Lodovico Cigoli: Formen der Wahrheit um 1600 9783110420708, 9783110425581

This ground-breaking study examines the work of the Florentine artist Lodovico Cigoli and the conditions of artistic pro

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German Pages 524 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
I. E inleitung
II . Veritas hi storica : Sehen und Lesen
1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher
2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur
3. H istorie: Wie es eigentlich gewesen ist, oder: Rehe im Wald
4. D ichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle
III . Veritas revela ta: Sehen und Gl auben
1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit
2. Beweise: Wunder
3. Blutzeugen: Märtyrer
4. A ugenzeugen: Visionäre
IV . Verità della sci enza: Sehen und Rechnen
1. H immelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis
2. Konvergenzen: Zwei Himmel, zwei Bücher, eine Wahrheit
3. „Vere dimostrazioni et esperienze“: Streit über schwimmende Körper
4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz
V. De’ veri precetti della pi ttura: Kunst und Wahrheit
1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?
2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?
3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien
4. Perspektive: Körper und Raum
VI . Semplici tà: Figuren der Reduktion
1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks
2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung
3. S emplicità: Erhabene Einfachheit
4. M onodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern
VII . Veritas affectiva : Bild und Betrachter
1. M uovere: Erheben und Bewegen
2. M uovere troppo: Nacktheit und Decorum
3. Kontemplation: Andacht und Dinge
4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung
VIII . Zusammenfassung: Was war Wahrheit?
Abkürzungen
Bibliographie
Register
Abbildungsnachweis
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Lodovico Cigoli: Formen der Wahrheit um 1600
 9783110420708, 9783110425581

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Lodov ico Cigoli For men der Wa hr heit um 1600

Jasmin Mersm a nn

Lodov ico Cigoli For men der Wahr heit um 1600

Gedruckt mit großzügiger finanzieller Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

ISBN 978-3-11-042558-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042070-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042081-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Lodovico Cigoli, Disputation der Hl. Katharina von Alexandrien, um 1603, collagierte Vorzeichnung, braune Tusche und Rötel auf Papier, 20,6 × 16,9 cm, Florenz, GDSU 8959 F. Layout und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany

www.degruyter.com

Inh a lt

I. Einleitu ng II.

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Ver itas histor ica : Sehen u nd Lesen 1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher 2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur 3. Historie: Wie es eigentlich gewesen ist, oder: Rehe im Wald 4. Dichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle

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III. Ver itas r evelata : Sehen u nd Gl auben 1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit 2. Beweise: Wunder 3. Blutzeugen: Märtyrer 4. Augenzeugen: Visionäre

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IV. Ver ità della scienz a : Sehen u nd R echnen 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis 2. Konvergenzen: Zwei Himmel, zwei Bücher, eine Wahrheit 3. „Vere dimostrazioni et esperienze“: Streit über schwimmende Körper 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

V.

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De’ ver i pr ecetti della pittur a : Ku nst u nd Wa hr heit 1. 2. 3. 4.

Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr? Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“? „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien Perspektive: Körper und Raum

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VI. Semplicità : Figur en der R eduktion



1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung 3. Semplicità: Erhabene Einfachheit 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

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VII. Ver itas affectiva : Bild u nd Betr achter 1. Muovere: Erheben und Bewegen 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum 3. Kontemplation: Andacht und Dinge 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

VIII. Zusa mmenfassu ng : Was wa r Wa hr heit? Abkürzungen Bibliographie Register Abbildungsnachweis

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I. Einleitung

„Pure al fine la verità arà il suo luogho.“ – „Am Ende wird sich die Wahrheit durchsetzen.“1 Im November 1610, in einem Moment, in dem Galileo Galilei (1564–1642) mit all jenen zu kämpfen hatte, die beim Blick durch das Fernrohr nicht das sahen, was er dort zu sehen vorgab, bestärkt ihn sein Freund, der Florentiner Maler Lodovico Cardi, gen. Cigoli (1559–1613), im Glauben an den Sieg der Wahrheit gegen Unwissenheit und Verleumdung. Doch die Wahrheit hatte hart zu kämpfen: Noch neun Monate später zweifelt der Jesuitenastronom Christophorus Clavius an der von Galilei behaupteten Unebenheit der Mondoberfläche. Cigoli bleibt trotzdem optimistisch: „Der Wahrheit ist es eigen, sich umso schneller zu enthüllen, je mehr man an sie rührt.“2 1612 entdeckt Galilei die Sonnenflecken; Cigoli und Domenico Cresti, gen. Passignano, unterstützen den Astronomen durch eigene Beobachtungsprotokolle.3 Im gleichen Jahr repräsentiert Cigoli den Mond unter den Füßen der Madonna im Kuppelfresko der Cappella Paolina in S. Maria Maggiore in Rom mit den von Galilei beschriebenen Flecken. Am 3. März 1613 appelliert er an Galilei, der Wahrheit durch die umgehende Veröffentlichung seiner Thesen zum Durchbruch zu verhelfen: „Tun Sie es, tun Sie es, tun Sie es, ohne wie in der

1  Cigoli an Galilei am 13.11.1610, Carteggio 2009, Nr. 13. S. 58 (Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Autorin. Zitiert wird aus der Ausgabe Togoni 2009. Auf die Kennzeichnung „sic“ wurde aufgrund der durchgängig sehr unregelmäßigen Schreibweise verzichtet.) 2  Cigoli an Galilei am 11.8.1611, ebd., Nr. 18, S. 66: „Imperò, Sig.r Galileo, la verità à per suo proprio, quanto più si rimesta, più presto si squopre.“ Die Bemerkung variiert das Motto „virescit vulnere veritas“, das im 16. Jahrhundert nicht nur als Druckerzeichen von Thomas Creede, sondern auch auf den Titelblättern des Cosmographical Glasse von 1559 bzw. der englischen Euklidübersetzung von 1570 Verwendung fand. Ausführlicher dazu in Kap. IV.1. 3  Vgl. Bredekamp 2007, S. 252, 275–277 und ders. 2015, S. 189–205. Für Bredekamp belegt die von Juni bis August 1612 entstandene Serie von Sonnenzeichnungen, dass Cigoli und Galilei „in diesen Monaten wie mit denselben Augen und Händen zu agieren vermochten“ (Bredekamp 2006, S. 111).

8 I. Einleitung

Vergangenheit zu zögern! Schreiben Sie die Wahrheit ohne Leidenschaft und ohne zu schmeicheln oder das Feld der Fortuna zu überlassen.“4 Wer nach der Lektüre dieser Zeilen das Gesamtwerk des Malers betrachtet, mag überrascht sein: Seine Gemälde zeigen entrückte Heilige mit himmelndem Blick, Engel in mystischen Lichtkegeln, Andachtsbilder mit Passionswerkzeugen, Szenen aus dem Leben Jesu – kurz: all das, was man seit Werner Weisbach als „Malerei der Gegenreformation“ bezeichnet und lange als Propagandakunst abgewertet hat.5 Die folgende Untersuchung nimmt ihren Ausgang in dieser scheinbaren Spannung zwischen einer auf den ersten Blick konservativen Kunst und den naturwissenschaftlichen Interessen eines Malers, der nicht nur regelmäßig Teleskopbeobachtungen anstellte, sondern auch mit großem Eifer Leichen sezierte und einen Perspektivtraktat verfasste, der den Einsatz von Zeichenapparaten propagierte. Cigoli ist Teil verschiedener epistemischer Kulturen. Seine Kunst lässt sich besser verstehen, wenn man sie als Antwort auf konkurrierende Wahrheitsansprüche betrachtet. Über die Auseinandersetzung mit Cigolis Gesamtwerk hinaus versteht sich die vorliegende Studie folglich als Beitrag zu einer von Martin Mulsow skizzierten „Kulturgeschichte der Wahrheit“.6 Eine solche Geschichte erscheint als widersprüchliches Unterfangen, solange man Wahrheit als etwas Absolutes, universal und überzeitlich Gültiges versteht. Im Folgenden geht es jedoch nicht um eine ontologische Definition des Begriffs, sondern um Konstellationen, in denen um 1600 „Wahrheit“ aufgerufen, reklamiert oder angegriffen wurde. Bernhard Kleeberg und Robert Suter haben für Situationen, in denen sich bestimmte Vorstellungen von Wahrheit herausbilden oder zur Anwendung kommen, den Begriff der „Wahrheitsszene“ geprägt.7 Im Zusammenspiel mit dem Begriff der 4 

