantie bedeutet, sondern zum Ausdruck bringen soll, daß es sich um ein natürliches, der Konvention vorgegebenes Recht handelt 1 5 . Die

BGBl. TT 1969 S. 963. BGBl. TT 1985 S. 648. BGBl. TT 1958 S. 205. BGBl. II 1992 S. 121; s. auch Art. 6 M R K , Rdn. 4 Fußn. 4a. EuGRZ 2000 554. Meyer-Ladewig 3. BVerfGE 31 58, 67; 36 161. Vgl. BVerfGE 26 60, 272. Grubenwuner § 22 Rdn. 51; Meyer-Lüdewig 1, 5. E G M R 6.11.1980 van Oosterwijck/Belg (EuGRZ 1981 275); 17.10.1986 Rees/GB (Series A 106); 27.9.1990 Cossey/GB (ÖJZ 1991 173); 30.7.1998 Sheffield, Horsham/GB (ÖJZ 1999 571); vgl. BVerfG EuGRZ 2002 362 (Lebenspartnerschaft zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren ist keine Ehe im

15

14

15

Sinne der Konventionsgarantien und des Art. 6 GG, sondern ein aliud zur Ehe). Zur Geschlechtsumwandlung vgl. nachf. Fußn. EGMR 11.7.2002 Goodwin/GB (ÖJZ 2003 766) hat deren Recht auf Ehe jetzt bejaht; ebenso Grabenwuner § 22 Rdn. 52; Meyer-Ludewig 3; Peters 169. Auch der EuGH bejaht dies in der Entscheidung vom 7.1.2004 (NJW 2004 1440), wonach Art. 141 EGV einer Regelung entgegensteht, die es unter Verstoß gegen die M R K einem Paar unmöglich macht, nach der Geschlechtsumwandlung eines Partners die Ehe einzugehen. EGMR 17.10.1986 Rees/GB (Series A 106); Grabenwarter § 22 Rdn. 52; Meyer-Ladewig 3; Villiger HdB 643. Nowak 14.

Stand: 1.10.2004

(538)

Recht auf Eheschließung

Art. 23 IPBPR

Festlegung des heiratsfähigen Alters sowie der sonstigen Modalitäten der Eheschließung überlassen beide Konventionen den Vertragsstaaten 16 ; ebenso die Festlegung sachlich zu rechtfertigender Ehehindernisse 17 . Zu den Grenzen der Einschränkungen vgl. Rdn. 10. Das Recht, eine Familie zu gründen, schließt das Recht auf Zeugung oder Adoption 5 von Kindern mit ein 18 . Während bei der Auslegung des Art. 12 M R K auf die Familiengründung durch Heirat abgestellt wird 19 , so daß in der Ablehnung der Adoption eines Kindes durch einen Junggesellen kein Verstoß gegen Art. 12 M R K gesehen wurde 20 , versteht Art. 23 IPBPR die Familie in einem weiten Sinn; sie umfaßt nicht nur die in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen zulässige Mehrehe, sondern auch die ohne Heirat faktisch gelebte Familie 21 . b) Freiwilligkeit der Eheschließung. Art. 23 Abs. 3 IPBPR ergänzt die Garantie da- 6 durch, daß die Ehe nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden darf. Er folgt damit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, die dies in Art. 16 Abs. 2 ebenfalls fordert und die in Art. 16 Abs. 1 zusätzlich festlegt, daß das Recht auf Eheschließung und auf Gründung einer Familie ohne Beschränkung aufgrund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion gewährt wird. In Art. 12 M R K wurde dies ebensowenig übernommen wie das ausdrückliche Erfordernis der Freiwilligkeit der Eheschließung. Wegen der größeren Homogenität der Anschauungen in den europäischen Mitgliedstaaten hielt man dies wohl für entbehrlich. Ein Zwang zur Heirat ist auch nach Art. 12 M R K nicht zulässig, denn die Freiheit der Eheschließung umfaßt auch die negative Freiheit, eine Eheschließung abzulehnen 22 . Die Zulassung eines Zwangs zur Eheschließung würde außerdem die staatliche Pflicht zum Schutz des Privatlebens (Art. 8 M R K ) verletzen. Ein Recht auf Scheidung als Voraussetzung für eine neue Ehe kann nach Ansicht der Konventionsorgane aus Art. 12 M R K nicht hergeleitet werden 23 . Bei Art. 23 IPBPR, dessen Absatz 4 die Eheauflösung anspricht, wird dies jedoch bejaht 2 4 . Das Recht auf Ehe und Familie wird auch von der M R K ohne jede Diskriminierung nach Rasse, Staatsangehörigkeit oder Religion gewährt. Dies folgt aus Art. 14 MRK 2 5 . Eine Diskriminierung der Ehe wurde aber nicht darin gesehen, daß eine Eheschließung nach der jeweiligen staatlichen Gesetzgebung auch negative Auswirkungen zur Folge haben kann 2 6 . c) Gleichberechtigung; Schutz der Kinder bei Eheauflösung. Art. 16 Abs. 1 der allge- 7 meinen Erklärung der Menschenrechte fordert ferner, daß M a n n und Frau bei der Ehe16

l'roweinl Peukert 1; Grabenwarter § 22 Rdn. 51; Meyer-Ladewig 5; Nowak 16 mit Hinweisen zur Entstehungsgeschichte des Art. 23 I P B P R . Art. 2 des Zusatzabkommens über die Abschaffung der Sklaverei (Rdn. 2) verpflichtet die Staaten, „soweit erforderlich" ein angemessenes Mindestalter festzusetzen.

17

l'roweinl Peukert 2; Grabenwarter § 22 Rdn. 53; vgl. Schweiz.BGer. E u G R Z 2002 616 (Eheschließungsverbot zwischen Stiefvater und Stieftochter) Rdn. 10. FroweinIPeukerl 6; Nowak 25. Vgl. E G M R 28. 5.1985 Abdulaziz u a / G B ( E u G R Z 1985 569); E K M R bei FroweinIPeukerl 6. E K M R bei FroweinlPeukert 6; vgl. andererseits aber den von Art. 8 M R K geschützten weiten Familienbegriff, dort R d n . 28. Nowak 27 ff. FroweinIPeukerl 4; Grabenwarter § 22 Rdn. 51; Meyer-Ladewig 2.

18

" 20

21 22

(539)

23

E G M R 18.12.1986 Johnston/Trl ( E u G R Z 1986 313; unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte); FroweinlPeukert 3; Grabenwarter 53; Meyer-Ladewig 4; Villiger H d B 643; vgl. andererseits die aus Art. 8 M R K abgeleiteten staatlichen Schutzpflichten E G M R 6.2.1981 Airey/Irl ( E u G R Z 1979 626); Art. 8 M R K Rdn. 29; sowie Art. 5 des von der Bundesrepublik nicht ratifizierten 7. ZP, der die Gleichheit bei den Rechtsfolgen nach einer Scheidung festlegt.

24

Argentinischer Oberster Gerichtshof E u G R Z 1987 322 m . A n m . Polakiewiez E u G R Z 1987 324; Hofmann S. 49; Nowak 22 ff. Vgl. Partseh 214. Vgl. bei Froweinl Peukert 5 (Verlust einer Rente, höhere Besteuerung); Meyer-Ladewig 5; Villiger H d B 644.

25 26

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 12

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Schließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe gleiche Rechte haben. Art. 23 Abs. 4 IPBPR verpflichtet die Vertragsstaaten, diesen Grundsatz durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen und für den Schutz der Kinder im Falle der Auflösung einer Ehe zu sorgen. Es handelt sich um Staatenverpflichtungen, aus denen keine subjektiven Rechte des einzelnen unmittelbar hergeleitet werden können 2 7 . Die Staaten werden hinsichtlich der Gleichberechtigung der Ehegatten auch nur zur allmählichen Verwirklichung (progressive Implementierung) verpflichtet 28 , während sie bei Eheauflösung auch nur für den nötigen Schutz der (ehelichen) Kinder sorgen müssen 29 . 8

Art. 5 des 7. ZP zur MRK, das von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifiziert wurde 30 , legt dagegen ausdrücklich fest, daß die Ehegatten untereinander und in Beziehung zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben, wobei klargestellt wird, daß dieser Artikel den Staaten nicht verwehrt, die im Interesse der Kinder nötigen Maßnahmen zu treffen. Letzteres entspricht ihrer Verpflichtung aus Art. 23 Abs. 4 Satz 2 IPBPR.

9

d) Institutsgarantie der Familie. Art. 12 M R K erkennt das Recht auf Familiengründung als Folge der Eheschließung an 31 . Art. 23 IPBPR garantiert den Bestand der Familie als Rechtsinstitut in den Vertragsstaaten 32 , wobei deren jeweiliges gesellschaftliches und kulturelles Verständnis dafür maßgebend ist, welcher Personenkreis und welche Funktionen zur Familie gehören 33 . Der Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat (Art. 23 Abs. 1 IPBPR) ist vom Staat durch eine entsprechende staatliche Ordnung, vor allem im Wege der Gesetzgebung zu erfüllen. Der Schutzanspruch kann durch familienfeindliche staatliche Regelungen verletzt werden 34 , auch wenn der Schutz der (gelebten) Familienbeziehungen gegen Eingriffe primär aus den weiterreichenden Art. 17 IPBPR und Art. 8 M R K folgt 35 . Nach dem Sinn des Art. 23 Abs. 1 IPBPR muß der Staat auch dafür sorgen, daß die Gesellschaft, also auch die gesellschaftlichen Kräfte, die Familie achtet. Eine unmittelbare Rechtspflicht für bestimmte Personen, insbes. für die gesellschaftlichen Organisationen, wird aber durch Art. 23 Abs. 1 IPBPR nicht begründet 3 6 .

10

3. Einschränkungen. Art. 12 M R K , Art. 23 IPBPR sehen keine ausdrücklichen Einschränkungsgründe ähnlich wie Art. 8 Abs. 2 M R K vor. Art. 12 M R K gewährt die Ausübung der Rechte aber nur im Rahmen der nationalen Gesetze, die jedoch die Garantie nicht aushöhlen und ihren Wesensgehalt nicht antasten dürfen 3 7 . Bei Art. 23 IPBPR fehlt der Hinweis auf die nationalen Gesetze. Nach herrschender Meinung sind jedoch neben der Festlegung der Formalitäten für eine gültige Eheschließung auch solche sachlichen Einschränkungen durch das nationale Recht zulässig, die sich auf allgemein anerkannte Gründe, wie Festlegung des Heiratsalters 38 oder das Verbot der Eheschließung zwischen nahen Verwandten 39 oder - in Ländern des westlichen Kulturkreises - auf das 27 28 29 3,1 31

32 33 34

Nowak 37. Vgl. Entstehungsgeschichte Nowak 34 ff. Nowak 36, 37; vgl. Guradze J1R 1971 (15) 261. Vgl. R d n . l ; E m f . R d n . 22. Vgl. E G M R 28.5.1985 Abdulaziz/GB ( E u G R Z 1985 567); Froweinl Peukert 6; Grabenwarter § 22 R d n . 54; Villiger H d B 646. Nowak 10 ff. Nowak 8. Vgl. U N - A M R E u G R Z 1981 391 (maurizische Frauen); Nowak 9 ff, Guradze JTR 1971 (15) 261 verneint dagegen, d a ß sich aus Art. 23 Abs. 1 IPBPR justiziable Rechte herleiten lassen.

Stand:

' 36 37

38

39

Z u m Verhältnis zu Art. 8 M R K vgl. Frowein/Peuken 7. Nowak 12. E G M R 27.9.1990 Cossey/GB ( Ö J Z 1991 173); l'roweinl Peukert 1; Grabenwarter § 22 R d n . 56; Villiger H d B 645. Vgl. R d n 4; Villiger H d B 645 ( auch wenn eine islamische Ehe mit niedrigerem Heiratsalter dadurch nicht möglich ist). Schweiz.BGer. E u G R Z 2002 616 (Eheschließungsverbot zwischen Stiefvater und Stieftochter). Ferner die bei P'roweinlPeukert 2 bis 5 angeführten Fälle der E K M R (Gattenmord); vgl. ferner E G M R 18.12.

1.10.2004

(540)

Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

Verbot der Bigamie beschränken 4 0 . In beiden Konventionen müssen sich die Einschränkungen in engen Grenzen halten, sie müssen dem Schutze berechtigter Belange der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung oder der unmittelbar beteiligten Personen dienen, frei von sachfremden Erwägungen sein, auf einer allgemein einsichtigen, rationalen Grundlage beruhen 41 und nicht unverhältnismäßig sein 42 . Ahnlich wie bei Art. 8 Abs. 2 M R K muß bei jeder Einschränkung der mit ihr angestrebte Zweck gegenüber dem grundsätzlich garantierten Recht auf Ehe abgewogen werden. Eine danach unverhältnismäßige Einschränkung verstößt gegen die Konventionsgarantie, so auch ein schweizer Gesetz, das nach der dritten Scheidung eine dreijährige Wartefrist für die Wiederverheiratung vorschrieb 43 . Die nationalen Regelungen dürfen ferner keine von den Konventionen verbotene Diskriminierung enthalten 4 4 . Bei Strafgefangenen darf das Recht, eine Ehe einzugehen, nicht grundsätzlich aus- 11 geschlossen werden 45 ; nach Ansicht der E K M R kann es aber im Einzelfall aus schwerwiegenden Gründen versagt werden 46 . Ein Recht, die Ehe während der H a f t auch zu vollziehen, folgt daraus nicht, dies kann auch nicht aus dem Recht auf Familiengründung hergeleitet werden 47 .

Art. 13 MRK (Art. 21 Abs. 3 IPBPR) MRK Artikel 13 Recht auf w i r k s a m e B e s c h w e r d e *

IPBPR Artikel 2

J e d e Person, die in ihren in d i e s e r K o n v e n t i o n a n e r k a n n t e n R e c h t e n o d e r Freiheiten verletzt w o r d e n ist, hat d a s Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine w i r k s a m e B e s c h w e r d e z u e r h e b e n , a u c h w e n n die V e r l e t z u n g v o n Pers o n e n b e g a n g e n w o r d e n ist, die in a m t l i c h e r E i g e n s c h a f t gehandelt haben.

(1)... (2) ...

(3) J e d e r V e r t r a g s s t a a t verpflichtet sich, a) dafür S o r g e zu t r a g e n , d a ß jeder, der in s e i n e n in dies e m Pakt a n e r k a n n t e n R e c h t e n o d e r Freiheiten verletzt w o r d e n ist, d a s Recht hat, e i n e w i r k s a m e B e s c h w e r d e e i n z u legen, selbst w e n n die V e r l e t z u n g v o n P e r s o n e n b e g a n g e n w o r d e n ist, die in a m t l i c h e r E i g e n s c h a f t g e h a n d e l t h a b e n ; b) d a f ü r S o r g e zu t r a g e n , d a ß jeder, der e i n e s o l c h e Bes c h w e r d e erhebt, sein Recht d u r c h d a s z u s t ä n d i g e G e richts-, V e r w a l t u n g s - o d e r G e s e t z g e b u n g s o r g a n o d e r d u r c h eine a n d e r e , nach d e n R e c h t s v o r s c h r i f t e n d e s S t a a t e s z u s t ä n d i g e Stelle feststellen l a s s e n kann, u n d d e n gerichtlichen R e c h t s s c h u t z a u s z u b a u e n ; c) dafür S o r g e z u t r a g e n , d a ß die z u s t ä n d i g e n Stellen Beschwerden, denen stattgegeben wurde, Geltung verschaffen.

N e u e d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in d e r F a s s u n g d e r B e k . v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 ( B G B l . II S. 1 0 5 4 ) .

4,1 41

42 43

1987 F/CH (EuGRZ 1993 130), und wegen der Ehe nach Geschlechtsumwandlung Rdn. 4. Nowak 19 unter Hinweis auf Entstehungsgeschichte. Vgl. BVerfGE 36 163; 49 300; Fruweinl Peukert 2 bis 5; Nowak 20; Schorn 3, 4. Grabenwarter § 22 Rdn. 56. E G M R 18.12.1987 F/CH (EuGRZ 1993 130); dazu Villiger HdB 644).

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44 45

46 47

Vgl. Rdn. 7; Art. 14 M R K Rdn. 12. E K M R nach Frowein/Peukert 2; Meyer-Ladewig 5; Villiger HdB 645; Guradze 15, III; Nowak 20. EKMR nach Fruweinl Peukert 2; Partsch 215. EKMR EuGRZ 1978 518; bei Bleckmann EuGRZ 1982 531; Frowein/Peukert 6; Villiger HdB 646.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Schrifttum (Auswahl): Frowein Art. 13 as a growing pillar of Convention law, G S Ryssdal (2000) 545; Gimpel E i n f ü h r u n g einer allgemeinen Untätigkeitsbeschwerde im Strafprozeß durch Gesetz, Z R P 2003 35; Gundel Neue Anforderungen des E G M R an die Ausgestaltung des nationalen Rechtsschutzsystems - Die Schaffung effektiver Rechtsbehelfe gegen überlange Verfahrensdauer, DVB1. 2004 217; Matscher Z u r F u n k t i o n und Tragweite der Bestimmung des Art. 13 E M R K , F S Seidl-Hohenveldern (1989) 315; Redeker K a n n eine Untätigkeitsbeschwerde helfen? N J W 2002 488; Vorwerk Kudla gegen Polen - Was k o m m t danach? J Z 2004 553; Vospernik D a s Verhältnis zwischen Art. 13 u n d Art. 6 E M R K - A b s o r p t i o n oder „Apfel u n d Birne"? Ö J Z 2001 361. Übersicht Rdn.

Rdn.

1. Allgemeines a) Akzessorische Rechtsschutzgarantie . . b) Andere internationale Konventionen . 2. Bedeutung und Tragweite der Verfahrensgarantie a) Bedeutung der Garantie b) Weitergehende Rechtsbehelfsgarantien c) Entscheidungen der Gerichte d) Konventionsverletzungen in einem gerichtlichen Verfahren e) Nachprüfbarkeit der Gesetze 3. Keine allgemeine Rechtsschutzgarantie . .

a) Nur bei Konventionsrechten b) Nur durch einen Träger der öffentlichen Gewalt c) Behauptung mit vertretbaren Argumenten 4 6 6a

5. Wirksamer Rechtsbehelf a) Nationale Stelle b) Ausreichende Prüfungs- und Entscheidungskompetenz c) Innerstaatliches Verfahren d) Nachweis des Bestehens eines wirksamen Rechtsbehelfs e) Innerstaatliche Wirksamkeit einer stattgebenden Rechtsschutzmaßnahme ...

6c 6d 7

4. Verletzung der in den Konventionen festgelegten Rechte und Freiheiten

15 19 20 21 22 23 25

1. Allgemeines 1

a) Art. 13 MRK enthält eine akzessorische Rechtsschutzgarantie, die nur zusammen mit der Behauptung einer Verletzung eines Konventionsrechts geltend gemacht werden kann. Jedermann, der in einem der in der M R K oder ihren Zusatzprotokollen festgelegten Recht verletzt worden ist, hat das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einer innerstaatlichen Instanz. Die weiterreichende Forderung in Art. 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, nach der jedermann Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den innerstaatlichen Gerichten gegen Handlungen hat, die ihn in seinen von der Verfassung oder einem Gesetz verbürgten Grundrecht verletzen, wurde insoweit einschränkend abgewandelt 1 .

2

Art. 2 Abs. 3 IPBPR verpflichtet nach seinem Wortlaut nur die Vertragsstaaten, dafür zu sorgen, daß jeder, der in seinen im Pakt anerkannten Rechten und Freiheiten verletzt worden ist, innerstaatlich das Recht hat, eine wirksame Beschwerde einzulegen (Buchst, a) 2 . Die nach nationalem Recht jeweils zuständigen Stellen, Gerichte, Verwaltungsorgane oder sonstige Stellen müssen aufgrund der Beschwerde den Sachverhalt überprüfen und gegebenenfalls eine solche Verletzung feststellen können (Buchst, b) und es muß gesichert sein, daß erfolgreichen Beschwerden durch die zuständigen staatlichen Organe Geltung verschafft wird (Buchst, c). Art. 2 Abs. 3 Buchst, b IPBPR bringt dann zusätzlich noch die allgemein gehaltene Verpflichtung, den auch dort nicht zwingend geforderten gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen. Dieser Wortlaut trägt der Tatsache Rechnung, daß er für eine weit weniger homogene Staatengemeinschaft gilt, die sich, 1

Zur Entstehungsgeschichte IntKommEMRK/ Schweizer 4 ff; Matscher FS Seidl-Hohenveldern 316.

2

„Staatenverpflichtung" Nowak 13; Grabenwarter § 24 Rdn. 110; IntKommEMRK/.SY-/mc/zer 29.

S t a n d ; 1.10.2004

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Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

anders als die Mitgliedstaaten der M R K , nicht unbedingt an den traditionellen westlichen Rechtsbehelfsvorstellungen orientiert 3 . b) Auch andere internationale Konventionen verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, 3 die in ihnen enthaltenen materiellen Gewährleistungen durch wirksame innerstaatliche Rechtsbehelfe abzusichern. So fordert ζ. B. Art. 6 des Internationalen Ubereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 4 , daß die Mitgliedstaaten jeder Person in ihrem Hoheitsbereich „wirksame Rechtsbehelfe durch die zuständigen nationalen Gerichte und sonstige staatliche Einrichtungen" sowie angemessene Schadensersatzansprüche gewährleisten bei „allen rassisch diskriminierenden Handlungen, welche ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten im Widerspruch zu diesem Ubereinkommen verletzen". Art. 13 der UN-Antifolterkonvention 5 verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, daß jeder, der behauptet, er sei im Hoheitsbereich eines Mitgliedstaates gefoltert worden, das Recht auf Anrufung der zuständigen Behörden und auf umgehende unparteiische Prüfung seines Falles durch diese Behörden hat; Art. 14 dieser Konvention fordert darüber hinaus, im nationalen Recht einklagbare Schadensersatzansprüche vorzusehen. In der Europäischen Union wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf als Teil 3a des allgemeinen Gemeinschaftsrechts angesehen, da es zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzem gehört, die Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten sind 6 . Zur Bekräftigung wird jetzt auch auf Art. 47 der Europäischen GrundrechteCharta hingewiesen. Dieser fordert für jede Person, die in einem durch das Recht der Union garantierten Recht oder einer Freiheit verletzt ist 7 , einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht 8 . Vor den Europäischen Gerichten kann nur derjenige gegen eine Entscheidung oder eine EU Verordnung nach § 230 Abs. 4 EGV klagen, der dadurch in seinen Rechten unmittelbar und auch individuell betroffen ist 9 . Innerstaatlich garantiert in der Bundesrepublik Art. 19 Abs. 4 G G bei einer (behaup- 3 b teten) Verletzung eines subjektiven Rechts durch die öffentliche Gewalt den Weg zu den Gerichten. Soweit im G G vergleichbare Rechte wie in den Konventionen garantiert werden, steht bei deren Verletzung auch die Verfassungsbeschwerde offen 10 . Wegen weiterer Einzelheiten vgl. Rdn. 10. 2. Bedeutung und Tragweite der Verfahrensgarantie a) Die Bedeutung der Garantie eines nationalen Überprüfungsverfahrens im Sinne des 4 Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR liegt einmal darin, daß dadurch die tatsächliche Gewährung der Konventionsrechte und damit deren Effektivität bereits innerstaatlich abgesichert wird. Der einzelne erhält dadurch das Recht, schon vor einem nationalen Organ um wirksame Abhilfe nachzusuchen 1 1 , wenn er mit vertretbaren Argumenten („arguable claim") 12 behaupten kann, er sei in einem Konventionsrecht verletzt wor3 4 5 6

7

8

Nowak 61; zur Entstehungsgeschichte Nowak 8 ff. BGBl. 11 1969 S. 962. BGBl. 11 1990 S. 946. EuGH Gutachten EuGRZ 1996 197; EuGH EuGRZ 1987 380; IntKommEMRK/Sc/jive/zer 110; vgl. Einf. Rdn. 46 ff. Zur Rechtslage in Deutschland vgl. Rdn. 10. Also nicht nur für die in der Grundrechte-Charta garantierten Rechte und Freiheiten, vgl. Grabenwarf er § 24 Rdn. 11; zu deren Inkrafttreten vgl. Einf. Rdn. 36a, 47. EG (Erste Instanz) EuGRZ 2002 266.

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5 10

11 12

EuGH (Plenum) NJW 2002 2935. Vgl. Grabenwarler § 24 Rdn. 111; ferner die Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 4 GG in den Grundgesetzkommentaren. Vgl. Matscher FS Seidl-Hohenveldern 217. Vgl. Art. 6 Villiger HdB 655 ff, wonach sich Vertretbarkeit und (nachträglich festgestellte) Unbegründetheit nicht notwendig widersprechen, mit der Folge, daß trotz Abweisung des materiellen Konventionsverstoßes eine Verletzung des Art. 13 MRK festgestellt werden kann; ebenso Grabenwarter § 24 Rdn. 112. Bei der weiten Auslegung des Begriffs

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

den 13 . Unschädlich ist, wenn sich nachträglich ergibt, daß die Behauptung einer Konventionsverletzung unbegründet ist 14 . Aus einer neben der Sache liegenden, irrtümlichen oder unsubstantiierten Behauptung einer Konventionsverletzung kann dagegen auch kein Anspruch auf einen Rechtsbehelf hergeleitet werden 15 . Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, eine nationale Überprüfungsinstanz zu schaffen, die einer behaupteten Konventionsverletzung im Falle ihres Vorliegens abhelfen kann. Diese Pflicht eröffnet den Vertragsstaaten aber zugleich die Möglichkeit, behauptete Konventionsverstöße ihrer Organe selbst zu überprüfen, sie zutreffendenfalls ohne großen Zeitverlust innerstaatlich selbst zu bereinigen und sich so ein Verfahren vor dem Gerichtshof zu ersparen. Der Gerichtshof wird dadurch entlastet, da er sich nach Art. 35 Abs. 1 M R K mit einer Individualbeschwerde wegen einer Konventionsverletzung nur befaßt, wenn die bestehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind 16 . Die vorherige Einschaltung einer nationalen Instanz ermöglicht dem Gerichtshof außerdem, auf Entscheidungen aufzubauen, deren Grundlagen im nationalen Recht bereits überprüft worden sind. Dies erleichtert ihm die richtige Einschätzung des nationalem Rechts, dessen Besonderheiten dadurch auch für ihn augenscheinlich werden. Der für die Fortentwicklung des Konventionssystems wichtige Dialog zwischen den Rechtssystemen 17 wird dadurch gefördert. Die Anforderungen des jeweiligen nationalen Rechts werden für den Gerichtshof verdeutlicht und können von ihm bei seinen Entscheidungen mitberücksichtigt werden. 5

Art. 2 Abs. 3 IPBPR hat ebenfalls zum Ziel, die Wirksamkeit der Konventionsgarantien im Einzelfall durch einen innerstaatlichen Rechtsbehelf bei Verletzung einer Konventionsbestimmung abzusichern; es ist ebenfalls streng akzessorisch und setzt ebenfalls voraus, daß eine Konventionsverletzung vertretbar behauptet wird 18 . Er ergänzt und konkretisiert insoweit die Verpflichtung der Staaten aus Art. 2 Abs. 2 IPBPR, alle erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den im Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen. Die Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe bei einer vertretbar behaupteten Verletzung eines Konventionsrechtes ist auch beim IPBPR Voraussetzung für die Anrufung der Konventionsorgane (vgl. Art. 41 Abs. 1 Buchst, c für Staatenbeschwerden; Art. 2, 5 Abs. 2 Buchst, b des 1. FakultativprotokollIPBPR für Individualbeschwerden) l9 . Deshalb besteht auch hier der Grundsatz des Vorrangs der innerstaatlichen Abhilfe bei Konventionsverletzungen.

6

b) Weitergehende Rechtsbehelfsgarantien der Konventionen, wie sie Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBPR und Art. 5 Abs. 3, 4 M R K , Art. 9 Abs. 3, 4 IPBPR für die

der offensichtlichen Unbegründetheit im Sinne des Art. 35 Abs. 3 M R K (vgl. Anh. Rdn. 53) kann dies Li U. sogar gelten, wenn der E G M R die Rüge eines materiellen Konventionsverstoßes als offensichtlich unbegründet verwirft (Grabemvarter § 24 Rdn. 113 unter Hinweis auf EKMR). Vgl. aber auch EGMR 21.2. 1990 Powell, Rayner/GB (ÖJZ 1990 418), wo der Gerichtshof die Ansicht vertrat, daß die Schwelle der offensichtlichen Unbegründetheit so angesetzt werden müsse, daß sie auch für die Vertretbarkeit eines Anspruchs gilt; ähnlich EGMR 21.6.1988 Plattform Ärzte für das Leben/Ö (EuGRZ 1989 522), Meyer-Ladewig 6 stimmt dem „für den Regelfall" zu; Bedenken dagegen bei J-'roweinl Peukert 2. 15

Etwa E G M R 6. 9. 1978 Klass/D (NJW 1979 1755); 26.3.1987 Leander/Schwed (Series A 116); 27.4. 1988 Boyle, Rice/GB (Series A 131); 21.2.1990 Powell, Rayner/GB (ÖJZ 1990 418); 19.12.1994

14 15 16

17

18 19

Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs, Gubi/Ö (ÖJZ 1995 314); 28.10.1999 Wille/Liechtenstein (NJW 2001 1195); Grabenwarler § 24 Rdn. 112; Meyer-Ladewig 5; Villiger HdB 654. Vgl. Rdn. 19. Grabenwarler § 24 Rdn. 113. Vgl. Grabemvarter § 24 Rdn. 110 (materiellrechtliche Voraussetzung für die Subsidiarität des Art. 35 MRK); IntKommEMRK/Se/mWz«- 2 (Filterwirkung); 55 ff (Abgrenzung zu Art. 35 Abs. 1); Meyer-Ladewig 1. l-'roweinlPeukert 12; zur wechselseitigen Wirkung zwischen Art. 13 und dem jetzigen Art. 35 Abs. 1 vgl. etwa Gamhof van der Meerseh EuGRZ 1981 481, IntKommEMRK/Sc/m-efeer 55 ff Nowak 63. Vgl. Novak 64 ff (repressiver Rechtsschutz genügt). Vgl. auch Anhang Rdn. 63.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

dort genannten Ansprüche und Verfahren enthalten, gehen grundsätzlich als Spezialregelungen dem nur allgemein und unspezifisch garantierten Recht auf einen Rechtsbehelf vor 20 , so, wenn sie für das nationale Recht in bestimmten Fällen vorschreiben, daß über die jeweilige Konventionsverletzung nur eine richterliche Instanz entscheiden darf. Soweit ein und dieselbe Konventionsverbürgung durch unterschiedliche Rechtsbehelfsgarantien in der Konvention abgesichert wird, verdrängt („absorbet") der stärkere Anspruch auf Rechtsschutz durch ein Gericht die schwächere, unspezifische Garantie des Art. 13 M R K 2 1 . Im übrigen ist strittig, wieweit Art. 13 bei anderen verfahrensbezogenen Konventionsverletzungen anwendbar ist 22 , etwa wenn eine staatliche Stelle konventionswidrig den Zugang zum Gericht verweigert oder dies faktisch unmöglich macht, ohne daß dagegen ein innerstaatlicher Rechtsbehelf ergriffen werden kann 2 3 , wenn also die weitergehende akzessorische Rechtsbehelfsgarantie des Art. 13 nicht parallel zu einer Gerichtsgarantie der Konventionen den Rechtsweg wegen einer anderen materiellen Konventionsverletzung absichert. Insoweit hat sie einen anderen Schutzgegenstand, weil sie die Einhaltung einer spezielleren Gerichtsgarantie selbst betrifft 24 . In der Sache fällt die Garantie des Art. 13 M R K aber auch in einem solchen Fall mit den durch die Verhinderung der Anrufung des Gerichts gleichzeitig verletzten und unmittelbar anwendbaren speziellerem Recht auf Entscheidung durch ein unabhängiges Gericht in den Art. 5 Abs. 3, 4, Art. 6 Abs. 1 zusammen, so daß zumindest kein praktisches Bedürfnis besteht, neben diesen Garantien noch die Einhaltung des Art. 13 gesondert zu prüfen 2 5 . Sind allerdings Konventionsrechte verletzt, die weder von den Verfahrensgarantien des Art. 5 M R K erfaßt werden noch unter die Gerichtsgarantie des Art. 6 Abs. 1 M R K fallen, weil es weder um ein „civil right" noch um eine „strafrechtliche Anklage" im weiten Sinn dieser Konventionsbegriffe 26 geht, wird die Rechtsbehelfsgarantie des Art. 13 durch keine vorrangige Garantie des Rechtswegs zu den Gerichten verdrängt. Bei Konventionsverletzungen, die nicht notwendig mit den Verfahrensgarantien zusammentreffen, muß zumindest ein Rechtsbehelf zu einer den Anforderungen des Art. 13 genügenden staatlichen Stelle gegeben sein 27 . Dem Art. 13 M R K ist genügt, wenn gegen die behauptete Konventionsverletzung eine innerstaatliche Rechtsbehelfsinstanz angerufen werden konnte, die kein Gericht sein muß und die die Staaten nicht notwendig im Bereich der Rechtspflege ansiedeln müssen. Hilft diese der Konventionsverletzung nicht ab, fordert Art. 13 M R K keinen weiteren innerstaatlichen Rechtsbehelf, insbesondere nicht die Einschaltung eines unabhängigen Gerichts 28 .

2(1

21

EGMR 23.9.1982 Sporrong/Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); 25. 3. 1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 534) 28. 6. 1984 Campbell & Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 22. 5.1984 De Jong u. a. (EuGRZ 1985 700); 8.7.1987 W/GB (EuGRZ 1990 533); 22.9. 1994 Hentrich/E (EuGRZ 1996 593); Frowein/Peukert 7; Matscher FS Seidl-Hohenveldern 318; 336; weitere Nachw. zur Entwicklung der Rechtspr. des EGMR Vospernic ÖJZ 2001 361; TntKommEMRK/ Schweizer 48 ff; vgl. Art. 5 M R K Rdn. 106 ff; 120fif;Art. 6 M R K Rdn. 42 ff.

22

FroweinlPeukerl 7; § 24 Rdn. 118; IntKommEMRK/ Schweizer 51, Villiger HdB 648; Vospernik ÖJZ 2001 367 (wenn Rechtsschutz gegen die gleiche Konventionsverletzung im vollen oder größeren Umfang als bei Art. 13 besteht und dessen Schutzziel daher von dem anderen Konventionsartikel mitumfaßt ist).

26

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23

24

25

27

28

Vgl. die Wiedergabe des Meinungsstandes in der Literatur bei VorpernikÖJZ 2001 361, 362 ff. IntKommEMRK/,SV/mWzi.Jr 53 bejaht dies, ebenso Vospernik ÖJZ 2001 367. Vospernik ÖJZ 2001 367 verneint bei solchen Konstellationen den gleichen Gegenstand, TntKommΈΜΚΚΙ Schweizer 53 (gleichzeitige Anwendung). Vgl. etwa EGMR 23. 9. 1982 Sporrong & Lönnroth/ Schwed (EuGRZ 1983 528); 28. 6.1984 Campbell & Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 8.7. 1987 W/GB (EuGRZ 1990 533). Vgl. Art. 6 Rdn. 19 ff, 28 ff. So behandelt der EGMR Folterfälle unter dem Blickwinkel der Rechtsgarantie des Art. 13, vgl. die Nachweise bei Vospernik ÖJZ 2001 366. Gruhenwurier § 24 Rdn. 114; Meyer-Ludewig 15.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

6a

c) Ob auch gegen Entscheidungen der Gerichte ein Rechtsbehelf nach Art. 13 gegeben sein muß, könnte seinem Wortlaut nach zweifelhaft sein, ist aber zu verneinen. Ebenso wie innerstaatlich Art. 19 Abs. 4 G G begründet er keinen Anspruch auf Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch eine wegen der Unabhängigkeit der Gerichte dann notwendig gerichtlichen Rechtsmittelinstanz29. Dies folgt aus dem System der M R K 3 0 und wohl auch aus der Abwandlung des Art. 13 M R K gegenüber Art. 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der bei Grundrechtsverletzungen die Möglichkeit der Anrufung eines innerstaatlichen Gerichts forderte.

6b

Die Nachprüfung durch ein höheres Gericht, die die Sonderregelung in Art. 14 Abs. 5 IPBPR (ebenso Art. 2 des 7. ZP M R K 3 1 ) jedem wegen einer strafbaren Handlung Verurteilten zusichert 32 , bleibt von Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR unberührt. Soweit sie Platz greift, enthält sie aber vorgehendes Sonderrecht.

6c

d) Bei Konventionsverletzungen, die in einem gerichtlichen Verfahren begangen werden, ist strittig, ob die Rechtsbehelfsgarantie des Art. 13 auch solche Verstöße erfaßt. Dies hat dort Bedeutung, wo das nationale Verfahrensrecht keinen wirksamen Rechtsbehelf vorsieht, mit dem einem durch die Verfahrensgestaltung begangenen Konventionsverstoß innerstaatlich abgeholfen werden kann. Unter Hinweis auf den anderen Beschwerdegegenstand wird bejaht, daß die Rechtsbehelfsgarantie des Art. 13 auch für solche Konventionsverstöße gilt 33 , wobei wegen der von den Konventionen garantierten Unabhängigkeit der Gerichte eine Überprüfung durch nichtrichterliche Stellen ausscheidet. Die frühere Rechtsprechung des E G M R hatte die Anwendbarkeit des Art. 13 in diesen Fällen verneint. Bei Feststellung eines Konventionsverstoßes nach Art. 5, 6 M R K wurde meist davon abgesehen, die Sache auch zusätzlich unter dem Blickwinkel des Art. 13 M R K zu prüfen 3 4 .

6d

In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung hat der E G M R nun bei einer gegen Art. 6 Abs. 1 verstoßenden unangemessen langen Verfahrensdauer unter Hinweis auf seine Überlastung durch diese gehäuft auftretenden Fälle zusätzlich zu dem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 auch einen Verstoß gegen Art. 13 bejaht, wenn das innerstaatliche Recht keinen Rechtsbehelf vorsieht, mit dem sich der Betroffene gegen die überlange Dauer eines anhängigen Verfahrens auch innerstaatlich wehren kann 3 5 . Wie ein solcher Rechtsbehelf aussehen könnte, ist der innerstaatlichen Regelung überlassen 36 . Wirksam

29

311

• 32

33

34

Vgl. Frowein/Peukerl 9; Grübenwaner § 24 Rdn. 118; Meyer-Ludewig 17. FroweinIPeukerl 9. Von der Bundesrepublik nicht ratifiziert, vgl. Einf. Rdn. 22. Vgl. Art. 6 MRK Rdn. 261 ff; auch zu dem einschränkenden Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bek. vom 30.12. 1993 BGBl. 11 S. 311). Vgl. Frowein Peukert 10 mit Hinweis auf eine Entscheidung der EKMR; Vospernik ÖJZ 2001 367. Ablehnend östr.OGH EuGRZ 1989 534 mit Anm. Schoibl; vgl. Art. 6 M R K Rdn. 85. Etwa E G M R 23.2.1982 Sporrong, Lönnroth/ Schwed (EuGRZ 1983 523); 25. 3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 149); vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 112.

35

EGMR 26. 10. 2000 Kudla/Polen (NJW 2001 2694), dazu Gundel DVB1 2004 17; Meyer-Ladewig NJW 2001 2679; Vorwerk JZ 2004 553; ferner zu der die

36

Fragen nicht vertiefenden weiteren Rechtsprechung des E G M R Vospernik ÖJZ 2001 366; ferner etwa IntKommEMRK/Sc'/m-efeer 49, 54 (auch bei Judikative Anspruch auf unabhängige Kontrollinstanz); Grabenwarter § 24 Rdn. 118; Meyer-Ladewig 20. Beispiele solcher Regelungen führt Meyer-Ladewig NJW 2001 2679 an; ebenso Meyer-Ladewig 26 ff; vgl. ferner Glinde! DVB1 2004 17, 21 ff; Lansnieker! Sehwirizek NJW 2001 1969. Zur Säumnisbeschwerde in Österreich als auszuschöpfenden Rechtsbehelf nach Art. 35 Abs. 1 MRK vgl. etwa EGMR 30.1. 2001 Basic/Ö (ÖJZ 2001 517), kritisch zur Untätigkeitsbeschwerde Casadevall NJW 2001 2694, 2701; Vorwerk JZ 2004 553, 556; andererseits Redeker NJW 2003 488; zur Regelung in Spanien E G M R 5. 10.1999 Gonzales Marin/Span (NJW 2001 1692); Portugal EGMR 2.12.1999 Tome Mota/Port (NJW 2001 2692); Frankreich Bien/Guillawnoni EuGRZ 2004 465; Meyer-Ladewig 30.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

ist ein solcher Rechtsbehelf aber nur, wenn er geeignet ist, wenigstens einer weiteren Verzögerung des Verfahrens abzuhelfen und darauf hinzuwirken, daß ein verzögertes Verfahren alsbald zum Abschluß gebracht werden kann oder aber, wenn er innerstaatlich zur einer angemessenen Kompensation der Nachteile führt, die durch eine vom Staat zu verantwortende Verfahrensverzögerung bereits eingetreten sind 37 . Für die Gegenmeinung, die Art. 13 auf Konventionsverstöße im gerichtlichen Verfahren schon aus systembedingten Gründen nicht anwenden will, sprechen zwar gute Gründe, da der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte jede Kontrolle durch eine außergerichtliche Instanz und jeden Eingriff in ein schwebendes Verfahren ausschließt und das Einschalten einer zusätzlichen richterlichen Instanz das Verfahren zunächst weiter verzögert; es ist auch als Zwischeninstanz mit beschränkter Entscheidungsbefugnis mit den Strukturgrenzen der M R K schlecht zu vereinen, die - ebenso wie innerstaatlich Art. 19 Abs. 4 G G grundsätzlich keinen mehrstufigen gerichtlichen Rechtsschutz fordert 3 8 . Ein solcher würde überdies nichts daran ändern, daß es notwendigerweise immer ein letztinstanzlich entscheidendes Gericht geben muß, dessen Entscheidung und auch dessen Verfahren innerstaatlich keiner weiteren gerichtlichen Kontrolle unterliegen kann, da andernfalls die Nachprüfbarkeit ins Unendliche ausgedehnt würde. Auch in Form eines Zwischenverfahrens ist ein weiterer innerstaatlicher Rechtsbehelf problematisch, da er mitunter eine vorgezogene Verfahrenswürdigung voraussetzt, die einen Eingriff in den noch nicht abgeschlossenen Entscheidungsfindungsprozeß bedeuten kann; er scheidet aus, wenn im Verfahren der letzten Instanz, bzw. - wenn eine Verfassungsbeschwerde zulässig ist - erst vor einem Verfassungsgericht gegen eine das Verfahren betreffende Konventionsverbürgung verstoßen wurde 39 . Bei Verfahrensverzögerungen durch Gerichte, deren Entscheidungen anfechtbar sind, kann die übergeordnete Instanz zumindest in Strafsachen für eine angemessene Kompensation der Konventionsverletzung sorgen. Die praktischen Bedenken, auf die Richter J Casadevall in seiner abweichenden Meinung hinweist 40 , sind daher nicht von der Hand zu weisen. Es ist jedoch damit zu rechnen, daß der E G M R im Interesse seiner (zumindest zeitweiligen) Entlastung 4 1 an seiner neuen Rechtsprechung festhalten 42 und diese möglicherweise auch auf andere Verfahrensgarantien des Art. 6 M R K ausdehnen wird 43 . Für die Bundesrepublik Deutschland stellt sich die Frage, ob die von der Rechtsprechung entwickelten bisherigen Abhilfemöglichkeiten zumindest in den Verfahren auf Grund einer strafrechtlichen Anklage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 M R K in ihrer Gesamtheit bereits den Erfordernissen eines Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 13 M R K genügen 44 oder ob es auch insoweit notwendig ist, einen neuen Rechtsbehelf in der Form einer Untätigkeitsbeschwerde einzuführen 4 5 . Ein solcher wäre nicht unproblematisch, da ein 37

Vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 118; ferner Art. 6 Rdn. 85 fT. 38 FroweinIPeukerl 9, 10; IntKommEMRK/ScAwefei»· 54. Eine Ausnahme macht das von Deutschland nicht ratifizierte 7. ZP bei strafrechtlichen Verurteilungen (Art. 2). ® Vgl. die abweichende Meinung von Richter J Casadevall NJW 2001 2701 unter Hinweis auf die Falle, in denen in der überlangen Verfahrensdauer vor Verfassungsgerichten ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 gesehen wurde, etwa E G M R 23.6.1993 RuizMateos/Sp ( E u G R Z 1993 453); 1.7. 1997 Parnmel/ D ( E u G R Z 1997 316); Probstmeier/D (NJW 2001 211); 27.7.2000 Klein/D (NJW 2001 213); verneinend 27. 2. 2000 Gast, Popp/D (NJW 2001 211). (547)

40 41

42 43 44

N J W 2001 2701. Vgl. E G M R 11.9.2001 Talirz/Ö (ÖJZ 2002 619) unzulässig, da Rechtsweg nicht genutzt. In den zahlreichen Fällen wegen der Verletzung des Beschleunigungsgebots in Italien weist der E G M R auch die bereits bei ihm anhängigen Sachen wegen der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtsbehelfs ab, obwohl dieser dort erst nachträglich geschaffen wurde; vgl. Breuer E u G R Z 2004 445, 446. Meyer-Ladewig NJW 2001 2679. Vgl. Grabenwarter § 24 Rdn. 118. So Gimbel Z R P 2004 35; vgl. auch

Meyer-Ladewig

21. 45

Ablehnend zur Frage einer solchen Beschwerde (etwa als neuen § 17c GVG) Gimbel Z R P 2004 35;

Walter Gollwitzer

6e

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

die Verfahrensbeschleunigung anmahnender Zwischenrechtsbehelf durch die Einschaltung einer weiteren Instanz die Erledigung der Hauptsache meist weiter verzögert 46 , ohne die Beschwer durch die bereits eingetretene überlange Verfahrensdauer aus der Welt schaffen zu können; lediglich ihre Fortdauer kann verkürzt und die Notwenigkeit einer Kompensation aufgezeigt werden. Im übrigen könnte wegen der Unabhängigkeit des erkennenden Gerichts eine die Beschleunigung anmahnende Zwischenentscheidung die zuständige richterliche Instanz weder in ihrer sachlichen Entscheidung noch auch bei der Ermittlung der dafür erforderlichen Grundlagen beeinflussen; sie könnte allenfalls eng begrenzt auf einzelne Aspekte der Verfahrensgestaltung einwirken und im übrigen höchstens eine nicht das Verfahrensergebnis berührende Kompensation für die Verzögerung durch die Rechtsverletzung in die Wege leiten. 6f

e) Die Nachprüfung der nationalen Gesetze auf ihre Konventionsgemäßheit fordert und ermöglicht Art. 13 M R K nach der vorherrschenden Meinung nicht. Er geht nicht so weit, daß er auch einen Rechtsbehelf verlangt, mit dem Gesetze vor einer innerstaatlichen Instanz, etwa einem Verfassungsgericht, mit der Begründung angegriffen werden könnten, sie stünden mit der Konvention nicht im Einklang 47 . Für Regelungen unterhalb des Ranges formeller Gesetze muß dagegen die Nachprüfung durch einen nationalen Rechtsbehelf möglich sein 48 .

7

3. Keine allgemeine Rechtsschutzgarantie. Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR gewährleisten ein Recht auf innerstaatlichen Rechtsschutz nur bei einer (vertretbar behaupteten) Verletzung eines anderen Konventionsrechts49. Sie sind streng akzessorisch und begründen keinen zusätzlichen, vom Schutz konkreter Konventionsgarantien gelösten eigenständigen Rechtsbehelf. Sie verweisen auf das nationale Recht, dem sie grundsätzlich die Regelung überlassen. Es ist primär eine innerstaatliche Angelegenheit, in welcher Form und bei welcher Stelle der von den Konventionen geforderte wirksame Rechtsbehelf („remedy", „recours") geltend gemacht werden kann, um den materiellen Inhalt der Konventionsgarantien innerstaatlich durchzusetzen 50 . Die deutsche Übersetzung mit „Beschwerde" ist nicht im technischen Sinn des gleichnamigen Rechtsmittels des deutschen Verfahrensrechts zu verstehen 51 . Eine bestimmte Form oder Ausgestal-

Vorwerk JZ 2004 553. Zur Problematik der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten in Deutschland, die von der Geltendmachung der Verfahrensverzögerung im anhängigen Strafverfahren, der Untätigkeitsbeschwerde in anderen Verfahren bis zur Verfassungsbeschwerde und zur Schadensersatzklage reichen, vgl. Meyer-Ladewig 22 bis 26, ferner Gundel DVB1 2004 17; 21 ff; Vorwerk JZ 2004 553 ff. Zur Regelung in Österreich und in anderen Mitgliedstaaten vgl. Meyer-Ludewig 21 ff, ferner oben Fußn. 36. 46

47

Dies kann anders sein, wenn Fälle jahrelang liegen geblieben sind; hier fragt sich aber, ob bei chronisch überlasteten Gerichten die angemahnte Beschleunigung mit der Verzögerung anderer Verfahren erkauft wird. Vgl. Meyer-Ladewig NJW 2001 2679. E G M R 26. 3. 1985 X & Y/N dl (EuGRZ 1985 297); 21.2.1986 James/GB (EuGRZ 1988 341); 26.3. 1987 Leander/Schwed (Series A 116); 8.7.1986 Lithgow/GB (EuGRZ 1988 350); 9.12.1994 Holy Monasteries/Griech (ÖJZ 1995 428); 26.10.2000 Kudla/Polen (NJW 2001 2694); Frowein/Peukeri 8;

TntKommEMRK/Sc/m'e/re)· 79 ff. Meyer-Ladewig 16; Villiger HdB 647; anders Grabenwarier § 24 Rdn. 116, der es für konsequent hält, auch bei einem Konventionsverstoß des Gesetzgebers dem Betroffenen das Recht auf ein Normenkontrollverfahren einzuräumen. 48 Vgl. EGMR 25.3.1983 Silver u. a./GB (EuGRZ 1984 147); 28. 5. 1985 Campbell, Fell/GB (EuGRZ 1985 534); 28. 5. 1985 Abdulaziz, Cabales, Balkandi/GB (EuGRZ 1985 567: Immigrationsrule), Grabenwarier § 24 Rdn. 116; zu der strittigen Frage vgl. Berhardt Sondervotum EuGRZ 1985 575; Matscher FS Seidl-Hohenveldern 333; TntKommEMRK/ Schweizer 79. 49 IntKommEMRKlSchweizer 9 (als Grundrecht ausgestaltete Verfahrensgarantie); Villiger HdB 647; vgl. Rdn. 4. 5" EGMR 8.7.1986 Lithgow (EuGRZ 1988 350); Meyer-Goßner47 1; Schorn 8; Nowak 56; vgl. auch BGHSt 20 86. 51 Vgl. Grabenwarier § 24 Rdn. 114 (Begriff ist autonom zu interpretieren); Nowak 62 Fußn. 164.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

tung des Rechtsbehelfs wird von Art. 13 M R K nicht vorgeschrieben; er muß auch nicht zu einem Gericht führen 5 2 . Bei Art. 2 Abs. 3 IPBPR wird dies bereits durch den Wortlaut klargestellt, der ausdrücklich die verschiedenen Staatsorgane, zu denen der Rechtsbehelf führen kann, nebeneinander aufführt und der im übrigen nur die Staaten verpflichtet, für den Ausbau eines langfristig angestrebten gerichtlichen Rechtsschutzes zu sorgen (Buchst, b). Bei beiden Konventionen muß der Betroffene grundsätzlich sein Beschwerderecht im Rahmen der ihm vom nationalen Recht eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten ausüben können. Zur Schaffung einer solchen Möglichkeit sind die Mitgliedstaaten durch Art. 13 M R K und Art. 2 Abs. 3 IPBPR verpflichtet. D a sie nicht gehalten sind, die Konventionen als solche in das innerstaatliche Recht zu inkorporieren 5 3 , genügt es, wenn das jeweilige nationale Rechtsschutzsystem den Weg eröffnet hat, die Verletzung gleichartiger innerstaatlicher Rechte zu rügen, sofern und soweit diese die Konventionsverbürgungen der Substanz nach umfassen 54 . Erforderlich ist nur, daß die angerufene Stelle auch insoweit ausreichende Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse hat und in sachlicher Unabhängigkeit den fraglichem Vorgang inhaltlich überprüfen und gegebenenfalls angemessene Abhilfe in die Wege leiten kann 5 5 . Art. 2 Abs. 3 IPBPR ist seinem Wortlaut nach eine Staatenverpflichtung, so daß zwei- 8 felhaft sein könnte, ob der einzelne einen Anspruch daraus herleiten kann; dies wird aber überwiegend bejaht 5 6 . Für die Bundesrepublik ist die Frage ohne praktische Bedeutung, da das bestehende nationale Rechtsschutzinstrumentarium weit umfangreicher ist als die Konventionen erfordern 5 7 ; außerdem ergibt sich ein solches Recht des Einzelnen auch aus Art. 13 M R K . Art. 13 M R K begründet, ungeachtet seiner Ausfüllungsbedürftigkeit durch natio- 9 nales Recht, auch ein Individualrecht58. Auf dieses kann sich in den Staaten, die die Konvention ins innerstaatliche Recht transformiert haben 59 , jedermann gegenüber den nationalen Stellen unmittelbar berufen. Wenn allerdings das nationale Verfahrensrecht im konkreten Fall keinen wirksamen Rechtsbehelf vorsieht, mag es fraglich sein, ob dann die innerstaatliche Umsetzung stets an der Unzulänglichkeit des nationalen Rechts scheitert 60 . Es erscheint vertretbar, in solchen Fällen unter Hinweis auf die unmittelbare Geltung des Art. 13 M R K kleinere gesetzestechnisch und nicht prinzipiell bedingte Rechtsschutzlücken durch analoge Heranziehung bestehender Rechtsbehelfsregelungen einschließlich der dort vorgesehenen Zuständigkeiten auszufüllen, um das innerstaatlich bestehende Recht auf Überprüfung zu verwirklichen 61 . 52

«

55 56

57

Vgl. E G M R 26. 3. 1987 Leander/Schwed (Series A 116); 15.11.1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 432): 20. 6. 2003 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); GrubenKarter § 25 Rdn. 114; ferner Rdn. 2; 20. Ferner etwa EGMR 6. 2.1976 Svenska Lokmannaförbundet/Schwed (EuGRZ 1975 562), dazu Fahlbeek EuGRZ 1976 476; 8.7. 1986 Lithgow/GB (EuGRZ 1988 350); 27.11. 1992 Olsson (2)/Schwed (ÖJZ 1993 353); 28. 10. 1994 Murray/GB (EuGRZ 1996 587). IntKommEMRK/Se/mrfe«· 14 mit weit. Nachw.

58

EGMR 18. 1.1978 Irland/GB (EuGRZ 1979 149); 8. 7. 1986 Lithgow/GB (EuGRZ1988 350); Froweinl Fenken 11; Grabenwarter § 24 Rdn. 115. Wegen der Einzelheiten vgl. Rdn. 20. Bejahend Nowak 2, 3; vgl. IIofmann S. 25; Partsch EuGRZ 1989 1; ferner zur ähnlichen Rechtslage bei der AMRK Buergenthal EuGRZ 1984 170. Vgl. Ilofmann S. 26.

60

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59

61

IntKommEMRK/Sc/nn'feer 10; Schorn 6. Die Absicht, nur eine Staatenverpflichtung zu begründen, hat sich bei den Vertragsverhandlungen nicht durchgesetzt, vgl. FroweinlPeukert 1; Guradze 1, 3. Eine Pflicht zur Transformation folgt daraus aber nicht, vgl. etwa EGMR 27. 9. 1999 Smith & Grady/ GB (NJW 2000 2089); vgl. FrmveinlFenken 11; IntKommEGMRASV/mWzf'r 13; Meyer-Ladewig 8. Zur Rechtslage in den Staaten, in denen die M R K kein innerstaatliches Recht ist, vgl. Villiger HdB 652 und Rdn. 21. Vgl. EKMR DÖV 1959 743; VfGH RheinlandPfalz NJW 1959 1628; BGHSt 20 68; Münch JZ 1961 154 (nicht selfexecuting); Meyer-Goßner47 1. Vgl. IntKommEMRK/Se/nrrfz«· 11, 12 zum Wandel der Rechtsprechung in Österreich und der Schweiz in Richtung einer unmittelbaren Anwendbarkeit, Villiger HdB 653.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

In der Bundesrepublik eröffnet Art. 19 Abs. 4 G G in Verbindung mit den Verfahrensordnungen aller Gerichtszweige, nicht zuletzt dank der Generalklausel der Verwaltungsgerichtsbarkeit, bei allen Konventionsverletzungen grundsätzlich den Weg zu den Gerichten. Er gibt den Betroffenen einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle, die nicht durch eine zu enge Auslegung und Anwendung prozessualer Regeln leer laufen darf 6 2 . Dies ist gilt auch bei erledigten Grundrechtseingriffen, wenn trotz deren prozessualer Überholung ein rechtliches Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Eingriffes besteht 63 . Soweit die Konventionsrechte mit Grundrechten übereinstimmen, können auch das Bundesverfassungsgericht und vielfach auch die Landesverfassungsgerichte angerufen werden 64 . Damit ist auch den Forderungen des Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 Buchst, a, b IPBPR genügt 65 . Zwar kann aus keinem dieser Vertragsbestimmungen eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten hergeleitet werden, bei Verletzungen der Konventionsrechte zusätzlich einen Weg zu einem Verfassungsgericht zu eröffnen 6 6 . Ermöglicht jedoch das nationale Recht, die Verletzung eines Konventionsrechts oder einer gleichgerichteten innerstaatlichen Verfassungsverbürgung bei einem Verfassungsgericht geltend zu machen, muß auch dieser innerstaatliche Rechtsbehelf nach Art. 35 Abs. 1 M R K ausgeschöpft werden, bevor der E G M R mit der Sache befaßt werden darf 6 7 . 4. Verletzung der in den Konventionen festgelegten Rechte und Freiheiten

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a) Nur wenn die Verletzung von Konventionsrechten plausibel geltend gemacht werden können, muß dem davon Betroffenen (Verletzter) ein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehen. Wer als Verletzter in Betracht kommt und damit nach Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR Anspruch auf einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf hat, richtet sich danach, ob die konkrete staatliche M a ß n a h m e ihn selbst beschwert, er selbst also ihr Opfer ist, weil sie in ein bestimmtes, ihm selbst durch die Konvention verbürgtes eigenes Recht eingreift 68 . Dies können auch Kinder oder nicht voll geschäftsfähige Personen sein 69 .

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Die akzessorische Verfahrensgarantie des Art. 13 M R K besteht nie für sich allein, sondern immer nur im Zusammenhang mit der konkreten Verletzung eines anderen Konventionsrechtes70. Die Behauptung eines Verstoßes gegen Art. 13 M R K muß daher immer auch das Konventionsrecht mit anführen, dem mit der Beschwerde innerstaatlich zur Geltung verholfen werden soll 71 . Soweit ein Staat ein bestimmtes Konventionsrecht nur mit Vorbehalte anerkannt hat, gewährleistet Art. 13 M R K die Nachprüfung des jeweiligen Konventionsrechts auch nur mit den sich aus diesem Vorbehalt ergebenden Einschränkungen 72 .

Vgl. etwa BVerfGE 97 27, 39; 100 313, 364; 101 397, 407. Vgl. BVerfGE 96 27 = JR1992 328 mit Anm. Amelung; ferner etwa Meyer-Goßner47 Vor § 296, 18a; LR-Matt Vor § 304 StPO, 68 ff, beide mit weit. Nachw. Vgl. BVerfG (Kammer) EuGRZ 1985 655 (Pakeiii). Wegen des Sonderfalls des 10 Abs. 2 GG vgl. Rdn. 20.

EGMR 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 527); 21.2. 1986 James/GB (EuGRZ 1988 341); EKMR DÖV 1959 743; VfGH Rheinland-Pfalz NJW 1959 1628; Meyer-Ladewig 16;

Morvay ZaöRV 21 (1961) 105; Schorn 15; ferner Dörr 92 (Transformation begründet keine Zuständigkeit des BVerfG). 67 Vgl. Art. 35 Abs. 1 M R K . 68 Vgl. Art. 1 Rdn. 8 ff; Art. 34 M R K . 69 Vgl. etwa EGMR 25.2. 1992 Andersson Μ & R/ Schwed (ÖJZ 1992 552); IntKommEMRK/Se/m-rfzer 16, 17 (auch zur Prozeßfahigkeit Minderjähriger). ™ FroKeinlPeukert 1; TntKommEMRKASVAiveirer 36, 37; Matscher FS Seidl-Hohenveldern 319. 71 l'roweinl Peukert 1. 72 TntKommEMRK/Sc/m-e/re)· 24.

Stand: 1.10.2004

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Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

Zu den Konventionsrechten zählen die im 1. Abschnitt der M R K aufgenommenen Rechte, ferner, soweit der jeweilige Staat ihnen beigetreten ist, auch die Rechte und Freiheiten, die sich aus den Zusatzprotokollen ergeben. Ebenso wie andere Konventionsbestimmungen ist Art. 13 M R K auch bei diesen anwendbar. Auf andere Rechte und Freiheiten erstreckt sich seine Garantie auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht, mögen diese auch im jeweiligen Staat verfassungsrechtlich gewährleistet sein oder sich aus anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen ergeben.

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Auch Art. 2 Abs. 3 IPBPR ist akzessorisch 73 ; das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs kann ebenfalls nur im Hinblick auf eine Beeinträchtigung bei Ausübung eines bestimmten Konventionsrechts nach Art. 6 bis 27 IPBPR beanstandet werden 74 .

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b) Nur bei der Konventionsverletzung durch einen zu ihrer Beachtung verpflichteten Träger der öffentlichen Gewalt wird ein Rechtsbehelf garantiert 7 5 , nicht aber für Ansprüche zwischen Privaten. Wenn der Wortlaut des Art. 13 M R K ausdrücklich hervorhebt, daß dies auch gilt, wenn Personen die Verletzung in amtlicher Eigenschaft begangen haben, sollte damit nur Besonderheiten des englischen Rechts Rechnung getragen werden 76 . Diese für die kontinentaleuropäischen Rechtssysteme überflüssige Klarstellung darf deshalb nicht dazu verleiten, den Anwendungsbereich des Art. 13 M R K über die Bereiche der öffentlichen Gewalt hinaus auszudehnen 7 7 . Gleiches gilt für den entsprechenden Zusatz bei Art. 2 Abs. 3 Buchst, a IPBPR 7 8 . Zur Frage, ob Art. 13 auch bei Konventionsverstößen in einem gerichtlichen Verfahren einen gesonderten Rechtsbehelf fordert, vgl. Rdn. 6c.

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Bei konventionswidrigen Gesetzen fordert Art. 13 M R K nicht, daß im nationalen Recht eine abstrakte Anfechtungsmöglichkeit besteht 79 . Dies schließt nicht aus, daß vor Anrufung des E G M R zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs erforderlich ist, daß innerstaatlich auch ein Verfassungsgericht oder ein sonstiges, zur abstrakten Normenkontrolle befugtes Organ anzurufen ist, wenn die nationale Verfassung im wesentlichen übereinstimmende Grundrechte verbürgt oder wenn es ein dort der Konvention zuerkannter Übergesetzesrang erlaubt, deren Verletzung unmittelbar zu rügen. Den Anforderungen des Art. 13 ist jedoch schon genügt, wenn das nationale Recht eine Rechtsbehelfsmöglichkeit vorsieht, die die Nachprüfung des beanstandeten Vollzugsaktes mit dem Gesetz erlaubt 8 0 . Bei Normen im Range unterhalb der Gesetze wird gefordert, daß das nationale Recht einen dem Art. 13 genügenden Rechtsbehelf auch gegen die Regelung als solche eröffnet 8 1 . Art. 2 Abs. 3 IPBPR erfordert nicht, daß die Mitgliedstaaten eine Normenkontrollklage einführen 8 2 .

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Unabhängig davon ist auch die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung eines die Konventionsrechte inhaltlich umfassenden Grundrechtes eine wirksame Beschwerde im Sinne des Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR. Das Bundesverfassungsgericht geht bei

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Nowak U f f ; 56. UN-AMR bei Nowak 15; Nowak \3, 14. Morvay ZaöRV 21 (1961) 319; Schorn 2, 4. FroweinlPeukerl 5; IntKommI.VIRK/.S'ih wciicr 92; Grahenwarter § 24 Rdn. 116 (der ursprüngliche englische Text - „notwithstanding" - ist maßgebend; er erklärt sich daraus, daß im englischen Recht der Staat nicht ohne weiteres für seine Beamten haftet). Schorn 18. Zur Übernahme des britischen Entwurfs vgl. Nowak 9. E G M R 26.3.1987 Leander/Schweden (Series A 116), 21.2.1986 James/GB (EuGRZ 1988 341); (551)

8.7. 1986 Lithgow/GB (EuGRZ 1988 350); 21.2. 1990 Powell&Rayner/GB (ÖJZ 1990 418); 9.12. 1994 Holy Monasteries/Griech. (ÖJZ 1995 428); 26. 10. 2000 Kudla/Polen (NJW 2001 2694); E K M R nach E G M R 26. 3. 1985 X & Y/N dl. (EuGRZ 1985 297); FroweinlPeukerl 8; Meyer-Ladewig 16; Morvay ZaöRVR 21 (1961) 105; eingehend zu den verschiedenen Ansichten Int Komm I M R K/.SV/niv/rcr 79 ff. a. Α wohl Schorn 4. Vgl. Rdn. 6 b. IntKommEMRK/Sc/nn'feer 82. E G M R 28. 5. 1985 Abdulaziz, Cabales & Balkandali/GB (EuGRZ 1985 567 „Immigrations Rules"). Nowak 69.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

besonders tiefgreifenden und folgenschweren Grundrechtsverstößen trotz Erledigung vom Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses aus, wenn die direkte Belastung des Betroffenen sich auf eine Zeitspanne beschränkte, innerhalb der er eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach dem regelmäßigen Geschäftsgang nicht erlangen konnte 8 3 . 18

Wird die Verletzung der Konvention erst durch die Entscheidung eines Konventionsorgans, etwa des E G M R , festgestellt, so fordert Art. 13 M R K nicht, daß das nationale Recht die Wiederaufnahme des rechtskräftig erledigten Verfahrens vorsehen muß 8 4 . In der Bundesrepublik hat der Gesetzgeber diese Möglichkeit aber jetzt für das Strafverfahren in § 359 Nr. 6 StPO eröffnet.

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c) Mit vertretbaren Argumenten („arguable claim") muß die Verletzung eines Konventionsrechts, derentwegen das Rechtsbehelfsrecht nach Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR in Anspruch genommen wird, behauptet werden können. Um das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf auszulösen, muß die Behauptung nicht bereits erwiesen sein 85 . Der Sinn der Rechtsbehelfsgarantie liegt darin, dem einzelnen die Möglichkeit zu eröffnen, vor nationalen Organen die Tragweite seiner Konventionsrechte zu klären und sie gegebenenfalls durchzusetzen. Die Argumente, mit denen er dies versucht, müssen vertretbar sein; das Vorliegen der Verletzung eines Konventionsrechts muß also bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls immerhin denkbar sein 86 . Unerheblich ist dann, ob sie sich im Endergebnis als begründet erweist. Bei der notwendigen konkreten Würdigung kann auch ein sachlich unbegründetes Vorbringen noch als vertretbare Argumentation zu werten sein 87 . Nur offensichtlich unbegründete („manifestly ill-founded"), vor allem völlig unvernünftige oder abwegige Ableitungen, reichen nicht aus, um aus Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR einen Anspruch auf einen Rechtsbehelf herzuleiten 88 . Dies sollte aber nicht automatisch mit allen Fällen gleichgesetzt werden, in denen der E G M R nach Art. 35 Abs. 3 M R K eine Beschwerde mitunter nach längerer und eingehender Prüfung der Argumente im Endergebnis als „offensichtlich unbegründet und damit unzulässig" verwirft. In solchen Fällen können diese durchaus vertretbar im Sinne des Art. 13 M R K gewesen sein 89 .

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Vgl. BVerfGE 34 180; 41 43; 49 51; 96 27, 39; 100 313, 364; 101 397, 407 BVerfG (Kammer) NJW 1991 690 mit weit. Nachw. Vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuß) EuGRZ 1985 654 (Pakeiii); OLG Stuttgart Justiz 1985 177 je mit weit. Nachw.; strittig, vgl. Anhang Rdn. 76a ff. So aber zunächst E K M R vgl. Frowem/Peukeri 2; TntKommEMRK/Schweizer 39. EGMR 6. 9. 1978 Klass/D (EuGRZ 1979 278); 25. 3. 1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 26.3.1987 Leander/Schwed (Series A 116); 27.4. 1988 Boyle & Rice/GB (Series A 131); 21.2. 1990 Powell, Rayner (ÖJZ 1990 418, vgl. auch EuGRZ 1986 707); 25. 6. 1997 Halford/GB (ÖJZ 1998 311); 19. 2.1998 Kaya/ Turk; 28. 10.1999 Wille/Liechtenstein (NJW 2001 1195); 6.3.2001 Hilal/GB (ÖJZ 2002 436); vgl. auch EKMR EuGRZ 1977 422 (Mindermeinung Trechse! im Fall Klass); Frowem/Peukeri 2; Grabenwarler § 24 Rdn. 112, 113; Meyer-Ladewig 5; Malscher FS Seidl-Hohenveldern 320; Nowak 63. Etwa EGMR 27.4. 1988 Boyle & Rice/GB (Series A 131); 25.2.1992 Andersson ua/Schwed (ÖJZ 1992 552); 25.3.1993 Costello-Roberts/GB (ÖJZ

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1993 707); 16. 12. 1997 Camenzind/CH (ÖJZ 1998 797); 18.12.1996 Valsamis/Griech (ÖJZ 1998 114); TntKommEMRK/Sc/iit'e/re)· 40, Meyer-Ladewig 5. EGMR 21. 2. 1990 Powell u. a./GB (ÖJZ 1990 418); InlKommI.VIRK/.S'i7/irr/rr/ 20, 21; Meyer-Ladewig 6; Matscher FS Seidl-Hohenveldern 321. Vgl. Villiger HdB 655 ff, wonach sich Vertretbarkeit und (nachträglich festgestellte) Unbegründetheit nicht notwendig widersprechen, mit der Folge, daß trotz Abweisung des materiellen Konventionsverstoßes eine Verletzung des Art. 13 M R K festgestellt werden kann; ebenso Grabenwarier § 24 Rdn. 112. Bei der weiten Ausdehnung des Begriffs der offensichtlichen Unbegründetheit im Sinne des Art. 35 Abs. 3 MRK (vgl. Anhang Rdn. 53) kann dies u. U. sogar gelten, wenn der EGMR die Rüge eines materiellen Konventionsverstoßes als offensichtlich unbegründet verwirft (Grabenwarier § 24 Rdn. 113 unter Hinweis auf EKMR). Andererseits aber E G M R 21.2.1990 Powell, Rayner/GB (ÖJZ 1990 418), wo der Gerichtshof die Ansicht vertrat, daß die Schwelle der offensichtlichen Unbegründetheit so angesetzt werden müsse, daß sie auch für die Ver-

stand: 1.10.2004

(552)

Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

5. Wirksamer Rechtsbehelf a) Die Entscheidung einer nationalen Stelle über die Konventionsverletzung muß 2 0 jeder von ihr Betroffene nach Art. 13 M R K herbeiführen können. Notwendig ist ein effektiver Rechtsbehelf90, mit dem die Konventionsverletzung innerstaatlich beanstandet werden kann. D a f ü r genügt es, daß der Betroffene innerstaatlich die Möglichkeit zur Anrufung einer staatlichen Stelle hat. Ihm muß nicht notwendig das Recht auf Anrufung eines unabhängigen Gerichtes eingeräumt werden 91 . Die angerufene Stelle muß aber in der Lage sein, den Vorwurf der Konventionsverletzung ohne jede Vorbelastung 92 objektiv und sachlich unabhängig von anderen staatlichen Stellen 93 und vor allem auch von der für die Konventionsverletzung verantwortlichen Ausgangsbehörde 9 4 in absehbarer Zeit zu überprüfen, verbindlich festzustellen und dafür zu sorgen, daß einem von ihr festgestellten Verstoß abgeholfen und insgesamt eine konventionskonforme Lage hergestellt wird 95 . Dies setzt grundsätzlich voraus, daß die angerufene Stelle ausreichende Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse hat 9 6 und daß sie in der Lage ist, in sachlicher Unabhängigkeit von der Ausgangsbehörde 9 7 den fraglichen Eingriff unter allen konventionserheblichen Gesichtspunkten ungehindert inhaltlich zu überprüfen und bei Feststellung eines Verstoßes wirksame Abhilfe oder aber Kompensation (Aufhebung, Schadensersatz oder eine andere Form der Genugtuung) in die Wege zu leiten 98 . Nicht notwendig ist, daß sie den belastenden Akt selbst aufheben kann. Es kann auch genügen, daß sie nur die Rechtswidrigkeit des belastenden Aktes feststellt oder sonst eine innerstaatliche Maßnahme auslöst, die die Konventionsverletzung und ihre Folgen neutralisiert oder durch Schadensersatz oder einer anderen Form der Genugtuung ausgleicht 99 . Bei welcher nationalen Stelle das über die Beschwerde entscheidende nationale Organ 2 0 a errichtet wird, ist unerheblich, ebenso die Form, in der es entscheidet. Dies ist den einzelnen Vertragsstaaten überlassen 991 . Diese können auch darüber befinden, ob der nationale Rechtsbehelf darauf gerichtet sein soll, den Konventionsverstoß soweit möglich

tretbarkeit eines Anspruchs gilt; ähnlich EGMR 21.6.1988 Plattform Ärzte für das Leben/Ö (EuGRZ 1989 522), Meyer-Ladewig 6 stimmt dem .. I'llr den Regelfall" zu; Bedenken dagegen bei FroweinlPeukerl 2; vgl. auch EGMR 27.4.1988 Boyle, Rice/GB (Series A 131); Grabenwarter § 24 Rdn. 113 unter Hinweis auf die unterschiedliche Beurteilung von E K M R und E G M R 21.6. 1988 in Fall Plattform „Ärzte für das Leben"/Ö (EuGRZ 1989 522). 90

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Etwa E G M R 7.7.1989 Soering/GB (NJW 1990 2183); Frowein/Peukert 3; h. M. EGMR 6.9.1978 Klass/D (EuGRZ 1977 419); 25.3.1982 Silver/GB (EuGRZ 1984 149); 15.11. 1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 432): 20. 6. 2003 AlNashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); OVG Münster NJW 1956 1374; FroweinlPeukerl 3; Guradze 4; IntKommEMRKI Schweizer 88 ff; Morvay ZaöRV 21 (1961) 101 mit Nachw. zum Streitstand; ferner Rdn. 2. Verneinend EGMR 25. 3. 1982 Silver/GB (EuGRZ 1984 147, wo selbsterlassene Vorschriften überprüft werden sollten); FroweinlPeukerl 4. Vgl. EGMR 12. 5. 2000 Khan/BG (ÖJZ 2001 654); 25. 9. 2001 Ρ G, J H/GB (ÖJZ 2002 911: Abhängigkeit der Mitglieder der Police Complaints Authority vom Secretary of State).

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E G M R 19. 12.1994 Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs & Gubi/Ö (ÖJZ 1995 314), vgl. ferner E G M R 12. 5. 2000 Khan/GB (ÖJZ 2001 654); IntKommEMRK/Se/iin'fe«· 65. TntKommEMRKASVAitf izer 57. Dazu Rdn. 21. Etwa EGMR 25.3. 1983 Silver u.a./GB (EuGRZ 1984 147). Etwa E G M R 25.3. 1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 6.9. 1978 Klass/D (EuGRZ 1977 419); 4, 5. 2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74); 20. 6. 2003 AlNashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); 28.1.2003 Peck/GB (ÖJZ 2004 651 verneinend für Medienkommission; die keinen Schadensersatz zusprechen kann); vgl. ferner FroweinlPeukerl 3, 6; Grabenwarter § 24 Rdn. 114; Meyer-Ladewig 15; Nowak 61 je mit weit. Nachw.; Volkert JZ 2002 553, 557. Zur Problematik einer nur bei abgeschlossenem Verfahren greifenden Entschädigungslösung bei Verfahrensverzögerungen Gundel DVB1 2004 17, 26. Vgl. Rdn. 26. Etwa E G M R 30.10.1991 Vilvarajah/GB (ÖJZ 1991 309); 28.1.2003 Peck/GB (ÖJZ 2004 651).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

noch im laufenden Verfahren zu beheben 99b oder ob er sich in allen Fällen nur auf die Feststellung der Konventionsverletzung und deren Kompensation durch eine entsprechende Entschädigung beschränken soll 99c . Wie Art. 2 Abs. 3 Buchst, b IPBPR verdeutlicht, kommen je nach der konkreten Ausgestaltung ihrer Prüfungsbefugnisse und Abhilfemöglichkeiten neben den Gerichten auch andere verwaltungsinterne oder bei der Legislative angesiedelte Kontrollinstanzen in Betracht, wie etwa parlamentarische Ausschüsse, sofern diese zumindest faktisch verbindliche Entscheidungen treffen oder herbeiführen können 100 . Bei einem Ombudsmann wurde dies verneint 101 . Der Beschwerdeführer muß ferner vor der angerufenen Stelle mit seinen Argumenten hinreichend Gehör finden können. Diese muß in der Lage sein, in absehbarer Zeit 102 und mit hinreichender sachlicher Distanz und Unabhängigkeit unbehindert durch Handlungen oder Unterlassungen anderer Stellen 103 die behauptete Verletzung eines Konventionsrechts zu überprüfen und darüber zu entscheiden. Deshalb darf sie an der Maßnahme, in der eine Verletzung der Konventionsrechte gesehen wird, nicht selbst beteiligt gewesen sein, etwa dadurch, daß sie die beanstandeten Vorschriften selbst erlassen hat 104 . Ob im übrigen Aufsichtsbeschwerden an den zuständigen Minister ausreichen oder ob bei diesem die Unbefangenheit gegenüber seinen nachgeordneten Stellen nicht durchweg gesichert erscheint, ist strittig 105 . Bei der Vielzahl der hier hereinspielenden Umstände und Gestaltungsmöglichkeiten wird man auf den Einzelfall und die gesamten Gegebenheiten des jeweiligen nationalen Rechtsschutzsystems, vor allem auf die Stellung und Befugnisse der tatsächlich entscheidenden Organe sowie auf den Grad ihrer Unabhängigkeit im konkreten Fall abstellen müssen, ferner auch auf die Zugangsmöglichkeiten und Verfahrensgarantien, die das im konkreten Fall Platz greifende nationale Verfahren gewährt 106 . Maßgebend dürfte immer sein, ob die angerufene Stelle zur sachlichen Prüfung befugt ist, ob sie sich nach objektiven Kriterien und unbeeinflußt von den anderen Staatsorganen alsbald 107 mit der Sache befassen, eine etwaige Konventionsverletzung feststellen und bei deren Vorliegen für Abhilfe oder eine angemessene Kompensation sorgen kann 1 0 8 . Ein wirksamer Rechtsbehelf liegt nicht vor, wenn es dem Ermessen einer politischen Instanz überlassen bleibt, ob es einer Konventionsverletzung abhelfen will 109 . Er fehlt

"» Zu dieser Tendenz vgl. BVerfGE 108 341, wo gefordert wird, daß die Verstöße gegen das Recht auf Gehör bereits im Bereich der Fachgerichtsbarkeit bereinigt werden müssen, wobei dem Gesetzgeber freigestellt wird, ob er diese Aufgabe der gleichen Instanz oder aber der nächsthöheren überträgt. Vgl. etwa BienlGuillaumonl EuGRZ 2004 451 (Deutschland/Frankreich) und zur Regelung in Italien durch das Gesetz vom 24.3.2001 Breuer EuGRZ 2004 445, 446, zu den Abhilfemöglichkeiten in anderen Eändern vgl. die Nachw. Fußn. 36. '»" Vgl. EKMR bei FroweinIPeukert 3; IntKommEMRK/ Schweizer 60, 77; ferner Nowak 58 ff; insbes. auch 60, wonach in bestimmten Fällen sogar im Erlaß eines Amnestie- oder Wiedergutmachungsgesetzes ein wirksamer Rechtsschutz gegen vorangegangene Maßnahmen gesehen wurde. 101 E G M R 10. 5. 2001 Τ Ρ & Κ Μ /GB (ECHR 2001V); Meyer-Ludewig 15. 102 Vgl. Nowak 56. 103 EGMR 27. 6. 2001 Salman/Türkei (NJW 2001 2001) mit weit. Nachw. 104 EGMR 25. 3. 1985 Silver/GB (EuGRZ 1984 147).