Cigoli an Galilei am 3.5.1613, Carteggio 2009, Nr. 53, S. 129: „Fatelo, fatelo, fatelo, et non manchate a voi medesimo, come havete fatto per il passato. Scrivete il vero senza passione et senza curarvi di adulare o cedere il campo alla fortuna …“ Die Formulierung erinnert an das besonders im Neostoizismus verbreitete Motto „Sapiens supra Fortunam“ – „Der Weise steht über dem Schicksal“ (vgl. Mulsow 2012, S. 177–178). 5  Weisbach konstatiert in der gegenreformatorischen Kunst „etwas bewusst Zugespitztes, Tendenziöses, Propagandistisches“ (Weisbach 1920, S. 222) und noch Charles Dempsey bezeichnet diese Kunst als „propagandistic“ (Dempsey 2002, S. 565). Marcia Hall unterscheidet dagegen zwischen „creative responses“ und didaktischer Propagandakunst (Hall 2011, S. 5). Dabei war der Begriff „Propaganda“ in der frühen Neuzeit freilich positiv konnotiert und gab 1622 auch der S. Congregatio de propaganda fide ihren Namen (vgl. Schieder/Dipper 1984, S. 69). 6  Vgl. Mulsow 2006 und 2012, S. 171–196. Exemplarisch vorgeführt hat Mulsow seine Methode bei der Interpretation einer Reihe von Darstellungen der umbuhlten Veritas als Positionen in einem durch das spezifische Milieu des venezianischen Libertinismus geprägten, komplexen Verhältnisses zur prekären Wahrheit. 7  Die hier gewählte Formulierung ist bewusst etwas schwächer als die von den Autoren verwendete, die noch deutlicher auf den konstruierten Charakter von Wahrheit (nicht nur Wahrheitskonzepten) abhebt.

9 I. Einleitung

„Wahrheitsfigur“ soll dieses Konzept helfen, um das „doing truth“ als ein an komplexe soziale Zusammenhänge gebundenes, „situatives Geschehen“ zu beschreiben.8 Im Folgenden geht es dementsprechend weniger um „die Wahrheit“ als um die Orte, an denen man sie zu finden glaubte, um Strategien, mittels derer man sich ihr zu nähern suchte, um die Konflikte, die entbrannten, sobald unterschiedliche Gruppen sie für sich beanspruchten, vor allem aber um die Kriterien, die Aussagen oder Bilder erfüllen mussten, um von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen als wahr anerkannt zu werden. In seiner „Social History of Truth“ hat Stephen Shapin für das England Robert Boyles das Vertrauen (trust) in die durch ihre soziale Position legitimierten gentlemen als Kriterium für die Akzeptanz von Aussagen erkannt.9 Das Vertrauen war Grundlage eines epistemischen Dispositivs, das nicht nur die Wissenschaftler und ihr Publikum, sondern auch ihre Arbeitsorte, Repräsentationsformen, Gehilfen und Materialien einschloss. Für die venezianischen Libertins des 16. Jahrhunderts galt Mulsow zufolge das Gegenteil: Im Diskurs der Accademia degli Incogniti sei gerade das Misstrauen bestimmend gewesen – nicht nur gegenüber alten Autoritäten, sondern auch „insofern als es hier um eine Gesellschaft geht, für die Maskerade und Dissimulation ein grundlegender Habitus gewesen ist“, der stets polemisch gegen Neid und Verleumdung gerichtet gewesen sei.10 Galilei und Cigoli teilten die Ablehnung unhinterfragter Autoritäten, setzten dafür aber anders als die Libertins nicht auf esoterische Mehrdeutigkeit, sondern auf Kommunikation und Klarheit. Dabei vertraut Cigoli weder allein auf die der Wahrheit eigene Macht (vis veritatis) noch auf die Zeit, die ihre Tochter zum Vorschein bringt (veritas filia temporis), sondern mahnt dazu, der Wahrheit aktiv zum Durchbruch zu verhelfen – durch Bilder und zweisprachige Publikationen in hoher Auflage.11 Doch wie in der von Pietro Aretino entworfenen Imprese des Verlegers Francesco Marcolini, die erstmals auf Adriaen Willaerts Cinque messe von 1536 Verwendung fand, ist die Rettung der Wahrheit aus dem Abgrund immer von einem Dritten – der invidia oder calumnia – bedroht (Abb. 1).12 Tatsächlich lässt sich eine Zunahme von Wahrheitsbeteuerungen vor allem in jenen Situationen feststellen, in denen eine lange für wahr gehaltene Position in Frage 8 

Vgl. Kleeberg/Suter 2014, S. 211 und 217–220. Zwar sympathisiert die vorliegende Studie mit dem von den Autoren vorgeschlagenen praxeologischen Ansatz, verschiebt aber den Fokus: Es geht weniger darum, zu untersuchen wie ‚Wahrheit‘ sich konstituiert, als um unterschiedliche Wahrheitsbegriffe und -praktiken, die sich in unterschiedlichen Kontexten herausbilden. Vgl. auch Foucault 1983/1996, S. 668–678 und Nigro 2005, S. 49–50. 9  Vgl. Shapin 1994, v. a. S. 8–17. 10  Mulsow 2006, S. 14 und 2012, S. 188–189. 11  Vgl. Cigoli an Galilei am 1.10.1610, Carteggio 2009, Nr. 7, S. 49; am 19.10.1612, Nr. 43, S. 112; am 24.2.1613, Nr. 51, S. 126 und am 3.5.1613, Nr. 53, S. 129. 12  Zum Topos der veritas filia temporis vgl. Saxl 1936/1963. Erstmals nachgewiesen ist der Topos in Aulus Gellius’ Noctes Atticae, in denen die Menschen dazu aufgerufen werden, die Sünde zu meiden, weil die Zeit alles enthülle.

10 I. Einleitung

gestellt wird. Zwei paradigmatische Fälle für eine solche Proliferation von Wahrheitsvokabeln sind die Reformation und der Kopernikanismus des 17. Jahrhunderts. In beiden Situationen entstehen „antagonistische Netzwerke“, die Mulsow als „polar aufeinander gerichtete“ Vektoren beschreibt, die „einen guten Teil ihrer Aktionen als Reaktionen vom Verhalten des Gegners abhängig“ machten.13 Die Herausforderung der Papstkirche durch die Reformatoren treibt diese zur Definition dessen, was wahr und was falsch ist.14 Das Konzil von Trient setzte sich in den Jahren von 1545 bis 1563 mit den kritisierten Dogmen und Praktiken auseinander und definierte, was fortan als rechtgläubig zu gelten hatte. Die Bedrängnis der einzelnen Gläubigen, die göttlichen Zeichen entziffern zu müssen, „aus welchen der Mensch unfelbar erken1.  Verlegerzeichen von nen kann, welche aus den Christlichen Religionen die Marcolino da Forlì, hier: Adrien Willaert, Cinque messe, allein wahre seye“, zeigt sich exemplarisch an der RevokaVenedig 1536, Titelseite. tion eines lutherischen Priesters, der sich nicht auf die protestantische Kritik an der Unfehlbarkeit des Papstes einlassen mochte, weil damit sämtlichen Wahrheitsansprüchen (und damit auch Heilsversprechen) der Boden entzogen würde: „… die Un-Catholische geben keinen solchen lebendigen unfehlbahren Richter zu an statt Christi! Sondern sie sprechen: alle Menschen besonders, und sambtlich, können irren, dahero sey keine Kirch auff Erden, die unfehlbar ist!“ Dabei sei es allein einer Kirche, die überhaupt Unfehlbarkeit zulasse, möglich „die Irrthumb von der Warheit [zu] entscheiden“.15 Hubert Jedin hat die Polarisierung zwischen Reformation und Gegenreformation zu relativieren versucht, indem er die Kontinuität der katholischen Reformbewegung betonte.16 Die Reformation stellt seines Erachtens nur den radikalen Zweig einer seit dem Spätmittelalter nach institutioneller und spiritueller Erneuerung strebenden katholischen Reform dar. Den Begriff „Gegenreformation“ behält er der Verschärfung der Bewegung unter den Pontifikaten Clemens’ VIII. und Pauls V. vor. Einen anderen Ansatz zur Auf-

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Mulsow 2007, S. 174. 1541 beispielsweise publiziert der Kontroverstheologe Johannes Cochläus unter dem Titel De Vera Christi Ecclesia sieben Gründe dafür, dass die römische Kirche die einzig „wahre Kirche“ sei. 15  Stobaeus 1699, o. S. 16  Vgl. Jedin 1967, bes. S. 450. Gottfried Maron hält die Betonung der historischen Kontinuität für eine typisch katholische Form der Geschichtsschreibung im Unterschied zur Favorisierung von Umbrüchen und Wenden. Seines Erachtens habe sich die Reform keineswegs bruchlos vollzogen, nicht zuletzt weil die innerkirchlichen Reformkräfte stark bekämpft worden seien (vgl. Maron 1977). 14 

11 I. Einleitung

lösung des Dualismus vertreten die Verfechter des Paradigmas der „Konfessionalisierung“: Ernst Walter Zeeden hatte 1958 den Begriff der „Konfessionsbildung“ geprägt, um die jeweiligen Strategien zur Definition spezifischer Glaubensinhalte und Rituale der alten wie der neuen Kirchen zu bezeichnen.17 Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling erweiterten den Begriff um eine gesellschaftspolitische Dimension.18 Mit ihrem Begriff der „Konfessionalisierung“ betonten sie die zentrale Rolle von Religion und Kirche im neuzeitlichen Staat und die vielgestaltige Dynamik der Aktionen und Reaktionen der verschiedenen Gruppierungen, deren Identität maßgeblich von der Abgrenzung nach außen und der Selbstvergewisserung nach innen geprägt worden sei. Reformation und Gegenreformation erscheinen nun als zwei Folgen und Motoren eines grundlegenderen gesellschaftlichen Wandels, den Reinhard mit dem Begriff der „Modernisierung“ bezeichnet, die er durch Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung, Technologisierung, Mobilisierung, Institutionalisierung, Sozialdisziplinierung und Säkularisierung charakterisiert – große Begriffe, die zwar im Hintergrund der vorliegenden Studie stehen, aber zugunsten einer Mikroperspektive zurückgestellt werden.19 Mit der provokanten Frage nach der „Modernität“ der Gegenreformation attackieren Reinhard und Paolo Prodi die Verknüpfung von Moderne und Protestantismus, die besonders durch Max Webers These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Protestantismus geprägt wurde.20 Vorläufer hat ihre Position in den Studien Outram Evennetts und seines Schülers John Bossy, der vor allem in den bürokratischen und pädagogischen Neuerungen (wie dem status animarum und den Bemühungen um eine allgemeine Alphabetisierung) einen nicht intendierten Beitrag der römisch-katholischen Kirche zur

17 

Vgl. Zeeden 1958. Vgl. Reinhard/Schilling 1995. Einen exzellenten Überblick über den aktuellen Stand der Debatte gibt Ute Lotz-Heumann, die mehrere Kritikpunkte an dem Konzept der Konfessionalisierung identifiziert: an deren Periodisierung, an deren Deutung als Modernisierungsprozess, an der Einebnung der Eigentümlichkeiten der verschiedenen Kirchen und an der Einschätzung der Reichweite der Konfessionalisierung in alle Gesellschaftsbereiche hinein. Zudem erörtert sie regionale Unterschiede in Europa und plädiert dafür, Konfessionalisierung stärker als konfliktreichen Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Akteuren zu verstehen (vgl. Lotz-Heumann 2013, bes. S. 33–42). 19  Reinhard/Prodi 2001, S. 26. Ähnlich argumentiert Gauvin Alexander Bailey, der die Gegenreformation als Ausdruck derselben Krise versteht, die auch das Lutherische Schisma hervorgebracht habe (vgl. Bailey 2003, S. 14). Einen aufschlussreichen Versuch der Bestimmung der „Modernität des nachtridentinischen Heiligenhimmels“ unternimmt Peter Burschel (1999, S. 576 und 2001a). Baumgarten spricht von einem „Modernisierungsschub“ und bezeichnet die Gegenreformatoren als „konservative Reformer“ (2004, S. 29, 139 und 205). 20  Reinhard/Prodi 2001, S. 59. 18 