11,5

E G M R 28.6.1984 Campell & Fell/GB (EuGRZ 1985 545) sieht dies als ausreichend an, dagegen FroweinIPeukert 4. TntKommEMRK/.S'c/m'ei'rc-r 60. Nowak 59 schließt aus der Entstehungsgeschichte des IPBPR, daß die Entscheidung durch politische Organe, wie Regierungen, als wirksamer Rechtsschutz nicht ausreicht. ™ EGMR 29. 10. 1992 X/GB (EuGRZ 1982 106); 25.4.1983 Van Droogenbroeck/B (EuGRZ 1984 12); 25.3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 16.2.2000 Amann/CH (ÖJZ 2001 71); 28.1.2003 Peck/GB (ÖJZ 2004 651); vgl. auch die nachfolgende Fußn. 11,7 Vgl. EGMR 19. 12. 1994 Vereinigung Demokratischer Soldaten Österreichs & Gubi/Ö (ÖJZ 1995 314); Kein wirksamer Rechtsbehelf, wenn angerufenes Ministerium ein halbes Jahr nach Gesuch nicht tätig geworden ist. 1118 Vgl. etwa E G M R 25. 3. 1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); Nowak (>\. 11,9 TntKommEMRK/Sc/m-e/re)· 73; FroweinIPeukert 3; Nowak 57.

Stand: 1.10.2004

(554)

Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

auch, wenn die Anfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes (Ausweisung ) aus Gründen der nationalen Sicherheit im Gesetz überhaupt nicht vorgesehen ist 110 . b) Eine ausreichende Prüfungskompetenz der entscheidenden Stelle ist für einen wirksamen Rechtsbehelf unerläßlich. Sie muß sich auf alle für die Beachtung der Konventionsgarantien wesentlichen Umstände erstrecken. Soweit Verfehlungen staatlicher Stellen als Ursache für die Konventionsverletzung in Frage kommen, muß sie den Sachhergang und die dafür Verantwortlichen gründlich und wirksam selbst ermitteln können 111 . Die Nachprüfung muß die „Substanz der behaupteten Konventionsverletzung" umfassen. Dazu gehört grundsätzlich auch, daß die nachprüfende Stelle die dafür wesentlichen Sachfragen selbst beurteilen und in sachlicher Unabhängigkeit selbst darüber entscheiden kann 1 1 2 . Eine nationale Instanz, die nicht überprüfen darf, ob der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach und verhältnismäßig war, genügt dieser Anforderung nicht" 3 . Gleiches gilt, wenn sie wegen des weiten Ermessensspielraums der Verwaltung von der Überprüfung absieht 114 . Ob ein Gericht noch den Anforderungen des Art. 13 genügen kann, das eine Entscheidung nur daraufhin überprüft, ob sie „rechtswidrig, willkürlich, unvernünftig oder mit Verfahrensmängel behaftet ist" 115 , wurde unterschiedlich beurteilt 116 . Unter Hinweis auf den Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers wurde eine darauf beschränkte Überprüfung in einigen Fällen für ausreichend gehalten 117 . Ob eine solche inhaltlich beschränkte („reasonableness") Prüfungskompetenz 118 in bestimmten Fällen ausreicht, ist zweifelhaft; bei der Gefahr schwerwiegender Folgen für den Betroffenen (Abschiebung, drohende Folter) wurde dies verneint 119 . Bei einer unabhängigen Kommission, die geheime Uberwachungsmaßnahmen nachprüft, hat der E G M R dagegen eine Überprüfung „so wirksam als möglich" als ausreichend angesehen 12°. Die Anforderungen, die an den Umfang der Nachprüfungskompetenz gestellt werden, hängen auch davon ab, welches faktische Gewicht eine solche Kontrolle nach der jeweiligen nationalen Übung hat, ferner aber auch von der Schwere der jeweiligen Konventionsverletzung und sonstigen Besonderheiten des Einzelfalls. In

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EGMR 20. 6. 2002 Al-Nashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); l'roweiniPeukert 4. Vgl. Meyer-Ladewig 11 und die dort angeführten Entscheidungen des EGMR. Etwa E G M R 25.3. 1983 Silver u.a./GB (EuGRZ 1984 147); 26. 3. 1987 Leander/Schwed (Serie A 116); Grabenwarter § 24 Rdn. 114; Meyer-Ladewig 15. EGMR 27.9. 1999 Smith, Grady/GB (NJW 2000 2089); Meyer-Ladewig 14. EGMR 26.10.2000 Haasan, Tchaouch/Bulg. (ECHR 2000-X1); Meyer-Ladewig 14. „Illegality, irrationality or procedural inpropriety". Für das Verfahren der „judicial review" hat die EKMR dies verneint, der EGMR dies aber bejaht, so 7. 7.1989 Soering/GB (NJW 1990 2183); 30. 10. 1991 Vilvarajah/GB (NVwZ 1992 869), 6.3.2001 Hilal/GB (ÖJZ 2002 436), verneinend 15. 11. 1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 632). Zu diesen Verfahren vgl. Frowein/Peukerl 3; IntKommI.VIRK/.S'ihwciicr 69; Meyer-Ladewig 14. EGMR 7.7. 1989 Soering(NJW 1990 2183); 30. 10. 1991 Vilvarajah u.a./GB (ÖJZ 1992 309); zum auf dieser Linie liegenden britischen Habeas corpus Verfahren vgl. Art. 5 M R K Rdn. 110; 122. Vgl. EGMR 30.10.1991 Vilvarajah (NVwZ 1992

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869); aber auch 15.11. 1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 632); Gerichtliche Überprüfung nur, ob Entscheidung mit „Irrationalität, Rechtswidrigkeit oder Verfahrensfehlern belastet" war, reicht nicht; ferner etwa E G M R 2. 10. 2001 Hatton/GB (ÖJZ 2003 71); Meyer-Ladewig 14. Vgl. l-'roweinlPeukert 3 unter Hinweis auf die EGMR 7. 7.1989 Soering (NJW 1990 2183); ferner auch EGMR 6. 2. 2003 Mamatkulow, Abdurasulovic/Türk (EuGRZ 2003 704); vgl. Meyer-Ladewig 11 ff. E G M R 26. 3.1987 Leander/Schwed (Series A 116); 6.9.1978 Klass/D (EuGRZ 1977 419) Eingriffe nach Art. 8 und 10 MRK, in denen die nationale Sicherheit die Preisgabe sensibler Informationen nicht erlaubte; femer 30.10.1991 Vilvarajah (NVwZ 1992 869); anders E G M R 15.11. 1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 632: strengere Anforderungen zumindest bei Gefahr irreversibler Schäden - Art. 3 M R K bei Ausweisung); ähnlich EGMR 11.7. 2000 Jabari/ Türk (ÖJZ 2002 37); Grabenwarter § 24 Rdn. 116 (Reichweite der Nachprüfungspflicht abhängig von dem jeweilig geltend gemachten Konventionsrecht); Meyer-Lädewig 12.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Angelegenheiten, die die nationale Sicherheit und die Geheimhaltungsinteressen des Staates betreffen, wurde es als genügend angesehen, daß diese von der beauftragten Stelle „so weit wie nach den (besonderen) Umständen möglich" („as effective as can be") überprüfbar sind, wobei allerdings mit der Schwere des Konventionsverstoßes auch die Anforderungen an die Nachprüfung steigen 121 . Bei Eingriffen in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Abs. 2 G G wurde die Entscheidung des unabhängigen Kontrollausschusses als ausreichend erachtet 122 . Vor allem, wenn Erwägungen der nationalen Sicherheit die Preisgabe sensibler Daten nicht erlauben, hielt der E G M R es für ausreichend, daß der Rechtsbehelf so wirksam als möglich war 123 . In einer späteren Entscheidung hat er dies dahin erläutert, daß diese Fälle Verbürgungen der Art. 8 oder 10 M R K betrafen, die durch die Belange der nationalen Sicherheit eingeschränkt werden können. Bei Verstößen gegen Konventionsgarantien, die wie Art. 3 M R K , keiner Einschränkung zugänglich sind, liegt dagegen ein wirksamer Rechtsbehelf nur vor, wenn der angerufenen nationalen Stelle die Nachprüfung aller konventionserheblichen Gesichtspunkte in einem Verfahren mit ausreichenden prozeduralen Garantien möglich ist 124 . Die nach Art. 13 M R K zuständige Stelle muß über die Abhilfe einer von ihr festgestellten Konventionsverletzung selbst entscheiden können, sei es, daß sie die gegen die Konvention verstoßende Entscheidung aufhebt 1 2 5 , sei es daß sie dem Betroffenen Schadensersatz oder eine andere Form der Genugtuung gewährt 126 . Den Anforderungen des Art. 13 M R K ist in keinem Fall genügt, wenn eine Stelle, welche keine eigene Entscheidungsbefugnis hat, sich nur in beratender Funktion äußert oder nur eine nicht bindende Empfehlung abgeben kann 1 2 7 . Nur wenn in der Praxis des jeweiligen Staates die Meinung dieser Stelle so gut wie immer befolgt wird, kann deren Anrufung genügen; maßgebend für die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs ist letztendlich, ob er bei Vorliegen einer Konventionsverletzung tatsächlich zum Erfolg führt 1 2 8 . 21 a

Der E G M R hat auch im Zusammenspiel mehrerer Rechtsschutzmöglichkeiten, die für sich allein den Anforderungen des Art. 13 nicht genügten, einen insgesamt ausreichenden innerstaatlichen Rechtsschutzmechanismus gesehen 129 . Erforderlich ist allerdings, daß die Gesamtschau ergibt, daß sich diese Rechtsschutzmechanismen gegenseitig so ergänzen, daß sie in der Zusammenschau einen vollwertigen Rechtsschutz bewirken 130 .

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Etwa EGMR 15.11.1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 632). JntKommEMRK/Se/mWz«- 84 ff. E G M R 6. 9. 1978 Klass/D (EuGRZ 1979 278). Vgl. ferner E G M R 4. 5. 2000 Rotaru/Rum. (ÖJZ 2001 74: bei geheimer Überwachung objektiviertes Überwachungssystem ausreichend). EGMR 6. 8. 1978 Klass/D (NJW 1979 1755); 26. 3. 1987 Leander/Schwed (Series A 116); ferner auch 30. 10. 1991 Vilvarajah/GB (ÖJZ 1992 309). E G M R 15. 11. 1996 Cahal/GB (ÖJZ 1997 632: zu Art. 5 Abs. 4 MRK); vgl. auch EGMR 27. 9. 1999 Smith & Grady/GB (NJW 2000 2089); 2. 10.2001 Hatton ua/GB (ÖJZ 2002 72: Fluglärm; Art. 8 M R K Beschränkung auf Rechtswidrigkeit, Irrationalität und offensichtliche Unangemessenheit zu eng); in E G M R 30.10. 1991 Vilvarajah/GB (ÖJZ 1992 309) wurde dagegen bei Art. 3 M R K noch die eingeschränkte Nachprüfung für ausreichend gehalten; vgl. Meyer-Ladewig 14 mit weit. Nachw.

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Etwa EGMR 25.3. 1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 6.9. 1978 Klass/D (EuGRZ 1977 419); 4.5. 2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74); 20.6.2003 AlNashif/Bulg (ÖJZ 2003 344); FroweinlPeukerl 3, 6; Nowak 61 je mit weit. Nachw. Etwa EGMR 15. 11. 1996 Chahal/GB (ÖJZ 1997 632); FroweinlPeukerl 3; Grabemvarter § 24 Rdn. 114; IntKommEMRK/Sc/m-efeer 73. E G M R 25. 3. 1999 Jatridis/Griech (EuGRZ 1999 318). EGMR 25.3.1883 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 8.7. 1986 Lithgow (EuGRZ 1988 350); 26.3. 1987 Leander/Schwed (Series A 116); 5.1.1996 Chahal/ GB (ÖJZ 1997 632): Grabemvarter § 24 Rdn. 114; InlKommIΛ1RK/.S'iIi weiier 63; Meyer-Ludewig 13; dagegen FroweinlPeukerl 6. EGMR 25.3.1983 Silver u.a./GB (EuGRZ 1984 147); 26.10.2000 Kudla/Pol (NJW 2001 2694); TntKommEMRK/Sc/me/re)· 77; Meyer-Ladewig 13.

Art. 13 erfordert aber nicht zwingend, daß die entscheidende Stelle diese Befugnis hat, vgl. FroweinPeukert 6. Stand: 1.10.2004

(556)

Recht auf wirksame Beschwerde

Art. 21 Abs. 3 IPBPR

Andernfalls können mehrere unzureichende Rechtsbehelfe auch zusammen keinen ausreichenden Rechtsschutz gewähren 131 . Wegen des damit verbundenen Zeitverlusts und den sonstigen Belastungen des Beschwerdeführers kann aber unter Umständen fraglich sein, ob diese Möglichkeit noch als effektiver Rechtsbehelf angesehen werden kann 1 3 2 . c) Die Regelung des innerstaatlichen Verfahrens zur Überprüfung des behaupteten 2 2 Konventionsverstoßes überlassen Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR dem nationalen Recht. Damit der Rechtsbehelf wirksam ist, wird dem Betroffenen jedoch zur Wahrung seines Rechts ein Mindestmaß an Gehör zur Darlegung seiner Beschwerde und auch zur Stellungnahme zu etwaigen relevanten Sachvorträgen anderer Verfahrensbeteiligter einzuräumen sein 133 ; hierzu kann auch der Zugang zu den Ergebnissen eines wegen der Konventionsverletzung durchgeführten Ermittlungsverfahrens gehören 134 . Eine mündliche Verhandlung über den Rechtsbehelf fordert Art. 13 M R K nicht 135 . Grundsätzlich sind die Staaten frei, wie sie das Verfahren gestalten und welcher Stelle sie die Überprüfung übertragen wollen. Ihre Regelung muß allerdings den Anforderungen entsprechen, die für die Wirksamkeit des Rechtsbehelfes unerläßlich sind 136 . Vor allem muß ihre Prüfungskompetenz eine echte Nachprüfung der konventionserheblichen Gesichtspunkte ermöglichen; sie darf also nicht zu sehr eingeschränkt sein 137 . Es genügt, wenn das von der Konvention geschützte Recht seiner Substanz nach vom 2 2 a Betroffenen vor der entscheidenden Instanz geltend gemacht werden kann. Nicht notwendig ist, daß es dort unmittelbar als Recht aus der Konvention hergeleitet wird. Die Berufung auf inhaltsgleiches innerstaatliches Recht reicht aus 138 . Wo die Konventionen nicht Bestandteil des innerstaatlichen Rechts geworden sind, besteht ohnehin nur diese Möglichkeit. Sie reicht allerdings dann nicht aus, wenn eine konventionswidrige Maßnahme dem innerstaatlichen Recht entspricht und deshalb innerstaatlich nicht als rechtswidrig angreifbar ist; dann folgt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs und damit der Verstoß gegen Art. 13 M R K , Art. 2 Abs. 3 IPBPR schon aus der Gesetzeslage 139 . Das nationale Recht darf den Rechtsbehelf an die Einhaltung bestimmter Fristen 2 2 b oder an sonstige formale Zulässigkeitsvoraussetzungen binden 140 . Diese formalen Beschränkungen müssen sich jedoch im Rahmen des sonst Üblichen halten. Sie dürfen keine zu strengen, durch Sachgründe nicht gebotene Anforderungen an die Beschwerdelegitimation stellen und sie dürfen nicht so ausgelegt und angewendet werden, daß es einem Betroffenen faktisch kaum möglich ist, vom Rechtsbehelf fristgerecht Gebrauch zu machen 1 4 1 . Unter dem Blickwinkel eines wirksamen Rechtsbehelfs sind daher dem Staat zuzurechnende Behinderungen des Beschwerdeführer bei der Ausübung des Rechtsbehelfs oder bei der freien Entscheidung über seine Einlegung ebensowenig vertretbar wie überzogene formale Anforderungen an seine Einlegung 142 oder zu kurze Fristen143; auch das Versagen der aufschiebenden Wirkung kann einen Rechtsbehelf ineffektiv machen 144 . Unvereinbar mit Art. 13 M R K ist es ferner, einen innerstaatlichen Rechts131 132 133 134

' 136 137 138

Vgl. TntKommEMRK/Sr/m'e/ze)· 77. Vgl: auch die Bedenken von Frowein! Peukert 6. Meyer-Ladewig 11, 15. E G M R 27.6.2000 Salman/Türkei (NJW 2001 2001); Meyer-Ladewig 15. l'roweiniPeukert 4. Α. Α Schorn 10, 11 mit Nachw. Meyer-Ladewig 14; vgl. Rdn. 20. E G M R 26. 11. 1991 The Observer and Guardian/ GB (ÖJZ 1992 378); 27.9. 1999 Smith and Grady/ GB (NJW 2000 2089); IntKommEMRK/Sc/m-efeer 13ff,60.

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1,9

140

141 142 143 144

Vgl. EGMR 25.3.1983 Silver/GB (EuGRZ 1984 147); 28.6.1984 Campbell & Fell/GB (EuGRZ 1985 545); 28. 5. 1985 Abdulaziz u. a./GB (EuGRZ 1985 567). Grubenwurier § 24 Rdn. 114; IntKommEMRK/ Schweizer 61; Meyer-Ladewig 13. Meyer- Ladewig 14. Vgl. etwa VerfGH Berlin JR 2002 412. E G M R 11.7. 2000 Jabari/Türk (ÖJZ 2002 37). Vgl. E K M R ÖJZ 1997 675 (Beschwerde wirksamer Rechtsbehelf, weil aufschiebende Wirkung).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 13

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

behelf gegen eine schwerer wiegende, vor allem auch diskriminierend wirkende Maßnahme allein daran scheitern zu lassen, daß kein aktuelles Rechtsschutzbedürfnis mehr besteht, weil die beanstandete M a ß n a h m e bereits vollzogen und damit erledigt ist 145 . 23

d) Der Nachweis eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs obliegt im Fall des Bestreitens der Regierung. Sie muß gegebenenfalls durch Anführung von Präzedenzfällen darlegen, daß es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich gewesen wäre, eine ihm zugängliche innerstaatliche Stelle wegen der behaupteten Konventionsverletzung anzurufen und durch sie Abhilfe zu erlangen 146 . Diese Möglichkeit besteht nicht, wenn das nationale Recht einen solchen Rechtsbehelf zwar theoretisch eröffnet, dieser aber in der Staatspraxis nicht benutzt wird und er daher auch allgemein unbekannt geblieben ist. Er fehlt ferner, wenn der Eingriff im Einklang mit dem nationalen Recht steht 147 oder wenn dieses jede Regelung des beanstandeten Eingriffs vermissen läßt 148 und auch keine Generalklausel die Anrufung der Gerichte oder einer anderen zur Überprüfung berufenen nationalen Instanz eröffnet.

24

Für den Rechtsschutz genügt es in der Regel, daß die Konventionsverletzung nachträglich (ex post facto) festgestellt werden kann, sofern diese Feststellung innerstaatlich Wirkungen zugunsten des Betroffenen entfaltet 149 . N u r in Ausnahmefällen, in denen die Verletzung eines besonders wichtigen Konventionsrechts zu einem schwerwiegenden, nicht mehr ausgleich baren Schaden führen könnte, dürfte zur Wirksamkeit des Rechtsbehelfs erforderlich sein, daß dieser bereits einen präventiven Rechtsschutz ermöglicht 150 .

25

e) Innerstaatliche Wirksamkeit einer stattgebenden Rechtsschutzmaßnahme. Art. 2 Abs. 3 Buchst, c IPBPR verpflichtet die Staaten ausdrücklich, dafür zu sorgen, daß alle zuständigen Stellen, vor allem auch die Vollzugsorgane, einem erfolgreichen innerstaatlichen Rechtsbehelf Geltung verschaffen 151 . In Art. 13 MRK fehlt eine solche ausdrückliche Verpflichtung, sie ergibt sich jedoch aus der Sache. Wenn die Entscheidung, die der Betroffene innerstaatlich erlangen kann, von den übrigen zuständigen staatlichen Stellen nicht beachtet werden muß, besteht im Ergebnis kein wirksamer Rechtsbehelf 152 . Dies ist etwa der Fall, wenn die angerufene Stelle nur eine beratende Funktion hat oder nur Vorschläge unterbreiten kann 1 5 3 oder wenn - und sei es auch nur wegen der faktischen Verhältnisse - vom Betroffenen nicht erreicht werden kann, daß die für die Konventionsverletzung zuständigen Stellen sie beachten.

26

Welche Maßnahmen zur Behebung oder eventuell auch Wiedergutmachung einer festgestellten Konventionsverletzung nötig sind, richtet sich nach den Besonderheiten des jeweiligen Falls. Die Maßnahmen, die auch von anderen als den über den Rechtsbehelf entscheidenden Stellen getroffen werden können, müssen insgesamt ausreichen, um innerstaatlich die Geltung der Konvention augenscheinlich zu machen. Sie sollen den Betroffenen, sofern möglich, von den Folgen der Konventionsverletzung freistellen und diese angemessen kompensieren. Neben der förmlichen Aufhebung oder Rücknahme 145

EGMR 16.12.1997 Camenzind/C.H (ÖJZ 1998 797); IntKommEMRK/Sc/nrefeer 68; vergl. etwa BVerfGE 42 128, 130; 96 27, 39; 100 313, 364; 101 397, 407; BVerfG EuGRZ 2002 198. 14t ' EGMR 28. 10.1999 Wille/Liechtenstein (NJW 2001 1195). 147 Vgl. Rdn. 22a. 148 Vgl. E G M R 25.6.1997 Halford/GB (ÖJZ 1998 311). 149 UN-AMR bei Nowak 65 ff; dazu Nowak EuGRZ 1986 611.

1511 151

152 1,5

Nowak 61. Ursprünglich war vorgesehen, daß die Polizei und Verwaltungsorgane gebunden sein sollten, die stattgebende Entscheidung in der Praxis zu verfolgen oder zu vollstrecken, vgl. Nowak 12. NowaklO; vgl. Froweiu! Peukert 6. E G M R 15.11.1996 Chahal/GB ÖJZ 1997 532; IntKommEMRK/Sc/m-efeer 60.

Stand: 1.10.2004

(558)

Diskriminierungsverbot

Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

einer konventionswidrigen behördlichen Anordnung können dazu je nach Lage des Falles auch die faktische Beendigung eines konventionswidrigen Zustands, die Bestrafung oder Disziplinierung des für die Verletzung Verantwortlichen oder die Zuerkennung einer Entschädigung ausreichen 154 . Mitunter genügt es schon, daß die Konventionsverletzung ausdrücklich festgestellt und die künftige Beachtung der Konvention durch entsprechende Anordnungen oder auch gesetzgeberische Maßnahmen spezial- oder auch generalpräventiv gesichert wird 155 .

Art. 14 MRK (Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27 IPBPR) MRK Artikel 14 Diskriminierungsverbot*

IPBPR

Der Genuß der in dieser Konvention anerkannten Rechte oder Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.

(1) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied, wie insbesondere der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status zu gewährleisten.

Artikel 2

Protokoll Nr. 12 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.2000 (noch nicht in Kraft) ** Die Mitgliedsstaaten des Europarats, die dieses Protokoll unterzeichnen eingedenk des grundlegenden Prinzips, nach dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und Anspruch auf den gleichen Schutz durch das Gesetz haben, entschlossen, weitere Maßnahmen zu treffen, um die Gleichheit aller Menschen durch die kollektive Gewährleistung eines allgemeinen Diskriminierungsverbots mittels der am 4. November in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden als Konvention bezeichnet) zu fördern, in Bekräftigung der Tatsache, daß der Grundsatz der Nichtdiskriminierung die Vertragsstaaten nicht daran hindert, Maßnahmen zur Förderung der vollständigen und wirksamen Gleichbehandlung zu treffen, sofern es eine objektive und vernünftige Rechtfertigung für diese Maßnahmen gibt —

(2) ...

(3) ... Artikel 3 Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller in diesem Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen. Artikel 16 Jedermann hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden. Artikel 24 (1) Jedes Kind hat ohne Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens oder der Geburt das Recht auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert. (2) ... (3) ...

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. vom 17.5. 2002 (BGBl. II S.1054). Nicht amtliche Ü b e r s e t z u n g des Bundesministeriums der Justiz, vgl. Meyer-Ladewig

373 (englische u n d französische Originalfassung dort

S. 421 ff.).

154

Vgl. Nowak 71 ff; FrmreinlPeukert 6.

(559)

Vgl. A n h a n g R d n . 52.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

haben folgendes vereinbart:

Artikel 26

Art. 1 Generelles Diskriminierungsverbot (1) Der Genuß eines jeden auf Gesetz beruhenden Rechts Ist ohne Diskriminierung Insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen und sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. (2) Niemand darf, Insbesondere aus einem der In Absatz 1 genannten Gründe, von einer Behörde diskriminiert werden. Vom Abdruck der Art. 2 (Räumlicher Geltungsbereich), Art. 3 (Bestandteil der Konvention) und der Art. 4 bis 6 (Unterzeichnung und Ratifikation, Inkrafttreten, Aufgaben des Verwahrers) wird abgesehen.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten. Artikel 27 In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.

Schrifttum (Auswahl): v. Arnauld Minderheitenschutz im Rechte der Europäischen U n i o n , AVR 42 (2004) 111; Dieballe Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsleben - neue Vorgaben des E G Vertrags, E u R 2000 275; Kischel Z u r Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, E u G R Z 1997 1; Freudenschuss Die Diskriminierungsverbote der E M R K u n d der Rassendiskriminierungskonvention im österreichischen Recht, E u G R Z 1983 623; Hausheer D e r Fall Burghartz oder Vom bisweilen garstigen G e s c h ä f t der richterlichen Rechtsharmonisierung in internationalen Verhältnissen. Zugleich eine A n m . z u m Urteil des E G M R vom 22.9.1994, E u G R Z 1995 623; Hailbronner Die sozialrechtliche Gleichbehandlung von Drittstaatsangehörigen - ein minderheitenrechtliches Postulat? JZ 1997 397; Hilpold Neue Minderheiten im Völkerrecht u n d im Europarecht, AVR 42 (2004) 80; Hofmann Minderheitenschutz in E u r o p a , Z a ö R V 52 (1992) 1; Kimminich Minderheiten· und Volksgruppenrechte im Spiegel der Völkerrechtsentwicklung n a c h dem zweiten Weltkrieg, BayVBl. 1993 331; Klebes R a h m e n ü b e r e i n k o m m e n des Europarats zum Schutze nationaler Minderheiten, E u G R Z 1995 262); Kugelmann Minderheitenschutz als Menschenrechtsschutz, AVR 39 (2001) 233; Mohn D e r Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht (1990); Opsahl Equality in H u m a n Rights Law with particular Reference to Article 26 of the International Convenant on Civil and Political Rights, F S E r m a c o r a (1988); Partsch Wertet die neue Straßburger Judikatur das Diskriminierungsverbot a u f ? FS Everling (1995) 1049; Pentassuglia Minority Issues as a Challenge in the European C o u r t of H u m a n Rights: A Comparission with the Case Law of the United Nations H u m a n Rights Committee, J I R 46 (2003) 401; RiesenhuberlFrank Verbot der Geschlechtsdiskriminierung im Europäischen Vertragsrecht - Z u einer vorgeschlagenen Richtlinie des Rats, J Z 2004 529; Rossi D a s Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV, E u R 2000 197; Sturm D a s Straßburger Marckx-Urteil zum Recht des nichtehelichen Kindes u n d seine Folgen, F a m R Z 1982 1150; Tomuschat Equality and N o n - D i s c r i m i n a t i o n under the International Convenant o n Civil and Political Rights; F S Schlochauer (1981) 691; Wittinger Familien und F r a u e n im Regionalen Menschenrechtsschutz (1999); Wittinger Die Gleichheit der Geschlechter u n d das Verbot geschlechtsspezifischer Diskriminierung in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Status q u o u n d Perspektiven durch das Zusatzprotokoll Nr. 12, E u G R Z 2001 272.

S t a n d : 1.10.2004

(560)

Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

Übersicht Rdn.

Rdti. 1. Allgemeines a) Konventionsgarantien 1 b) Grenzen der Gleichbehandlungspflicht . . 5 c) Recht der Europäischen Gemeinschaften 6 d) Andere internationale Verträge 6b e) Innerstaatliches Verfassungsrecht 7 2. Gleichbehandlung bei der Ausübung der von den Konventionen garantierten Rechte und Freiheiten a) Beschränkung auf die Konventionsrechte

b) Diskriminierungsverbot c) Vom Gesetzgeber und beim Gesetzesvollzug zu beachten 3. Allgemeine Garantie der Gleichheit (Art. 26 IPBPR) a) Selbständiges Recht b) Gleichheit vor dem Gesetz c) Gleicher Schutz durch das Gesetz 4. Minderheitenschutz

....

12 17

18 19 20 24

8

1. Allgemeines a) Die Konventionsgarantien. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 fordert in Ubereinstimmung mit den Zielen der Charta der Vereinten Nationen 1 in ihrem Art. 2, daß die in ihr proklamierten Rechte und Freiheiten jedem zustehen ohne irgendwelche Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Vermögen, Geburt oder sonstigem Status. In Art. 7 legt sie fest, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz haben, ferner, daß sie Anspruch haben auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, welche die vorliegende Erklärung verletzen würde und gegen jede Aufreizung zu so einer Diskriminierung. Der IPBPR folgt dieser Zweiteilung der Garantie der Gleichbehandlung, wenn er in Art. 2 Abs. 1 jede Ungleichbehandlung bei Anwendung der Konventionsgarantien verbietet und diese Verpflichtung der Vertragsstaaten in Art. 3 nochmals in bezug auf die Gleichberechtigung von M a n n und Frau bei der Ausübung der im Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte konkretisiert. Diese akzessorischen Garantien werden in Art. 26 durch ein allgemeines, nicht akzessorisches Gleichbehandlungsgebot ergänzt, das - ohne sachliche Beschränkung auf die Konventionsgarantien - ausspricht, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz haben, wobei Satz 2 von dem Wortlaut des Art. 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte abweicht. Die MRK begnügt sich demgegenüber damit, in Art. 14 jede Diskriminierung bei der Anwendung der in der Konvention und in den Zusatzprotokollen gewährleisteten Rechte und Freiheiten zu verbieten 2 . Art. 14 M R K ist akzessorisch. Er ergänzt den Schutzbereich jedes Konventionsrechts durch ein Diskriminierungsverbot. Er umfaßt die gesamte Tragweite der jeweiligen Garantien und begründet auch die Verpflichtung des Staates, bei Eingriffen auf Grund der Schrankenvorbehalte, selbst wenn diese Eingriffe in seinem Ermessen stehen, das Gebot der Gleichbehandlung zu beachten 3 . Ein darüber hinausreichendes allgemeines Gleichbehandlungsgebot stellt er nicht a u f 4 . Ein solches Gebot 1

2

3

Vgl. Art. 1 Abs. 3; Art. 13 Abs. 2 Buchst, b, Art. 55 Buchst, c UN-Charta, die die Förderung der allgemeinen Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts der Sprache oder der Religion als Ziel anführen. FrowemIPeukerl 25; Grabemvarter §26 Rdn. 2; Gurathe 1; Pariseh 91 a. Α Schorn 2. Etwa E G M R 23.7.1968 Belg. Sprachenstreit

(561)

4

(EuGRZ 1975 298); 23.11.1983 van der Mussele/ Belg (EuGRZ 1985 477); 16.9.1996 Gaygusuz/Ö (ÖJZ 1996 955); FroweinlPeukert 9, sowie zur Gleichbehandlung im Rahmen der Schrankenvorbehalte auch Rdn. 5 bis 8; Grabemvarter § 26 Rdn. 2; Meyer-Ladewig 6; sowie nachf. Fußn. E G M R 18.7.1994 Schmidt/D (NJW 1995 158); 8.4.2002 L B/Ö (ÖJZ 2002 698).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

sieht jedoch das noch nicht ratifizierte und daher noch nicht in Kraft befindliche Protokoll Nr. 12 vom 4.11.2000 vor. Es verpflichtet die Staaten, den Genuß eines jeden auf Gesetz beruhenden Rechtes jedermann ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. Den Behörden wird verboten, jemanden aus diesen oder sonstigen Gründen zu diskriminieren. 4

Anderweitige Gewährleistung in den Konventionen. Art. 14 M R K und Art. 2 Abs. 1 IPBPR heben die Pflicht zur Gleichbehandlung bei der Anwendung der Konventionsgarantien ausdrücklich hervor, obwohl die Gleichheit bei der Gewährung der jeweiligen Konventionsrechte in den meisten Artikeln beider Konventionen schon dadurch verdeutlicht wird, daß diese „jedem" oder „jedermann" zuerkannt werden, so auch das in Art. 16 IPBPR jedermann garantierte Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden. Bei bestimmten Konventionsgarantien finden sich zusätzlich besondere, die Gleichbehandlung ausdrücklich fordernden Gebote, so etwa, wenn Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR hervorhebt, daß alle Menschen vor Gericht gleich sind 5 oder wenn Art. 23 Abs. 4 IPBPR und Art. 5 des 7. ZP-MRK 6 für Mann und Frau gleiche Rechte bei der Eheschließung, während der Ehe oder bei Auflösung der Ehe fordern 7 . Art. 24 Abs. 1, Art. 25 IPBPR wiederholen nochmals ausdrücklich die Diskriminierungsverbote des Art. 2 Abs. 1 IPBPR oder verweisen darauf.

5

h) Ausdrückliche Grenzen des Gleichbehandlungsgebots bestehen dort, wo in bestimmten Ausnahmefällen schon der Wortlaut einer Konventionsgarantie zeigt, daß diese nur für bestimmte Personengruppen gilt. So garantiert etwa Art. 25 IPBPR nur den Staatsbürgern politische Rechte, während Art. 16 M R K umgekehrt bei Ausländern Einschränkungen der durch Art. 10, 11 M R K allen Menschen garantierten politischen Betätigung zuläßt, wenn er ausdrücklich feststellt, daß Art. 14 M R K nicht so auszulegen ist, daß er einer solchen Beschränkung entgegensteht 8 . Die Verbürgung des Art. 3 des 4. Z P - M R K betreffen nur die eigenen Staatsbürger, während umgekehrt das Verbot der Kollektivausweisung der Ausländer in Art. 4 des 4. ZP und die Garantien für die Ausweisung von Ausländern in Art. 13 IPBPR schon von der Natur der Sache her nur für diese gelten können. Der Schutz ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten erlaubt nach Art. 27 IPBPR eine Differenzierung zu deren Gunsten hinsichtlich ihrer kulturellen Betätigung, ihrer Religionsausübung und der Verwendung ihrer Muttersprache und insoweit eine Ungleichbehandlung 9 . Insoweit sind entgegen Art. 14 M R K , Art. 2 Abs. 1, Art. 26 IPBPR nach der nationalen Herkunft oder dem sonstigen Status differenzierende Sonderregelungen zulässig, im übrigen aber werden die in den Konventionen festgelegten Rechte und Freiheiten durch Art. 1 M R K allen der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates unterstehenden Menschen im gleichem Umfang gewährt; aus der Zugehörigkeit zu einer Minderheit können keine Sonderrechte hergeleitet werden l 0 .

5a

Für Notstandsmaßnahmen enthält Art. 4 Abs. 1 IPBPR ein enger gefaßtes Diskriminierungsverbot. Der Katalog auch im Notstandsfall unzulässiger Diskriminierungen führt 5

6 7

Vgl. Art. 6 MRK Rdn. 56 ff; auch bei dem von Art. 6 Abs. 1 M R K geforderten fairen Verfahren ist die Gleichwertigkeit der Verfahrensbefugnisse, die sogen. Waffengleichheit unerläßlich. Die Bundesrepublik ist dem 7. ZP nicht beigetreten. Zur Bedeutung dieser auf fortschreitende Verwirklichung gerichteten Verpflichtung des IPBPR vgl. Art. 12 M R K Rdn. 7.

8

Vgl. Art. 16 M R K . » Vgl. UN-AMR EuGRZ 1981 522 (Lovelace); Tomuschal FS Mosler 951; ferner Rdn. 23. 111 E G M R 25.5.2000 Noack u.a./D (Gemeinde Horno NVwZ 2001 307-L).

Stand: 1.10.2004

(562)

Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

die politischen und sonstigen Anschauungen und die nationale Herkunft sowie Vermögen, Geburt oder sonstigen Status nicht mit auf. Art. 15 MRK gestattet dagegen ohne ausdrückliche Unterscheidungen in den unbedingt erforderlichen Fällen die Abweichung von den Konventionsverpflichtungen generell; dies könnte auch eine sachlich gebotene Ungleichbehandlung von Personengruppen rechtfertigen", während ohne einen solchen sachlich rechtfertigenden Grund auch hier das Gebot der Gleichbehandlung gilt. Diese weitergehende Einschränkungsmöglichkeit kommt jedoch bei den Vertragsparteien des IPBPR nicht zum Tragen, da dessen engere und damit für den Betroffenen günstigere Fassung nach Art. 53 M R K anwendbar bleibt und damit als anderweitige völkerrechtliche Verpflichtung auch im Notstandsfall nach Art. 15 Abs. 1 M R K zu beachten ist. c) Das Recht der europäischen Gemeinschaften enthält das Verbot, im Anwendungs- 6 bereich der Verträge bei Bürgern der Gemeinschaft nach der Staatsangehörigkeit zu unterscheiden (Art. 12 EGV), sowie weitere Vorschriften, die für bestimmte Sachbereiche des Gemeinschaftsrechts 1 2 die Gleichbehandlung aller Unionsbürger ohne Unterschiede nach Staatsangehörigkeit oder Wohnsitz im Inland oder einem anderen EU-Staat 1 2 a oder Geschlecht 13 vorschreiben. Durch „vernünftige Gründe gerechtfertigt" kann daher sein, daß den Angehörigen der EU-Staaten andere Rechte eingeräumt werden als den sonstigen Ausländern, da sie einer besonderen Rechtsordnung angehören 1 4 . Auf die Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Die Grundrechte-Charta der EU 15 behandelt in ihrem Kapitel III die Aspekte der 6a Gleichheit; Art. 20 stellt fest, daß alle Personen vor dem Gesetz gleich sind, Art. 21 verbietet jede Diskriminierung, während Art. 23 Abs. 1 die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen festlegt, wobei Art. 21 Abs. 2 festhält, daß der Grundsatz der Gleichheit die Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das bisher unterrepräsentierte Geschlecht (sogen, „affirmative actions") nicht ausschließt 16 . d) Aus anderen internationalen Verträgen ergeben sich weitere, zum Teil gegenständ- 6 b lieh beschränkte Gleichbehandlungsgebote oder Diskriminierungsverbote, so etwa aus Art. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 17 , aus dem Internationalen Ubereinkommen zur Beseitigung von jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966 1 8 , aus dem Übereinkommen Nr. 111 der ILO über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vom 25.6.1958 1 9 , aus

11

12

12a

E G M R 18.1.1978 Irland/GB ( E u G R Z 1979 149); l'roweinlPeukert 8. Vgl. Art. 2, 3 Abs. 2, 13, 137 Abs. 1, 141 EGV, ferner etwa die Richtlinie 76/207 E W G vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von M ä n n e r n u n d F r a u e n hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbild u n g und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (SimmalHastenrath Nr. 41b), allgemein zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der E U Dieballe E u R 2000 175; Kischel E u G R Z 1997 1; ferner etwa Hailbroner JZ 1997 397 zur sozialen Gleichbehandlungspflicht der Angehörigen der EU, je mit weit. Nachw. Etwa E u G H E u G R Z 2004 416 (Unterschied bei Berechnung der Pfändungsfreigrenze durch Nichtberücksichtigung der a m ausländischen Wohnsitz

(563)

13 14

15 16

«

18

15

bezahlten Steuer ist mit Freizügigkeit innerhalb der EU-Staaten unvereinbar). Vgl. Dieballe E u R 2000 275 ff. E G M R 18.2.1991 Moustaquim/Belg ( E u G R Z 1993 552); vgl. aber auch E G M R 16.9.1996 Gaygusuz/Ö (JZ 1997 405) mit krit A n m . Hailbronner JZ 1997 397. E u G R Z 2000 554; vgl. Einf. Rdn. 36a, 47. Ebenso auch die Präambel des 12. ZP. BGBl. TT 1973 S. 1570 (Gleichberechtigung von M a n n u n d F r a u bei der Ausübung der in diesem P a k t festgelegten wirtschaftlichen, sozialen u n d kulturellen Rechte). BGBl. TT 1969 S. 961, wegen der Vertragsstaaten vgl. FN-B. BGBl. TT 1961 S. 97.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

dem Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen vom 15.12. I960 20 ; aus dem Ubereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 21 . Auch in anderen internationalen Dokumenten wird das Gebot der Gleichbehandlung angesprochen, so etwa in den Abschlußdokumenten der KSZE-Folgetreffen, vor allem dem Dokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE vom 29.6.1990 (vgl. dort Teil. 1 Nr. 5.9) 22 . Den Schutz der Minderheiten in Europa bezwecken das im Rahmen des Europarats in Ergänzung der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen vom 5.11.1992 23 beschlossene Rahmenübereinkommen zum Schutze nationaler Minderheiten vom 1.2.1995 24 , das neben einem Diskriminierungsverbot und dem Verbot der Zwangsassimilierung auch Toleranz- und Förderungspflichten und das Recht auf Benutzung der Minderheitensprache begründet und das festlegt, daß die in ihm garantierten Rechte und Freiheiten, soweit sie eine Entsprechung in der M R K haben, im gleichen Sinne wie diese zu verstehen sind (Art. 23 des Rahmenübereinkommens). Da dieses Ubereinkommen nur eine Überwachung durch das Ministerkomitee vorsieht (Art. 24), nicht aber selbst den Rechtsweg zum E G M R eröffnet, kann der Betroffene dort die Verletzung eines Rechtes aus diesem Abkommen nicht unmittelbar rügen; er kann seine Beschwerde nur darauf stützen, daß dadurch gleichzeitig auch seine Rechte aus der M R K (insbes. Art. 8 oder 14 M R K ) verletzt sind. 7

e) Im innerstaatlichen Verfassungsrecht ist der Gleichbehandlungsgrundsatz einschließlich des Grundsatzes der Gleichbehandlung von M a n n und Frau und das Verbots einer Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft oder wegen seines Glaubens oder der religiösen oder politischen Anschauung durch Artikel 3 G G gewährleistet, der als G r u n d n o r m der freiheitlichen Demokratie die gesamte Rechtsordnung bestimmt und nicht nur die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auch die Gleichbehandlung durch das Gesetz fordert. Differenzierungen dürfen daher nicht von einem der unzulässigen Merkmale bestimmt sein; sie sind nur zulässig, wenn für sie andere Gründe von solchem Gewicht bestehen, daß sie eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen 25 . 2. Gleichbehandlung bei der Ausübung der von den Konventionen garantierten Freiheiten und Rechte

8

a) Beschränkung auf Konventionsrechte. Art. 14 MRK garantiert die Gleichbehandlung nur bei den von der Konvention und ihren Zusatzprotokollen gewährleisteten Rechten und verbietet eine nicht sachlich gerechtfertigte Diskriminierung bei den jeweils zulässigen staatlichen Eingriffen in diese Rechte. Er betrifft also nicht jede innerstaatliche Ungleichbehandlung, sondern nur eine solche, die sich auf die Ausübung einer Konventionsgarantie einschließlich der Garantien der Zusatzprotokolle auswirkt 26 . Als solche ist er als Bestandteil jeder Konventionsbestimmung zu betrachten 2 7 . Anders als das noch 211 21

22 23

24

BGBl. TT 1968 S. 385. BGBl. II 1985 S. 647; dazu Delbrück FS Schlochauer 247. EuGRZ 1990 239; vgl. Einf. Rdn. 18. BGBl. II 1998 S. 1314; für die Bundesrepublik in Kraft ab 1.1.1999 (Bek. vom 30.12.1998 - BGBl. TT 1999 S. 59). BGBl. TT 1997 S. 1408, für die Bundesrepublik in Kraft ab 1.2.1998 (Bek. vom 1.12.1997 - B G B l . II 1998 S. 57).

25 26

27

Vgl. BVerfGE 55 72, 88; 74 9, 30; 88 87, 96. Vgl. etwa EGMR 28.10.1987 Inze/Ö (ÖJZ 1988 177); 27.3.1998 Petrovic/Ö (ÖJZ 1998 515); 4.6. 2002 Wessels-Bergervoet/NdL (ÖJZ 2003 516); 24.7. 2003 Karner/Ö (ÖJZ 2001 36); E K M R EuGRZ 1997 148 (Mielke/D). EGMR 23.7.1968 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298); 26.3.1985 X & Y/NdL (EuGRZ 1985 297); Villiger HdB 658.

Stand: 1.10.2004

(564)

Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

nicht in Kraft befindliche 12. Zusatzprotokoll 2 8 und Art. 26 IPBPR hat er als akzessorische Regelung keine von den anderen Konventionsverbürgungen unabhängige Bedeutung. Er sichert die Gleichbehandlung beim Genuß der in den Konventionen und den Zusatzprotokollen verbürgten Rechte und Freiheiten 29 im weit verstandenen Regelungsbereich des jeweils verbürgten Konventionsrechts 30 . Art. 14 M R K setzt weder einen Eingriff in ein Konventionsrecht noch einen Konventionsverstoß voraus 31 . Eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung im generellen Anwendungsbereich eines Konventionsrechts genügt, so etwa im vielschichtigen Bereich des Privat- oder Familienlebens 32 oder der Religionsfreiheit 33 oder in dem weit verstandenen Bereich des Eigentumsschutzes nach Art. 1 des 1. ZP 3 4 . Art. 14 M R K kann auch durch Maßnahmen verletzt werden, die als solche mit der jeweiligen Konventionsgarantie vereinbar sind 35 oder die im Bereich eines Konventionsrechts mehr gewähren, als die Konvention fordert 3 6 , etwa die Einräumung eines Rechts auf eine von der Konvention nicht geforderte weitere Instanz 3 7 , oder bei der Regelung eines vom Schutz der jeweiligen Konventionsgarantie ausdrücklich ausgenommenen Sachverhalts 38 . Art und Ausmaß der berührten Konventionsgarantie sowie die Zugehörigkeit der von der Diskriminierung betroffenen Handlung zu ihrem Schutzbereich sind daher bei der Behauptung eines Verstoßes gegen Art. 14 M R K vorweg zu prüfen 3 9 . Auch die aufgrund von Eingriffsvorbehalten konventionsrechtlich zulässigen staatlichen Einschränkungen eines Konventionsrechts müssen durch objektive und vernünftige Gründe gerechtfertigt werden und frei von jeder sachlichen nicht begründeten Diskriminierung sein 40 . Dies gilt auch, wenn sich eine Konventionsgarantie nur darauf beschränkt, für Eingriffe ein innerstaatliches Gesetz zu fordern 4 1 . Andererseits kann auch die Verletzung eines Konventionsrechts zugleich mit einem Verstoß 28

Vgl. Rdn. 18 ff. ® E G M R 23.7.1968 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298: keine von den übrigen normativen Vorschriften der Konvention losgelöste Bedeutung); ferner etwa E G M R 23.11.1983 Van der Mussele/Belg (EuGRZ 1985 477); und die Entscheidungen in den nachf. Fußnoten; Grabenwarter § 26 Rdn. 3; Meyer-Ladewig 5. 30 Vgl. Grabenwarter § 26 Rdn. 3 (thematische Einschlägigkeit). 11 Grabenwarter § 26 Rdn. 3; so aber ursprünglich EKMR bei Froweinl Peukert 2; Guradze 3. 32 Etwa EGMR 13.5.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 22.10. 1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1883 488); 22.2.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559) 23.6.1993 Hoffmann/Ö (EuGRZ 1996 648); MeyerLadewig 16, 19; vgl. Art. 8 Rdn. 18. 33 Etwa EGMR 23.10.1990 Darby/Schwed (EuGRZ 1990 504; höhere Kirchensteuer wegen Wohnsitz im Ausland); 6.4.2000 Thlimmenos/Griech (ÖJZ 2001 518 Verweigerung des Berufszugangs wegen religionsbedingter Verurteilung); Grabenwarter § 26 Rdn. 4; Meyer-Ladewig 10, 18. 34 Etwa EGMR 16.9.1996 Gaygusuz/Ö (ÖJZ 1996 955 Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung); 28.10. 1987 Tnze/Ö (ÖJZ 1988 177; Vorrang der ehelichen Kinder vor den unehelichen beim Erbrecht an einem Bauernhof); 21.2.1997 van Raalte/Ndl/ÖJZ 1998 117: Beitrag zum Kinderversorgungsfond); 4.6.2002 Wessels-Bergervoet/Ndl (ÖJZ 2003 516; Pensionsberechtigung); 11.6.2002 Willis/GB (Witwenbeihilfe für Witwer); Grabenwarter § 26 Rdn. 3.

(565)

35

36

37

38

35

Etwa EGMR 23.7.1968 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298); 27.10.1975 belg. Polizeigewerkschaft/Belg (EuGRZ 1975 562); 28.5.1983 Abdulaziz u.a./GB (EuGRZ 1985 567); Froweinl Peukert 2; Grabenwarter § 26 Rdn. 3; vgl. auch nächst. Fußn. EGMR 23.7.1968 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1985 298); 28.5. 1985 Abdulaziz u.a./GB (EuGRZ 1985 567); FroweinlPeukert 13; Grabenwarter § 26 Rdn. 3; Villiger HdB 658. EGMR 23. 7.1968 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1985 298). Vgl. 18.7.1994 K. Schmidt/D (EuGRZ 1995 392; „Feuerwehrabgabe"): Grabenwarter §26 Rdn. 3. Etwa EGMR 23. 7.1968 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1985 298); belg. Polizeigewerkschaft/Belg (EuGRZ 1975 562); 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ 1979 386); 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 23.9. 1982 Sporrong & Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); 18.7. 1994 K. Schmidt/D (EuGRZ 1995 392); 25.5.1999 Olbertz/D (NJW 2001 1558); Frowein/Peukert 3; Meyer-Ladewig 5.

4,1

Vgl. EGMR in den Vorst. Fußnoten, ferner etwa EGMR 8.6. 1976 Engel/NdL (EuGRZ 1976 422); 18. 1. 1978 Trland/GB (1979 149); 23. 11.1983 Van der Mussele/Belg (EuGRZ 1985 477); 28.11. 1984 Rasmussen/Dan (EuGRZ 1985 511); 28.5.1985 Abdulaziz u.a./GB (EuGRZ 1985 567); 27.3.1998 Petrovic/Ö (ÖJZ 1998 516); E K M R bei Froweinl Peukert 2; Guradze 4 III; Meyer-Ladewig 6.

41

Froweinl Peukert 9, 10.

Walter Gollwitzer

M R K

Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

gegen Art. 14 M R K verbunden sein. Der E G M R begnügt sich dann meist mit der Feststellung der Verletzung des anderen Rechts, weil er es nicht für erforderlich hält, daneben noch zu untersuchen, ob auch gegen Art. 14 M R K verstoßen wurde 4 2 . Die Verletzung dieses Artikels wird aber gesondert geprüft, wenn in ihr ein (zusätzlicher) grundlegender Aspekt der Angelegenheit zu sehen ist 43 . 9

Für die ebenfalls akzessorische Verbürgung der Gleichbehandlung bei der Ausübung der Konventionsrechte durch Art. 2 Abs. 2 IPBPR gelten grundsätzlich die gleichen Gesichtspunkte. Sie untersagt dem Staat nur Diskriminierungen, die in Verbindung mit der Ausübung bestimmter, vom IPBPR garantierter Rechte oder Freiheiten stehen, auch diese müssen nicht notwendig selbst verletzt sein 44 .

10

Gleiches gilt für die Staatenverpflichtung in Art. 3 IPBPR, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung der Konventionsrechte herzustellen 45 . Ob dieses Gebot für die Staaten eine weitergehende Verpflichtung begründet als das allgemeine Gebot, die Konventionsrechte ohne Unterschied des Geschlechtes zu gewähren (Art. 2 Abs. 1 IPBPR), erscheint fraglich und ist strittig 46 . Sieht man auch die Verpflichtung zur Herstellung der materiellen Gleichberechtigung durch ausgleichende Maßnahmen als einen Aspekt des allgemeinen Gleichbehandlungsgebotes an 47 , lassen sich aus Art. 3 IPBPR praktisch kaum weitergehende Verpflichtungen des Staates herleiten als aus Art. 2 Abs. 1 IPBPR 4 8 . Nimmt man in weiter Auslegung des umfassenderen, nicht auf die Konventionsrechte beschränkten Art. 26 IPBPR an, daß dieser auch den nationalen Gesetzgeber allgemein zur Gleichbehandlung verpflichtet, würde Art. 3 IPBPR als vorgehende Spezialregelung die allgemeinen Pflichten des staatlichen Gesetzgebers eher einschränken.

11

Soweit andere einzelne Artikel des IPBPR im Hinblick auf ein von ihnen garantiertes Recht selbst die Gleichbehandlung als gesonderte Konventionspflicht vorschreiben, wie vor allem Art. 26 IPBPR oder für die Gleichheit vor Gericht Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR oder für die Gleichberechtigung der Ehegatten Art. 23 Abs. 4 IPBPR, verdrängen sie als Spezialregelung den Art. 2 Abs. 1 IPBPR 4 9 .

12

b) Diskriminierungsverbot. Art. 14 MRK schließt jede sachlich ungerechtfertigte Benachteiligung („without discrimination on any ground", „sans distinction aucune") bei der Ausübung der von den Konventionen garantierten Freiheiten und Rechte aus, wobei Gesichtspunkte, die für sich allein eine solche Benachteiligung nicht rechtfertigen, als Beispiele angeführt werden 50 , so etwa Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauungen, nationale oder soziale Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt oder ein sonstiger Status 51 . Konventionswidrig ist damit, wie der auch in anderen internationalen Verträgen (vgl. auch Rdn. 5) verwendete Diskriminierungsbegriff des englischen Wortlauts zeigt 52, nicht schon jede 42

45

44 45

46

Etwa E G M R 13.6.1979 Marckx/Belg ( E u G R Z 1979 454); 26.3.1985 X & Y/NdL ( E u G R Z 1985 297); 26.10.1988 Norris/Trl ( E u G R Z 1992 477); 27. 10.1994 Kroon/NdL (ÖJZ 1995 269); 18.2.1999 Matthews/GB (NJW 1999 3107); l-roweinlPeukert 15 ff.; Meyer-Ladewig 21; Villiger HdB 660. Etwa E G M R 9.19.1979 Airey/Irl ( E u G R Z 1979 626); 22.10.1981 Dudgeon/GB ( E u G R Z 1983 422); Chassagnou u.a./F (NJW 1999 3695).

47

Nowak\6,n. Nowak Art. 3, 7; U N - A M R E u G R Z 1981 393 (maurizische Frauen). Nowak Art. 3, 10 mit Nachw. zum Streitstand.

52

48 49

50

r

Vgl. dazu Rdn. 6a, 21,24. So auch Nowak Art. 3, 12. Nowak 16; vgl. Rdn. 4 und Art. 12 M R K Rdn. 1, 4 ff. l'roweinlPeukert 25; (ruradze 1; Partseh 91 a. A Sehorn 2. Zu den nur beispielhaft aufgeführten einzelnen Diskriminierungsmerkmalen ausführlich Frowein/Peukert 25 bis 59. Guradze 4; Partseh 92; Tomuschat FS Schlochauer 712 unter Hinweis auf den vor allem im Völkerrecht entwickelten Begriff der „discrimination", der eine willkürliche Behandlung nach sachfremden

Stand: 1.10.2004

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Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

unterschiedliche Behandlung, sondern nur eine solche, durch die Sachverhalte, die in den für die Regelung wesentlichen Umständen gleich gelagert sind, oder Personen in vergleichbarer Lage ungleich behandelt werden, ohne daß ein am Regelungszweck gemessener, ausreichend gewichtiger objektiver und vernünftiger Grund53 dies rechtfertigt. So etwa, wenn die unterschiedliche Behandlung willkürlich ist oder wenn mit ihr kein legitimes Ziel verfolgt wird oder aber, wenn zwischen dem erstrebten Ziel und den Auswirkungen der eingesetzten Mittel auf die Betroffenen kein angemessenes Verhältnis besteht 54 . Dabei ist unerheblich, ob der Staat durch aktives Tun oder aber durch Unterlassen gebotener Gleichstellungsmaßnahmen für eine bestehende Diskriminierung verantwortlich ist 55 . Die Gründe, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können, zählen die Konventionen nicht auf. Die Staaten haben bei der Frage, ob und in welchem Ausmaß gewisse Umstände bei einer im übrigen gleichen Lage eine unterschiedliche rechtliche Behandlung gestatten oder sogar erfordern, einen Ermessensspielraum. Dieser ist nach Umständen, Gegenstand, Hintergrund und Auswirkungen der jeweiligen Regelung unterschiedlich weit 56 . Maßgebend ist, ob im Einzelfall die Gründe für die Differenzierung so gewichtig sind, daß sie diese rechtfertigen 57 . Der Regelungsspielraum verengt sich dort, wo, wie bei der Herstellung der Gleichberechtigung der Geschlechter, das von allen Mitgliedstaaten mit den Differenzierungsverboten erstrebte Ziel der Gleichbehandlung gefährdet ist. Auch Unterscheidungen, die an die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht oder an die sexuelle Orientierung anknüpfen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung besonders schwerwiegender oder sogar zwingender Gründe 5 8 . Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft kann für sich allein die Versagung der Übertragung der elterlichen Gewalt auf die Mutter nicht rechtfertigen 59 ; gleiches gilt für die unterschiedliche Behandlung der ehelichen oder unehelichen Kinder bezüglich ihrer Ver-

Unterscheidungsmerkmalen meint (Jaenicke in Wörterbuch des Völkerrechts 2 , „Diskriminierung"). Vgl. ferner E G M R 9.2.1967 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298); dazu Khol ZaöRVR 38 (1970) 236; FroweinlPeukert 17; Meyer-Lüdewig 8. Auch das EG-Recht verwendet den Diskriminierungsbegriff im gleichen Sinn, vgl. etwa GroebenlBoeckhl Thiesing2 Art. 7 EWGV, Anm. II, 1,2. 53

54

55 56

EGMR ständ. Rspr.; etwa 8.7.1986 Lithgow u.a./ GB (EuGRZ 1988 350); 18.2.1991 Maustaquim/B (EuGRZ 1993 552); 16.9.1996 Gaygusuz/Ö (EuGRZ 1997 405); ferner nachfolgende Fußn.; FroweiiilPeukert 19 (Beispiele zur Vergleichbarkeit Rdn. 20 ff); Grabemvarter § 26 Rdn. 6; Meyer-Ladewig 8; Khol ZaöRVR 38 (1970) 289; Partsch 93. E G M R 9.2.1967 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298); 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 28.11.1984 Rasmussen/Dän (EuGRZ 1985 511); 28.5.1985 Abdulaziz u.a./GB (EuGRZ 1985 567); FroweinlPeukert 17; Guradze 4 TT; Meyer-Ladewig 8,9. FroweinlPeukert 2; sowie Vorst. Fußn. Vgl. etwa E G M R 9.2.1967 belg. Sprachenfall (EuGRZ 1975 298); 27.10.1975 belg. Polizeigewerkschaft (EuGRZ 1975 566); schwed. Lokomotivführer (EuGRZ 1976 67); 8.6.1976 Engel/NdL (EuGRZ 1976 229); 18.1.1978 Trland/GB (EuGRZ 1979 158); 26.4.1979 Sunday Times/GB (EuGRZ

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57

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1979 388); 28.11.1984 Rasmussen/Dän (EuGRZ 1985 513); 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); 22. 10.1994 Stubbings ua/GB (ÖJZ 1997 436; Unterschiedliche Verjährungsfristen für vorsätzliche und fahrlässige Taten); 25. 5.1999 Olbertz/ D (NJW 2001 1558); FroweinIPeukert 10; Grabenwarter § 26 Rdn. 8, 9; Meyer-Ladewig 8, 9. Vgl. EKMR EuGRZ 1983 410: sachlich gerechtfertigt und nicht unverhältnismäßig, daß nur Haushaltsvorstände für die Ausfüllung des Erhebungsbogens bei Volkszählung verantwortlich sind. Grabenwarier § 26 Rdn. 8 weist darauf hin, daß die Beurteilung der Vergleichbarkeit eines Sachverhalts und der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung sich mitunter überschneiden; er sieht in der Verhältnismäßigkeit des mit der Differenzierung angestrebten Ziels zu den eingesetzten Mitteln letztlich die Rechtfertigung der Differenzierung. Etwa EGMR 24.6.1993 Schuler-Zgraggen/CH (EuGRZ 1996 604); 22.2.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559); 18.7. 1994 K. Schmidt/D (EuGRZ 1995 392); 21.2.1997 Van Raalte/NdL (ÖJZ 1998 151); 27.9.1999 Smith, Grady/GB (ÖJZ 2000 614); 24. 7. 2003 Karner/Ö (ÖJZ 2004 36); Grabemvarter § 26 Rdn. 10; Meyer-Ladewig 12. EGMR 23.6. 1993 Hoffmann/Ö (EuGRZ 1996 648); Grabemvarter § 26 Rdn. 13.

Walter Gollwitzer

13

M R K Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wandtschaftsverhältnisse 60 oder für unterschiedliche Regelungen, die ohne sonst rechtfertigende Gründe allein auf die Staatsangehörigkeit abstellen 61 . 14

Die Gründe für eine zulässige unterschiedliche Behandlung hängen von den jeweiligen sachlichen Gegebenheiten in den einzelnen Staaten, vom Zweck der damit verfolgten Differenzierung und von der Verhältnismäßigkeit der mit der Differenzierung verbundenen Wirkung 6 2 ab. Bei der Beurteilung des Regelungsraums der einzelnen Staaten wird unterschieden, ob sich in dem jeweiligen Sachbereich ein einheitlicher europäischer Standard entwickelt hat, so daß die Berufung auf überkommene Traditionen zurücktreten muß, oder in den einzelnen Mitgliedstaaten weiterhin unterschiedliche Auffassungen bestehen. Dann fallen auch die zeit- und umständebezogenen Wertvorstellungen in den einzelnen Vertragsstaaten mit ins Gewicht 63 , die vor allem zu unterschiedlichen Bewertungen bei einer Differenzierung führen können; der E G M R erkennt dann mit dem Hinweis auf deren größere Sachnähe den nationalen Stellen einen größeren Beurteilungsspielraum zu 64 . Übergreifende Anhaltspunkte für die Beurteilung der sachlichen Berechtigung und Angemessenheit von Differenzierungen bleiben aber immer die Ziele der Konventionen, wie sie in den Präambeln und in dem durch die Konventionsgarantien festgeschriebenen Gesamtsystem der Wertordnung der Vertragsgemeinschaft zum Ausdruck kommen 6 5 . Die Gründe, unter denen die Konventionsgarantien den Eingriff in ein von ihnen grundsätzlich geschütztes Recht zulassen, rechtfertigen in der Regel auch die darin liegende Differenzierung 66 gegenüber dem nicht von dieser Einschränkung erfaßten Genuß dieses Rechts 67 . Die Befugnis zur Differenzierung im Bereich eines Konventionsrechts hängt aber nicht davon ab, daß einer dieser Eingriffsgründe vorliegt. Die Zuerkennung eines Beurteilungsraums der einzelnen Staaten schließt nicht aus, daß sich der E G M R die letzte Entscheidung vorbehält, ob die im Einzelfall vorgetragenen Sachgründe so gewichtig sind, daß sie eine Differenzierung rechtfertigen 68 .

15

Auch bei Art. 2 Abs. 1 IPBPR wird, ungeachtet des anderen Wortlauts der engl. Fassung („distinction", statt „discrimination") nur die sachwidrige, nicht durch vernünftige, objektive Gründe zu rechtfertigende oder unverhältnismäßige Ungleichbehandlung verboten 6 9 . Als Beispiele für Merkmale einer unzulässigen Diskriminierung werden weitgehend die gleichen Gesichtspunkte aufgezählt wie bei Art. 14 M R K . Lediglich die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit fehlt 70 ; dies ist jedoch ohne sachliche Bedeutung, da die Aufzählung auch hier nur beispielhaft ist und jede Differenzierung verbietet, die nicht durch einen zureichenden objektiven Grund gerechtfertigt wird 71 . «· Vgl. etwa E G M R 13. 6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 28.10.1987 Ttize/Ö (ÖJZ 1988 177); Meyer-Ladewig 19 mit weit. Nachw.; zur grundsätzlichen Gleichbehandlung der Väter aus geschiedenen Ehen und der natürlichen Väter beim Umgangsrecht mit ihren Kindern vgl. E G M R 8.7.2003 Sommerfeld/D (Rdn. 16); ferner die Frage offenlassend E G M R 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); vgl. auch bei Art. 8 MRK Rdn. 30 oder UN-AMR NJW 2002 253 (Rückgabe entzogenen Eigentums nur an Staatsbürger). 61

62 63

Etwa E G M R 16.9.1996 Gayagusus/Ö (ÖJZ 1996 955). Vgl. Grabenwarter § 26 Rdn. 9; oben Rdn. 12. EGMR 28.11. 1984 Rasmussen/Dän (EuGRZ 1985 511); Frowein/Peukert 23, 24; Khol ZaöRV 30 (1970) 282.

64

Grabenwarter § 26 Rdn. 12; Meyer-Lüdewig weit. Nachw.

65

Vgl. etwa UN-AMR EuGRZ 1989 39 (Unterschiedliche Rechtsstellung zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren im niederl. Versicherungsrecht). 66 Etwa 20.5.1999 Rekvenyi/Ung (NVwZ 2000 421); 27.6.2000 Chaäre Shalom Ve Tsedek/F (ÖJZ 2001 774); Meyer-Ladewig 22. 67 Vgl. Fnnvein/Peukert 5 ff. « EGMR 28.5.1985 Abdulaziz u.a./GB (EuGRZ 1985 567). 28. 10.1986 Tnze/Ö (ÖJZ 1988 177); dazu FroweinIPeukeri 6, 48. 69 Nowak 32, 33. Zur negativen Umschreibung in der Entstehungsgeschichte „arbitrary", „unfair and unreasonable treatment" Tomuschat FS Schlochauer 712. ™ Vgl. Art. 27 TPBPR und Rdn. 23. 71 Nowak 34.

9 mit

Stand: 1.10.2004

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Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

Die Beispiele unzulässiger Differenzierungsgesichtspunkte in beiden Konventionen bestätigen zwar, daß die in Art. 14 M R K , Art. 2 Abs.l IPBPR erwähnten Gesichtspunkte in der Regel für sich allein eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen können 7 2 . Sie schließen diese aber nicht zwingend aus. Hält der Staat unterschiedliche Regelungen in ihrem Bereich für erforderlich, muß er aufzeigen, daß ein vernünftiger sachlicher Zweck von Gewicht diese erfordert 7 3 . Dies gilt verstärkt für das spezielle Gleichbehandlungsgebot von Mann und Frau in Art. 3 IPBPR 7 4 ; jedoch wurden auch hier sachbezogene Differenzierungen nicht völlig ausgeschlossen 75 . Der E G M R hat beispielsweise eine unzulässige Diskriminierung darin gesehen, daß unverheiratete Männer über 45 Jahre, nicht aber unverheiratete Frauen im gleichen Alter zu Sozialabgaben nach einem allgemeinen Kinderhilfegesetz herangezogen wurden 7 6 oder daß einer Frau wegen ihrer Mutterschaft die Weiterzahlung ihrer Invalidenrente mit der Begründung verweigert wurde, daß Frauen üblicherweise nach der Geburt eines Kindes ihre Berufstätigkeit einstellen 77 . Eine unzulässige Differenzierung wurde ferner darin gesehen, daß einem Witwer Witwengeld und Unterstützung für die Kinder versagt wurde, weil dies nur den Witwen zustehe 78 , ferner in der Ungleichbehandlung von M a n n und Frau bei der Möglichkeit, den eigenen Nachnamen mit dem Familiennamen zu verbinden 7 9 oder in der Ungleichbehandlung ehelicher und unehelicher Kinder bei der Erbfolge 8 0 oder bei der Anwartschaft auf Hofübernahme nach einem Erbhöfegesetz 81 . Ob der Gesetzgeber mit dem ehem. § 1711 Abs. 2 BGB das Umgangsrecht des unehelichen Vaters mit dem Kinde anders regeln durfte als bei einem Vater nach einer geschiedenen Ehe, hat der E G M R offen gelassen 82 . Spätere Entscheidungen beanstandeten die Ungleichbehandlung der Väter 82a . Die das Recht auf Familienleben (Art. 8 M R K ) berührende Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Regelung der Einwanderung verstieß gegen Art. 14 M R K 8 3 . Ein Verstoß gegen Art. 14 E G M R wurde auch darin gesehen, daß - anders als bei Eheleuten - einer Person, die in einer homosexuellen Beziehung gelebt hatte, nach dem Tode ihres Partners der Eintritt in das Mietverhältnis versagt wurde 84 . Gegen Art. 14 M R K verstieß auch, daß einem berechtigt im Inland lebenden Ausländer allein wegen der fehlenden Staatsangehörigkeit Unterstützungszahlungen aus der Arbeitslosenversicherung verweigert wurden 8 5 . Eine nach Art. 14 in Verbindung mit Art. 9 M R K unzulässige Diskriminierung lag ferner darin, daß einer Mutter die elterliche Gewalt nur wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht übertragen wurde 8 6 oder daß eine Reduktion der Kirchensteuer nur verweigert wurde, weil der

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Guradze 3: die angeführten Merkmale lösen die Vermutung der Sachfremdheit einer auf sie gestützten Differenzierung aus. FrowemlPeukeri 25; Grabenwarier § 26 Rdn. 4; Meyer-Lädewig 8. Vgl. E G M R 22.02.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559: Unterschiedliche Doppelnamen nach Ehe). Vgl. EGMR 18.7.1994 Schmidt/D (EuGRZ 1995 392 Feuerwehrabgabe statt Dienstpflicht bei Feuerwehr, aber keine Differenzierung nach Geschlechtern, wenn Ausgleichscharakter entfallen ist). EGMR 21.2.1997 Van Raalte/NdL (ÖJZ 1998 117); vgl. ferner EGMR 14.7. 1994 Schmidt/D (EuGRZ 1995 392 Feuerwehrabgabe), dazu Meyer-Ladewig 13. EGMR 24.6.1993 Schuler-Zgraggen/CH (EuGRZ 1996 604); Frowein/Peukerl 29; Villiger HdB 667. E G M R 11.6.2002 (Willis/GB). E G M R 22.2.1994 Burghartz/CH (ÖJZ 1994 559); Meyer-Ladewig 12.

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s

» EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); l-rowein! Peukert 12; Μeyer-Ladewig 19. 81 E G M R 28.10.1987 Inze/Ö (ÖJZ 1988 177); FrowemlPeukeri 6, 49. 82 E G M R 13. 7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315). s2a EGMR 8.7.2003 Sommerfeld/D; 8.7.2003 Sabin/D (EnGRZ 2004 707; 711); vgl. Goedeeke JIR 46 (2003) 606, 625, 630. 83 EGMR 28.5.1985 Abdulazis u.a./GB (EuGRZ 1985 567); FrowemlPeukeri 28. 84 E G M R 24. 7.2003 Karner/Ö (ÖJZ 2004 36). 85 E G M R 16.9.1996 Gaygusuz/Ö (JZ 1997 405); dazu kritisch Ilailbronner JZ 1997 397, auch zur Frage, ob hier der Eigentumsschutz des Art. 1 l . Z P als verletztes Konventionsrecht greift. 86 E G M R 23.6.1993 Hoffmann/Ö (EuGRZ 1996 648: Zeugen Jehovas); Grabenwarier § 26 Rdn. 13.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Betroffene nicht im Inland wohnt 8 7 . Gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 M R K verstieß ferner, daß einer kirchlichen Gruppierung mangels Rechtspersönlichkeit der Zugang zu Gericht versagt wurde, während dies anderen religiösen Gruppen ohne besondere Formalitäten möglich war 88 oder daß bei der Regelung des Jagdrechts die Eigentümer kleinerer Grundstücke benachteiligt wurden 8 9 . Wegen unzulässiger Diskriminierungen im Bereich der Eigentumsgarantie vgl. bei Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls 90 . 16a

Eine in der Natur der Sache liegende oder aus übergeordneten Gesichtspunkten angezeigte Unterscheidung schließen auch die nur als Anzeichen für eine konventionswidrigen Diskriminierung aufgeführten Merkmalen nicht aus. Dies gilt nicht nur für die als Sonderfall in Art. 16 M R K ausdrücklich geregelten Einschränkung der politischen Betätigung der Ausländer, sondern allgemein. Voraussetzung für jede Ungleichbehandlung ist aber, daß ein sie rechtfertigender Grund einsichtig ist und daß das mit ihm verfolgte Ziel und die dafür eingesetzten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zu der Ungleichbehandlung stehen 91 . Zum Beispiel wurde die nur für Ehemänner bestehende Ausschlußfrist für die Ehelichkeitsanfechtungsklage als gerechtfertigt angesehen, weil dies der Rechtssicherheit und dem Interesse des Kindes dient 92 . Als sachlich gerechtfertigt wurden auch unterschiedliche Haftbedingungen für weibliche und männliche Häftlinge angesehen 93 oder eine ungleiche Behandlung der Kinder, die wegen der (zulässigen) anonymen Geburt keine Auskunft erhalten, wer ihre natürlichen Eltern sind gegenüber anderen Kindern, dies gilt auch im Hinblick auf ein Erbrecht 9 4 . Die Schlechterstellung der eigenen Staatsbürger gegenüber den vom Völkerrecht geschützten Ausländern hat der E G M R bei der Festsetzung der Enteignungsentschädigung für zulässig gehalten 95 . Bei der Zulassung der Einreise darf der Staat aus sachlichen, nicht aber aus rassistischen Gründen die Angehörigen bestimmter Länder bevorzugen 96 . Weitere Beispiele sind etwa der Minderheitenschutz nach Art. 27 IPBPR oder die Anwendung des Territorialprinzips bei der Festsetzung der Amts- und Gerichtssprache in mehrsprachigen Staaten 97 . Die unterschiedliche Regelung des Kündigungs- und Räumungsschutzes bei Wohnungen und bei anderen, insbesondere gewerblich benutzten Immobilien hat der E G M R als objektiv und vernünftig angesehen, da der Schutz der Mieter während eines ernstlichen Wohnungsmangels dies rechtfertigt 98 . Wegen weiterer Einzelheiten vgl. die Erläuterungen zu den einzelnen Konventionsgarantien 99 .

87

E G M R 23.10.1990 Darby/Schwed (EuGRZ 1990 504); Grahemvarier § 26 Rdn. 14, Meyer-Ladewig 18. 88 E G M R 16.12.1997 Katholische Kirche von Chania/Griech. (ÖJZ 1998 750). ® EGMR 29.4.1999 Chassagnou u.a./F (NJW 1999 3695); Meyer-Ladewig 21. 90 Dort Rdn. 8; ferner FroweinlPeukert 53 ff. 91 FroweinIPeukeri 23 unter Hinweis auf E G M R 21.2. 1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); MeyerLadewig 8. 92 EGMR 28. 11. 1984 Rasmussen/Dän. (EuGRZ 1985 511); 27.10.1994 Krön u.a./Ndl (ÖJZ 1995 269) beschränkte sich auf die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 8 MRK; vgl. FroweinIPeukeri 24. 27. 93 E K M R nach FroweinIPeukeri 33. 94 EGMR 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2145) mit Hinweis, daß diese Kinder bei ihren Adoptiveltern erbberechtigt sind.

95

96

E G M R 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); zur Streitfrage vgl. Art. 1 des 1. ZP, Rdn. 8. E G M R 18.2.1991 Moustaquim/Belg (EuGRZ 1993 552); FroweinIPeukeri 45 mit weiteren Beispielen aus der Spruchpraxis der EKMR; Meyer-Ladewig 18.

97

98

99

E G M R 9.2.1967 belg. Sprachenfall EuGRZ 1975 298); dazu FroweinIPeukeri 10; 38; Schweiz.BGer. EuGRZ 1981 221 (Festlegung der Gerichtssprache durch Kantone); vgl. zum Schutz der Minderheitensprache auch östr.VfGH EuGRZ 1984 19 mit Anm. Stadler; Guradze JTR 15 (1971) 260; Art. 6 M R K Rdn. 235; ferner Nowak Art. 2 Rdn. 39. E G M R 28.9.1994 Spadea, Scalabrino/I (ÖJZ 1996 189). Ferner auch FroweinIPeukeri 25 ff; Grabenwarter § 26 Rdn. 4 ff; Guradze 6 ff; Meyer-Ladewig 11 ff; Nowak 35 ff.

Stand: 1.10.2004

(570)

Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

c) Sowohl vom Gesetzgeber als auch beim Gesetzesvollzug ist - ähnlich wie Art. 3 G G das Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Ausübung der Konventionsrechte in Art. 14 M R K , Art. 2 Abs. 1 IPBPR zu beachten 10°. Zu beachten ist aber auch, daß eine sachlich unberechtigte Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte die Verpflichtung zur sachbezogenen Differenzierung verletzen kann, so dürfen Personen bei Bestehen wesentlicher Wertungsunterschiede nicht gleichbehandelt werden 101 . Dies schließt aber innerhalb gewisser Grenzen eine Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers bei Massenvorgängen (Steuern, Sozialabgaben) nicht aus 102 .

17

3. Allgemeine Garantie der Gleichheit (Art. 26 IPBPR); künftig auch Art. 1 des 12. Z P a) Als selbständiges Recht, das - anders als die Garantien des Art. 14 M R K , Art. 2 Abs. 1, Art. 3 IPBPR - nicht akzessorisch an den Anwendungsbereich einer anderen Konventionsgarantie gebunden ist 103 , garantiert Art. 26 IPBPR die allgemeine Gleichheit vor dem Gesetz und den Anspruch aller Menschen auf gleichen Schutz durch das Gesetz ohne jede Diskriminierung 104 . Damit wird eine allgemeine Verpflichtung des nationalen Gesetzgebers zur Gleichbehandlung über den von Art. 2 Abs. 1 IPBPR (Art. 14 M R K ) umfaßten Bereich der Konventionsrechte hinaus begründet. Die Staaten werden verpflichtet, auch dort, wo es nicht um die Umsetzung von Konventionsrechten geht, jede sachlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung zu unterlassen 105 . Eine unmittelbare Drittwirkung kommt der Garantie des Art. 26 IPBPR aber auch dort nicht zu, wo sie in das nationale Recht inkorporiert ist 106 .