12 I. Einleitung

modernen Gesellschaft erkannte.21 Der Erfolg dieser Maßnahmen erklärt sich durch ihre Konvergenz mit politischen Interessen.22 Trotz seiner Vorteile konnte sich der Begriff in der Kunstgeschichte (insbesondere was Italien betrifft) bislang kaum durchsetzen.23 Insofern die konfessionelle Stoßrichtung nur einen Aspekt der im Folgenden vorgestellten Kunstwerke darstellt, wird in der vorliegenden Studie auf eine vereinheitlichende Bezeichnung zugunsten der neutraleren Formulierung „Kunst um 1600“ verzichtet. Die Jahrhundertwende ist zugleich ein Heiliges Jahr, das eine große künstlerische Produktivität in Gang setzte, die den unter Sixtus V. einsetzenden Übergang von der ecclesia militans zur ecclesia triumphans begleitete. Der behandelte Zeitraum von ca. 1580 bis 1615 entspricht in etwa der Schaffenszeit Cigolis, der unter drei Großherzögen – Francesco I. (1574–1587), Ferdinando I. (1587–1609) sowie Cosimo II. de’ Medici (1609–1621) – und vier Päpsten – Gregor XIII. (1572–1585), Sixtus V. (1585–1590), Clemens VIII. (1592–1605) und Paul V. (1605–1621) – arbeitete.24 Nach dem vorgestellten Modell aufgelöster Polaritäten ließe sich auch die Entwicklung der katholischen Kunst beschreiben. Bislang wurde die sogenannte „Malerei der Gegenreformation“ als reaktionäre Antithese zum experimentellen, individualistischen Manierismus, als rückwärtsgewandte Kunst am Gängelband einer um ihren Machtverlust besorgten oder bereits wiedererstarkten Kirche beschrieben. Während Emile Mâle die „mit der Kirche verbündete Kunst“ 1931 noch als bloße „Gegenpropaganda“ bezeichnete, die alles verteidigte, was der Protestantismus attackierte – „den Marienkult, den Primat des Papstes, den Glauben an die Sakramente, die Gebete für die Toten, die Wirksamkeit der Werke, die Fürbitte der Heiligen, die Bild- und Reliquienverehrung“ etc. –, ließe sie sich nun als Bestandteil jener vielgestaltigen Dynamik auffassen, die nicht nur auf die Infragestellung katholischer Lehrsätze und Bildpraktiken reagierte, sondern – insofern sie nicht allein von Kirche und Theologie geprägt, sondern auch mit florieren21  Vgl. Evennett 1968, v. a. S. 20; Bossy 1970 und Burke 1987, S. 55–65. Die kirchliche Buchführung betraf Tauf-, Hochzeits- und Sterberegister sowie die Kontrolle der Beicht- und Kommuniongänge. 22  Auch in Florenz verband sich die kirchliche Bürokratisierung mit dem großherzoglichen Wunsch nach staatlicher Kontrolle. Der venezianische Botschafter Vincenzo Fedeli beispielsweise berichtet 1561, der Großherzog befrage die Pfarrer regelmäßig nach der Zahl der Kommunizierenden, da „Veränderungen in der Religion die Gefahr von Veränderungen im Staat“ mit sich brächten. (Relazione di messer Vincenzo Fedeli (1561), zit. nach Weissman 1982, S. 207.) Zum Fortbestand von Cosimos Spitzelsystem unter Francesco I. und Ferdinando I. vgl. Berner 1971, S. 240. 23  Vgl. Packeiser 2002, S. 321–324 und Hecht 2012, bes. S. 12. Ein Plädoyer für die Berücksichtigung des Konfessionalisierungsparadigmas in der Kunstgeschichte findet sich bei Sven Externbrink und Michael Scholz-Hänsel 1996; Jens Baumgarten untersucht das Verhältnis von Konfession, Bild und Macht mit Blick auf deren Herrschafts- und Disziplinierungspotential (2004, bes. S. 19–26); David Ganz und Georg Henkel adoptieren zumindest den Begriff des „konfessionellen Zeitalters“ (vgl. dies. 2004 und 2007). 24  Zwischen die Pontifikate von Sixtus V. und Clemens VIII. fallen die äußerst kurzen Amtszeiten von Urban VII., Gregor XIV. und Innozenz IX.

13 I. Einleitung

den Wissenschaften wie der Philologie, Archäologie, Anatomie und Astronomie verknüpft war – Teil weitreichender Veränderungsprozesse war. Diese Revision macht Mâles Einsicht, derzufolge die Herausforderung durch den Protestantismus eine der „wichtig­ sten Stimulanzien“ der katholischen Kunst bildete, nicht ungültig.25 Es ist diese Herausforderung, auf die das Konzil mit dem buchstäblich bis zur letzten Minute aufgeschobenen Bilderdekret antwortete. In Frankreich waren schon bei der Synode von Paris 1527 zwei Dekrete zur Rechtfertigung und Berichtigung der Bilder verabschiedet worden, die jedoch nicht verhindern konnten, dass bei den Kolloquien von Poissy 1561 und Saint-Germain 1562 erneut heftig über die Bilderfrage gestritten wurde. Nicht zuletzt die danach einsetzende Ikonoklasmuswelle veranlasste eine französische Delegation zur späten Beteiligung am Konzil. Insbesondere Kardinal Charles de Guise drängte dort auf eine klare Positionierung in der Bilderfrage und legte die von Theologen der Sorbonne verfasste Sententia als Entwurf vor.26 In der letzten Sektion vom 3. Dezember 1563 wurde die Heiligen- und Bilderverehrung als rechtmäßig erklärt und erstmals in das Glaubensbekenntnis aufgenommen. Obgleich das Dekret primär darauf zielte, Bilder vor Angriffen in Schutz zu nehmen, wurden indirekt auch Missstände eingestanden, die durch eine striktere klerikale Kontrolle behoben werden sollten.27 In dem Dekret verbinden sich Ontologie und Rezeptionsästhetik: Bilder seien von Nutzen, weil sie zur Erziehung und Festigung der Gläubigen beitrügen, die Erinnerung an die göttlichen Gaben und Wunder wachhielten und zur frommen Nachahmung der Heiligen anregten. Zu verehren seien Bilder „nicht als würde geglaubt, in ihnen sei irgendeine Göttlichkeit oder Kraft, […] oder als müsse man von ihnen etwas erbitten, oder das feste Vertrauen sei an den Bildern festzumachen, wie es einst von den Heiden geschah, die ihre Hoffnung auf die Götzenbilder setzten“, sondern weil die ihnen erwiesene Ehre (wie bereits beim Zweiten Konzil von Nicäa im Jahr 787 stipuliert) „sich auf die Urgestalten bezieht, die jene Bilder vergegenwärtigen, so dass wir durch die Bilder, die wir küssen und vor denen wir das Haupt entblößen und uns niederknien, Christus anbeten und die Heiligen, die sie darstellen, verehren.“28 Neben Magie und Profitstreben sind „Bilder falschen Glaubensinhalts, die für die Ungebildeten zum Anlass gefährlichen Irrtums werden“ ebenso

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Mâle 1984, S. 107. Vgl. O’Malley 2013, S. 32–33. Auch die Ablässe – immerhin Auslöser der Konfessionsstreits – wurden erst kurz vor Abschluss des Konzils behandelt (vgl. ebd., S. 35). 27  Vgl. Sessio XXV, Wohlmuth 2002, S. 774–776. 28  Ebd., S. 775: „… non quod credatur inesse aliqua in iis divinitas vel virtus, propter quam sint colendae, vel quod ab eis sit aliquid petendum, vel quod fiducia in imaginibus sit figenda, veluti olim fiebat a gentibus, quae in idolis spem suam collocabant: sed quoniam honos, qui eis exhibetur, refertur ad prototypa, quae illae repraesentant: ita ut per imagines, quas osculamur et coram quibus caput aperimus et procumbimus, Christum adoremus, et sanctos, quorum illae similitudinem gerunt, veneremur.“ (Meine Hervorheb.) 26 

14 I. Einleitung

zu vermeiden wie „Bilder von verführerischer Schönheit und Ornamentik“.29 Um die Durchsetzung dieser Forderungen zu garantieren, mussten neue, „ungewohnte Bilder“ (imagines insolitae) fortan ebenso wie Wunder und neue Reliquien vom zuständigen Bischof approbiert werden, der sich gegebenenfalls von Experten beraten lassen und dann „in Übereinstimmung mit Wahrheit und Frömmigkeit“ (veritati et pietati consentanea) entscheiden sollte.30 In Reaktion auf die Bilderstürme waren vor dem Konzil zahlreiche theologische Traktate zur Verteidigung der Bilder erschienen, die insbesondere auf deren didaktische, affektive und mnemotechnische Funktion abhoben. Schon im Frühjahr 1522 verurteilte Johannes Eck die Wittenberger Bilderstürmer in seinem Traktat De non tollendis Christi et sanctorum imaginibus. Kurz darauf publizierte der Dresdner Hofkaplan Hieronymus Emser eine auf die ikonophilen Streitschriften Gregors des Großen, Johannes’ von Damaskus und Thomas Netters gestützte Widerlegung von Andreas Karlstadts radikaler Schrift Von Abtuhung der Bilder. Heribert Smolinsky hat gezeigt, inwiefern die Praxis der Kontroverstheologen, die protestantischen Argumente Punkt für Punkt zu widerlegen, dazu führte, dass Bildverteidiger wie Emser sich „vom Gegner die Fragestellungen und den Gedankengang diktieren“ ließen.31 Differenzierter wurde die Debatte in den 1540er Jahren: 1544 verteidigte Johannes Cochläus den Heiligenkult, den Einsatz von Bildern und die Verehrung von Reliquien. Besonders einflussreich wurden die Traktate des Bischofs Ambrosius Catharinus und Konrad Brauns De Imaginibus von 1547. Die erste wichtige Schrift nach dem Konzil ist Johannes Molanus’ De Picturis et Imaginibus sacris von 1570, die ab der zweiten Auflage eine Abhandlung über den „wahren Gebrauch“ der Bilder verspricht: De historia SS. Imaginum et picturarum, pro vero earum usu contra abusus.32 29 

Ebd., S. 775–776: „In has autem sanctas et salutares observationes si qui abusus irrepserint: eos prorsus aboleri sancta synodus vehementer cupit, ita ut nullae falsi dogmatis imagines et rudibus periculosi erroris occasionem praebentes statuantur. […] Quodsi aliquando historias et narrationes sacrae scripturae, cum id indoctae plebi expediet, exprimi et figurari contigerit: doceatur populus, non propterea divinitatem figurari, quasi corporeis oculis conspici, vel coloribus aut figuris exprimi possit. Omnis porro superstitio in sanctorum invocatione, reliquiarum veneratione et imaginum sacro usu tollatur, omnis turpis quaestus eliminetur, omnis denique lascivia vitetur, ita ut procaci venustate imagines non pingantur nec ornentur …“ 30  Ebd., S. 776: „… statuit sancta synodus, nemini licere, ullo in loco vel ecclesia, etiam quomodolibet exempta, ullam insolitam ponere vel ponendam curare imaginem, nisi ab episcopo approbata fuerit; nulla etiam admittenda esse nova miracula, nec novas reliquias recipiendas, nisi eodem recognoscente et approbante episcopo, qui, simul atque de iis aliquid compertum habuerit, adhibitis in consilium theologis et aliis piis viris, ea faciat, quae veritati et pietati consentanea judicaverit …“ 31  Smolinski 1980, S. 433. Zum Bilderstreit vgl. insbesondere Göttler 1990; Scavizzi 1992; Michalski 1993; Schnitzler 1996 und Hecht 2012. 32  Vgl. v. a. Hecht 2012 und Scavizzi 1992, S. 115–121, der zahlreiche Widersprüche in Molanus’ Werk aufdeckt: Der Theologe kritisiert den Bilderkult, erlaubt aber entsprechende Prozessionen; er fordert historische Wahrheit, hält jedoch manche Fehler für unbedeutend; er kritisiert die Darstellung von

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1582 legte der Bologneser Reformbischof und Konzilsteilnehmer Gabriele Paleotti mit seinem Discorso intorno alle immagini sacre e profane eine Handreichung vor – wenn auch nicht unbedingt für Künstler, so doch für Theologen und Auftraggeber.33 Er selbst betätigte sich als Auftraggeber bei der Gestaltung der Krypta von S. Pietro in Bologna als „eschatologischem Erlebnisraum“.34 Beraten wurde er von Künstlern wie Prospero Fontana, Domenico Tibaldi und Pirro Ligorio, aber auch dem Naturforscher Ulisse Aldrovandi, dem Historiker Carlo Sigonio und dem Mailänder Erzbischof Carlo Borromeo, dessen 1577 erschienene Schrift über die Architektur und Ausstattung von Kirchen ein Komplement zu Paleottis Bildertraktat bildete.35 Obgleich zur Rettung der Bilder geschrieben, wurde den Traktaten wegen ihrer inhaltlichen und ästhetischen Strenge lange eine andere Art des Ikonoklasmus vorgeworfen.36 Sydney Freedberg bezeichnete die ihnen entsprechenden Bilder als „anti-art […] debased to serve efficiency of piety“.37 Tatsächlich warnte nicht nur Zwingli vor dem Dilemma, dass schlechte wie gute Kunst die Andacht vertreiben könne; auch Bildverteidiger wie Emser wussten, dass Bilder, „ye kunstlicher“ sie sind, desto mehr zur „beschawung der kunst“ als zur Andacht animieren.38 Trotzdem wurden in den bildtheologischen Traktaten, denen Christian Hecht eine grundlegende Studie gewidmet hat, so intensiv wie selten zuvor die Potentiale von Bildern erörtert.39 Dazu konnten sich die Autoren auf die rhetorische Trias delectare, docere, movere berufen, die mit Alberti Eingang in die Kunsttheorie gefunden hatte.40 In diesem Sinne nennt auch Cigoli Bilder „äußerst wirksame Werkzeuge“ (mezzi efficacissimi), deren Macht er durch antike und christliche Beispiele als erwiesen ansieht. Die Triumphbögen und Kolosse der Römer beispielsweise hätten dazu gedient, die Menschen zu glorreichen Unternehmungen anzuregen (per eccitare Apokryphen, erlaubt sie aber, solange sie wahrscheinlich sind. Nacktheit wird verurteilt, einige Figuren (wie Susanna) aber als Tugendbild ausgenommen etc. (vgl. Scavizzi, S. 119). Die apologetische und didaktische Zielsetzung des Werks wird bereits an der Kapitelaufteilung ersichtlich: Der Traktat beginnt mit einer Geschichte des Ikonoklasmus, um dann die Grundsätze der rechtgläubigen Malerei und schließlich eine am Kirchenjahr orientierte, korrekte christliche Ikonographie zu entwerfen. 33  Zu Paleotti vgl. Steinemann 2006; Baumgarten 2004, S. 52–58; Ganz 2000; Scavizzi 1992, S. 131–140 und vor allem Prodi 1984. Scavizzi nennt den Discorso „a real catechism for artists“ (1992, S. 131). 34  Göttler 1996, S. 97; vgl. auch die aufschlussreiche Studie von Bianchi 2014. 35  Vgl. Baumgarten 2004, S. 43–52; Heß-Kickert 1999; Prodi 1984; Cochrane 1970, S. 310. 36  Helmut Feld verhandelt die Traktate explizit unter dem Titel „Der Ikonoklasmus des Westens“ und nennt Molanus’ Werk eines jener Bücher, „die besser nie geschrieben worden wären“ (Feld 1990, S. 210). 37  Freedberg 1993, S. 599–600. 38  Vgl. Göttler 1990, S. 276 und 280. 39  Vgl. Hecht 1997 und die überarbeite Neuauflage von 2012, ausführlicher dazu in Kap. II.2. 40  Vgl. Cicero, Orator, 21.69, S. 64; zur Parallelisierung von Kunst und Rhetorik vgl. Jones 2003, S. 65.