18

b) Gleichheit vor dem Gesetz verlangt die grundsätzliche Gleichbehandlung aller 19 Personen bei Anwendung des Gesetzes. Als besonders wichtiger Unterfall wird die Gleichheit aller Menschen vor Gericht in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR noch besonders garantiert. Als formaler Grundsatz betrifft die Gleichheit vor dem Gesetz die Gesetzesanwendung durch Gerichte und Behörden. Sie schließt nicht aus, daß individuelle Merkmale und persönliche Eigenschaften eines Menschen bei der Gesetzesanwendung eine Rolle spielen, wie etwa bei Beurteilung der Eignung zur Führung eines Kraftfahrzeugs oder zum Betrieb eines Gewerbes oder die Persönlichkeitsstruktur bei Bemessung einer Strafe oder der Beurteilung der Haftgründe für die Untersuchungshaft. Gleichbehandlung erfordert aber, daß dies in dem vom Gesetz vorgezeichneten Rahmen nach gleichen Gesichtspunkten geschieht. Vor allem jede Willkür bei Anwendung des Gesetzes wird ausgeschlossen 107 . c) Ob sich der gleiche Schutz durch das Gesetz nur auf die Gesetzesanwendung be- 2 0 zieht, also den ersten Halbsatz nur in einem für seine Verwirklichung wichtigen Gesichtspunkt bekräftigt 108 , oder ob er jede Diskriminierung durch die nationale Rechtssetzung 11111 1111

1,12 1113 1114

'

Nowak 33; Tommchal FS Schlochauer 694. Vgl. E G M R 6.4.2000 Thilimmenos/Griech (ÖJZ 2001 518); 29.4.2002 Pretty/GB (NJW 2002 2851); Grabemvarter § 26 Rdn. 5; Meyer-Ladewig 10. Vgl. Etwa BVerfGE 63 119, 128. Guradze JIR 1971 (15) 261; Nowak 12. Nowak 12 ff So auch das noch nicht in Kraft befindliche 12. Protokoll zur M R K ; vgl. Rdn. 23. Grabenwaner § 26 Rdn. 17 (im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des 12. ZP); Nowak 19 ff; vgl. Rdn. 20. Da fast alle Mitgliedstaaten der EU den IPBPR ratifiziert haben, stellt sich aber

(571)

schon jetzt die Frage, ob der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 26 IPBPR nicht bereits inhaltlich zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaft gehört; vgl. Kischel EuGRZ 1997 1, 11. ins Tomuschat FS Schlochauer 696. Grabenwarter § 26 Rdn. 18 hält es trotz der offiziellen Erläuterungen zum 12. ZP für zweifelhaft, ob der EGMR angesichts seiner Rechtsprechung zu den positiven Pflichten dieser Auffassung beitreten wird. 107

Nowak 15. ins Tomuschat FS Schlochauer 705; dagegen Nowak 16.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 14

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

auch über Art. 2 Abs. 1 IPBPR hinaus allgemein verbietet 109 , ist nicht zuletzt wegen der wenig erhellenden Anbindung des Diskriminierungsverbotes des Satzes 2 („In this respect", „A cet egard") und der auch sonst unklaren Entstehungsgeschichte strittig 110 . Folgt man der weiten Auslegung, welche in Art. 26 eine über die anderen Konventionsgarantien hinausreichende Verpflichtung des nationalen Gesetzgebers zum Unterlassen diskriminierender Regelungen sieht 111 , dann ist der nationale Gesetzgeber ähnlich wie durch Art. 3 G G gehalten, allgemein im nationalen Recht für die materielle Gleichheit der Rechte und Pflichten zu sorgen. Er hat jede unterschiedliche Behandlung aus nicht sachbezogenen Gründen zu unterlassen (negatorisches Diskriminierungsverbot). Er darf deshalb auch die Rückgabe früher generell konfiszierten Eigentums nicht vom Erwerb der eigenen Staatsbürgerschaft abhängig machen 112 . Die Schutzpflicht des Staates erfordert wohl auch, daß er durch hinreichend genaue Fassung seiner Vorschriften eine tragfähige objektive Grundlage für die Gleichbehandlung bei der Rechtsanwendung und den Ausschluß von Willkür schafft und daß er auch sonst durch positive Maßnahmen zumindest im öffentlichen Bereich für einen gleichen und wirksamen Schutz gegen Diskriminierung sorgt 113 . Dies rechtfertigt sogar zeitlich begrenzt bevorzugende Sondermaßnahmen 1 1 4 zugunsten von Personen, die Opfer einer früheren und noch fortwirkenden Diskriminierung waren 115 . Ob Satz 2 den Staat dagegen verpflichtet, über das Verhältnis Staat/Einzelperson hinaus im quasi-öffentlichen Bereich Diskriminierungen durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken 116 , erscheint fraglich 117 . Wollte man dies annehmen, müßte man den Staaten hier einen weiten Beurteilungsspielraum für die Notwendigkeit positiver Schutzmaßnahmen zubilligen 118 . Auf den Privatbereich, den Bereich persönlicher Entscheidungen, erstreckt sich, wie die Entstehungsgeschichte zeigt, eine solche Schutzpflicht des Staates nicht" 9 . Auf die Streitfragen 120 kann im Rahmen dieses Überblicks nicht eingegangen werden. Wie bei Art. 3 G G bedeutet Gleichheit, daß sachlich Gleiches gleich, aber auch, daß sachlich Verschiedenes ungleich zu behandeln ist, wobei die sachliche Gleichheit immer 109

110

111

112 113

114

Vgl. Teil Τ Nr. 5.9 des Kopenhagener KSZE-Dokuments (Fußn. 11): Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In diesem Zusammenhang wird das Gesetz jede Diskriminierung untersagen und jedermann gleichen und wirkungsvollen Schutz gegen Diskriminierung gleich welcher Art angedeihen lassen. Dazu Nowak 8 ff, 16 ff; andererseits IIofmann S. 52; Tomuscha/ FS Schlochauer 702 ff. UN-AMR EuGRZ 1989 35 mit krit. Anm. Tomuschal; Nowak 17, 18. UN-AMR NVwZ 2002 327 L. Nowak 28 ff. Zur Entstehungsgeschichte des Satzes 2 vgl. Nowak 8 ff, 27. Zur sogen, „affirmative action" vgl. auch die Präambel des noch nicht in Kraft befindlichen 12. Protokolls; danach sind auch gezielt nur einzelne Gruppen betreffende Maßnahmen zulässig „zur Förderung der vollen und wirklichen Gleichheit", „soweit diese Maßnahmen objektiv und vernünftig und gerechtfertigt sind", wie etwa eine „Frauenquote" oder Maßnahmen zugunsten von Minderheiten. Im Recht der Europäischen Gemeinschaften läßt Art. 141 Abs. 4 EGV im Berufsleben „Vergünstigungen für das unterrepäsentierte Geschlecht"

115

116

117

118 119

1211

ausdrücklich zu; auch Art. 23 Abs. 2 der EU Grundrechtscharta sieht „die Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht" als mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar an. UN-AMR (Uruguay; Bevorzugung der früher aus politischen Gründen entlassenen Beamten bei Zugang zu den Ämtern ist keine Diskriminierung, sondern Wiedergutmachung); zum aktiven Diskriminierungsschutz vgl. Nowak 29; ferner etwa Delbrück FS Schlochauer 264. So Nowak 31 unter Bezugnahme auf UN-Ausschuß (Horizontalwirkung, die den Staat im quasi-öffentlichen Bereich wie Arbeitsverhältnisse, Schulen, Verkehrsmittel, Hotels, Theater, Parks usw. verpflichten kann, manifeste Diskriminierungen zu unterbinden). Verneinend Hofmann S. 51 unter Hinweis auf die zunehmend vertretene Gegenmeinung. Nowak 31. Nowak 31; Tomuschat FS Schlochauer 702, 710 ff („to forbid privat discrimination", „lethal threat to private freedom"). Vgl. etwa Guradze JIR 1971 (15) 261; Hoftnann S. 49; Nowak 30 ff; Tomuschat FS Schlochauer 702 je mit weit. Nachw.

Stand: 1.10.2004

(572)

Art. 2 Abs. 1, Art. 3,16, 26, 27IPBPR

Diskriminierungsverbot

nach dem Ausmaß der Übereinstimmung bei den für die sachgerechte Regelung des jeweiligen Lebenssachverhalts maßgebenden Kriterien zu beurteilen ist, nicht aber nach den dafür irrelevanten Fakten. Sowohl die Gleich- als auch die Ungleichbehandlung müssen durch einen vernünftigen, aus der Natur der Sache sich ergebenden oder sonst einleuchtenden rationalen Grund gerechtfertigt sein 121 . Art. 26 IPBPR verbietet aber nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur die Dis- 2 2 kriminierung im bereits oben erörterten Sinn 122 ; also eine Differenzierung der Rechte oder Pflichten, die durch keinen (zulässigen) sachlichen Grund gerechtfertigt wird und die (objektiv) als willkürlich erscheint. Dies gilt auch für die Anforderungen an den staatlichen Schutz der Gleichbehandlung in Satz 2 und die dort aufgestellten, mit der Aufzählung in Art. 2 Abs. 1 IPBPR inhaltsgleichen Beispiele unzulässiger Unterscheidungskriterien 123 . Diese können für sich allein keine Differenzierung rechtfertigen. Dies schließt aber bei Vorliegen triftiger sachlicher Gesichtspunkte nicht aus, daß sie als Gründe für eine sachbezogene Differenzierung mit herangezogen werden. Eine Rechtfertigung unterschiedlicher Behandlung kann sich im übrigen auch aus der Konvention ergeben, etwa aus der Beschränkung der politischen Rechte auf die Staatsbürger in Art. 25 IPBPR, aus Art. 16 MRK 1 2 4 oder aus dem Verbot des Eintretens für nationalen, rassischen oder religiösen Haß in Art. 20 IPBPR. Art. 1 Abs. 1 des 12. Zusatzprotokolls125 verbietet zur Sicherung der allgemeinen Gleich- 2 3 behandlung ebenfalls über die Konventionsgarantien hinaus jede Diskrimierung bei der Ausübung der aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten folgenden Rechte, wobei die Gesichtspunkte, die eine Ungleichbehandlung für sich allein nicht rechtfertigen können, wie Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische oder andere Meinung, nationale oder soziale Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt oder ein anderer Status ebenso wie bei Art. 26 IPBPR als Beispiele aufgeführt werden. In Ergänzung dazu wird den Trägern der öffentlichen Gewalt jede Diskriminierung verboten, die sich allein auf einen dieser Gesichtspunkte stützt. Gleichbehandlungsgebot und Diskriminierungsverbot beruhen auf dem gleichen Grundgedanken und bilden eine zusammengehörende Einheit 126 . Anders als bei Art. 14 M R K ist das allgemeine Diskriminierungsverbot nicht akzessorisch auf den Bereich der anderen Konventionsgarantien beschränkt. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls erfaßt - ähnlich wie Art. 3 G G - die ganze nationale Rechtsordnung und Rechtsanwendung. Diese wird damit unter diesem Gesichtspunkt insgesamt der Kontrolle durch den E G M R unterworfen 127 . 4. Minderheitenschutz. Die M R K spricht den Schutz der ethnischen, rassischen oder religiösen Minderheiten 1 2 8 nicht besonders an. Das Verbot einer Diskriminierung allein

121

Vgl. Rdn. 17. Vgl. Rdn. 12. 123 Vgl. Rdn. 12. 124 Weitere Beispiele oben R d n . 8; vgl. ferner Art. 16 M R K Rdn. 4. 125 Vom 4.11.2000, noch nicht in K r a f t . 126 Grahemvarter § 26 R d n 17. 127 Grabenwarler § 26 R d n . 18 sieht in dieser Ausdehnung des Konventionsschutzes einen der H a u p t gründe f ü r die zögerliche Ratifikation dieses Protokolls durch die Mitgliedstaaten. 128 Z u m Fehlen eines völkerrechtlich allgemein akzeptierten Begriffs der nationalen Minderheit vgl. v. Ar122

(573)

nuald AVR 42 (2004) 111; Hofmann ZaöRV 52 (1992) 1; Riehes E u G R Z 1995 262, 263 (unter Hinweis auf Nr. 12 des Erläuternden Berichts zu diesem A b k o m m e n - abgedruckt E u G R Z 1995 268), ferner zur Frage, ob unter den völkerrechtlichen Minderheitenbegriff auch Angehörige fremder Staaten fallen, vgl. Uilpuld AVR 42 (2004) 80 ff; Kugelmann AVR 39 (2001) 233, 239 ff. F ü r das allgemeinen Diskriminierungsverbot, das unabhängig von der Staatsangehörigkeit jeden schützt, spielt diese Frage keine Rolle, wohl aber bei der Frage, wieweit ein Staat unter diesem Gesichtpunkt zu spezifischen S o n d e r m a ß n a h m e n verpflichtet ist.

Walter Gollwitzer

24

M R K Art. 15

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wegen der Zugehörigkeit zu einer solchen Minderheit folgt aus dem allgemeinen Verbot der Ungleichbehandlung unter einem solchen Gesichtspunkt, die Lebensweise einer Minderheit kann auch unter den Schutz des Privatlebens (Art. 8 M R K ) fallen 129 . Die Freiheitsgarantien der Konventionen, vor allem der Schutz der privaten Lebensgestaltung, das Recht auf Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit (Art. 8, 10, 11 M R K , Art. 17, 18 und 21 IPBPR) gewährleisten jedem einen individuellen Freiheitsraum, auf den sich auch die einzelnen Angehörigen einer religiösen, völkischen oder sonstigen Minderheit zur Wahrung ihrer Identität berufen können, da deren Einschränkung in der Regel in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich ist ,29a . Diese Garantien und die formale Gleichbehandlung mit allen anderen Personen lösen aber das eigentliche Problem der nationalen Minderheiten, die Wahrung ihrer spezifischen Besonderheiten gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung, nicht. Zum Erreichen einer materiellen Gleichbehandlung können deshalb spezifische Sonderregelungen zu Gunsten einer Minderheit („affirmativ action") mit dem Gebot der Gleichbehandlung vereinbar sein, wie dies in der Präambel zum 12. Zusatzprotokoll und auch in der Europäischen Grundrechte-Charta in Art. 21 Abs. 2 als mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar angesehen wird 130 . Art. 27 IPBPR bestätigt dies, wenn er das Recht der ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten auf ein eigenes kulturelles und religiöses Leben und auf ihre eigene Sprache herausstellt 1301 . Gleiches gilt für das europäische Rahmenübereinkommen zum Schutze nationaler Minderheiten vom 1. 2. 1995 m . 25

Auf weitere Einzelheiten einzugehen würde den Rahmen dieses Überblicks überschreiten.

Art. 15 MRK (Art. 4 IPBPR) MRK Artikel 15 A b w e i c h e n im N o t s t a n d s f a l l *

IPBPR

(1) W i r d d a s L e b e n der N a t i o n durch Krieg oder e i n e n a n d e r e n ö f f e n t l i c h e n N o t s t a n d bedroht, s o k a n n j e d e H o h e V e r t r a g s p a r t e i M a ß n a h m e n treffen, die v o n d e n in d i e s e r K o n v e n t i o n v o r g e s e h e n e n V e r p f l i c h t u n g e n a b w e i c h e n , jed o c h nur, s o w e i t e s die L a g e u n b e d i n g t erfordert u n d w e n n die M a ß n a h m e n nicht im W i d e r s p r u c h z u d e n s o n s t i g e n v ö l k e r r e c h t l i c h e n V e r p f l i c h t u n g e n der V e r t r a g s p a r t e i e n stehen.

(1) Im Falle e i n e s ö f f e n t l i c h e n N o t s t a n d e s , der d a s L e b e n der N a t i o n bedroht u n d der a m t l i c h v e r k ü n d e t ist, k ö n n e n die V e r t r a g s s t a a t e n M a ß n a h m e n ergreifen, die ihre Verp f l i c h t u n g e n a u s d i e s e m Pakt in d e m U m f a n g , d e n die L a g e u n b e d i n g t erfordert, a u ß e r Kraft s e t z e n , v o r a u s g e s e t z t , d a ß d i e s e M a ß n a h m e n ihren s o n s t i g e n v ö l k e r r e c h t l i c h e n Verp f l i c h t u n g e n nicht z u w i d e r l a u f e n u n d k e i n e D i s k r i m i n i e r u n g allein w e g e n der R a s s e , der H a u t f a r b e , d e s G e s c h l e c h t s , der S p r a c h e , der Religion o d e r der s o z i a l e n H e r k u n f t enthalten.

(2) Auf G r u n d d e s A b s a t z e s 1 darf v o n Artikel 2 nur bei T o d e s f ä l l e n infolge r e c h t m ä ß i g e r K r i e g s h a n d l u n g e n u n d v o n Artikel 3, Artikel 4 A b s a t z 1 u n d Artikel 7 in k e i n e m Fall abgewichen werden.

(2) Auf G r u n d der v o r s t e h e n d e n B e s t i m m u n g d ü r f e n die Artikel 6, 7, 8 ( A b s ä t z e 1 u n d 2), 11, 15, 16 u n d 18 nicht a u ß e r Kraft g e s e t z t w e r d e n .

Artikel 4

Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vcm 17.5.2002 (BGBl. II S. 1054).

129

Meyer-Ludewig Art. 8 Rdn. 16. Zur Spruchpraxis des EGMR und des UN-AMR in diesen Fällen eingehend Pentassuglia JIR 46 (2003) 401 ff. ™ Vgl. Rdn. 6a, 21.

1

12911

131

Zu den vom UN-AMR behandelten Fällen Pentassuglia JIR 46 (2003) 401, insbes. 408, 423 ff, 427, 437 ff Vgl. Rdn. 6b.

Stand: 1.10.2004

(574)

Abweichen im Notstandsfall (3) Jede Hohe Vertragspartei, die dieses Recht auf Abweichung ausübt, unterrichtet den Generalsekretär des Europarats umfassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe. Sie unterrichtet den Generalsekretär des Europarats auch über den Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Konvention wieder volle Anwendung findet.

Art. 4 IPBPR

(3) Jeder Vertragsstaat, der das Recht, Verpflichtungen außer Kraft zu setzen, ausübt, hat den übrigen Vertragsstaaten durch Vermittlung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen unverzüglich mitzuteilen, welche Bestimmungen er außer Kraft gesetzt hat und welche Gründe ihn dazu veranlaßt haben. Auf demselben Wege ist durch eine weitere Mitteilung der Zeitpunkt anzugeben, in dem eine solche Maßnahme endet.

Schrifttum (Auswahl): Kitz Die Notstandsklausel des Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Diss Heidelberg 1982; Stein Die Außerkraftsetzung von Garantien menschenrechtlicher Verträge in I. Maier (Hrsg) Europäischer Menschenrechtsschutz, Schranken und Wirkungen (1982) 135: Wurst Die völkerrechtliche Sicherung der Menschenrechte in Zeiten staatlichen Notstandes - Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention (1967). Übersicht Rdn. 1. Allgemeines

1

2. Voraussetzungen a) Öffentlicher Notstand b) Amtliche Verkündung c) Notifikation d) Erforderlichkeit der Maßnahmen

2 3 5 6

Rdn. e) Beachtung sonstiger völkerrechtlicher Verpflichtungen t) Diskriminierungsverbote g) Weiter Beurteilungsraum der Staaten . . . 3. Notstandsfeste Gewährleistungen

8 9 10 11

1. Allgemeines. Art. 15 M R K und Art. 4 IPBPR gestatten den Vertragsstaaten, im 1 Falle eines öffentlichen Notstandes Maßnahmen zu ergreifen, mit welchen sie sich über die Mehrzahl der Verpflichtungen hinwegsetzen können, die ihnen auf Grund der Konventionen obliegen. Diese Befugnis, die sie auch auf Teile ihres Staatsgebiets beschränken können, haben sie aber nur, wenn, soweit und solange dies nach der jeweiligen Lage unbedingt erforderlich ist. Eine förmliche Aufhebung der bei den Notstandsmaßnahmen nicht zu beachtenden Konventionsartikel bedarf es dafür nicht 1 . Diese Konventionsrechte werden in dem Umfang, in dem der bedrohte Staat sie wirksam außer Kraft setzt, unanwendbar 2 ; sie stehen dann insoweit Eingriffen des Staates in die betroffenen Konventionsgarantien nicht entgegen. 2. Voraussetzungen a) Es muß ein öffentlicher Notstand vorliegen, der das Leben der Nation bedroht, 2 der also so schwerwiegend ist, daß der Fortbestand des geregelten Lebens in der jeweiligen staatlichen Gemeinschaft in Frage gestellt wird. Der nur in Art. 15 M R K , nicht aber in Art. 4 IPBPR besonders erwähnte Krieg kann, ebenso wie sonstige bewaffnete Auseinandersetzungen von Gewicht, eine solche die Existenz des Staates bedrohende Lage sein 3 . Unter Krieg im völkerrechtlichen Sinn wird man die unter Anwendung von Waffengewalt geführte Auseinandersetzung zwischen mehreren Staaten zu verstehen haben, wobei auch bewaffnete Konflikte ohne förmliche Kriegserklärung als „Krieg" im Sinne

1

E G M R 1.7.1961 Lawless/Irl (Series A 3), Frmveinl

Fenken 8; Guradze 5; Partseh 76. Zur Berufung auf Art. 15 M R K in der Staatenpraxis vgl. die Auf-

listung bei Kitz 96 ff; ferner Villinger HdB 698. Grabenwarter § 2 Nr. 8. - l'roweiniPeukert 6, 7; Meyer-Ladewig 5; Nowak 12;

2

Partseh 75 und Guradze 2 wonach diese Voraussetzung nicht gegeben ist, wenn die Verwicklung des Staates in einen bewaffneten Konflikt weder seinen Bestand gefährdet noch seine Bevölkerung erheblich in Mitleidenschaft zieht.

1

(575)

Walter Gollwitzer

M R K Art. 15

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

dieser Konvention angesehen werden. Diese Zuordnung ist allerdings bei Art. 15 M R K von geringer Bedeutung, da bewaffnete Auseinandersetzungen andernfalls als öffentlicher Notstand die gleichen Einschränkungen rechtfertigen können 4 , so etwa gewaltsame innerstaatliche Konflikte, die die Existenz des organisierten Gemeinwesens bedrohen. Einschränkungen bei Konventionsrechten können auch durch andere Staatskrisen zu deren Bewältigung notwendig werden; auch fortlaufende terroristische Anschläge oder Naturkatastrophen können das Ausmaß einer solchen, die Existenz des Staates als geregeltes Gemeinwesen in Frage stellende Krisensituation erreichen 5 . Die Bedrohung muß bereits eingetreten sein oder unmittelbar bevorstehen und sie muß so schwerwiegend sein, daß sie zumindest in einem Teilbereich die Bevölkerung trifft und mindestens in diesem die Organisation des Lebens der staatlichen Gemeinschaft gefährdet 6 . Sie muß also über eine bloße Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinausgehen, die der Staat bereits mit Maßnahmen unterbinden kann, die die Konventionen ihm ohnehin gestatten. Eine die Nation bedrohende Krise kann auch vorliegen, wenn die eigentlichen Unruhen oder bürgerkriegsähnlichen Zustände sich auf ein territorial begrenztes Gebiet beschränken 7 . Auslandseinsätze, wie sie etwa im Rahmen internationaler Operationen mit begrenzter Zielsetzung stattfinden, sind aber kein Notstand, der das Leben der Nation des Vertragsstaats bedroht 8 . 3

b) Art. 4 Abs. 1 IPBPR fordert als weitere unerläßliche Voraussetzung ausdrücklich die amtliche Verkündung des Notstands 9 . Er muß von einer dazu befugten nationalen Stelle öffentlich bekanntgegeben worden sein, damit jeder sich darauf einstellen kann; es genügt nicht, daß die Notlage als solche faktisch offensichtlich ist 10 . Die Erklärung des Notstands durch den britischen Home Secretary im Unterhaus sah der E G M R als ausreichende amtliche Verkündung an 11 .

4

Bei Art. 15 EMRK ist die amtliche Bekanntgabe des Notstands keine Wirksamkeitsvoraussetzung einschränkender Maßnahmen 1 2 . Die E K M R hat jedoch mehrheitlich die Ansicht vertreten, daß gegenüber der betroffenen Bevölkerung deutlich gemacht werden müsse, daß es sich um Notstandsmaßnahmen handele 13 . Bei den Mitgliedstaaten des IPBPR folgt die Pflicht zur amtlichen Bekanntgabe bereits aus Art. 4 Abs. 1 IPBPR. Damit gilt dies auch bei Art. 15 M R K ; es gehört zu den anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen, deren Beachtung auch eine Voraussetzung für die Zulässigkeit von Notstandsmaßnahmen nach Art. 15 Abs. 1 M R K ist 14 .

5

c) Beide Konventionen sehen die Notifikation von allen getroffenen Maßnahmen vor. Nach Art. 15 Abs. 3 M R K ist der Generalsekretär des Europarats zu unterrichten; nach Art. 4 Abs. 3 IPBPR über den Generalsekretär der Vereinten Nationen die anderen Vertragsparteien. Die Unterrichtung muß ausreichend sein und alle getroffenen Maßnahmen und auch ihre eventuelle örtliche Begrenzung umfassen; werden nur bestimmte Teile des Staates benannt, geht der E G M R davon aus, daß in den anderen Teilen des Staats4 5 6

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8

FroweinlPeukerl 6. Hofmann S. 27; KHz 36 ff; Nowak 16. E G M R 1.7.1961 Lawless/lrl (Series A 3); Guradze 3; Kitz 37; Partsch 76; vgl. auch die nachf. Fußn. ferner zum weiten Ermessensraum des Staates Rdn. 10. E G M R 1.7.1961 Lawless/lrl (Series A 3); 18.1. 1978 lrland/GB (EuGRZ 1979 149); FroweinlPeukerl 7; Grabenwarler § 2 Rdn. 9; Meyer-Ludewig 8; Nowak 14. Krieger ZaöRV 62 (2002) 669, 690, die ergänzend auch darauf hinweist, daß in der Bundesrepublik

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eine vollständige Suspendierung der Grundrechte nicht möglich ist (vgl. Art. 19 Abs. 2 GG). Nowak 17; UN-AMR bei Nowak EuGRZ 1981 428. l'roweinIPeukert 11; Nowak 19. EGMR 26.5. 1993 Brannigan, McBride/GB (ÖJZ 1994 65). Pansch 74. FroweinlPeukerl 8. E G M R 26. 5.1993 Brannigan, Mc Bride/GB (ÖJZ 1994 65); FroweinlPeukerl 11; Meyer-Ladewig 7; vgl. Rdn. 8, 12.

Stand: 1.10.2004

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Art. 4 IPBPR

gebietes keine Einschränkungen zulässig sind 15 . Die Unterrichtung und das damit verbundene transparentwerden der Maßnahmen dient der internationalen Kontrolle; sie kann Anfragen des Generalsekretärs des Europarats nach Art. 52 M R K auslösen und gegebenenfalls sogar anderen Konventionsstaaten zu einer Staatenbeschwerde (Art. 33 M R K ) veranlassen 16 . Die Unterrichtung ist aber keine Voraussetzung, von der die Zulässigkeit der Notstandsmaßnahmen abhängt, da sie den vom Staat bereits getroffenen Maßnahmen zeitlich nachfolgt 1 7 . Art. 4 Abs. 3 IPBPR verpflichtet den Staat, unverzüglich die in Ausübung seines Notstandsrechts außer Kraft gesetzten Bestimmungen und die Gründe, die ihn dazu veranlaßt haben, sowie die Zeitspanne und die Beendigung der Suspendierung mitzuteilen 18 . Art. 15 Abs. 3 M R K bindet die Unterrichtung an keine Frist, sie muß aber so schnell wie möglich geschehen. Eine Unterrichtung nach 12 Tagen wurde vom E G M R als ausreichend angesehen 19 , eine Unterrichtung nach 4 Monaten hielt die Kommission für verspätet 20 . Die Mitteilung unterliegt keinem Publikationsgebot 21 . d) Erforderlichkeit der Maßnahmen. Art. 15 Abs. 1 M R K und Art. 4 Abs. 1 IPBPR 6 rechtfertigen nur solche Einschränkungen, die die Notstandslage unbedingt erfordert 2 2 . Eine solche Lage, die die ganze Nation und die Funktion des organisierten Gemeinwesens bedroht, muß bereits bestehen oder unmittelbar bevorstehen 23 . Die Gegenmaßnahmen müssen unerläßlich sein, damit die Gefahrenlage, so wie sie sich für die Behörden im Zeitpunkt der Anordnung darstellt 24 , wirksam bewältigt werden kann. Der Zweck darf nicht bereits durch ein milderes Mittel erreichbar sein, vor allem nicht durch Maßnahmen, die bereits im Rahmen der Konventionsgarantien getroffen werden können 25 . Erst wenn diese nicht ausreichen oder keinen Erfolg versprechen, darf der Staat Konventionsrechte in dem unbedingt erforderlichen Umfang derogieren 26 . In der Regel müssen erst alle Einschränkungsmöglichkeiten, die bei verschiedenen Konventionsgarantien schon im Normalfall Maßnahmen im Interesse der nationalen Sicherheit und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung usw. vorsehen, ausgeschöpft sein 27 . Im übrigen gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Eingriffsintensität und räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich der konventionseinschränkenden Notstandsmaßnahme dürfen nicht außer Verhältnis stehen zu der Bedeutung, die der Maßnahme für die Bewältigung der konkreten Notstandslage tatsächlich zukommt 2 8 . 15

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18

15 20

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Meyer-Ladewig 8 unter Hinweis auf EGMR 26.11. 1997 Sakik u.a./Türk (Rep. 1997-VTT). l'roweinlPeukert 13. FroweinlPeukert 11, mit dem Hinweis, daß die E K M R und E G M R Β 1.7.1961 Lawless/Irl (Serie A 3) die Bedeutung des Fehlens einer Mitteilung ausdrücklich ofTengelassen haben. Nach Kitz 87 ff. schließt arglistige Verletzung der Benachrichtigungspflicht die Berufung auf Art. 15 Abs. 1 MRK aus. UN-AMR EuGRZ 1981 388; Allgemeine Bemerkung (General Comment) Nr. 29 vom 24. 7.2001 Nr. 17 (abgedruckt bei Domvald-Beck/Kolh S. 433 ff); Nowak 17, 37. EGMR 1.7.1961 Lawless/Irl (Series A 3). Vgl. FroweinlPeukert 13; Grabenwarter § 2 Rdn. 13; Meyer-Ladewig 8; zu den zeitlichen Verzögerungen der Notifikation vgl. auch Partsch 74. E G M R 1.7.1961 Lawless/Irl (Series A 3); vgl. FrowemIPeukerl 13, wonach die abgegebenen Meldungen nach Art. 15 EMGR im Yearbook veröffentlicht werden.

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Froweinl Peukert 4, 9 ff; Guradze 5 (Übermaßverbot); Partsch 77; Villiger HdB 699. Meyer-Ladewig 4. Beurteilung ex ante; vgl. auch Partsch 15. Grabenwarter § 2 Rdn. 11. Kitz 39 ff; vgl. die Prüfung möglicher Maßnahmen in EGMR 1.7.1961 Lawless/Irl (Serie A 3). Nach Guradze 7 zwingt im Bereich der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit kein Notstand zu Maßnahmen, die über das bereits nach Art. 9 Abs. 2 M R K Zulässige hinausgehen. Da Art. 4 Abs. 2 IPBPR keine Einschränkung der Religionsfreiheit (Art. IPBPR) zuläßt und Art. 15 Abs. 1 M R K nur solche Einschränkungen gestattet, die nicht im Widerspruch mit anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsparteien stehen, stellt sich diese Frage für die Staaten nicht, die auch Mitgliedstaaten des IPBPR sind. Grabenwarter § 2 Rdn. 11; vgl. Nowak 24; Partsch 77.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 15

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

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Beispielsweise wurde die Außerkraftsetzung von Art. 5 Abs. 2 bis 4 M R K als zulässig angesehen 29 , während eine Einschränkung, die auch die verfahrensrechtlichen Mindestgarantien oder fundamentale Grundsätze (faires Verfahren, habeas corpus oder die Unschuldsvermutung) umfaßt, als unverhältnismäßig oder überhaupt als unzulässig betrachtet wird 30 . Mit Notstand nicht gerechtfertigt werden können auch Verbote wie die Untersagung der politischen Betätigung und Teilnahme an Wahlen für 15 Jahre 31 .

8

e) Die Notstandsmaßnahmen dürfen den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen des betreffenden Staates nicht zuwiderlaufen. Mit dieser Forderung wollen Art. 15 Abs. 1 M R K , Art. 4 Abs. 1 IPBPR die Beachtung des allgemeinen Völkerrechts sichern, aber auch Verpflichtungen aus anderen Übereinkommen, vor allem auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts, wie etwa die 4 Genfer Konventionen 3 2 oder die Strafbarkeit nach dem Römischen Statut des internationalen Strafgerichtshofs 33 . U m f a ß t sind auch die Verpflichtungen aus anderen Menschenrechtspakten. Wo diese andere oder weitergehende Rechte notstandsfest verbürgen 34 , schließt dies auch jede Einschränkung nach Art. 15 M R K aus. Soweit Art. 4 Abs. 2 IPBPR weitere Konventionsrechte jeder Einschränkungsmöglichkeit entzieht, sind diese auch auf Grund des Art. 15 M R K nicht einschränkbar. Dadurch lösen sich die Unterschiede bei der Notstandsfestigkeit der einzelnen Konventionsrechte dadurch, daß auch bei Art. 15 M R K die Notstandsbefugnisse durch den sie am meisten einschränkenden Vertrag bestimmt werden. Das nur bei Art. 4 Abs. 1 IPBPR enthaltene Diskriminierungsverbot bei Notstandsmaßnahmen (vgl. Rdn. 9) wird auf diesem Umweg auch im Bereich der M R K beachtlich. Soweit Art. 4 Abs. 2 IPBPR weitere Konventionsrechte jeder Einschränkungsmöglichkeit entzieht, sind diese auch auf Grund des Art. 15 M R K nicht einschränkbar.

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f) Diskriminierungsverbot. Art. 4 Abs. 1 IPBPR enthält zusätzlich noch das Verbot, bei Notstandsmaßnahmen allein wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache oder der sozialen Herkunft zu diskriminieren. Dieses Verbot erstreckt sich auf weniger Merkmale als die umfangreicheren Aufzählungen der Art. 2 Abs. 1, Art. 26 IPBPR 3 5 und es ist auch insoweit enger, als es nur verbietet, die aufgeführten Gesichtspunkte für sich allein zum Abgrenzungskriterium einer Notstandsmaßnahme zu machen; gestattet ist aber, dies in Verbindung mit anderen, nicht dem Katalog unterfallenden sachlich gebotenen Gesichtspunkten zu tun 3 6 . Die Bedeutung des Diskriminierungsverbotes in Art. 4 Abs. 1 IPBPR liegt vor allem darin, daß es sicherstellt, daß auch bei Notstandsmaßnahmen ein - wenn auch inhaltlich eingeschränkteres - Diskriminierungsverbot beachtet werden muß. Die allgemeinen Diskriminierungsverbote sind nicht notstandsfest gewährleistet 37 , sofern sie nicht akzessorisch zu einem ohnehin notstandsfesten Recht sind.

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E G M R 18.1.1978 lrland/GB (EuGRZ 1979 149). Nowak 26 unter Hinweis auf die „Siracusa Principles"; vgl. die Gutachten des IAGMR EuGRZ 1989 218; 233 (keine Suspendierung der Rechtsschutzgarantien wie Habeas-corpus-Verfahren; faires Verfahren); ähnlich UN-AMR Allgemeine Bemerkung vom 24.7.2001 Nrn. 7 ff, insbes. Nr. 11 (engl. Text Doswald-BeeklKolb S. 433 ff). UN-AMR EuGRZ 1981 388; dazu Nowak 35 ff mit weit. Beispielen. Zum Verhältnis der Menschenrechtspakte zum humanitären Völkerrecht vgl. Krieger ZaöRV 62 (2002) 691 ff, auch zu der Erage, ob und wieweit die

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Regeln der Genfer Konventionen bei einem gemeinsamen Anwendungsbereich als vorgehende Spezialvorschriften anzusehen sind und wieweit die jeweils günstigere Regel zur Anwendung kommt. Vgl. ferner l-'roweinl Peukert 11; Kitz 43; Nowak 27 mit weit. Beispielen. Vgl. UN-AMR Allgemeine Bemerkung vom 24.7. 2001 Nr. 12 (engl. Text Doswald-BeckIKolh S. 433 ff). Vgl. Frowein!Peukert 11; Grabenwartex § 2 Rdn. 12; vgl. Rdn. 4. Vgl. Art. 14 MRK Rdn. 12, 18. Nowak 28. Nowak 28.

Stand: 1.10.2004

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Art. 4 IPBPR

g) Den Staaten wird schon wegen ihrer Sachnähe ein weiter Beurteilungsraum zuerkannt, innerhalb dessen sie selbst entscheiden, ob eine Notstandslage vorliegt und welche Maßnahmen zu deren Behebung oder zur Abwehr einer sich aus ihr ergebenden Bedrohung unerläßlich sind 38 . Der E G M R beschränkt sich weitgehend auf eine Art „Europäischer Aufsicht"; er ersetzt die Einschätzung der Lage und der Erforderlichkeit einer Maßnahme durch die nationalen Stellen nicht durch seine eigene Beurteilung, sofern die Einschätzung der nationalen Stellen sich im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums hält und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist 39 . Mit dieser Einschränkung prüft er nach, ob das Vorliegen eines Notstandes und die getroffenen Maßnahmen unter den zur Zeit der Anordnung gegebenen Umständen von dem jeweiligen Staat vernünftigerweise als unbedingt erforderlich angesehen werden durfte 4 0 . Der Ausschuß nach Art. 40 IPBPR prüft in Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nach, ob der Notstand so schwerwiegend war, daß die Aussetzung des jeweiligen Konventionsrechts und die getroffenen Maßnahmen unbedingt notwendig zu seiner Eindämmung waren 41 ; dies geschieht auch, wenn der Ausschuß durch einen Staatenbericht von einer solchen Lage in Kenntnis gesetzt wird 42 . Ein Staat kann sich nur dann mit Erfolg auf das Vorliegen eines Ausnahmezustandes berufen, wenn er diesen durch eine hinreichend detaillierte Schilderung der Lage aufzeigt und darlegt, weshalb er die vom normalen Rechtszustand abweichenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Notstandes unbedingt notwendig halten durfte 4 3 . Eine solche Schilderung ist nach Möglichkeit schon bei der Notifikation der Notstandsmaßnahmen abzugegeben 44 , sie ist zu ergänzen, wenn sich die Lage ändert 4 5 . Die Befugnis der Konventionsorgane, sich mit der Notstandslage und den getroffenen Maßnahmen zu befassen, etwa auch im Rahmen eines Staatenberichts nach Art. 40 IPBPR, besteht jedoch unabhängig von der ordnungsgemäßen Erfüllung der Notifikationspflicht 4 6 .

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3. Notstandsfeste Gewährleistungen. Beide Konventionen nehmen gewisse Rechte und 11 Freiheiten von der Einschränkbarkeit durch Notstandsmaßnahmen ausdrücklich aus. Art. 15 Abs. 2 MRK gestattet keine Einschränkungen von Art. 3, 4 Abs. 1 und Art. 7, ferner des Art. 2 mit Ausnahme der Todesfälle, die auf rechtmäßige Kriegshandlungen zurückzuführen sind. Soweit mit Art. 3 M R K auch das Verbot erniedrigender Behandlung für notstandsfest erklärt wird, ist jedoch zu berücksichtigen, daß sich in Notstandszeiten das Gewicht der für die abwägende Abgrenzung heranzuziehenden Gesichtspunkte verschieben kann. So können - eine objektive Handhabung vorausgesetzt - die 38

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EGMR 1.7.1961 Lawless/lrl (Series A 3); 18.1.1978 lrland/GB (EuGRZ 1979 149), UN-AMR EuGRZ 1981 388; FroweinIPeukerl 3, 9; Grabenwarier § 2 Rdn. 10; Meyer-Ladewig 5; Partsch 77. Vgl. EGMR 26.5.1993 Brannigan, McBride/GB (ÖJZ 1994 65: Gefahr für Bevölkerung und das ganze Staatswesen); dazu Frowein! Peukeri 10; Grabenwarier § 2 Rdn. 11; Villiger HdB 700. Vgl. FroweinIPeukerl 3, 4; KHz 21 ff; Nowak 30; ferner dort die Nachw. in Fußn. 28. Vgl. Nowak 30, wonach der UN-AMR die Doktrin vom weiten Beurteilungsspielraum nicht ausdrücklich übernommen hat. Der UN-AMR (Human Rights Committee) stellt in seiner Allgemeinen Bemerkung (General Comment) Nr. 29 vom 24. 7.2001 (abgedruckt bei Doswald-BeeklKolh S. 433 ff) strengere Anforderungen an die Annahme eines Notstands und an die Erforderlichkeit der Maßnahmen

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(„limited to the extent strictly required by the exigencies of the situation"). Vgl. Nowak 31; ferner UN-AMR Allgemeine Bemerkung Nr. 5/13 bei Nowak S. 878). Grabenwarter § 2 Rdn. 11, 13; Meyer-Ladewig 5; ferner - verneinend, wenn das Festhalten von Personen von der gerichtlichen Kontrolle freigestellt wurde - E G M R 18.12.1996 Aksoy/Türk (Rep. 1996-V1: Notwendigkeit nicht dargetan); vgl. ferner UN-AMR EuGRZ 1981 388. Vgl. zur unverzüglichen Notifikationspflicht Rdn. 5. Vgl. UN-AMR Allgemeine Bemerkung 5/13 (engl. Text bei Nowak S. 878). Nr. 17 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 29 vom 24.7.2001 (engl. Text bei Doswald-BecklKoib S.433 ff). Vgl. Nr. 17 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 29 (vorst. Fußn.).

Walter Gollwitzer

M R K Art. 16

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

im Notstandsfall gebotenen Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen auch eine Behandlung rechtfertigen, die unter normalen Umständen bereits als erniedrigend für den Betroffenen anzusehen wäre 47 , wie etwa Durchsuchungen oder unzulängliche Haftbedingungen. Ergänzend erklärt Art. 3 des 6. ZP die Bestimmungen dieses Protokolls über die Abschaffung der Todesstrafe für nicht durch Art. 15 M R K einschränkbar. Art. 4 Abs. 3 des 7. ZP 4 8 legt dies für das dort in Art. 4 Abs. 1 und 2 aufgenommene Verbot der Doppelverurteilung einschließlich der Möglichkeit der Wiederaufnahme fest. 12

Art. 4 Abs. 2 IPBPR schließt es aus, die Bestimmungen der Art. 6, 7, 8 (Absätze 1 und 2), 11, 15, 16 und 18 durch Notstandsmaßnahmen außer K r a f t zu setzen. Er geht also über Art. 15 Abs. 2 M R K hinaus, wenn er zusätzlich auch das Verbot der Schuldhaft (Art. 11 IPBPR), das Recht auf Anerkennung als rechtsfähige Person (Art. 16 IPBPR) und die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18 IPBPR) für notstandsfest erklärt 49 . Art. 6 des 2. Fakultativprotokolls schließt - unbeschadet des Vorbehalts nach Art. 2 des 2. Fakultativprotokolls - die Außerkraftsetzung der Bestimmungen dieses Protokolls über die Abschaffung der Todesstrafe aus. Die ausdrückliche Ausnahme für die Tötung im Rahmen rechtmäßiger, d. h. vom Kriegsvölkerrecht gedeckter Kriegshandlungen fehlt in Art. 4 Abs. 2 IPBPR. Sie ist jedoch mit dem von Art. 6 Abs. 1 IPBPR geforderten Schutz des Lebens vereinbar, zumindest soweit die Kriegshandlungen im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht und den völkerrechtlichen Vertragspflichten des jeweiligen Staates stehen 50 . Soweit Art. 4 Abs. 2 IPBPR mehr Rechte für notstandsfest erklärt als die M R K , hat dies für seine Mitgliedstaaten zur Folge, daß sie wegen dieser völkerrechtlichen Bindung auch im Rahmen des Art. 15 M R K diese Rechte nicht einschränken können, obwohl diese nach der M R K selbst nicht notstandsfest wären. Ins Gewicht fallende Auswirkungen hätte dieser Unterschied zwischen den beiden Konventionen wegen der Art der vom IPBPR zusätzlich für notstandsfest erklärten Rechte ohnehin nicht 51.

Art. 16 MRK MRK Artikel 16 Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Personen* Die Art. 10,11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken.

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S. 1054).

1

1. Allgemeines. Die Rechte aus den Konventionen werden, wie Art. 1 M R K und auch die Diskriminierungsverbote des Art. 14 M R K belegen, allen Menschen ohne Rücksicht auf Herkunft oder Staatsangehörigkeit oder sonstige Unterschiede gleichermaßen ge47 48

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l''roweinl Peukert 12. Von der Bundesrepublik nicht ratifiziert, vgl. Einf. Rdn. 22. In Nr. 7 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 29 des UN-AMR (vgl. Fußn. 45) wird darauf hingewiesen, daß auch eine Garantie, die nach Art. 4 Abs. 2 TPBPR nicht außer Kraft gesetzt („non-derogable")

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werden darf, sehr wohl den im jeweiligen Konventionsartikel vorgesehenen Einschränkungen („restrictions") unterworfen werden kann. Vgl. Nowak Art. 6, 9 (Vereinbarkeit mit UN-Charta). Vgl. Kitz 44 ff.

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B e s c h r ä n k u n g der politischen Tätigkeit a u s l ä n d i s c h e r P e r s o n e n A r t . 1 6

M R K

währt. Auch Art. 2 Abs. 1 IPBPR spricht diesen Grundsatz aus, der auch die Wortwahl anderer Artikel („Jedermann") bestimmt und der dann durch die Diskriminierungsverbote des Art. 26 IPBPR nochmals bestätigt wird 1 . Nur wenige Artikel beider Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle beschränken ihren Anwendungsbereich auf bestimmte Personengruppen, so etwa Art. 25 IPBPR, der die politischen Rechte der Staatsbürger anspricht, oder Art. 3 des 4. ZP, der das Verbot der Ausweisung eigener Staatsbürger und deren Einreiserecht in den eigenen Staat festschreibt, sowie das Verbot der Kollektivausweisung der Ausländer in Art. 4 des 4. ZP und die Garantien für die Ausweisung von Ausländern in Art. 13 IPBPR. Zu den wenigen Artikeln, die Rechtsunterschiede zwischen Inländern und Ausländern zulassen, gehört auch Art. 16 M R K . 2. Regelungsgehalt. Art. 16 schränkt die in den Art. 10 und 11 M R K auch ausländi- 2 sehen Personen garantierten Rechte insoweit ein, als er dem Staat generell die Befugnis einräumt, die politischen Aktivitäten ausländischer Personen im Bereich dieser Konventionsverbürgungen zu begrenzen, auch wenn andere Personen und auch andere Ausländergruppen von solchen Einschränkungen unberührt bleiben. Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 M R K steht dem nicht entgegen, wie der Wortlaut des Art. 16 ausdrücklich hervorhebt. An besondere sachliche Voraussetzungen bindet Art. 16 die Befugnis zu einschränkenden Sonderregelungen für Ausländer nicht 2 . Die Einschränkungen können aus sachlichem Anlaß aber auch aus Präventivgründen angeordnet werden. Die Regelung hat den Sinn, jedem Staat entsprechend dem herkömmlichen Völkerrecht 3 die Möglichkeit zu erhalten, die politischen Tätigkeiten bestimmter Ausländergruppen auf seinem Staatsgebiet einzuschränken, sei es um seine eigene innere Sicherheit zu gewährleisten, sei es, um seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber anderen von diesen Tätigkeiten betroffenen Staaten nachzukommen. Dies spricht dafür, daß die Voraussetzungen, unter denen Art. 10 Abs. 2 M R K allgemein Eingriffe des Staates in die Informations- und Meinungsfreiheit zuläßt und die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 M R K für staatliche Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit nicht notwendig zusätzlich vorliegen müssen, um dem Staat ausländerspezifische Einschränkungen dieser Rechte zu erlauben 4 . Bei der weiten Fassung dieser Absätze werden sie allerdings in der Regel vorliegen, da bei einer von Ausländergruppen ausgehenden Störung des inneren oder des äußeren Friedens in der Regel eine der Eingriffsvoraussetzungen dieser Absätze und auch ein die Differenzierung rechtfertigender Anlaß gegeben sein dürften. Gleiches gilt für die Demokratieüblichkeit eines solchen Eingriffs. Die besondere Befugnis zur Einschränkung der politischen Betätigung von Ausländern besteht aber nur hinsichtlich einer politischen Betätigung und auch da nur für die Ausübung von Rechten aus Art. 10 oder 11 M R K . Bei den anderen Konventionsgarantien, insbesondere bei den die Freiheit schützenden Garantien des Art. 5 M R K , erlaubt Art. 16 keine ausländerspezifische Sonderbehandlung oder Sonderregelung; desgleichen besagt er nichts über die nicht an Art. 10 oder 11 M R K zu messende Zulässigkeit der Ausweisung eines Ausländers 5 . 3. Auf Personen, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union und deshalb Unionsbürger im Sinne des Art. 8 E G V sind, kann nach einem obiter dictum 6 des E G M R Art. 16 M R K nicht angewendet werden 7 . Daß die Betroffene, deren

1

2 3 4

Vgl. dazu auch das noch nicht in Kraft befindliche 12. ZP (abgedruckt bei Art. 14 MRK). Meyer-Ladewig 3. Vgl. FroweinIPeukeri 1; Meyer-Lüdewig 3. FroweinIPeukerl 1: kein weiterer sachlicher Grund

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5 6 7

erforderlich; ebenso Meyer-Ladewig 3; Villiger HdB 701: „kein weiterer Rechtfertigungsgrund". Vgl. den bei Frowein!Peukert 2 erörterten Fall. Regelung damals noch nicht in Kraft. E G M R 27.4.1995 Piermont/F (ÖJZ 1995 751);

Walter Gollwitzer

3

M R K Art. 17

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Teilnahme an politischen Demonstrationen in Polynesien und Neukaledonien zu ihrer Ausweisung führte, auch Abgeordnete des Europaparlaments war, scheint daneben nicht zusätzlich ins Gewicht gefallen zu sein 8 . 4

4. Die Sonderregelung des Art. 18 MRK, die ihrerseits den zulässigen Einschränkungen der Konventionsgarantien Grenzen setzt, wenn diese nicht den in der Konvention vorgesehenen Zwecken dienen, gilt auch bei Art. 16. Zu denken ist hier an den Fall, daß eine politische Betätigung von Ausländern nur das friedliche Eintreten für die Durchsetzung von Konventionsrechten zum Ziele hat 9 .

Art. 17 MRK (Art. 5 I P B P R ) MRK Artikel 17 Verbot d e s M i ß b r a u c h s der R e c h t e *

IPBPR

Diese K o n v e n t i o n ist nicht s o a u s z u l e g e n , als b e g r ü n d e sie für e i n e n Staat, eine G r u p p e o d e r e i n e P e r s o n d a s Recht, eine Tätigkeit a u s z u ü b e n o d e r eine H a n d l u n g v o r z u n e h m e n , die d a r a u f abzielt, in der K o n v e n t i o n f e s t g e l e g t e R e c h t e u n d Freiheiten a b z u s c h a f f e n o d e r sie stärker e i n z u s c h r ä n k e n , als e s in der K o n v e n t i o n v o r g e s e h e n ist.

(1) Keine B e s t i m m u n g d i e s e s P a k t e s darf d a h i n a u s g e legt w e r d e n , d a ß sie für e i n e n Staat, eine G r u p p e o d e r für eine P e r s o n d a s Recht b e g r ü n d e t , e i n e Tätigkeit a u s z u ü b e n o d e r eine H a n d l u n g z u b e g e h e n , die auf die A b s c h a f f u n g der in d i e s e m Pakt a n e r k a n n t e n R e c h t e u n d Freiheiten o d e r auf w e i t e r g e h e n d e B e s c h r ä n k u n g e n d i e s e r R e c h t e u n d Freiheiten, als im Pakt v o r g e s e h e n , hinzielt.

Artikel 5

(2) Die in e i n e m V e r t r a g s s t a a t d u r c h G e s e t z e , Ü b e r e i n k o m m e n , V e r o r d n u n g e n o d e r durch G e w o h n h e i t s r e c h t anerkannten oder bestehenden grundlegenden Menschenrechte d ü r f e n nicht unter d e m V o r w a n d b e s c h r ä n k t o d e r a u ß e r Kraft gesetzt w e r d e n , d a ß dieser Pakt derartige Rechte nicht o d e r nur in e i n e m g e r i n g e r e n A u s m a ß e a n e r k e n n e . Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vcm 17.5.2002 (BGBl. II S. 1054).

1. Die Auslegungsschranken des Art. 17 MRK; Art. 5 Abs. 1 I P B P R 1

a) Allgemeines. Art. 17 M R K und Art. 5 Abs. 1 IPBPR setzen bei beiden Konventionen der Auslegung wertorientierte Schranken, die sowohl die Ausübung der Konventionsrechte durch den einzelnen als auch die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Rechte beschränken können. Diese Artikel wollen verhindern, daß unter formaler Berufung auf einzelne Konventionsrechte Konventionsgarantien abgeschafft oder eingeschränkt werden. Ebenso wie bei dem weitergefaßten Art. 18 M R K soll jedem Mißbrauch der Konvention für letztlich konventionswidrige Zielsetzungen entgegengewirkt werden können. Das Mißbrauchs verbot, das auch aus den Zielsetzungen und dem Geist der Konventionen abgeleitet werden kann 1 , gilt sowohl für den Staat selbst 2 , als auch für Personengruppen oder Einzelpersonen, die sich auf ein Konventionsrecht berufen, um demokratische Strukturen oder Menschenrechte anderer einzuschränken oder diese überhaupt

P'roweinlPeukert 1; Meyer-Ladewig 2; Manu!Ripke EuGRZ 2004 125, 133; Villiger HdB 701. * Vgl. l'roweint Peukert 1. 9 Vgl. FrowemlPeukert 7. 1

Zu dessen ausdrücklicher Einbeziehung gaben die Mißbräuche, vor allem in faschistischen Staaten Anlaß, vgl. IroKeinlPeukert 1; ferner zur Entstehungsgeschichte dieser Klausel des TPBPR Nowak 1,3 ff.

Vgl. Nowak 6.

Stand: 1.10.2004

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Verbot des M i ß b r a u c h s der Rechte

Art. 5 IPBPR

abzuschaffen. Dem einzelnen Träger eines Konventionsrechts soll es unmöglich gemacht werden, daß er dessen Schutz in Anspruch nehmen kann, wenn er es zur Zerstörung der in den Konventionen gewährleisteten Rechte oder Freiheiten benutzen will 3 . b) Akzessorietät von Art. 17 MRK und Art. 5 Abs. 1 IPBPR. Beide Bestimungen kön- 2 nen nicht für sich allein geprüft werden, da sie notwendig die Einschränkung eines anderen Konventionsrechts voraussetzen. Der Staat darf nicht unter Berufung auf ein Konventionsrecht, auch nicht unter Berufung auf die nur temporäre Einschränkungen erlaubenden Notstandsklauseln 4 , andere Konventionsrechte abschaffen oder einschränken. Auch der einzelne kann sich gegenüber dem Staat nicht auf ein Konventionsrecht, wie etwa die Religions-, Meinungs- oder Vereinsfreiheit 5 , berufen, wenn der damit ein Verhalten rechtfertigen will, das darauf abzielt, Konventionsrechte anderer abzuschaffen oder einzuschränken oder ein Konventionsrecht insgesamt zu beseitigen. Bei Mißbrauch eines Konventionsrechts zur Rechtfertigung konventionswidriger Zwecke entfällt dessen Schutz. Die Anwendung von Art. 17 M R K und Art. 5 Abs. 1 IPBPR hängt an sich von der vorangigen Frage ab, ob das beanstandete Verhalten nicht ohnehin bereits außerhalb der für die jeweilige Konventionsgarantie gezogenen Grenzen liegt, so daß deren Schutz ohnehin nicht eingreift. In solchen Fällen kommt es dann nicht mehr darauf an, daß Art. 17 M R K bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Eingriffs einerseits ein bei der Abwägung zu berücksichtigendes zusätzliches Argument für dessen Rechtmäßigkeit liefern kann, während er andererseits auch die bei den einzelnen Artikeln aufgeführten Schranken für staatliche Eingriffe verstärkt. Gleiches gilt für Art. 5 Abs. 1 IPBPR, der als Mißbrauchsverbot sowohl die staatlichen Eingriffe in Konventionsrechte 6 als auch die aktive Ausübung von Konventionsrechten durch einzelne private Personen oder Gruppen 7 begrenzt. Bei staatlichen Maßnahmen sind diese mitunter schon durch die in dem jeweiligen 3 Konventionsartikel festgelegten Eingriffsschranken nicht gedeckt. Dies kann vor allem bei den Art. 8 bis 11 M R K der Fall sein, wo die Eingriffsvoraussetzungen in den jeweiligen Absätzen 2 abschließend festgelegt werden. Deren Mißachtung macht einen Eingriff konventionswidrig, so etwa, weil er unverhältnismäßig ist oder das Erfordernis der Demokratieüblichkeit nicht erfüllt. Wenn der E G M R feststellt, daß eine staatliche Maßnahme gegen eine bestimmte Verbürgung der Konvention verstößt, verzichtet er in der Regel darauf, diese dann auch noch unter dem Blickwinkel eines Verstoßes gegen Art. 17 oder 18 M R K gesondert zu prüfen 8 . Umgekehrt werden staatliche Maßnahmen, die von den Eingriffsvoraussetzungen der jeweiligen Konventionsgarantien gedeckt sind, vor allem, wenn man ihre Demokratieüblichkeit bejaht, in der Regel auch nicht als Mißbrauch im Sinne des Art. 17 M R K angesehen werden können 9 . c) Handlungen einzelner privater Personen oder von Personengruppen werden nur 4 dann vom Mißbrauchsverbot erfaßt, wenn sie ein ihnen an sich zustehendes Konventionsrecht bewußt dazu benutzen, um auf die Einschränkung oder Abschaffung einzelner oder aller Konventionsverbürgungen hinzuwirken. Es muß ein direkter Mißbrauch des 3

4 5

6 7

Vrowein!Peukert 1, Meyer-Ladewig 1; beide unter Hinweis auf den vergleichbaren G r u n d g e d a n k e n der Art. 18 u n d 21 Abs. 2 G G ; Nowak 1, 5. Vgl. Nowak Vgl. Nowak 8, wonach der M i ß b r a u c h voraussetzt, d a ß die Konventionen ein aktives Ausüben bestimmter Konventionsrechte gewährleisten. Nowak 5, 6. Nowak 7, 8.

(583)

s

9

Etwa E G M R 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/ Schwed ( E u G R Z 1983 523); 27.2.2001 Cicek/Türk; Meyer-Ladewig 5. Villiger H d B 702. FroweinlPeukeri 5 mit Hinweis, d a ß die E K M R bei Vereinbarkeit der Einschränkungen mit den Gesetzesvorbehalten der einzelnen Konventionsgarantien auch eine Verletzung des Art. 17 ausschloß; ähnlich Meyer-Ladewig 5; vgl. auch E G M R 8.6.1976 Engel/ N d L ( E u G R Z 1976 221); Villiger H d B 702.

Walter Gollwitzer

M R K Art. 17

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

jeweils geltend gemachten Konventionsrechts selbst vorliegen, wie bei der Berufung auf die Meinungsfreiheit für rassistische, neonazistische oder sonst demokratiefeindliche Äußerungen 1 0 . In solchen Fällen lassen Art. 17 M R K und Art. 5 Abs. 1 IPBPR einen staatlichen Eingriff in das zu konventionswidrigen Zwecken mißbrauchte Konventionsrecht zu. Damit darf aber nur verhindert werden, daß ein bestimmtes Konventionsrecht zum Kampfe gegen die von den Konventionen verbürgte Ordnung mißbraucht werden kann. Die anderen Gewährleistungen der Konventionen, die nicht selbst für einen solchen Zweck mißbräuchlich beansprucht werden, bleiben in ihrer Geltung unberührt 1 1 . Bei mißbräuchlicher Berufung auf ein Konventionsrecht kann dieses zwar im konkreten Fall keine Schutzwirkung entfalten, sie führt aber nicht zum Verlust aller anderen Konventionsrechte 12 .

2. Begünstigungsklausel des Art. 5 Abs. 2 IPBPR 5

Art. 5 Abs. 2 IPBPR verfolgt einen völlig anderen Zweck. Er will günstigere innerstaatliche Regelungen für den einzelnen aufrecht erhalten und sie davor schützen, daß diese durch die Berufung auf weniger weitreichende Verbürgungen des IPBPR eingeschränkt werden. Als ein bei Menschenrechtskonventionen üblich gewordenes Regelungsprinzip zur Verwirklichung des größtmöglichen Menschenrechtsschutzes steht er neben den anderen Günstigkeitsklauseln, den Spezialverweisen in den Art. 6 Abs. 2, 3 und Art. 22 Abs. 3 IPBPR und neben Art. 46 IPBPR, der dieses Prinzip auch für das Verhältnis zu den Vereinten Nationen und anderen internationalen Konventionen festlegt 13 . Diese Regelung reiht sich damit ein in die auch bei Art. 53 M R K und in anderen Konventionen 14 geübte Praxis, ausdrücklich festzuschreiben, daß ihre Regeln jeweils Mindeststandards festlegen, die die Staaten nicht hindern, in innerstaatlichen Gesetzen oder durch internationale Vereinbarungen weitergehende Rechte einzuräumen 1 5 . Art. 5 Abs. 2 IPBPR verbietet aber nur die Einschränkung einer weitergehenden innerstaatlichen Gewährleistung unter dem Vorwand, daß der IPBPR sie nicht vorsehe; Änderungen der innerstaatlichen Vergünstigungen aus anderen, sachlichen Gründen schließt er nicht aus 16 .

10

Vgl. Vrowein! Peukert 3; Meyer-Ladewig 3 beide zur Rechtfertigung des KPD Verbot durch die EKMR; vgl. ferner EGMR 1.2.2000 Schimanek/Ö (ÖJZ 2000 817: NS Aktivitäten); ferner bei rassistischen Äußerungen E K M R Glimmerveen u. a./NdL (FroweinlPeukerl 4; Meyer-Ladewig 4); EGMR 23.9. 1994 Jersild/Dän (ÖJZ 1995 227; rassistische Äußerungen). Vgl. andererseits aber EGMR 26.9.1995 Vogt/D (EuGRZ 1995 590), wonach die Entlassung einer in der D K P aktiven Lehrerin nicht mit dem Mißbrauch des Art. 10 M R K zu rechtfertigen war.

11

12 13 14

15

16

EGMR 1.7.1961 Lawless/Trl (Series A 3); Vrowein/ Peukert 2; Meyer-Ladewig 2; Villiger HdB 704. Nowak 9; sowie Vorst. Eußn. Nowak 2, 15. So auch Art. 53 der Europäischen GrundrechteCharta und Art. 29 Buchst, b der Amerikanischen Menschenrechtskonvention. Vgl. Frowein!Peukert Art. 60 a. F, Meyer-Ladewig Art. 53, 2. Nowak 13.

Stand: 1.10.2004

(584)

Begrenzung der Rechtseinschränkungen

Art. 18

M R K

Art. 18 MRK MRK Artikel 18 Begrenzung der Rechtseinschränkungen* Die nach dieser Konvention zulässigen Einschränkungen der g e n a n n t e n Rechte u n d Freiheiten dürfen nur zu d e n vorgesehenen Zwecken erfolgen.

Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

1. Allgemeines. Die Vorschrift hat nur Bedeutung, soweit die M R K Einschränkun- 1 gen der in ihr garantierten Rechte und Freiheiten zuläßt. Soweit sie ein Recht uneinschränkbar gewährleistet, ist für die Anwendung des Art. 18 nach seinem Wortlaut kein Raum 1 . Läßt die Konvention Einschränkungen zu, ist es an sich eine Selbstverständlichkeit, daß solche Einschränkungen nur zu den Zwecken zulässig sind, für die dies die jeweiligen Konventionsbestimmungen ausdrücklich vorsehen, nicht aber für andere Zwecke 2 . Die Bedeutung des Art. 18 liegt daher eher darin, daß sie die Staaten ausdrücklich darin erinnert, daß sie die Fälle, in denen die Konventionen Eingriffe in die garantierten Rechte und Freiheiten gestattet, nicht extensiv auslegen oder im Wege der Analogie auf andere Fälle ausdehnen dürfen. Für den Gerichtshof aber bedeutet es, daß er auch von Konventions wegen kontrollieren muß, daß Einschränkungen durch das nationale Recht nur zu einem zulässigen Zweck angeordnet worden sind 3 . 2. Anwendungsbereich. Art. 18 M R K gilt an sich in allen Fällen, in denen die M R K 2 Einschränkungen der in ihr garantierten Rechte und Freiheiten zuläßt. Der Verstoß kann deshalb auch nur im Zusammenhang mit der Anwendung einer Schrankenbestimmung gerügt werden 4 . Wird zusätzlich zur Verletzung eines Konventionsrechts auch ein Verstoß gegen Art. 18 behauptet, müssen die Gründe substantiiert vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, daß der Beschwerdeführer Opfer einer in der Konvention nicht vorgesehenen Einschränkung ist 5 . Art. 18 wurde auch herangezogen, um die Anwendung einer wegen des längst beendeten Notstands zeitlich nicht mehr gerechtfertigten Notstandsmaßnahme im Sinne des Art. 15 M R K zu beanstanden 6 . 3. Verhältnis des Art. 18 zum eingeschränkten Konventionsrecht. Es liegt immer auch 3 ein unmittelbarer Verstoß gegen das betroffene Konventionsrecht vor, wenn die bei ihm zugelassenen Einschränkungen überschritten worden sind oder wenn mit seiner Einschränkung ein Zweck verfolgt wird, für den der betroffene Konventionsartikel keine Eingriffsermächtigung erteilt hat. Der darin liegende Konventionsverstoß wird in der Regel bereits bei Prüfung der Beachtung der jeweiligen Konventionsgarantie vom Gerichtshof festgestellt, denn diese schließt auch die Zulässigkeit von Einschränkungen mit ein. Einer besonderen Berufung des Beschwerdeführers auf Art. 18 bedarf es nicht; sie

1

2

Villiger HdB 706 hält für prüfenswert, ob Art. 18 nicht ein autonomer Charakter zuzuerkennen ist; er tendiert dazu, ihn auch bei einer schrankenlosen Gewährleistung anzuwenden, wenn die dortige Abgrenzung für Mißbrauch Raum läßt. Vgl. FroweinIPeukeri voir".

(585)

1 kein „detourment de pou-

-1 FroweinlPeukeri 1. FroweinlPeukeri 2. 5 Vgl. EGMR 10.4.2001 Tanli/Türk (ECHR 2001 III); Meyer-Lädewig 1. 6 E G M R 27.3.1962 D e Becker/Belg (Series A 4); FroweinlPeukeri 2.

4

Walter Gollwitzer

M R K Art. 18

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ist jedoch unschädlich und kann zweckmäßig sein, wenn Zweifel hinsichtlich der Konventionsgemäßheit des mit der Einschränkung verfolgten Zwecks bestehen. Ist der Gerichtshof der Meinung, daß der Eingriff gerechtfertigt war und deshalb keine Verletzung der Konvention vorliegt, hält er in der Regel eine Erörterung des Art. 18 M R K für entbehrlich 7 . Der E G M R hat wiederholt entschieden, daß es neben der Feststellung einer Konventionsverletzung 8 oder aber auch im umgekehrten Fall, wenn ein Eingriff gerechtfertigt war, weil die Schrankenbestimmung beachtet wurde 9 , keiner besonderen Ausführungen zu Art. 18 M R K bedarf. 4

4. Austausch von Schrankenbestimmungen. Wenn der vom Staat zur Rechtfertigung eines Eingriffs angeführte Grund diesen nicht zu rechtfertigen vermag, kann fraglich sein, ob der Eingriff trotzdem aufrechterhalten werden kann, weil ein anderer nach der jeweiligen Konventionsgarantie zulässiger Grund die Einschränkung der gleichen Konventionsverbürgung rechtfertigt, der Eingriff also im Endergebnis mit der Konvention vereinbar war. Diese Frage kann zum Beispiel eine Rolle spielen, wenn sich, wie etwa bei Art. 10 Abs. 2 M R K , die Eingriffsgründe inhaltlich überschneiden, die erforderliche Abwägung aber wegen der unterschiedlichen Gewichtung dieser Gründe zu einer unterschiedlichen Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Eingriffes führen kann. Die nationale Norm, die den Eingriff trägt, gibt in aller Regel den sie rechtfertigenden Konventionsgrund nicht an, bei der nachträglichen Darlegung der Konventionsgemäßheit ihres Verhaltens berufen sich die Staaten meist auf alle in Frage kommenden Eingriffsziele, deshalb erscheint es mit den Belangen eines vernünftigen Menschenrechtsschutzes vereinbar, wenn bei der Prüfung durch den E G M R die Konventionsgemäßheit einer Maßnahme auf einen anderen Eingriffszweck gestützt wird, der die Einschränkung der Konventionsgarantie im zumindest gleichen Umfang erlaubt, wie der vom Staat zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführte 10 . Diente der Eingriff einem Zweck, der ihn nach der Konvention rechtfertigt, dürfte es unschädlich sein, wenn der Staat mit ihm zusätzlich auch noch einen anderen, in der Konventions nicht vorgesehenen Zweck verfolgt 11 .

7

Meyer-Ludewig 1. EGMR 23.9.1982 Sporrong, Lörmroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); 18.12.1986 Bozano/F (EuGRZ 1986 101); dazu 1-roweinl Peukert 2 (EKMR hatte Art. 18 unterstützend herangezogen); Meyer-Ludewig 1; Viüiger HdB 705. » E G M R 8.6.1976 Engel u.a./NdL (EuGRZ 1976 221); 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); l'roweinl Peukert 2; 4; Meyer-Ladewig 1; Viüiger HdB 705 je mit weit. Nachw.

10

8

11

Vgl. die sehr unterschiedliche Fälle betreffende Spruchpraxis der EKMR bei l'roweinlPeukert 3, 4. Kritisch zu der fallweisen Auslegung von Art. 18 in diesen Fragen Villiger HdB 706 (unklar, weshalb kein Verstoß gegen Art. 18 vorliegt, wenn der mißbrauchte Zweck seinerseits MRK-konform ist). Zweifelnd Villiger HdB 706.

Stand: 1.10.2004

(586)

(1.) Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20.3.1952 1 MRK Artikel 1 Schutz des Eigentums* (1) Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, daß das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. (2) Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.

*

N e u e d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in d e r F a s s u n g der Bek. v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 (BGBl. II S. 1054)

Schrifttum (Auswahl): Cremer Eigentumsschutz der Erben von Reformland in der ehemaligen D D R , E u G R Z 2004 134; Dolzer Eigentum, Enteignung und Entschädigung im geltenden Völkerrecht (1985); Dolzer Eigentumsschutz als Abwägungsgebot, Bemerkungen zu A r t . 1 des Ersten Zusatzprotokolls der E M R K , FS Zeidler (1987) 1679; Fiedler Die Europäische Menschenrechtskonvention u n d der Schutz des Eigentums, E u G R Z 1996 354; Frowein Der Eigentumsschutz in der E M R K , F S Rowedder (1994), 68; Gelinsky D e r Schutz des Eigentums gem. Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Diss. 1996; Hartwig D e r Eigentumsschutz n a c h Art. 1 1. Zusatzprotokoll zur E M R K , RabelsZ 1999 561; Mitteiberger D e r Eigentumsschutz nach Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur E M R K im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe (2000); Mitteiberger Die Rechtsprechung des ständigen Europäischen Gerichtshof f ü r Menschenrechte z u m Eigentumsschutz - Bilanz n a c h den ersten zwei Jahren (Nov. 1998 bis April 2001), E u G R Z 2001 364; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen U n i o n . D a s Eigentumsrecht in der Rechtsordnung der EU, in der E M R K und in den Verfassungen Deutschlands, Italiens u n d Irlands (1997); Peukert Der Schutz des Eigentums nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, E u G R Z 1981 97; Peukert Die Rechtsprechung des E G M R zur Verhältnismäßigkeit einer Eigentumsentziehung n a c h zollrechtlichen Vorschriften, E u G R Z 1988 509; Riedel Entschädigung f ü r Eigentumsentziehung nach Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention - Z u r Herausbildung eines gemeineuropäischen Standards, E u G R Z 1988 333; Seidl-Hohemeldern Eigentumsschutz n a c h der E M R K und n a c h allgemeinem Völkerrecht im Lichte der E G M R - E n t s c h e i d u n g e n in den Fällen James und Lithgow, F S E r m a c o r a (1988) 181.

1

B G B l . TT 1956 S.

1879; f ü r die

Bundesrepublik

D e u t s c h l a n d in K r a f t seit 1 3 . 2 . 1957.

(587)

Walter Gollwitzer

1. Z P M R K

Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Übersicht Rdn. 1. Allgemeines 2. Grundziige der Regelung a) Recht auf Achtung des Eigentums b) Eigentum c) Enteignung

Rdn.

1 ...

d) Nutzungsregelungen e) Steuern, Geldstrafen f) Einziehung, Verfall

3 4 5

3. Kein Eingehen auf sonstige Einzelheiten

10 11 12 . .

13

1

1. Allgemeines. Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 1948 sieht vor, daß jedermann das Recht hat, allein oder in Gemeinschaft mit anderen Eigentum zu haben, sowie, daß niemand willkürlich seines Eigentums beraubt werden darf. Beide Konventionen haben dieses zu den klassischen Menschenrechten 2 zählende, auch Freiheit und Sicherheit verbürgende Recht 3 nicht in ihre Garantien aufgenommen; es wird nur mittelbar dort mitberücksichtigt, wo die Konventionen den Staat zum Schutze der Rechte anderer, zu denen auch das Eigentumsrecht gehört, die Einschränkung bestimmter Konventionsgarantien gestatten. Während beim IPBPR auch heute noch der Eigentumsschutz überhaupt fehlt 4 , ist er bei der M R K erst nach Erreichung des zunächst fehlenden Konsenses durch Art. 1 des (1.) Zusatzprotokolls vom 20. 3.1952 den Konventionsgarantien beigefügt worden 5 . Auf Eigentumsentziehungen, die vor der Ratifikation des 1. ZP faktisch eingetreten waren, erstreckt sich die Eigentumsgarantie nicht 6 . Die Verträge der Europäischen Gemeinschaften erklärten ausdrücklich, daß sie die nationale Eigentumsordnung unberührt lassen 7 .

2

Auch andere völkerrechtliche Ubereinkommen erkennen das Recht auf Eigentum an, so etwa Abkommen, die die Rechtsstellung von Ausländern, Flüchtlingen oder Staatenlosen meist in der Form von Meistbegünstigungsklauseln regeln. Es wird ferner unter die ohne jede Diskriminierung zu gewährenden Bürgerrechte in Art. 5 Buchst, d des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung von jeder Form der Rassendiskriminierung aufgeführt 8 . Die Regierungen der KSZE-Mitgliedstaaten haben in Nr. 9.6 des Kopenhagener Abschlußdokuments vom 29.6.1990 9 das Recht des einzelnen bestätigt, sich ungestört seines Eigentums zu erfreuen. Die Charta von Paris vom 21.11.1990 bekräftigte ebenfalls das Recht des einzelnen, allein oder in Gesellschaft mit anderen Eigentum innezuhaben und selbständig Unternehmen zu betreiben 10 . Art. 17 der GrundrechteCharta der Europäischen Union vom 2 . 1 0 . 2 0 0 0 " bestätigt ebenfalls das Recht jeder Person, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Eine Enteignung ist nur aus Gründen des öffentlichen Interesses unter den im Gesetz vorgesehenen Bedingungen und gegen angemessene Entschädigung zulässig. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit es für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. Absatz 2 dieses Artikels hebt dann noch hervor,

2

5

4

5

Vgl. Art. 2 und 17 der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte vom 26. 8.1789. Vgl. BVerfGE 50 339; 53 290; Dicke EuGRZ 1982 361. Dies wurde durch den Einfluß der damaligen sozialistischen Staaten erklärt (etwa Seidl-IIohenveldern FS Ermacora 181) und hing wohl auch mit dem Streben der Dritte-Welt-Staaten nach wirtschaftlicher Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1, 2 IPBPR) zusammen; vgl. Nowak Art. 1, 37 ff. Zur Entstehungsgeschichte und den Meinungsverschiedenheiten etwa Fruweint Peukert 1; Mitteiberger EuGRZ 2001 364, 365; Partsch 219 ff; Partsch

6

7 8 9 111

11

ZaöRV 14 (1954) 645, 656 ff; Seidl-IIohenveldern FS Ermacora 181; zum Kompromißcharakter dieses Artikels vgl. Hartwig RabelsZ 1999 561, 562. E K M R EuGRZ 1978 188 (Ostverträge); vgl. auch BVerfGE 6 296. Vgl. Art. 222 EWGV; Art. 83 Montanvertrag. BGBl. TT 1969 S. 962. EuGRZ 1990 239. EuGRZ 1990 517. Zum Charakter dieser Erklärungen, die keine rechtlich bindenden Vertragspflichten begründen, vgl. Einf. Rdn. 36. EuGRZ 2000 554 ff; vgl. Einf. Rdn. 36a.

Stand: 1.10.2004

(588)

Schutz des E i g e n t u m s

Art. 1 l . Z P M R K

daß geistiges Eigentum geschützt ist. Der Wortlaut ist zwar etwas anders gefaßt als Art. 1 des Ersten ZP, Art. 52 Abs. 3 der Grundrechte-Charta bestätigt jedoch, daß er die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite hat 1 2 . 2. Grundzüge der Regelung a) Das Recht auf Achtung ihres Eigentums („Peacefull enjoyment of his possessions"; 3 „droit au respect de ses biens") wird von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des 1. ZP jeder natürlichen oder juristischen Person garantiert. Achtung bedeutet, daß der Staat das im weiten Sinn als Vermögenswerte Rechtsgüter zu verstehende Eigentum aller seiner Hoheitsgewalt unterliegenden Personen grundsätzlich zu respektieren hat; auch in bezug auf seine Handlungen, die sich im Ausland auswirken 13 . Dieser Grundsatz bestimmt die Struktur des ganzen Art. 1; der drei unterschiedliche, wechselseitig aber zusammengehörende Regeln enthält 1 4 : Absatz 1 Satz 1 legt als Grundregel die Achtung des Eigentums fest; die für die Auslegung des gesamten Artikels maßgebend ist 15 . Absatz 1 Satz 2 läßt die Entziehung des Eigentums nur unter bestimmten Voraussetzungen zu und Absatz 2 erkennt die Befugnis des Staates an, die Benutzung des Eigentums im allgemeinen Interesse zu regeln. Die Grundsatzregelung des Absatzes 1 Satz 1 bestimmt die Auslegung des gesamten Artikels. Die klassischen Eingriffsformen (Enteignung nach Absatz 1 Satz 2; Nutzungsbeschränkung nach Absatz 2) werden als besondere Beispiele für die Eingriffe und ihre Schranken verstanden 1 6 . Auf die Grundregel des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 hat deshalb der E G M R mitunter auch unmittelbar zurückgegriffen, wenn im Einzelfall zweifelhaft war, ob eine staatliche Regelung nach Absatz 1 Satz 2 oder nach den in Absatz 2 besonders angesprochenen Fällen zu beurteilen ist 17 . Der E G M R prüft dann gleichfalls, ob der in Frage stehende Eingriff dem grundlegenden Gebot zur Achtung des Eigentums dadurch Rechnung trägt, daß er eine ausreichende Rechtsgrundlage hat, einen im Allgemeininteresse liegenden Zweck verfolgt und die Nachteile des Betroffenen gerecht ausgeglichen werden 18 . Ob es bei Zuordnungsschwierigkeiten wirklich sinnvoll ist, unmittelbar aus der allgemein gehaltenen grundsätzlichen Garantie des Privateigentums zusätzlich eine ergänzende Möglichkeit der Eingriffsprüfung herzuleiten, ist strittig 19 . Da aber auch dann die Zulässigkeit des Eingriffs nach den gleichen Voraussetzungen (ausreichende Rechtsgrundlage, Allgemeininteresse, Verhältnismäßigkeit) beurteilt wird, ist es vom Ergebnis her unerheblich, ob man Absatz 1 Satz 1 als Auffangregelung un-

12

Erläuterung zu Art. 17 (EuGRZ 2000 563). i' EKMR EuGRZ 1978 188 (Ostverträge). 14 Zur sogen. Drei-Normen-Regel etwa Cremer EuGRZ 2004 134, 135; Grabenwarter § 25 Rdn. 8 ff; Mitlelherger EuGRZ 2001 364, 366, ferner Hartwig RabelsZ 1999 561, 570. 15 Etwa EGMR 23. 11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2001 2002); 12.12.2002 Kalogeropoulos u.a./Griech, D (NJW 2004 273), sowie nachf. Fußnoten. 16 Ständige Rspr. etwa E G M R 21.2.1986 James/GB (EuGRZ 1988 241); 5.12.2002 Islamische Religionsgemeinschaft/D (NJW 2004 669); 22.1.2004 Jahn/D (EuGRZ 2004 57) sowie nachf. Fußn. 17 Etwa EGMR 23.9.1982 Sporrong/Lönnroth/ Schwed (EuGRZ 1983 523); 23.4.1987 Poiss/Ö (Series A 117) 9.12.1994 Stran Greek Raffmeries u.a./Griech (ÖJZ 1995 432); 20.11.1995 Pressos Compania Navierra u. a./ßelg (ÖJZ 1996 275); (589)

25.3.1999 Tatridis/Griech (EuGRZ 1999 316); 5.1.2000 Beyeler/T (NJW 2003 654); 22.6.2004 Broniowski/Pol (EuGRZ 2004 472); wohl auch 12.12.2002 Kalogeropoulos u. a./Griech, D (NJW 2004 273: Verweigerung der erforderlichen Zustimmung zur Zwangsvollstreckung in Vermögen der Bundesrepublik); vgl. Cremer EuGRZ 2004 134, 136; Grabenwarter § 25 Rdn. 11; Meyer-Ladewig 36 ff mit weit. Nachw.; sowie nachf. Fußnoten. 18

Meyer-Ludewig 38. Zur Entwicklung der wegen der Bezugnahme auf die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts zunächst angezweifelten Entschädigungspflicht bei der Enteignung von eigenen Staatsangehörigen bis zu deren endgültiger Anerkennung durch EGMR 23.9.1982 Sporrong/Lönnroth/ Schwed (EuGRZ 1983 523); Seidl-Uohemeldern FS Ermacora 182 ff.

"

Vgl. Mililelberger EuGRZ 2001 364, 366 mit weit. Nachw., ferner etwa Hartwig RabelsZ 1999 561, 570.

Walter Gollwitzer

1. Z P

M R K

Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

mittelbar heranzieht 2 0 oder das gleiche Ergebnis mit der analogen Anwendung der von gleichen Grundgedanken bestimmten Eingriffsschranken des Absatzes 1 Satz 2 und des Absatzes 2 gewinnt. 3a

Absatz 1 Satz 2 betrifft die Zulässigkeit des Eigentumsentzugs unter gesetzlich festgelegten Bedingungen, die hinreichend bestimmt, den Betroffenen zugänglich und vorhersehbar sein müssen. Es muß ein gerechter Ausgleich zwischen dem mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen Interesse und dem Schutz der Rechte des Betroffenen hergestellt werden 21 . Absatz 2 ermächtigt die Staaten, den Gebrauch des Eigentums entsprechend dem Allgemeininteresse zu regeln 22 . Der Staat darf ferner unter gesetzlich festgelegten Voraussetzungen in das Eigentum eingreifen oder es entziehen, so vor allem, wenn es rechtswidrig gebraucht wird oder wenn dadurch die Erfüllung von Verpflichtungen des einzelnen gegenüber der Allgemeinheit erzwungen werden soll 23 . Aus dem grundsätzlichen Achtungsanspruch des Art. 1 Abs.l Satz 1 folgt auch hier eine Grenze für alle gesetzlich zulässigen Maßnahmen. Sein Schutz darf nicht leerlaufen. Vermögensentziehende Maßnahmen dürfen nicht unverhältnismäßig sein 24 . Dem einzelnen darf kein unvertretbares Sonderopfer zugemutet werden. Der Staat muß auch hier einen gerechten Ausgleich („gerechtes Gleichgewicht") zwischen den verfolgten öffentlichen Belangen und der Bedeutung des fundamentalen Grundrechtes für das Individuum wahren 2 5 . Dazu gehört auch, daß die Behörden bei einem im Allgemeininteresse gerechtfertigten Eingriff in das Eigentum in angemessener Zeit handeln müssen; sie dürfen nicht mehrere Jahre zuwarten und den Betroffenen über den Eingriff in Ungewißheit halten 26 .

4

b) Eigentum wird in Art. 1 nicht definiert. Die verschiedenen Bezeichnungen („possessions", „property", „biens") meinen dasselbe. Der Begriff hat eine autonome Bedeutung 27 ; er wird im weiten Sinn und nicht etwa im Sinne der unterschiedlichen Eigentumsbegriffe des jeweiligen nationalen Sachenrechts 28 verstanden. Ähnlich wie bei Art. 14 G G ist Schutzgut das vom nationalen Recht als bestehend anerkannte persönliche Vermögen; der Schutz umfaßt aber auch sonst erworbene Rechte und Berechtigungen mit Vermögenswert 29 , die innerstaatlich anderen Grundrechtsverbürgungen (etwa Art. 12

211 21

22

2

-'

24

25

Meyer-Ladewig 36, 38. E G M R 22.9.1994 H e n t r i c h / F ( E u G R Z 1996 593); 8.7.1986 Lithgow u . a . / G B ( E u G R Z 1988 350); Beyeler/T ( N J W 2003 654); 22.1.2004 J a h n / D ( E u G R Z 2004 57). Η. Μ EGMR 23.9.1982 Sporrong/LönniOth/ Schwed ( E u G R Z 1983 523); 21.2.1986 James u . a . / G B ( E u G R Z 1988 341); 24.10.1986 A G O S I / G B ( N J W 1989 3079); 18.2.1991 Fredin/Schwed ( Ö J Z 1991 514); 12.12.2002 Wittek/D ( E u G R Z 2003 224); vgl. ferner die nachf. F u ß n o t e n . Vgl. Grabenwarter § 25 R d n . 10; Meyer-Ludewig 35. E G M R 30.11.1995 Pressos C o m p a n i a Naviera u. a./Belg (ÖJZ 1996 275); 12.12.2002 Wittek/D ( E u G R Z 2003 224); 22.1.2004 J a h n / G ( E u G R Z 2004 57). Zu dem vom E G M R nicht immer gleich gesehenen Verhältnis zwischen Gesetzmäßigkeit und dem im Wortlaut der Konvention nicht zu findenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Milteiberger EuGRZ 2001 364, 367 ff; ferner etwa Fiedler E u G R Z 1996 354, 355 („mittelbare Kanalisation des öffentlichen Interesses"); Hartwig RabelsZ 1999 561, 572 ff. E G M R 21.2.1986 James u . a . / G B ( E u G R Z 1988 341); 8.7.1986 Lithgow u . a . / G B ( E u G R Z 1988

Stand:

350); 23.4.1987 Pois/Ö ( N J W 1989 650); 19.12. 1989 Mellacher u . a . / Ö (ÖJZ 1990 151; „fair balance"); 12.2.1991 Fredin/Schwed (ÖJZ 1991 514); 25.3.1999 Tatridis/Griech ( E u G R Z 1999 316); 12.12.2002 Wittek/D ( E u G R Z 2003 224); 5.1.2000 Beyeler/I ( N J W 2003 654); vgl. auch E K M R E u G R Z 1991 427 (reasonable relationship of proportionalities) sowie die Nachw. in den vorhergehenden F u ß n o t e n . »

E G M R 5.1.2000 Beyerer/T ( N J W 2003 654; Verletzung des Art. 1, weil Behörde das staatliches Vorkaufsrecht bei einem Gemälde erst nach m e h r als 4 Jahren seit Kenntnis des gesamten Sachverhalts ausgeübt hat).

27

E G M R 23.11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech ((NJW 2002 45); 5.1.2000 Beyeler/T ( N J W 2003 654. Auch das Recht der Europäischen Gemeinschaften stellt nicht auf die nationalen Eigentumsbegriffe ab (vgl. Art. 295 EGV). E G M R 26.6.1986 van Marie u.a./Ndl ( E u G R Z 1988 35; Bezeichnung Wirtschaftsprüfer); 23.2. 1995 Gasus Dossier- & Fördertechnik G m b H / N d l (Series A 306 B); 25.3.1999 latridis/Griech

28

29

1.10.2004

(590)

Schutz des E i g e n t u m s

Art. 1 l . Z P M R K

G G ) zugerechnet werden. Ein Vertrag, der nach einer verbindlichen innerstaatlichen Entscheidung nichtig ist, ist aber nicht geeignet, dem Betroffenen eine eigentümerähnliche Stellung im Sinne der Konventionsgarantie zu verschaffen 30 . Neben dem Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen im Sinne des bürgerlichen Rechts umfaßt der Begriff alle an das Eigentum anknüpfenden Rechte, wie etwa das Jagdrecht 31 , sowie sonstige bestehende Rechte, die einen Vermögenswert darstellen, so zum Beispiel tatsächlich existierende Forderungen 3 2 und geldwerte Ansprüche oder sonstige (wohlerworbene) Vermögenswerte Rechte. Eigentum im Sinne des Art. 1 sind auch Rechte auf Grund einer öffentlichrechtlichen Erlaubnis 33 , so etwa das Recht zum Kiesabbau 34 oder die einem Restaurant erteilte Schankerlaubnis für Alkohol 35 , ferner ein auf Grund eines rechtskräftigen Urteils oder eines Schiedsspruchs erlangter Zahlungsanspruch 3 6 oder sonstige Vermögenswerte, bei denen eine berechtigte Erwartung besteht, sie als Eigentum zu erlangen 37 . Ein Anspruch gegen den Staat, daß er die K a u f k r a f t des bei einer Bank angelegten Geldes gegen Inflation schützt, folgt daraus nicht 37a . Eigentum im weiten Verständnis des Art. 1 sind auch alle durch persönlichen Einsatz geschaffenen Vermögenswerten Positionen, wie etwa das geistige Eigentum38 oder das Recht am eingerichteten Gewerbebetrieb39 einschließlich des erworbenen Kundenstamms 4 0 , oder eine Steuerberater- oder Anwaltskanzlei mit ihrem Klientel 41 . Z u m Eigentum in weiten Sinn des Art. 1 werden ferner sonstige erworbene Ansprüche gerechnet, wie der Anspruch auf ein vertraglich vereinbartes Vorruhestandsgeld 42 . Auch Versorgungsansprüche, die auf Grund eigener Leistungen entstanden sind, zählen dazu 4 3 , wie bestimmte Leistungen eines nationalen Sozialversicherungssystems oder ein Pensionsanspruch 44 ; dabei wird

3(1

ί 32

33 34 35

36

37

(EuGRZ 1999 316: Kundenstamm eines Kinos); 12.12.2002 Wittek/D (EuGRZ 2003 224); Peukert EuGRZ 1981 99 ff; Grabemvarter § 25 Rdn. 3; Meyer-Ladewig 5; vgl. auch Hartwig RabelsZ 1999 561, 566 (Gefahr, daß Eigentumsbegriff konturlos wird und künftige Gewinnerwartungen abgesichert werden). EGMR 9.1.2003 Kötterl & Schittily/Ö (ÖJZ 2003 477); wenn dagegen ein Staat die durch einen Schiedsspruch erlangten Ansprüche nachträglich durch ein Gesetz aufhebt, liegt darin ein ungerechtfertigter Eingriff in erworbenes Eigentum vgl. E G M R 9.12.1994 Stran Greek Refineries and Stratis Andreadis /Griech (ÖJZ 1995 432). EGMR 29.4.1999 Chassagnou/F (NJW 1999 3695). E G M R 23.11.1983 Van der Mussele/Belg (EuGRZ 1983 477); 5.1.2000 Beyeler/I (NJW 2003 654); 27.9.2001 Lenz/D (NJW 2003 2441: „Forderungen, für die eine berechtigte Erwartung der Realisierung geltend gemacht werden kann"); EKMR bei Strasser EuGRZ 1988 619; vgl. Peukert EuGRZ 1981 100; Meyer-Ladewig 9. Vgl. Hartwig RabelsZ 1999 561, 566 f. E G M R 18.2.1991 Fredin/Schwed (ÖJZ 1991 514). E G M R 7.7.1989 Tre Traktörer AB/Schwed (Series A 159), dazu Hartwig RabelsZ 1999 561, 567. EGMR 9.12.1994 Stran Greek Refineries and Stratis Andreadis/Griech (ÖJZ 1994 432); 12.12.2002 Kalogeropoulos/Griech, D (NJW 2004 273). E G M R 29.11.1991 Pine Valley Developments Limited u. a./Jrl (ÖJZ 1992 459); 20.11.1995 Pressos Compania Naviere SA/Belg (EuGRZ 1996 193);

(591)

5.12.2002 Islamische Religionsgemeinschaft/D (NJW 2004 669; Treuhandverwaltung einer PDS Spende). 37 " EGMR 24.7.2003 Ryabykh/Russl; vgl. Goedeeke JJR 46 (2003) 666, 629. 38 Frowein/Peukert 6; Grabemvarter § 25 Rdn. 4; Meyer-Ladewig 11; Peukert EuGRZ 1981 103; vgl. auch Art. 17 Abs. 2 Europäische GrundrechteCharta. ® Zum Eigentumsbegriff des 1. ZP Frowein!Peukert 4; 5; Pansch 227; Schorn 3; Peukert EuGRZ 1981 97; Riedel EuGRZ 1988 334; wegen Beispielen vgl. etwa E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1981 123; 1982 315 ff; 1983 219; Strasserl Weber EuGRZ 1988 92 ff; bei Strasser EuGRZ 1988 615. 4(1 EGMR 26.6. 1986 van Marle/NdL (EuGRZ 1988 35); 25.3.1999 Jatridis/Griech (EuGRZ 1999 316); 20.4.1999 Hoerner Bank/D (ECHR 1999-11); Grabenwaner § 25 Rdn. 4. 41 EGMR 25.5.1999 Olbertz/D (NJW 2001 1556); 9.11. 1999 Döring/D (NJW 2001 1558); vgl. ferner; 6.2.2003 Wendenburg u.a./D (NJW 2003 2221); Grabenwarter §25 Rdn. 4; Meyer-Ladewig 12. « E G M R 27.9.2001 Lenz/D (NJW 2003 2441). 43

44

Vgl. Hartwig RabelsZ 1999 561, 567 (Parallele zu innerstaatlichen Entwicklungen). Etwa EGMR 29.5.1986 Feldbrugge/Ndl (EuGRZ 1988 14); 29.5.1986 Deumeland/D (NJW 1989 652); 12.10.2000 Jankovic/Kroatien (ECHR 2000X); 4.6.2002 Wessels-Bergervoet/Ndl (ÖJZ 2003 516: Diskriminierende Festsetzung der Pensionsansprüche); Grabenwarter § 25 Rdn. 5; Hartig RabelsZ 1999 561, 566 f; Meyer-Ladewig 9 je mit weit.

Walter Gollwitzer

1. Z P M R K

Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

allerdings nicht unbedingt ein Recht auf Zahlungen in einer bestimmten Höhe garantiert 4 5 . Auch das Recht auf Notstandshilfe (österreichisches Recht) hat der E G M R als Eigentum angesehen, weil es auch an frühere Beitragszahlungen zur (ausgelaufenen) Arbeitslosenunterstützung geknüpft war 46 . Der Schutz eines erlangten Vermögenswertes entfällt nicht etwa deshalb, weil dieser mit einem seinen Bestand in Frage stellenden Recht, wie etwa einem nationalen Vorkaufsrecht, belastet ist 47 . Nur das private Eigentum eines (ehem.) Staatsoberhauptes, nicht aber das ihm zur Verfügung gestellte öffentliche Eigentum unterfällt dem Schutz des Art. 1 des 1. ZP 4 8 . 4a

Der Erwerb künftigen Eigentums, auf das noch kein durchsetzbarer Anspruch besteht 49 wird nicht geschützt. Die Aussicht auf einen künftigen Vermögenserwerb fällt nicht in seinen Schutzbereich 50 ; desgleichen auch nicht die Beeinträchtigung künftiger Erwerbsmöglichkeiten auf Grund einer Änderung nationaler Gesetze 51 . Art. 1 des 1. ZP erfaßt auch nicht die Pflicht zur Übernahme einer unentgeltlichen oder geringer entlohnten Tätigkeit 52 . Geschützt wird das Recht, über das eigene Vermögen zu verfügen 53 , nicht aber ein bis zum Eintritt des Erbfalls nur als Anwartschaft bestehendes Erbrecht 54. Durch erbrachte eigene Leistungen oder durch eine günstige Rechtslage erlangte private oder öffentlich-rechtliche Rechtspositionen fallen darunter, wenn sie eine bereits rechtlich fundierte Erwartung auf „Eigentumserwerb" im weiten Sinne dieser Garantie begründen 5 5 . Auf die von der Ausgestaltung des konkreten Falls abhängigen Einzelheiten soll hier nicht näher eingegangen werden 56.

4b

Ein Eingriff in das Eigentum unter Verletzung der Garantie des Absatzes 1 Satz 1 kann auch vorliegen, wenn der Staat entgegen seiner allgemeinen Schutzpflicht aus Art. 1 M R K es unterläßt, in seinem Herrschaftsbereich oder in Teilen davon die effektive Ausübung des Eigentumsrechts zu gewährleisten und die zum Schutze des Eigentumsrechts notwendigen Maßnahmen zu ergreifen 562 . Das bewußte Unterlassen gebotener Maßnahmen kann dann einem Eingriff des Staates in das Eigentum gleichkommen. Der Staat hat in beiden Fällen einen von ihm zu verantwortenden Eigentumseingriff durch einen legitimen Zweck zu rechtfertigen und für einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der Einzelnen und denen der Gemeinschaft zu sorgen: Deshalb hat der E G M R verschiedentlich verzichtet, sich auf einen der beiden ineinander übergehenden Gesichtspunkte (Eingriff oder eine ihm in der Wirkung gleichkommende Untätigkeit) festzu-

Nachw.; vgl. auch Ilailbronner JZ 1997 397 (in Anlehnung an BVerfGE 63 152, 174; 69 272, 307: verneinend bei Fehlen einer eigenen Leistung). 45 E G M R 27.9.2001 Lenz/D (NJW 2003 2441: Vorruhestandsgeld, wobei der E G M R die Anwendbarkeit des 1. ZP offenließ, da der in der Absenkung der ßerechnungsgrundlage liegende Eingriff nicht unverhältnismäßig zu dem damit verfolgten Ziele war), ferner vorst. Fußn. 46 EGMR 16.9.1996 Gaygusuz/Ö (JZ 1997 409) mit kritischer Anm. Haiibronner JZ 1997 397. 47 Vgl. E G M R 5.1.200 Beyeler/I (NJW 2003 654; wegen Vorkaufsrecht des italienischen Staates widerruflicher Eigentumserwerb an einen Gemälde). 48 EGMR 23. 11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2002 45); Meyer-Ladewig 13. 4 » E G M R 6.2.2003 (Wendenburg u. a./D (NJW 2003 2221); vgl. auch 16.6.1886 Van Marle/NdL (EuGRZ 1988 35). 511 EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454).

51

Vgl. EGMR 26.9.2000 Andrews u.a./GB (Gesetzesänderung über Feuerwaffen); Meyer-Ladewig

52

E G M R 23.11.1983 Van der Mussele/Belg (EuGRZ 1985 477); vgl. ferner E K M R EuGRZ 1975 47 (Anwaltsgebühren). E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 48); 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454). EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); Grabenwarter § 25 Rdn. 6; Riedel EuGRZ 1988 334. Vgl. E G M R 6.2.2003 (Wendenburg u. a./D (NJW 2003 2221), wo die Frage aber für den konkreten Fall offen gelassen wird; Meyer-Ladewig 7, 12 (good will). Vgl. die bei Frowein!Peukert 8 ff erörterten Fälle; ferner etwa E K M R bei Beckmann EuGRZ 1981 123 (Recht an Rente, nicht auf Rente). Vgl. E G M R 22.6.2004 Broniowski/Pol (EuGRZ 2004 472) mit weit. Nachw.

12).

53

54

55

56

5ta

Stand: 1.10.2004

(592)

Schutz des E i g e n t u m s

Art. 1 l . Z P M R K

legen 56b . Auch ohne formale Enteignung im Sinne des Absatzes 1 Satz 2 oder ausdrücklich Anordnung einer Nutzungsbeschränkung im Sinne des Absatzes 2 kann ein Eingriff in das Eigentum schon darin liegen, daß der Staat dem Eigentümer die Nutzung seines Eigentums unmöglich macht („de facto Enteignung") 5 7 , sei es, daß er ihm durch seine Organe langfristig den Zugang zu dem Gebiet verwehrt, im dem sein Eigentum liegt 58 , sei es, daß er den Eigentümer langfristig durch ein vorläufiges Bauverbot an der Nutzung seines Eigentums hindert 5 9 . Auch eine gesetzliche Regelung, durch die eine unwirksame Eigentumsübertragung nachträglich geheilt werden soll, greift in das Eigentum ein 60 , desgleichen ist die Zerstörung eines Hauses durch Sicherheitskräfte ein Eingriff in das Eigentum 61 . Die Kürzung eines mit dem Arbeitgeber vereinbarten Vorruhestandgeldes durch den Gesetzgeber stellt jedoch keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Eigentum dar, da der Anspruch nur dem Grunde nach nicht aber in einer bestimmten Höhe unter den Schutz des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des 1. ZP fällt 62 . c) Die Enteignung wird durch Art. 1 des 1. ZP nicht ausgeschlossen, sie ist aber nach 5 Absatz 1 Satz 2 nur zulässig, wenn sie in den nationalen Gesetzen vorgesehenen ist. Die Bedingungen, unter denen das Eigentum entzogen werden kann, müssen durch einen allen zugänglichen und eindeutigen Rechtssatz festgelegt 63 und damit für die Betroffenen vorhersehbar sein. Bei dem Eingriff müssen die materiellen und formellen Voraussetzungen des innerstaatlichen Rechts eingehalten 64 und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit beachtet werden 65 , zu denen auch die Beachtung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes gehört. Das gilt nicht nur für die formalen Enteignungsgesetze, sondern auch für sonstige staatliche Maßnahmen, die eine Eigentumsentziehung anordnen oder ihr in der Wirkung de facto gleichkommen 66 . Die Enteignung oder die ihr de facto gleichkommende M a ß n a h m e muß im öffent- 6 liehen Interesse liegen. Außerdem ist bei allen staatlichen Eingriffen in das Eigentum die Verhältnismäßigkeit zwischen dem in öffentlichen Interesse verfolgten Ziel und den Grundrechtes des betroffenen Einzelnen zu wahren. Es muß ein gerechtes (faires) Gleichgewicht zwischen den mit der Enteignung verfolgten öffentlichen Interessen und deren Auswirkungen auf den Betroffenen bestehen, dem Betroffenen darf dadurch keine unverhältnismäßige Last auferlegt werden 67 ; seine Entschädigung muß dem Wert des ent™> EGMR 22.6.2004 Broniowski/Pol (EuGRZ 2004 472: Staat ist seiner Verpflichtung nicht nachgekommen, entsprechend einem früher erlassenen Gesetz für einen gerechten Ausgleich der Landverluste im ehem. Ostpolen zu sorgen). 57 Vgl. E G M R 12.2.1991 Fredin/Schwed (ÖJZ 1991 514): Widerruf einer Kiesabbaubewilligung im entschiedenen Fall keine de facto Enteignung. 58 EGMR 18. 12.1996 Loizidou/Türk (ÖJZ 1997 793: Zugang zu Grundstück in Nordzypern). 55 EGMR 23.9.1982 Sporrong/Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); Meyer-Ladewig 16. «' EGMR 20.2.2003 Forrer Niedenthal/D (NJW 2004 927). 61 Meyer-Ladewig 18 unter Hinweis auf EGMR 30.1. 2001 Dulas/Türk. 62 E G M R 27.9.2001 Lenz/D (NJW 2003 2441). 63 Wohl nicht notwendig ein förmliches Gesetz wie Guradze 4 I annimmt. Auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt wegen § 31 BVerfG diese Voraussetzung; vgl. EGMR 6.2.2003 Wendenburg/D (NJW 2003 3221). (593)

64

Zum Erfordernis der Gesetzmäßigkeit, der gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der neuen Rechtsprechung des EGMR - etwa EGMR 25.3.1999 latridis/Griech (EuGRZ 1999 317); 23.11. 2000 ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2000 2002) - stärkeres Gewicht beigemessen wird, vgl. Mitteiberger EuGRZ 2001 364, 370 ff: Eine nicht dem Gesetz entsprechende Enteignung ist unzulässig, so daß es auf ihre Verhältnismäßigkeit nicht mehr ankommt.

65

E G M R 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); E G M R 25.3.1999 latridis/Griech (EuGRZ 1999 317); 23.11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2000 2002); 22.1.2004 Jahn/D (NJW 2004 923); Meyer-Ladewig 24. E G M R 18.2.1991 Fredin/Schwed (ÖJZ 1991 515); vgl. aber oben Rdn. 3, 3a. EGMR 23.9.1982 Sporrong/Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); 20.11.1995 Pressos Compania Naviera SA/Belg (ÖJZ 1996 275); 23.11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech. (NJW 2000 2002): 6.2.2003 Wendenburg/D (NJW 2003 2221), 20.3.

66

67

Walter Gollwitzer

1. Z P

M R K

Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

zogenen Eigentums in vernünftiger Weise Rechnung tragen 68 . Bei Beurteilung der Frage, ob ein gerechter Ausgleich zwischen den öffentlichen Interessen und dem Schutz der Rechte des Einzelnen gewahrt wurde, zieht der E G M R alle Umstände des Einzelfalls, so die Anwendung der gesetzlichen Regelungen auf den Betroffenen und die Modalitäten seiner Entschädigung in Betracht 69 . In der Regel ist eine Enteignung ein unverhältnismäßiger Eingriff, wenn keine Entschädigung gezahlt wird 70 . Bei Enteignungen, die vor dem Inkrafttreten der Konventionen durchgeführt wurden, ist die Hoffnung auf deren rechtliche Unwirksamkeit oder Rückgängigmachung und damit auf Anerkennung oder Wiedererlangung eines entzogenen Eigentums kein nach Art. 1 geschützter Vermögenswert 71 . 7

Öffentliches Interesse wird dabei weit ausgelegt; es deckt alle Maßnahmen, mit denen der Staat eine legitime Politik, vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik oder der Bodenordnung verfolgt, so etwa auch für Zwecke des Straßenbaus 7 2 oder der Flurbereinigung 73 . Maßnahmen des Gesetzgebers, die nach einem Wechsel des Wirtschaftssystems im Bereich der Eigentumsordnung Rechtsfrieden und Rechtssicherheit wiederherstellen sollen 74 , sowie Enteignungen, die keine Nutzung durch die Allgemeinheit begründen, sondern in Verfolgung einer sozialpolitischen Zielsetzung zugunsten Privater wirken, können hierunter fallen 75 . Dem staatlichen Gesetzgeber und den staatlichen Behörden wird dabei sowohl hinsichtlich des Vorliegens eines öffentlichen Interesses als auch hinsichtlich der Zweckmäßigkeit des Eingriffs und der Wahl der Mittel ein weiter Beurteilungsspielraum zuerkannt 7 6 , da sie grundsätzlich besser in der Lage sind, die örtlichen Bedürfnisse und Zusammenhänge zu beurteilen. Die Maßnahmen müssen nicht notwendig sein; es genügt, wenn sie den staatlichen Stellen den Umständen nach als angeraten erscheinen, sofern sie „vernünftig und im guten Glauben" handeln 7 7 . Der Gerichtshof behält sich aber die Beurteilung vor, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt und ein gerechter Ausgleich („proper balance", „juste equilibre") gegeben ist 78 . Je

2002 Forrer-Niedentahl/D ( N J W 2004 927); vgl. Hartwig RabelsZ 1999 561, 572; Meyer-Ladewig 28; ferner Vorst. F u ß n . 68 E G M R 9.12.1994 Holy Monasteries/Griech ( Ö J Z 1994 428); 23.11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech. ( N J W 2002 45). ® Etwa E G M R 25.5.2000 N o a e k / D ( N V w Z 2001 307 L „Gemeinde H o r n o " ) ; 20.2.2003 Forrer-Niedenthal/D ( N J W 2004 927). 70

N u r unter außergewöhnlichen U m s t ä n d e n kann dies anders sein, vgl. E G M R 9.12.1994 Holy M o nasteries/Griech (ÖJZ 1994 428); 23. 11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech ( N J W 2002 45); 22.1.2004 J a h n / D ( N J W 2004 923).

71

E G M R 13.12.2000 Malhous/Tschechien (Rep. 2000-XTT); Meyer-Ladewig 12; vgl. auch zum Klageausschluß des Überleitungsvertrags E G M R 12.7. 2001 Fürst A d a m TT von und zu Liechtenstein/D ( E u G R Z 2001 466); dazu kritisch Blumenwitz AVR 40 (2002)215.

72

E G M R 25.3.1999 Papachelas/Griech ( N V w Z 1999 1325). E G M R 15.11.1996 Prötsch/Ö ( Ö J Z 1997 190); Meyer-Ladewig 27. Vgl. etwa E G M R 20.2.2003 Forrer-Niedenthal/D ( N J W 2004 927); 22.1.2004 J a h n / D ( N J W 2004 923).

73

74

Stand:

75

E G M R 8.7.1986 Lithgow u . a . / G B ( E u G R Z 350); 21.2.1986 James u. a./GB ( E u G R Z 1988 21.2.1990 H ä k a n s s o n u.a./Schwed ( E u G R Z 5); 23.11.2000 u. 28.11.2002 ehem. König Griechenland u.a./Griech ( N J W 2002 49; 1721); VroweinlPeukerl 40; Hartwig RabelsZ 561, 568.

76

E G M R 21.2.1986 James u . a . / G B ( E u G R Z 1988 341); 8.7.1986 Lithgow u . a . / G B ( E u G R Z 1988 350); 24.10.1986 AGOST/GB ( N J W 1989 3079); 12.2.1991 Fredin/Schwed ( Ö J Z 1991 514); 30.10. 1991 Wiesinger/Ö ( Ö J Z 1992 238); 29.4.1999 Chassagnou/F ( N J W 1999 3695); 23.11.2000; 28.11. 2002 ehem. König von Griechenland u.a./Griech ( N J W 2002 49; 2003 1721); 12.12.2002 Wittek/D ( E u G R Z 2003 224); 6.2.2003 Wendenburg/D ( N J W 2003 2221); 20.2.2003 Forrer-Niederthal/D ( N J W 2004 927); 22.1.2004 J a h n / D ( N J W 2004 923); FroweinlPeukerl 39. Mitlelberger EuGRZ 2001 364, 366; vgl. Hartwig RabelsZ 1999 561, 568 (Definitionshoheit des öffentlichen Interesses).

77

E K M R nach FroweinlPeukert 39; vgl. E G M R 7.12. 1976 Handyside/GB ( E u G R Z 1977 38); Peukert E u G R Z 1981 107. Etwa E G M R 25.5.2000 N o a c k u . a . / D (NVwZ 2001 307 L: Gemeinde H o r n o ) ; 30.10.1991 Wiesinger/Ö (ÖJZ 1992 238). Vgl. Fiedler E u G R Z 1996

78

1.10.2004

1988 341); 1992 von 2003 1999

(594)

Schutz des E i g e n t u m s

A r t . 1 1. Z P

M R K

nach den Umständen kann diese Abwägungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen 79 . Grundsätzlich achtet er dabei die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, daß die Enteignung im öffentlichen Interesse liegt, es sei denn, daß ihm diese offensichtlich willkürlich oder unvernünftig erscheint 80 . Mitunter wurde allerdings auch nachgeprüft, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme eines öffentlichen Interesses wirklich gegeben waren 81 . Die Bedingungen, unter denen das Eigentum entzogen werden kann, müssen durch 7 a Gesetz festgelegt 82 sein. Sie müssen also im innerstaatlichen Recht vorgesehen sein und diesem, aber auch den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit entsprechen 83 . Das gilt nicht nur für die formalen Enteignungsgesetze, sondern auch für sonstige staatliche Maßnahmen, die eine Eigentumsentziehung anordnen oder die wegen ihrer Auswirkungen einer Enteignung in der Wirkung gleichkommen (de facto Enteignung), da die verbleibende Rechtsposition keine sinnvolle Nutzung mehr zuläßt 8 4 . Der Staat darf Eingriffe in das Eigentum, insbesondere aber die Entziehung und die Rückgewähr entzogenen Eigentums nicht willkürlich regeln; er darf dabei nicht auf Gesichtspunkte abstellen, die eine unzulässige Diskriminierung (Art. 14 M R K , Art. 26 IPBPR) der Betroffenen bedeuten 842 . Ob die Enteignungsentschädigung gesetzlich geregelt sein muß, richtet sich zunächst 8 nach dem jeweiligen nationalen Recht. Art. 1 des 1. ZP schreibt sie nicht ausdrücklich vor. Der Hinweis auf die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts in Art. 1 Abs. 1 des 1. ZP schließt nur die entschädigungslose Enteignung bei Ausländern aus, da bei diesen das völkerrechtliche Fremdenrecht die entschädigungslose Enteignung verbietet 85 . Die zunächst strittige Entschädigungspflicht für Inländer 8 6 hat der E G M R dann aus allgemeinen Grundsätzen und dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit dem allgemeinen Achtungsanspruch in Absatz 1 Satz 1 hergeleitet 87 . Die frühere Ansicht der Konventionsorgane, daß eine solche Entschädigungspflicht auch unter Berufung auf Art. 5 des 1. ZP, Art. 14 M R K nicht begründet werden könne, ist damit überholt. Die praktischen Auswirkungen dieser umstrittenen Auslegung wurden allerdings auch früher schon dadurch gemildert, daß eine entschädigungslose Enteignung

354, 355 (Abstellen auf gerechten Ausgleich positiv zu bewerten). Vgl. EGMR 22.1.2004 Jahn/D (NJW 2004 923); Fiedler EuGRZ 1996 334, 335 unter Hinweis auf E G M R 29.11.1991 Pine Valley Developsment Ltd u.a./lrl (ÖJZ 1992 459) einerseits und 22.9.1994 Hentrich/F (EuGRZ 1996 593) andererseits. s » EGMR 19.12.1989 Mellacher/Ö (ÖJZ 1990 150); 21.2.1990 Häkansson, Sturesson/Schwed (EuGRZ 1992 5); 6.2.2003 Wendenburg/D (NJW 2003 2221); Miltelhergei- EuGRZ 2001 364, 366 mit weit. Nachw. vgl. auch Vorst. Eußn.; Meyer-Ladewig 26. 81 EKMR EuGRZ 1979 574; Lroweinl Peukert 39. 82 Wohl nicht notwendig ein förmliches Gesetz wie Guradze 4 I annimmt. Auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt wegen § 31 BVerfG diese Voraussetzung E G M R 6.2.2003 Wendenburg/D (NJW 2003 3221). » EGMR 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); EGMR 25.3.1999 latridis/Griech (EuGRZ 1999 317); 23.11.2000 ehem. König von Griechenland/Griech ( NJW 2000 2002). 84 Etwa E G M R 24.6.1993 Papamichalopoulos u.a./ Griech. (ÖJZ 1994 177); 22.9.1994 Hentrich/F 79

(595)

(EuGRZ 1996 593; staatl. Vorkaufsrecht); 28.10. 1999 Brumarescu/Rum (ECHR 1999-VII); GrabenKarter § 25 Rdn. 9; Meyer-Ladewig 21; vgl. auch Cremer EuGRZ 2004 134, 136. 84 " UN-AMR 2.11.2001 (NJW 2002 253: Rückgabe entzogenen Eigentums nur an Staatsbürger). 85 I-rowein/Peukert 48; Partsch 225; Peukert EuGRZ 1981 108, ferner ausführlich dazu Seidl-IIohemeldern FS Ermacora 182 ff und Hartwig RabelsZ 1999 561, 574, der trotz der eher dagegen sprechenden Entstehungsgeschichte die Vorschrift als Rechtsfolgenverweisung versteht und sie deshalb gleichermaßen auf Inländer und Ausländer für anwendbar hält. 86 EGMR 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); E K M R bei FroweinlPeukert 48; strittig, dazu etwa Böckstiegel NJW 1967 905; Guradze 5; Peukert EuGRZ 1981 108, Riedel EuGRZ 1988 333; Seidlilohemeldern FS Ermacora 182 ff" je mit weit. Nachw. 87 Vgl. Cremer EuGRZ 2004 134, 138, Hartwig RabelsZ 1999 561, 563; ferner Rdn. 3, 9.

Walter Gollwitzer

1. Z P M R K

Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

der eigenen Staatsangehörigen im Regelfalle bereits innerstaatlich nicht als zulässig angesehen wurde, und daß auch eine Entschädigung unter dem angemessenen Wert meist ein übermäßiger Eingriff ist, der gegen Art. 1 des l . Z P verstößt 88 . 9

Eine grundsätzliche Entschädigungspflicht wird jetzt aus dem Gebot der Achtung des Eigentums hergeleitet, das auch bei enteignenden Maßnahmen des Staates unverhältnismäßige Eingriffe ausschließt 89 . Es muß ein gerechter Ausgleich („fair balance") zwischen dem mit Enteignung verfolgten Allgemeininteresse und den Belangen des Betroffenen hergestellt werden 90 . Bei der hierdurch gebotenen Abwägung der Auswirkungen fällt die gewährte Entschädigung entscheidend ins Gewicht; da ihre H ö h e maßgeblich dafür ist, ob darin ein angemessener Ausgleich für den Eigentumsentzug zu sehen ist 91 . Sofern nicht außergewöhnliche Verhältnisse dies rechtfertigen, bedeutet die Versagung jeder Entschädigung ein unverhältnismäßiges, das faire Gleichgewicht der Interessen mißachtendes Sonderopfer, zu dessen Anordnung der Staat auch durch Absatz 1 Satz 2 nicht ermächtigt wird 92 . Das gleiche gilt, wenn eine Regelung die verschiedenen Betroffenen ungleich belastet 93 . Der Umfang der Entschädigungspflicht muß sich grundsätzlich am Marktwert des entzogenen Gegenstandes orientieren, wenn dadurch der Entzug des Eigentums kompensiert werden soll 94 . Eine gesetzliche Regelung, welche undifferenziert bei Maßnahmen des Straßenbaus die Höhe der Entschädigung kürzt, um eine vermutete Werterhöhung des Grundstückes durch den Straßenbau auszugleichen, wurde vom E G M R als mit Art. 1 des 1. Z P unvereinbar angesehen, da sie zu wenig flexibel ist, um den unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und den betroffenen Eigentümer behindert, sein Recht auf volle Entschädigung geltend zu machen 9 5 . Nur wenn besondere Umstände vorliegen, können bei einer rechtmäßigen Enteignung berechtigte Ziele des öffentlichen Interesses auch in einer demokratischen Gesellschaft 96 eine unter dem vollen Marktwert liegende Entschädigung als angemessene Entschädigung erscheinen lassen 97 ; so etwa, wenn eine globale Enteignung der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse dient 98 oder wenn staatsformbedingtes Eigentum beim Vollzug grundlegender Änderungen der Regierungsform, wie etwa bei Übergang von der Monarchie zur Republik, entzogen wird 99 . Eine unverhältnismäßige Verzögerung bei der Festsetzung 88

89 911

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92

Etwa 25.3.1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325). Vgl. Rdn. 3a. Etwa EGMR 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/ Schwed (EuGRZ 1983 523); 19.12.1989 Mellacher/ Ö (ÖJZ 1990 150); 9.12.1994 Holy Monasteries/ Griech (ÖJZ 1995 428); 20.11.1995 Pressos Compania Naviera SA/Belg (EuGRZ 1996 275); 25. 3. 1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325); ferner etwa Cremer EuGRZ 2004 134, 139 zu EGMR 22.1. 2004 Jahn/D (EuGRZ 2004 57). EGMR (EuGRZ 1988 341); 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); 25.3.1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325). Zur Erweiterung des Abwägungsspielraums des E G M R durch das nicht an materielle Maßstäbe gebundenen Verhältnismäßigkeitsprinzip vgl. Hartwig RabelsZ 1999 561, 573. E G M R 23.9.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); 9.12.1994 Holy Monasteries/ Griech (ÖJZ 1995 428, dazu Fiedler EuGRZ 1996 354 ft). EGMR 22.1.2004 Jahn/D (EuGRZ 2004 57; dazu Cremer EuGRZ 2004 134); FroweinlPea-

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ker! 49; Meyer-Ludewig 28; vgl. ferner RiedeI EuGRZ 1988' 333; Seidl-Hohenveldem FS Ermacora 186 ff. Vgl. EGMR 29.4.1999 Chassagnou u.a./F (NJW 1999 3695; Benachteiligung kleiner Grundeigentümer); Meyer-Ladewig 31. 25.3.1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325) EGMR 24.6.1993 Papamichalopoulos/Griech (ÖJZ 1994 177). EGMR 25. 3. 1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325) mit weit. Nachw.; Meyer-Ladewig 29. Nach der Konvention können nur deren Ziele ein anzuerkennendes öffentliches Interesse begründen, vgl. Fiedler EuGRZ 1996 354, 356. E G M R 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1988 341); 8.7.1986 Lithgow u.a./GB (EuGRZ 1988 350); 9.12.1994 Holy Monasteries/Griech (ÖJZ 1995 428); 25.3.1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325); Meyer-Ladewig 29. Vgl. vorst. Fußn., ferner etwa Hartwig RabelsZ 1999 561, 577. EGMR 23. 11.2000, 28. 11.2002 ehem. König von Griechenland u.a./Griech (NJW 2002 45; 2003 1721); vgl. auch EGMR 9.12. 1994 Holy Monaste-

Stand: 1.10.2004

(596)

Schutz des E i g e n t u m s

Art. 1 l . Z P M R K

oder Auszahlung der Entschädigung kann die Betroffenen über Gebühr belasten und damit den gerechten Ausgleich zwischen dem Eigentumsentzug und dem Wert der Entschädigung aufheben 10°. d) Nutzungsregelungen, also hoheitliche Maßnahmen, die - ohne das Eigentum im weit verstandenen Sinn des Absatzes 1 Satz 1 ganz zu entziehen - seinen Gebrauch in einem bestimmten Sinn regeln, die insoweit etwas gebieten oder untersagen, behält Absatz 2 dem Staate ausdrücklich vor. Dies eröffnet ihm einen weiten Handlungsraum bei Anwendung der gesetzlichen Regelungen durch die er die Benutzung des Eigentums einschränken darf, wenn er dies im Allgemeininteresse für erforderlich hält 101 . Allgemeininteresse wird dabei dem öffentlichen Interesse des Absatzes 1 Satz 2 102 vielfach gleichgesetzt 103 . Wie die Staaten den Gebrauch des Eigentums regeln wollen, und welche Einschränkungen sie im Allgemeininteresse bei dessen Gebrauch für notwendig halten, ist wegen ihrer größeren Sachnähe weitgehend ihnen überlassen; sie haben sowohl hinsichtlich der Zielsetzung als auch hinsichtlich der Mittel einen weiten Beurteilungsspielraum 1 0 4 . Dem Gerichtshof obliegt jedoch die Mißbrauchskontrolle, die sich auch auf die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Wahrung eines vernünftigen (fairen) Gleichgewichts zwischen Allgemeininteresse und dem Interesse des einzelnen erstreckt 105 . Dieses ist gewahrt, wenn ein Flugzeug beschlagnahmt und nur gegen Zahlung eines Geldbetrages wieder freigegeben wird, nachdem in diesem erhebliche Rauschgiftmengen gefunden worden waren 106 . Eine zulässige Nutzungsregelung wurde beispielsweise in der zeitlichen Befristung der Befugnis zum Schotterabbau gesehen 107 , in der Sicherstellung von ehemaligem Parteivermögen zweifelhafter Herkunft durch Anordnung einer Treuhandverwaltung beim Empfänger 1 0 8 , in Baubeschränkungen 1 0 9 , in der Verpflichtung, das Jagdrecht in einen Jagdverband einzubringen 110 oder in einer Regelung über den Besitz von Feuerwaffen 111 . Als Nutzungsregelungen im Sinne des Absatzes 2 behandelt wurden ferner die Mietpreisbindung 1 1 2 und die gesetzlichen Regelungen, die die Mieter bei Wohnungsknappheit vor Kündigung durch die Eigentümer schützen 113 . Als zulässige Nutzungsregelung wurde auch gebilligt, daß ein Teil der Ent-

ries/Griech. (ÖJZ 1995 428); vgl. Fiedler EuGRZ 1996 354, 356 f (auch zur Umsetzung völkerrechtlicher Verträge); Meyer-Ladewig 29. "·» Etwa EGMR 9.7.1997 Akkus/Türk (ÖJZ 1998 356); Meyer-Ladewig 30, 31 mit Hinweisen auf weitere Entscheidungen des EGMR; ferner auch EGMR 5.1.2000 Beyeler/1 (NJW 2003 654: jahrelange Verzögerung der Entscheidung über staatliches Vorkaufsrecht). 11,1 Beispiele aus der Rechtsprechung der EKMR bei l'roweinlPeukert 56. 1112 Vgl. Rdn. 6. 103 E G M R 21.2.1986 James/GB (EuGRZ 1988 341); FrowemIPeukerl 39; Grabenwarter § 25 Rdn. 14; Meyer-Ladewig 34; vgl. auch EGMR 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); Mitteiberger EuGRZ 2001 364, 367. 11.4 Etwa EGMR 24. 10.1986 AGOSI/GB (NJW 1989 3079); 29.4.1999 Chassagnou u.a./F (NJW 1999 3695); 23.11.2000 ehem. König von Griechenland/ Griech (NJW 2002 45); 12.12.2002 Kalogeropoulos ua/Griech/D (NJW 2004 373); Meyer-Ladewig 34; Hartwig RabelsZ 1999 516, 570. 11.5 „Fair balance", etwa EGMR 21.2.1986 James/GB (EuGRZ 1988 341); 12.2.1991 Eredin/Schwed (ÖJZ (597)

1991 514); EGMR 28.9.1994 Spadea & Scalabrio/1 (ÖJZ 1996 189); 23.2.1995 Gasus Dosier und Fördertechnik GmbH/Ndl (Series A 306); 7.7.1989 Tre Traktörer AB/Schwed (Series A 159); 25.5.1999 Olbertz/D (NJW 2001 1558); 5.5. 1995 Air Canada/GB (ÖJZ 1995 755); 5.12.2002 Islamische Religionsgemeinschaft/D (NJW 2003 669); E K M R EuGRZ 1991 427; FrowemIPeukerl 41, 42; MeyerLadewig 34, 35; Mittelberger EuGRZ 2001 368 vgl. Rdn. 3. ™ EGMR 5. 5.1995 Air Canada/GB (ÖJZ 1995 755). 107 E G M R 12.2.1991 Fredin/Schwed (ÖJZ 1991 514). 108 E G M R 5.12.2002 Islamische Religionsgemeinschaft/D (NJW 2003 669: PDS Spende). 1(8 EGMR 29.3.1982 Sporrong, Lönnroth/Schwed (EuGRZ 1983 523), Meyer-Ladewig 35. »» EGMR 29.4. 1999 Chassagnou u.a./F (NJW 1999 3695. 111 Meyer-Ladewig 35; E G M R 26.9.2000 Andrews/ GB; vgl. Rdn. 4. 112 E G M R 19.12.1989 Mellacher u.a./Ö (ÖJZ 1990 150). in EGMR 28.9.1994 Spadea & Scalabrio/T (ÖJZ 1996 189); vgl. ferner Meyer-Ladewig 35 (jährelanger Räumungsschutz unverhältnismäßig).

Walter Gollwitzer

1. Z P M R K

Art. 1

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

lohnung der Strafgefangenen als Überbrückungsgeld ihrer sofortigen Verfügung entzogen wird" 4 . 103 Nach dem weiten Verständnis des Eigentums im Sinne des Art. 1 115 werden aber auch Beschränkungen in der Zulassung oder Ausübung eines dem Eigentumsschutz im Sinne des Art. 1 Abs. 1 unterfallenden Berufes als Nutzungsregelungen angesehen, so etwa die Regelungen der Zulassungserfordernisse für Rechtsanwälte und Steuerberater" 6 oder die Beschränkungen durch das Rechtsberatungsgesetz 117 . 11

e) Neben den Maßnahmen im Allgemeininteresse wird besonders erwähnt, daß Art. 1 des 1. ZP Gesetzen zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben118 oder der Geldstrafen119 nicht entgegensteht. Das Verbot zur Achtung des Eigentums bei der Regelung dieser Maßnahmen wird dadurch aber nicht gänzlich aufgehoben; konfiskatorische Steuern oder unverhältnismäßige Geldstrafen können in Extremfällen auch gegen den Grundsatz der Achtung des Eigentums verstoßen 120 . Dies gilt vor allem, wenn diese Rechtsinstitute von einem Staat nicht entsprechend ihrer Zweckbestimmung als Strafe oder Heranziehung zu öffentlichen Lasten, sondern mißbräuchlich (vgl. Art. 18 M R K ) unter Umgehung der Achtungspflicht nur zum Zwecke der Eigentumsentziehung (zweckfremd) eingesetzt werden sollten. Ein Einfuhrverbot für Gold ist keine Benutzungsregelung 121 .

12

f) Der entschädigungslose Entzug (Einziehung, Verfall) eines Gegenstandes oder einer Forderung oder sonstiger Vermögenswerte als strafrechtliche Nebenfolge oder aus sicherheitsrechtlichen Gründen, (Einziehung, Anordnung der Vernichtung usw.) wird als grundsätzlich zulässige Nutzungsbeschränkung des Eigentums angesehen 122 , da hierdurch nur eine dem Eigentum herkömmlich inhärente Schranke zum Tragen kommt 1 2 3 . Sie wird allgemein gegen den Täter bei den producta et instrumenta sceleris für zulässig gehalten 124 . Dies gilt aber auch für die Einziehung sonstiger Gegenstände, soweit dies die staatliche Reaktion auf Pflichtverstöße des Eigentümers ist oder wenn damit eine von der Sache ausgehende Gefahrenlage verhütet oder beendet werden soll. Die auch hier geltenden Verbote übermäßiger Strafen und nicht erforderlicher oder unverhältnismäßiger Eingriffe müssen beachtet werden; andernfalls ist die Grenze der Sozialbindung überschritten 125 und es liegt eine Enteignung im Sinne von Art. 1 Satz 2 des 1. ZP vor. Strittig ist, ob dies auch der Fall ist, wenn ein an der geahndeten Straftat unbeteiligter Dritter als Eigentümer von der Einziehung betroffen wird 126 , vor allem, ob die Grenze der Nutzungsregelung jedenfalls dann eingehalten ist, wenn der Dritteigentümer bösgläubig ist 127 oder sonst die Umstände, die zum Eigentumsverlust führten, mitzuvertre114 115 116

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119 1211 121 122

E K M R bei Bleckmann EuGRZ 1982 315. Vgl. Rdn. 4 ff. Etwa EGMR 25.5.1999 Olbert/D (NJW 2001 1558); 9.11.1999 Döring/D (NJW 2001 1556); Meyer-Ladewig 35. E G M R 20.4.1999 Hörner Bank/D (NJW 2001 1555). Zum weiten Begriff vgl. die Beispiele bei Froweinl Peukert 59; Grabenwarter § 25 Rdn. 10. Zur Angemessenheit vgl. FroweinlPeukert 60. FroweinlPeukert 57. EGMR 24.10.1986 AGOSI/GB (NJW 1989 3079). E G M R 7.12.1976 Handyside/GB (EuGRZ 1977 38); 24.10.1986 AGOSI/GB (NJW 1989 3079); FroweinlPeukert 26; Grabenwarter § 25 Rdn. 10; Peukeri EuGRZ 1981 105; weitere Beispiele Froweinl Peukert 56.

12

' Zur ähnlichen Zuordnung zur Sozialbindung bei Art. 14 GG vgl. BVerfGE 20 359; BGHZ 27 388; Gilsdorf JZ 1958 643 ff; AKGG-Rittstieg Art. 14 G G Rdn. 255 ff. 124 Froweinl Peukert 50, 60; Peukert EuGRZ 1981 112. 125 Vgl. BVerfGE 20 361. 126 E G M R 24.10.1986 AGOSI/GB (NJW 1989 3079); gegen Annahme einer Nutzungsregelung Peukert EuGRZ 1988 509. 127 Froweinl Peukert 26. Zur Frage der Schrankenziehung bei Art. 14 G G vgl. BGHZ 27 73; Maunzl DiiriglPapier GG Art. 14 Rdn. 575; Bonner Komm./ Kimminich Art. 14 GG Rdn. 207 ff; von Miinchl Dicke Art. 14 Rdn. 31.

Stand: 1.10.2004

(598)

Recht auf Bildung

Art. 2

l.ZPMRK

ten hat 128 . Bei der M R K kann aber auch bei Annahme einer Enteignung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des 1. ZP ein Ausnahmefall vorliegen, der bei der gebotenen Abwägung 129 den (entschädigungslosen) Eigentumsentzug gestatten kann. 3. Auf sonstige Einzelheiten130 kann in diesem Uberblick nicht eingegangen werden.

1. Z P

13

MRK

MRK Artikel 2 Recht auf B i l d u n g *

IPBPR

Niemandem darf das Recht auf B i l d u n g v e r w e h r t werden. Der Staat hat bei A u s ü b u n g der v o n ihm auf d e m Gebiet der Erziehung u n d des Unterrichts ü b e r n o m m e n e n Aufgabe das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung entsprec h e n d ihren eigenen religiösen u n d w e l t a n s c h a u l i c h e n Ü b e r z e u g u n g e n sicherzustellen.

(abgedruckt bei Art. 9 MRK) enthält eine gleichartige Garantie, die im Zusammenhang mit Art. 9 MRK erläutert ist.

Artikel 18 A b s . 4

Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde am 13.2.1957 in einer Erklärung darauf hingewiesen, daß sie der Auffassung ist, daß Art. 2 Satz 2 keine Verpflichtung des Staates begründet, Schulen religiösen oder weltanschaulichen Charakters zu finanzieren. 1

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v o m 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

1. Allgemein. Art. 2 Satz 1 legt in Übereinstimmung mit der inhaltlich sehr viel wei- 1 tergehenden Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 26) fest, daß niemandem das Recht auf Bildung (vor allem auf Ausbildung vgl. „education", „education") verwehrt werden darf. Er garantiert damit ein Recht auf Bildung als subjektives Teilhaberecht 2 sowie die Pflicht des Staates, ein - in der Regel staatliches - Ausbildungswesen mit den dafür erforderlichen Einrichtungen zu schaffen und zu unterhalten, sowie dafür zu sorgen, daß jedem - entsprechend seinen Fähigkeiten - der Zugang zu den bestehenden Bildungseinrichtungen möglich ist. Ein Recht des Einzelnen darauf, daß der Staat bestimmte, insbesondere weiterführende Bildungseinrichtungen schafft, kann daraus nicht hergeleitet werden 3 . Aus Art. 2 ergibt sich nur die Verpflichtung des Staates, für ein angemessenes Ausbildungssystem zu sorgen, wozu auch die Begründung einer Schulpflicht gehören kann 4 . Über die Ausgestaltung des Bildungssystems enthält er aber, anders als Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, keine Aussagen. Dem Staat wird damit ein weitgehender Ermessenspielraum zuerkannt 5 . Ihm steht es

128

129 130

1 2

Vgl. FroweinlFenken 26 (für Bösgläubigkeit); 56; ähnlich B G H Z 27 385. Vgl. Rdn. 9. Vgl. Grabenwarter § 25; Meyer-Ladewig 36 ff; Peters § 31 (S. 193 ff). BGBl. 11 1957 S.226. E G M R 7.12.1976 Kjeldsen/Dän ( E u G R Z 478).

(599)

3

4

5

E G M R 23. 7.1968 belg. Sprachenfall ( E u G R Z 1975 298); dazu IntKommEMRK-fK/W/jrt/)«· 117 ff; vgl. Fwwein! Peukert 2; Grabenwarter § 22 R d n . 57 ff"; Meyer-Ladewig Rdn. 4. Vgl. Frowein/Feukerl 2; Grabenwarter § 22 R d n . 59; Meyer-Ladewig Rdn. 5. I n t K o m m E M R K - Wildhaber 33 ff.

1976

Walter Gollwitzer

1. Z P M R K

Art. 2

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

weitgehend frei, wie er das Schulwesen im Interesse der Allgemeinheit organisieren will. Er ist nicht verpflichtet, dabei auch allen besonderen Vorstellungen einzelner Gruppen Rechnung zu tragen. Er ist durch Art. 2 Satz 2 nur insoweit gebunden, als er das Recht der Eltern achten muß, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Uberzeugen sicherzustellen 6 . Einer Verpflichtung, die durch eine entsprechend sachbezogene, weltanschaulich neutrale und jede Indoktrinierung vermeidende Unterrichtsgestaltung erfüllt werden kann 7 , aber auch dadurch, daß er den Eltern die Möglichkeit eröffnet, ihre Kinder auf private Schulen ihrer Wahl zu schicken oder sie von Schulveranstaltungen fernzuhalten, die mit ihrer religiösen Überzeugung unvereinbar sind. Dies kann etwa auch dadurch geschehen, daß er ihnen die Möglichkeit der Befreiung vom Religionsunterricht oder vom Schulbesuch an religiösen Feiertagen eröffnet 8 . 2

Die Europäische Grundrechte-Charta garantiert in Art. 14 ebenfalls das Recht auf Bildung und auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung (Art. 14 Abs. 1) einschließlich der unentgeltlichen Teilnahme am Pflichtschulunterricht (Art. 14 Abs. 2). Sie überläßt die Organisation des Unterrichtswesens („Gründung von Lehranstalten") der einzelstaatlichen Regelung, die jedoch die Achtung der demokratischen Grundsätze und auch das Recht der Eltern sicherstellen muß, die Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicher zu stellen (Art. 14 Abs. 3).

3

2. Art. 2 Satz 2 gewährleistet ebenso wie Art. 18 Abs. 4 IBPBR das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäß ihren eignen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen, auch gegenüber dem Staat und dessen Unterrichtswesen, der bei dessen Ausgestaltung dieses Recht der Eltern achten muß. Diese Verpflichtung ist auch für die Auslegung der anderen Konventionsverbürgungen, vor allem der Art. 8 bis 11 M R K , von Bedeutung. Das in Art. 2 Satz 2 anerkannte elterliche Erziehungsrecht ist grundlegender Bestandteil des Familienlebens im Sinne des Art. 8 M R K . Die Verpflichtung zur Achtung der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern wirkt sich auch auf die Auslegung der anderen Konventionsverbürgungen aus, da sich daraus Grenzen für den Handlungsspielraum des Staates ergeben können. Dieser muß bei all seinen Maßnahmen das in Art. 2 des 1. ZP und Art. 18 Abs. 4 IPBPR anerkannte Erziehungsrecht der Eltern achten. Es ist auch bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 1 Buchst, d M R K zu berücksichtigen. Soweit es für die Auslegung des Art. 9 M R K , Art. 18 IBPBR von Bedeutung ist, wird auf die dortigen Erläuterungen, insbes. Rdn. 3, 4b, 6 und 9b verwiesen.

4

3. Auf weitere Einzelheiten einzugehen, erfordert der Zweck dieser Kommentierung nicht. Vgl. dazu die Erläuterungen bei FroweinlPeukert Art. 2 1. ZP; Grabenwarter § 22 Rdn. 57 ff; I n t K o m m E M R K - Wildhaber Art. 2 1. ZP; Meyer-Ladewig Art. 2 1. ZP; Villiger HdB 676 ff.

6 7

Vgl. Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2 GG. E G M R 2.7.1996 Kjeldsen/Dän (EuGRZ 1976 478: Sexualkundeuntericht); dazu TntKommEMRKWildhaber 157 ff; vgl. auch 25.2.1982 Campbell u.a./GB (EuGRZ 1982 153: Ablehnung körperlicher Züchtigung); FroweinlPeukert 7, 8.

8

Grabenwaner § 22 Rdn. 60. IntKommEMRK- Wildhaber 80 ff, Villiger HdB 676; vgl. auch Art. 9 M R K Rdn. 9b.

Stand: 1.10.2004

(600)

R e c h t a u f freie W a h l e n

Art. 25 IPBPR

1. Z P MRK MRK Artikel 3 Recht auf freie W a h l e n *

IPBPR

Die H o h e n V e r t r a g s p a r t e i e n verpflichten sich, in a n g e m e s s e n e n Z e i t a b s t ä n d e n freie u n d g e h e i m e W a h l e n unter B e d i n g u n g e n a b z u h a l t e n , w e l c h e die freie Ä u ß e r u n g d e r M e i n u n g d e s Volkes bei der W a h l der g e s e t z g e b e n d e n Körperschaften gewährleisten.

J e d e r S t a a t s b ü r g e r hat d a s Recht u n d die Möglichkeit, o h n e U n t e r s c h i e d nach d e n in Art. 2 g e n a n n t e n M e r k m a l e n und ohne unangemessene Einschränkungen

Artikel 25

a) a n der G e s t a l t u n g der öffentlichen A n g e l e g e n h e i t e n unmittelbar o d e r durch frei g e w ä h l t e Vertreter t e i l z u n e h m e n ; b) bei e c h t e n , w i e d e r k e h r e n d e n , a l l g e m e i n e n , g l e i c h e n u n d g e h e i m e n W a h l e n , bei d e n e n die freie Ä u ß e r u n g d e s W ä h l e r w i l l e n s g e w ä h r l e i s t e t ist, zu w ä h l e n u n d g e w ä h l t z u werden; c) unter a l l g e m e i n e n G e s i c h t s p u n k t e n d e r Gleichheit z u öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben.

N e u e d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in d e r F a s s u n g d e r B e k . v o m 1 7 . 5 . 2 0 0 2 ( B G B l . II S. 1 0 5 4 ) .

1. Allgemeines. Wie die Präambel zeigt, geht die M R K davon aus, daß ihre Grund- 1 freiheiten am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung in den Mitgliedstaaten gewährleistet werden. Deshalb werden in Art. 3 des 1. ZP auch das aktive und passive Wahlrecht der Bürger und alle sonst für diese Ordnung konstituierenden Wahlrechtsgrundsätze dem Konventionsschutz unterstellt. Abweichend vom sonstigen Inhalt der Konventionen werden damit grundsätzlich auch politische Rechte der Bürger in den Konventionsschutz mit einbezogen. Den Bürgern der einzelnen Mitgliedstaaten wird damit - ebenso wie ausdrücklich in Art. 25 Buchst, b IPBPR - das aktive und passive Wahlrecht als subjektives Recht garantiert 1 . Zu dessen Verwirklichung werden die Vertragsstaaten verpflichtet, die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften in allgemeinen, freien und geheimen Wahlen zu bestimmen; die periodisch in nicht allzu großen Abständen abzuhalten sind. Mittelbar wird damit auch die bereits aus der Demokratiegebot abzuleitende Verpflichtung der Konventionsstaaten bestätigt, aus freien Wahlen hervorgegangene gesetzgebende Körperschaften zu schaffen 2 . Die politischen Parteien bleiben in der M R K unerwähnt; ihre Bedeutung für das Funktionieren der demokratischen Ordnung wird jedoch anerkannt. Sie werden durch die Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 M R K geschützt 3 . 2. Art. 3 des 1. ZP gewährt dieses Recht bei allen Wahlen zu den gesetzgebenden Kör- 2 perschaften, das sind alle Körperschaften, die nach dem jeweiligen nationalen Recht Aufgaben der Gesetzgebung haben; bei einem föderalistischen Staatsaufbau sind dies also sowohl die Parlamente des Bundesstaates als auch die Parlamente der Gliedstaaten, Kantone oder autonome Regionen oder sonstiger Organe mit gesetzgeberischen Aufgaben 4 . Auch das Europäische Parlament wird als gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 angesehen 5 , nicht jedoch örtliche Körperschaften, die, wie die Gemeinden, 1

2

3

EGMR 2.3.1987 Mathieu-Mohin u.a./Belg (Series A 113); Meyer-Ludewig 1. FrowemIPeukerl 2; Grabenwarter § 23 Rdn. 75; Meyer-Lädewig 3. Grabenwarter § 23 Rdn. 74; vgl. Art. 11 Rdn. 8 ff; ferner Meyer-Ladewig 7, wonach bei den Parteiverbotsverfahren der EGMR neben Art. 11 MRK den Art. 3 des 4. ZP nicht mehr gesondert prüft.

(601)

4

5

EGMR 2.3.1987 Mathieu-Mohin u.a./Belg (Series A 113; „Conseil regional", dazu IntKommEMRKWiidhaber 65, 75 ff); FroweinlFenken 3, 7; Grubenwarier § 23 Rdn. 76; Meyer-Ladewig 1. EGMR 18.2.1999 Matthews/GB (EuGRZ 1999 200: Wahlrecht britischer Bürger in Gibraltar).

Walter Gollwitzer

1. Z P M R K

Art. 3

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

auch bei Erlaß von Vorschriften keine originäre sondern nur eine abgeleitete Staatsgewalt ausüben 6 . Daß daneben noch andere, nicht durch direkte oder indirekte Wahlen von den Bürgern legitimierten Organe bei der Gesetzgebung mitwirken, wie etwa das Hause of Lords, wurde als mit der M R K vereinbar angesehen, zumindest dann, wenn es insoweit kein Vetorecht hat 7 . Volksabstimmungen über Einzelfragen oder Wahlen anderer Staatsorgane (Staatspräsidenten, Vertreter des Exekutive oder Richter) fallen nicht unter die nur die Wahlen zu gesetzgebenden Körperschaften erfassende Garantie des Art. 3) 8 . Das durch Art. 25 Buchst, a IPBPR garantierte unmittelbare oder mittelbare Mitwirkungsrecht der Staatsbürger bei der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten umfaßt dagegen alle Formen der Beteiligung an diesen, insbesondere auch die Wahlen zu den örtlichen Gebietskörperschaften. 3

3. Bei der Ausgestaltung des Wahlrechts und des Wahlverfahrens haben die Mitgliedstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum, bei denen sie die Modalitäten der Wahlbeteiligung festlegen können. Sie können sich auch für so unterschiedliche Wahlsysteme, wie Mehrheits- oder Verhältnismäßigkeitswahlrecht mit allen dazwischen liegenden Varianten entscheiden 9 . Auch indirekte Wahlen sind zulässig 10 . Im Rahmen der jeweiligen Regelung sind Einschränkungen des Wahlrechts aus sachbezogenen (legitimen) Gründen, wie etwa Staatsangehörigkeit, Altersgrenzen für das aktive und passive Wahlrecht, oder Wohnsitz, ferner aber auch zur Sicherung anderer Belange des öffentlichen Wohles zulässig 11 . Das öffentliche Interesse kann unter besonderen Umständen auch einen zeitweiligen Entzug des Wahlrechts bei bestimmten Personen rechtfertigen 12 . Alle Einschränkungen dürfen nicht unverhältnismäßig sein und die Wahlrechtsgarantien in ihrer Substanz nicht antasten 1 3 ; sie müssen ferner die Rechtsgleichheit wahren. Dazu gehört auch, daß bei der Ausgestaltung des Wahlrechts jede nach Art. 14 M R K , Art. 25, 26 IPBPR unzulässige Diskriminierung unterbleibt 14 . Dies schließt Sonderregelungen zum Schutze nationaler Minderheiten nicht aus 15 . Unerläßlich ist nur, daß die Gesamtwürdigung des Wahlsystems ergibt, daß die Wahlen allgemein, frei und geheim sind und in regelmäßigen Zeitabständen abgehalten werden 16 .

4

Auf weitere Einzelheiten kann im Rahmen des Zweckes dieser Kommentierung nicht eingegangen werden.

Art. 4 , 5 und 6 des 1. ZP Der Wortlaut von Art. 4. „Räumlicher Geltungsbereich", Art. 5 „Verhältnis zur Konvention" und Art. 6 „Unterzeichnung und Ratifikation" ist bei den Vertragstexten wiedergeben. Von einem nochmaligen Abdruck wird abgesehen. Art. 5 des 1. ZP bestimmt ausdrücklich, daß der Inhalt des Zusatzprotokolls wie ein Teil der M R K zu behandeln ist.

FroweintPeukert 3; Grabenwarter § 23 Rdn. 76; TntKommEMRK- Wildhaber 63; Meyer-Ladewig 3. Frowein/Peukerl 2. IntkommEMRK- Wildhaber 58, 59. FroweinlPeukert 6; IntkommEMRK- Wildhaber 38-56. IntkommEMRK- Wildhaber 45. Vgl. IntkommEMRK- Wildhaber 25 ff; Grabenwarter § 23 Rdn. 83, 84.

12

13 14 15 16

Vgl. EGMR 6.4.2000 Labita/T (ECHR 2000-TV Mafia-Zugehörigkeit); Grabenwarter § 23 Rdn. 84; Meyer-Ladewig 4. Viiliger H d ß 681. IntkommEMRK- Wildhaber 34 ff. IntkommEMRK- Wildhaber 50 ff. l'roweinlPeukert 4, 5; Meyer-Ladewig 4.

Stand: 1.10.2004

(602)

Freizügigkeit

Art. 1 1 , 1 2 I P B P R

Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gwährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind. vom 16.9.1963 1 MRK Artikel 1 Verbot der Freiheitsentziehung w e g e n Schulden* N i e m a n d e m darf die Freiheit allein d e s w e g e n entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.

IPBPR Artikel 11 Niemand darf nur d e s w e g e n in Haft g e n o m m e n und gehalten werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.

Der praktisch bedeutungslose Art. 1 des 4. ZP ist - ebenso wie der inhaltsgleiche Art. 11 IPBPR - bereits bei Art. 5 MRK (Art. 9 IPBPR) behandelt. Auf die dortigen Erläuterungen darf verwiesen werden.

Artikel 2 Freizügigkeit* (1) Jede Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bew e g e n und ihren Wohnsitz frei zu wählen.

Artikel 12 (1) Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bew e g e n und seinen Wohnsitz frei zu wählen.

(2) Jeder Person steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen.

(2) J e d e r m a n n steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.

(3) Die Ausübung dieses Rechts darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, z u m Schutze der Gesundheit oder der Moral oder z u m Schutze der Rechte und Freiheiten anderer.

(3) Die oben erwähnten Rechte dürfen nur eingeschränkt werden, w e n n dies gesetzlich vorgesehen und zum Schutze der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre oublic), der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist und die Einschränkungen mit den übrigen in diesem Pakt anerkannten Rechten vereinbar sind.

(4) Die in Absatz 1 anerkannten Rechte können ferner für bestimmte Gebiete Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt sind.

(4) Niemand darf willkürlich das Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen.

Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vom 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

1. Schutzgegenstand des Absatzes 1 ist bei Art. 2 Abs. 1 des 4. ZP und bei Art. 12 1 Abs. 1 IPBPR die Freizügigkeit, die jedermann gewährt wird, der sich rechtmäßig im staatlichen Hoheitsgebiet aufhält, also nicht nur den eigenen Staatsangehörigen wie in Art. 11 G G oder innerhalb der Europäischen Union den Unionsbürgern (Art. 18

1

B G B l . TT 1968 S. 422; f ü r die Bundesrepublik in K r a f t getreten a m 1.6. 1968 (BGBl. TT S. 1109).

(603)

Walter Gollwitzer

4. Z P M R K

Art. 2

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

EGV) 2 . Auch das Recht, den Wohnsitz frei zu wählen, gehört zu der garantierten Freizügigkeit. Das Recht, das eigene Land zu verlassen, das beide Artikel in Absatz 2 garantieren, schließt aus, daß die Freizügigkeit für die eigenen Staatsbürger auf die Grenzen des eigenen Hoheitsgebiets beschränkt werden kann. In diesem Recht sah der E G M R einen festen Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes 3 . Das Recht, in ein anderes Land einzureisen und sich dort aufhalten zu dürfen, kann aus Art. 2 nicht hergeleitet werden 4 . 2

2. Ein rechtmäßiger Aufenthalt im jeweiligen Land ist die Voraussetzung der Freizügigkeit. Rechtmäßig ist der Aufenthalt der Staatsbürger in ihrem eigenen Land, aber grundsätzlich auch der Unionsbürger in einem anderen Land der Europäischen Union. Andere Ausländer halten sich nur dann rechtmäßig im Staatsgebiet auf, wenn und solange sie nach dem jeweiligen nationalen Recht die Befugnis dazu haben. Rechtmäßig ist ein Aufenthalt nur, wenn auch die Bedingungen oder Beschränkungen eingehalten werden, an die seine Bewilligung geknüpft ist. Wird einem Ausländer die Befugnis zum Aufenthalt nur für ein bestimmtes Gebiet erteilt, hält er sich nur dort rechtmäßig auf, für die anderen Teile des Staatsgebietes hat er das Recht auf Freizügigkeit und freie Wohnsitzwahl nicht 5 . Eine Ausweisungsverfügung beendet den rechtmäßigen Aufenthalt 6 . Zu den Gründen, aus denen die Staaten die Freizügigkeit auch bei rechtmäßigem Aufenthalt personenbezogen oder territorial einschränken können, vgl. Rdn. 4, 5.

3

3. Das Recht, jedes Land einschließlich des eigenen zu verlassen, wird in Art. 2 Abs. 2 des 4. ZP und in Art. 12 Abs. 2 IPBPR jedermann garantiert. Die Ausreisefreiheit ist insbesondere für die eigenen Staatsbürger von Bedeutung, die nicht ohne einen dies rechtfertigenden G r u n d 7 am Verlassen ihres eigenen Landes gehindert werden dürfen. Die dafür notwendigen Dokumente dürfen ihnen nicht verweigert werden 8 . Wird ein Ausländer rechtmäßig in sein Heimatland abgeschoben, verletzt dies sein Recht auf Ausreisefreiheit in ein Land seiner Wahl nicht 9 . Ein Recht, auch das eigene Vermögen ins Ausland zu verlagern, kann aus Absatz 2 nicht hergeleitet werden 10 . Zu den Einschränkungen, denen auch dieses Recht unterliegt, vgl. die nachf. Rdn.

4

4. Einschränkungen der Freizügigkeit und Ausreisefreiheit lassen Art. 2 Abs. 3 des 4. ZP und Art. 12 Abs. 3 IPBPR nur zu, wenn diese gesetzlich vorgesehen sind und einem der dort aufgezählten Zwecke dienen und wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist 11 . Die Aufzählung der einzelnen Zwecke, die einen Eingriff in die Freizügigkeit und Ausreisefreiheit rechtfertigen können, sind denen in Art. 8 Abs. 2 M R K nachgebildet, so daß auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann 1 2 .

2

3

4

Auch Art. 45 Abs. 1 Grundrechte-Charta garantiert die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nur den Unionsbürgern. Den Staatsangehörigen dritter Staaten, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten, kann sie von den Organen der Gemeinschaft nach Art. 62 Abs. 1 und 3, Art. 63 Abs. 4 EGV ebenfalls gewährt werden (Art. 45 Abs. 2 Grundrechte-Charta). Vgl. EGMR 22.3.2001 Streletz, Kessler; Krenz/D (NJW 2001 3035); Grabenwarler § 21 Rdn. 21. Ferner UN-AMR 31.7.2003 Baumgarten/D (EuGRZ 2004 143). Froweint Peukert 2; Meyer-Ladewig 3.

5

6 7 8

9 10

11 12

EKMR EuGRZ 1987 336; Fmweinl Peukert 2; Meyer-Ladewig 3. EGMR 27. 4. 1995 Piermont/F (Series A 314). Vgl. Rdn. 4. E G M R 22.5.2001 Baumann/F (ECHR 2001-V); Grabenwarter § 21 Rdn. 22. Vgl. auch Rdn. 4. EKMR nach Grabenwarter § 21 Rdn. 24. Grabenwarter § 21 Rdn. 21 unter Hinweis auf EKMR; Meyer-Ladewig 6. FroweinlPeukert 6. Zu Art. 12 Abs. 3 IPBPR vgl. auch die Erlauterungen der zulässigen Eingriffszwecke bei Nowak Rdn. 34 bis 44.

Stand: 1.10.2004

(604)

Freizügigkeit

Art. 1 1 , 1 2 I P B P R

Ebenso wie dort verlangt auch Art. 2 Abs. 3 des 4. ZP zusätzlich, daß die Einschränkungen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, während diese Einschränkung in Art. 12 Abs. 3 IPBPR fehlt. Personen, denen die Freiheit entzogen ist, weil sie sich in rechtmäßiger Haft befinden (Art. 5 Abs. 1 M R K , Art. 9 Abs. 1 IPBPR) können sich nicht auf ihr Recht auf Freizügigkeit und Ausreisefreiheit berufen 1 3 . Auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die der Sicherung der Strafverfolgung dienen, wie etwa die Anordnung einer Wohnsitzbeschränkung oder von Hausarrest 1 4 oder Aufenthaltsund Ausreisebeschränkungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft 1 5 sind damit zu vereinbaren. Gleiches gilt für die Anordnung, nach der ein Gemeinschuldner während des Insolvenzverfahrens seinen Wohnort nicht verlassen darf 1 6 , oder für die Weigerung, einem Ausländer vor der Verbüßung seiner Strafe die Ausreise zu gestatten 11 . Auch die Hinterlegung eines Passes zur Sicherung des Freigangs bei einem Inhaftierten oder die Weigerung der Behörde, einem im Ausland lebenden Staatsangehörigen einen Reisepaß auszustellen, weil er seine Wehrpflicht nicht erfüllt hatte, wurden als gerechtfertigt angesehen 18 , nicht aber die Verweigerung der Herausgabe eines sichergestellten Passes bei einer am Strafverfahren nicht beteiligten Person 19 . Das Verbot, seine Kinder in ein anderes Land zu verbringen, wurde als zulässig erachtet, weil es die Durchführung des Verfahrens über das Sorgerecht sichern sollte 20 . Für bestimmte Gebiete können die Staaten die Freizügigkeit nach Art. 2 Abs. 1 des 5 4. ZP, nicht aber das Recht auf Verlassen des Landes nach Absatz 2, einschränken, sofern dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt ist. Gemeint sind damit etwa militärische Sperrgebiete, aber auch Naturschutzgebiete oder Verbote zum Schutze gefährdeter Einrichtungen oder Sperren und sonstige Quarantänemaßnahmen im Interesse des Seuchenschutzes, aber auch ein behördlicher Platzverweis 21 . Art. 12 IPBPR enthält diese Sonderregelung für territoriale Einschränkungen nicht. Sein Absatz 3, der gesetzlich vorgesehene Einschränkungen u. a. zum Schutze der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, oder der Volksgesundheit erlaubt, ist aber weit genug, um auch solche territoriale Beschränkungen zu rechtfertigen. 5. Z u m Recht auf Einreise in das eigenes Land (Art. 12 Abs. 4 IPBPR) vgl. bei Art. 3 6 des 4. ZP.