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gl’animi a gloriose imprese); bis heute besäßen religiöse Bilder das Vermögen, den Geist der Gläubigen zu Gott zu wenden (per meglio volger’ le menti nostre a Dio).41 Wie Hieroglyphen könnten Bilder komplexe Sachverhalte in verdichteter Form repräsentieren und seien daher nicht nur effiziente Wissensspeicher, sondern auch „ein Hilfsmittel des Intellekts“ (aiuto dell’Intelletto).42 Cigolis Bemerkungen zur Wirkkraft der Bilder gehen über die kontroverstheologischen Topoi insofern hinaus, als die Bildbetrachtung seines Erachtens nicht allein der Vermittlung und Memorisierung bestimmter Inhalte oder der Erweckung von Andacht dient, sondern auch als Sehtraining funktioniert, das dazu befähigt, die Natur mit mehr Klarheit, Intelligenz und auch Vergnügen zu betrachten (con più chiarezza, e maggior’ intelligenza potessero contemplare le bellezze della Natura, e con diletto riceverle).43 Da die Traktate wie auch das Bilderdekret kaum stilistische Vorgaben enthalten, ist ihre Wirkung umstritten. Julius von Schlosser widmet Paleotti nur einen Paragraphen in seinem Kapitel über „die Moralisten“ und schätzt seinen Einfluss sehr gering ein – ähnlich wie später Jedin in seinem grundlegenden Aufsatz über „Das Tridentinum und die Bildenden Künste“.44 Scavizzi differenziert zwischen den vornehmlich von und für Theologen geschriebenen vortridentinischen Traktaten und den nach 1563 entstandenen, die seiner Einschätzung nach unmittelbare Auswirkungen auf den Kirchenraum hatten.45 Engelbert Kirschbaum, Helmut Feld und Anton Boschloo betonen das Auseinanderklaffen zwischen dem Anspruch der Kirche und der Eigengesetzlichkeit der Kunst – einen Konflikt, den Marcia Hall in ihrer Studie über „The Sacred Image in the Age of Art“ als „collision course“ beschreibt.46 Eine negative Einschätzung der Wirkmächtigkeit der Traktate kann sich auf Paleottis eigene, am Lebensabend geäußerte Klage über das Fortbestehen der Missstände berufen, denen er durch eine bessere theologische Ausbildung der Maler und einen Bild-Index nach dem Modell des Index Librorum Prohibitorum beizukommen hoffte. Sein 1596 publiziertes Memorandum wurde von einem Teil des Klerus unterstützt; Kardinal Silvio Antoniano jedoch verwahrte sich im Namen der Traditionskirche gegen die Behauptung arger Missstände.47 41 

Vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 6v, S. 118. Ebd. 43  Vgl. ebd., fol. 6v, S. 120. 44  Schlosser 1924/1985, S. 383–384 und Jedin 1963. 45  Scavizzi 1992, S. 249–253. 46  Hall 2011, S. 5. Vgl. Kirschbaum 1945; Feld 1990, S. 210 und 283 und Hecht 1997, S. 331. Holger Steinemann liest die Traktate als Antwort auf die „Herausforderungen einer im Wandel begriffenen künstlerischen Wirklichkeit“ (2006, S. 38). 47  Veröffentlicht als „De tollendis imaginum abusibus novissima consideratio“, 1596, reproduziert in Prodi 1984, Appendix II; zum Index vgl. schon Paleotti 1582/1961, S. 225 und 268. Vgl. dazu Steinemann 2006, S. 30 und 49; Zapperi 1994, S. 62 und Prodi 1984, S. 121, der den Einfluss höher bewertet. Zu Paleottis Index-Plan und der Reaktion dagegen vgl. Hecht 2012, S. 318–323 und ausführlicher in Kap. II.1. Der Jesuit Ludovico Maselli beklagt noch 1610 die Missachtung der Konzilsbeschlüsse (vgl. Maselli 1610, S. 654). 42 

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Nichtsdestotrotz lassen sich ab 1580 Veränderungen beobachten, die sich zwar nicht unmittelbar auf die Traktate, wohl aber auf das neue soziokulturelle und künstlerische Klima zurückführen lassen.48 Stefan Kummer konzediert einen zumindest indirekten Einfluss des Dekrets, der sich in der Um- und Neugestaltung zahlreicher römischer Kirchen manifestiert habe.49 Anhand der Ausstattungskampagnen in S. Spirito in Sassia, Il Gesù, S. Madonna dei Monti und der Chiesa Nuova werde deutlich, „dass das Trienter Bilderdekret, auch wenn es kaum ‚stilbildend‘ wirkte, doch gewaltige künstlerische Energien freigesetzt hat, Energien, die sich schließlich als Katalysatoren des künstlerischen Schaffens im 17. Jahrhundert erweisen sollten.“50 Eine besondere Rolle spielten in diesem Prozess die Jesuiten, die nicht nur einflussreiche Institutionen gründeten und neue Frömmigkeitsformen wie die Exerzitien oder die Quarant’ore einführten, sondern auch in großem Maßstab optische und künstlerische Medien einsetzten.51 Mit Recht warnt Bailey vor der Annahme, dass religiöse oder kirchliche Ansprüche grundsätzlich äußere Zwänge bedeuteten: „Artists were not outsiders bemusedly or fearfully looking on in the Catholic reform movement. They were active and zealous participants in the renewed church, and their art and lives were often very personal expressions of faith.“52 Obwohl Angehörige der Societas Iesu selbst von einem „modo nostro/proprio“ sprachen, bestand kein Konsens darüber, ob dieser sich durch Schlichtheit oder Überschwang auszeichnen sollte. Vor der Hypostasierung eines „Jesuitenstils“ wurde deshalb immer wieder gewarnt.53 Am unmittelbarsten lässt sich der Einfluss des Dekrets an der Revision der Ikonographie und ‚typisch gegenreformatorischen‘ Bildthemen wie Rosenkranzmadonnen, drastischen Martyrien, Sakramentsdarstellungen oder Repräsentationen neuer Heiliger54 sowie an den Kampagnen gegen nackte Figuren feststellen, die in der Debatte um Michelangelos Jüngstes Gericht in der Cappella Sixtina ihr Paradigma finden. Darüber hinaus lassen sich jedoch auch stilistische Veränderungen konstatieren. Diese sind eng mit der tridentinischen Forderung nach Allgemeinverständlichkeit, Eindeutigkeit und emotionaler Wirksamkeit verknüpft. Zugleich aber stellen sie eine Folge der kunstinternen Entwicklung dar. Bailey erkennt in den Kapellen von Il Gesù „a surprisingly original stylistic 48  Vgl. auch Zeri, der den Einfluss des Konzils als gering bewertet, dieses aber als nur eine Episode eines größeren Prozesses bezeichnet (Zeri 1957, S. 23). 49  Vgl. Kummer 1993, S. 512–514. 50  Ebd., S. 533. 51  Der Orden beauftragte zahlreiche namhafte Künstler, einige (z. B. Caravaggio, Borromini, Bernini und Pietro da Cortona) waren von der jesuitischen Spiritualität beeinflusst, andere (z. B. Giuseppe Valeriano, Giovanni Battista Fiammeri und Andrea Pozzo) sogar Ordensmitglieder (vgl. Bailey 1999, S. 151–152 und Appuhn-Radtke 2000). 52  Bailey 1999, S. 152. 53  Ebd. 54  Vgl. Burke 1987, S. 66–82 und Burzer 2011.