13

14

15

Vgl. EKMR 6. 11. 1980 Guzzardi/T (NJW 1984 544 Tnternierung auf Tnsel als Haft); l'i'oweinlPeukert 3, 5 (Art. 5 M R K Spezialregelung); Grabenwarter § 22 Rdn. 22. E G M R 22.2. 1994 Raimondo/I (ÖJZ 1994 562: Unzulässig aber verspätete Mitteilung der Aufhebung); 6.4. 2000 Labita/T (ECHR 2000-TV: unzulässig nach Freispruch); Grabenwart er § 22 Rdn. 22. Meyer-Lädewig 7. E K M R nach FroweinlPeuken 6.

(605)

16

17 18

15

20

21

EKMR nach Froweinl Peukert 6; Grabenwarter § 21 Rdn. 23. Grubenwurter § 21 Rdn. 24. E K R M nach FroweinlPeuken 6, Grabenwarter § 21 Rdn. 24. EGMR 22.5.2001 Baumann/F (ECHR 2001-V); Meyer-Ladewig 7. EGMR 26. 10.2000 Roldan Texeira u. a./T; MeyerLadewig 6. Gabenwarier § 21 Rdn. 22.

Walter Gollwitzer

4. Z P M R K

Art. 3

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

4. ZP MRK IPBPR

Artikel 3 Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger* (1) Niemand darf durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden, dessen Angehöriger er ist.

Artikel 12 Abs. 4 (4) Niemandem darf willkürlich das Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen.

(2) Niemandem darf das Recht entzogen werden, in das Hoheitsgebiet des Staates einzureisen, dessen Angehöriger er ist.

Neue d e u t s c h s p r a c h i g e Ü b e r s e t z u n g in der Fassung der Bek. v c m 17.5. 2002 (BGBl. II S. 1054).

1

1. Allgemein. Nach dem Vorbild von Art. 9 und 13 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte schützt Art. 3 das Recht jedes Staatsbürgers auf Aufenthalt in seinem Heimatstaat. Er verbietet die Ausweisung aus dem eigenen Land und garantiert das Recht, in den Heimatstaat einreisen zu können. Dieses Recht ist im Normalfall selbstverständlich, es kann aber in Ausnahmefällen große Bedeutung erlangen, wenn einer Personengruppen außerhalb des Mutterlandes das Recht eingeräumt wurde, für dessen Staatsangehörigkeit zu optieren 1 oder wenn den Angehörigen ehemaliger Herrscherhäuser das Recht auf Einreise in das eigenen Land verwehrt wurde 2 . Der IPBPR enthält kein Verbot der Ausweisung eigener Staatsbürger, es kann dort allenfalls mittelbar aus dem Recht auf Einreise des Art. 12 Abs. 4 hergeleitet werden 3 . Die Auslieferung eines eigenen Staatsangehörigen an ein anderes Land wird weder von Art. 3 noch durch eine andere Konventionsgarantie verboten 4 . Art. 3 bietet insoweit weniger Schutz als Art. 16 Abs. 2 G G , der die Ausweisung eigener Staatsangehöriger grundsätzlich verbietet und nur die Auslieferung an Mitgliedstaten der Europäischen Union oder an ein internationales Gericht zuläßt.

2

2. Geschützt werden von Art. 3 nur die eigenen Staatsangehörigen, wobei der Beschwerdeführer die eigene Staatsangehörigkeit nachweisen muß 5 . Einen Rechtsschutz gegen die Entziehung der Staatsangehörigkeit ähnlich dem Verbot des Art. 16 Abs. 2 G G sieht das 4. ZP nicht vor. In der willkürlichen Aberkennung der Staatsangehörigkeit allein zu dem Zweck, damit die Ausweisung zu ermöglichen, dürfte aber eine unzulässige Umgehung des Art. 3 liegen, die seinen Schutz nicht entfallen läßt 6 .

3

Eine unzulässige Ausweisung liegt vor, wenn der Betreffende gezwungen wird, den Heimatstaat ohne Recht auf Rückkehr zu verlassen. Kollektivausweisungen sind Ausweisungen, in denen ohne Prüfung des Einzelfalls bestimmte nach generellen Merkmalen wie Rasse oder Religion erfaßte Personengruppen ausgewiesen werden. Art. 3 1

2

Vgl. die Beispiele bei Frowein! Peukert und Grabenwarter § 21 Rdn. 28 (Personen, die bei Gewährung der Unabhängigkeit afrikanischer Staaten die britische Staatsangehörigkeit erwarben, ohne dadurch automatisch das Recht auf Einreise nach Großbritannien zu erhalten, das das 4. ZP nicht ratifiziert hat). Vgl. den Hinweis auf den entspr. Vorbehalt Österreichs in der Anm. von Frowein IPeukerl und Nowak 47.

3

4 5

6

Nowak 45 unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte. Grabenwarler § 21 Rdn. 26. Vgl. E K M R EuGRZ 1974 113; 1976 244 (Brückmann); Grabenwarler §21 Rdn. 26. Grabenwarler § 21 Rdn. 26; so wohl auch Villiger HdB 685, der es aber für schwierig hält, die Umgehung aufzuzeigen.

Stand: 1.10.2004

(606)

Ausweisung eigener S t a a t s a n g e h ö r i g e r

Art. 12 Abs. 4 IPBPR

verbietet nur die Kollektivausweisung eigener Staatsangehöriger, ein gleichartiges Verbot der Kollektivausweisung von Ausländer bringt jedoch Art. 4 des 4. ZP, sodaß im Ergebnis insgesamt jede Kollektivausweisung verboten sein dürfte. Einschränkungsmöglichkeiten im Interesse anderer Staatsaufgaben ähnlich den Schrankenregelungen in den Art. 8 bis 11 M R K bestehen beim Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger in Art. 3 Abs. 1 nicht 7 . Sein Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger gilt uneingeschränkt. Art. 12 IPBPR enthält kein Ausweisungsverbot für eigene Staatsbürger 8 , es kann allenfalls begrenzt aus dem Verbot hergeleitet werden, willkürlich die Einreise in das eigene Land zu beschränken. 3. Die Einreise in das Gebiet des eigenen Staates darf den eigenen Staatsangehörigen 4 nach Art. 3 Abs. 2 des 4. ZP ebenfalls nicht verwehrt werden. Jeder Staatsbürger muß deshalb die Möglichkeit haben, wieder in das Gebiet seines Heimatstaates einzureisen, gleich, ob er damit einen zeitlich begrenzten Aufenthalt bezweckt oder eine endgültige Rückkehr. Die Ausübung dieses Rechts kann aber modifiziert werden, so ist ein zeitlich begrenzter Ausschluß des Einreiserechts möglich, etwa bei Personen, die wegen einer ansteckenden Erkrankung im Ausland in Quarantäne sind oder bei einem straffällig gewordenen Staatsangehörigen, der nach der Auslieferung sich der Strafverfolgung durch die Flucht entzogen hat 9 . Ob dies auch für die vorzeitige Rückkehr von Personen gilt, die für eine bestimmte Zeit zu Dienstleistungen im Ausland verpflichtet sind 10 , erscheint fraglich, denn die Sanktionierung von Dienstpflichten liegt auf einer anderen Ebene als das grundsätzlich jedem Bürger uneingeschränkt garantierte Recht auf Einreise. Art. 12 Abs. 4 IPBPR garantiert das Recht auf Einreise nur begrenzt. Das Recht auf Einreise darf nicht willkürlich entzogen werden, Einschränkungen aus sachlich gerechtfertigten Gründen sind also zulässig 11 . Für die Einreise von Ausländern oder Staatenlosen gilt Art. 3 Absatz 2 des 4. ZP nicht, da es das Einreiserecht ausdrücklich nur den eigenen Staatsangehörigen zuerkennt. Der Wortlaut von Art. 12 Abs. 4 IPBPR spricht dagegen von der Einreise in sein eigenes Land, so daß hier die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht auch Ausländer und Staatenlose sich darauf berufen können, wenn sie in dem Aufnahmeland so fest verwurzelt sind, daß sie dieses und nicht mehr ihr Herkunftsland als Heimat betrachten, was insbesondere bei staatenlosen Immigranten, die jede Verbindung zu ihrem Herkunftsland abgebrochen haben, der Fall sein kann 1 2 . Im übrigen garantieren beide Konventionen Ausländern und Staatenlosen kein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht 1 3 .

7 8

9 10

(Irabenwarler § 21 Rdn. 28. Zur Entstehungsgeschichte und die Gründe, aus denen dieses Verbot nicht in die Konvention aufgenommen wurde, vgl. Nowak 45. Grabemvarter § 21 Rdn. 28. So Grabenwarter § 21 Rdn. 28 mit weit. Nachw.

(607)

11

12 13

Zur Entstehungsgeschichte Nowak 45 ff. der daraus eine Beschränkung auf die Fälle herleitet, in denen die Verbannung ins Ausland eine gesetzlich vorgesehene Strafe ist. Dazu Nowak 48 ff. Villiger HdB 685; Nowak 45.

Walter Gollwitzer

4. Z P M R K

Art. 4

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

4. ZP MRK MRK Artikel 4 Verbot der K o l l e k t i v a u s w e i s u n g Kollektivausweisungen nicht z u l ä s s i g .

ausländischer

IPBPR Artikel 13 Personen

sind

Ein A u s l ä n d e r , der sich r e c h t m ä ß i g im H o h e i t s g e b i e t e i n e s Vertragsstaates aufhält, k a n n a u s d i e s e m nur a u f g r u n d einer r e c h t m ä ß i g e r g a n g e n e n E n t s c h e i d u n g a u s g e w i e s e n w e r d e n , u n d e s ist ihm, s o f e r n nicht z w i n g e n d e G r ü n d e der n a t i o n a l e n S i c h e r h e i t e n t g e g e n s t e h e n , G e l e g e n h e i t z u g e b e n , die g e g e n seine A u s w e i s u n g s p r e c h e n d e n G r ü n d e v o r z u b r i n g e n u n d diese E n t s c h e i d u n g durch die z u s t ä n d i g e B e h ö r d e oder d u r c h eine o d e r m e h r e r e v o n d i e s e r B e h ö r d e b e s o n d e r s b e s t i m m t e P e r s o n e n n a c h p r ü f e n u n d sich d a b e i v e r t r e t e n z u lassen.

Neue deutschsprachige Übersetzung in der Fassung der Bek. vcm 17.5.2002 (BGBl. II S. 1054).

1

Art. 4 ergänzt das Verbot der Kollektivausweisung eigener Staatsbürger in Art. 3 Abs. 1 durch ein gleichlautendes Verbot für Ausländer. Entsprechend dem Verbotszweck, zu verhüten, daß bestimmte Menschengruppen ohne individuelle Prüfung des Einzelfalls pauschal ausgewiesen werden können, werden auch Staatenlose durch dieses Verbot geschützt. Eine Ausweisung darf daher nicht nach generellen Kriterein allein wegen der Zugehörigkeit einer diese Kriterien erfüllenden Menschengruppe angeordnet werden, sondern nur auf Grund einer objektiven individuellen Prüfung jedes Einzelfalls, die es dem einzelnen ermöglicht, seine eigenen Gründe gegen seine Ausweisung geltend zu machen 1 . Insoweit gewährleistet Art. 4 auch ein der Individuaisbeschwerde (vgl. Art. 13 M R K ) zugängliches Einzelrecht 2 . Ein solches Recht gewährleistet auch Art. 13 IPBPR. Er macht bei Ausländern und Staatenlosen (der maßgebende Vertragstext - „An Alien", „Un etranger" - erfaßt beide), die sich rechtmäßig im Inland aufhalten, in Anlehnung an Art. 32 der Genfer Flüchtlingskonvention die Ausweisung ausdrücklich von einer rechtmäßig ergangenen, individuellen Entscheidung abhängig. Gegen diese kann der Betroffene, sofern nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit entgegenstehen, Einwände erheben, die in einem geregelten Verfahren nachgeprüft werden müssen, in dem sich der Betroffene auch vertreten lassen kann. Auf Grund dieser Regelung wird auch beim IPBPR eine Kollektivausweisung für unzulässig gehalten 22 .

2

Art. 4 kann auch trotz individueller Verfahren verletzt sein, wenn gleichzeitig die Angehörigen einer bestimmten Personengruppe (Roma) ausgewiesen werden und die Behörden dabei auf Grund von Anweisungen an die Verwaltung ohne nähere Prüfung des Einzelfalls gleichartig vorgehen 3 . Eine indirekte Massenausweisung kann vorliegen, wenn durch die Verweigerung der Arbeitserlaubnis gezielt ein Zwang zur Ausreise erzeugt wird 4 . Artikel 5 bis 7 des 4. ZP Der Wortlaut von Art. 5 „Räumlicher Geltungsbereich", Art. 6 „Verhältnis zur Konvention" und Art. 7 „Unterzeichnung und Ratifikation" ist vorne bei den Vertragstexten wiedergegeben. Von einem nochmaligen Abdruck der Texte, die zeigen, daß auch der Inhalt des 4. Zusatzprotokolls wie ein Teil der M R K zu behandeln ist (vgl. Art. 6), wird abgesehen. 1 2 2a

Villiger HdB 686. Grubenwuner §21 Rdn. 29. Nowak 12 unter Hinweis auf die Allgemeine Bemerkung des U N AMR vom 22.7.1986 Nr. 15/27.

3

4

E G M R 5.2.2002 Conka/Belg (abgelehnte AsylbeWerber) nach Meyer-Lüdewig 2; Grubenwuner § 21 Rdn. 29. Frowein! Peukert Anm.

Stand: 1.10.2004

(608)

Weitere Zusatzprotokolle

6., 7., 12., 13. Z P

M R K

Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe vom 18.4.1983 1 Dem Protokoll Nr. 6, das die Todesstrafe abschafft und nur für Kriegszeiten den Staaten die Möglichkeit eines Vorbehalts eröffnet, ist die Bundesrepublik beigetreten. Es wird durch das von der Bundesrepublik ebenfalls ratifizierte 2 , aber noch nicht in Kraft befindliche Prot. Nr. 13 ergänzt, das die Todesstrafe ausnahmslos und auch für die Fälle des Notstands abschafft. Der Inhalt beider Protokolle ist bei Art. 2 M R K wiedergegeben. Gleiches gilt für das 2. Fakultativprotokoll zum IPBPR, über die Abschaffung der Todesstrafe vom 15.12.1989, dem die Bundesrepublik ebenfalls beigetreten ist (Gesetz vom 2.6.1992 - BGBl. II S. 390). Vgl. die Erläuterungen zu Art. 2 M R K .

Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22.11.1984 Das Protokoll wurde von der Bundesrepublik bisher nicht ratifiziert 3. Soweit dieses Protokoll inhaltlich bereits im IPBPR enthaltene Verbürgungen übernimmt, gelten diese in der Bundesrepublik nur in der Fassung des IPBPR und den von der Bundesrepublik dazu erklärten Vorbehalten. Im einzelnen: Art. 1 Abs. 1 des 7. ZP übernimmt die in Art. 13 IPBPR enthaltene Regelung, wonach ein sich rechtmäßig im Staatsgebiet aufhaltende Ausländer nur auf Grund einer rechtmäßigen Entscheidung ausgewiesen werden darf, die unter Wahrung der dort näher festgelegten Rechtsgarantien ergangen ist 4 . Art. 1 Abs. 2 des 7. ZP, der in bestimmten Fällen ein Absehen von diesen Verfahrensgarantien erlaubt, findet im Wortlaut des Art. 13 IPBPR keine Entsprechung. Art. 2 des 7. ZP räumt in Absatz 1 ebenso wie Art. 14 Abs. 5 IPBPR jedem wegen einer Straftat Verurteilten das Recht ein, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Absatz 2 läßt Ausnahmen bei geringfügigen Straftaten, bei Verurteilung durch ein oberstes Gericht oder bei einer Verurteilung auf Grund eines Rechtsmittels nach einem Freispruch zu. Im Wortlaut des Art. 14 Abs. 5 IPBPR fehlt diese Ausnahmeregelung. Vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 14 Abs. 5 IPBPR bei Art. 6 M R K Rdn. 261 ff. Art. 3 des 7. ZP verpflichtet ebenso wie Art. 14 Abs. 6 IPBPR die Staaten zur Entschädigung, wenn ein rechtskräftiges Strafurteil aufgehoben wurde, weil es sich nachträglich als Fehlurteil erweist. 1

B G B l . TT 1988 S. 663; in der Bundesrepublik in K r a f t seit 1.8. 1989 (Bek. vom 27.9. 1989 - BGBl. I I S . 814).

(609)

2 3 4

Vgl. unten F u ß n . 4. Vgl. Einf. R d n . 22. Vgl. bei A r t . 4 des 4. Z P M R K .

Walter Gollwitzer

6., 7., 12., 13. Z P

M R K

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Wegen der Einzelheiten vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 14 Abs. 6 IPBPR bei Art. 6 M R K Rdn. 268 ff. Art. 4 des 7. ZP legt ebenso wie Art. 14 Abs. 7 IPBPR das Verbot der doppelten Strafverfolgung wegen derselben Tat fest. Vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 14 Abs. 7 IPBPR bei Art. 6 M R K Rdn. 274 ff. Art. 5 des 7. ZP bestimmt - ebenso wie Art. 23 Abs. 4 IPBPR - daß Ehegatten untereinander und in ihren Beziehungen zu ihren Kindern die gleichen Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und nach Auflösung der Ehe haben. Vgl. dazu Art. 12 M R K Rdn. 1, 6 ff, Art. 14 M R K Rdn. 2, 4, 11.

Das Protokoll Nr. 12 vom 26.6.2000 das ein generelles Gleichbehandlungsgebot enthält, ist noch nicht in Kraft Vgl. dazu bei Art. 14 M R K Rdn. 18 ff.

Das Protokoll Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe vom 3. 5.2002 ist von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert, es ist aber noch nicht in Kraft 4 . Vgl. dazu oben bei Protokoll Nr. 6 und bei Art. 2 M R K Rdn. la, 2, 15.

4

G. vom 5. 7.2004 (BGBl. II S. 982); nach dessen Art. 2 Abs. 2 wird der Tag. an dem das Protokoll für

die Bundesreuplik Deutschland in Kraft tritt, im BGBl, bekannt gemacht.

Stand: 1.10.2004

(610)

Anhang Verfahren des internationalen Menschenrechtsschutzes Schrifttum (Auswahl): Breuer Zur Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen durch den E G M R . E u G R Z 2004 257; Breuer Urteilsfolgen bei strukturellen Problemen - das erste „Piloturteil" des E G M R - Anmerkungen zum Fall Broniowski gegen Polen, E u G R Z 2004 445; Britz Die Individualbeschwerde nach Art. 14 des Internationalen Ubereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung - Zur Einführung des Individualbeschwerdeverfahrens in Deutschland, E u G R Z 2002 381: Dannemann Schadensersatz bei Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zur Haftung nach Art. 50 E M R K (1993); Dannemann Haftung für die Verletzung von Verfahrensvorschriften nach Art. 41 E M R K , RabelsZ 1999 452; Drzemczewskil Meyer-Ladewig Grundzüge des neuen EMRK-Kontrollmechanismus nach dem am 11. Mai 1994 unterzeichneten Reform-Protokoll (Nr. 11), E u G R Z 1994 317; Frowein Der freundschaftliche Ausgleich im Individualbeschwerdeverfahren nach der Menschenrechtskonvention und das deutsche Recht, JZ 1969 213; Ghandi Some aspects of the Exhaustion of Domestic Remedies Rule under the Jurisprudence of the Human Rights Committee, Jahrbuch für internationales Recht 44 (2001) 485; Hemd Recent Developments concerning fact-finding in the field of H u m a n Rights, FS Ermacora (1988) 1; Kilian Die Bindungswirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (1994); Kleine-Cossaek Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerden (2002); Krüger Vorläufige M a ß n a h m e n nach Art. 36 der Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte (insbesondere in Ausweisungs- und Auslieferungsfällen), E u G R Z 1996 346; Lauff Der Schutz bürgerlicher und politisicher Rechte durch die Vereinten Nationen, N.IW 1981 2611; Leeb Die innerstaatliche Umsetzung der Feststellungsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im entschiedenen Fall (2001); Leupreeht Der Schutz der Menschenrechte durch politische Organe - Das Beispiel des Ministerkomitees des Europarats, FS Ermacora (1988) 195; Masuch Zur fallübergreifenden Bindungswirkung von Urteilen des E G M R , NVwZ 2000 1266; Matscher Das Verfahren vor den Organen der E M R K , E u G R Z 1982 489; Matscher Die Begründung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. FS Bernhardt (1995) 503; Matscher Der neue Menschenrechtsschutz in Europa, FS Seidl-Hohenveldern (1998) 445; Matscher Kollektive Garantie der Grundrechte und die Staatenbeschwerde nach der E M R K , FS Adamowich (2002) 417; Macdonald Interim Measures in International Law with Special Reference to the European System for the Protection of H u m a n Rights. ZaöRV 52 (1992) 703; Mosler Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach 20 Jahren, FS Huber (1981) 595; Nowak Die Durchsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte Bestandsaufnahme der ersten 10 Tagungen des UN-Ausschusses für Menschenrechte, E u G R Z 1980 532; Fache Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, E u R 2004 393; Pappci D a s Individualbeschwerdeverfahren des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1996); Polakiewicz Die Verpflichtung der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (1993); Ress Die „Einzelfallbezogenheit" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, FS Mosler (1983) 719; Ress Wirkung und Beachtung der Urteile und Entscheidungen der Straßburger Konventionsorgane. E u G R Z 1996 350; Rogge Die Einlegung einer Menschenrechtsbeschwerde, E u G R Z 1996 341; Polakiewicz Die Verpflichtung der Staaten aus Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (1993); Schaup-Haag Die Erschöpfung des innerstaat (611)

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

l i e h e n R e c h t s w e g s n a c h A r t . 26 E M R K u n d d a s d e u t s c h e R e c h t (1987); Schlette Europäischer M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z n a c h d e r R e f o r m d e r E M R K , J Z 1999 219; Schlette D a s n e u e R e c h t s s c h u t z s y s t e m d e r E u r o p ä i s c h e n M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n , Z a ö R V 5 6 (1996) 905; Schlette Europäischer M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z n a c h d e r R e f o r m d e r E M R K , J Z 1999 219; Silagi D i e a l l g e m e i n e n Regeln d e s V ö l k e r r e c h t s als B e z u g s g e g e n s t a n d in A r t . 25, 26 E M R K , E u G R Z 1980 632; Stöcker W i r k u n g e n d e r U r t e i l e d e s E u r o p ä i s c h e n G e r i c h t s h o f s f ü r M e n s c h e n r e c h t e in d e r B u n d e s r e p u b l i k , N J W 1982 1905; Weiß Ü b e r b l i c k ü b e r die E r f a h r u n g e n m i t I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e n u n t e r v e r s c h i e d e n e n M e n s c h e n r e c h t s a b k o m m e n , A V R 4 2 (2004) 142; Wildhaber E i n e v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e Z u k u n f t f ü r d e n E u r o p ä i s c h e n G e r i c h t s h o f f ü r M e n s c h e n r e c h t e ? E u G R Z 2 0 0 2 569; Wittinger Die Einlegung einer I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e v o r d e m E G M R , N J W 2 0 0 1 1238; Zwach D i e L e i s t u n g s u r t e i l e d e s E u r o p ä i s c h e n G e r i c h t s h o f s f ü r M e n s c h e n r e c h t e (1996). Übersicht Rdn.

Rdn. 3. Formale Zulässigkeitsvoraussetzungen der Beschwerde a) Einlegungsfrist b) Form c) Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs d) Wiederholungs- und Kummulationsverbot e) Erneute Beschwerde f) Streichung aus dem Register, Wiedereintragung

A. Verfahren des europäischen Menschenrechtsschutzes I. Entwicklung des Verfahrens 1. Das ursprüngliche Verfahren des europäischen Menschenrechtsschutzes 2. Derzeitiges Verfahrenssystem

....

3. Weitere Reformen II. Die Organisation des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1. Richter

4

2. Plenum des Gerichtshofs

5

3. Die einzelnen Spruchkörper des Gerichts a) Kammern b) Große Kammer

6 9

4. Kanzler 5. Generalsekretär des Europarats

4. Aus dem Sachvortrag folgende Unzulässigkeitsgründe a) Unvereinbarkeit mit den Konventionsgarantien b) Mißbrauch c) Offensichtlich unbegründetes Vorbringen

12 ...

6. Ministerkomitee des Europarats

13 14

. 15 15a 15b

2. Allgemeine Grundsätze a) Öffentliches Verfahren 16 b) Offizialverfahren 17 c) Amtssprachen des Gerichtshofs . . 18 d) Prozeßvertretung, Verfahrenshilfe 19 3. Ungehinderter Verkehr mit dem Gerichtshof

20

IV. Voraussetzungen der Individualbeschwerde 1. Zeitliche, örtliche und sachliche Zuständigkeit 2. Beschwerdeberechtigung a) ßeschwerdeberechtigte b) Parteifähigkeit c) Verletzung eines eigenen Konventionsrechts d) Fortdauer der Beschwer

35 45 48 50

51 52 53

V. Gang des Individualbeschwerdeverfahrens

III. Allgemeines zum Verfahren des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1. Zwei verschiedene Verfahrensarten a) Staatenbeschwerde ^Individualbeschwerde

29 30

22 23 24 25 26 Stand; 1.10.2004

1. Einreichen der Beschwerde a) Schriftform b) Vertretung im Verfahren c) Vorläufige Anordnungen

54 55 56

2. Zulässigkeitsprüfung

57

3. Verfahren nach der Zulässigkeitsentscheidung a) Gütliche Einigung b) Weiteres Verfahren vor Gericht . . c) Gleichzeitige Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit d) Fakultative mündliche Verhandlung e) Beteiligung Dritter am Verfahren f) Urteile und Entscheidungen . . . . g) Verfahrenskosten h) Gerechte Entschädigung

61 62

63 64 66 67 68 70

4. Wiederaufnahme des Verfahrens . . .

74

5. Auslegung des Urteils durch den Gerichtshof

75 (612)

V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK Rdn.

Rdn. 6. Durchsetzung des Urteils a) Befolgungspflicht des betroffenen Staates b) Ministerkomitee 7. Am Verfahren unbeteiligte Konventionsstaaten

II. Verfahren bei der Organisation der Vereinten Nationen 76 78

1. Resolution 1503 des Wirtschafts-und Sozialrats

91

80

2. Verfahren auf Grund der Entscheidung 104 Ex 3.3 des Exekutivrates der UNESCO

93

B.Verfahren vor dem Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen - Art. 28 ff IPBPR und 1. Fakultativprotokoll

III. Verfahren auf Grund von Spezialkonventionen

I. Allgemeines 1. Kontrollorgan

81

2. Kontrollmittel

82

1. Allgemeines 96 2. Einzelne Internationale Kontrollverfahren a) Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 98 b) Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 101 c) Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe 103

II. Staatenbeschwerde, Individualbeschwerde 1. Staatenbeschwerde nach Art. 41 IPBPR

84

2. Individualbeschwerde nach dem 1. Fakultativprotokoll

86

C. Sonstige Verfahren des internationalen Menschenrechtsschutzes I. Allgemeines 1. Weitere Einrichtungen

88

2. Sachliches Zusammentreffen der Verpflichtungen aus mehreren Übereinkommen

89

3. Verfahrensrechtliche Schranken

90

...

Alphabetische

D. Internationale Strafgerichtsbarkeit 1. Internationaler Strafgerichtshof . . . 107 2. Ad hoc eingesetzt Strafgerichtshöfe für Ruanda und lugoslawien 108

Übersicht Rdn.

Rdn. Abhilfe, innerstaatliche überlange Verfahrensdauer unzumutbar > Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs Abschiebung Abweichende Meinungen bei Entscheidungen des EGMR Ad-Hoc-Vergleichskommission (IPBPR u. a) Allgemeine Bemerkungen bzw. Berichte der Ausschüsse Aktionäre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Allgemeine Grundsätze des Völkerrechts Amtshaftungsklage Amtssprachen, EGMR Angehörige Anonyme Mitteilungen Anordnungen, anfechtbare Antrag auf Entschädigung (613)

28, 37 f 37 37

56a 67 84, 99 81, 96, 100, 102, 104 25, 46 92 35 f, 70 38 18,34, 66 25 f 32, 57, 92, 94, 101, 106 25 39

Antrag auf mündliche Verhandlung Anwalt, Beiordnung und Verkehr mit Aufschiebende Wirkung Auslieferung Ausschuß für die Beseitigung der Rassendiskriminierung Ausschuß für Menschenrechte des IPBPR Ausschuß nach Art. 17 der Antifolterkonvention Ausschuß zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau Ausweisungsverfügung Beschwerdebefugnis („Mitteilung" von Menschenrechtsverletzungen) natürliche Personen und Personengruppen als Opfer

andere Personen bei zuverlässiger Kenntnis vgl. > Staatenbeschwerde Beschwer

Walter Gollwitzer

64 19 f, 34, 55 56 56a 47, 98 ff. 47, 56, 81 ff 47, 56, 103 ff 101 ff. 25, 28, 56a

15a, 23 ff, 83, 86ff,91, 100 f 92, 94, vgl. auch 106 26, 28

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Rdn.

Rdn. Beschwerdeeinlegung Beschwerdeführer, Angaben auf Wunsch keine Offenlegung der Identität Beschwerdegegenstand, gleicher Beteiligung Dritter am Verfahren des E G M R Beweiswürdigung, freie Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR Charta der Vereinten Nationen Dauerzustand, konventionswidriger ECOSOC Res. 1503-XLVTTT Einlegungsfrist für Beschwerde zum EGMR Entschädigung, gerechte Eltern Erfolgsaussichten der Rechtsbehelfe Ermittlungsbefugnis des Ausschusses Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

48 f, 54 31 f 33, 102 46 66 62 56 ff, 76 ff, 80 92 29, 76 ff 91 29 8, 28, 62, 70 ff 26 31 102, 104, 106

35 ff, 57, 71, 87, 92, 94, 100 f Darlegungslast der Beschwerdeführer 44 Darlegungspflicht des Staates 44 dem Beschwerdeführer zuzurechnende Hinderungsgründe 43 Prüfung von Amts wegen 44 Europäische Kommission für Menschenrechte 1f Berichte 1f Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Abgabe an große Kammer 10 Amtsaufklärung 62,65 Befugnis zur Anrufung 1 Berichterstatter 58 Beweiserhebung 62,65 Drei-Richter-Ausschuß („Komitee") 7, 58 Gerichtsbarkeit (fakultativ bis 11. ZP) 1 f „nationaler" Richter 6, 9 Große Kammer 9 ff, 68 Kammern 6, 59 ff Kammerpräsident 5 ff, 19, 34, 55, 65 f Kanzler 7 f, 19, 56, 59,61,65, 67 Mitwirkungspflichten der Parteien 62 Mündliche Verhandlung 55, 64 ff Plenum 5,9 Präsident 5,9 Richter 4 Sektionspräsident (vgl. auch Kammerpräsident) 5, 9, 19, 58 f Urteil 61, 67 f, 76 ff

Verfahren 7 ff, 54 ff Verfahrenskosten 69,73 Verweisung an große Kammer 11 Vorläufige Anordnungen 56 ff Zugang 20 Europäisches Übereinkommen über die am Verfahren von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen 20 ff Europarat 1 Generalsekretär 1, 13 Parlamentarische Versammlung 4 Exekutivrat der UNESCO, Verfahren nachEntsch. 104 Ex 3.3 93 Fakultativprotokoll zum TPBPR 83 ff Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 101 ff Form der Beschwerde („Mitteilung") 31, 87, 100 f, 106 Fortführung des Verfahrens im Allgemeininteresse Freies Geleit Freispruch Gefangene Gegenvorstellungen Generalsekretär der Vereinten Nationen Gesellschafter Geschäftsfähigkeit Gewerkschaften Gnadengesuche Günstigkeitsprinzip Gütliche Einigung Haft Haftbeschwerde Immunität Individualbeschwerde (MRK) Beschwerde, Form Beschwerdebefugnis, Entwicklung Beschwerderecht des Einzelnen Gemeinsame Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit Verfahrens gang Vertretung Voraussetzungen Individualbeschwerde TPBPR Individualbeschwerde („Mitteilung") zu anderen Ausschüssen Innerstaatliche Streitschlichtungsinstanzen Instanzenzug Internationaler Strafgerichtshof Internationaler Gerichtshof (IGH) Internationale Untersuchungs- und Streitschlichtungsinstanzen

Stand: 1.10.2004

26 21 28 20 41 81,103 25 24 23 41 89 8, 50, 61, 63, 84, 95, 105 39 39 20 f 54 1,15 1,7 ff; 15a, 54, 57 ff 8, 63 54 ff 55 22 ff 83, 86 ff 91, 93, 96 f, 100 f, 106 47 41 107 56 47 (614)

V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

Rdn. Jugoslawien-Strafgerichtshof Juristische Personen Kommunale Gebietskörperschaften Kollision von Konventionsrechten Kompensation der Konventionsverletzung Krankheit Kumulationsverbot

Rdn.

108 23, 25, 86 23 89 28, 76 ff 43 47 ff, 87, 90, 92, 94, 98, 101, 106

Massenmedien, durch Μ verbreiteten Informationen Mehrpoliges Grundrechteverhältnis Minderjährige Ministerkomitee des Europarats Mißbräuchliche Beschwerde „Mitteilungen" (Beschwerden) Miteigentümer Mittelbar Betroffene Nationales Recht, strukturelle Mängel Nationale Sicherheit Nichtstaatliche Organisationen Notstand, Notifikation der Außerkraftsetzung von Konventionsrechten Öffentlichkeit des Verfahrens EGMR Nichtöffentliche (vertrauliche) Verfahren

92,94 77, 89 23 1 f, 14, 61, 78 ff 52, 57, 101, 106 87,90 f, 93 ff, 102, 106 25 26 77 f 20 47 13 16, 65, 68

87, 93, 95, 102 Offensichtlich unbegründete Beschwerde 53,57, 101 Ofli/ial verfahren 17 Ombudsmann 41 Opfer einer Konventionsverletzung 25, 28, 39, 70, 86, 92, 94, 102, 106 Parteien, poitische 23 Personengruppen 23 Petitionen an Parlament 41 Post-, Telefonüberwachung 25 Prozeßfähigkeit 24 Querulatorische Beschwerden 52, 57 Rechtliches Gehör, Nachholung 38 Rechtsbehelfe, innerstaatliche ungeeignete 29, 35 ff, 40 nebeneinander bestehende 40 Rechtschutzbedürfnis 28 Reform des Verfahrens 3 Register des EGMR, Streichung, Wiedereintragung 7, 26, 50, 61, 67 Reisekosten 19 Religionsgemeinschaften 23 Ruanda Strafgerichtshof 108 Sachverständige 62 Schadensersatzklage 38 (615)

Schriftverkehr mit E G M R Schutzpflicht Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Staatenberichte Staatskirchen Staatenbeschwerde

20 25 108 82,98,103 23 1,8,15, 83 f, 99, 105 25

Statusregelungen Streichung im Register > Register Tod des unmittelbar Verletzten 26 Unabhängigkeit der Gerichte 76 UNESCO, Wirtschafts- und Sozialrat 93 ff Untersuchungshaft 29 Untersuchungsverfahren wegen Eolter von Amts wegen 104 Unzulässigkeit der Individualbeschwerde fehlende Beschwerdeberechtigung (ratione Personae) 22,27,51 Gegenstand außerhalb des Schutzbereiches der Konvention (ratione materiae) 22, 27, 46, 52, 79 örtlich (ratione loci) 22, 27 zeitlich (ratione temporis) 22, 27 Urteile des EGMR Auslegung 75 Befolgungspflicht des betroffenen Staates 76 ff Orientierungswirkung für andere Staaten 77,80 Überwachung der Durchführung 14, 78 Vater 26 Verfahrensdauer 37 f Verfahrenshilfe 19 Verfahrensordnung des EGMR 1 f, 5 Verfassungsgericht, Anrufung 35, 42 Vergleichsverhandlung 61,63 Veröffentlichung der Entscheidungen des EGMR 68 Vertraulichkeit der Verhandlungen der EKMR 1 Vertraulichkeit der Verhandlungen über eine gütliche Einigung 61 Vertretung im Verfahren (EGMR) 19, 24, 26, 54 f, 65 Verwerfung als unzulässig, Bindung 11, 58 ff Verzicht auf Einreden 44 Vollmacht 34,54 Wiederaufnahme des Verfahrens (innerstaatlich) 39, 76a, 77 Wiederaufnahme eines durch Urteil abgeschlossenen Verfahrens des E G M R 49, 74 Wiedergutmachung durch Staat 28, 77 Wiederholungsverbot 45 ff, 57, 79, 101 Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen 81,91 f

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen Rdn.

Zeugen ( E G M R ) Einvernahme Falschaussage Immunität Ladung Zulässigkeit (Verfahrensrecht) gemeinsame Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit

Rdn. Einrede der Unzulässigkeit P r ü f u n g in jedem Abschnitt des Verfahrens Vorwegentscheidung über Zulässigkeit

20. 62, 65 65 26 65

Zwischen rechtsbehelfe

60 7 f, 57. 59 8, 59 ff 38

8, 63

A. Verfahren des europäischen Menschenrechtsschutzes I. Entwicklung des Verfahrens 1

1. Das ursprüngliche Verfahren des Europäischen Menschenrechtsschutzes blieb in seinen Grundzügen seit dem Inkrafttreten der Konvention am 3.9.1953 viele Jahre unverändert 1 . Die Verfahrensänderungen durch das 3., 5. und 8. Zusatzprotokoll ließen seine Grundstruktur unangetastet. Kennzeichnend für diese war die Aufteilung der Kontrollbefugnisse auf verschiedene internationale Organe und der grundsätzlich fakultative Charakter aller individuellen Rechtsbehelfe sowie die weitgehende Vertraulichkeit der Verhandlungen der Kommission und des Ministerkomitees 2 . Die Individualbeschwerde zur Kommission war nur zulässig, wenn der dafür verantwortliche Staat die Zuständigkeit der Kommission in einer förmlichen Erklärung gegenüber dem Generalsekretär anerkannt hatte (Art. 25 M R K a. F). Der Gerichtshof konnte nur angerufen werden, wenn der betroffene Staat sich seiner Gerichtsbarkeit unterworfen hatte (Art. 46 Abs. 1 M R K a. F). Dies galt auch für die Staatenbeschwerde, mit der ein Mitgliedstaat die Konventionsverletzung durch einen anderen Mitgliedstaat vor der Kommission beanstanden konnte (Art. 48 M R K a. F). Der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben sich im Laufe der Jahre alle früheren Mitgliedstaaten unterworfen, zum Teil allerdings mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen 3 . Der Einzelne selbst konnte bei Verletzung seines Menschenrechtes nur die Beschwerde bei der unabhängigen Europäischen Kommission für Menschenrechte einlegen 4 . Diese verwarf unzulässige Beschwerden endgültig, über die zulässigen Beschwerden erstellte sie einen vertraulichen Bericht, über den das Ministerkomitee des Europarats 5 mit Zweidrittelmehrheit 6 zu entscheiden hatte (Art. 32 Abs. 1 M R K a. F), sofern die Sache nicht dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgelegt wurde. Dieser durfte nur über den Teil der Beschwerde entscheiden, den die Kommission für zulässig erachtet hatte. Er konnte nur von dem Staat angerufen werden, gegen den sich die Beschwerde richtete oder dessen Staatsangehöriger der Verletzte war, oder von der Kommission, nicht aber von dem Betroffenen selbst, der sich mit seiner Beschwerde an die Kommission gewandt hatte (Art. 48 M R K a . F ) 7 . Erst das (fakultative) 9. Zusatzprotokoll vom 6.November 1990 1 2 3 4

5

Vgl. Matscher F S Ermacora 79. Meyer-Ladewig Art. 34, 2. Vgl. Tomuschat E u G R Z 2003 95, 97. Zur Entstehungsgeschichte der Individualbeschwerde T n t K o m m E M R K - R o s f c Art. 25 ( a . F ) 71 ff. Das Ministerkomitee des Europarats ist eine aus Vertretern der Regierungen zusammengesetzte politische Entscheidungsinstanz vgl. Meyer-Ladewig Art. 34. 2: ferner etwa Leuprecht FS Ermacora 95 ff. sowie R d n . 14; 78. Stand:

6

7

Erst nach dem 10. Z P reichte die einfache Mehrheit im Ministerkomitee f ü r die Feststellung einer Konventionsverletzung aus. Vgl. Grabenwarter § 6 R d n . 1, wonach die Problematik dieses Systems in der späteren Praxis dadurch gemildert wurde, daß die Kommission in den meisten Fällen, in denen sie eine Menschenrechtsverletzung feststelle, selbst den Gerichtshof anrief u n d das Ministerkomitee sich in der Regel der Meinung der Kommission anschloß.

1.10.2004

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Verfahren des internationalen Menschenrechtsschutzes

Verfahren MRK

räumte den Personen, deren Individualbeschwerde von der Kommission sachlich behandelt worden war, die eigene Befugnis ein, nach Vorliegen von deren Bericht auch selbst den Gerichtshof anzurufen; Voraussetzung war aber auch hier, daß der betroffene Staat dieses Protokoll ratifiziert hatte 8 . 2. Das derzeitige Verfahrenssystem des übernationalen Menschenrechtsschutzes wurde 2 durch das 11. Zusatzprotokoll vom 11. Mai 1994 geschaffen 9 , das die Grundstruktur des ursprünglichen Systems der M R K grundlegend verändert hat. Die Reform des 11. Zusatzprotokolls ist nach seiner Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten 10 am 1.11.1998 in Kraft getreten. Die Kommission wurde mit einer Ubergangsfrist aufgehoben, die Zuständigkeit des Ministerkomitees für die Entscheidung über Menschenrechtsbeschwerden entfiel; nur seine Funktion als Organ zur Überwachung der Umsetzung der Entscheidungen des Gerichshofs in den Mitgliedstaaten blieb erhalten. Über Menschenrechtsbeschwerden entscheidet jetzt allein der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Seiner Gerichtsbarkeit unterliegen automatisch alle Mitgliedstaaten; anders als früher können sie nicht mehr selbst entscheiden, ob und für welchen Zeitraum sie sich der Gerichtsbarkeit unterwerfen wollen. Gegen eine von einem Mitgliedstaat zu verantwortende Menschenrechtsverletzung kann jetzt nicht nur ein anderer Mitgliedstaat sondern auch jeder betroffene Einzelne selbst den Gerichtshof unmittelbar anrufen. Damit dieser seine erweiterte Aufgabe erfüllen kann, wurde er in einen ständigen Gerichtshof mit hauptamtlichen Richtern umgewandelt. Soweit er durch eine Staaten- oder Individualbeschwerde oder einen Gutachtensauftrag nach Art. 47 M R K mit einer Sache befaßt wird, ist er zur Auslegung und Anwendung aller die Konvention und ihre Zusatzprotokolle betreffenden Angelegenheiten berufen (Art. 32 Abs. 1 MRK). Über seine Zuständigkeit entscheidet er selbst (Art. 32 Abs. 2 MRK). Sein Verfahren wurde in der vom Plenum des Gerichts nach Art. 26 Abs. 2 M R K beschlossenen neuen Verfahrensordnung11 geregelt, die ebenfalls am 1.11.1998 in Kraft trat. 3. Weitere Reformen. Der rasche Beitritt der Staaten Osteuropas und die Möglichkeit jedes Einzelnen, wegen der Verletzung der ihm durch die Konvention und die Zusatzprotokolle garantierten Rechte den Gerichtshof anzurufen, hat schnell zu einer Überlastung des Gerichtshofs geführt. Er kann die Fülle der in den letzten Jahren bei ihm eingereichten Beschwerden 12 nach seiner gegenwärtigen Struktur nicht bewältigen, auch 8

5 10

11

Z u r Entwicklung bis zum 11. Z P Siess-Seherz E u G R Z 2003 100, 102 ff; Meyer-Ladewig Art. 34, 2. Z u r Entwicklung Engel E u G R Z 2003 122, 127 ff. Deutschland hat es mit Gesetz vom 24. 7.1995 ratifiziert (BGBl. 11 S. 578). Derzeit sind 45 Staaten der M R K beigetreten, vgl. die Auflistung, die auch den Beitrittsstand zu den Zusatzprotokollen ausweist in E u G R Z 2003 179 oder im Fundstellennachweis Β zum BGBl. II. Die Bek. vom 17.5.2002 (BGBl. II S. 1080) teilt den allein verbindlichen französischen u n d englischen Text zusammen mit einer deutschen Übersetzung mit. Letztere ist auch abgedruckt bei Sartorius II Internationale Verträge, Europarecht Nr. 137. ferner bei Meyer-Ladewig im A n h a n g Verfahrensordnung. Die Verfahrensordnung wurde inzwischen dreimal geändert: a m 8.12.2000 u n d mit Wirkung zum 1.10. 2002 a m 17.6 u n d 8.7.2002; vgl. Siess-Seherz E u G R Z 2003 100, 104. D e r neue Text ist abruf-

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bar unter www.echr.coe.int/Eng/Edocs/RulesofCourt 2002.htm. Die oben angeführte B e k a n n t m a c h u n g der deutschen Fassung vom 17.5.2002 berücksichtigt die Ä n d e r u n g e n noch nicht. 12

N a c h Meyer-Ladewig Art. 34, 1 sind bis E n d e 2001 bei der früheren Kommission u n d dem Gerichtshof fast 78000 Beschwerden registriert worden (eingelegt über 210000); im l a h r e 2002 fielen mehr als 28000 registrierte Beschwerden an (Sehokkenbroek E u G R Z 2003 134). Wegen des mit Wirkung vom 1.1.2002 geänderten Registrierungsverfahren sind die Vergleiche mit den früheren Zahlen erschwert; jetzt werden alle Eingänge sofort registriert, während nach dem alten System die Eingänge zunächst in „provisional files" erfaßt wurden, nur die weiterbehandelten Beschwerden wurden später im Beschwerderegister erfaßt vgl. Siess-Seherz EuGRZ 2003 100, 104 (den im Jahre 2002 registrierten 30828 Beschwerden stehen nach dem alten System

Walter Gollwitzer

3

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

wenn 97 % aller eingereichten Beschwerden von den Dreier-Ausschüssen als unzulässig nach Art. 34 M R K zurückgewiesen wurden 1 3 . Es werden deshalb im Europarat weitere Reformen der M R K erörtert, die die Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs verbessern und seiner Überlastung durch Maßnahmen zur Vereinfachung und Straffung seines Verfahrens verringern sollen, so vor allem auch bei der Behandlung aussichtsloser Beschwerden oder bei der großen Zahl von Beschwerden, die vom Gerichtshof bereits entschiedene Fragen betreffen 14 . Erwogen wird auch, durch stärkere Einschaltung von Rechtsschutzmechanismen auf der nationalen Ebene den Menschenrechtsschutz der Konventionen schon auf dieser greifen zu lassen 15 . Eine verbesserte Informationspolitik sollte ferner alle wichtigen Entscheidungen des Gerichtshofs den Bürgern in der jeweiligen Landessprache zugänglich zu machen, wozu allerdings auch eine knappe und verständliche Fassung der jeweiligen Entscheidung und die konkrete und nachvollziehbare juristische Zuordnung der entschiedenen Fragen gehören würde 16 .

II. Die Organisation des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 4

1. Richter. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist seit der Reform durch das 11. ZP ein ständiger Gerichtshof mit hauptamtlich tätigen Richtern (Art. 19 Satz 2, Art. 21 Abs. 2 M R K ) . Die Zahl der Richter entspricht der Zahl der Vertragsstaaten der Menschenrechtskonvention (Art. 20 M R K ) . Sie werden für jeden Staat aus einer von diesem Staat vorgelegten Vorschlagsliste von drei Kanditaten mit der Mehrheit der Stimmen von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates für sechs Jahre gewählt (Art. 22 M R K ) , wobei die Amtszeit der Hälfte der Richter bei der ersten Wahl auf drei Jahre begrenzt wird, um für später sicherzustellen, daß alle drei Jahre die Hälfte der Richter neu gewählt werden kann (vgl. Art. 23 M R K ) 1 1 . Die Wiederwahl ist zulässig (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 M R K ) . Die Richter, deren Amtszeit mit der Vollendung des 70. Lebensjahres endet, bleiben bis zum Amtsantritt ihres Nachfolgers im Amt. Sie bleiben ferner in den Rechtssachen weiter tätig, mit denen sie bereits befaßt sind (Art. 23 Abs. 6, 7 M R K ) , weil sie an der Prüfung der Begründetheit teilgenommen haben (Art. 26 Abs. 3 VerfO).

5

2. Das Plenum des Gerichtshofs wählt den Präsidenten und einen oder zwei Vizepräsidenten und verteilt auf Vorschlag des Präsidenten die Richter auf die derzeit vier Sektionen 18 (Art. 1 Buchst, d; Art. 25 VerfO), wobei die Zusammensetzung der Sektio-

13 14

15

2001 gegenüber 31 393 „provisional files" und 13858 registrierte Beschwerden); vgl. ferner Peters 7. Ohms EuGRZ 2003 141, 143. Nach Ohms EuGRZ 2003 141, 145 betreffen Dreiviertel der sachlich behandelten Beschwerden sog. „repetive cases". Das noch nicht in Kraft befindliche 14. Zusatzprotokoll sieht vor, daß diese Verfahren durch den Drei-Richter-Ausschuß erledigt werden können; vgl. Einf. Rdn. 28a. Vgl. dazu Schockenbrook EuGRZ 2003 134; Stoltenberg EuGRZ 2003 139 (Deutsch/schweizer Vorschlag zur Änderung der Art. 28 und 35 Abs. 3 MRK); ferner zu den Vorschlägen Ohms EuGRZ 2003 141 ff; Grabenwarter EuGRZ 2003 174, 178 (Generalbericht zum Symposium in Graz I M . 2 . 2003).

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Zur Sprachbarriere Stoltenberg EuGRZ 2003 139; vgl ferner Ohms EuGRZ 2003 141; Grabenwarter EuGRZ 2003 174, 178. Zu aufgetretenen Problemen bei der Richterwahl Engel EuGRZ 2003 122, 133. Während die M R K nur von den Kammern als den für die Entscheidung zuständigen Spruchkörpern spricht, verteilt die Verfahrensordnung die Richter auf Sektionen, aus denen dann die jeweils zur Entscheidung berufene Kammer gebildet wird, ähnlich wie bei uns, wenn Kammern mit mehr Richtern besetzt sind als für den jeweils zur Entscheidung berufenen Spruchkörper benötigt werden.

Stand: 1.10.2004

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Verfahren des internationalen Menschenrechtsschutzes

Verfahren MRK

nen im geographischer Hinsicht und in Bezug auf die Vertretung der Geschlechter ausgeglichen sein und auch den unterschiedlichen Rechtssystemen der Vertragsparteien Rechnung tragen soll (Art. 25 Abs. 2 VerfO). Das Plenum wählt ferner die Sektionspräsidenten, die als Präsident der in ihrer Sektion jeweils aus insgesamt sieben Richtern gebildeten Kammer Vorsitzen (Art. 26 Buchst, c MRK). Auch die Verfahrensordnung wird vom Plenum des Gerichtshofs beschlossen (Art. 26 Buchst, d M R K ) 1 9 . Aufgaben der Rechtsprechung hat das Plenum nicht 20 . 3. Die einzelnen Spruchkörper des Gerichtshofs a) Grundsätzlich entscheiden über die Staaten- und über die Individualbeschwerden 6 die jeweils mit sieben Richtern besetzten Kammern (Art. 27 Abs. 1 M R K ) . Sie werden aus der jeweiligen Sektion, der mehr als sieben Richter angehören, von deren Präsidenten nach den in der Verfahrensordnung (VerfO) festgesetzten Regeln gebildet 21 . Die übrigen Mitglieder der Sektion können als Ersatzrichter herangezogen werden. Der Sektionspräsident bestimmt im Rotationsverfahren, welche Richter seiner Sektion neben ihm und dem jeweiligen „nationalen Richter" mitwirken. Nationaler Richter ist der für die betroffene Vertragspartei (Staat) gewählte Richter, der auch dann nach Art. 27 Abs. 2 M R K zur Mitwirkung berufen ist, wenn er einer anderen Sektion angehört 2 2 . Die Einzelheiten, insbesondere die bei Verhinderung des nationalen Richters und seinen Ersatz durch einen anderen Richter auftretenden Fragen, sind in Art. 26 bis 29, Art. 52 Abs. 2 VerfO näher geregelt. Die Ausschüsse (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 M R K , Art. 27 VerfO nennt sie „Komitee"), 7 denen jeweils drei Richter aus der gleichen Sektion angehören („Drei-Richter-Ausschuß"23), können zur Entlastung der Kammern vorweg durch den vom Sektionspräsidenten bestimmten Berichterstatter (Art. 49 Abs. 1 VerfO) mit der Prüfung der Zulässigkeit einer Individualbeschwerde befaßt werden, sofern dieser oder der Sektionspräsident die Sache nicht gleich der Kammer zuweisen (Art. 49 Abs. 2 Buchst, b VerfO) 24 . Die Zahl der Ausschüsse bestimmt der Präsident nach Anhörung des Sektionspräsidenten (Art. 27 Abs. 1 VerfO). Die Ausschüsse werden im Rotationsverfahren aus den Mitgliedern der jeweiligen Sektion für einen bestimmten Zeitraum (ein Jahr) gebildet (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 MRK), Sie können einstimmig eine Beschwerde für unzulässig25 erklären oder aus dem Register streichen, wenn sie diese Entscheidung ohne weitere Prüfung treffen können (Art. 28 M R K ; Art. 53 Abs. 3 VerfO). Die Entscheidung des Ausschusses ist endgültig. Sie wird jetzt 26 ohne Ausfertigung eines mit Gründen versehenen förmlichen Beschlusses dem Beschwerdeführer durch einen allgemein gehaltenen Brief des Kanzlers der jeweiligen Kammer mitgeteilt, der keine auf den Einzelfall bezogene Begründung enthält 27 .

19

20 21

22 23 24

Z u r Rechtsnatur der auf G r u n d der Ermächtigung in Art. 26 Abs. 2 M R K vom Plenum erlassenen Verfahrensordnung (echtes Verfahrensgesetz, nicht Geschäftsordnung) Matscher E u G R Z 1982 490 u n d F S E r m a c o r a 79/81; Mosler ZaöRV 20 (1959/60) 423. Meyer-Ladewig Einl. 13. Z u m Verfahren Wittinger N J W 2001 1238, 1240; vgl. ferner R d n . 6, 9. Grabenwarter § 8 Rdn. 3. Villiger H d B 193. Vgl. Grabenwarter § 8 Rdn. 2; Wittinger N J W 2001 1238, 1240.

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Zu den Unzulässigkeitsgründen gehört auch, d a ß eine Beschwerde als offensichtlich unbegründet oder als mißbräuchlich angesehen wird (Art. 35 Abs. 3 M R K ) . Art. 53 Abs. 2 Verfahrensordnung (Neufassung). Die sogenannten „warning letters" in denen vorweg dem Beschwerdeführer die G r ü n d e mitgeteilt wurden, aus denen seine Beschwerde erfolglos sein dürfte, wurden abgeschafft. Musterbrief abgedruckt E u G R Z 2003 180, gegen diese Neuregelung, die anders als früher der „warning letter" den Beschwerdeführer im Unklaren läßt, ob sein Fall gründlich geprüft und aus welchen

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Verwirft der Ausschuß die Beschwerde nicht als unzulässig, übermittelt er sie der Kammer zur weiteren Prüfung (Art. 53 Abs. 3 VerfO). 8

Die nach der Vorprüfung durch den Ausschuß oder aber vom Berichterstatter oder vom Kammerpräsidenten unmittelbar mit der Sache befaßte Kammer soll im Regelfall über die Zulässigkeit der Beschwerde vorweg gesondert entscheiden (Art. 29 Abs. 3 M R K ; Art. 49 Abs. 4 VerfO) 28 . Durch diese Trennung sollte das Verfahren strukturiert werden, da mit der Feststellung der Zulässigkeit die Verfahrensbeteiligten mit weiteren Rügen der Unzulässigkeit ausgeschlossen werden, der Versuch einer gütlichen Einigung einzuleiten ist und Ausführungen zu einem eventuellen Entschädigungsanspruch zu machen sind. Dies gilt gleichermaßen für Staatenbeschwerden nach Art. 33 M R K und für Individualbeschwerden nach Art. 34 M R K (Art. 29 Abs. 1, 2 MRK), wobei jedoch das Verfahren in den Art. 51 und Art. 52 bis 54 VerfO unterschiedlich geregelt ist. Bei Individualbeschwerden kann sich die Kammer jetzt aber auch dafür entscheiden, Zuständigkeit und Begründetheit gemeinsam zu prüfen und bei Zuleitung der Beschwerde Äußerungen zu allen Fragen, einschließlich der einer gerechten Entschädigung, und Vorschlägen für eine gütliche Einigung anzufordern (Art. 54A Abs. 1 VerfO) 29 . Sie kann dann über Zulässigkeit und Begründetheit in einem Urteil entscheiden (Art. 54A Abs. 2 VerfO).

9

b) Als übergeordneter Spruchkörper besteht eine Große Kammer mit 17 Richtern. Ihr gehören der Präsident des Gerichtshofs, der oder die Vizepräsidenten und die Präsidenten der Kammern an, sowie weitere Richter. Die Richter der Kammer, die die Sache nach Art. 30 M R K der großen Kammer vorgelegt haben, wirken bei der Entscheidung mit (Art. 24 Abs. 2 Buchst c VerfO) 30 . Wird dagegen gegen ihre Entscheidung die große Kammer nach Art. 43 M R K angerufen, sind sie nach Art. 27 Abs. 3 Satz 2 M R K von der Mitwirkung ausgeschlossen mit Ausnahme ihres Kammerpräsidenten und des jeweiligen „nationalen Richters", also der Richters, der auf Vorschlag des als Partei beteiligten Staates als Richter gewählt worden war 31 . Dieser oder bei dessen Verhinderung ein von dem beteiligten Staat benannter anderer Richter oder eine andere zum Richteramt nach Art. 21 Abs. 1 M R K qualifizierte Person (Art. 29 VerfO) gehört von Amts wegen jeder Kammer an, in der über eine Beschwerde entschieden wird, an der der betreffende Staat als Partei beteiligt ist (Art. 27 Abs. 2, 3 M R K ) . Die Zusammensetzung der Großen Kammer regelt im übrigen das Plenum. Zur Bestimmung der Richter, die jeweils neben dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und Sektionspräsidenten in der Großen Kammer zur Mitwirkung berufen sind, teilt das Plenum die Richter in zwei Gruppen ein, die sich alle neun Monate ablösen und aus denen dann im Rotationsverfahren die an der jeweiligen Sache mitwirkenden Richter bestimmt werden (Art. 24 Abs. 3 VerfO).

10

Zur Abgabe einer Sache an die Große Kammer ist die mit der Sache befaßte Kammer jederzeit befugt, sofern sie der Ansicht ist, daß über eine schwerwiegende Auslegung der Konvention einschließlich ihrer Zusatzprotokolle zu entscheiden ist oder wenn ihre Entscheidung zur Abweichung von einer früheren Entscheidung des Gerichtshofes führen kann. Die Abgabe, die keiner Begründung bedarf, steht im pflichtgemäßen Ermessen der Kammer; sie muß unterbleiben, wenn ihr eine Partei binnen eines Monats nach Unterrichtung von der Abgabeabsicht unter Angabe von Gründen widerspricht (Art. 30 M R K : Art. 72 VerfO) 32.

28 29

Gründen eine Eingabe als unzulässig angesehen wird, werden erhebliche Bedenken erhoben. Vgl. Siess-Seherz EuGRZ 2003 104 ff; Ohms EuGRZ 2003 141, 145; Grabenwarter EuGRZ 2003 174, 175. Vgl. WH linger NJW 2001 1238, 1240. Eingefügt mit Wirkung vom 1.10.2002.

30 31

32

Grabenwarter § 8 Rdn. 4; Meyer-Ladewig Art. 27, 6. Vgl. Grabenwarter § 8 Rdn. 4; Meyer-Ladewig Art. 27,7. Meyer-Ladewig Art. 30, 2, 3; vgl. Wittinger NJW 2001 1238, 1240; kritisch zum Widerspruchsrecht Schielte ZaöRV 56 (1996) 950, 964.

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

Die Verweisung an die Große Kammer kann jede Partei innerhalb von drei Monaten 11 nach dem Datum des Urteils einer Kammer beantragen (Art. 43 Abs. 1 M R K ) , damit diese als gerichtsinterne Kontrollinstanz die Sache neu entscheidet 33 . Diese Befugnis ist ausdrücklich auf Ausnahmefälle begrenzt. Über die Annahme dieses Antrags entscheidet ein Ausschuß vom fünf Richtern 3 4 , der eine Ablehnung nicht begründen muß (Art. 73 Abs. 2 VerfO) 35 . Er nimmt den Antrag an, wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder ihrer Protokolle aufwirft oder wenn es sich um eine schwerwiegende Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung handelt (Art. 43 Abs. 2 M R K ) . Lehnt der Ausschuß den Antrag ab, ist das Urteil der Kammer endgültig (Art. 44 Abs. 2 Buchst, c M R K ) . Wird der Antrag angenommen, entscheidet die Große Kammer insgesamt neu über die gesamte Sache und nicht etwa nur die Frage, wegen deren Bedeutung der Ausschuß den Antrag angenommen oder wegen der die Sache an die Große Kammer verwiesen wurde. Auch wenn ein Urteil der Kammer bereits vorliegt, hat die Große Kammer im vollem Umfang ohne jede Bindung neu über alle vom Urteil erfaßten Beschwerdepunkte zu entscheiden, bei denen die Kammer die Beschwerde zugelassen hat 3 6 . Dies gilt auch dann, wenn der Antrag nach Art. 43 Abs. 1 M R K nur einen bestimmten Beschwerdepunkt betraf und das Urteil der Kammer im übrigen nicht beanstandet hat. An die tatsächlichen Feststellungen und die Rechtsauffassungen, die die Kammer in ihrem Urteil vertreten hat, ist die Große Kammer nicht gebunden. Mit der Annahme des Antrags wird das ganze vorangegangene Urteil der Kammer hinfällig und die Große Kammer muß über die an sie verwiesene Rechtssache, also die gesamte für zulässig erklärte Sache mit all ihren Beschwerdepunkten, in jeder Hinsicht neu entscheiden 37 . Sie darf dabei auch neu vorgetragenen Tatsachen oder einen neuen Rechtsvortrag berücksichtigen, wenn sie dies für sachdienlich hält 38 . Auch durch die in der Regel vorangegangene Entscheidung über die Zulässigkeit ist sie nur insoweit gebunden, als sie den Teil der Beschwerde, der bereits als unzulässig ausgeschieden wurde, nicht mehr aufgreifen darf. Im übrigen kann sie die Zulässigkeit der Beschwerde anders beurteilen. Unbeschadet der Vorabprüfung durch den Ausschuß (Art. 28 M R K ) und durch die Zuständigkeitsentscheidung der Kammer ist die Große Kammer zur (erneuten) Prüfung der Zulässigkeit befugt, diese ist in jeder Lage des Verfahrens zu beachten (§35 Abs. 4 Satz 2 M R K ) . 4. Die Kanzlei unterstützt die Arbeit des Gerichts, führt die Akten und wickelt zunächst den Parteiverkehr ab 39 . Der Kanzler und seine Stellvertreter werden vom Plenum des Gerichtshofs gewählt (Art. 25, Art. 26 Buchst, e M R K ) . Die übrigen Angehörigen der Kanzlei, auch die den Gerichtshof unterstützenden wissenschaftlichen Mitarbeiter, sind Bedienstete des Europarats 4 0 . Die bei Gerichtshof eingereichten Menschenrechtsbeschwerden sind bei der Kanzlei einzureichen (Art. 47 VerfO), die auch den vorbereitenden Schriftverkehr mit dem Beschwerdeführer führt 4 '. Auch jede Sektion hat einen Meyer-Ladewig NJW 1995 2816; Schleife ZaöRV 56 (1996) 950, 952 ff; Wilimger NJW 2001 1238, 1241. Villiger Hdß. 192 spricht vom „Filterausschuß; die Zusammensetzung dieses Auschusses ist in Art. 24 Abs. 5 VerfO geregelt; vgl. Meyer-Ladewig Art. 43,

» « 41

12. Meyer-Ladewig An. 43, 14. Etwa E G M R 12.7.2001 Κ & T/Finnl (NJW 2003 809); 6. 5.2003 Perna/I (NJW 2004 2653). Meyer-Ladewig Art. 43, 14; EGMR 12.7.2001 Κ & T/Finnl (NJW 2003, 809). (621)

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Vgl. etwa EGMR 20.3.1991 Cruz Varas/Schwed (EuGRZ 1991 203); 25.4.1996 Gustavson/Schwed (ÖJZ 1998 867); 12.7.2001 Κ & T/Finnl (NJW 2003, 809). Wittinger NJW 2001 1238, 1240. Meyer-Ladewig Art. 25 MRK 4, 5. Vgl. Meyer-Ladewigt Petzold NJW 1999 1165; Wittinger NJW 2001 1238, 1240; Meyer-Ladewig Art. 25 M R K , 2,

Walter Gollwitzer

12

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Kanzler, der die bei dieser Sektion gebildeten Spruchkörper (Kammer, Dreier-Ausschuß) unterstützt und dem jetzt auch die Unterrichtung des Beschwerdeführers obliegt, wenn seine Beschwerde vom Ausschuß als unzulässig abgewiesen wurde 42 . 13

5. Generalsekretär des Europarats. Dieser ist an sich kein Organ des Gerichts sondern ein Funktionsträger des Europarats. Da der Gerichtshof aber beim Europarat errichtet ist, der seine Kosten trägt, ist er für dessen Haushalt verantwortlich. Er ist auch der Dienstherr aller Bediensteten des Gerichts. Er hat aber auch Funktionen im Rahmen der M R K . Erklärungen über Beitritt und Kündigung der Mitgliedschaft (etwa Art. 58 Abs. 1 M R K ) oder über die Außerkraftsetzung von Konventionsrechten auf Grund eines Notstands (Art. 15 Abs. 3 M R K ) sind bei ihm abzugeben, Ratifikationsurkunden werden bei ihm hinterlegt, und er hat Notifikationspflichten (vgl etwa Art. 59 Abs. 4 M R K ; Art. 6 des l . Z P ) . Außerdem ist er berechtigt, jeden Mitgliedstaat zu befragen, auf welche Weise er die wirksame Anwendung der Konvention innerstaatlich sicherstellt (Art. 52 M R K ) . Die Entscheidungen des Ministerkomitees (vgl. Rdn. 14; 78, 79) bereitet er vor.

14

6. Das Ministerkomitee 43 des Europarats hat seine frühere Befugnis zur Entscheidung über die Menschenrechtsbeschwerden (Art. 32 Abs. 1 M R K a. F) verloren. Es hat nach Art. 46 Abs. 2 M R K aber weiterhin die Aufgabe, die Durchführung der Urteile des Gerichtshofs zu überwachen (vgl. Rdn. 78).

III. Allgemeines zum Verfahren vor dem EGMR 15

1. Die MRK kennt zwei verschiedene Verfahrensarten vor dem Gerichtshof. Für sie gelten zum Teil unterschiedlichen Verfahrensregeln:

15a

a) Mit der Staatenbeschwerde kann jeder Mitgliedstaat den Gerichtshof jetzt unmittelbar 44 anrufen mit der Behauptung, ein anderer Mitgliedstaat habe ein in der Konvention oder einem Zusatzprotokoll garantiertes Recht verletzt (Art. 33 M R K ) . Die für eine Staatenbeschwerde erforderlichen Angaben legt Art. 46 der VerfO festgelegt. Von der Möglichkeit einer Staatenbeschwerde haben die Mitgliedstaaten bisher nur spärlich Gebrauch gemacht 45 . Oft sprachen diplomatische Rücksichtnahmen gegen einen solchen Schritt, da die Wahrung des „ordre public europeen" oft auch mit anderen, weniger öffentliches Aufsehen erregenden Schritten erreichbar schien 46 . Mit der Zulassung der unmittelbaren Individualklage zum E G M R hat vor allem die allein aus humanitären Gründen erhobene Staatenbeschwerde ihre Bedeutung für den individuellen Menschenrechtsschutz weitgehend verloren.

15b

b) Mit der Individualbeschwerde kann dagegen jeder einzelne und jede nichtstaatliche Organisation unabhängig von politischen Rücksichtnahmen ihrer Regierung 47 den 42

Vgl. oben Rdn. 7. -' Das Ministerkomitee des Europarats kann diese Aufgabe auch durch Delegierte der Außenminister ausüben. Auf seine Zusammensetzung und sein Verfahren ist die Satzung des Europarates anwendbar, soweit sich nicht das Ministerkomitee besondere Regeln für das Verfahren gegeben hat, vgl. TntKomEMRK-Gofeong Art. 54 (a.F) 12 ff; Meyer-Ladewig Art. 46, 14 ff.

4

44

45

46 47

zunächst an die Menschenrechtskommission und wurde dann meist im Ministerrat behandelt. Der Gerichtshof hatte nur wenige Fälle zu entscheiden. Bisher sind nur 12 Staatenbeschwerden erhoben worden, vgl. die Auflistung bei Villigcr H d ß 183; ferner I-'rmveinlPeukert Art. 32 (a.F) 13; Rogge EuGRZ 1975 117. Vgl. Tomuschat EuGRZ 2003 95. Vgl. Tomuschat EuGRZ 2003 95, 97.

Auch die Staatenbeschwerde ging vor dem 11. ZP

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

Gerichtshof wegen der Verletzung eines in der Konvention oder einem Zusatzprotokoll gewährleisteten Rechts anrufen (Art. 34 M R K ) . 2. Allgemeine Grundsätze a) Öffentliches Verfahren. Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist weitgehend öffent- 16 lieh (vgl. Art. 40 M R K ) . Soweit nicht wie in der Mehrzahl der Fälle die Entscheidung im schriftlichen Verfahren ergeht, wird mündlich verhandelt. Die Verhandlung ist öffentlich, es sei denn daß die Kammer auf Grund besonderer Umstände etwas anderes entscheidet 48 . Nach der Registrierung einer Beschwerde sind auch alle bei der Kanzlei eingereichten Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich, mit Ausnahme der Unterlagen die bei der Verhandlung über eine gütliche Einigung eingereicht wurden 4 9 . Der Kammerpräsident kann aber auch sonst von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei oder einer betroffenen Person anordnen, daß die Unterlagen der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind (Art. 33 Abs. 3, 4 VerfO). b) Das Verfahren ist grundsätzlich als Offizialverfahren ausgestaltet 50 . Die Spruch- 17 körper des Gerichts sind nicht daran gebunden, welche Tatsachen ihnen vom Beschwerdeführer oder vom beklagten Staat vorgetragen werden. Sie können von Amts wegen die Verfahrensbeteiligten auffordern, sich zu den vom Gericht für erforderlich gehaltenen Tatsachen zu äußern. c) Die Amtssprachen des Gerichtshofs sind englisch und französisch (Art. 34 Abs. 1 18 VerfO). Vor der Zulassung der Beschwerde ist jedoch auch die Verwendung der Amtssprachen der Vertragsparteien für die Kommunikation zwischen Gerichtshof und dem Beschwerdeführer und seinen Vertreter allgemein zulässig 51 . Nach der Zulassung der Beschwerde sind in der Regel nur die Amtssprachen des Gerichtshofs zu verwenden. Für die Verwendung einer anderen Sprache der Mitgliedstaaten bedürfen der Beschwerdeführer und sein Vertreter der Genehmigung des Kammerpräsidenten; in diesen Fällen muß der Kanzler für die mündliche und schriftliche Ubersetzung in die Amtssprachen des Gerichtshofs sorgen (Art. 34 Abs. 2, 3 VerfO). Der beklagte Staat, sowie andere sich am Verfahren beteiligende Staaten müssen sich grundsätzlich der Amtssprache des Gerichtshofs bedienen 52 . Der Kammerpräsident kann die beklagte Partei aber auffordern, eine Übersetzung ihrer schriftlichen Stellungnahmen in ihre eigene Amtssprache mit vorzulegen, damit dem Beschwerdeführer das Verständnis der Stellungnahme erleichtert wird (Art. 34 Abs. 5 VerfO). Verwenden Vertragsparteien oder Dritte beim Verkehr mit dem Gerichtshof nicht eine seiner Amtssprachen, was nur mit Genehmigung des Kammerpräsidenten zulässig ist, müssen sie auf ihre Kosten für die mündliche oder schriftliche Sprachübertragung ihrer Stellungnahmen sorgen (Art. 34 Abs. 4 VerfO). Zeugen, Sachverständige und andere Personen können sich vor dem Gerichtshof ihrer eigenen Sprache bedienen, wenn sie die Amtssprache des Gerichts nicht hinreichend beherrschen. In diesen Fällen obliegt es dem Kanzler, die Sprachübertragung zu veranlassen (Art. 34 Abs. 6 VerfO). d) Prozeßvertretung, Verfahrenshilfe. Anwaltszwang besteht grundsätzlich nicht. Der Beschwerdeführer kann sich aber vor dem Gerichtshof durch einen in den Mitgliedstaa-

Vgl. Art. 33 Abs. 2 VerfO: Ausschluß der Presse und der Öffentlichkeit aus den dort angeführten Gründen. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 29, 7. (623)

50 ?1 52

Vgl. IntKomEMRK-Äogp' Art. 25 (a. F) 104. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 29, 6. Meyer-Ladewig Art. 29, 6.

Walter Gollwitzer

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MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

ten zugelassenen Anwalt oder sonst einer vom Kammerpräsidenten zugelassenen Person vertreten lassen (Art. 36 VerfO). Dieser kann auch selbst die anwaltschaftliche Vertretung anordnen, sobald die Beschwerde dem beklagten Staat zugestellt worden ist (§ 36 Abs. 2 VerfO). Verfahrenshilfe (Prozeßkostenhilfe) kann dem Beschwerdeführer bei einer Individualbeschwerde (Art. 34 M R K ) vor allem durch Beiordnung eines Anwalts vom Kammerpräsidenten gewährt werden, sofern der Beschwerdeführer selbst nicht über ausreichende Mittel verfügt und dies für die ordnungsgemäße Prüfung der Beschwerde vor dem Gerichtshof notwendig ist (Art. 92 VerfO) 53 . Über die Verfahrenshilfe wird entschieden, wenn die beklagte Partei zur Zulässigkeit der Beschwerde Stellung genommen hat oder die Frist dafür abgelaufen ist (Art. 91 Abs. 1 VerfO). Der Beschwerdeführer muß beglaubigte Angaben über seine wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt und der beklagte Staat dazu Stellung genommen oder die Möglichkeit dazu gehabt haben 5 4 . Die Entscheidung des Kammerpräsidenten wird dem Beschwerdeführer durch den Kanzler mitgeteilt (Art. 93 VerfO). Der Kammerpräsident kann seine Entscheidung jederzeit zurücknehmen, wenn die Voraussetzungen für sie entfallen sind (Art. 96 VerfO). Die Verfahrenshilfe umfaßt die Honorare des Rechtsbeistands oder einer anderen nach Art. 36 VerfO zur Vertretung berechtigen Person (ev. auch mehrere), sowie Aufenthalts- und Reisekosten und andere notwendigen Auslagen (Art. 94 VerfO). Die Höhe der Verfahrenshilfe wird dabei nach Art. 95 VerfO vom Kanzler bestimmt, der die Höhe der Honorare nach „den geltenden Tarifen" festsetzt (Art. 95 Buchst, b VerfO) 55 Die bewilligte Verfahrenshilfe gilt für ein etwaiges Verfahren vor der Großen Kammer weiter, sofern sie nicht rückgängig gemacht oder beschränkt worden ist (Art. 91 Abs. 2, Art. 96 VerfO). 20

3. Der ungehinderte Zugang zum Gerichtshof wird allen am Verfahren teilnehmenden Personen durch das Europäische Übereinkommen über die an Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen vom 23.10.1996 gesichert 56 . Dieses gewährt allen als Partei, Vertreter oder Berater einer Partei oder als vorgeladene Zeugen oder Sachverständige oder sonst mit Billigung des Präsidenten am Verfahren teilnehmenden Personen Immunität für ihre schriftlichen oder mündlichen Äußerungen gegenüber dem Gerichtshof, ferner für Urkunden und sonstige Beweismittel, die sie dem Gerichtshof vorlegen (Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens). Diese Immunität besteht nicht, wenn sie Äußerungen oder Beweismittel außerhalb des Gerichtshofs anderen zur Kenntnis bringen (Art. 2 Abs. 2 des Übereinkommen). Alle die genannten Personen haben das Recht auf ungehinderten schriftlichen Verkehr mit dem Gerichtshof. Dies gilt auch für Personen, denen die Freiheit entzogen ist; deren Korrespondenz mit dem Gerichtshof darf nicht ungebührlich verzögert oder behindert oder zum Gegenstand einer disziplinarischen Maßnahme gemacht werden. Diese Personen haben ferner das Recht, mit einem Anwalt schriftlich zu verkehren und sich mit ihm zu beraten, ohne daß eine andere Person mithört. Eingriffe in diese Rechte sind nur auf Grund eines Gesetzes und nur insoweit zulässig, als sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, zur Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder zum Schutze der Gesundheit notwendig sind (Art. 3 des Übereinkommens).

53 54 55

Vgl. Meyer-Ladewig Art. 29, 12. Meyer-Ladewig Art. 29, 11, 12; Villiger H d B 206. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 29; 12; Villiger H d B 206: N i c h t volles H o n o r a r , sondern angemessener Beitrag zu den K o s t e n im S t r a ß b u r g e r Verfahren.

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BGBl. TT 2001 S. 359. D a s am 1.11.2001 in K r a f t getretene A b k o m m e n ersetzt das gleichartige f r ü h e r e A b k o m m e n vom 6. 5.1969 (BGBl. TT 1975 S. 1445).

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

Freies Geleit. Das Recht auf ungehinderte Hin- und Rückreise, einschließlich des 21 durch Art. 4 Abs. 3 noch gesondert gesicherten Rückkehrrechts, wird allen genannten Personen, die am Verfahren vor dem Gerichtshof teilnehmen, garantiert, wobei ihnen keine Beschränkungen aus anderen als den vorerwähnten Gründen auferlegt werden dürfen (Art. 4 Abs. 1 Buchst, a, b). In den Durchgangsstaaten oder in dem Staat, in dem die Verhandlung stattfindet, dürfen sie wegen Handlungen oder Verurteilungen aus der Zeit, die vor Beginn ihrer Reise liegt, weder verfolgt noch in Haft genommen noch sonstwie in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt werden (Art. 4 Abs. 2 Buchst, a). Diese Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 des Übereinkommens haben nach Art. 4 Abs. 5 Vorrang vor den Verpflichtungen, die sich aus sonstigen Übereinkommen des Europarats oder aus Rechtshilfe- oder Auslieferungsverträgen ergeben. Die durch das Übereinkommen garantierte Bewegungs- und Reisefreiheit erlischt, wenn die betreffende Person nicht in das Land zurückgekehrt ist, von dem aus sie die Reise angetreten hat, sofern sie an 15 aufeinander folgen Tagen die Möglichkeit dazu hatte (Art. 4 Abs. 4 des Übereinkommens). Die Immunität, die den oben genannten Personen nur gewährt wird, um ihnen die Freiheit und Unabhängigkeit für die Ausübung ihrer Rechte und die Wahrnehmung ihrer Pflichten vor dem Gerichtshof zu sichern, kann der Gerichtshof durch eine zu begründende Entscheidung unter den im Übereinkommen näher festgelegten Voraussetzungen aufheben 5 7 .

IV. Voraussetzungen der Individualbeschwerde 1. Zeitliche, örtliche, persönliche und sachliche Anwendbarkeit der MRK. Die Verbür- 2 2 gungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Zusatzprotokolle sind nicht anwendbar auf Vorfälle, die vor der Zeit liegen, in der die Konvention oder das Zusatzprotokoll für den Staat, dessen Herrschaftsgewalt sie zugerechnet werden 58 ; rechtsverbindlich wurde. Betrifft der Beschwerdegegenstand einen vorher liegenden Zeitraum, ist eine Beschwerde „ratione temporis" unzulässig 581 . Dauert eine Konventionsverletzung nach dem Inkrafttreten in dem betreffenden Staat noch an, erstreckt sich die Überprüfung des Gerichtshofs nur auf die nach diesem Zeitpunkt liegenden Vorgänge 59 . Die fortdauernde Konventionsverletzung ist von den Vorgängen zu unterscheiden, die auf einem vor Wirksamwerden der Konvention abgeschlossenen Rechtsakt beruhen, bei dem nur dessen Wirkungen, wie etwa der Eigentumsentzug bei einer vollzogenen Enteignung, fortdauern 6 0 . In der Fortdauer der vor dem Beitritt geschaffenen Rechtslage allein wird keine neue Konventionsverletzung gesehen. Kommen dagegen nach dem Inkrafttreten einer Konventionsverbürgung neue, auch ihrerseits selbst konventionswidrige Handlungen hinzu, sind diese an der Konvention zu messen 61 . Auch die Vollstreckung eines vorher ergangenen Urteils fällt als abgeschlossener Rechtsakt nicht in den Anwendungsbereich der Konvention, sofern nicht darin eine sich täglich neu er-

57

Zu den Einzelheiten und zu den Vorbehalten, die die Vertragsstaaten erklären können vgl. Art. 4 Abs. 2 Buchst b, Art. 5 Abs. 3, 4; Art. 9 des Übereinkommens. 5S Vgl. dazu Art. 1. 5S = Etwa EGMR 12.7.2001 Hans Adam TT/D (NJW 2003 649); vgl. Art. 1 des l.ZP. ® Grabemvarter § 13 Rdn.46. 60 Vgl. etwa EGMR 12.7.2001 Hans Adam II von und zu Lieehtenstein/D (NJW 2003 649, dazu Faß(625)

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bender EuGRZ 2001 459); anders dagegen, wenn nur das Eigentum faktisch entzogen wurde, vgl. etwa E G M R 24.6.1993 Papamichalopoulos/Griech (ÖJZ 1994 177); 18.12.1996 Loizidou/Türk (ÖJZ 1997 793); Grabenwarler § 13, 47 mit weit. Nachw.; Meyer-Ladewig Art. 1 des 1. ZP, 39. Vgl TntKommEMRK-Äoise Art. 27 (a.F) 79 ff, auch zum Unterschied zwischen der fortdauernden Wirkung einer Entscheidung und der Fortdauer eines Zustands.

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MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

eignende Konventionsverletzung zu sehen ist 62 . Tritt die M R K oder ein Zusatzprotokoll während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens in Kraft, sind nur die nach dem Inkrafttreten liegenden Entscheidungen, nicht aber vorher liegende daran zu messen 63 . Bei Ausscheiden eines Staates aus der Konvention (Art. 58 M R K ) fallen nur die Vorgänge, die vor dem Wirksamwerden des Ausscheidens liegen, unter die Konvention. Handlungen, die außerhalb des territorialen Herrschaftsbereiches eines Konventionsstaats geschehen oder einen nicht seiner faktischen Herrschaftsgewalt im Sinne des Art. 1 M R K zuzurechnenden Sachverhalt außerhalb seines Staatsgebiets betreffen 6 4 , können ihm „ratione loci" nicht zugerechnet werden 65 . Zuzurechnen sind ihm aber Handlungen innerstaatlicher Organe, wenn diese in Mißachtung der staatlichen Schutzpflicht zur Verletzung der Konventionsrechte des Betroffenen durch einen Drittstaat beitragen können, wie etwa die Abschiebung in einen Staat, in dem den Betroffenen Folter droht 6 6 . Unzulässig ratione personae sind Beschwerden, wenn der Beschwerdeführer nicht parteifähig oder nicht prozeßfähig ist oder wenn ihm die Opfereigenschaft fehlt, aber auch, wenn der Beschwerdegegner nicht durch die Konvention gebunden ist, etwa wenn sie sich gegen einen Staat oder eine internationale Organisation richten, die nicht Vertragspartei der Menschenrechtskonvention oder des geltend gemachten Zusatzprotokolls ist, wie etwa die Europäischen Gemeinschaften 6 7 oder wenn das beanstandete Verhalten dem beklagten Staat nicht zurechenbar ist 68 . Unzulässig „ratione materiae" sind Beschwerden, deren Beschwerdegegenstand überhaupt nicht in den Schutzbereich der Konvention fällt 69 , etwa, weil sie kein in dieser oder in einem Zusatzprotokoll gewährleistetes Recht betreffen 70 oder aber weil das in Anspruch genommene Konventionsrecht den betreffenden Staat nicht bindet, weil dieser insoweit einen wirksamen Vorbehalt erklärt hat oder dem fraglichen Zusatzprotokoll nicht beigetreten ist 71 .

2. Beschwerdeberechtigung 23

a) Beschwerdeberechtigt ist jede natürliche Person, ferner nichtstaatliche Organisationen oder Personengruppen, die behaupten in einem in dieser Konvention oder deren Zusatzprotokollen anerkannten Recht verletzt zu sein (Art. 34 M R K ) 7 2 . Der Begriff nichtstaatliche Organisationen schließt alle staatlichen Körperschaften aus, auch die 62

Vgl EGMR 27.3.1962 De Becker/Belg (Serie A 4); zur Abgrenzung vgl. Grabemvarter § 13, 48. Villiger HdB 108. 64 Vgl. etwa E G M R 23.3.1995 Loizidou/Türk (ÖJZ 1995 593). 65 Vgl. EGMR 12.12.2001 Bancovic/ Belg u.a. (NJW 2003 413); I-rowein/Peukert Art. 27 a.F, 22; TntKommEMRK-«o»ie Art.27 a . F 79 ff; Villiger HdB 107; Grabemvarler § 13, 43, 44; zu den hier bestehenden Fragen vgl. auch Art. 1 Rdn. 14. «' Vgl, etwa EGMR 7.7.1989 Soering/GB (EuGRZ 1989 314); 6.2.2003 Mamatkulow, Abdurasulovic/ Türk (EuGRZ 2003 704); Meyer-Ladewig Art. 1, 5; Art. 3, 19, 20. 67 Etwa Grabemvarter § 13 Rdn. 41 [Villiger HdB 106; vgl. auch Einf. Rdn. 45. 68 Etwa Grabemvarter § 13 Rdn. 42; Art. 35, 28; Meyer-Ladewig Art. 34, 10; Art. 35, 28; Villiger HdB 105. 69 Vgl. die Beispiele aus der Praxis der ehem. EKMR bei Villiger HdB 109. 70 Grabenwarier § 13 Rdn. 49, 50; der auch darauf hin63

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weist, daß es mitunter schwierig ist, zu entscheiden, ob eine Beschwerde ratione materiae unzulässig ist, weil sie offensichtlich nicht in den Schutzbereich der beanspruchten Konventionsgarantie fällt oder ob sie offensichtlich unbegründet ist, weil die Sachprüfung ergibt, daß diese nicht verletzt ist. Vgl. auch Rdn. 27. Vgl. I-rowein/Peukert Art.27 a.F, 22; TntKommEMRK-Äogge Art.27 a . F 74 ff; Villiger HdB 103; Einf. Rdn. 29. Bei Fehlen einer Konventionspflicht des in Anspruch genommenen Staates überschneiden sich die Unzulässigkeitsgründe rationae materiae und ratione personis, wenn letzterer, wie dies mitunter geschieht, auch bei Fehlen der Passivlegitimation des beklagten Staates verwendet wird. Die Grundsätze, die für die Zulässigkeit der früher an die Europäische Menschenrechtskommission zu richtenden Beschwerde nach Art. 24 ff MRK a . F entwickelt wurden, sind auf die jetzt unmittelbar an den Gerichtshof zu richtende Beschwerde übertragbar.

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

kommunalen Gebietskörperschaften 7 3 oder sonstige Stellen, die staatliche Funktionen im weiten Sinn ausüben 7 4 . Im übrigen ist der Begriff entsprechend dem Schutzzweck der Konvention weit auszulegen. Juristische Personen des Privatrechts fallen ebenso darunter wie auch nicht rechtsfähige Vereine, Handelsgesellschaften oder sonstige privatrechtliche Zusammenschlüsse 75 , ferner Parteien 76 , Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften mit Ausnahme der Staatskirchen 77 . Beschwerdeberechtigt sind auch sonstige Personengruppen, die nicht besonders organisiert sein müssen 78 . Solche Gruppen und nichtstaatliche Organisationen haben das Beschwerderecht aber immer nur insoweit, als sie Rechte geltend machen, die ihnen auch als Zusammenschluß zustehen, weil auch dieser selbst und nicht nur seine Mitglieder Träger des jeweils beanspruchten Konventionsrechts ist 79 , wie dies etwa bei der Glaubens-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit oder der Eigentumsgarantie des Art. 1 des 1. ZP angenommen wird 80 . Konventionsrechte, die ein Zusammenschluß nicht auch selbst hat, kann er weder für sich selbst noch im Namen seiner Mitglieder geltend machen 8 1 , so etwa die Menschenrechte, die nur ein einzelner als Person haben kann 8 2 . b) Die Fähigkeit, als Partei vor dem Gerichtshof aufzutreten, hängt nicht von der Geschäftsfähigkeit nach dem jeweiligen nationalen Recht 83 oder der Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedstaat ab 84 , sondern allein davon, ob die Person Träger eines eigenen Konventionsrechts ist 85 . Eine besondere Prozeßfähigkeit setzt die M R K nicht voraus 86 . Sie wird im Interesse des Menschenrechtsschutzes allen Betroffenen zuerkannt, die ein Mindestmaß der dafür erforderlichen Postulationsfähigkeit besitzen. Auch Minderjährige 87 oder Entmündigte 88 können selbst beschwerdeberechtigt sein. Wer nicht prozeßfähig ist, muß sein Recht durch einen Vertreter wahrnehmen 8 9 . Nach Art. 45 VerfO können die beschwerdeberechtigten Personen oder Personengruppen die Beschwerde zunächst selbst einreichen oder sich dabei durch einen zugelassenen Rechtsbeistand mit Wohnsitz in einem der Vertragsstaaten vertreten lassen, bei Zulassung durch den Kammerpräsidenten ist auch eine andere Person zur Vertretung befugt (Art. 36 Abs. 4 VerfO) 90 . 73

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IntKommEMRK-Äogfi.» Art. 25 a . F 136; Villiger HdB 101. Vgl. Grabenwarter § 13 Rdn. 8; Meyer-Ladewig Art. 34, 7; Peters 238. Grabemvarter § 13 Rdn. 8; TntKommEMRK-Ro^e Art. 25 a . F 129 ff. Villiger H d ß 101; auch eine innerstaatlich aufgehobene Partei bleibt beschwerdefähig FroweinlPeukeri Art. 25 a . F 17; Klein ZRP 2001 397; Iiogge EuGRZ 1996 341, 344. TntKommEMRK-Äo^e Art. 25 a. F 137 (auch wenn sie Körperschaften des öffentlichen Rechts sind). TntKommEMRK-«oise Art. 25 a. F 125. Vgl. im einzelnen FroweinlPeukeri Art. 25, 15 ff; IntKommEMRK-Äogfi.» Alt. 25 a.F, 125 ff; MeyerLadewig Art. 34, 8; Malscher EuGRZ 1982 493. Etwa EGMR 27. 6.2000 Cha'are Shalom We Tsedek/F (ÖJZ 2001 774); 13.12.2001 Metropolitenkirche von Bessarabien/Moldavien; Meyer-Ladewig Art. 34, 9; Villiger HdB 101. Etwa EKMR EuGRZ 1997 616 (Scientology/D); E G M R 25.5.2000 Noak u.a./D („Homo" NVwZ 2001 307 L). Grabemvarter § 13 Rdn. 8; TntKommEMRK-Ro^e Art. 25 a . F 138 ff; Villiger HdB 101 (wie ζ.Β Ehefreiheit Art. 12 MRK).

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Etwa EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EGMR NJW 1979 2449); 24.10.1979 Winterwerp/NdL(EuGRZ 1979 650). Zur Prozeßfähigkeit FroweinlPeukeri Art. 25 a.F, 18; Delvaux in Maier Menschenrechtsschutz 40. EGMR 28.11.1978 Luedicke, Belkacem u.a./D (EuGRZ 1979 36); I n t K o m m E M R K - Ä o ^ e Art. 25 a.F, 119. FroweinlPeukeri 25 a . F 9 ff; IntKommEMRKRogge Art. 25 a. F 121 ff, auch zu der von der Kommission often gelassenen Frage, ob der nasciturus konventionsrechtsfähig ist. vgl. EKMR Brüggemann u.a. (EuGRZ 1978 199); Paton (EuGRZ 1981 20); und zur Tragweite des Art. 2 IntKommEMRKLagodny Art. 2, Rdn. 25 ff mit weit. Nachw. Meyer-Ladewig Art. 34, 5; vgl. Rdn. 19. EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (EGMR NJW 1979 2449); 13.7.2000 Scazzari & Giunta/T (ÖJZ 2002 74). E G M R 24.10.1979 Winterwerp (EuGRZ 1979 650). FroweinlPeukeri Art. 25 a . F 18; IntKommEMRKRogge Art. 25 a. F Rdn. 147. Vgl. Rdn. 19.

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren 25

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

c) Verletzung eines eigenen Konventionsrechts. Die Individualbeschwerde ist keine Popularklage zur abstrakten Normenkontrolle 9 1 , sie wird grundsätzlich nur demjenigen eingeräumt, der schlüssig behauptet, im konkreten Fall selbst „Opfer" der Verletzung eines eigenen Konventionsrechts („victim of a violation", „victime d'une violation") durch den jeweiligen Mitgliedstaat geworden zu sein 92 . Der Beschwerdeführer muß dartun, daß er nach Inkrafttreten der Konvention 9 3 durch ein hoheitliches Handeln oder Unterlassen eines Mitgliedstaates in einem von der Konvention garantierten Recht 94 unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Beschwer) 95 . Der Nachweis eines Schadens ist dafür nicht erforderlich 96 , wohl aber eine unmittelbare Beeinträchtigung in einem Konventionsrecht; dies liegt auch dann vor, wenn die in das Recht eingreifende Maßnahme bestandskräftig angeordnet, aber noch nicht vollzogen ist 97 . Es kann bereits genügen, wenn der Beschwerdeführer die Wahrscheinlichkeit, daß er in einem Konventionsrecht verletzt wird, durch plausible und überzeugende Gründe aufzeigt 973 , vor allem wenn eine schwerwiegende Verletzung eines solchen Rechts mit irreparablen Schäden zu erwarten ist 98 . Die bloße Möglichkeit einer entfernten, mittelbaren Auswirkung auf ein geschütztes Konventionsrecht reicht aber nicht aus 99 . Die (anfechtbare) Anordnung, ein Land zu verlassen, wurde nicht als ausreichend angesehen, um die Opfereigenschaft zu begründen, wenn noch keine Ausweisungsverfügung ergangen ist 100 , wohl aber die Anordnung der Abschiebung in ein Land, in dem nachweisbar eine gegen Art. 3 M R K verstoßende Behandlung droht 1 0 1 . Nur ausnahmsweise genügt in den Fällen, in denen dem Beschwerdeführer der konkrete Nachweis eines direkten Eingriffs in sein Konventionsrecht nicht möglich oder nicht zumutbar ist, wie etwa bei geheimen staatlichen Maßnahmen der Telefon- oder Postüberwachung, daß er die Wahrscheinlichkeit aufzeigt, wonach er Opfer eines solchen Eingriffs geworden sein kann 1 0 2 . Bei Maßnahmen gegen ein Wirtschaftsunternehmen können Miteigentümer, Gesellschafter und auch in ihren

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Grabenwarter § 13 Rdn. 13; Meyer-Ladewig Art. 34, 11. EGMR 27.6.2000 Tlhan/Türk (ECHR 2000-VIT); Grabenwarter § 13 Rdn. 13 ff; Meyer-Lüdewig Art. 34, 11; Villiger H d ß 102. „Keine Rückwirkung" Im Komm KM R Art. 25, 14 (Beanstandung davor liegender Verstöße „ratione temporis" unzulässig), vgl. Rdn. 22. Dies ist ζ. Β ratione materiae nicht der Fall, wenn er ein Verfahren beanstandet, das weder einen Streit über zvilrechtliche Ansprüche oder eine strafrechtliche Anklage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 M R K betrifft, wie etwa Einreise, Aufenthalt oder Ausweisung von Ausländern, vgl. EGMR 5.10.2000 Maaouia/F (ÖJZ 2001 109); 11.7.2001 Aronica/D (EuGRZ 2002 514). E G M R 28.10.1999 Brumarescu/Rum (ECHR 1999-V11); FroweinlPeukert Art. 25 a. Ε 20; JntKommEMRK-«offi;e Art. 25 a.F, 207; Meyer-Ladewig Art. 34, 11. Etwa EGMR 18.6.1971 belg. Landstreicher/Belg (Series A 12); 13.6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 454); 18.12.1986 Johnston u.a./lrl (EuGRZ 1987 313); 28. 3.1990 Groppera Radio AG u. a./CH (EuGRZ 1990 255); 25.6.1992 Lüdi/CH (EuGRZ 1992 300); 25.6.1996 Amuur/F (EuGRZ 1996 584); 26.8.1997 Balmer-Schafroth/CH (EuGRZ 1999 183); FroweinlPeukert Art.25 a . F 37; Grabenwarter § 13 Rdn. 13; Villiger HdB 149.

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FroweinlPeukert Art. 25 a . F 21; Grabenwarter § 13 Rdn. 14, 16; TntKommEMRK-Rogge Art. 25 a . F 221; Villiger Hdb 149. »' ••> E G M R 10.3.2004 Senator Lines GmbH/15 EUStaaten (EuGRZ 2004 279). 98 E G M R 7. 7.1989 Soering/GB (EuGRZ 1989 314); Froweinl Peukert Art. 25 a . F 21, Grabenwarter § 13 Rdn. 14. » EGMR 23.6.1981 Le Cornpte u.a./B (EuGRZ 1981 552); 21.9.1994 Fayed/GB (ÖJZ 1995 436); 28.9.1995 Masson u. a./NdL (ÖJZ 1996 191); 26.8. 1997 Balmer-Schafroth/CH (EuGRZ 1999 183: Betriebsbewilligung für Atomkraftwerk); 29.5.2001 Okonkwo/Ö (ÖJZ 2001 816, nicht erzwingbares Aufenthaltsverbot); Froweinl Peukert Art. 25 a. F 20, 21; Grabenwarter § 13 Rdn. 13. E G M R 27.8.1992 Vijayanathan & Pusparajah/F (ÖJZ 1993 101). 1,11

1112

Etwa EGMR 7.7.1989 Soering/GB (NJW 1990 2138); 10.3.2004 Senator Lines GmbH/Ö (EuGRZ 2004 279: verneinend); vgl. auch EGMR 6.2.2003 Mamatkulow, Abdurasulovic/Türk (EuGRZ 2003 704). E G M R 6.9.1978 Klass/D (EuGRZ 1979 278); 2.8. 1984 Malone/GB (EuGRZ 1985 17); 4.5.2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74), vgl. auch EKMR bei Strasser EuGRZ 1990 199; Froweinl Peukert Art. 25 a.F, 20; Grabenwarter § 13 Rdn. 16.

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

Vermögensverhältnissen unmittelbar beeinträchtigte Angehörige Opfer sein 103 . Bei juristischen Personen sind in der Regel nur diese selbst beschwert und nicht ihre Teilhaber (Aktionäre) 104 . Gesetzliche Regelungen begründen für sich allein in der Regel noch keine unmittelbare Betroffenheit; diese tritt erst mit dem direkten behördlichen Eingriff durch einen Vollzugsakt ein 105 . Ausnahmsweise kann jedoch die Gesetzeslage über das abstrakte und virtuelle Betroffensein hinaus den Beschwerdeführer in der Ausübung eines Konventionsrechts bereits unmittelbar beeinträchtigen. Dies kann der Fall sein bei ihn betreffenden Statusregelungen 106 oder bei Regelungen, die in sein Recht auf private Lebensgestaltung so unmittelbar eingreifen, daß ihm nicht zugemutet werden kann, vor einer Konventionsbeschwerde erst ein innerstaatliches Verfahren, etwa ein Strafverfahren, hinzunehmen 1 0 7 . Erfordert der Schutz eines Konventionsrechts, daß der Staat entsprechende Gesetze erläßt, kann derjenige, der dadurch in seinen Rechten konkret beeinträchtigt ist, sich auch gegen eine in der Untätigkeit liegende Verletzung der staatlichen Schutzpflicht mit der Beschwerde wenden l 0 8 . Zum Wegfall der Opfereigenschaft vgl. Rdn. 28. Neben den unmittelbar verletzten Personen sind in begrenztem Umfang auch mittel- 2 6 bar Betroffene beschwerdeberechtigt, wenn sie selbst in einem eigenen Konventionsrecht mitbeeinträchtigt sind und ein eigenes Interesse an der Beendigung einer auch sie beschwerenden Verletzung der Rechte eines anderen haben 109 . Auch ein Elternteil oder ein natürlicher Vater, der nach nationalem Recht nicht befugt ist, sein Kind zu vertreten, kann im Namen des Kindes dessen Interessen vor dem E G M R wahren 110 . Nach dem Tode des unmittelbar Verletzten können nahe Angehörige das Verfahren weiterführen, wenn sie ein berechtigtes Interesse daran haben, so auch, wenn sie durch die behauptete Konventionsverletzung auch ihrerseits materiell 111 oder wegen einer nahen persönlichen Beziehung zum eigentlichen Opfer auch immateriell selbst betroffen sind" 2 . Die Witwe" 3 oder die Eltern 114 oder sonstige nahe Angehörige eines Getöteten 1 1 5 werden wegen der

1113 11,4

105 106

11,7

Meyer-Ladewig Art. 34, 11. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 34, 14 unter Hinweis auf einem vom EGMR (26.10.2000 G. J/Luxemburg) entschiedenen Ausnahmefall einer in Liquidation befindlichen und selbst nicht mehr handlungsfähigen GmbH). Grabenwarter § 13 Rdn. 16. So etwa über die Rechtsstellung unehelicher Kinder E G M R 13. 6.1979 Marckx/Belg (NJW 1979 2449). EGMR 13.6.1979 Marckx/Belg (NJW 1979 2449); 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); 18.12.1986 Johnston/Irl (EuGRZ 1987 315); 26.10.1988 Norris/lrl (EuGRZ 1992 477); 25.6. 1992 Lüdi/CH (EuGRZ 1992 300); 19.10.1992 Open Door and Dublin Well Woman/lrl (EuGRZ 1992 484); 22.4.1993 Modinos/Zyp (ÖJZ 1993 821); 25.6.1996 Amuur/F (EuGRZ 1996 584); 26. 8. 1997 Balmer-Schafroth/CH (EuGRZ 1999 183); Frowein!Peukert Art. 25 a. F 37; IntKommEMRKRogge Art. 25 a. Ε 215; Meyer-Ladewig Art. 34, 11; Villiger HdB 152 je mit Beispielen. Auch der UN-AMR läßt die Individualbeschwerde nach Art. 2 FP-1PBPR zu, wenn das Risiko, eine Beeinträchtigung zu erfahren, mehr als nur eine theoretische Möglichkeit darstellt (EuGRZ 1981 392 maurizische Frauen); vgl. Nowak Art. 2 FP, 6; Tardu FS Partsch 294.

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108

E G M R 13.6.1979 Marckx/Belg (NJW 1979 2449); 26.3.1985 X & Y/N dl (EuGRZ 1985 297); vgl. auch Villiger HdB 176. 109 Vgl. IntKommEMRK-«( W -< Art. 25 a.F, 216 ff; ferner Delvaux in Maier Menschenrechtsschutz 42; 57 ff; Matscher EuGRZ 1982 494; Nowak Art. 2 FP, 7 (indirekte Opfer). "» Vgl. etwa EGMR 6.12.2001 Petersen/D (NJW 2003 1921). 111 Vgl. Froweinl Peukert Art. 25 a.F, 13 (Beschwer als Erben durch die materiellen Nachteile einer Konventionsverletzung); Grabenwarter § 13 Rdn. 5 (auch die Aussicht auf Entschädigung nach Art. 41 M R K rechnet dazu); Villiger HdB 100 (Übertragbarkeit des Streitgegenstandes). 112 Etwa EGMR 7.12.2000 Craxi/I; EKMR EuGRZ 1987 410; bei Strasser EuGRZ 1989 461; Frowein! Peukert Art. 25 a.F, 13; 14; Grabenwarter § 13 Rdn. 6, 17; IntKommEMRK-Äogfi.» 116; 124; Vogler ZStW 89 (1977) 761. 113 Etwa E G M R 27.6.2000 Salman/Türk (NJW 2001 2001); Meyer-Ladewig Art. 34, 12. 114 EGMR 20.5.1999 Ogur/Türk (NJW 2001 1991); 5.10. 1999 Grams/D (NJW 2001 1989). 115 E G M R 2.9.1988 Yasa/Türk (Rep. 1998-1V: Neffe/ Onkel).

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

von diesem erlittenen schweren Konventionsverletzung (Art. 2 oder 3 M R K ) an Stelle des unmittelbar Betroffenen auch selbst als mittelbar betroffen angesehen, vor allem auch, wenn das eigentliche Opfer wegen seiner Lage zur Wahrung seiner Interessen außerstande ist und die beschwerdeführenden Personen wegen ihres persönlichen Verhältnisses zum Opfer dafür ausreichend autorisiert erscheinen 116 . Nicht entscheidend ist auch hier, ob sie nach dem nationalen Recht zur gesetzlichen Vertretung des unmittelbar Betroffenen berufen sind 117 . Ob sie dabei in ihrer Eigenschaft als indirektes Opfer eine eigene Beschwer oder kraft einer zuerkannten Vertretungsbefugnis eine fremde Beschwer geltend machen, wurde manchmal nicht unterschieden. Obwohl die primäre Aufgabe des E G M R die Entscheidung der vor ihn gebrachten Individualbeschwerde des Betroffenen nach Art. 34 M R K ist, hält er sich in Ausnahmefällen für befugt, nach dem Tod des Beschwerdeführer auch bei Fehlen eines zur Fortführung des Verfahrens Berechtigten diese nicht nach Art. 37 M R K in der Liste zu streichen sondern es weiter zu führen, wenn es eine wichtige Frage von allgemeinem Interesse betrifft und die Achtung der Menschenrechte dies verlangt, um den Schutzstandard der Konvention zu erhellen, zu sichern und fortzuentwickeln 118 . 27

Beschwerden von Personen, die Konventionsverletzungen in bezug auf fremde Personen oder die Verletzung eines nicht von der Konvention garantierten Rechts behaupten, sind unzulässig. Sie sind mit der Konvention ratione personae bzw. materiae unvereinbar i. S. von Art. 35 Abs. 3 MRK 1 1 9 .

28

d) Fortdauer der Beschwer. Die Konventionsverletzung muß den Beschwerdeführer in irgendeiner Form noch beschweren, ein bleibender Schaden braucht ihm daraus nicht erwachsen zu sein 120 . Ob der Beschwerdeführer sachlich beschwert ist, wird mitunter erst im Rahmen der sachlichen Überprüfung der Beschwerde entschieden 121 . Das Rechtsschutzbedürfnis muß fortbestehen. Die Beschwerde ist „ratione personae" unzulässig, wenn die Beschwer bereits innerstaatlich vollständig behoben ist, ζ. B. wenn der Angeklagte, dessen Verteidigungsrecht verletzt wurde, freigesprochen worden ist 122 oder wenn die Ausweisungsentscheidung von der zuständigen Behörde aufgehoben wurde 123 . Welche innerstaatlichen Abhilfemaßnahmen die Beschwer beseitigen, hängt von der Art des verletzten Konventionsrechts und der (spezifischen) Wirkung der staatlichen M a ß n a h m e ab, die den Verstoß beendet oder ihn ausgeglichen hat 124 . Dabei ist von Bedeutung, daß hierbei deutlich gemacht wird, daß dies im Hinblick auf die Konventionsgarantie oder einer ihr inhaltlich gleichkommenden innerstaatlichen Gewährleistung geschieht 125 . Der

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Vgl. FroweinlFeukert Art. 25 a.F, 27; Grabenwarter § 13 Rdn. 17; lntKommEMRK-Äo®£' Art. 25 a.F, 216, 218; Meyer-Ladewig Art. 34, 12 je mit weit. Nachw. Zur Praxis des UN-AMR Nowak Art. 2 FP, 10; 11; Tardu FS Partsch 296. E G M R 13.7.2000 Scazzari & Giunta/1 (ÖJZ 2002 74; Eltern, auch wenn Elternrechte suspendiert). Etwa E G M R 18.1.1978 lrland/GB (EuGRZ 1979 149); 24.7.2003 Karner/Ö (ÖJZ 2004 36); Grabenwarter § 13 Rdn. 6, 7. Vgl. Rdn. 22; Villiger HdB 102. EGMR 21.6.1983 Eckle (EuGRZ 1983 371); 10.12. 1982 Corigliano/1 (EuGRZ 1985 585); 22.5.1984 De Jong u.a./NdL (EuGRZ 1985 700); Froweinl Fenken Art. 25 a. F, 17. FroweinlPeukert Art. 25 a. F, 33. Vgl. etwa EKMR ÖJZ 1994 531; EGMR 30.1. 2001 Holzinger/Ö (ÖJZ 2001 478); 10. 3.2004 Sena-

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tor Lines GmbH/Ö u.a. (EuGRZ 2004 279 vom EuG aufgehobene Geldbuße); FroweinlPeukert Art. 25 a.F, 22, 28, TntKomm E M R K - 8 o s c Art. 25 a.F, 222; Villiger HdB 150. EGMR 11.10.2001 Kalantari/D (Rep. 2001-X); Meyer-Ladewig Put. 34, 15. FroweinlPeukert Art. 25 a.F, 22; vgl. aber Fenken EuGRZ 1979 262. Meyer-Ladewig Art. 34, 16 mit weit. Nachw. aus der Rechtspr. des EGMR. Vgl. auch Froweinl Peukert Art. 25 a.F, 23, wonach der EGMR bei einseitigen Abhilfemaßnahmen eine zumindest konkludente Anerkennung der Rechtsverletzung neben der Wiedergutmachung verlangt; wird die überlange Verfahrensdauer bereits innerstaatlich ausgeglichen, muß Umfang und Art. der Kompensation ausdrücklich aufgezeigt werden, vgl. Art. 6 MRK Rdn. 84; Peukert EuGRZ 1979 263. Nach Tnt-

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Verfahren MRK

Umstand allein, daß eine beschwerende staatliche M a ß n a h m e sich später erledigt hat, etwa, weil sie bereits vollzogen ist und in Zukunft keine neue gleichartige Beeinträchtigung mehr zu erwarten ist, beseitigt für sich allein nicht notwendig schon das Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen an der Feststellung der Konventionsverletzung 126 . Bei nachträglichen Maßnahmen zur innerstaatlichen Kompensation einer als solcher nicht mehr reparablen Konventionsverletzung ist in der Regel erforderlich, daß der Staat ausdrücklich oder zumindest materiell eine solche Verletzung anerkennt und eine angemessene Wiedergutmachung dafür leistet 127 ; so etwa, wenn dies ausdrücklich in einem Verfahren geschieht, in dem den Betroffenen eine angemessene Entschädigung für eine konventionswidrige Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 5 M R K zuerkannt wurde 128 . 3. Die formalen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Beschwerde a) Einlegungsfrist. Die Individualbeschwerde muß binnen sechs Monaten nach der 2 9 endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingelegt werden, das ist die Entscheidung, mit der innerstaatlich der Rechtsweg erschöpft ist (Art. 35 Abs. 1 M R K ) . Maßgebend ist die endgültige Entscheidung der Hauptsache, auch in bezug auf Zwischenentscheidungen, die bereits früher unanfechtbar geworden sind 129 . Die Frist beginnt grundsätzlich mit der Verkündung oder Zustellung der mit Gründen versehenen Entscheidung 130 . Ist eine Zustellung vorgeschrieben, beginnt sie mit der Zustellung 131 , andernfalls mit dem Zeitpunkt, von dem an die Parteien von der schriftlich abgefaßten Entscheidung und ihren Gründen Kenntnis nehmen können, in der Regel also mit dem Datum der Ausfertigung der Entscheidung 132 . Bei einer im innerstaatlichen Recht nicht anfechtbaren Maßnahme beginnt sie mit dem Zeitpunkt, in dem diese Maßnahme ausgeführt und abgeschlossen wurde. Bei einer Entscheidung über Dauer der Untersuchungshaft läßt der E G M R die Sechsmonatsfrist mit dem Ende der Untersuchungshaft beginnen l33 . Die Einlegung eines unzulässigen oder zur Abhilfe der Konventionsverletzung völlig ungeeigneten innerstaatlichen Rechtsbehelfs verlängert die Frist nicht 134 . Ist jedoch zweifelhaft, ob ein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Abhilfe der Konventionsverletzung geeignet ist, kann dem zur Erschöpfung des Rechtswegs verpflichteten Betroffenen nicht angelastet werden, daß er zunächst die innerstaatliche Bereinigung versucht hat. Auch wenn dieser Rechtsbehelf als unzulässig abgewiesen wird, beginnt dann ausnahmsweise die Frist erst mit dessen Erledigung, allerdings nur, wenn dessen völlige Ineffektivität für den Beschwerdeführer nicht bereits vorher ersichtlich wurde 135 . Bei einem konventionswidrigen

KommEMRK-iiiigjc Art. 25 a. F, 222 ist die innerstaatliche Feststellung der Konventionsverletzung für den Wegfall der Beschwer i. d. R. nicht notwendig, in Ausnahmefallen kann sie als immaterieller Ausgleich dafür von Bedeutung sein; vgl. auch Rdn. 71 („ausreichende Kompensation"). 126 Frowein/Peukert Art. 24 a. F, 24. 127 E G M R 15.7.1982 Eckle/D (EuGRZ 1983 378); 25.6.1992 Lüdi/CH (EuGRZ 1992 300) 25. 6.1996 Amuur/F (ÖJZ 1996 956); 4.5.2000 Rotaru/Rum (ÖJZ 2001 74); vgl. auch Villiger HdB 150; ferner Art. 6 MRK Rdn. 85 ff. '-S EGMR 6.4.2000 Labita/f (Rep. 2000 fV), vgl. Kühne/Exter StV 2002 384, Meyer-Ladewig Art. 34, 15 mit weit. Nachw. 129 E G M R 23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 220), unter Hinweis auf die Verfahrenswirtschaftlichkeit. (631)

130

1,1

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135

FroweinlPeukert Art. 26 a.F; 36; Grabenwarter § 13 Rdn. 36; IntKommEMRK-Äo^e Art. 26 a. F, 28; vgl. auch E K M R NJW 1988 1441 und nachf. Fußn. Etwa E G M R 29. 8.1997 Worm/Ö (ÖJZ 1998 35); 25. 3. 1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325). EGMR 25.3.1999 Papachelas/Griech (NVwZ 1999 1325); Grabenwarter § 13 Rdn. 36; Meyer-Ladewig Art. 35, 21; Villiger HdB 142 je mit weit. Nachw. E G M R 5.4.2001 Priebke/1 (EuGRZ 2001 387). FroweinlL'eukerl Art. 26 a. F, 45; Meyer-Ladewig Art. 34,20; Villger HdB 144. Vgl. Grabenwarter § 13 Rdn. 37, der rät, zur Vermeidung von Nachteilen die Beschwerde zum E G M R gleichzeitig mit dem zweifelhaften Rechtsbehelf einzulegen, ebenso Villiger HdB 145.

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MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Dauerzustand beginnt die Einlegungsfrist erst mit dessen Beendigung 136 ; mit diesem Dauerzustand verbundene Vorgänge, die für sich sechs Monate vor der Beschwerdeeinlegung beendet waren, berücksichtigt der E G M R dann aber nicht 137 . Ein Dauerzustand wird aber nicht angenommen, wenn nur die Folgen einer abgeschlossenen Entscheidung fortdauern 1 3 8 . Steht die endgültige innerstaatliche Entscheidung noch aus, ist eine bereits vorher erhobene Beschwerde zum E G M R verfrüht und daher unzulässig 139 . 30

Zur Fristwahrung genügt es, wenn das Datum des ersten Schreibens, in dem der wesentliche Beschwerdegegenstand zusammenfassend dargestellt wird, die Frist eingehalten hat (vgl. Art. 47 Abs. 5 VerfO: „Datum der Beschwerdeerhebung") 140 ; etwas anderes kann aber gelten, wenn die Beschwerde lange Zeit danach nicht vervollständigt wird 141 . Der Gerichtshof kann entscheiden, daß ein anderes Datum gilt, wenn er dies für gerechtfertigt hält (Art. 47 Abs. 5 Satz 2 VerfO) 142 , so etwa, wenn der Beschwerdeführer bei Fristablauf die Konventionsverletzung noch nicht rügen konnte, weil sie ihm bei Ablauf der Frist noch unbekannt war 143 . Im übrigen ist für das fristgerechte Einreichen von Schriftsätzen und Unterlagen das belegte Datum der Absendung (Poststempel) maßgebend, falls ein solches fehlt, das Datum des Eingangs bei der Kanzlei (Art. 38 Abs. 2 VerfO) 144 .

31

b) Form. Die Individualbeschwerde ist schriftlich unter Verwendung eines von der Kanzlei zur Verfügung gestellten Formulars einzureichen, dessen Inhalt in Art. 47 Abs. 1 VerfO im einzelnen festgelegt ist 145 . Dem Formular sind alle einschlägigen Unterlagen (Kopien) beizufügen, insbesondere die Kopien aller Entscheidungen, auf die sich die Beschwerde bezieht und die die Prüfung erlauben, ob nach Art. 35 Abs. 1 M R K der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft und die Sechsmonatsfrist eingehalten ist (Art. 47 Abs. 1 Buchst, h, Abs. 2 VerfO) 146 . Ferner muß der Beschwerdeführer sich darüber erklären, ob er seinen Fall einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Beschwerdeinstanz vorgelegt hat (Art. 47 Abs. 2 Buchst b) l 4 7 . Der Beschwerde sind gegebenenfalls auch Angaben zu einem vom Beschwerdeführer erhobenen Anspruch auf eine gerechte Entschädigung nach Art. 41 M R K beizufügen (Art. 47 Abs. 1 Buchst, g VerfO).

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In der Beschwerde muß der Beschwerdeführer seine vollen Personalien wie Name, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Beruf und Anschrift angeben. Anonyme Beschwer-

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EGMR 23.9.1982 Sporrong/Lörmroth/Schwed (EuGRZ 1983 523); E K M R EuGRZ 1991 260; bei SlrasserlWeber EuGRZ 1988 92, 96; bei Strasser 1990 452; FroweinIPeukerl Art. 26 a.F, 38; MeyerLadewig Art. 35, 22. 137 EGMR 10.5.2001 Zypern/Türkei (ECHR 2001TV); FroweinlPeukert Art. 26 a.F, 50; Grabenwarter § 13 Rdn. 36; Meyer-Ladewig 22 je mit weit. Nachw. 138 Meyer-Ladewig 22; FroweinIPeukerl Art. 26 a.F, 52 (Enteignung). 139 Etwa EGMR 3.6.2003 Graf/Ö (ÖJZ 2003 856); nur wenn die endgültige Entscheidung kurz danach, spätestens aber vor der Zulässigkeitsentscheidung ergangen ist, wurde die Beschwerde als zulässig behandelt, vgl. E G M R 16.7.2001 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 230); Grabenwarter § 13, 22. 14 » EGMR 18.2.1999 Buscarini u.a./San Marino (NJW 1999 2957), EKMR nach EGMR 23.5.1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); FroweinIPeukerl Art. 26 a.F, 40; TntKommEMRK-«ogj;e Art. 26 a.F, 28.

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Vgl. EGMR 18.2.1999 Buscarini u.a./San Marino (NJW 1999 2957); Meyer-Ladewig Art. 35, 23; Williger HdB 143. So E G M R 11.7.2000 Gaillard/F nach Meyer-Ladewig Art. 35, 23; Matscher EuGRZ 1982 498 (für EKMR). Vgl. EKMR bei Strasser EuGRZ 1992 280 (Urteilsgründe, die Verstoß aufzeigen, erst nach Fristablauf zugestellt). Willinger NJW 2001 1238/1239; ferner etwa Grabenwarter § 13 Rdn. 38; Meyer-Ladewig Art. 35, 23. Das Formular, abgedruckt mit Erläuterungen bei Meyer-Ladewig Anhang TV), ist bei der Kanzlei der Gerichtshofs erhältlich. Das Merkblatt ist auch in NJW 1999 1167 abgedruckt. Dazu JntKommEMRK-Äo®£' Art. 25 a. F, 29; ferner Anh. 1, 2a, 2b. Vgl. Rdn. 47.

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

den, deren Verfasser nicht feststellbar ist, sind unzulässig (Art. 35 Abs. 2 Buchst, a MRK) 1 4 8 . Nicht organisierte Personengruppen, die keine vertretungsbefugten besonderen Organe haben, müssen die Personalien ihrer Mitglieder anführen, deren Rechte als verletzt geltend gemacht werden 149 . Soweit weltanschauliche Vereinigungen oder Kirchen oder Verbände ein eigenes Beschwerderecht durch ihre Organe ausüben, brauchen sie die Namen ihrer Mitglieder nicht angeben 150 . Die Angabe der Personalien der sie vertretenden Personen und der Nachweis ihrer Vertretungsbefugnis genügen. Gleiches gilt auch bei Vereinen und juristischen Personen. Der zur Angabe seiner Personalien verpflichtete Beschwerdeführer kann ausführen, 3 3 daß und aus welchen Gründen er nicht wünscht, daß seine Identität entgegen der gewöhnlichen Regel offen gelegt wird. In außergewöhnlichen, gebührend begründeten Fällen kann ihm der Kammerpräsident gestatten, anonym zu bleiben (Art. 47 Abs. 3 VerfO). Die Beschwerde ist vom Beschwerdeführer selbst oder seinem Vertreter zu unter- 3 4 schreiben (Art. 45 Abs. 1 VerfO). Ein Anwaltszwang besteht dafür nicht 151 . Wird ein Beschwerdeführer aber vertreten, so muß der Vertreter eine schriftliche Vollmacht des Vertretenen vorlegen (Art. 45 Abs. 3 VerfO). Die Beschwerde muß nicht in einer der Amtssprachen des Gerichts (Art. 34 Abs. 1 VerfO: englisch oder französisch) abgefaßt sein. Bis zur Entscheidung über die Zulässigkeit kann sich der Beschwerdeführer einer der Amtssprachen eines Mitgliedstaats, also auch der deutschen Sprache, bedienen (Art. 34 Abs. 2 VerfO) 152 , nachher ist dies nur mit Erlaubnis des Kammerpräsidenten zulässig. Gleiches gilt bei einer mündlichen Verhandlung. c) Die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs fordert Art. 35 Abs. 1 M R K in 3 5 Ubereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts 153 . Die dort entwickelten Grundsätze werden auch für die Auslegung des Art. 35 Abs. 1 M R K herangezogen. Es ist der auch für Art. 13 M R K maßgebende Grundgedanke, daß zunächst die sachnäheren nationalen Behörden Gelegenheit haben sollen, der behaupteten Rechtsverletzung innerstaatlich abzuhelfen. Der Betroffene ist deshalb grundsätzlich verpflichtet, vor Anrufung einer internationalen Instanz alle ihm zugänglichen und für eine Abhilfe geeigneten innerstaatlichen rechtlichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen, ganz gleich, ob es sich um den regulären Instanzenzug oder aber um außerordentliche Rechtsbehelfe, wie etwa Verfassungsbeschwerden handelt 154 . Erst wenn dies geschehen ist und er alle zur Wahrung der jeweiligen Konventionsverbürgung innerstaatlich möglichen Anträge gestellt oder die gegebenen Rechtsbehelfe erfolglos ausgeschöpft hat 155 kann er

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IntKommEMRK-Äogfi.» Art. 27 a. F 14 ff. Vgl. Frowein/Peukert Art. 27 a.F, 13, wonach anonyme Beschwerden (an die Kommission) kaum noch vorkamen, da Individualbeschwerden erst registriert wurden, wenn der Beschwerdeführer das ihm übersandte Beschwerdeformular ausgefüllt hatte. FroweinIPeukert Art. 27 a. F, 13. TntKommEMRK-«oise Art. 27 a.F, 17, Villiger HdB 101. Etwa EGMR 18.2.1999 Buscarini/San Marino (NJW 1999 2957); Wittinger NJW 2001 1238, 1239; vgl. oben Rdn. 19. Meyer-Goßner*1 4; Wittinger NJW 2001 1238, 1239, die darauf hinweist, daß die Gewährung von Prozeßhilfen in diesem Anfangsstadium noch nicht möglich ist, vgl. Rdn. 19.

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Grubenwurler § 13 Rdn. 19. Zur klarstellenden Bedeutung dieses Zusatzes FroweinIPeukert 8, ferner Silagi EuGRZ 1980 632, vgl. Nowak Art. 5 FP, 19. Zur Entwicklung und Bedeutung dieses allgemeinen Völkerrechtsgrundsatzes vgl. Delbrück FS Partsch 213; Frnwein EuGRZ 1980 449. Etwa E G M R 28.9.2000 Kalantari/D (N VwZ-Beil. 2001 105). Vgl. etwa EGMR 13.3.1991 Cardot/F (EuGRZ 1992 437); 9.12. 1994 Lopez Ostra/Span (EuGRZ 1995 530 mit Anm. Kley-Struller EuGRZ 1995 507); 19.1.1999 Tameh Adel Allaoui u.a./D (EuGRZ 2002 144); 18.3.2004 Liedermann/O (ÖJZ 2004 737).

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

sich an eine internationale Instanz wenden. Hat er versäumt, auf eine ihm mögliche und zumutbare innerstaatliche Abhilfe der Konventionsverletzung hinzuwirken, kann er diese nicht mehr vor dem E G M R geltend machen. Von der Verpflichtung zur vorgängigen Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe kann abgesehen werden, wenn dem Beschwerdeführer unter den faktisch bestehenden Verhältnissen innerstaatlich keine Rechtsbehelfe zugänglich waren, mit denen er tatsächlich in absehbarer Zeit Abhilfe hätte erlangen können 156 . Nach Ansicht des Gerichtshofs hat Art. 35 Abs. 1 M R K keinen absolut zwingenden Charakter, er ist unter Berücksichtigung der Lage des Beschwerdeführers „mit einer gewissen Geschmeidigkeit und ohne überzogenen Formalismus" anzuwenden; es genügt, wenn dieser die Beschwerdepunkte „wenigstens der Sache nach und in Übereinstimmung mit den Fristen und Formen des nationalen Rechts" vor den nationalen Gerichten gerügt hat 157 . 36

In Art. 2 Art. 5 Abs. 2 Buchst, b FP-IPBPR fehlt die Bezugnahme auf die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts; dafür wird dort jedoch ausdrücklich hervorgehoben, daß nur die dem Betroffenen verfügbaren und nicht unangemessen lange dauernden Rechtsmittelverfahren ausgeschöpft werden müssen 158 .

37

Völlig aussichtslose (ineffektive) Rechtsbehelfe zu ergreifen, verlangt auch Art. 35 M R K in Ubereinstimmung mit den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts nicht. Dies gilt für Rechtsbehelfe, die zwar theoretisch möglich sind, für die es aber keine innerstaatliche Praxis gibt 159 oder die keine Durchsetzung des eigentlichen Anliegens ermöglichen 160 . Rechtsbehelfe, bei denen im Zeitpunkt, in dem sie einzulegen gewesen wären, im Hinblick auf eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung keinerlei Aussicht auf Erfolg bestand, brauchen nicht ergriffen werden 161 . Bei einer fortdauernden oder wiederholten Verletzung ist die wiederholte Einlegung desselben Rechtsmittels nicht notwendig, wenn dies wegen der gleichgebliebenen Umstände nur zu einer Wiederholung der bereits früher ergangenen Entscheidung führen würde 162 . Daß ein Rechtsbehelf zweifelhaft ist und kaum Erfolgsaussichten hat, entbindet grundsätzlich nicht von der Notwendigkeit, ihn auszuschöpfen 163 . Dies gilt auch für die grundsätzlich gebotene Ausschöpfung aller verfügbaren Rechtsmittel164. Wenn allerdings der Beschwerdeführer durch Vorlage einschlägiger Gerichtsentscheidungen oder durch andere geeignete Beweise aufzeigen kann, daß ein Rechtsbehelf offensichtlich ohne jede Erfolgsaussicht gewesen wäre, kann seine Durchführung nicht verlangt werden 165 . Maßgebend ist aber nicht die abstrakte innerstaatliche Rechtslage sondern der Einzelfall mit all seinen Besonderhei-

Frowein!Peukert Art. 26 a. F, 8; Meyer-Ladewig Art. 35, 7. E G M R 22.4.1992 Castells/Span (ÖJZ 1992 802); 1.1.1999 Fressoz, Roire/F (NJW 1999 1315); 27. 6. 2000 Salman/Türk (2001 2001); Grabemvarter § 13 Rdn. 20 (maßgebend persönliche Lage des Beschwerdeführers);, Meyer-Ladewig Art. 35, 8. Ebenso Art. 21 Abs. 1 Buchst, c; Art. 22 Abs. 5 Buchst, b UN-Antifolterkonvention; zu den Unterschieden zwischen 1PBPR und M R K SchauppIlaag 6 ff, 68 ff. EGMR 22. 5.1984 De Jong u.a./Ndl (EuGRZ 1985 700); 18.12.1986 Johnston/Irl (EuGRZ 1987 313) die erforderliche Zugänglichkeit und Effektivität fehlt dann. E G M R 19.2.1998 Guerra u.a./l (EuGRZ 1999 188 Information über Umweltrisiken einer Chemiefabrik).

Froweinl Peukert zu Art. 26 a. F 23; Matscher EuGRZ 1982 497. FroweinlPeukert Art. 26 a. F, 15; Grabenwarter § 13 Rdn. 30. Vgl. etwa EGMR 6.11.1980 Van Oosterwijck/Belg (NJW 1982 497); 2.12.1999 Tome Mota/Port (NJW 2001 2692); 19.11.1999 Allaoui/D (EuGRZ 2002 144); Matscher EuGRZ 1982 497; Meyer-Goßner41 2; Meyer-Ladewig Art. 35, 7; vgl. UN-AMR bei Tardu FS Partsch 298. EGMR 19.1.1999 Tarneh Adel Allaoui u.a./D (EuGRZ 2002 144); 19.3.2002 Milosevic/Ndl (EuGRZ 2002 131). E G M R 19.1.1999 Tameh Adel Allaoui u.a./D (EuGRZ 2002 144).

Stand: 1.10.2004

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ten. Art. 35 M R K mutet dem Beschwerdeführer nicht zu, innerstaatliche Rechtsbehelfe zu ergreifen, die ihm bei Berücksichtigung seiner Lage nicht zumutbar sind oder von denen im Hinblick auf die Konventionsgarantie keine effektive Abhilfe zu erwarten ist 166 . Dies gilt auch, wenn sich die zuständige staatliche Behörde weigert, einem innerstaatlichen Urteil zugunsten des Beschwerdeführers nachzukommen 1 6 7 . Gleiches gilt für sonstige Fälle der Unzumutbarkeit des Bemühens um eine innerstaatliche Abhilfe, so wenn der Betroffene innerstaatliche Repressalien zu befürchten hat 168 , aber auch, wenn der Verletzte durch staatliche Organe gehindert wurde, einen innerstaatlichen Rechtsbehelf einzulegen l69 . Auch eine unvertretbar lange Verfahrensdauer kann einen zum Zwecke innerstaatlicher Abhilfe ergriffenen Rechtsbehelf ineffektiv machen; dem Beschwerdeführer ist dann nicht mehr zuzumuten, die innerstaatliche Entscheidung abzuwarten. Der E G M R fühlt sich nicht gehindert, über die Dauer eines Verfahrens zu entscheiden, das innerstaatlich noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist 170 . Als vorrangige innerstaatliche Abhilfemöglichkeiten kommen aber nur gerichtliche 3 8 oder administrative Rechtsbehelfe in Betracht, die der Beschwerdeführer selbst auslösen kann 1 7 1 und die in der Sache nicht nur theoretisch sondern auch in der Praxis eine echte und effektive Prüfung der Konventionsverletzung und gegebenenfalls eine wirksame Abhilfe erlauben 172 . Die innerstaatlichen Rechtsbehelfe und Antragsmöglichkeiten, müssen sowohl „horizontal", also durch Geltendmachung aller behaupteten Konventionsverletzungen wenigstens der Sache nach ausgeschöpft werden als auch „vertikal" durch Ausschöpfen des innerstaatlichen Rechtsmittelsystems 173 , des normalen Instanzenzugs sowie aller geeigneten besonderen Zwischenrechtsbehelfe 174 und alle sonstigen Antragsmöglichkeiten 175 . Der Betroffene muß alle rechtlichen Möglichkeiten, die ihm normalerweise zugänglich sind, ergreifen, um Konventionsrechte unmittelbar oder aber unter Berufung auf damit inhaltlich übereinstimmendes nationales Recht unter Beachtung der innerstaatlichen Verfahrensvorschriften zur Geltung zu bringen. Sein Rechtsbehelf muß geeignet sein, eine sachliche Überprüfung der (behaupteten) Konventionsverletzung



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Vgl. EGMR 6.11.1980 van Oosterwijk/Belg (EuGRZ 1981 275); 28.7.1999 Selmoimi/F (NJW 2001 56 : keine Strafanzeige bei mangelnder Verfolgungsbereitschaft); 27.6.2000 Salman/Türk (NJW 2001 2001); E K M R EuGRZ 1979 74 (Caprino); FroweinlPeukert zu Art. 26 a. F, 21 ff; Meyer-Ladewig Art. 35, 8. EGMR 25.3.1999 Tatridis/Griech. (EuGRZ 1999 316). FroweinlPeukerl Art. 26 a. F, 39. Vgl. Grabenwarter § 13 Rdn. 59; ferner die ausdrückliche Regelung in Art. 5 Abs. 2 Buchst, b FP-TPBPR und in Art. 21 Abs. 1 Buchst, c, Art. 22 Abs. 5 Buchst, b UN-Antifolterkonvention; EKMR nach FroweinlPeukert zu Art. 26 a. F, 39; Nowak Art. 5 FP, 25. E G M R 24.1.2002 Goretzki/D (EuGRZ 2002 325 mit weit. Nachw.); E K M R bei Strasser EuGRZ 1985 435 (18 Jahre Verfahrensdauer); Froweinl Peukert zu Art. 26 a. F, 17, 40; Meyer-Ladewig Art. 35, 9; zur Pflicht, noch während des laufenden Verfahrens die Verfahrensverzögerung mit dazu geeigneten innerstaatlichen Rechtsbehelfen zu beanstanden; vgl. auch Rdn. 38. Vgl. EKMR bei Strasser EuGRZ 1985 320. Vgl. etwa EGMR 18.6.1971 De Wilde u.a./Belg

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(Serie 12: „Belg. Landstreicher"); 9.10.1979 Airey/ Tri (EuGRZ 1979 626); 6.11.1980 Van Oosterwijck/Belg (NJW 1982 497); 19.3.1991 Cardot/F (EuGRZ 1992 437); 29.11.1991 Pine Valley Devellopments/Irl. (ÖJZ 1992 459); 20.5.1999 Ogur/ Türk (NJW 2001 1991); E K M R EuGRZ 1979 74 (Keine umfassende Haftprüfung in GB); Froweinl Peukert Art. 26 a. F, 8; Meyer-Ladewig Art. 35, 7; Meyer-Ladewig 22. Schaupp-llaag 29 mit weit. Nachw. 173

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Vgl. E K M R EuGRZ 1983 55 (Oberstes Rückerstattungsgericht); Grabenwarter § 17 Rdn. 23 ff, 33 ff; Schaupp-IIaag 180 ff (Berufsgerichtsbarkeit). So vor allem die in verschiedenen Staaten bestehenden Möglichkeiten, noch während des laufenden Verfahrens die Verletzung des Beschleunigungsgebot zu rügen, vgl. etwa E G M R 2.12.1999 Thome Mota/Port NJW 2001 2692); 30.1.2001 Basic/Ö (ÖJZ 2001 517); ferner Rdn. 38; Art. 6 MRK Rdn. 85; Art. 13 Rdn. 6c ff je mit weit. Nachw. Vgl. etwa EGMR 23.4.1997 Stallinger u.a./Ö (ÖJZ 1997 755 Antrag auf mündliche Verhandlung); 25.9.2001 Untei-guggenberger/Ö (ÖJZ 2002 272 Unterlassen von Beschwerde und Anträgen); vgl. Art. 6 Rdn. 85 ff.

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herbeizuführen mit dem Ziel, ihr abzuhelfen oder einen anderweitigen Ausgleich zu schaffen l 7 6 . In Betracht kommen etwa der Antrag auf mündliche Verhandlung oder auf Verweisung an das zuständige Gericht oder die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder die Nachholung des rechtlichen Gehörs, aber auch die Stellung erforderlicher Beweisanträge 1 7 7 oder die Geltendmachung eines unbeachtet gebliebenen Angriffs- oder Verteidigungsmittels in der nächsten Instanz 178 oder die Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit 179 , ferner auch die Beantragung von Prozeßkostenhilfe oder eine Schadensersatz· 180 oder Amtshaftungsklage 1 8 1 oder eine Strafanzeige 182 , wobei es auch ausreichen kann, wenn das Ermittlungsverfahren durch die Anzeige einer anderen Person eingeleitet wurde 183 , ferner die Möglichkeit, einem späteren Strafverfahren als Nebenkläger beizutreten 184 . Bei einer überlangenVerfahrensdauer müssen zunächst die Rechtsbehelfe ergriffen werden, die das jeweilige nationale Recht innerstaatlich zur Abhilfe oder Kompensation eines solchen Verstoßes vorsieht 185 . 39

Der Rechtsbehelf muß ernsthaft unter Angabe aller ihn tragenden Gründe verfolgt werden. Eine Haftbeschwerde, die nur formell erhoben, materiell aber nicht begründet wurde, hat der E G M R als zur Erschöpfung des Rechtswegs nicht ausreichend angesehen 186. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist kein vorher zu erschöpfender Rechtsbehelf 187 . Es ist auch nicht notwendig, daß der Betroffene vor Erhebung der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 bis 4 M R K neben den innerstaatlichen Rechtsbehelfen gegen die Anordnung dieser Haft zusätzlich innerstaatlich auch bereits einen Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 5 geltend gemacht hat 188 . Die Opfereigenschaft entfällt aber dann, wenn mit der Entschädigung zugleich die ausdrückliche staatliche Anerkenntnis der Konventionsverletzung und eine Wiedergutmachung des gerügten Konventionsverstoßes verbunden ist 189 .

40

Das Konventionsrecht muß wenigstens der Substanz nach mit dem innerstaatlichen Rechtsbehelf bereits fristgerecht und unter Beachtung aller Erfordernisse des innerstaatlichen Verfahrensrechts, also aller Fristen und Formen und aller sachlichen Begründungserfordernisse, geltend gemacht worden sein 190 . Die Berufung auf ein in seinem 176

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E G M R 6.11.1980 van Oosterwijk/B (NJW 1980 275); FroweinIPeukert Art. 26 a.F, 10 ff; MeyerLadewig Art. 35, 7: Vogler ZStW 89 (1977) 792. EGMR 19.3. 1991 Cardot/F (EuGRZ 1992437). FroweinIPeukert Art. 26 a.F, 12 mit weit. Beispielen. E K M R nach FroweinIPeukert Art. 26 a. F, 12; Fenken EuGRZ 1980 249 mit weit. Nachw. vgl. aber auch E G M R 24.5.1989 Hausehildt/Dän (EuGRZ 1993 122; nicht nötig, wenn nicht erfolgversprechend). Vgl. EGMR 5. 10.1999 Gonzalez /Span (NJW 2001 2691: Schadensersatz wegen unangemessener Verfahrensdauer). Es hängt aber vom Rechtsschutzziel des Betroffenen ab, ob diesem mit einer Staatshaftungsklage voll genüge getan werden kann, vgl. Grabenwarter §13 Rdn.28 unter Hinweis auf EGMR 19.3.1997 Hornsby/Griech (ÖJZ 1998 236); 25. 3.1999 latridis/Griech (EuGRZ 1999 316). Vgl. FroweinIPeukert Art. 26 a. F, 14; Villiger HdB 116.

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Vgl. EGMR 20.5.1999 Ogur/Türk (NJW 2001 1991); 28.7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56, nur, wenn mit Nachdruck verfolgt). FroweinIPeukert Art. 26 a.F, 14; ferner Schaupp-IIaag 165 ff, die diese Spruchpraxis ablehnt, da im Strafverfahren

gegen einen Dritten keine effektive Behebung der Konventionsverletzung liegt; es dürfte auf den Einzelfall ankommen. 183 Vgl. EGMR 20.5.1999 Ogur/Türk (NJW 2001 1991; Arbeitgeber des Getöteten; Meyer-Ladewig Art. 35, 6. 184 Vgl. E G M R 28. 7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56: Möglichkeit als Privatkläger dem durch die Anzeige eingeleiteten Strafverfahren beizutreten). 185 EGMR 5.10.1999 Gonzales Marin/Span (NJW 2001 2691); 2.12.1999 Tome Mota/Port (NJW 2001 2692); 30.1.2001 Holzinger/Ö (ÖJZ 2001 479); 30.1.2001 Basic/Ö (ÖJZ 2001 517); 30. 5.2003 A/Ö (ÖJZ 2004 35); Meyer- Ladewig An. 35, 9; Art. 13, 20 ff. ι«' EGMR 20.1.2000 Yahiaoui/F; 30.5.2000 FavreClemont/F, vgl. Kühne/liser StV 2002 383, 384. 187 Scheuner FS Jahrreiß 571; Vogler ZStW 89 (1977) 792; Meyer-Goßner47 2; im Grundsatz auch Sehuupp-Huug 153 ff mit Nachweisen der wechselnden Spruchpraxis der EKMR. i® EGMR 6.4.2000 Labita/I, vgl. Külmellisser StV 2002 384. 189 Kühne/lisser StV 2002 384, vgl. vorst. Fußn. "» E G M R 19.3.1991 Cardot/F (EuGRZ 1992 437).

Stand: 1.10.2004

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Schutzumfang damit übereinstimmendes innerstaatliches Recht genügt 191 . Die förmliche Anführung der M R K ist nicht erforderlich 192 , sie ist jedoch zweckmäßig, weil es den Nachweis erleichtert, daß der Rechtsbehelf der Sache nach auch die Verletzung eines in der Konvention geschützten Rechtes betraf. Wo die Konvention als innerstaatliches Recht gilt, wird die ausdrückliche Berufung auf das Konventionsrecht verschiedentlich sogar für notwendig gehalten 193 . Ein innerstaatlicher Rechtsbehelf, der rechtlich oder faktisch keinen effektiven Rechtsschutz wegen der Konventionsverletzung gewähren kann, braucht nicht beschritten zu werden 194 ; etwa, wenn von vorneherein ersichtlich ist, daß der Rechtsbehelf wegen der innerstaatlichen Rechtslage keinen Erfolg haben kann 1 9 5 , so auch, wenn die Instanz, die angerufen werden könnte, eine zu eingeschränkte Prüfungskompetenz hat, ihr also eine umfassende Überprüfung der behaupteten Konventionsverletzung nicht möglich ist 196 . Der innerstaatliche Instanzenzug ist stets zu erschöpfen. Er muß unter Beachtung aller 41 dafür vorgeschriebenen Fristen und Formen voll ausgeschöpft werden, dies gilt auch, wenn eine Rechtsmittelinstanz nur eine auf Rechtsfragen beschränkten Prüfungsbefugnis hat 1 9 7 oder wenn für ein bestimmtes Rechtsmittel erst die Zulassung beantragt werden muß 1 9 8 . Sieht das nationale Recht mehrere verschiedene Rechtsbehelfe vor, hängt es von den Umständen ab, ob alle neben- oder nacheinander beschritten werden müssen Kann Abhilfe der Konventionsverletzung über verschiedene, unabhängig nebeneinander bestehende Rechtsbehelfe erreicht werden, wird es in der Regel genügen, wenn derjenige gewählt und bis zur letzten Instanz verfolgt wird, der die größte Effektivität verspricht 200 . Neben diesem braucht ein Rechtsbehelf, der im konkreten Fall kaum bessere Erfolgsaussichten hat, nicht zusätzlich beschritten zu werden 201 . Fehlt ein wirksamer Rechtsbehelf mit dem einem Konventionsverstoß nach innerstaatlichem Recht sicher abgeholfen werden kann 2 0 2 , etwa, weil sich die Rüge darauf bezieht, daß das innerstaat-

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EGMR 6.11.1980 Guzzardi/T (NJW 1984 544); 28.6.1986 Glasenapp/D (EuGRZ 1986 497); 23.4. 1992 Castells/Span (ÖJZ 1992 803); 21.1.1999 Fressoz, Roire/F (NJW 1999 1315); FroweinIPeukert Art. 26, a.F, 13, 21; Meyer-Ladewig Art. 35, 15; Villiger HdB 135. Vgl. EGMR 21.1.1999 Fressoz, Roire/F (NJW 1999 1315; ferner FroweinIPeukert Art.26 MRK a.F, 20. Meyer-Goßner47 2, sowie Vorst. Fußn. Vgl. E G M R 6.11.1980 van Oosterwijck/Belg (NJW 1982 491: wenn sonst nationales Recht keine Rechtsgrundlage bietet); Guradze Art. 26, 7; FroweinIPeukert Art. 26, 14, 21 (trotz Grundsatz iura novit curia kann eindeutiges Argumentieren mit dem als verletzt bezeichneten Recht nötig sein), Grahenwarter § 13 Rdn. 32; anders Guradze 7; Schumann Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen (1963) 175 Anm. 24.

EGMR 21.1.1999 Fressoz, Roire/F (NJW 1999 1315); 28.9.1999 Civet/F (NJW 2001 54) beide franz. Kassationshof. 158 Vgl. etwa E K M R ÖJZ 1996 718; vgl. FroweinIPeukert Art. 26 a. F, 22. 199 FroweinIPeukert Art. 26 a.F, 23, mit Nachw. vgl. aber EGMR 27.8.1992 Tomasi/F (EuGRZ 1994 101; Ansprüche in Voraussetzungen nicht identisch); 23.11.1993 A/F (ÖJZ 1994 392 nicht, wenn keine besseren Erfolgschancen). ™ E G M R 27.8.1992 Tomasi/F (EuGRZ 1994 101); 25.2. 1993 Miailhe/F (Series A 256-C); 23.11. 1993 A/F (ÖJZ 1993 392); 26.9.1996 Manoussakis/ Griech (Rep. 1996-IV; dazu Fahrenhorst EuGRZ 1996 633); FroweinIPeukert Art. 26 a.F, 23; Grabenwarter § 17 Rdn. 27; Villiger HdB 116; SchauppHaag 38 ff mit Nachweisen der Spruchpraxis der EKMR, die anfangs die Ausschöpfung aller parallelen Rechtsbehelfe verlangte.

Vgl. etwa EGMR 20. 5.1999 Ogur/Türk (NJW 2001 1991; auf Gefährdungshaftung gestützter Schadensersatz unzureichend, um Verantwortliche des Konventionsverstoßes - Tötung - zu belangen), 28.7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56). Vgl. EGMR 13.2.2003 Odievre/F (NJW 2003 2145). Vgl. EKMR EuGRZ 1979 74 (Keine Befugnis zur umfassender Haftprüfung in GB).

201

EGMR 25.2.1993 Cremieux/F (ÖJZ 1993 534; Unterlassen eines Rechtsmittels, das im wesentlichen zum gleichen Ergebnis geführt hätte); 29.4. 1999 Aquilina/Malta (NJW 2001 51); Villiger HdB

202

Vgl. EGMR 18.2. 1999 Buscarini u.a./San Marino (NJW 1999 2957; keine Anrufung der Zivilgerichte gegen Parlamentsentscheidung).

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

liehe Recht kein den Anforderungen der Konvention genügendes Rechtsschutzverfahren kennt 203 , erübrigt sich die Frage der Erschöpfung des Rechtswegs204. Gesuche, die keinen Rechtsanspruch des Betroffenen auf Prüfung in der Sache und keinen Anspruch auf Abhilfe durch die angerufene Stelle auslösen, wie mitunter Dienstaufsichtsbeschwerden gegen abgeschlossene Eingriffe205 oder die Anrufung eines Ombudsmanns 206 oder Gnadengesuche oder Petitionen an ein Parlament207 oder bei einer Rechtsverletzung durch positives Handeln des Staates Klagen gegen Privatpersonen 208 sind keine effektiven Rechtsbehelfe. Sie brauchen deshalb nicht ausgeschöpft zu werden209. Ob Gegenvorstellungen gegen eine Entscheidung stets entbehrlich sind, erscheint fraglich, da sie, ebenso wie bei Verfassungsverstößen, je nach der Sachlage auch ein geeignetes Mittel zur Behebung bestimmter Konventionsverstöße sein können 210 . Wenn der Rechtsbehelf eines Betroffenen bereits abgelehnt wurde, braucht eine von der gleichen Maßnahme betroffene zweite Person nicht auch nochmals für sich selbst den gleichen Rechtsbehelf wiederholen 2 ". 42

Zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs gehört nach der vorherrschenden Meinung auch die Anrufung des Verfassungsgerichts. Stimmt, wie meist, die in Betracht kommende Konventionsverbürgung inhaltlich mit einem Grundrecht des Grundgesetzes überein, muß der Beschwerdeführer vorher das Bundesverfassungsgericht form- und fristgerecht anrufen 212 . Scheitert die Verfassungsbeschwerde an der mangelnden Substantiierung des Beschwerdevortrags oder auch, weil schon vorher im innerstaatlichen Verfahren die Grundrechtsverletzung nicht zureichend gerügt worden war, ist auch der Rechtsweg nach Art. 35 Abs. 1 M R K nicht erschöpft 213 . Ob von der Verfassungsbeschwerde immer Abstand genommen werden darf, wenn sie in einer gleichgelagerten anderen Sache schon verworfen worden ist, erscheint in dieser Allgemeinheit fraglich 214 , vor allem, wenn es sich um eine länger zurückliegende einzelne Entscheidung handelt und die Rechtsprechung sich fortentwickelt hat. Beim Nachweis einer bis in die jüngste Zeit hinein bestätigten ständigen Rechtsprechung wird dagegen vom Beschwerdeführer nicht zu verlangen sein, daß er nochmals eine Entscheidung des Verfassungsgerichts herbeiführt. Sofern das nationale Recht dem Beschwerdeführer kein Recht einräumt, selbst das Verfassungsgericht zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes anzurufen und diese Befugnis nur dem erkennenden Gericht zuerkennt, ist es zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges nicht erforderlich, daß der Beschwerdeführer beim erkennenden Gericht einen solchen Antrag stellt215. 2,13

So wenn das Fehlen eines Rechtsbehelfs (Art. 13 MRK) gerügt wird, vgl. EKMR bei Straser EuGRZ 1991 298. 204 E K M R bei Strasser EuGRZ 1988 506. 205 E K M R EuGRZ 1979 346; FroweinlPeukerl Art. 26 a.E, 34; Meyer-Ladewig Alt. 35, 14. Vgl. SehauppIlaag 176 ff mit Nachweisen zur unterschiedlichen Spruchpraxis des EKMR; Meyer-Goßner47 2 sieht wohl allgemein in der Dienstaufsichtsbeschwerde einen wirksamen Rechtsbehelf. 206 E G M R 23.5.2001 Denizci/Zyp (ECHR 2001-V); Grabenwaner § 13 Rdn. 27 mit weit. Nachw. 207 Froweinl Peukert Art. 26 a.F, 37; Villiger HdB 131; wegen weitere Beispiele vgl. Art. 13 MRK Rdn. 21 a ff. 208 EGMR 29.11. 1991 Pine Valley Developments Ltd/ Irl (ÖJZ 1992 459). 2l » FroweinlPeukerl Art. 26 a.F, 22; Peukert EuGRZ 1979 263, vgl. auch Nowak Art. 5 FP, 22. 21,1 Bejahend unter Hinweis auf BVerfG NIW 1983

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215

1990; 1987 1319 Meyer-Ladewig Art. 35, 14 in Ablehnung von FroweinlPeukert Art. 26 a.F, 34 und den dort erwähnten Entscheidungen der E K M R . E G M R 25.2.1992 Pfeifer, Plankl/Ö (EuGRZ 1992 99: Maßnahme der Briefkontrolle); vgl. auch E G M R 20. 5.1999 Ogur/Türk (NJW 2001 1991). EGMR 19. 1.1999 Tameh Adel Allaoui/D (EuGRZ 2002 144); EKMR NJW 1956 1376; EuGRZ 1987 321; Vogler ZStW 82 (1970) 743; FroweinlPeukert Art. 26 a.F, 24 ff; Meyer-Goßner47 2; Peukert EuGRZ 1979 261; 1980 249; a.A Schaupp-Haag 85 ff mit weit. Nachw. zum Streitstand. EKMR NJW 1988 1441; Meyer-Goßner*1 2. So aber EKMR nach Vogler ZStW 89 (1977) 792; Krey JA 1983 641; Meyer-Goßner47 2; vgl. andererseits die bei FroweinlPeukerl zu Art. 26 a. F, 24 geschilderte Praxis der E K M R sowie E G M R 19.12. 1989 Brozicek/I (Series A 167). E G M R 19.12.1989 Brozicek/I (Series A 167); 26.9.

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In eigenen persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers liegende Umstände, wie 4 3 Rechtsunkenntnis, falsche Beratung, Krankheit, Mittellosigkeit, entbinden ihn dagegen nicht von der Verpflichtung zur Erschöpfung des Rechtswegs 216 . Desgleichen geht es zu seinen Lasten, wenn er nicht form- und fristgerecht alle Verfahrensbefugnisse des nationalen Rechts nutzt, die bei sorgfältiger Prozeßführung zur Durchsetzung des betroffenen Konventionsrechts sachdienlich sein können, so wenn er im laufenden Verfahren eine ihm mögliche Beanstandung eines Verstoßes unterläßt, oder sie wegen einer nicht formoder fristgerechten Rüge oder eines sonstigen Verfahrensfehlers verliert 217 . Versäumnisse im nationalen Rechtsschutzverfahren können vor den internationalen Instanzen nicht nachgeholt werden 218 . Die Erschöpfung des Rechtswegs wird vom Gerichtshof von Amts wegen geprüft. 4 4 Maßgebend dafür, welche Rechtsbehelfe dem Beschwerdeführer zur Verfügung standen, ist die jeweilige innerstaatliche Rechtslage im Zeitpunkt des Eingangs der Beschwerde beim Gerichtshof. Werden im innerstaatlichen Recht erst danach neue Rechtsbehelfe geschaffen, berührte dies nach früherer Auffassung die Zulässigkeit der bereits eingegangenen Beschwerde nicht mehr 219 , während jetzt der E G M R auch die spätere Änderung der innerstaatlichen Rechtslage berücksichtigt und bei Prüfung der Rechtswegerschöpfung darauf abzustellen scheint, ob die Konventionsverletzung auf Grund geänderter Rechtslage jetzt bei einer nationalen Instanz noch geltend gemacht werden kann21911. Die Beschwerde ist auch zulässig, wenn die endgültige innerstaatliche Entscheidung erst nach ihrem Eingang bei Gerichtshof ergeht, sofern diese nur bei dessen Entscheidung über ihre Zulässigkeit vorliegt 220 . Unklarheiten über Existenz und Tragweite eines innerstaatlichen Rechtswegs selbst aufzuklären, ist der Gerichtshof nicht verpflichtet. Wenn der beklagten Staat die Einrede erhebt, der Rechtsweg sei nicht erschöpft, muß er zur Überzeugung des Gerichtshofs aufzeigen, mit welchen ihm zugänglichen innerstaatlichen Rechtsbehelfen der Beschwerdeführer nicht nur theoretisch sondern auch praktisch mit realen Erfolgsaussichten hätte Abhilfe erreichen können 221 . Er muß spätestens bei seiner Stellungnahme zur Zulässigkeit 222 hinreichend klar und detailliert nachweisen, daß und welche innerstaatlich wirksamen und praktisch auch zugänglichen Rechtsbehelfe im Hinblick auf die behauptete Konventionsverletzung bestanden haben 223 , sowie, daß der Beschwerdeführer sie nicht ausgeschöpft hat, obwohl er sie hätte nutzen können, unter Umständen auch, daß sie im maßgeblichen Zeitpunkt normal funktioniert hätten 2 2 4 .

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1993 Padovani/I (ÖJZ 1993 667); 28.9.1994 Spadea, Scalabrino/T (ÖJZ 1996 189). EKMR nach FroweinlPeukeri zu Art. 26 a. F, 20, 22, 42; Schaupp-IIaag 60 ff; Villiger HdB 120 je mit Nachw. der Spruchpraxis der EKMR. FroweinlPeukeri Art. 26 a. F, 22 mit Hinweis, daß dies nur dann nicht gilt, wenn diese Verfahrensvorschriften mißbräuchlich und willkürlich zum Nachteil des Beschwerdeführers angewandt worden waren; ebenso Villiger HdB 137, 138. Schüupp-Hüüg 41. Etwa FroweinlPeukeri § 26 a. F 4. Vgl. Graben wart er § 13 Rdn. 22; der E G M R weist jetzt auch Beschwerden wegen der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges ab, wenn dieser erst nach der Einlegung der Beschwerde geschaffen wurde, aber auch für frühere Fälle offen steht, wie etwa bei der Beanstandung der überlangen Verfahrensdauer in ftalien. EGMR 16.7.1971 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 236); Grabenwarier § 13 Rdn. 22 mit weit. Nachw.

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Meyer-Ladewig Art. 35, 18. Der Gerichtshof (vgl. etwa 28. 7. 1999 Selmouni/F - NJW 2001 56) führt insoweit die Spruchpraxis der Kommission fort, vgl. dazu FroweinlPeukeri Art. 26 a. F, 7. Vgl. FroweinlPeukeri Art. 26 a. F, 5 (für die Zulässigkeitsprüfung vor der EKMR); ferner Rdn. 57 ff. H . M ; EGMR 27.2.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 669); 22.5.1984 De Jong u.a./NdL (EuGRZ 1985 700); 18.12.1986 Johnston u.a./Irl (EuGRZ 1987 312); 18.12.1986 Bozano/F (EuGRZ 1987 101); 29.4.1999 Aquilina/Malta (NJW 2001 51); 28.7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56); 2.12.1999 Tome, Mota/Port (NJW 2001 2692) je mit weit. Nachw.; FroweinlPeukeri Art. 26 a. F, 5; SchauppIIaag 83; vgl. Nowak Art. 5 FP, 26. E K M R EuGRZ 1976 33 (Cypern); 28. 7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56 Verschleppung mangels Aufklärungsinteresse der Behörden).