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innovation that relates intimately to the Jesuits’ emphasis on preaching and teaching.“55 Marcia Hall konstatiert über die jesuitischen Prägungen hinaus einen „fundamental change“ der Bildsprache, der sich vor allem in der direkten, affektiven Ansprache der Betrachter manifestiere.56 Laut Herwarth Röttgen ist der Repräsentationsstil des römischen Historienbildes um 1600 anders als die manieristischen Schöpfungen durch übersichtliche, einfache Kompositionen gekennzeichnet, in denen die Figuren oft symmetrisch um ein klar definiertes Zentrum angeordnet und häufig mit Legenden versehen werden.57 Die Situation in Florenz unterschied sich zwar von der in Rom und den Modellbistümern Bologna und Mailand; trotzdem bemühte sich Cosimo I. bereits vor Ende des Konzils um Reformmaßnahmen – durchaus auch mit dem Ziel, seine territorialen Machtansprüche zu unterstreichen. Cosimos Anstrengungen wurden 1569 von Papst Pius V. mit seiner Ernennung zum Großherzog der Toskana belohnt. Mit Alessandro de’ Medici wurde 1574 ein Anhänger des Reformers Filippo Neri zum Erzbischof ernannt, der dem Pastoralauftrag entsprechend vor Ort residierte, Visitationen durchführte, einen status animarum pflegte und (in Koalition mit seinen Cousins) eine harte Politik gegenüber den Anhängern Savonarolas verfolgte.58 Manifest wird die neue Linie in der groß angelegten Renovierung der Ordenskirchen S. Maria Novella, S. Croce und S. Marco in den Jahren 1564 bis 1596, bei denen Lettner und alte Seitenaltäre den vereinheitlichenden Konzeptionen Vasaris bzw. Giambolognas weichen. In den nach der Ausmalung des Palazzo Vecchio initiierten Großprojekten überlagern sich theologische, hegemoniale und kunstinterne Erwägungen.59 Beauftragt wurden Manieristen der zweiten Generation wie Giovanni Battista Naldini und Andrea del Minga, aber auch Reformkünstler wie Santi di Tito, Jacopo da Empoli, Passignano und Cigoli.

Lodovico Cardi, gen. Cigoli Der Protagonist dieser Studie ist ein zu seiner Zeit berühmter, am 21. September 1559 in der kleinen Siedlung Cigoli bei San Miniato in der Provinz Pisa geborener Maler, der heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten ist. 1568 geht er mit seinen Brüdern nach Florenz, 1572/74 tritt er in die Werkstatt des Bronzinoschülers Alessandro Allori ein, der ihn an diversen Medici-Aufträgen und der Freskierung des Chiostro Grande von 55 

Bailey 1999, S. 154. Hall 2011, S. 7–8. 57  Vgl. Röttgen 1975. Für Federico Zeri folgt die Kunst der Gegenreformation einem Ideal der Stilfreiheit und Entnarrativierung, weshalb er sie mit dem problematischen, aber immer wieder zitierten Begriff der „arte senza tempo“ zu fassen versucht (Zeri 1957, bes. S. 76–77). Laut Scavizzi ist die neue ars una gekennzeichnet durch „clarity, simplicity, observance of truth and a return to the origins of Christian art“ (Scavizzi 1992, S. 252). 58  Vgl. Cochrane 1970, S. 311. 59  Vgl. Hall 1979. 56 

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S. Maria Novella beteiligt. 1578 wird Cigoli Mitglied der Accademia del Disegno; 1597 wird er in die Accademia Fiorentina, 1603 in die Accademia della Crusca berufen, wo er als „Innominato“ firmiert.60 Eine dem Leichengeruch beim Anatomiestudium in Alloris Sektionssaal zugeschriebene Erkrankung zwingt den Maler zum Rückzug auf das Familiengut, wo er verweilt, bis er von dem Hofarchitekten und -‍ingenieur Bernardo Buontalenti nach Florenz zurückgerufen wird, um eine Kopie der vera effigies des heiligen Francesco di Paola zu vollenden. Während seiner Lehre bei Buontalenti und Santi di Tito nimmt der aspirierende Maler – „weil er das Wissen über alles schätzte“ – Unterricht in Mathematik und Perspektive bei dem Hof-Mathematiker Ostilio Ricci, über den er auch dessen Schüler Don Giovanni de’ Medici und Galileo Galilei kennenlernt.61 Nach den Lehrjahren betreibt Cigoli mit Gregorio Pagani, einem Schüler Santi di Titos, eine private Akademie im Palazzo Guadagni. 1604 geht er über Vermittlung Ferdinandos I. nach Rom, um einen prestigeträchtigen Auftrag im Petersdom auszuführen. Er wird Mitglied der Accademia di San Luca und bleibt – mit einigen Unterbrechungen für Arbeiten im Auftrag der Medici in Florenz – bis zu seinem Tod am 8. Juni 1613 in Rom, wo er insbesondere für die Borghese arbeitet. Kurz zuvor vollendet er sein wichtigstes Werk, das Kuppelfresko der Kapelle Pauls V. in Santa Maria Maggiore. In seinem 1604/06 entstandenen Selbstporträt wendet Cigoli sich mit wachem, nicht humorlosem Blick selbstbewusst, aber nicht eitel dem Betrachter zu (Abb. 2).62 Seine mit feinem Pinsel gemalte Pelzkappe beansprucht ebenso viel Aufmerksamkeit wie das Gesicht und ist Signet von Cigolis Begeisterung für Oberflächen.63 Das Selbstporträt entspricht dem Bild, das seine Biographen von ihm zeichnen: Die erste Vita verfasste sein Neffe, der Kupferstecher Giovanni Battista Cardi, um sie Cigolis (postum für die Publikation vorbereiteten, aber nie veröffentlichten) Perspektivtraktat, der Prospettiva Pratica, voranzustellen.64 Cardi hütet sich bemerkenswerterweise schon 1628, fünf Jahre vor dem Inquisitionsprozess gegen Galilei, ihre Freundschaft in der Biographie zu erwähnen. Galileis Name fällt erst in Jacopo Rilli-Orsinis Vita aus dem Jahr 1700, in der Galileis

60 

Matteoli vermutet zudem eine Mitgliedschaft in der Accademia de’ Trasformati, die sich allerdings nur durch eine umstrittene Zeichnung belegen lässt (vgl. Matteoli 1973). 61  Cardi 1628/2010, fol. 1v, S. 101: „E perché stimava oltr’a modo il sapere quanto / si aspetta ad un perfetto pittore, presa occasione per l’amicizia che teneva con Ms Ostilio Ricci Mattematico provi/ sionato dall’Alte[ezz]e […] introducendo Lodo[vic]o nelli principi di Mattem[atic]a e Prospett[iv]a …“ Vgl. dazu Seattle 1971; Bredekamp 2007, S. 33–36 und ders. 2015, S. 41–42. 62  Im Musée des Beaux-Arts de Chambéry befindet sich eine wohl von Cigolis Schüler Coccapani gefertigte Replik, die Cigoli mit dem Malteserkreuz zeigt; vgl. dazu Matteoli 1977, S. 178–179; Faranda 1986, S. 154, Nr.  63; Chappel, in: Guidi 1986, Bd. I, S. 113–144; Contini 1991, S. 84 und Barbolani di Montauto in: dies./Chappell 2008, S. 112–114. Matteoli identifiziert ein Bildnis im Palazzo Pitti (Inv. 301) als jugendliches Selbstporträt des Malers (vgl. Matteoli 1980). 63  Baldinucci bezeichnet das Selbstporträt als „vivo e parlante“ (Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 146). 64  Vgl. Cardi 1628/2010. Cigolis Prospettiva pratica befindet sich im GDSU, MS 2660 A.

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2. Cigoli, Selbstporträt, 1604–1606, Öl auf Leinwand, 58,5 × 44 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/1729.

lobende Bemerkungen zu Cigolis Talent in den Briefen über die Sonnenflecken zitiert werden.65 Cardis Biographie ist die wichtigste Quelle der umfangreicheren Vita Filippo Baldinuccis, der Cigoli als distinguierten Künstler beschreibt, der eher den Habitus eines „gran Cavaliere“ als eines „semplice gentiluomo“ und Kontakte mit zahlreichen hochstehenden Persönlichkeiten gepflegt habe.66 Baldinucci entwirft das Bild eines melan65 

Vgl. Rilli-Orsini 1700, S. 301, mit Bezug auf Galilei 1613, S. 56. Außerdem verweist er auf eine zweite Stelle, an der Galilei „Cigoli und die anderen berühmten Maler“ als Kronzeugen für die Lächerlichkeit gewisser Gelehrter anführt: „Ma se alcuno per aver forse consumati tutti i suoi studj in simil foggia di dipignere, volesse poi universalmente concludere, ogni altra maniera d’imitare essere imperfetta, e biasimevole, certo che ’l Cigoli, e gli altri Pittori illustri si riderebbono di lui.“ Vgl. Opere, Bd. V, S. 140 und S. 190–191. Zuvor berichtet schon Galileis Biograph von der Freundschaft (vgl. Viviani 1654, in: Opere, Bd. XIX, S. 602). 66  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 148. Die Sprache von Cigolis Briefen allerdings lässt eine eher einfache Herkunft vermuten.