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Unterläßt der Staat dieses Vorbringen bei seiner Stellungnahme zur Zulässigkeit, kann er es später nicht mehr nachholen (vgl. Art. 55 VerfO). Erhebt er den Einwand nicht fristgerecht, hat wird er mit ihm ebenso ausgeschlossen wie bei einem Verzicht 225 . Dieser ist dem betroffenen Staat jederzeit möglich 226 . Der Beschwerdeführer seinerseits hat schon bei Einreichen der Beschwerde nach Art. 47 Abs. 1 Buchst, f, h der VerfO darzulegen, welche innerstaatliche Rechtsbehelfe er ergriffen hat; zum Nachweis muß er die Unterlagen darüber (Entscheidungen, Rechtsmittelschriften usw.) beibringen. Beruft sich der Staat auf die Nichterschöpfung des Rechtswegs, muß der Beschwerdeführer seinerseits dartun, weshalb er unter den gegebenen Umständen den vom Staat aufgezeigten Rechtsbehelf nicht einlegen konnte 227 oder weshalb ihm die Einlegung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs nicht möglich oder nicht zumutbar war 228 oder weshalb der von ihm unterlassene, an sich mögliche Rechtsbehelf völlig ineffektiv gewesen wäre 229 , wie etwa wegen der völligen Untätigkeit der Behörden trotz ernsthafter Vorwürfe 230 . 45

d) Wiederholungs- und Kumulationsverbot. Nach Art. 35 Abs. 2 Buchst, b M R K befaßt sich das Gericht nicht mit einer Individualbeschwerde, die mit einer vom Gerichtshof schon geprüften Beschwerde übereinstimmt oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält. Dies soll einer doppelten Prüfung durch internationale Instanzen vorbeugen 231 .

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Eine Beschwerde betrifft inhaltlich denselben Gegenstand, wenn Sachverhalt, Beschwerdegegenstand und Beschwerdeführer identisch sind 232 . Es genügt, wenn ein inhaltsgleiches Gesuch bereits früher Gegenstand einer Sachentscheidung war. Dies ist auch der Fall, wenn sie als offensichtlich unbegründet oder als unvereinbar mit der M R K ratione materiae und damit als unzulässig im Sinne von Art. 35 Abs. 3 M R K zurückgewiesen wurde; auch, wenn das Gericht ihre Zulässigkeit verneint hat, kann dies wegen der vorgenannten Abweisungsgründe eine summarische Sachentscheidung mit einschließen 233 . An der Übereinstimmung mit einer bereits vorher behandelten Beschwerde fehlt es, wenn verschiedene Personen wegen des gleichen Sachverhalts eine Verletzung ihrer eigenen Konventionsrechten geltend machen 234 , wie etwa mehrere Angeklagte oder mehrere Familienmitglieder, aber auch eine Kapitalgesellschaft und ihr Mehrheitsaktionär 2 3 5 . Anders ist es, wenn wegen der gleichen Menschenrechtsverletzung sowohl der unmittelbar Betroffene wie auch der mittelbar Betroffene Individualbeschwerde erheben, sofern nicht jeder damit eigene anerkennenswerte Interessen verfolgt und deshalb zwar eine Identität des Sachverhalts, nicht aber eine Identität der Verletzten besteht 236 .

EGMR 27.2.1980 Deweer/Belg (EuGRZ 1980 669); 13. 5.1980 Artico/I (EuGRZ 1980 662) 10.12. 1982 Foti u.a./l (NJW 1986 647); 10.12.1982 Corigliano/1 (EuGRZ 1985 585); 22.5.1984 De Jong u.a./NdL (EuGRZ 1985 700); 18. 12.1986 Bozano/ F (EuGRZ 1987 101); 25.3.1999 Nicolova/Bulg (NJW 2000 2883); FroweinlPeukert Art. 26 a. F, 5; Villiger HdB 114 („Estoppel"). FroweinlPeukerl Art. 26 a.F, 5 mit weit. Nachw. E G M R 11.10.2000 Jabani/Fürk (ÖJZ 2002 37: Frist von 5 Tagen zu kurz). Vgl. EGMR 11.10.2000 Jabani/Türk (ÖJZ 2002 37). FroweinlPeukerl Art. 26 a. F, 6; vgl. auch Nowak Art. 5 FP, 26. Vgl. E G M R 29.4.1999 Aquilina/Malta (NJW 2001

51); 28.7. 1999 Selmouni/F (NJW 2001 56); 2.12. 1999 Tome, Mota/Port (NJW 2001 2692); MeyerLadewig Art. 35. 18. Zur Entstehungsgeschichte JntKommEMRK-Rogge Art. 27 a. F, 1 ff. TntKommEMRK-«()sse Art. 27 a. F, 22 ff; Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 15; Grabenwarter § 13 Rdn. 55 mit weit. Nachw.; vgl. UN-AMR EuGRZ 1983 407 Fanali); Nowak Art. 5 FP, 12. Vgl. E G M R 23.10.2001 Vogl u.a./Ö (ÖJZ 2002 393 Ablehnung durch EKMR als unzulässig). TntK o r a m E M R K - % f e Art. 27 a. F, 29. FroweinlPeukert Art. 27 a. F, 15. IntKommEMRK-Ä«s>£> Art. 27 a. F. 47. FroweinlPeukert Art. 27 a.F. 15; vgl. E K M R EuGRZ 1975 482; 1982 15 (beide: Hess).

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Das Kumulationsverbot (Grundsatz der „una via electa") soll verhindern, daß in der 4 7 gleichen Sache, also bei Übereinstimmung von Beschwerdeführer, Sachverhalt und Beschwerdegegenstand verschiedene internationale Menschenrechtsschutzverfahren neben oder nacheinander durchgeführt werden. Die Prüfung der im wesentlichen gleichen Sache 237 durch eine andere internationale Instanz steht der Individualbeschwerde nach Art. 35 Abs. 2 Buchst, b M R K vom Beginn der Anhängigkeit an 238 und auch noch nach Erledigung des dortigen Verfahrens 239 entgegen (Verfahrenshindernis), nicht aber, wenn sie dort vor einer Sachentscheidung zurückgenommen worden ist 240 . Ob ein Verfahren vor einer anderen internationalen Instanz entgegensteht, prüft der Gerichtshof von Amts wegen. Der Beschwerdeführer hat sich darüber nach Art. 47 Abs. 2 Buchst, b VerfO bereits bei Einreichen der Beschwerde ausdrücklich zu erklären 241 . Als Verfahren vor anderen internationalen Instanzen werden alle durch völkerrechtliche Vereinbarungen von den Staaten für die Behandlung menschenrechtlicher Streitigkeiten für einen bestimmten Einzelfall oder auch generell errichtete gerichtsähnliche Untersuchungs- oder Streitschlichtungsinstanzen angesehen 242 , wie etwa der Menschenrechtsausschuß des IPBPR 2 4 3 oder der Ausschuß nach Art. 17 ff der UN-Antifolterkonvention 2 4 4 oder der UN-Ausschuß zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung 245 sowie sonstige durch zwischenstaatliche Vereinbarungen eingesetzte Organe, die der einzelne oder sonstige nach Art. 34 M R K Beschwerdeberechtigte zum Schutz individuellen Menschenrechte anrufen können, wie dies etwa auch bei den Rechtsschutzorganen der Internationalen Arbeitsorganisation möglich ist 246 . Verfahren im Rahmen nichtstaatlicher Organisationen haben diese Wirkung nicht 247 , ebenso Verfahren vor innerstaatlichen Schlichtungsorganen248. Der EuGH dürfte wegen seiner anderen Aufgabenstellung nicht als internationale Untersuchungsinstanz von Menschenrechtsverletzungen anzusehen sein, auch wenn er mitunter bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts Fragen der M R K mitentscheidet 249 . e) Erneute Beschwerdeeinlegung. Eine Abweisung aus rein formalen Gründen, etwa 4 8 wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs oder wegen sonstiger formaler Mängel, oder wegen Mißbrauch des Beschwerderechts schließt die erneute Einlegung der Beschwerde nach Behebung des Hindernisses nicht aus 250 . Bei Vorliegen neuer Tatsachen251 befaßt sich das Gericht auch mit bereits von ihm 4 9 oder einem anderen internationalen Gremium behandelten Beschwerden. Dafür genügt

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Es kommt nur ein Verfahren in Betracht, das auf die Untersuchung und Beilegung des konkreten Falls gerichtet ist. die Miterwähnung in einem Staatenbericht, der eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand hat, dürfte das Kumulationsverbot nicht auslösen; vgl. Nowak Art. 5 FP, 9; 13. IntKommEMRK-Äogfi.» Art. 27 a. F, 32. Anders Art. 5 Abs. 2 Buchst, a FP-IPBPR, der nur während der anderweitigen Anhängigkeit die Individualbeschwerde ausschließt; vgl. Rdn. 87. Grabenwarter § 13 Rdn. 57; TntKommEMRK-Rogge Art. 27a.F, 33. IntKommEMRK-Äogfi.» Art. 27 a. F, 34. Vgl. Ermacora FS Verosta 192; IntKommEMRKRogge Art. 27 a.F, 36. Soweit die Mitgliedstaaten sich dessen Kontrollverfahren unterworfen haben; vgl. Erowein!Peukert Art. 27, 12; IntKommEMRK-J?«£g£> Art. 27 a.F, 36; ferner Rdn. 87; Einf Rdn. 33.

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IntKommEMRK-ßogge Art. 27 a. F, 36; vgl. Rdn. 106. IntKommEMRK-ßogge Art. 27 a. F, 36; vgl. Rdn. 102. Weitere Beispiele vgl. Ermacora FS Verosta 192; Tardu FS Partsch 299; ferner Rdn. 96 ff. Vgl. Ermacora FS Verosta 192; Nowak Art. 5 FP, 8. TntKommEMRK-«o»ie Art. 27 a.F, 37 mit Hinweis, daß über die Rechtststellung der Flüchtlinge nach nationalem Recht entschieden wird. Frowein/Fenkerl Art. 27 mit dem Hinweis, daß in der Regel auch die Identität des Streitgegenstandes fehlen wird; ebenso Grabenwarter § 13 Rdn. 57; a.A I n t K o m m E M R K - R o ^ e Art. 27 a.F, 38; der in Rdn. 56 aber auch die Wesensverschiedenheit des Streitgegenstandes aufzeigt. FroweinlFenken Art. 27 a.F, 16; vgl. auch IntKommEMRK-«offi;e Art. 27 a.F, 29, 64, der darin einen erheblichen neuen Sachvortrag im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Buchst b MRK sieht. Dazu Schorn Art. 27, 15; 18.

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aber nicht, daß nur neue Argumente vorgebracht werden (Art. 35 Abs. 2 Buchst, b MRK) 2 5 2 , es muß sich um neue, bei der früheren Entscheidung weder dem Gericht noch dem Beschwerdeführer bekannte Tatsachen 253 handeln. Sie müssen ferner entscheidungserheblich sein 254 . Zu der davon zu unterscheidenden Wiederaufnahme eines durch Urteil des E G M R abgeschlossenen Verfahrens nach Art. 80 VerfO 255 vgl. Rdn. 74. 50

f) Streichung im Register; Wiedereintragung. Der Gerichtshof kann eine Beschwerde jederzeit durch Urteil (Art. 44 Abs. 3 VerfO) im Register streichen, wenn er der Meinung ist, daß der Beschwerdeführer seine Beschwerde nicht weiterverfolgen will, sei es, daß dieser dies selbst erklärt hat, sei es, daß er auf Schreiben des Gerichtshofs nicht reagiert oder angeforderte Unterlagen oder Stellungnahmen nicht fristgerecht einreicht, obwohl er auf die Möglichkeit der Streichung hingewiesen wurde 256 . Mit der Streichung, der nur bei der Staatenbeschwerde die beklagte Partei zustimmen muß 2 5 7 , endet das Verfahren vor dem E G M R . Das Verfahren wird in der Regel auch im Register gestrichen, wenn eine gütliche Einigung erzielt wurde (Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Buchst, b M R K ) oder wenn der Gerichtshof eine weitere Prüfung der Sache aus sonstigen Gründen nicht für gerechtfertigt hält (Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Buchst, c M R K ) , so, weil der Beschwerdeführer verstorben ist und seine nahen Angehörigen das Verfahren nicht weiterbetreiben 258 oder weil sonstige Gründe die weitere Prüfung der Beschwerde nicht erforderlich erscheinen lassen 259 . Dies ist kann auch der Fall sein; wenn der beklagte Staat nach einer gescheiterten Vergleichsverhandlung einseitig die Konventionsverletzung einräumt und angemessenen Schadensersatz anbietet 260 . Der Gerichtshof kann aber stets von der Streichung im Register absehen und das Verfahren fortsetzen, wenn er der Ansicht ist, daß die Achtung der in der Konvention und den Protokollen garantierten Menschenrechte die weitere Prüfung der Beschwerde erfordert (Art. 37 Abs. 1 Satz 2 M R K ) , so, weil der Sachverhalt streitig ist und der beklagte Staat nicht eindeutig die Verantwortung übernommen und sich auch nicht eindeutig zu deren uneingeschränkter Aufklärung verpflichtet hat 261 , ferner auch, wenn er aus sonstigen Gründen die Klärung der aufgeworfenen Fragen im Allgemeininteresse für angezeigt hält 262 oder wenn er an der Freiwilligkeit der Rücknahme der Beschwerde zweifelt 263 . Der Gerichtshof kann von sich aus die Wiedereintragung einer gestrichenen Beschwerde in das Register anordnen, wenn er dies nach den Umständen für gerechtfertigt hält (Art. 37 Abs. 2 M R K ) . Dies kann auch der Fall sein, wenn der Beschwerdeführer nachweisen kann, daß die Annahme des Gerichts, er wolle seine Beschwerde nicht weiter verfolgen, unzutreffend und auch nicht von ihm verschuldet ist 264 .

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Zu Art. 27 a.F, vgl. l-'rowein/Peukert 11; Schorn 15, 16. 253 FroweinIPeukert 11; TtitKommEMRK-Rose Art. 27 a.F, 61 ff. 254 IntKommEMRK-Äogge Art. 27 a. F, 63 ff. 255 In der M R K nicht geregelt, vgl. Meyer-Ladewig Art. 44, 5 ff. 256 Meyer-Ladewig Art. 37, 3 mit weit. Nachw. 257 Art. 44 Abs. 2 VerfO; Grabenwarter § 13 Rdn. 62. 258 Meyer-Ladewig Art. 37, 5 mit weit. Nachw. 2 » Vgl. etwa E G M R 11.10.2001 Ali Reza Kalantari/D (EuGRZ 2002 576); 23.7.2002 Taskin/D (NJW 2003 2003).

2

® Vgl. EGMR 26.6.2001 Akman/Türk (ECHR 2001VI); 6. 5.2003 Tahsin Acar/Türk (NJW 2004 2357); Meyer-Ladewig Art. 37, 6 unter Hinweis auf EGMR. 261 Etwa E G M R 6.5.2003 Tahsin Acar/Türk (NJW 2004 2357). 262 E G M R 25.4.1978 Tyrer/GB (EuGRZ 1979 162) Klärung im Allgemeininteresse; vgl. auch vorst. Fußn. 263 Grabenwarter § 13 Rdn. 63. 264 IntKommEMRK-Äogje Art. 27 a . F 25.

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Verfahren MRK

4. Aus dem Sachvortrag folgende Unzulässigkeitsgründe a) Unvereinbarkeit mit den Konventionsgarantien. Beschwerden sind nach Art. 35 51 Abs. 3 M R K unzulässig, wenn ihr Gegenstand keine Grundlage in der Konvention oder einem ihrer Zusatzprotokolls hat. Das sind Beschwerden, die einen Sachverhalt betreffen, der nicht unter eine Garantie der Konvention oder eines ihrer Zusatzprotokolle fällt oder bei denen dem Beschwerdeführer die Aktivlegitimation oder dem beklagten Staat die Passivlegitimation fehlt 265 , so etwa, weil der Beschwerdeführer ein ihm selbst nicht zustehendes Konventionsrecht beansprucht 266 oder weil dem beklagtem Staat die von einer Privatperson begangene Konventionsverletzung nicht zuzurechnen ist 267 , weil er für deren Verhalten nicht verantwortlich ist 268 . Wegen der einzelnen Unzulässigkeitsgründe vgl. oben Rdn. 22. b) Mißbräuchlich erhobene Beschwerden sind unvereinbar mit der Konvention. Dar- 5 2 unter versteht man Beschwerden, deren Ziel nicht die Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes ist, sondern mit denen der Beschwerdeführer andere, außerhalb des Schutzzwecks der Konvention liegende oder dieser sogar widersprechene Zwecke erreichen will 269 . Unzulässig sind etwa Beschwerden, mit denen der Beschwerdeführer sich nur den Folgen einer von ihm anerkannten Verpflichtung entziehen will 270 oder deren Ziel auch sonst erkennbar nicht die Verfolgung seiner legitimen eigenen Konventionsrechte ist, sondern die er ausschließlich zu Propaganda- oder Reklamezwecken mißbrauchen oder nur zur bewußten Beleidigung und Diskriminierung anderer Personen oder eines Staates und seiner Vertreter verwenden will 271 . Der Umstand allein, daß die Beschwerde in der Öffentlichkeit Beachtung finden und damit auch eine politische Propagandawirkung zugunsten des Beschwerdeführers erreicht werden soll, genügt dafür aber nicht 272 . Unzulässig ist die Ausübung des Beschwerderechts auch bei einem formellen Mißbrauch seines Beschwerderechts, so wenn es durch eine Serie gleichgerichteter offensichtlich unbegründeter und querulatorischer Beschwerden mißbraucht wird 273 oder bei einer offensichtlichen Unverhältnismäßigkeit, so, wenn ein geringfügiger Sachverhalt als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung beanstandet wird 274 . Mißbräuchlich sind auch Beschwerden, die zur Irreführung des Gerichts auf bewußt falsche Angaben gestützt werden 275 oder in denen die Rüge des Beschwerdeführers seinem tatsächlichen Verhalten widerspricht, so etwa, wenn der Beschwerdeführer die Dauer eines Auslieferungsverfahrens beanstandete, obwohl er selbst nichts zu dessen Beschleunigung unternahm und sich der Auslieferung durch die Flucht entzog 276 . 265

FroweinlPeukert Art 27 a . F 22; Art. 25 a . F 9 ff. vgl. IntKommEMRK-Äogge Art. 27 a.F 78 (weit zu verstehen). 2 « EGMR 6.12.2001 Petersen/D (EuGRZ 2002 32: nicht bestehendes Recht). 267 IntKommEMRK-Äogfi.» Art. 27 a. F, 76. 268 Villiger HdB 105. 269 Zu diesen Unvereinbarkeitsgründen nach Art. 27 MRK a.F: Matscher EuGRZ 1982 502; Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 25; TntKommEMRK-Äo^e Art. 27 a. F, 111 („detournement de pouvoir"). 270 Vgl. IntKommEMRK-Äogje Art. 27 a.F, 112, 113 (mit Hinweisen auf die Spruchpraxis der Kommission), wo der Umstand allein, daß der Beschwerdeführer sich den Folgen eines Urteils entziehen will, noch nicht als Mißbrauch gewertet wird. 271 Vgl. auch UN-AMR EuGRZ 1983 409 (Verstoß gegen Art. 20 IPBPR). (643)

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EGMR 1.7.1961 Lawless/Irl (Series A 3): 16.2.1999 Buscarini/San Marino (NJW 1999 2957); Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 26; TntKommEMRK-Ro^e Art. 27 a. F, 113; Meyer-Ladewig Art. 35, 30. Grabenwarter § 13 Rdn. 59; Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 25; IntKommEMRK-Äogje Art. 27 a.F, 123 unter Hinweis auf die Praxis der Kommision. Vgl. E K M R nach IntKommEMRK-Ä«a;£> Art. 27 a.F, 120 (Gebührenpflichtige Verwarnung wegen Überschreiten einer Fahrbahn bei Rotlicht als unmenschliche Behandlung i.S. von Art. 3 MRK). Vgl. Matscher EuGRZ 1982 500; Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 25; IntKommEMRK-Äoa'e Art.27 a.F, 109; Meyer-Ladewig Art. 35, 30; Villiger HdB 242. EKMR nach Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 26; TntK o m m E M R K - f i o ^ i ' Art. 27 a.F, 121.

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren 53

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

c) Offensichtlich unbegründete Beschwerden rechnet Art. 35 Abs. 3 M R K ebenfalls zu den unzulässigen Beschwerden. Offensichtlich unbegründet („manifestly ill-founded", „manifestement mal fondee") sind Beschwerden, deren Prüfung keine Konventionsverletzung erkennen läßt 277 . Dies sind vor allem Beschwerden, bei denen der Tatsachenvortrag die behauptete Konventionsverletzung nicht belegt, weil er nicht schlüssig 278 oder nicht beweisbar oder ersichtlich unzutreffend ist, ferner auch, wenn ersichtlich ist, daß die Konvention den gerügten Eingriff in ein Konventionsrecht zuläßt. Die offensichtliche Unbegründetheit muß sich nicht bereits beim ersten Anschein aufdrängen, der Gerichtshof läßt es - ebenso wie früher die Kommission 279 - genügen, wenn die Unbegründetheit der Beschwerde erst in einem späteren Verfahrensabschnitt nach Überprüfung aller Aspekte des Falls erkennbar wird 280 . Die Praxis des Gerichtshofs zieht diese Grenze ziemlich weit 281 . Danach reicht es schon, wenn bei der Prüfung der Beschwerde unter den geltend gemachten Gesichtspunkten („summa summarum") keine vertretbaren Gründe („arguable claims") für eine Konventionsverletzung sprechen 282 , weil die Beschwerde im Endergebnis keine schwerwiegenden Fragen sachlicher oder rechtlicher Natur aufwirft 283 . Bei der Prüfung wird die bisherige Rechtsprechung berücksichtigt, es wird aber soweit ersichtlich nicht durchwegs darauf abgestellt, ob die jeweiligen Fragen bereits vom Gerichtshof entschieden worden sind 284 . Die Begründung der ablehnenden Entscheidung beschränkt sich mitunter auf eine knappe Pauschalformel 285 , in anderen Fällen werden die Erwägungen, aus denen sich die Unbegründetheit ergibt, ausführlich dargelegt, um dann als Endergebnis die Beschwerde als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig zu bezeichnen. Im Interesse der Verfahrensvereinfachung bleibt die Einstufung einer Beschwerde als offensichtlich unbegründet genauso wie auch die Feststellung der Unzulässigkeit aus sonstigen Gründen während des ganzen Verfahrens allen damit befaßten Spruchkörpern offen. Rationell ist dieses Verfahren vor allem, wenn eine Beschwerde als offensichtlich unbegründet bereits am Beginn des Verfahrens im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung durch einen einstimmigen Beschluß des mit drei Richter besetzten Ausschusses (Art. 28 M R K , Art. 53 Abs. 3 VerfO) verworfen wird oder später, wenn, die zunächst mit der Zulässigkeitsprüfung befaßte Kammer sie durch einen Mehrheitsbeschluß (Art. 54 Abs. 2 VerfO) 286 verwirft, bevor zur Sache verhandelt und der Versuch einer gütlichen Einigung in die Wege geleitet wird. Die Verwerfung ist aber in jedem Stadium des Verfahrens möglich 287 . Sie wird als pauschale Begründungsformel („global formula") auch angewendet, wenn dadurch andere Fragen der Zulässigkeit mit abgedeckt werden sollen288.

277

278 279

28,1 2SI

282

E G M R 9.10.1979 Airey/Trl ( E u G R Z 1979 626); 27.4.1988 Boyle & Rice/GB (Serie A 131); E K M R nach Froweinl Peukert Art. 27 a.F, 23. FroweinlPeukert Art. 27 a.F, 23. Vgl. FroweinlPeukeri Art. 27 a.F, 24; I n t K o m m E M R K - f t w Art.27 a.F, 98 ff. Viüiger H d B 156. Vgl. Grabenwarter § 13 R d n . 51; T n t K o m m E M R K Rogge Art. 27 a.F, 98 ff; („dynamischer Begriff"). Vgl. I n t K o m m E M R K - Ä o « e e Art. 27 a . F 101 ff; ferner etwa die Gleichsetzung in E G M R 21.2.1990 Powell, Rayner/GB (ÖJZ 1990 418: Grenze der offensichtlichen Unbegründetheit bei Unvertretbarkeit des Anspruchs); ob diese Gleichsetzung bei der Ausdehnung der Verwerfung als offensichtlich unbegründet in allen Fällen noch vertretbar ist, erscheint fraglich; vgl. FroweinlPeukeri Art. 13, 2.

28

-' Grabenwarler§ 13 Rdn. 51. 284 Aus der neueren Zeit etwa E G M R 5. 4. 2001 PriebStand:

ke/T ( E u G R Z 2001 387); 10.5.2001 Le Pen/F ( E u G R Z 2001 390); 7.6.2001 P a p o n / F ( E u G R Z 2001 382) 12.7.2001 Ferrazine/T ( N J W 2002 3453); 25.9.2001 Unterguggenberger/Ö (ÖJZ 2002 271); 27.9.2001 Lenz/D ( E u G R Z 2001 484); 27.9.2002 G M B & K M / C H (ÖJZ 2003 77); 4.10.2001 A d a m / D ( E u G R Z 2001 582); 16.10.2001 Einhorn/ F (ÖJZ 2003 34); 23.10.2001 Vogl u.a./Ö (ÖJZ 2001 393); 24.1.2002 Goretzki/D ( E u G R Z 2002 325), 285 286

287 288

21.3.2002 Wingerter/D ( E u G R Z 2002 329). Vgl. Villiger ϋάβ 156. Auf die Diskrepanz die darin liegen kann, wenn trotz divergierender Meinungen die offensichtliche Unbegründetheit festgestellt wird, weist TntKomm E M R K - % s c Art. 27 a.F, 102 hin; vgl. auch E K M R E u G R Z 1975 51. Meyer-Ladewig Art. 34, 31. Grabenwarter § 13 R d n . 53; Villiger H d B 156.

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren M R K

IV. Gang des Individalbeschwerdeverfahrens 1. Einreichen der Beschwerde a) Schriftform. Die Beschwerden müssen schriftlich eingereicht und vom Beschwerde- 5 4 führer oder seinem Vertreter unterschrieben werden. Für nichtstaatliche Organisationen und Personengruppen müssen die vertretungsberechtigten Personen unterschreiben 289 . Bei Vertretung durch einen in den Mitgliedstaaten zugelassenen Anwalt muß dieser eine schriftliche Vollmacht vorlegen (Art. 13 Abs. 3, Art. 45 VerfO). b) Vertretung im Verfahren. Ein Anwaltszwang besteht nicht 290 . Nach Zustellung der 5 5 Beschwerde an den beklagten Staat („Vertragspartei") kann der Kammerpräsident anordnen, daß sich der Beschwerdeführer durch einen in einem Vertragsstaat zugelassenen und dort wohnenden Anwalt vertreten läßt. Er kann auch eine andere Person und auch den Beschwerdeführer selbst zulassen (Art. 36 VerfO). Findet eine mündliche Verhandlung vor einer Kammer statt, muß der Beschwerdeführer grundsätzlich durch einen Anwalt vertreten sein, sofern der Kammerpräsident nichts anderes bestimmt (Art. 36 Abs. 3 VerfO) 291 . Die Vertreter, sowie ein Beschwerdeführer, der sich selbst vertreten will, müssen eine der Amtssprachen des Gerichtshofs (Art. 34 Abs. 1 VerfO: englisch, französisch) hinreichend beherrschen; der Kammerpräsident kann ihnen jedoch den Gebrauch einer anderen Sprache genehmigen (Art. 36 Abs. 5; Art. 34 Abs. 3 VerfO). c) Vorläufige Anordnungen. Die Individualbeschwerde hat, ebenso wie die Staaten- 5 6 beschwerde, keine aufschiebende Wirkung 292 . Der Vertragstext sieht auch nach seiner Umgestaltung durch das 11. ZP eine solche Möglichkeit nicht vor. D a der Gerichtshof erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs mit einer Sache befaßt werden kann und die behauptete Konventionsverletzung längst stattgefunden hat, besteht in der Regel kein zwingendes Bedürfnis nach einer vorläufigen Anordnung. Anders ist dies nur in Einzelfällen, in denen dem Beschwerdeführer das Risiko einer bevorstehenden schwerwiegenden irreparablem Schädigung unmittelbar droht, wie etwa bei der Auslieferung oder Abschiebung in ein Land, in dem er Todesstrafe oder Folter zu gewärtigen hat 293 . U m zu verhüten, daß durch den innerstaatlichen Vollzug einer mit der Beschwerde beanstandeten Maßnahme die behauptete Konventionsverletzung verfestigt und Tatsachen geschaffen werden, die durch eine spätere Entscheidung des Gerichtshof nicht mehr rückgängig gemacht werden können, eröffnet die Verfahrensordnung mehrere Möglichkeiten. Der Kanzler kann mit Genehmigung des Kammerpräsidenten die betroffene Vertragspartei durch jedes verfügbare Mittel vom Eingang der Beschwerde und ihrem Inhalt unterrichten (Art. 40 VerfO), damit diese - so sie das will - durch geeignete innerstaatliche Maßnahmen dafür sorgen kann, daß der späteren Beschwerdeentscheidung nicht vorgegriffen wird. Anders als bei den meisten nationalen Verfassungsgerichten ermächtigt die M R K entsprechend ihrer gesamten Vertragsstruktur den Gerichtshof nicht ausdrücklich zum Erlaß einer bindenden Einstweiligen Anordnung 2 9 4 und damit auch nicht zu einem direkten Eingriff in den Vollzug des nationalen Rechts 295 . 289

Vgl. Rdn. 23 ff. ®» Vgl. Rdn. 19. 291 Wittinger NJW 2001 1238, 1239. 292 Vgl. TntKommEMRK-«()sse Art. 25 a.F.; MeyerLadewig Einl 26; Villiger HdB 201, EGMR Bahaddar/NdL (Rep. 1998 250); ferner etwa BayObLG NJW 1976 1591; High Court of Justiz EuGRZ 1978 521. 293 Oellers-Frahm EuGRZ 2003 689. 29 " TGH 27. 6.2001 D/USA (EuGRZ 2001 387; sog. La (645)

255

Grand Fall) hat eine Verpflichtung der USA zur Beachtung seiner einstweiligen Anordnung nach Art. 41 seines Statuts mit dem Hinweis bejaht, daß dies für die Erfüllung seiner Aufgabe der Beilegung internationaler Streitigkeiten erforderlich sei; dazu Oellers-Frahm EuGRZ 2001 265. E G M R 20.3.1991 Cruz Varas/Schwed (EuGRZ 1991 203), FroweinlPeuken Art. 25 a. F, 52; MeyerLadewig Einl. 26.

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren 56a

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Nach Art. 39 VerfO kann jedoch die zuständige Kammer, oder, wenn sie nicht zusammengetreten ist, auch ihr Präsident allein, auf Antrag eines Betroffenen oder auch von Amts wegen den Parteien vorläufige Maßnahmen empfehlen, sofern sie dies im Interesse einer Partei oder eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs für erforderlich hält. Ein Betroffener sollte den Antrag schriftlich und möglichst frühzeitig stellen und mit detaillierten Angaben über die befürchteten Folgen nach Möglichkeit unter Beifügung von Beweismaterial begründen 296 . Die empfohlenen Maßnahmen können zeitlich befristet 297 sein, sie können die Beweissicherung bezwecken 298 oder dem Beschwerdeführer selbst Auflagen machen 299 ; meistens werden sie aber den Zweck haben, vorsorglich zu verhüten, daß durch die Fortsetzung innerstaatlicher Maßnahmen ein Zustand geschaffen wird, der bei Bejahung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte 300 . Bedeutung erlangt haben solche Fälle vor allen bei Abschiebung oder Auslieferung des Beschwerdeführer in ein Drittland, in dem eine Gefahr für sein Leben oder Folter zu befürchten ist 301 . Die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch das Gericht setzt voraus, das die eingereichte Beschwerde formal zulässig ist und daß es nach der ersten summarischen Prüfung als möglich erscheint, daß sie Erfolg haben kann 3 0 2 . Daß eine Empfehlung der Kammer oder ihres Vorsitzenden nach Art. 39 VerfO die unmittelbare Rechtspflicht des ersuchten Staates begründet, sie zu befolgen, wurde früher verneint 303 ; auch aus dem früher in Art. 25 a. F M R K enthaltenen Behinderungsverbot wurde nicht die generelle Verpflichtung der Staaten zur Befolgung der empfohlenen Maßnahmen hergeleitet 304 . Diese Auffassung hat der E G M R jetzt unter Hinweis auf die Praxis des Menschenrechtsausschusses und des Ausschusses gegen Folter der Vereinten Nationen und einer Entscheidung des IGH 3 0 5 aufgegeben. Er sieht jetzt in der Mißachtung seiner vorläufigen Anordnung, die verhindern soll, daß im konkreten Fall das Beschwerderecht und die spätere Entscheidung des Gerichtshofs praktisch durch eine vollendete Tatsachen schaffende staatliche Maßnahme obsolet werden, einen Verstoß gegen die in Art. 34 Satz 2 M R K festgelegte Pflicht des Staates, die wirksame Ausübung des Beschwerderechts nicht zu behindern und die Urteile des Gerichtshofs zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 M R K ) ; denn durch die Mißachtung der Empfehlung entzieht sich der Staat bewußt der Möglichkeit der Erfüllung seiner Konventionspflichten 306 . Ganz abgesehen vom Streit um die Befolgungs-

296

Nörgaard IKrüger FS Ermacora 109, 115. IntKommEMRK-Äo«ee Art. 25 a.F, 231. 258 IntKommEMRK-Äo«ee Art. 25 a.F, 226 ff: Besuch im Gefängnis; Einvernahme, Auskünfte von Behörden. 299 Etwa, sich bei Haftentlassung zur Verfügung der Behörden zu halten oder den Hungerstreik abzubrechen, vgl. Nörgaard!Krüger FS Ermacora 109, 115; TntKommEMRK/Äoise Art. 25 a.F, 233. ™ IntkommEMRK-Äo®£' Art. 25 a.F, 34, 35, 224 ff; Nörgaard /Krüger FS Ermacora 109, 115. 301 Nörgaard!Krüger FS Ermacora 109 ff; Krüger EuGRZ 1996 346; FrmveinIPeukerl Art. 25 a.F, 2; Villiger HdB 201. 302 Villiger HdB 202. 3i)3 Nörgaard IKrüger FS Ermacora 109 ff; Meyer-Ladewig Art. 28 MRK, 4; Villiger HdB 202; vgl. aber auch Wit linger NJW 2001 1238/1241 (nach Neuordnung der Gerichtsbarkeit liegt Annahme der Verbindlichkeit nahe) und nachf. Fußnoten. 304 Vgl. EGMR 20.3.1991 Cruz Varas/Schwed 297

305

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(EuGRZ 1991 203); 13.3.2001 Conka u.a./Belg (Beschw.Nr. 51564/99); Meyer-Ladewig Einl. 26; zu den auch früher schon strittigen Fragen vgl. Frouvin/Peukeri Art. 25 a.F, 51; IntKommEMRKRogge Art. 25 a.F, 232 f; Rogge NJW 1977 1559; OellerslFrahm EuGRZ 1991 197; differenzierend Macdonald ZaöRV 52 (1992) 703 (Bindung, wenn sonst Recht auf effektive Beschwerde hinfällig). Der Internationaler Gerichtshof hat am 27.6.2001 in der Sache D/USA (EuGRZ 2001 387; sog. La Grand Fall) die Verpflichtung der USA zur Beachtung seiner einstweiligen Anordnung nach Art. 41 seines Statuts bejaht. Vgl. die wegen Anrufung der großen Kammer nicht rechtskräftige Entscheidung EGMR 6.2.2003 Mamatkulow, Abdurasulovic/Türk (EuGRZ 2003 704), wonach eine Auslieferung entgegen einer Empfehlung nach Art. 39 VerfO den Art. 34 M R K verletzt („irreparable harm being caused"), dazu OellersFrahm EuGRZ 2003 689; Tains ZaöRV 63 (2003) 681.

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

pflicht gerät ein Staat, der sich über eine solche Empfehlung des Gerichts hinwegsetzt, unter einen erheblichen Erklärungsdruck, da das Ministerkomitee 307 von der Empfehlung informiert wird und er sich außerdem auf Anfrage des Gerichts über die Durchführung der von ihr empfohlenen Maßnahmen erklären muß (Art. 39 Abs. 2, 3 YerfO). Sollte später ein Konventionsverstoß festgestellt werden, würde dessen Verfestigung durch Mißachtung der vorläufigen Anordnung als sehr schwerwiegend gewertet werden. Die Staaten sind daher auch schon bisher, von wenigen Ausnahmen abgesehen 308 , solchen Empfehlungen nachgekommen 3 0 9 . 2. Zulässigkeitsprüfung. Die registrierte Beschwerde wird zunächst auf ihre Zulässig- 5 7 keit geprüft. Die sieben Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art. 35 M R K schließen eine summarische Sachprüfung mit ein. Neben den formalen Voraussetzungen wie Beschwerdebefugnis, Einhaltung der Beschwerdefrist, Erschöpfung des Rechtswegs, keine anonyme oder wiederholte oder anderweitig anhängige Beschwerde, wird nach Art. 35 Abs. 3 M R K auch geprüft, ob die Beschwerde mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist, etwa, weil die Aktiv- oder Passivlegitimation fehlt oder das geltend gemachte Recht nicht von der Konvention garantiert wird oder einen örtlich oder zeitlich nicht von der Konvention erfaßten Sachverhalt betrifft, ferner, ob sie mangels hinreichender Anhaltspunkte für eine Konventionsverletzung offensichtlich unbegründet ist oder ob sie rechtsmißbräuchlich, etwa zur Verfolgung sachfremder Zwecke oder mit falschen Angaben, erhoben wird 310. Der Sektionspräsident bestimmt einen Richter als Berichterstatter, der Auskünfte 5 8 und Unterlagen von den Parteien anfordern kann (Art. 49 Abs. 1, 2 Buchst, a VerfO) und der danach entscheidet, ob die Zulässigkeit der Beschwerde zunächst vom Ausschuß („Komitee") nach Art. 28 M R K geprüft oder ob sie gleich von der Kammer behandelt werden soll, sofern der Sektionspräsident nicht schon die Prüfung durch die Kammer angeordnet hat (Art. 49 Abs. 2 Buchst, b VerfO). Verweist der Berichterstatter die Sache an den Ausschuß, entscheidet dieser auf Grund seines Berichts (zum Inhalt vgl. Art. 29 Abs. 2 Buchst, b Verfahrensordnung) über die Zulässigkeit der Beschwerde. Er kann sie durch einstimmigen Beschluß für unzulässig erklären oder im Register streichen, wenn diese Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann (Art. 28 M R K ; Art. 53 Abs. 3 VerfO). Die Entscheidung, die nicht begründet wird 311 , erledigt die Beschwerde endgültig (Art. 28 M R K ) 312. Andernfalls legt der Ausschuß die Beschwerde der zur Prüfung der Rechtssache nach 5 9 Art. 52 Abs. 2, Art. 26 VerfO) vom Sektionspräsidenten gebildeten Kammer vor (Art. 53 Abs. 4 VerfO). Auch diese kann die Beschwerde sofort für unzulässig erklären. Setzt sie das Verfahren fort, kann die Kammer zunächst Auskünfte und Unterlagen von den Parteien anfordern; gegebenenfalls kann eine mündliche Verhandlung angeordnet werden, in der die Parteien auch bereits zur Begründetheit der Beschwerde Stellung nehmen müssen, sofern die Kammer nicht ausnahmsweise etwas anderes bestimmt (Art. 54 Abs. 3, 4 VerfO). Danach verwirft sie die Beschwerde ganz oder zum Teil als unzulässig

5117

In der Resolution R (80) 9 vom 27.6.1980 hat das Ministerkomitee den Mitgliedstaaten empfohlen, solchen Ersuchen (damals von der Kommission) zumindest in Auslieferungssachen nachzukommen. 3I,S Vgl. die Beispiele bei P'roweinl Peukert Art. 25 a.F, 2; 52; TntKommEMRK-«o i S e Art. 25 a.F, 115f; Villiger HdB 202. ™ VilHger HdB 202. (647)

310

311 312

Wittinger NJW 2001 1238, 1240. Vgl. die Beispiele zu Art. 27 a.F, bei Frowem/Peukeri: Maischer EuGRZ 1982 502. Vgl. Rdn. 7. Vgl. Grabemvarter § 13 Rdn. 1, wonach der größte Teil aller Beschwerden im Ausschuß verworfen wird.

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

oder erklärt sie ganz oder zum Teil für zulässig. Die Übermittlung der Zulässigkeitsentscheidung an die Beteiligten obliegt dem Kanzler nach Maßgabe des Art. 61 Abs. 1 YerfO. 60

Einreden der Unzuständigkeit müssen, sofern dies nach den Umständen möglich, vom beklagten Staat bereits in dem Verfahrensabschnitt vorgebracht werden, in dem über die Zulässigkeit entschieden wird (Art. 55 VerfO). Im späteren Verfahrensabschnitt sind solche Einreden nicht mehr zulässig 313 . Der Gerichtshof entscheidet dann nur noch über die Fragen, in denen er das Verfahren für zulässig erklärt hat 314 . Innerhalb der dadurch gezogenen Grenzen, hat er aber die volle Entscheidungsgewalt. Er kann ohne Bindung an frühere Auffassungen über alle im Verfahren auftretenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen einschließlich der Zulässigkeit selbst entscheiden 315 . Dies gilt auch für die große Kammer, wenn diese zur Entscheidung angerufen worden ist. 3. Verfahren nach der Zulässigkeitsentscheidung

61

a) Gütliche Einigung. Nach Zulassung der Beschwerde 316 nimmt der Kanzler mit den Parteien Kontakt auf, um eine gütliche Einigung (Art. 38 Abs. 1 Buchst, b M R K ) zu erreichen, wobei die Kammer, die sich mit dem Ziel einer gütlichen Einigung zur Verfügung der Parteien halten muß (Art. 38 Abs. 1 Buchst, b M R K ) , alle geeigneten Maßnahmen trifft, um diese Einigung zu erleichtern (Art. 62 Abs. 1 VerfO). Die Vergleichsbereitschaft sollte vom betroffenen Staat allerdings möglichst frühzeitig erklärt werden 317 . Lehnt eine der Parteien eine gütliche Einigung von vornherein ab, wird das gerichtliche Verfahren fortgesetzt 318 . Das Einigungsverfahren, zu dem die Parteien Vorschläge vorlegen sollen, ist formlos. Die Vorschläge und die zu diesem Zweck geführten Verhandlungen sind vertraulich (Art. 38 Abs. 2 M R K ) , sie dürfen Außenstehenden nicht mitgeteilt werden 319 . Auch im streitigen Verfahren vor dem Gerichtshof dürfen die hierbei abgegebenen Erklärungen und Zugeständnisse nicht erwähnt und verwendet werden (Art. 62 Abs. 2 VerfO) 320 . Teilt der Kanzler der Kammer mit, daß sich die Parteien gütlich geeinigt haben, streicht sie die Sache nach Art. 37 Abs. 1 Buchst, b; Art. 44 Abs. 2 VerfO durch Urteil im Register, nachdem sie sich vergewissert hat, daß die Einigung auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte getroffen wurde (Art. 62 Abs. 3 VerfO) 321 . Das Urteil wird dem Ministerkomitee zugeleitet (Art. 77 Abs. 3 Satz 1 VerfO), das nach Art. 46 Abs. 2 M R K die Durchführung zu überwachen hat (Art. 44 Abs. 2 VerfO). Der Gerichtshof kann trotz der Einigung das Verfahren auch gegen den Willen des Beschwerdeführers 322 fortsetzen, wenn er der Ansicht ist, daß die Achtung der Menschenrechte dies erfordert, aber auch, wenn er dies aus sonstigen Gründen für angezeigt hält 323 . '

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Dies galt schon früher f ü r die bereits im Verfahren vor der Kommission zu erhebenden Einreden, vgl. E G M R 9.10.1979 Airey/lrl. ( E u G R Z 1979 626); 29.10.1991 Helmers/Sehwed ( E u G R Z 1991 415), 29. 10.1992 Open D o o r and Dublin Well Woman/ Irl ( E u G R Z 1992 484: Einrede der Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist); 25.3.1999 Nicolova/Bulg ( N J W 2000 2883). E G M R 1 8 . 1 0 . 2 0 0 1 Mianowicz/D ( E u G R Z 2002 585). E G M R 25.3.1999 Tatridis/Griech ( E u G R Z 1999 316); 18.10.2001 Mianowicz/D ( E u G R Z 2002 585). Zur Problematik, wenn im Interesse der Verfahrensbeschleunigung über Zulässigkeit u n d sachliche Begründetheit gleichzeitig verhandelt wird, vgl. Stand:

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Siess-Scherz E u G R Z 2003 100, 105; Grabenwarter E u G R Z 2003 174, 177. Siess-Scherz E u G R Z 2003 100, 106. Grabenwarter § 13 Rdn. 59. Meyer-Ladewig Art. 38, 24. Grabenwarter § 13 R d n . 59; Meyer-Ladewig Art. 38, 24. Zur gütlichen Einigung und ihren Vor- und Nachteilen vgl. Villiger H d B 219 ff; ferner Vorst. Fußnoten. Vgl. etwa E G M R 27.02.03 Axen/D ( E u G R Z 2003 222); Ohms E u G R Z 2003 141, 147. E G M R 25.4.1978 Tyrer/GB ( E u G R Z 1979 162); Villiger H d B 97. Grabenwarter § 13 R d n . 59 hält die Fortsetzung bei schwersten Menschenrechtsverletzungen f ü r ange-

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V e r f a h r e n des i n t e r n a t i o n a l e n M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren MRK

b) Weiteres Verfahren vor der Kammer. Bei Weiterführung des Verfahrens k a n n die K a m m e r die Parteien auffordern, weitere Beweismittel u n d schriftliche Stellungnahmen vorzulegen. Beantragt der Beschwerdeführer auch eine gerechte Entschädigung nach Art. 41 M R K m u ß er dies unter Beifügung der Belege beziffert und nach Rubriken geordnet (Art. 60 Abs. 2 VerfO) in seinem Schriftsatz über die Begründetheit oder, wenn er einen solchen nicht einreicht, spätestens zwei M o n a t e nach der Zulässigkeitsentscheidung geltend machen (Art. 60 Abs. 1 VerfO). Gegenstand der gerichtlichen P r ü f u n g ist der vom Beschwerdeführer vorgetragene Sachverhalt und die dazu vom betroffenen Staat abgegebenen Stellungnahme. Was davon sachlich zutrifft, p r ü f t das Gericht nach. An sich gilt der Grundsatz der Amtsermittlung (Art. 31 Abs. 1 Nr. 1 M R K ) . Der Gerichtshof ist bei P r ü f u n g der Beschwerde an das Vorbringen der Parteien und deren Beweisanträge nicht gebunden (Art. 42 VerfO) 324 . Die K a m m e r kann alle M a ß n a h m e n , die ihr zur Sachaufklärung angezeigt erscheinen anordnen, wie Einholen von Auskünften, Vorlage von Unterlagen oder Einvernahme von Zeugen oder Sachverständige; es können auch einzelne Richter mit der Vornahme eines Augenscheins oder einer Zeugeneinvern a h m e beauftragt werden (Art. 42 Abs. 2 VerfO). Die Parteien des Verfahrens, vor allem der beklagte Staat, sind zur Mitwirkung verpflichtet (Art. 38 Abs. 1 Buchst, a M R K ; Art. 42 Abs. 4 VerfO) 3 2 5 . K o m m e n sie der Verpflichtung nicht nach, der K a m m e r alle angeforderten Informationen zu geben, kann diese darauf Schlüsse zu ihrem Nachteil ziehen. Dies gilt vor allem, wenn der beklagte Staat, der allein die erforderlichen genauen Informationen über die f ü r die Beschwerde relevanten Vorgänge haben kann, keine umfassende u n d überzeugende Erklärung dazu abgibt 3 2 6 . Soweit bereits staatliche Ermittlungen oder gerichtliche Entscheidungen vorliegen, überläßt der Gerichtshof die Beweiserhebung u n d Beweiswürdigung meist den staatlichen Gerichten, da er es nicht als seine Aufgabe ansieht, seine Beweiswürdigung an die Stelle der Beweiswürdigung der staatlichen Gerichte zu setzen 327 . Gebunden ist er an deren Ergebnisse aber nicht, so d a ß er, sofern er dies wegen triftiger G r ü n d e f ü r erforderlich hält, auch abweichende Feststellungen treffen k a n n . Auf die weiteren Einzelheiten des in vielen Fällen von der Auswertung der Stellungnahmen u n d der herangezogenen U r k u n d e n bestimmten Verfahrens soll in diesem Überblick nicht eingegangen werden.

62

c) Gleichzeitige Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit. A n sich ist die Trennung des Verfahrens über die Zulässigkeit von dem über die Begründetheit deshalb vorgesehen, um den Parteien Gelegenheit zu Vergleichsverhandlungen zu geben. Die ursprünglich nur f ü r Ausnahmefälle gedachte Regelung einer gemeinsamen Verhandlung über Zulässigkeit u n d Begründetheit wird jetzt im Interesse der Verfahrensbeschleunigung durch einen neuen Art. 54 Α Abs. 1 der VerfO geregelt, der es der K a m m e r gestattet, nach einem entsprechenden Hinweis bei Zuleitung der Beschwerde Äußerungen über Zulässigkeit und Begründetheit gleichzeitig einzuholen und darüber in einem einzigen Urteil zu entscheiden 3 2 8 .

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d) Fakultative mündliche Verhandlung. Das Gericht kann über die Beschwerde im schriftlichen Verfahren oder auf Grund einer mündlichen Verhandlung entscheiden. Eine

64

324

325

bracht, sofern sich der betroffene Staat nicht zu Maßnahmen verpflichtet, die gleichartige Verletzungen in Zukunft verhindern. Meyer-Ladewig Art. 38, 2 (in eingeschränkter Form); nach Villiger HdB 159 finden sich neben der Untersuchungsmaxime aus prozeßökonomischen Gründen auch Elemente der Verhandlungsmaxime. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 38, 11.

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326

327 328

ßeweislast, daß Konvention nicht verletzt, liegt dann beim Staat, vgl. etwa E G M R 28.7.1999 Selmouni/F (NJW 2001 56), 27. 6.2000 Salman/Türk (NJW 2001 2001); Meyer-Ladewig Art. 38, 13 mit weit. Nachw. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 38,5. Vgl. dazu Sie.i.i-Scherz EuGRZ 2003 100, 105.

Walter Gollwitzer

MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

mündliche Verhandlung findet nur statt, wenn die Kammer dies von Amts wegen beschließt oder wenn eine der Parteien dies beantragt und das Gericht dies für erforderlich hält 329 . Von dieser Möglichkeit macht der Gerichtshof auch bei übereinstimmenden Anträgen der Parteien nur noch zurückhaltend Gebrauch; im Interesse der Verfahrensbeschleunigung wird die Erforderlichkeit meist verneint 330 . Der Antrag auf mündliche Verhandlung setzt ferner voraus, daß nicht schon in einer die Zulässigkeit betreffenden mündlichen Verhandlung nach Art. 54 Abs. 4 Verfahrensordnung auch über die Begründetheit verhandelt worden ist (Art. 59 Abs. 2 VerfO). 65

Die mündliche Verhandlung ist öffentlich, soweit die Kammer nicht auf Grund besonderer Umstände aus den in Art. 33 Abs. 2 VerfO festgelegten Gründen etwas anderes beschließt (Art. 33 Abs. 1 VerfO) 331 . Sie leitet der Kammerpräsident, der auch die Reihenfolge bestimmt, in der das Wort erteilt wird (Art. 63 Abs. 1 VerfO). Die Richter der Kammer haben ein Fragerecht. Danach können die Prozeßbevollmächtigten, Rechtsbeistände und Berater der Parteien Fragen stellen. Die Hauptverhandlung kann auch durchgeführt werden, wenn eine Partei ohne Angabe hinreichender Gründe zu dem ihr mitgeteilten Termin (vgl. Art. 37 VerfO) nicht erscheint (Art. 62 Abs. 2 Verfahrensordnung). Zeugen, Sachverständige und sonstige Personen werden vom Kanzler geladen, der ihnen dabei die Sache, den Gegenstand ihrer Einvernahme und die Anordnung ihrer Entschädigung 3 3 2 mitteilt (Art. 65 VerfO). Zeugen leisten vor ihrer Aussage, Sachverständige nach ihrer Aussage den Eid oder geben eine ihm entsprechende Beteuerung ab (Art. 66 Abs. 1, 2 VerfO). Bleiben sie ohne ausreichenden Grund aus, oder verweigern sie die Aussage teilt dies der Kanzler der Vertragspartei mit, deren Hoheitsgewalt sie unterstehen. Gleiches gilt bei einer nach Auffassung der Kammer falschen Aussage (Art. 69 VerfO). Von der Möglichkeit, Zeugen und Sachverständige in der Verhandlung zu hören, macht das Gericht aber nur in Ausnahmefällen Gebrauch 3 3 3 . Nach den Plädoyers und den Erwiderungen der Parteien auf die Ausführungen der Gegenseite schließt der Präsident die Verhandlung 334 . Uber sie wird ein Protokoll geführt. Die Einzelheiten sind in Art. 70 der VerfO geregelt.

66

e) Beteiligung Dritter am Verfahren. Ein Vertragsstaat kann sich an einem Verfahren, im dem ein Staatsangehöriger Beschwerdeführer ist, durch schriftliche Stellungnahmen und Teilnahme an der mündlichen Verhandlung beteiligen (Art. 36 Abs. 1 M R K ) . Im Interesse der Rechtspflege kann der Präsident des Gerichtshofs außerdem jedem Vertragsstaat, der nicht Partei ist und jeder betroffenen Person, die nicht Beschwerdeführer ist, Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme oder zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung geben (Art. 36 Abs. 2 M R K ) . Anträge auf eine solche Teilnahme müssen in einer der Amtssprachen innerhalb angemessener Frist eingereicht werden. Gleiches gilt für die eingereichten schriftlichen Stellungnahmen, die die vom Kammerpräsidenten festgelegten Fristen und Bedingungen einhalten müssen, andernfalls kann der Präsident beschließen, sie nicht in die Akten aufzunehmen (Art. 61 Abs. 4, 5 VerfO). Ein Staat, der sich nach Art. 36 M R K beteiligt, wird dadurch aber nicht selbst Partei des Verfahrens, er wird auch nicht nach Art. 46 Abs. 1 M R K durch das Urteil gebunden 335.

329

110

Vgl. Art. 54 Abs. 3, A r t . 59 Abs. 3 VerfO, die das in das Ermessen des Gerichtshofes stellt, „wenn er dies f ü r die E r f ü l l u n g seiner F u n k t i o n u n t e r der K o n v e n t i o n f ü r erforderlich h ä l t " d a z u Siess-Seherz E u G R Z 2003 100, 105.

331

Z u r restriktiven H a n d h a b u n g seit dem Tn-Krafttreten des 11. Z P vgl. Grabenwarter § 13 R d n . 69 (im Jahre 2002 nur noch 50 mündliche Verhandlungen).

335

332

333 334

Vgl. Grabenwarter § 13 R d n . 68. Art. 65 Abs. 3 V e r f O regelt, wer die E n t s c h ä d i g u n g zu tragen hat. Grabenwarter § 13 R d n . 70. Grabenwarter § 13 R d n . 70. Meyer-Ladewig A r t . 36, 2 unter Hinweis auf die D e n k s c h r i f t zum 11. Z P (BT-Drs. 13/858 S. 28).

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Verfahren MRK

f) Die Urteile und Entscheidungen des Gerichtshofs - grundsätzlich also der Kam- 6 7 mern und der Großen Kammer - werden entweder in öffentlicher Sitzung verkündet oder, wie es die Regel ist 336 , vom Kanzler in der Form einer beglaubigten Kopie den Parteien und, wenn sie endgültig sind, auch dem Ministerkomitee zugestellt (Art. 46 Abs. 2 M R K ) . Der Urteilsausspruch beschränkt sich in der Regel darauf, eine Konventionsverletzung durch den beklagten Staat zu verneinen oder aber sie festzustellen. Abgesehen von der Verpflichtung zur Leistung der nach Art. 41 M R K vom Gerichtshof bei einer Konventionsverletzung auf Antrag festzusetzenden „gerechten Entschädigung" („satisfaction") äußert sich der Urteilsspruch nicht dazu, auf welchem Weg der verurteilte Staat seiner Pflicht zur Befolgung des Urteils (Art. 46 Abs. 1 M R K ) nachkommen soll. In einem Ausnahmefall, wo dem verurteilten Staat keine Handlungsalternative zur Beendigung einer noch andauernden Konventionsverletzung verblieb, hat der E M G R aber selbst im Urteil ausgesprochen, welche konkrete M a ß n a h m e der verurteilte Staat zu deren Beendigung ergreifen muß 3 3 6 a . Die Urteile sind zu begründen (Art. 45 Abs. 1 M R K ; Art. 56 Abs. 1; Art. 74 VerfO) 337 . Für Entscheidungen des Ausschusses, mit der eine Beschwerde einstimmig als unzulässig verworfen wird, gilt dies nicht 338 . Im übrigen dürfte eine Begründungspflicht für alle Sachurteile bestehen, aber auch für die Entscheidungen, mit denen Beschwerden von den Kammern vorweg für zulässig oder endgültig für unzulässig339 erklärt werden, desgleichen auch für die in der Form eines Urteils anzuordnende Streichung einer für zulässig erklärten Beschwerde im Register (Art. 37 M R K , Art. 44 Abs. 2 VerfO) 340 . In der Entscheidung ist anzugeben, ob sie einstimmig oder durch Mehrheitsbeschluß getroffen wurde. Jeder Richter kann seine im Urteil nicht zum Ausdruck gekommene übereinstimmende oder aber abweichende Meinung darlegen (Art. 45 M R K ; Art. 56 Abs. 1; Art. 74 Abs. 2 VerfO), Die Urteile werden vom Kammerpräsidenten und vom Kanzler unterzeichnet (Art. 77 Abs. 1 VerfO). Endgültig werden die Urteile der Großen Kammer mit ihrem Erlaß (Art. 44 Abs. 1 6 8 MRK) 3 4 1 . Die Urteile der Kammern werden endgültig, wenn die Parteien nicht binnen drei Monaten die Verweisung an die große Kammer beantragt haben oder wenn sie erklären, daß sie dies nicht beantragen werden oder wenn der Ausschuß den Verweisungsantrag ablehnt (Art. 44 Abs. 2 MRK). Die endgültigen Urteile werden in englischer oder französischer Sprache oder, wenn der Gerichtshof es beschließt, auch in beiden Sprachen abgefaßt (Art. 76 Abs. 1 VerfO). Sie sind der Öffentlichkeit zugänglich 342 ; sie werden unter der Verantwortung des Kanzlers veröffentlicht, nachdem sie endgültig geworden sind (Art. 44 Abs. 3 M R K ) . Dieser ist außerdem für die Herausgabe der amtlichen Sammlung zuständig, die in englischer und französischer Sprache ausgewählte Entscheidungen und sonstige Schriftstücke enthält (Art. 78 VerfO) 343 . Die endgültigen

336

Vgl. Grabenwarter § 14 Rdn. 3. So EGMR 8.4.2004 Asanidse/Georgien (EuGRZ 2004 268: Haftentlassung); vgl. dazu und zu Fällen einer nicht unmittelbar bindenden Äußerung des E G M R zu naheliegenden Abhilfemaßnahmen des verurteilten Staates Breuer EuGRZ 2004 257 ff und 445, 450 ff; vgl. etwa auch EGMR 24.6.1993/ 22.9.1994 Hentrich/F (EuGRZ 1996 593; 1996 602 Entschädigung statt Rückgabe) und neuerdings 22.6.2004 Broniowski/Pol (EuGRZ 2004 472).

'' 7

Zu den Besonderheiten von Aufbau und Stil der Urteile vgl. Grabenwarter § 14 Rdn. 4 ff: Zur Schwierigkeit, in den meist von den Mitarbeitern des Sekretariat erstellten schriftlichen Urteilsgründen den von divergierenden Rechtstraditionen be-

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stimmten Auffassungen der einzelnen Richter Rechnung zu tragen und die deshalb mitunter inkonsistenten Begründungen vgl. Kühne StV 2001 73, 77 ff. 338 Art. 53 Abs. 2 VerfO; vgl. oben Rdn. 7, 58. 339 Vgl. etwa EGMR 6.12.2001 Petersen/D (NJW 2003 1921). 34(1 Meyer-Ladewig Art. 45, 1. 341 Vgl. Art. 77 VerfO: Verkündung in öffentlicher Sitzung oder Zuleitung durch Kanzler an Ministerkomitee und Parteien. 342 Abrufbar im Internet über die Rechtsprechungsdatenbank des EGMR (http://hudoc.echr.coe.int.). 343 Die Sammlung wurde bis Ende 1995 als Serie A bezw. Series Α bezeichnet (durchlaufend numme-

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Urteile des Gerichtshofes, nicht seine sonstigen Entscheidungen 3 4 4 , werden n a c h A r t . 46 Abs. 2 M R K dem Ministerkomitee 345 zugeleitet. 69

g) Verfahrenskosten werden f ü r das Verfahren vor dem E G M R nicht e r h o b e n . Einer Entscheidung über Verfahrenskosten im Urteil (vgl. A r t . 74 Abs. 1 Buchst. J VerfO) bedarf es nur, wenn die Beschwerde Erfolg hat u n d der Gerichtshof g e m ä ß Art. 41 M R K a n o r d n e t , d a ß der beklagte Staat den Verletzten auch f ü r die Kosten seiner Rechtsverfolgung zu entschädigen hat.

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h) Gerechte Entschädigung (Art. 41 MRK). In dem Urteil, das eine Konventionsverletzung feststellt oder in einem gesonderten Urteil am Ende eines Nachverfahrens, das nur n o c h die Frage der E n t s c h ä d i g u n g betrifft (Art. 75 VerfO), entscheidet die K a m m e r auch darüber, o b u n d in welcher H ö h e dem Beschwerdeführer wegen der festgestellten Konventionsrechtsverletzung eine gerechte Entschädigung zuzuerkennen ist 346 . D e r allgemeine völkerrechtliche G r u n d s a t z , d a ß die Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen Wiedergutmachungs- oder Entschädigungspflichten auslöst, w u r d e in die Konvention ü b e r n o m m e n , allerdings mit der M a ß g a b e , d a ß die E n t s c h ä d i g u n g f ü r die Konventionsverletzung nicht dem anderen Staat als Vertragspartei sondern dem Verletzten als dem „ O p f e r " der Konventionsverletzung zustehen soll 347 . Voraussetzung d a f ü r ist, d a ß der Anspruch d a r a u f vom Verletzten rechtzeitig geltend gemacht (Art. 59 VerfO) 3 4 8 u n d nach A r t . 60 VerfO ordnungsgemäß belegt wurde 3 4 9 . I m Urteil, das die Konventionsverletzung feststellt, wird d a r ü b e r nur d a n n mitentschieden, wenn a u c h der geltend gemachte Entschädigungsanspruch spruchreif ist. Andernfalls wird die Entscheidung einem Nachverf a h r e n vorbehalten (Art. 75 VerfO) 3 5 0 .

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Z u den Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs gehört an sich, d a ß der d u r c h die Konventionsverletzung e n t s t a n d e n e Schaden innerstaatlich nur unvollkommen wiedergutgemacht worden ist, der f r ü h e r e Z u s t a n d also im Z e i t p u n k t der Entscheidung nicht in jeder Hinsicht vollkommen wiederhergestellt worden ist 3 5 '. Dies trifft bei den meisten an den Gerichtshof herangetragenen Konventionsverletzungen zu 3 5 2 ; denn in der Regel d ü r f t e schon wegen des Zeitablaufs die vollkommene Wiederherstellung des früheren Z u s t a n d e s nicht m e h r möglich sein, zumal m e h r als die H ä l f t e der festgestellten Konventionsverletzungen das Verfahren betrifft 3 5 3 . Eine nur teilweise innerstaatliche K o m p e n s a t i o n läßt den Entschädigungsanspruch ebensowenig vollständig entfallen, wie der U m s t a n d , d a ß der Beschwerdeführer möglicherweise a u c h auf einem innerstaat-

riert), ab 1.1.1996 dagegen als Recueil des Arrets et Decisions bzw Reports of Judgements and Decisions, meist zitiert als Reports oder abgekürzt Rep. (Beispiel: Rep. 1998-V11), ab 1.11.1998 werden die Reports offiziell mit ECHR zitiert (Beispiel ECHR 2000-Π), im Schrifttum finden sich weiterhin die Bezeichnungen Rep. oder allgemein Sammlung 344

345 346

347

•4:

(Slg). IntKommEMRK- Golsong Art. 54 a.F, 2 (formell als Urteil bezeichnete Entscheidungen, auch Auslegungsurteile und Urteile nach Wiederaufnahme des Verfahrens nach Art. 102 VerfO). Vgl. Rdn. 78. Vgl. GrabenwarU'r § 15 Rdn. 1 (..on an equitable basis"). FroweinlPeukerl Art. 50 a.F, 1. Wird kein Antrag gestellt, sieht der Gerichtshof in

der Regel keine Veranlassung, die Frage von sich aus aufzugreifen vgl. etwa E G M R 5.7.2001 Erdem/D (EuGRZ 2001 391); 20.12.2001 P.S/D (EuGRZ 2002 37). ms Vgl. Villiger HdB 239 (Berechnungen müssen schlüssig und transparent sein), ferner Rdn. 72. 350 Zur oft kursorischen Behandlung der Haftungsfragen in den Urteilen des E G M R vgl. Dunnemcmn RabelsZ 1999 492 ff. 351 E G M R 7. 5.1975 Neumeister/Ö (EuGRZ 1974 27); 10.3.1980 König/D (EuGRZ 1980 598); l'roweinl Peukert Art. 50 a. F, 3. 352 Vgl. I-rowein/Peukert Art. 50 a. F, 3. 353 Dannemann RabelsZ 1999 452 f, auch zu der hier problematischen Kausalität des verfahrensbezogenen Konventionsverstoßes für das Verfahrensergebnis.

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Verfahren MRK

liehen Rechtsweg eine Entschädigung erstreiten könnte 354 . Grundsätzlich werden aber nur die aus der festgestellten Konventionsverletzung unmittelbar erwachsenen materiellen oder immateriellen Schäden entschädigt, nicht sonstige Schäden, die dem Beschwerdeführer aus anderen gleichzeitigen Vorgängen oder aus anderen, erfolglos behaupteten Konventionsverletzungen entstanden sind. Entschädigungsfähig sind insoweit auch die Kosten, die er hatte, weil er zur Abwehr oder Wiedergutmachung der festgestellten Konventionsverletzung erst den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpfen mußte, bevor er das Beschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof für Menschenrechte durchführen konnte. Entschädigungsfähig sind aber nur die materiellen oder immateriellen Nachteile des Beschwerdeführers, für die die im Urteil festgestellte Konventionsverletzung ursächlich war 355 . Der Gerichtshof entscheidet über die Entschädigung und ihre Höhe nach billigem Ermessen („if necessary") 356 , so auch, wenn die Höhe des festgestellten materiellen oder immateriellen Schadens nicht genau beziffert werden kann 3 5 7 . Mitunter hält er wegen der Besonderheiten des Falles eine Entschädigung überhaupt nicht für angebracht 358 . In nicht wenigen Fällen, vor allem bei Verletzung von Verfahrensgarantien, lehnt der E G M R eine materielle Entschädigung ab, weil durch die festgestellte Konventionsverletzung kein nennenswerter Schaden entstanden ist, etwa, weil dadurch das gegen den Beschwerdeführer ergangene Strafurteil nicht in Frage gestellt wird 359 oder eine konventionswidrige Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe kompensiert ist. Liegt die Konventionsverletzung allein einem Verfahrensverstoß, lehnt es der Gerichtshof meist ab, darüber zu spekulieren, welchen Ausgang das innerstaatliche Verfahren ohne den Verstoß gehabt hätte 360 . Vielfach sieht er dann in der Feststellung der Konventionsverletzung bereits eine ausreichende Kompensation 3 6 1 . Manchmal spricht er dem Beschwerdeführer aber auch wegen der Beeinträchtigung seiner Prozeßchancen eine billige Entschädigung zu 362 , so etwa für einen geltend gemachten immateriellen Schaden 363 . Auch die in einer überlangen Verfahrensdauer liegenden irreparablen Belastun354

33?

'

5,7

358

Vgl. FroweinlPeukert Art. 50 a. F, 3 (insoweit keine Zurückverweisung auf den innerstaatlichen Rechtsweg); der EGMR wartet mitunter aber auch die Entscheidung über innerstaatlich geltend gemachte Schadenersatzansprüche ab, vgl. etwa EGMR 12.12.1991 Clooth/ßelg (ÖJZ 1992 420). Ersetzt wird der Schaden, für den die festgestellte Konventionsverletzung kausal ist, vgl. etwa EGMR 12.2.1991 Fredin/Schwed (ÖJZ 1991 514); 27.8. 1991 Philis/Griech (EuGRZ 1991 355); 12.5.1992 Megyeri/D (EuGRZ 1992 347); 10.10.2002 Czekalla/Port (NJW 2002 1229); 17.10.2002 Vostic/Ö (ÖJZ 2003 196); Meyer-Ladewig 10; zur Kausalität entgangener Prozeßchancen vgl. Dannemann RabelsZ 1999 452, 457, 465 ff unter Hinweis auf EGMR 26.10.1988 Martins Moreira/Port (Series A 143); 13.6.1994 Barberä u.a. (Series A 285 C). Zur Höhe der Entschädigung bei einer Enteignung vgl. E G M R 21.2.1986 James u.a./GB (EuGRZ 1984 341), 23.11.2000; 28.11.2002 ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2002 49; 2003 1712); ferner bei Art. 1 1. ZP; vgl. auch Grabenwarter § 15 Rdn. 3 ff. Vgl. etwa E G M R 29.10.1992 Open Door and Dublin Well Woman/lrl (EuGRZ 1992 484); Viüiger HdB 240 mit weit. Nachw. sowie vorst. Fußn. Vgl. EGMR 27.9.1995 McCann u.a./GB (ÖJZ 1996 332; Tötung von Terroristen, die einen

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Sprengstoffanschlag beabsichtigten, bei Verhaftung). Vgl. EGMR 24.5.1989 Hausschildt/Dän (EuGRZ 1993 122). Etwa E G M R 25.4.1983 Pakelli/D (EuGRZ 1983 344); 26. 8.1991 F.C: B./I (EuGRZ 1992 539); 12. 5. 1992 Megyeri/D (EuGRZ 1992 347); 23.11.1993 Poitrimol/F (Series A 277-A); Meyer-Ladewig 10; vgl. auch Dannemann RabelsZ 1999 452, 467. Vgl. vorst. Fußn.; ferner etwa EGMR 29.5. 1986 Deumeland/D (NJW 1989 652); 27.8.1991 Demicoli/Malta (EuGRZ 1991 475); 30.10.1991 Borgers/Belg (EuGRZ 1991 519); 31.1.1995 SchulerZgraggen/CH (EuGRZ 1996 604); 29.4.1999 Aquilina/Malta (NJW 2001 51); 18.2.1999 Hood/GB (NVwZ 2001 304); 25. 3.1999 Nikolova/Bulg (NJW 2000 2883); 19.6.2001 Atlan/GB(ÖJZ 2002 698); Frowein/Peukerl Art. 50 a.F, 29 ff mit zahlreichen Nachweisen; Meyer-Ladewig 17. Etwa EGMR 20.11.1989 Kostovski/NdL (StV 1990 481); 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); 13.6. 1994 Barberä/Span (Series A 285-C); 13.7.2000 Elsholz/D (NJW 2001 2315); Daimemaim RabelsZ 1999 451, 457, 465; Meyer-Ladewig 17. Etwa E G M R 25.3.1983 Minelli/CH (EuGRZ 1983 475); 23.5. 1991 Oberschlick/Ö (EuGRZ 1991 216); 26.2.2002 Krone Verlag GmbH & Co KG/Ö (ÖJZ 2002 466).

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

gen des Beschwerdeführers können unabhängig vom Ausgang des Verfahrens eine billige Entschädigung rechtfertigen 364 . 72

Zur Darlegungs- und Beweispflicht des Beschwerdeführers über Art, Umfang und Kausalität des behaupteten Schadens, zur Frage seines Ausgleichs durch innerstaatliche Maßnahmen, zu seiner Zurechnung und zur Bemessung der Entschädigung hat der Gerichtshof eine umfangreiche Kasuistik entwickelt, auf die im Rahmen diese Uberblicks nicht näher eingegangen werden kann 3 6 5 .

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Für die Anordnung der Kostenerstattung enthält die M R K keine besondere Rechtsgrundlage, deshalb wird auch die Erstattung der Kosten unter dem Blickwinkel der gerechten Entschädigung nach Art. 41 M R K 3 6 6 behandelt. Der Gerichtshof kann der verletzten Partei den Anspruch auf Erstattung ihrer nachgewiesenen Verfahrenskosten ebenso zusprechen wie auch sonst eine gerechte Entschädigung. Dies setzt in der Regel voraus, daß der Beschwerdeführer, der die Behauptungs- und Beweislast hat 367 , seine Ansprüche fristgerecht 368 unter Beifügung der notwendigen Unterlagen beziffert und nach Rubriken geordnet geltend gemacht hat (Art. 60 VerfO). Erstattungsfähig sind nur die tatsächlich angefallenen Kosten, soweit sie zur Rechtsverfolgung erforderlich waren und der H ö h e nach nicht unangemessen sind. Unter dieser Voraussetzung sind auch erstattungsfähig die Kosten, die durch die innerstaatliche Geltendmachung des verletzten Konventionsrechts entstanden sind, so die Kosten seiner Rechtsverfolgung mit der er versucht hat, durch geeignete Rechtsbehelfe das in der Entscheidung des E G M R als verletzt bezeichnete Konventionsrecht bereits innerstaatlich zur Geltung zu bringen, um seiner Pflicht zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1 M R K ) zu genügen. Nicht ersetzt werden Kosten dafür ungeeigneter Rechtsbehelfe oder Kosten, die für die Durchsetzung des verletzten Konventionsrechts nicht notwendig waren, ferner nicht belegte Kosten 369 . Hatte die innerstaatliche Rechtsverfolgung des Beschwerdeführers noch andere Ziele als die Durchsetzung des vom E G M R als verletzt bezeichneten Konventionsrechts, wird von den Verfahrenskosten und Auslagen nur der auf die festgestellte Konventionsverletzung entfallende Anteil ersetzt 370 . Die innerstaatlichen Kosten und Auslagen müssen tatsächlich angefallen sein und Maßnahmen betreffen, die notwendig waren, um die festgestellte Konventionsverletzung zu verhüten oder zu be-

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368

FroweinlPeukert Art. 50 a.F, 5; Villiger HdB 241. Vgl. dazu FroweinlPeukert Art. 50 a.F, 4 bis 58; Meyer-Ladewig 26; Viüiger HdB 239 bis 241 (Berechnungen müssen schlüssig und transparent sein), ferner etwa EGMR 17.10.2002 Stambuk/D (EuGRZ 2002 589: Entschädigungsanspruch weder spezifiziert noch belegt). FroweinlPeukert Art. 50 a. F, 4. Vgl. etwa E G M R 7. 5.1974 Neumeister/Ö (EuGRZ 1974 24); 6.11.1980 Sunday Times/GB (EuGRZ 1981 209); 9.10.1979 Airey/Trl (EuGRZ 1982 59); 23.10.1984 Öztürk/D (EuGRZ 1985 144); 16.12. 1992 Niemietz/D (EuGRZ 1993 65); 16.12.1992 Hadjianastassiou/Griech (EuGRZ 1993 70), FroweinlFeukeri Art. 50 a. F, 7, auch zu den Fällen, in denen der E G M R ein Gutachten zum Wert eines entzogenen Grundstücks eingeholt (EGMR 31.10. 1995 Papamichaloppoulos/Griech - Series A 330-B) bzw. diesen selbst geschätzt hat (EGMR 3.7.1995 Hentrich/F - EuGRZ 1996 602). Vgl. etwa E G M R 9.12.1994 Stran Greek Refineries

369

370

u.a./Griech (ÖJZ 1995 43). FroweinlPeukert Art. 50 a.F, 7. Zu dem Ersatz der Kosten innerstaatlicher Rechtsverfolgung vgl. FroweinlPeukert Art. 50 a.F, 60 ff, Villiger HdB 242, 243, je mit Nachw. der differenzierenden Rechtsprechung des E G M R . Vgl. Villiger HdB 242 (unter Hinweis u.a. auf E G M R 17.9.1996 Terra Woningen BV/NdL (ÖJZ 1998 96); ferner etwa EGMR 18.10.1982 Le Comte/ Belg (EuGRZ 1983 485); 28. 6.1984 Campbell, Fell/ GB (EuGRZ 1985 534); 1.7.1997 Pammel/D (EuGRZ 1997 316); 19.4.1994 Van de Hurk/NdL (Series A 288), 25.5.2002 Beyeler/T (NJW 2003 659); 10.10.2002 Czekalla/Port (NJW 2002 1229). FroweinlPeukert Art. 50 a.F, 63; Meyer-Ladewig 25. Anders allerdings, wenn der Schwerpunkt eindeutig das verletzte Recht betraf, vgl. etwa EGMR 21.6. 1983 Eckle/D (EuGRZ 1983 553), 26.10.1984 Piersack/Belg (EuGRZ 1985 304); 25.7.2000 Smith, Grady/GB (NJW 2001 809); vgl. Grabenwarter § 15 Rdn. 8.

Stand: 1.10.2004

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Verfahren MRK

heben 371 . Sie dürfen ferner die angemessene Höhe nicht überschreiten. Ersetzt werden ferner die Kosten der Rechtsverfolgung vor dem Gerichtshof, soweit die Beschwerde Erfolg hatte. Hierzu rechnen die Kosten, die dem Beschwerdeführer selbst durch seine persönliche Teilnahme an der mündlichen Verhandlung entstanden sind, allerdings nicht für die Teilnahme an der Verkündung eines Urteils in einem besonderen Termin 372 . Die Anwaltskosten werden ebenfalls erstattet, mitunter allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe. Vor allem wenn der zahlungspflichtige Staat die Höhe beanstandet, besteht hier, ebenso wie bei der Gewährung von Verfahrenshilfe 373, die Tendenz zur kritischen Prüfung sowie dazu, nicht alle tatsächlich entstandenen und geltend gemachten Kosten als notwendig und angemessen voll anzuerkennen 374 . Eine gewährte Verfahrenshilfe wird auf die Entschädigung angerechnet. Darüber hinaus kann ein vereinbartes zusätzliches Vertreterhonorars in der allgemein für angemessen erachteten Höhe erstattet werden, wenn nachgewiesen ist, daß mit dem Vertreter von Anfang an auch insoweit eine echte Zahlungspflicht vereinbart wurde 375 . 4. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist in der Konvention nicht geregelt. D a ihre 7 4 Anordnung die Bindungswirkung des Urteils aufhebt, läßt sie Art. 80 Abs. 1 VerfO nur unter engen Voraussetzungen zu. Es muß nachträglich eine entscheidungserhebliche Tatsache bekannt geworden sein, die im Zeitpunkt der Entscheidung weder der Gerichtshof noch die Parteien kannten und die der Partei, die den Antrag stellt, nach menschlichem Ermessen auch nicht bekannt sein konnte. Der Antrag muß binnen sechs Monaten nach der Erlangung der Kenntnis gestellt werden. Er muß das Urteil bezeichnen und alle Angaben enthalten, auf denen sich der Wiederaufnahmeantrag stützt, die dafür erforderlichen Unterlagen sind in Kopie beizufügen 376 . Uber den Antrag entscheidet die Kammer, gegen deren Urteil die Wiederaufnahme begehrt wird. Ist dies nicht möglich, wird die Kammer durch Los ergänzt oder neu gebildet (Art. 80 Abs. 3 VerfO). Hält die Kammer keinen Wiederaufnahmegrund für gegeben, weist sie den Antrag ab. Andernfalls wird der Antrag der Gegenpartei übermittelt, und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, Danach entscheidet die Kammer die Sache neu durch Urteil, für das die allgemeinen Grundsätze gelten 377 . 5. Die Auslegung des Urteils durch den Gerichtshof kann jede Partei innerhalb eines 7 5 Jahres nach der Verkündung beantragen. Der an die Kanzlei zu richtende Antrag muß den Teil des Urteils genau bezeichnen, dessen Auslegung begehrt wird (Art. 79 Abs. 2 VerfO). Über den Antrag entscheidet die Kammer, die das Urteil gefällt hat, nach Möglichkeit in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung. Sie kann den Antrag abweisen, wenn nach ihrer Ansicht kein Grund zur Prüfung besteht. Andernfalls übermittelt der Kanzler den Antrag den anderen Parteien mit der Aufforderung, binnen einer bestimmten Frist schriftlich dazu Stellung dazu nehmen. Die Kammer entscheidet dann durch Urteil, das auch auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergehen kann, sofern die Kammer dies beschließt (§ 79 Abs. 4 VerfO).

371

372 373 374

Vgl. etwa E G M R 20.5.1999 Bladet Tromso/Norw (EuGRZ 1999 453). Frowein/Peukert Art. 50 a. F, 66. Vgl. oben Rdn. 19. Vgl. EGMR 28.11.2002 ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2003 1721: überhöhte Kosten); FroweinlPeukerl Art. 50 a. F. 64 mit Beispielen aus der Rechtspr. des EGMR; Grabenwarter § 15 Rdn.

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375

376 377

8, 9. Meyer-Ladewig Art. 41, 18 ff: Villiger HdB 242 mit Hinweis auf die Praxis in schweizer Fällen HdB 243. Vgl. EGMR 23.10.1984 Öztürk/D (EuGRZ 1985 144) 19.12.1990 Delta/F (ÖJZ 1991 425); Fruweinl Fenken Art. 50 a.F, 65 mit weit. Nachw. Vgl. Meyer-Ladewig Art. 44, 6. Meyer-Ladewig Art. 44, 7.

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6. Durchsetzung der Urteile 76

a) Befolgungspflicht des betroffenen Staates. Die Vertragsstaaten der Konvention haben sich verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 M R K ) . Sie sind völkerrechtlich verpflichtet, innerstaatlich durch geeignete individuelle oder auch allgemeine Maßnahmen der festgestellten Konventionsverletzung soweit noch möglich abzuhelfen, sie zu beenden oder zumindest ihre Folgen zu beseitigen 3772 . Wo die Konvention zu innerstaatlichem Recht geworden ist, gilt diese Pflicht auch unmittelbar für alle staatlichen Organe. Diese müssen im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 G G ) in der entschiedenen Sache dem Urteil des E G M R Rechnung tragen 3775 , also die festgestellte Konventionsverletzung bei Fortdauer beenden 3770 und - soweit dies das innerstaatliche Recht noch erlaubt - auch deren Folgen beseitigen und einen konventionsgemäßen Zustand wiederherstellen 378. Die Urteile des E G M R stellen den Konventionsverstoß verbindlich aber nur zwischen den am Verfahren beteiligten Beschwerdeführern und Staaten und nur für die entschiedene Sache fest. Sie haben auch keine kassatorische Wirkung379; die als konventionswidrig beanstandete Maßnahme können sie nicht selbst aufheben. Sie bleibt rechtlich voll wirksam. Innerstaatlich kann sie nur geändert oder aufgehoben werden, wenn und soweit das einschlägige nationale Recht einen Weg zu ihrer Korrektur eröffnet, so etwa, wenn es in einem solchen Fall die Wiederaufnahme einer rechtskräftig erledigten Strafsache gesetzlich zuläßt (vgl. § 359 Nr. 6 StPO) oder wenn die Korrektur eines bestandskräftig gewordenen Verwaltungakts nachträglich möglich ist 379a , aber auch, wenn das einschlägige Verfahrensrecht ohnehin die erneute Befassung des Gerichts durch einen neuen Antrag oder auch von Amts wegen auf Grund der veränderten Sach- und Rechtslage zuläßt. Andernfalls setzt die Unabhängigkeit der Gerichte und die Bindungswirkung einer unanfechtbar gewordenen Entscheidung jeder nachträglichen Korrektur Schranken 37913 . Ist eine vollständige Korrektur auf Grund der innerstaatlichen Rechtslage nicht mehr möglich, muß der Staat zur Erfüllung seiner Verpflichtung aus Art. 46 Abs. 1 M R K die festgestellte Konventionsverletzung anderweitig kompensieren 3790 . Grundsätzlich ist jeder Vertragsstaat aber durch Art. 1 M R K gehalten, innerstaatlich durch entsprechende Regelungen dafür zu sorgen, daß er seiner Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 M R K nachkommen kann 3 7 9 d . Dies gilt auch für einen Bundesstaat, der unabhängig von seiner internen Kompetenzverteilung völkerrechtlich dafür verantwortlich bleibt, daß seine Gliedstaaten und deren Organe den von ihm für den Gesamtstaat übernommenen Vertragspflichten nachkommen. Mit Organisationsmängeln kann er sich nicht exkulpieren 3796 .

377

" E G M R 2 6 . 2 . 2 0 0 4 Görgülü/D ( N J W 2004 3397); 8 . 4 . 2 0 0 4 H a a s e / D (NJW 2004 3401) unter Hinweis auf die Überwachung durch das Ministerkomitee nach Art. 46 Abs. 2 M R K . 377t BVerfG 14.10.1004, N J W 2004 3467 (zu E G M R 2 6 . 2 . 2 0 0 4 Görgülü/D - N J W 2004 3397). E G M R 12.12.1991 Clooth/Belg (ÖJZ 1992 420); 8 . 4 . 2 0 0 4 Asanidse/Georgien ( E u G R Z 2004 268); dazu Breuer E u G R Z 2004 257; Okresek E u G R Z 2003 168, Meyer-Ladewig Art. 40, 7. 378

Vgl. etwa E G M R 2 4 . 6 . 1 9 9 3 Papamichalopoulos/ Griech (ÖJZ 1994 177 Rückgabe entzogenen Eigentums); 6.12.2001, 2 8 . 1 1 . 2 0 0 2 ehem. König von Griechenland/Griech ( N J W 2003 1721).

379

Vgl. etwa die Beispiele bei Kley Liechtenstein E u G R Z 2004 54 ff.

37

»" Etwa Pache EuR 4004 393, 403 ff; Meyer-Ladewig Art. 46, 8. 3 ™> Vgl. Meyer-Ladewig Art. 46, 8. 37 «= E G M R 8 . 4 . 2 0 0 4 Asanidse/Georgien (EuGRZ 2004 268); BVerfG 14.10.2004, N J W 2004 3467 je mit weit. Nachw. 379d EGMR 8 . 4 . 2 0 0 4 Asanidse/Georgien (EuGRZ 2004 268); 2 2 . 6 . 2 0 0 4 Broniowski/Pol ( E u G R Z 2004 472; dazu Breuer E u G R Z 2004 257 und 445). 379e

Dieser Grundsatz gilt, auch wenn er nicht durch eine vertragliche Bundesstaatsklausel verdeutlicht wird, wie etwa in Art. 50 IPBPR und seinen Zusatzprotokollen. Vgl. auch vorst. Fußn.

Landesbericht

Stand:

1.10.2004

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Verfahren MRK

Was Gegenstand der Entscheidung ist, ergibt ihr Tenor. Er ist mitunter aber wenig 7 6 a aussagekräftig, vor allem, wenn er sich auf G r u n d einer Gesamtwürdigung mit der pauschalen Feststellung eines bestimmten Konventionsverstoßes begnügt 380 . Worin der E G M R den entscheidenden Kern der Konventionsverletzung gesehen hat, ist mitunter auch durch Heranziehung der Urteilsgründe nicht eindeutig eingrenzbar, so wenn die Feststellung der Konventionswidrigkeit im Urteilstenor das Ergebnis einer Pauschalwertung verschiedener Vorgänge ist, wie etwa das auf verschiedene Vorgänge und Erwägungen gestützte Urteil, daß der Beschwerdeführer insgesamt kein faires Verfahren hatte 381 . Bei solchen einzelfallbezogenen Gesamtwertungen kann es schwierig sein, in einem durch das Urteil des E G M R ausgelösten innerstaatlichen Wiederaufnahmeverfahren bei einzelnen Verfahrensvorgängen zu beurteilen, ob sie auch isoliert betrachtet mit der Auslegung der Konvention durch den Gerichtshof zu vereinen sind und welche Folgerung der betroffene Staat und andere Staaten daraus generell herleiten müssen, wenn sie allgemein sicher stellen wollen, daß auch in vergleichbaren Fällen konventionsgemäß verfahren wird 382 . Auf welchem Wege der betroffene Staat der festgestellten Konventionsverletzung 7 7 abhilft, ist grundsätzlich der Entscheidung seiner Organe überlassen 383 . Die von ihnen zur Beseitigung der Folgen eines Konventionsverstoßes ausgewählten Mittel müssen jedoch zu einem Ergebnis führen, das den Anforderungen Rechnung trägt, die der Gerichtshof in seiner Enscheidung für die Behebung der festgestellten Konventionsverletzung aufgestellt hat 383a . Die volle Wiederherstellung des früheren Zustandes ist nur in Ausnahmefällen möglich, wie etwa durch Rückübertragung des entzogenen Eigentums 384 . Die staatlichen Organe müssen daher in zweckorientierter Ausschöpfung des ihnen innerstaatlich offenen Handlungsspielraums die für eine Abhilfe geeigneten Maßnahmen auswählen 3841 . Je nach Art des Konventionsverstoßes und der innerstaatlichen Rechtslage reichen diese von der Beendigung eines noch andauernden Verstoßes 385 , etwa durch Einstellung eines noch anhängigen Verfahrens oder durch Absehen von der Vollstreckung oder Zurücknahme einer Abschiebungsandrohung 3 8 6 bis zur Einleitung eines neuen Verfahrens zu dessen Kompensation. Dies kann die Wiederaufnahme des Verfahrens 387 sein oder aber auch ein sonst geeignetes Verfahren zur Beseitigung von Folgen des Konventionsverstoßes; auch im Gnadenwege ist dies möglich. Wo wegen der mitunter großen Zeitspanne zwischen dem Konventionsverstoß und dem Urteil des E G M R eine Naturalrestitution ausscheidet 388 , kommt nur eine anderweitige Kompensation 3 8 9 38(1

386

381

387

Vgl. Okresek EuGRZ 2003 168, 171 mit weit. Nachw. Vgl. Schweder GA 2003 293. 382 vgl. die in verschiedenen Beiträgen beim Grazer Symposium aufgezeigten Bedenken gegen diese Praktik des EGMR, so auch Okresek EuGRZ 2003 168, 171. 383 Vgl. etwa E G M R 13.6.1979 Mareks/Belg (EuGRZ 1979 454); 29.11.1991 Vermeire/Belg (EuGRZ 1992 12); 3.7.2000 Scozzari & Giunta (ÖJZ 2002 74); 28.11.2002 (ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2003 1721); Meyer-Ladewig Art. 46, 7 ff; Villiger HdB 262, Willinger NJW 2001 1238. 383a EGMR 13.7.2000 Scozzari, Giunta/I (ÖJZ 2002 74); 26.2.2004 Görgülü/D (NJW 2004 3397); 8.4.2004 Haase/D (NJW 2004 3401). Vgl. Fußn. 384a. 584 EGMR 22.9.1994 Hentrich/F (EuGRZ 1996 593). -μ. vgl. BVerfG 14.10.2004, NJW 2004 3467. 585 E G M R 12.12.1991 Clooth/Belg (ÖJZ 1992 420); ferner allgemein Okresek EuGRZ 2003 168, 170; Meyer-Ladewig Art. 46, 7, 8. (657)

388

389

Meyer-Ladewig Art. 46, 8. Vgl. § 359 Nr. 6 StPO, der jetzt bei Urteilen in Strafsachen, nicht aber bei Entscheidungen in den anderen Verfahren, die Wiederaufnahme erlaubt; eine Verpflichtung, diese Möglichkeit im nationalen Recht vorzusehen, begründet die M R K nicht, BVerfG NJW 1986 1425; Frowein ZaöRV 46 (1986) 286; Grabenwarter § 16 Rdn. 4; Uerdegen NJW 1988 593; Ress EuGRZ 1996 352; Treehsel StV 1987 187; Meyer-Ladewig Art. 46, 8. Vgl. E G M R 28.11.2002 (ehem. König von Griechenland/Griech (NJW 2003 1721: keine Naturalrestitution, da Enteignung rechtmäßig, aber Entschädigung für den in der fehlenden Entschädigungsregelung liegenden Konventionsverstoß). Zu den Schwierigkeiten bei Aufhebung eines Parteiverbots durch den E G M R vgl. Klein ZRP 2001 397, 401.

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der erlittenen Nachteile in Frage, zu der aber in der Regel auch gehört, daß dabei die Konventionsverletzung ausdrücklich anerkannt wird. 77a

Eine besondere Problemlage besteht, wenn die Behebung der Konventionsverletzung nicht nur das vom E G M R beurteilte Verhältnis zwischen Staat und dem Beschwerdeführer betrifft sondern zugleich das Verhältnis des Beschwerdeführers zu anderen, am Verfahren vor der E G M R nicht beteiligten und in den meisten Fällen dort auch nicht gehörten privaten Personen („mehrpolige Grundrechtsverhältnisse"). Deren Rechte, die mitunter auf einer anderen Abwägung gegenläufiger Konventionsrechte beruhen, sind mit Rechtskraft der innerstaatlichen Entscheidung bestandskräftig geworden. Dies setzt der Pflicht des verurteilten Staates zur innerstaatlichen Abhilfe der festgestellten Konventionsverletzung rechtliche Schranken 3892 . Nur wenn eine neue innerstaatliche Entscheidung in der gleichen Sache zulässig ist, müssen nach der gebotenen Anhörung aller Beteiligten unter Berücksichtigung etwaiger zwischenzeitlich eingetretenen tatsächlichen Veränderungen die vom E G M R herausgestellten Gesichtspunkte entsprechend dem ihnen vom Gerichtshof zuerkannten Stellenwert berücksichtigt und gewichtet werden. Bei einer neuen Abwägung der kollidierenden Interessen wird dies oft, aber nicht notwendig immer, zu einem anderen Ergebnis führen 3 8 9 b . Die Befolgungspflicht des Art. 46 Abs. 1 M R K betrifft nur die Behebung der festgestellten Konventionsverletzung. Liegt diese in der falschen Gewichtung eines Abwägungsgesichtspunktes, kann sich die Bindung nicht auch auf das neue Abwägungsergebnis erstrecken, das durch weitere, eventuell neue Gesichtspunkte von Gewicht mitbestimmt wird. Es genügt, wenn in die neue Abwägung die vom E G M R geforderte konventionsgemäße Gewichtung des in seinem Stellenwert verkannten Gesichtspunktes eingeflossen ist. Vor allem, wo eine Konventionsverbürgung den nationalen Stellen wegen ihrer größeren Sachnähe einen weiten Beurteilungsspielraum zuerkennt und damit auch deren unterschiedliche tatsächliche Würdigungen akzeptiert, sind diese durch Art. 46 Abs. 1 M R K nicht gehindert, ihre neue Entscheidung auf Grund einer neuen eigenen Abwägung zu treffen. Die Begründung der neuen Entscheidung muß dann allerdings aufzeigen, daß bei der neuen Abwägung die Auffassungen und Wertungen des E G M R berücksichtigt wurden, sowie aus welchen gewichtigen Gründen die neue Abwägung trotzdem zu einem anderen Ergebnis führte.

77b

Die Verpflichtung zur Beseitigung der festgestellten Konventionsverletzung kann auch generelle Anordnungen und Hinweise 390 oder eine Änderung der Rechtsprechung erfordern, oder, wenn eine konventionskonforme Auslegung des geltenden Rechts nicht möglich ist, auch eine Gesetzesänderung 391 . Vor allem, wenn eine Entscheidung des Gerichtshofs über den entschiedenen Einzelfall hinaus strukturelle Mängel der nationalen Rechtsordnung aufzeigt, gebieten praktische Überlegungen, aber auch die Verpflichtung zur innerstaatlichen Beachtung der M R K (Art. 1 M R K ) eine konventionskonforme Ausgestaltung des nationalen Rechts. Die zuständigen innerstaatlichen Stellen müssen deshalb in aller Regel durch alsbaldige Behebung der beanstandeten Rechtsmängel der Entscheidung Rechnung tragen, um fortdauernde Konventionsverstöße sowohl im entschiedenen Fall als auch in weiteren gleichgelagerten Fällen zu beenden. Grundsätzlich hat der betroffene Staat selbst darüber zu enscheiden, auf welchem Weg er innerstaatlich einen Vgl. Rdn. 76. .isst vgl. BVerfG 14.10.2004, NJW 2004 3467. « Vgl. Okresek EuGRZ 2003 168, 171 (Rundschreiben mit Hinweisen auf konventionskonformen Gesetzesvollzug). 351 Vgl. E G M R 13. 6.1979 Marckx/Belg (EuGRZ 1979 459); 22.10.1981 Dudgeon/GB (EuGRZ 1983 488); Grubenwuner § 16 Rdn. 5; Meyer-Ludewig Art. 46,

12; Okresek EuGRZ 2003 168, 171 (unter Hinweis auf E G M R 29.11.1991 Vermeire/Belg (EuGRZ 1992 12), wonach der Staat in einem Folgefall sich nicht damit entschuldigen kann, daß sein Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist, mit dem eine bereits früher festgestellte Konventionswidrikeit beseitigt werden soll.

Stand: 1.10.2004

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konventionskonformen Zustand herstellen will; der Gerichtshof ist aber vor allem bei gehäuft auftretenden strukturellen Mängeln nicht gehindert, den betroffenen Staat auf das Erfordernis einer generellen Lösung im nationalen Recht 3912 und auch auf naheliegende Lösungsmöglichkeiten zur Beendigung eines konventionswidrigen Zustand hinzuweisen. Dies wurde vom Ministerkomitee, das die Durchführung des Urteils im betroffenen Staat zu überwachen hat, in der Resolution vom 12.5.2004 sogar empfohlen 39113 , um der Überlastung des Gerichtshofs durch einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle abzuhelfen. Soweit der Gerichtshof selbst dem Beschwerdeführer nach Art. 41 M R K eine gerech- 7 7 c te Entschädigung zugesprochen hat 392 , ist der Staat zu deren alsbaldiger Zahlung verpflichtet 393 . Für den zu zahlenden Betrag setzt der E G M R dem verurteilten Staat meist eine Frist und ordnet die Verzinsung der zu zahlenden Beträge an 394 . Ein innerstaatlich unmittelbar im Wege der Zwangsvollstreckung vom Betroffenen selbst gegen den Staat durchsetzbares Urteil begründet eine solche Entscheidung aber nicht 395 . Auch ihre Sanktionierung durch Festsetzung eines Zwangsgeldes hat der E G M R abgelehnt 396 . Über die auf den entschiedenen Fall und die am Verfahren beteiligten Staaten 77d beschrankte Rechtskraftwirkung hinaus kommt den Entscheidungen des E G M R aber auch eine allgemeine Orientierungswirkung zu. Auch wenn das Urteil den betroffenen Staat und seine Organe nur für den entschiedenen Fall unmittelbar bindet, folgt eine darüber hinausreichende mittelbare Bindung daraus, daß der Staat und seine Organe nach Art. 1 M R K zur Beachtung der Konvention verpflichtet sind, deren Inhalt durch die Entscheidung des Gerichtshofs konkretisiert worden ist 397 . Vor allem, wenn sich bereits eine gefestigte Rechtsprechung abzeichnet und deshalb ersichtlich ist, wie der Gerichtshof vergleichbaren Fällen entscheiden wird, werden sich vor allem auch die Gerichte in der Regel an der Rechtsauffassung des E G M R orientieren39711. b) Das Ministerkomitee398 hat nach Art. 46 Abs. 2 M R K , die Aufgabe, die Durch- 7 8 führung der Urteile des Gerichtshofs zu überwachen. Da die Urteile die Konventionsverletzung nur feststellen und keine Kassationswirkung haben und auch sonst nicht in 391a

So etwa bei den gehäuft auftretenden Verstößen Italiens (vom 1.11.1998 bis 31.1.2001: 1516 Fälle) durch überlange Verfahrensdauer in den 4 Urteilen vom 28.7.1999, die im März 2001 zur Schaffung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs in Italien führten, vgl. dazu Breuer EuGRZ 2004 445, 446 mit Nachw. 391b Vgl. EGMR 22.6.2004 Broniowski/Pol (EuGRZ 2004 472), dazu Breuer EuGRZ 2004 445, 448. Vgl. Rdn. 70 fif. 393

Insoweit liegt ein Leistungsurteil vor, vgl. Okresek EuGRZ 2003 168, 169; Maiseher EuGRZ 1982 480, 525; Meyer-Ladewig Art. 46 M R K , 13; Wittinger 2001 1239. Nach Villiger HdB 237 begründet die Anordnung der Entschädigung unmittelbar eine völkerrechtliche Verpflichtung des Staates, die der zu Entschädigende nicht vor einem innerstaatlichen Gericht einklagen muß und kann. Ob und wieweit der Anspruch auf die zuerkannte Entschädigung innerstaatlich gepfändet oder mit anderen Forderungen verrechnet werden darf, ist noch wenig geklärt. FroweinlPeukert Art. 50 a.F, 67 hält unter Hinweis auf EGMR 16.7.1971 Ringeisen/Ö (EuGRZ 1976 230) bei der Entschädigung für einen immateriellen Schaden eine Aufrechnung oder Pfändung durch den zur Zahlung verpflichteten

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Staat für unzulässig, während Entschädigungsleistungen, die materielle Schäden, wie etwa einen entgangenen Verdienst oder Kosten ausgleichen, pfändbar sein sollen, da sie nur eine Vermögenslage wiederherstellen, die auch sonst der Pfändung offen ist. Vgl. auch Villiger HdB 237. 394 Froweinl Peukert Art. 50 a. F, 68. 395 Villiger HdB 237; vgl. auch Wittinger 2001 1239, Leistungsurteil, das innerstaatlich für vollstreckbar erklärt werden kann. 396 E G M R 26.5.1988 Pauwels/Belg (EuGRZ 1986 661); FroweinlPeukert Art. 50 a. F, 68. 397 Grabenwarter § 16 Rdn. 6; vgl. Ress EuGRZ 1996 350. 397a vgl. etwa Masueh NVwZ 2000 1266, auch zu den Divergenzen mit Auffassungen des BVerwG; ferner Fache EuR 2004 393, 407 fif. 398 Das Ministerkomitee des Europarats hat diese Aufgabe behalten, die es in der Regel durch die ständigen Vertretungen der Konventionsstaaten in Straßburg ausübt. Auf seine Zusammensetzung und sein Verfahren ist die Satzung des Europarates anwendbar, soweit es nicht besondere Regeln für das Verfahren getroffen hat, vgl. IntKommEMRK/Gö/.mng Art. 54 a.F, 12fif;ferner Meyer-Ladewig Art. 46, 15.

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MRK Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

das innerstaatliche Recht eingreifen und da auch das Ministerkomitee als Organ des Europarates kein Weisungsrecht und keine Exekutivgewalt 399 hat, die ihm unmittelbare Maßnahmen im verurteilten Staat ermöglichen würden, kann es von diesem nur einen Bericht darüber anfordern, durch welche Maßnahmen er seiner Verpflichtung zur Befolgung des Urteils nach Art. 46 Abs. 1 M R K nachkommt 4 0 0 . Solange dies nicht zur vollen Zufriedenheit des Ministerkomitees dargetan ist und dieser die Sache durch eine formelle Entschließung abgeschlossen ist, kann es den Fall immer erneut auf die Tagesordnung setzen und die Erledigung anmahnen. Der betroffene Staat kann um zusätzliche Mitteilungen über alle von ihm ergriffenen oder beabsichtigten Maßnahmen ersucht werden. Bei Verzögerung oder ungenügender Befolgung der Umsetzungspflicht können auch alle Formen von politischem Druck ausgeübt werden. Das Ministerkomitee kann sich bei einer beharrlichen Nichterfüllung der Vertragspflichten auch an den Europarat wenden und diesen um geeignete Maßnahmen ersuchen 401 . Vor allen kann er auch den Generalsekretär des Europarats einschalten, der berechtigt ist, jeden Mitgliedstaat zu befragen, auf welche Weise er die wirksame Anwendung der Konvention innerstaatlich sicherstellt (Art. 52 M R K ) . Das Ministerkomitee sieht seine Aufgabe erst dann als erfüllt an, wenn es auf Grund der Berichte des betroffenen Staates über die getroffenen Maßnahmen überzeugt ist, daß dem Urteil im vollen Umfang Rechnung getragen wurde 402 . Bis dahin erläßt es nur vorläufige Resolutionen, die es ermöglichen, die Sache später erneut aufzugreifen 403 . Der E G M R ist zur Überprüfung der Resolutionen des Ministerkomitees nicht befugt. Neben dieser Einzelüberwachung der Durchführung der Urteile hat sich das Ministerkomitee aber auch allgemein zu innerstaatlichen Regelungsdefiziten geäußert, wenn diese gehäuft Konventionsverletzungen zur Folge haben, deren Ursachen zu beheben der Staat nach Art. 1 M R K verpflichtet ist 403a . In einer Resolution vom 12.5.2004 hat es den Gerichtshof außerdem aufgefordert, in seinen Urteilen strukturelle Probleme der einzelnen Mitgliedstaaten zu identifizieren und diese nicht nur dem Ministerkomitee und dem betroffenen Staat sondern auch der parlamentarischen Versammlung, dem Generalsekretär und dem Menschenrechtskommissar mitzuteilen 40313 . 79

Auch der betroffene Einzelne kann sich bei einer Verzögerung der innerstaatlichen Umsetzung des Urteils selbst mit einer entsprechenden Mitteilung an das Ministerkomitee wenden 404 . Dieses kann seine Ausführung dann bei seiner Entscheidung in Betracht ziehen. Er kann aber wegen der Nichtbefolgung des früheren Urteils durch den Staat nicht erneut den Gerichtshof anrufen, da nicht dieser, sondern das Ministerkomitee nach Art. 46 Abs. 2 M R K für die Überwachung zuständig ist 405 . Seine neue Beschwerde würde außerdem den gleichen Fall betreffen und deshalb „ratione materiae" nicht zulässig sein 406 . Dagegen wird es für zulässig gehalten, daß eine Mitgliedstaat Staatenbeschwerde nach Art. 33 M R K gegen den Staat erhebt, der seine Verpflichtung zur Befolgung des Urteils beharrlich verweigert 407 . m Vgl. Williger HdB 235. «ο Vgl. FroweinIPeukerl Art. 54 a.F, 1; IntKommEMRVL-Golsong Art. 54 a.F, 11 ff zum Verfahren des Ministerkomitees, vgl. Meyer-Ludewig Art. 46. 15-18. 401 Vgl. Meyer-Ladewig Art. 46, 20 (politische Druck durch Resolutionen, im Extremfall Entzug des Rechts auf Vertretung und Ausschluß). 402 Vgl. Okresek EuGRZ 2003 168, 172. 403 Villiger HdB 234. «»a Zweifelhaft, ob diese Befugnis aus der Überwachungskompetenz des Art. 46 Abs. 2 MRK abgeleitet werden kann; Meyer-Ladewig Art. 46, 17.

4IBb

4,14

41,5

«'

4117

Vgl. dazu Breuer EuGRZ 2004 445, 447 ff, auch zu dem „Piloturteil" E G M R 22.6.2004 Broniowski/ Pol (EuGRZ 2004 472). Vgl. Okresek EuGRZ 2003 168, 169; IntKommEMRK-Go/,sot?£ Art. 54 a.F, 42. Etwa EGMR 6.6.2003 Fischer/Ö (ÖJZ 2003 815). EKMR ÖJZ 1995 795; vgl. auch vorst. Fußn.; ferner Okresek EuGRZ 2003 168, 170 mit dem Hinweis, daß die Frage noch nicht ausdiskutiert ist. Meyer-Ladewig Art. 46, 20.

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren IPBPR

7. Am Verfahren unbeteiligte Konventionsstaaten werden durch eine Entscheidung des 8 0 Gerichtshofes nicht unmittelbar gebunden, da diese nicht erga omnes wirkt. Mittelbar kann eine solches gegen einen anderen Staat erlassene Urteil aber auch für andere Mitgliedstaaten beachtlich sein. Es setzt Maßstäbe für die Auslegung der Konvention und bestimmt damit auch den Umfang der alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise treffenden Konventionspflichten 408 . Für deren Beachtung in ihrem Herrschaftsbereich müssen nach Art. 1 M R K alle Mitgliedstaaten einstehen. Dies erlangt besondere Bedeutung, wenn ihre Rechtslage oder ihre Verwaltungspraxis in diesem Punkt mit der des verurteilten Staates vergleichbar ist und sie daher damit rechnen müssen, daß sie auch ihrerseits alsbald wegen der darin liegenden Konventionswidrigkeit belangt werden 409 . Um dies zu vermeiden, werden sie daher in der Regel auch den gegen andere Staaten ergangenen Urteilen des Gerichtshofs Rechnung tragen. In der Praxis hat dies auch Staaten, die von einer Entscheidung nicht unmittelbar betroffen waren, zu einer Änderung ihres nationalen Rechts veranlaßt 4093 .

B. Verfahren vor dem Menschenrechtsauschuß der Vereinten Nationen (UN-AMR) Art. 28 ff IPBPR und 1. Fakultativprotokoll I. Allgemeines 1. Die Mitgliedstaaten des IPBPR haben einen Ausschuß für Menschenrechte (UN- 81 A M R ) als eigenes Kontrollorgan 4 1 0 errichtet (Art. 28 IPBPR), dessen 18 Mitglieder von den Vertragsstaaten auf vier Jahre gewählt werden (Art. 29 ff IPBPR). Sie werden in ihrer persönlichen Eigenschaft und nicht etwa als Vertreter ihres Staates tätig und sind zur unparteiischen und gewissenhaften Ausübung ihres Amtes verpflichtet (vgl. Art. 38 IPBPR) 411 . Der Ausschuß ist ein eigenständiges Konventionsorgan. Organisatorisch ist der Ausschuß, der dreimal im Jahr für drei Wochen tagt 412 , an die Vereinten Nationen angebunden, deren Generalsekretär Verwaltungsaufgaben übertragen wurden (vgl. etwa Art. 30 Abs. 3; Art. 33 Abs. 2; Art. 34, 36, 37 Abs. 1 IPBPR) und aus deren Mitteln die Ausschußmitglieder Bezüge erhalten (Art. 35 IPBPR). Die Verpflichtungen des Ausschusses gegenüber den Vereinten Nationen beschränken sich im wesentlichen auf die Pflicht, der Mitgliederversammlung über den Wirtschafts- und Sozialrat einen Jahresbericht über seine Tätigkeit vorzulegen (Art. 55 IPBPR), sowie auf die Möglichkeit der Übermittlung von Berichten und der Befugnis zu eigenen Allgemeinen Bemerkungen nach Art. 40 Abs. 2, 4 IPBPR.

41.8

41.9

Vgl. Ress EuGRZ 1996 350, der zwischen der Rechtskraftwirkung gegenüber dem verurteilten Staat und der für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen geltender Orientierungswirkung unterscheidet. Er sieht darin auch eine objektive, über den im Vordergrund stehenden Einzelfall hinausreichende Bedeutung der Entscheidungen. Dazu Okresek EuGRZ 2000 168, 169, der allerdings betont, daß ungeachtet dieser objektiven Wirkung die Wahrung der Menschenrechte des einzelnen Beschwerdeführers im Vordergrund steht. Dies hat in mehreren Fällen auch andere Staaten zu Änderungen ihres nationalen Rechts veranlaßt, vgl. FrowemlPeuken Art. 27 a.F; Fuchs ZStW 100

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4,lya

41,1

411 412

(1988) 444, 463; Kühl ZStW 100 (1988) 602; Rees in: Maier Europäischer Menschenrechtsschutz (1982) 227; Trechsel ZStW 100 (1988) 667, 678). Zur „Leitfunktion" der Urteile vgl. Meyer-Lüdewig, Art. 46, 4; 5. Dazu Nowak Art. 28, 1: Kein Organ der Vereinten Nationen (Mitgliedstaaten nicht identisch), sondern relativ selbständiges eigenes Konventionsorgan. Vgl. Nowak Art. 28, 4 (quasi richterliche Funktion). Vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 146; nach ihm hat der Ausschuß bis 17.4.2003 insgesamt 1171 Tndividual-Beschwerden („Mitteilungen") registriert; bei 321 wurde eine Verletzung des IPBPR festgestellt.

Walter Gollwitzer

IPBPR Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

82

2. Als einziges obligatorisches Kontrollmittel sieht der IPBPR nur die Staatenberichte (Art. 40 IPBPR) vor, die inzwischen vom Ausschuß für Menschenrechte periodisch angefordert werden und die ihm Anlaß geben, seine Auffassung zur Auslegung einzelner Konventionsgarantien und zu den Anforderungen an die Staatenberichte nach Art. 40 Abs. 4 IPBPR in (durchlaufend numerierten) Allgemeinen Bemerkungen („General Comments", „observations generates") festzulegen 413 . Die Vertragsstaaten können gegenüber dem Ausschuß dazu Stellung nehmen (Art. 40 Abs. 5 IPBPR).

83

Die anderen Kontrollmöglichkeiten des Ausschusses sind fakultativ .Die Zulässigkeit der zu keiner echten Streitentscheidung führende Staatenbeschwerde hängt davon ab, daß sowohl der Staat, der sie erhebt als auch der Staat, gegen den sie sich richtet, befristet oder zeitlich unbegrenzt die Befugnis des Ausschusses zu ihrer Entgegennahme und Prüfung anerkannt haben (Art. 41 IPBPR). Die Individualbeschwerde, die einzelnen Personen gestattet, den Ausschuß für Menschenrechte gegen die Mitgliedstaaten anzurufen, ist in einem Zusatzabkommen, dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (FP-IPBPR) 4 1 4 , geregelt. Sie ist ebenfalls nur zulässig gegenüber den Staaten, die dem Fakultativprotokoll beigetreten sind (Art. 1 F P IPBPR). Wie mehrere andere Europäische Staaten ist die Bundesrepublik dem Protokoll erst spät und mit einem Vorbehalt zu Art. 5 Abs. 2 Buchst, a des Fakultativprotokolls beigetreten. Nach diesem Vorbehalt 415 gilt die Zuständigkeit des Ausschusses nicht für Mitteilungen, die bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft wurden (Buchst, a) oder die ein Ereignis betreffen, das vor dem Inkrafttreten des Fakultativprotokolls für die Bundesrepublik Deutschland seinen Ursprung hatte (Buchst, b) oder eine Verletzung des Art. 26 IPBPR, die sich nicht auf ein in diesem Pakt garantiertes Recht bezieht (Buchst, c) 416 .

II. Staatenbeschwerde; Individualbeschwerde 84

1. Die (fakultative) Staatenbeschwerde nach Art. 41 IPBPR ist k a u m mehr als ein Schlichtungsverfahren. Sie ist nur zwischen den Mitgliedsstaaten zulässig, die sich diesem Verfahren unterworfen haben 417 . Sie wird dadurch eingeleitet, daß der Staat, der von einem anderen Staat annimmt, daß dieser gegen seine Konventionspflichten verstößt, dies dem anderen Staat mitteilt, der seinerseits binnen drei Monaten dazu Stellung nehmen muß. Wird die Angelegenheit nicht binnen sechs Monaten zur Zufriedenheit beider Staaten bereinigt, kann jeder der beiden Staaten die Sache durch eine Mitteilung dem Ausschuß für Menschenrechte unterbreiten, der in einem nichtöffentlichen Verfahren als Vermittlungsorgan tätig wird und auf eine gütliche Beilegung hinwirken soll. Kommt diese nicht zustande, erstellt der Ausschuß einen Sachverhaltsbericht, der aber keine eigene Stellungnahme zum Vorliegen einer Vertragsverletzung enthält; er ist den beteiligten Vertragsstaaten zuzuleiten. Mit Zustimmung der beteiligten Vertragsstaaten kann der Ausschuß zur gütlichen Beilegung auch eine Ad-hoc-Vergleichskommission nach Art. 42 413

414

Abgedruckt bei Nowak S. 875 ff; vgl. auch Nowak EuGRZ 1984 421 sowie Nowak EuGRZ 1980 532, 537, 542, wonach die Staatenberichte durch den Berichtszwang und ihrer öffentlichen Zugänglichkeit als Kontrollmittel wirken. Vom 19.12.1966 (BGBl. 11 1992 S. 1247); für die Bundesrepublik Deutschland ist es am 25.11.1993 in Kraft getreten (Bek. vom 30.12.1993 - BGBl. 11 1994 S. 311): dazu Denkschrift der Bundesregierung BTDrucks. 7 660 S. 66. Text abgedruckt S. 61 ff

415

Mitgeteilt in der Bek. vom 30.12.1993 (BGBl. 11 1994 S. 311); Vertragsteil S. 61. 416 Yg] Einf. 15; 27 a. E, ferner Denkschrift der Bundesregierung zu Art. 5 des 2. Fakultativprotokolls, BRDrucks. 302/91 S. 12. 417 So auch die Bundesrepublik, vgl. Erkl. vom 24. 3. 1986, BGBl. 11 S. 746.

Stand: 1.10.2004

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V e r f a h r e n des M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Verfahren IPBPR

IPBPR einsetzen, die bei Scheitern einer gütlichen Beilegung ebenfalls nur einen Bericht über die Sachfragen erstellt, dem sie ihre Ansichten über die Möglichkeiten einer gütlichen Einigung beifügt (Art. 42 Abs. 7 Buchst, c IPBPR). Die rechtliche Unverbindlichkeit des gesamten Verfahrens wird dadurch verstärkt, daß 8 5 die beteiligten Staaten innerhalb von 3 Monaten dem Ausschußvorsitzenden mitteilen, ob sie mit dem Bericht einverstanden sind, wobei sie auch dessen tatsächliche Feststellungen in Frage stellen können 418 . Das ganze Verfahren nach Art. 42 IPBPR beruht letztlich auf der mitunter durch politischen Druck und dem Druck der öffentlichen Meinung herbeigeführten Bereitschaft des betroffenen Staates zur Kooperation. Es führt zu keiner nicht freiwillig eingegangenen rechtlichen Bindung. Es bleibt daher hinter dem Verfahren der M R K zurück, dessen Art. 55 M R K vorsieht, daß es grundsätzlich zwischen den Vertragsstaaten der M R K ausschließlich anzuwenden ist 419 . Wie Art. 44 IPBPR klarstellt, steht der IPBPR dem nicht entgegen. Auf die Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. 2. Die ebenfalls fakultative Individualbeschwerde nach dem FP-IPBPR gibt jeder Ein- 8 6 zelperson 420 , die behauptet, Opfer der Verletzung eines im IPBPR niedergelegten Rechts durch einen Vertragsstaat zu sein, die Befugnis, sich mit einer diesbezüglichen schriftlichen Mitteilung an den Ausschuß für Menschenrechte zu wenden. Dieser prüft die Mitteilungen unter Berücksichtigung aller ihm von dem Beschwerdeführer und dem betroffenen Vertragsstaat unterbreiteten Angaben in einem vertraulichen Verfahren. Er teilt seine entscheidungsähnliche Auffassung („its views"; „ses contestations") 421 , in der er das Vorliegen einer Menschenrechtsverletzung bejaht oder verneint, dem Vertragsstaat und der Einzelperson mit. Seine Sachentscheidungen werden auch veröffentlicht 422 . Sie wirken durch die Autorität des Ausschusses und durch ihre Publizität, völkerrechtlich verpflichtend sind sie nicht 423 . Das Verfahren bei der Individualbeschwerde ist im Fakultativprotokoll zum IPBPR 8 7 geregelt. Das Verfahren wird durch eine schriftliche Mitteilung einer Einzelperson ausgelöst, die nicht fristgebunden ist. Mitteilungen, die anonym sind oder die als mißbräuchlich oder unvereinbar mit den Bestimmungen des Paktes angesehen werden, weist der Ausschuß als unzulässig zurück (Art. 3 FP). Im übrigen übermittelt er die Mitteilung dem Vertragsstaat, dem die Verletzung des Paktes vorgeworfen wird. Dieser muß dazu binnen sechs Monaten Stellung nehmen und gegebenenfalls auch die von ihm getroffenen Abhilfemaßnahmen mitteilen (Art. 4 FP). Auf Grund der dem Ausschuß zugegangenen schriftlichen Angaben prüft dieser eine Mitteilung. Der innerstaatliche Rechtsweg muß erschöpft sein, es sei denn, daß das Verfahren bei dessen Inanspruchnahme unangemessen lang dauern würde (Art. 2; Art. 2 Abs. 2 Buchst, b FP). Dieselbe Sache darf auch nicht bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren untersucht werden (Art. 5 Abs. 2 Buchst, a FP) 423a . Art. 5 Abs. 2 Buchst, a F P 418

419

420

421 422

Vgl. Nowak Art. 42, 15; Bartsch NJW 1977 474; Nowak EuGRZ 1980 532, 537. Zur Tragweite beider Bestimmungen vgl. Nowak Art. 44. 6; 7. sowie die Resolution (70) 17 des Ministerkomitees des Europarats vom 15.5.1970, deutsche Übersetzung bei Simmal Fastemath Nr. 38. Ob wie bei anderen Pakten auch Personengruppen als Opfer beschwerdeberechtigt sind, ist strittig; vgl. Nowak Art. 2 FP, 1 ff; Nowak EuGRZ 1980 532, 548; verneinend Barisch NJW 1977 476. Vgl. Nowak Art. 5 FP, 30 ff. Nowak Art. 5 FP, 32.

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423

423a

Nowak Art. 5 FP, 33 ff; ferner Weiß AVR 42 (2004) 142, 151, wonach die Entscheidunges des Ausschusses nach Schätzungen nur in etwa einem Drittel der Fälle befolgt werden. Dazu Nowak EuGRZ 1980 532, 539; Verfahren vor dem Wirtschafts- und Sozialrat nach der Res. 1503 (vgl. Rdn. 91 ff) werden nicht als dieselbe Angelegenheit wie eine Einzelbeschwerde angesehen, da sie einen „Gesamtzusammenhang grober und verläßlich belegter Menschenrechtsverletzungen" voraussetzen.

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Sonst. Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

enthält aber nur ein temporäres Kumulationsverbot, das die Behandlung einer Beschwerde nicht für immer ausschließt, sondern nur für die Dauer der Befassung eines anderen internationalen Organs mit der gleichen Sache 424 . Es erlaubt also auch die Prüfung einer vom E G M R entschiedenen oder einer bereits in einem anderen internationalen Gremium behandelten Eingabe 425 . Der Ausschuß berät auf Grund der ihm vorliegenden Unterlagen über die Mitteilung in nicht öffentlicher Sitzung und teilt dann seine Auffassung („Views") den betroffenen Vertragsstaat und der Einzelperson mit, von der die Mitteilung stammt. Ein im Jahre 1990 eingerichtetes Nachfolgeverfahren soll überwachen, im welchen Umfang die betroffenen Staaten dieser Auffassung nachkommen 4 2 6 . Das Verfahren ähnelt in seinen Grundzügen in etwa dem früheren Verfahren vor der Europäischen Menschenrechtskommission, das jedoch nicht zuletzt wegen der eigenen Aufklärungsbefugnisse und der Möglichkeit der Herbeiführung einer bindenden gerichtlichen Entscheidung besser und wirksamer ausgestaltet war. Dies gilt erst recht für das jetzige justiz-förmige Verfahrens vor dem E G M R .

C. Sonstige Verfahren des internationalen Menschenrechtsschutzes I. Allgemeines 88

1. Neben dem Verfahren nach dem IPBPR und den 1. Fakultativprotokoll sind im Rahmen der vereinten Nationen weitere Einrichtungen geschaffen worden, die Menschenrechtsverletzungen unter verschiedenen Aspekten nachgehen können (Vgl. Rdn. 96 ff). Verschiedene Ubereinkommen, die den Menschenrechtsschutz in Teilbereichen international absichern sollen, haben ihrerseits Einrichtungen zur internationalen Überprüfung der von der jeweiligen Konvention erfaßten Menschenrechtsverletzungen geschaffen (dazu Rdn. 91 ff), die jeweils ein quasi-richterliches Verfahren vor Spezialgremien (Ausschüsse) vorsehen, das mit einer rechtlich unverbindlichen Erkenntnis endet, dessen Umsetzung dem jeweilign Vertragsstaat überlassen ist 427 . Alle diese Konventionen stehen nebeneinander. Der gleiche Vorfall kann deshalb mitunter von mehreren erfaßt werden, so daß sich die Frage stellt, wie sich die überschneidenden Konventionsverbürgungen sachlich zueinander verhalten und wie die verschiedenen konkurrierenden Verfahren zueinander stehen.

89

2. Sachliches Zusammentreffen der Verpflichtungen aus mehreren internationalen Übereinkommen. Die meisten der den Menschenrechtsschutz im weitesten Sinn bezweckenden internationale Übereinkommen haben in der Bundesrepublik durch die Ratifizierung innerstaatlich den Rang eine Bundesgesetzes erhalten. Sie überschneiden sich zum Teil untereinander und auch mit einzelnen Menschenrechtsgarantien der M R K und des IPBPR. D a sie im Regelfall nach dem Günstigkeitsprinzip weitergehende Rechte nicht ausschließen, muß im Einzelfall geprüft werden, ob und aus welcher Konvention dem Betroffenen die am weitestgehenden Rechte erwachsen. Dies gilt auch für das Verhältnis zum nationalen Recht, vor allem zum Verfassungsrecht 428 . Das Prinzip des am weitest

„Suspensive Wirkung" Nowak Ermacoru F S Verosta 195.

Art. 5 FP, 6; vgl.

Nowak E u G R Z 1980 536, 539, ferner Bartsch N J W 1994 1323); vgl. den Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland zu Art. 5 Abs. 2 Buchst, a F P (Bek. vom 3 0 . 1 2 . 1 9 9 3 - B G B l . TT 1994 S. 311) oben Rdn. 83.

Zur teilweise geringen Abhilfebereitschaft der betroffenen Staaten vgl. Weiß A V R 4 2 (2004) 142, 152 ff. Vgl. Weiß AVR 4 2 (2004) 142, 149 ff. Grabenwarter § 2 Rdn. 15. Meyer-Ladewig Art. 53, 2; Villiger H d B 67.

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gehenden Schutzes sichert dem Betroffenen im zweipoligen Staat-Bürgerverhältnis das jeweils höchste Schutzniveau. In einem mehrpoligen Menschenrechtsverhältnis, in dem verschiedene private Rechtsträger einander gegenüberstehen, versagt das einzelrechtsbezogene Günstigkeitsprinzip, weil dann eine über die Ausgangsrechtsordnung hinausgehende Besserstellung des einen mit einer Benachteiligung des anderen verbunden sein kann. In solchen Fällen muß der Rechtsordnung der Vorrang eingeräumt werden, die den kollidierenden Rechten ausgewogen Rechnung trägt; dies dürfte in der Regel eine beide Rechte umfassende Kodifikation sein 429 ; im übrigen muß bei einer Kollision von Konventionsrechten mehrere Personen versucht werden, sie in Abwägung ihrer Schutzzwecke zu einer praktischen Konkordanz zu bringen. Soweit allerdings der Individualrechtschutz durch ein spezielles Vertragsorgan einer Konvention angestrebt wird, können im Verfahren vor diesem Vertragsorgan immer nur die Individualrechte aus der jeweiligen Konvention geltend gemacht werden, nicht aber, daß ein darüber hinausgehendes nationales Recht oder ein Recht aus einer anderen Konvention verletzt worden ist. Wieweit umgekehrt dort zu berücksichtigen ist, daß ein Konventionsrechts durch Rechte eines Dritten aus einer anderen Konvention eingeschränkt wird, beurteilt sich in der Regel nach den gleichen Gesichtspunkten, die für die Einschränkbarkeit einer Konventionsgarantie durch innerstaatliche Gesetze gelten. Verfahrensrechtlich sind die meisten Übereinkommen, die dem Betroffenen gestatten, 9 0 bei Verletzung eines in ihnen garantierten Rechts ein durch dieses Ubereinkommen geschaffenes Organ (in der Regel ein besonderer Ausschuß) anzurufen, einander ähnlich; in den späteren Verfahrensregelungen, wie etwa im Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 6.10.1999 sind die Befugnisse des Ausschusses erweitert worden 430 . Die Übereinkommen sehen alle ein durch eine „Mitteilung"des Betroffenen in Gang gesetztes Verfahren vor, das nach Einholung einer Auskunft des betroffenen Staates mit einer unverbindlichen Entscheidung endet. Die meisten Verfahren setzen voraus, daß nicht ein anderes internationales Organ mit der gleichen Sache befaßt ist 431 . Je nach der Formulierung in den einzelnen Übereinkommen kann dieser Ausschluß endgültig sein, er kann aber auch nur für die Zeit der Anhängigkeit der gleichen Sache bei der anderen internationalen Instanz gelten.

II. Verfahren zum internationalen Menschenrechtsschutz bei der Organisation der Vereinten Nationen 1. Die Resolution 1503 des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECO- 91 SOC Res. 1503-XLVIII) vom 27.5.1970 4 3 2 hat ein Verfahren zur Prüfung besonders schwerer und zuverlässig bezeugter Menschenrechtsverletzungen geschaffen, das nicht primär die Abhilfe bei einer Menschenrechtsverletzung im Einzelfall bezweckt 433 , 429

Vgl. Grabenwarter VVDStL 60 290, 340; ferner Grabenwarter 2 Rdn. 15 (auch zum Verhältnis zwischen den Rechten aus der MRK und den Rechten der EU). 4 '° Anlaß waren Unzulänglichkeiten der in anderen (älteren) Fakultativprotokollen geregeltem Verfahren; vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 151. 431 Kummulationsverbot (Grundsatz der una via electa), vgl. Einf. Rdn. 51, ferner oben Rdn. 45. 4 2 -' Deutsche Übersetzung bei Meyer-LadewiglUhink Völkerrechtliche Übereinkommen und andere Dokumente des Europarats und der Vereinten Natio(665)

nen (1988) S. 189 oder bei SimmalFastenrath Nr. 2; die deutschen Übersetzungen der diesem Verfahren mit zugrundeliegenden Resolutionen 728 F (XXVIII) und 1235 (XLII) sind dort ebenfalls abgedruckt, so auch bei Salorius II Internationale Verträge, Europarecht Nrn. 24 bis 26. Die Resolution 728 F (XXVTTT) des Wirtschaftsund Sozialrats billigt ausdrücklich, daß die Kommission für Menschenrechte keine Befugnis hat, hinsichtlich der Beschwerden irgendwelche Maßnahmen zu treffen.

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sondern das Gesamtbild der Menschenrechtslage daraufhin überprüfen soll, ob sich ein System („consistent pattern") schwerwiegender Verletzungen abzeichnet, um so menschenrechtsfeindliche Staatspraktiken zu identifizieren 434 . Sie ermächtigt die Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und Minderheitenschutz der U N Menschenrechtskommission jährlich in einer nicht öffentlich tagenden Arbeitsgruppe die Mitteilungen von Einzelpersonen oder nichtamtlichen Personengruppen über Menschenrechtsverletzungen zu prüfen 4 3 5 . 92

Nach den von der Unterkommission aufgestellten Verfahrensregeln436 dürfen die an das Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen (Genf) zu richtenden Eingaben vor allem nicht anonym oder mit beleidigenden Ausdrücken abgefaßt sein oder ausschließlich auf von Massenmedien verbreiteten Berichten oder auf politischen Beweggründen beruhen, die mit den Zielen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar sind. Sie müssen die Verletzung von Menschenrechten betreffen, die sich aus der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder den Menschenrechtspakten ergeben. Die Eingaben, die nicht notwendig vom Opfer der Menschenrechtsverletzung selbst stammen müssen, sind innerhalb einer angemessenen Frist nach der grundsätzlich erforderlichen Erschöpfung des Rechtswegs einzureichen. Sie müssen den Sachverhalt darstellen und die verletzten Menschenrechte angeben. Sie werden den betroffenen Staaten zur Stellungnahme zugeleitet und dann zusammen mit dieser Stellungnahme von der Unterkommission dem Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen vorgelegt, wenn die Prüfung durch Unterkommissionen in einem vertraulichen Verfahren ein Gesamtbild schwerer Menschenrechtsverletzungen ergeben hat. Der Menschenrechtsausschuß kann eine eingehende Studie mit einem Bericht mit Empfehlungen an den Wirtschafts- oder Sozialrat beschließen oder kann mit ausdrücklicher Zustimmung des betroffenen Staates weitere Untersuchungen anordnen 4 3 7 . Auf Einzelheiten des schwerfälligen Verfahrens kann hier nicht eingegangen werden. D a es keine Abhilfe im Einzelfall erzwingen kann und nur auf schwerwiegende und symptomatische Menschenrechtsverletzungen abstellt, ist es meist von begrenztem Nutzen für den individuellen Rechtsschutz; trotzdem wurde angenommen, daß es das Kumulationsverbot des Art. 35 Abs. 2 Buchst, b M R K auslöst 438 .

93

2. Verfahren aufgrund der Entscheidung 104 Ex 3.3. des Exekutivrates der UNESCO vom 26. 4. 1978. Zu den Zielen der U N E S C O (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) gehört nach Art. 1 der Satzung vom 16.11.1945 439 auch, daß sie durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit beitragen soll, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, die den Völkern der Welt ohne Ansehen von Rasse, Geschlecht, Sprache und Religion nach der Satzung der Vereinten Nationen zustehen. Durch die Entscheidung 104 Ex 3.3 440 hat der Exekutivrat dieser Organisation eine Art Individualbeschwerdeverfahren eingeführt und geregelt. 434 435

436

437

Bartsch N J W 1977 477. Z u r großen Z a h l der Eingaben vgl. Bartsch N J W 1977 477: 1975: 30 000, 1976: 55 000 Eingaben; z u m P r o b l e m der B e f u g n i s ü b e r t r a g u n g auf die U n t e r kommission Ramcharan E S E r m a c o r a 37. Vgl. Resolution Τ (XXTV) der U n t e r k o m m i s s i o n , deutsche Ü b e r s e t z u n g bei Simmal Fastenrath Nr. 6. Z u m „ 1503 V e r f a h r e n " Bartsch N J W 1977 476; VerdrosslSimma § 1245. Stand:

438

459 440

Bartsch N J W 1977 476; Ermacora F S Verosta 193; 195 ff; aA Nowak E u G R Z 1980 532; 539; vgl. R d n . 87. BGBl. 1971 II S. 471 m i t späteren Ä n d e r u n g e n . D e u t s c h e Ü b e r s e t z u n g in Menschenrechte, D o k u m e n t e und D e k l a r a t i o n e n , Nr. I, 13; herausgegeben von der Bundeszentrale f ü r politische Bildung (1991).

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V e r f a h r e n des M e n s c h e n r e c h t s s c h u t z e s

Sonst. Verfahren

Diese Entscheidung, in deren Präambel auch erwogen wird, daß die U N E S C O im Geiste der internationalen Zusammenarbeit, des Ausgleichs und der Verständigung handeln und nicht die Rolle eines internationalen Gerichtshofs spielen sollte, sieht vor, daß einzelne Personen, Personengruppen und nichtstaatlichen Organisationen einen Ausschuß dieser Organisation durch eine „Mitteilung" (communication) mit Menschenrechtsverletzungen befassen können, der diese in einem grundsätzlich vertraulichen Verfahren bereinigen soll. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine solche Mitteilung werden in der genannten 9 4 Entscheidung näher geregelt. Die Mitteilung, die weder anonym sein noch ausschließlich auf durch Massenmedien verbreitete Informationen beruhen darf, muß Menschenrechtsverletzungen im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der internationalen Menschenrechtspakte oder sonstiger internationalen Instrumente auf dem Gebiete der Menschenrechte betreffen, die in den Zuständigkeitsbereich der U N E S C O fallen. Nicht notwendig ist, daß der für die Verletzung verantwortliche Staat selbst einem dieser internationalen Instrumente beigetreten ist 441 . Zur Mitteilung berechtigt sind Personen, von denen vernünftigerweise angenommen werden kann, daß sie Opfer der behaupteten Menschenrechtsverletzung sind oder die zuverlässige Kenntnis von einer solchen Verletzung haben. Die Mitteilung darf weder beleidigend noch offensichtlich unbegründet sein und muß wesentliche Beweise anführen. Sie ist innerhalb einer angemessenen Frist nach den Tatsachen, die ihren Gegenstand bilden oder nach Bekanntwerden dieser Tatsachen einzureichen und muß angeben, ob und mit welchem Erfolg versucht wurde, den innerstaatlichen Rechtsweg zu erschöpfen. Ist die Angelegenheit durch die betroffenen Staaten bereits in Übereinstimmung mit den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den in den Menschenrechtspakten festgelegten Grundsätzen geregelt worden, wird die Mitteilung nicht geprüft. Das Verfahren, wird vom Generaldirektor vorbereitet, der nach Zustimmung des 9 5 Verfassers der Mitteilung, die auch die Offenlegung seines Namens einschließt, die Regierung des betroffenen Staates zur Stellungnahme auffordert und der dann diese Stellungnahme zusammen mit der Mitteilung und sonstigen erhaltenen sachdienlichen Informationen dem Ausschuß zuleitet, der sie in nichtöffentlicher Sitzung prüft. Vertreter des betroffenen Staates können an der Sitzung teilnehmen. Der Ausschuß weist unzulässige Mitteilungen zurück, ferner solche Mitteilungen, die ihm nach der Prüfung als unbegründet erscheinen. Hiervon werden der Verfasser der Mitteilung und die betroffene Regierung benachrichtigt. Im übrigen versucht der Ausschuß, eine freundschaftliche Lösung zu erreichen, welche die Förderung der in die Zuständigkeit der U N E S C O fallenden Menschenrechte weiter bringt. Der Ausschuß berichtet dem Exekutivrat bei jeder Tagung vertraulich über die Erfüllung seines Auftrags, der den Bericht in nichtöffentlicher Sitzung behandelt; nur bei groben, systematischen und flagranten Verletzungen der Menschenrechte erwägt der Exekutivrat eine Prüfung in öffentlicher Sitzung.

III. Verfahren auf Grund von Spezialkonventionen 1. Allgemeines. Der durch den IPBPR geschaffene internationale Menschenrechts- 9 6 schütz im Rahmen der Vereinten Nationen wird durch weitere Konventionen ergänzt, die meist im Rahmen der Vereinten Nationen verabschiedet oder novelliert wurden und die

441

Verdroß/Simma § 316.

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Sonst. Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

jeweils eine großen Zahl von Staaten, darunter auch Deutschland, ratifiziert hat. Diese schützen, meist unter speziellen Gesichtspunkten, bestimmte Menschenrechte noch einmal besonders 442 . Mehrere von ihnen sehen auch vertragseigene Kontrollmechanismen vor, die eine internationale Überprüfung der eingegangenen Vertragsverpflichtungen ermöglichen und die von der Verpflichtung zu periodischen Staatenberichten bis zum unmittelbaren Beschwerderecht des Betroffenen reichen; so etwa -

das Übereinkommen über Zwangs und Pflichtarbeit (ILO-Übereinkommen 29) 28.6. 1930443, geändert durch Übereinkommen ILO 116 vom vom 26.6.1961 4 4 4 , - das Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangs- und Pflichtarbeit vom (ILOÜbereinkommen 105) vom 25.6.1957 4 4 5 , - das Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau vom 31.3.19 5 3 446 und - das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form der Rassendiskriminierung vom 7.3.1966 4 4 7 , - der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12. 1966448, - das Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 449 , - das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10.12.1984, - das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 450 , das durch das Fakultativprotokoll vom 5.5.2000 ergänzt wird, das sich gegen die Beteiligung von Jugendlichen unter 18 Jahren an bewaffneten Konflikten richtet 4502 . 97 Verschiedene dieser Übereinkommen eröffnen auch dem Einzelnen ein Beschwerderecht. Er kann bei einer Verletzung seiner im jeweiligen Übereinkommen garantierten Rechte ein besonderes Vertragsorgan (meist einen besonderen Ausschuß) anrufen. Die Einhaltung der speziellen Vertragsgarantien wird somit der alleinigen Kontrolle der Vetragsstaaten entzogen. Daß auch der betroffene Einzelnen die internationale Kontrolle der innerstaatlichen Vertragsumsetzung auslösen kann, soll die Schutzwirkung der Vertragsgarantien verstärken und der Tendenz in den Vertragsstaaten vorbeugen, die eingegangenen Vertragspflichten innerstaatlich nur zögerlich oder mit Abstrichen umzusetzen. Neben den Kontrollmechanismen der Internationalen Arbeitsorganisation gewähren vor allem die nachstehend angeführten Übereinkommen dem betroffenen Personen ein Beanstandungsrecht bei einer internationalen Instanz: 2. Einzelne internationale Kontrollverfahren 98

a) Das Internationalen Ubereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966 451 hat in Art. 8 einen Ausschuß für die Beseitigung der Rassendiskriminierung geschaffen, der ähnliche Befugnisse hat wie der Menschenrechtsaus-

Vgl. Einf. Rdn. 10. BGBl. TT 1956 S. 641. BGBl. TT 1963 S. 1136. BGBl. TT 1959 S. 442. BGBl. II 1969 S. 1930. BGBl. II 1969 S. 961. BGBl. II 1973 S. 1570, auch für die Bundesrepublik in Kraft getreten am 3.1.1976 (Bek. vom 9.3.1976 BGBl. TT S. 428).

Zustimmungsgesetz BGBl. II 1985 S. 647. geändert durch Gesetz vom 3.12.2001 (BGBl. TT S. 1234 Rücknahme eines Vorbehalts). Zustimmungsgesetz vom 17.2.1992 (BGBl. TT S. 131). Protokoll und Zustimmungsgesetz vom 16.9.2004 (BGBl. II S. 1354). BGBl. TT 1969 S. 962; Bek. vom 16.10.1969, BGBl. TT S. 2211.

Stand: 1.10.2004

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Sonst. Verfahren

schuß des IPBPR 4 5 2 . Der aus 18 Sachverständigen bestehende Ausschuß tagt zweimal im Jahr und prüft die obligatorischen Berichte der Mitgliedstaaten über die getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Abkommens, die diese periodisch dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zur Beratung durch den Ausschuß vorzulegen haben und berichtet jährlich der Generalversammlung der Vereinten Nationen über seine Tätigkeit, wobei er Vorschläge machen und allgemeine Empfehlungen abgeben kann (Art. 9). Nach Art. 16 sind die Bestimmungen des Abkommens unbeschadet anderer Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten anzuwenden. Sie hindern die Vertragsstaaten nicht daran, andere Verfahren in Anspruch zu nehmen; das sonst übliche Kumulationsverbot fehlt, anderweitige Anhängigkeit schließt also ein Verfahren vor diesem Ausschus nicht aus 453. Führt ein Vertragsstaat das Abkommen nicht durch, kann jeder andere Vertragsstaat 9 9 dem Ausschuß eine Mitteilung machen und dadurch ein Schlichtungsverfahren einleiten, in dessen Verlauf nötigenfalls eine Ad-hoc-Vergleichskommission eingesetzt werden kann, die in einem Bericht ihre Feststellungen und Empfehlungen niederlegt, zu deren Annahme sich die beteiligten Staaten binnen drei Monaten äußern müssen. Der Bericht und die dazu abgegebenen Äußerungen werden dann den anderen Vertragsstaaten des Ubereinkommens übermittelt (Art. 10 bis 13). Eine Individualbeschwerde ist in Art. 14 nur fakultativ vorgesehen. Sie setzt voraus, daß der Vertragsstaat die Zuständigkeit des Ausschusses zur Entgegennahme und Erörterung der Mitteilungen einzelner seiner Hoheitsgewalt unterstehender Personen oder Personengruppen anerkennt, die vorgeben, Opfer einer Verletzung der in dem Übereinkommen vorgesehenen Rechte zu sein 454 . Dem Verfahren, das grundsätzlich erst nach der innerstaatlichen Erschöpfung des Rechtswegs zulässig ist, kann eine innerstaatliche Stelle vorgeschaltet werden, die für die Erörterung der Beschwerden zuständig ist. Erst wenn der Einsender nach sechs Monaten keine Genugtuung erlangt, befaßt sich der Ausschuß mit der Sache und übermittelt dem Einsender der Mitteilung und dem betroffenen Staat seine Vorschläge und Empfehlungen 4 5 5 . Er nimmt sie in einer Kurzdarstellung außerdem in seinen Jahresbericht auf.

100

b) Das Übereinkommen vom 18.12.1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskrimi- 101 nierung der Frau456 wurde durch ein Fakultativprotokoll vom 6.10.1999 457 ergänzt, das unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, den IPBPR und anderer internationaler Menschenrechtsübereinkommen einen Ausschuß für Beseitigung der Diskriminierung der Frau vorsieht, der Mitteilungen über die Verletzungen des Übereinkommens entgegennehmen und prüfen soll (Art. 1 FP) 458 . Die Mitteilungen können schriftlich von oder im Namen von Einzelpersonen oder Personengruppen, aber nicht

4,2

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454

455

456

Deutsche Übersetzung der Verfahrensordnung des Ausschusses bei SimmulFasienruih Nr. 13. Zu derartigen „Streitschlichtungs-Ermunterungsklauseln" Emiaeora FS Mosler 189. Die Bundesrepublik hat das Indiviualbeschwerdeverfahren erst am 30.8.2001 für sich anerkannt; dazu und zum Verfahren vgl. Britz EGMR 2002 381; Weiß AVR 42 (2004) 141, 146, 153. Zur geringen Zahl der Staaten, die die Zuständigkeit des Ausschusses für ein Individualbeschwerde verfahren anerkannt haben und zur geringen Zahl der Beschwerden (26 seit 1982), vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 146. Gesetz vom 25.4.1985 (BGBl. 11 1985 S. 647), ge-

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ändert durch Gesetz vom 3.12.2001 (BGBl. II S. 1234, Streichung des Vorbehalts zu Art.7 Buchst, b des Übereinkommens) sowie durch das ebenfalls am 3.12.2001 erlassene Gesetz zur Entschließung vom 22.5.1995 (Änderung des Art. 20 Abs. 1 des Übereinkommens). BGBl. II 2001 S. 1238; in der Bundesrepublik am 15.1.2002 in Kraft getreten (Bek. vom 4.3.2002 BGBl. II S. 1197). Vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 148 (23 Sachverständige, die nach einer noch nicht in Kraft getretenen Regelung künftig zweimal im Jahr 3 Wochen tagen sollen).

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Sonst. Verfahren

Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

anonym, eingereicht werden, sie müssen behaupten, in einem im Übereinkommen festgelegten Recht durch einen Vertragsstaat verletzt worden zu sein, der dem Fakultativprotokoll beigetreten ist (Art. 2, 3 FP). Der Ausschuß prüft die Mitteilung nur, wenn er sich vergewissert hat, daß alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, es sei denn, das Rechtsbehelfs-Verfahren dauert unangemessen lange oder läßt keine wirksame Abhilfe erwarten (Art. 4 Abs. 1 FP). Mitteilungen die nicht hinreichend begründet oder offensichtlich unbegründet sind oder die einen Mißbrauch des Mitteilungsrechts bedeuten sind ebenso unzulässig wie Mitteilungen, bei denen dieselbe Sache bereits vom Ausschuß untersucht worden ist oder die in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft werden oder geprüft worden sind (Art. 4 Abs. 2 FP). 102

Zulässige Mitteilungen bringt der Ausschuß dem betreffenden Vertragsstaat vertraulich zur Kenntnis, sofern das Opfer in die Offenlegung seiner Identität eingewilligt hat. Der Vertragsstaat hat sich dann binnen 6 Monaten zur Sache und zu etwaigen von ihm in die Wege geleiteten Abhilfemaßnahmen zu erklären (Art. 6 FP). Der Ausschuß kann auch vorläufige Maßnahmen anregen, um einer möglicherweise irreparablen Schädigung des Opfers vorzubeugen (Art. 5 FP). Nach Prüfung des ihm vorliegenden Materials in nicht-öffentlicher Sitzung übermittelt der Ausschuß den Parteien seine Auffassung mit etwaigen Empfehlungen, die der betroffene Staat binnen sechs Monaten beantworten muß, wobei er auch alle von ihm getroffenen Maßnahmen anzuführen hat (Art. 7 FP). Bei schwerwiegenden oder systematischen Verletzungen der im Ubereinkommen garantierten Rechte kann der Ausschuß zur Vorbereitung seiner Feststellung und seiner Empfehlungen auch eine eigene Untersuchung durch eines oder mehrerer seiner Mitglieder durchführen, die mit Zustimmung des betroffenen Vertragsstaats auch einen Besuch in dessen Hoheitsgebiet mit einschließen (Art. 8, 9 FP). Das eigene Ermittlungsverfahren des Ausschusses, bei dem die Mitwirkung des Vertragsstaaten angestrebt werden soll, ist ebenfalls vertraulich (Art. 9 Abs. 2 FP). Es ist nur zulässig, wenn der jeweilige Staat nicht bei der Unterzeichnung oder Ratifikation des Zusatzprotokolls erklärt hat, daß er die in Art. 8 und 9 ZP vorgesehenen Zuständigkeiten des Ausschusses zu eigenen Ermittlungen nicht anerkennt. Nach Prüfung dieser Untersuchungsergebnisse übermittelt sie der Ausschuß mit seinen Bemerkungen und Vorschlägen dem betroffenen Vertragsstaat, der dann binnen 6 Monaten dazu Stellung nehmen muß (Art. 8 Abs. 4 ZP). Der Ausschuß kann den betreffenden Staat ferner auffordern, in seinem Bericht nach Art. 18 des Ubereinkommen Einzelheiten über die Maßnahmen aufzunehmen, die er als Reaktion auf die Untersuchung getroffen hat, auch der Ausschuß selbst kann die Unterrichtung hierüber fordern (Art. 9 ZP). Das ganze Verfahren ist vertraulich (Art. 6 Abs. 1; Art. 8 Abs. 5 ZP), jedoch kann der Ausschuß nach Konsultation des betroffenen Vertragsstaates eine Zusammenfassung des Ergebnisses in seinem eigenen Jahresbericht aufnehmen (Art. 12 ZP). Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, sicherzustellen, daß ihrer Hoheitsgewalt unterstehende Personen nicht deshalb mißhandelt oder eingeschüchtert werden, weil sie sich an den Ausschuß gewandt haben (Art. 11 ZP). Über seine Tätigkeiten nach diesem Protokoll berichtet der Ausschuß zusammengefaßt in seinem Jahresbericht nach Art. 21 des Übereinkommens (Art. 12 ZP).

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c) Das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 (UN-Antifolterkonvention) sieht in Art. 18 einen Ausschuß gegen Folter vor. Diesem zehnköpfingen Experten-Gremium, das zweimal jährlich tagt 459 , sind über den Generalsekretär der Vereinten Nationen alle vier 459

Vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 147 (bis 5.12.2002: 221 Beschwerden, davon 22, die eine Konventionsverletzung festeilten, 54 noch nicht erledigt).

Stand: 1.10.2004

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Sonst. Verfahren

Jahre periodische Berichte der Mitgliedstaaten über die zur Erfüllung der Vertragspflichten getroffenen Maßnahmen vorzulegen. Diese Berichte werden auch den anderen Mitgliedstaaten zugeleitet. Der Ausschuß, der keine bindenden Entscheidungsbefugnisse hat 460 , kann seine Bemerkungen zu dem Bericht dem jeweiligen Staat übermitteln, der seinerseits dazu Stellung nehmen kann (Art. 19). Ein besonderes Untersuchungsverfahren von Amts wegen sieht Art. 20 vor, das jedoch wegen der Nichtanerkennungsklausel des Art. 28 der Konvention letztlich fakultativ ist 46 '. Er ermächtigt den Ausschuß, von sich aus zuverlässigen Informationen nachzugehen, wenn diese wohlbegründete Hinweise darauf enthalten, daß im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates systematische Folterungen stattfinden 462 . Er kann eines oder mehrerer seiner Mitglieder mit einer vertraulichen Untersuchung beauftragen und den betreffenden Vertragsstaat auffordern, dabei mitzuwirken. Im Einvernehmen mit dem betreffenden Staat kann eine solche Untersuchung auch einen Besuch in dessen Hoheitsgebiet einschließen. Das Untersuchungsergebnis übermittelt der Ausschuß dann zusammen mit seinen Bemerkungen und Vorschlägen dem betroffenen Staat. Das Verfahren ist vertraulich. Nach Abschluß der Untersuchungen kann der Ausschuß nach Konsultation des betroffenen Staates jedoch beschließen, eine Zusammenfassung des Ergebnisses in seinem Jahresbericht nach Art. 24 aufzunehmen (Art. 20 Abs. 4).

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Fakultativ ist die Staatenbeschwerde, mit der ein Staat geltend machen kann, ein anderer Staat komme seinen Verpflichtungen aus der Konvention nicht nach. Sie ist nur zulässig, wenn beide Staaten sich diesem Verfahren unterworfen haben (Art. 21 Abs. 1). Der innerstaatliche Rechtsweg muß erschöpft sein. Mit ihr wird - ähnlich der Staatenbeschwerde nach dem IPBPR - zunächst eine gütliche Einigung angestrebt. Kommt diese nicht zustande, beschränkt der Ausschuß seinen darüber abzugebenden Bericht auf die kurze Darstellung des Sachverhalts, der die Stellungnahmen der beteiligten Staaten beizufügen sind (Art. 22).

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Fakultativ ist auch die Zulassung der Individualbeschwerde des Art. 22, die nur gegen einen Staat erhoben werden darf, der die Zuständigkeit des Ausschusses gegen Folter anerkannt hat 4 6 3 . Nur dann ist dieser befugt, Mitteilungen von Personen oder im Namen von Personen entgegenzunehmen, die geltend machen, Opfer einer Verletzung der Konvention durch den betreffenden Vertragsstaat zu sein. Diese Mitteilung darf weder anonym noch mißbräuchlich oder unvereinbar mit den Bestimmungen der Konvention sein. Die setzt voraus, daß dieselbe Sache nicht bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- und Streitregelungsverfahren geprüft wird und daß der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist. Letzteres ist jedoch nicht notwendig, wenn der Rechtsweg unangemessen lang dauert oder wenn davon keine wirksame Abhilfe für das Opfer zu erwarten ist. Der Ausschuß prüft die Mitteilung aufgrund der ihm erteilten Informationen, er ist aber auch befugt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und Zeugen anzuhören 4 6 4 . Der Ausschuß kann eines oder mehrerer seiner Mitglieder mit der

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463

Zum Durchsetzungsverfahren vgl. etwa HailhronnerlRandelzhofer EuGRZ 1986 642. Vgl. Nowak EuGRZ 1985 109; nach Nowak FS Ermacora 493, 504 haben nur wenige Staaten beim Beitritt von der „opting o u t " - Klausel Gebrauch gemacht. Nowak FS Ermacora 493. 504 sieht darin ein innovatives Element. Die Bundesrepublik Deutschland ist dem Protokoll am 19.10.2001 beigetreten, vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 147.

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Nowak FS Ermacora 493; zur Geschäftsbelastung des Ausschusses vgl. Weiß AVR 42 (2004) 142, 147 (von 1988 bis Dez. 2002: 221 Beschwerden, davon wurden 74 in der Sache entschieden, eine Konventionsverletzung wurde in 22 Fällen festgestellt und in 52 verneint; von den anderen waren 38 unzulässig und 55 wurden ohne Sachentscheidung eingestellt).

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Menschenrechtskonventionen, Erläuterungen

Durchführung einer vertraulichen Untersuchung beauftragen, die mit Einverständnis des betroffenen Vertragsstaates auch einen Besuch in dessen Hoheitsgebiet einschließen kann. Nach Abschluß seiner Überprüfung teilt er seine rechtlich unverbindliche Auffassung dem betroffenen Vertragsstaat und der Einzelperson mit.

D. Internationale Strafgerichtsbarkeit 107

1. Das am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedete Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen465, das am 1. Juli 2002 für die Bundesrepublik in Kraft getreten ist 466 , eröffnet die Möglichkeit, daß die dort genannten Verbrechen auch vor einem internationale Gerichtshof verfolgt werden können. D a es sich meist um schwere Menschenrechtsverletzungen handelt, fördert dies auch dem Menschenrechtsschutz. Bereits die Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948 467 hatte neben der Feststellung der Strafbarkeit des Völkermords den Gedanken angesprochen, daß die Aburteilung derartiger Verbrechen einem internationalen Strafgericht, dessen Gerichtsbarkeit die Parteien anerkannt haben, übertragen werden könne (Art. VI). D a ß die Verfolgung derartiger Verbrechen auch eine internationale Aufgabe ist, wurde durch die Ereignisse auf dem Balkan und in Afrika deutlich.

108

Die internationalen Strafgerichtshöfe für die Ahndung von Völkermord und schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen in Ruanda und im ehem. Jugoslawien468 konnte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wegen des Fehlens anwendbarer Vertragsregelungen nur in Anwendung von Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen 4 6 9 ad hoc einsetzen.

109

Auf Einzelheiten über Struktur und Verfahren dieser Gerichtshöfe und über ihre bisherige Rechtsprechung kann im Rahmen dieser Kommentierung nicht eingegangen werden; vgl. dazu etwa Kreß in Grützner/Pötz Internationale Rechtshilfe in Strafsachen Vor III 26 zum Internationalen Strafgerichtshof und III 27, 27a zu den Strafgerichtshöfen für Jugoslawien und Ruanda je mit weit. Nachw.

Zustimmungsgesetz vom 4.12.2000 (BGBl. TT S. 1393) mit Ausführungsgestz vom 21.6.2002 (BGBl. I S. 2144), dazu etwa Amho.i, Z S t W 111 (1999) 175; Kinkel N J W 1998 2650. Bek vom 28.2.2003 (BGBl. TT S. 293, „nach M a ß gabe der unter TT abgedruckten Erklärungen"); dazu etwa Mac Lean Z R P 2002 260, zur temporären Begrenzung der Tätigkeit des Internationalen Straf-

gerichshofs durch die Resolution 1422 (2002) des Sicherheitsrats vgl. Heselliaus ZaöRV 62 (2002) 907. BGBl. II 1954 S. 730. Resolution 827 vom 25.5.1993 und Resolution 955 vom 8.11.1994. Befugnis des Sicherheitsrats zu M a ß n a h m e n bei Bedrohung oder Bruch des Friedens.

Stand: 1.10.2004

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