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cholischen, arbeitsamen Menschen, der seine Schüler Zurückhaltung gelehrt und Kollegen in der Taverne nur getroffen habe, um nicht von ihnen verfolgt zu werden.67 Cigolis Arbeitsethos wurde sprichwörtlich: Der Historiker Bernardo Davanzati nennt ihn einen jungen, in die Malerei verliebten Mann, der bezüglich seiner Sorgfalt den großen Künstlern nacheifere.68 Und noch 1666 scherzt der unter dem römischen Winter leidende Salvator Rosa, er schüre das Feuer mit einem Eifer, der noch den des Cavaliere Cigoli übertreffe.69 Aus Cigolis Briefen und Passignanos Bericht über eine nie überwundene Kränkung durch eine schlechte Entlohnung spricht jedoch auch ein empfindlicher Stolz, den der Maler auch den Medici gegenüber geltend machte.70 Obgleich er ihren Aufträgen stets mit großer Loyalität nachkam, lehnte er beispielsweise eine Unterbringung in den Uffizien ab, um – so der Biograph – Freiheit für seine Studien zu wahren.71 Cigolis distinguierter Umgang wird außer durch die briefliche Erwähnung bedeutender Persönlichkeiten aus Kunstwelt, Klerus und Adel auch durch die hochkarätige Versammlung an seinem Totenbett deutlich: Kardinal Borghese und Urban VIII. entsenden den päpstlichen Leibarzt und Kunstschriftsteller Giulio Mancini, Virginio Orsini und die Kardinäle Montalto und Capponi schicken ihre eigenen Ärzte.72 Laut Cardi starb Cigoli „nach der Segnung des Papstes und allen Sakramenten der Heiligen Kirche, die er stets hoch schätzte, so dass er bis zu seiner letzten Stunde vorbildlich war“.73 Sein Beichtvater, der Oratorianer Don Jacopo Vulponio, habe öffentlich erklärt, bei Cigoli während dessen Aufenthalt in Rom keine einzige Todsünde entdeckt zu haben.74 Die 67 

Vgl. ebd.: „La stessa ritiratezza persuadeva a’ suoi giovani, mostrando loro, con vive ragioni, che la pratica troppo larga necessita al perdimento del miglior tempo, che è quello della gioventù.“ Und Cardi 1628/2010, fol. 2r, S. 102. 68  Vgl. Rilli-Orsini 1700, S. 300–301. 69  Salvator Rosa an Giovanni Battista Ricciardi am 26.1.1666, in: Bottari 1822, S. 33: „Nelle mie stanze non vi si smorza mai il fuoco; e, più diligente che non era il Cavaliere Cigoli*, non è fessura in mia casa che non sia giornalmente da me stoppata diligentemente, e pure non posso riscaldarmi, nè mi riscalderiano le faci di Cupido, nè gli abbracciamenti di Frine.“ Bottari annotiert: *Pittore celebratissimo. 70  Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 130: „Studiate, faticate, miei giovani, per farvi grandi in queste arti; consumate vostra gioventù, e vostra vita, per diventare in esse superiori agli altri, ecco qua le ricompense che sono preparate a’ sudori del cuore, e del corpo vostro!“ Das Angebot einer Unterbringung in den Uffizien lehnt Cigoli mit Verweis auf seine Studien ab (vgl. ebd., S. 117). 71  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 3v, S. 107. 72  Vgl. ebd., fol. 5v, S. 114–115: „… spirò negl’animi di virtuosi e gran Principi di provederli con farlo visitar di con/tinuo, et offerire quanto fosse bisognato …“ 73  Ebd., fol. 5v, S. 114: „… passò a miglior vita a dì otto di Giugno / nel 1613 di anni cinquantadua havendo ricevuta la Benedizione da S. Santità e tutti li Sacram[en]ti di S[anta] Chiesa, nella quale così ben rasse/gnato fù sempre, che fino all’ultim’hora fu esemplare …“ 74  Vgl. ebd.: „… nella quale il Rev[eren]do Don Jacopo Vulponio della congregazione dell’Oratorio suo con/fessore pubblicam[en]te disse, che havendolo confessato mentre fù in Roma, non havea mai trovata in lui materia di Peccato mortale, tanto era / osservante delli precetti di S[anta] Chiesa, e zelante dell’onor’ di Dio, dal quel fù sempre aiutato …“ Vgl. auch Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 145.

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Verbindung zu Vulponio zeugt von Cigolis Kontakt mit dem 1561 von Filippo Neri gegründeten Oratorio Romano, das mit seiner Wiederbelebung frühchristlicher Glaubensformen einen wichtigen Motor der katholischen Reformbewegung darstellte. Die Gretchenfrage kann (will man sie überhaupt stellen) für Cigoli positiv beantwortet werden. Nichts in seinen Werken, Schriften oder seinem Leben weist darauf hin, dass er kein rechtgläubiger Katholik gewesen wäre. Cigoli heiratete nicht und blieb offenbar kinderlos; in seinem Testament sorgte er sich um sein Seelenheil, auch wenn er in einer späteren Fassung seine Brüder zugunsten seiner Neffen enterbte.75 Trotzdem gehen die Biographen nicht so weit, Cigoli – wie beispielsweise seinen Zeitgenossen Guido Reni – als pictor christianus zu bezeichnen.76 Wo immer Cardi die göttliche Begnadung seines Onkels betont, mischen sich religiöse mit ästhetischen Motiven.77 Trotz seiner von den Viten betonten Strenge war Cigoli offensichtlich weder unsinnlich noch humorlos. Er wusste durchaus auch Akte zu malen, spielte Laute, schrieb Gedichte und verrät in seinen Briefen an Galilei nicht nur eine wache Beobachtungsgabe, sondern auch eine spitze Zunge.

Fortuna critica Laut Viviani hielt Galilei den „sehr berühmten Cigoli“ für den „ersten Maler seiner Zeit“ (’ l famosissimo Cigoli, reputato dal Galileo il primo pittore de’ suoi tempi); der befreundete Mathematiker Luca Valerio nennt Cigoli einen „pittore eccellentissimo“; der Präsident der Accademia dei Lincei, Federico Cesi, schätzt ihn als Freund und Maler hoch.78 Der römische Künstler Andrea Sacchi nennt Cigolis Gemälde der Krankenheilung Petri in St. Peter das drittwichtigste Gemälde der Epoche – gleich nach Raffaels Transfiguration und Domenichinos Kommunion des Hl. Hieronymus.79 Für das hohe Ansehen, das Cigoli in Rom genoss, spricht auch der Auftrag für die Grablegung Pauli am Hauptaltar von S. Paolo fuori le mura, die nach Cigolis Tod sogar in unfertigem Zustand aufgestellt und bewundert wurde.80 Gleiches berichtet Maffeo Barberini von Cigolis kleiner Flucht

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ASF, Archivio Notarile Mod., Reg. 3805, fol. 106v–110v und ASR, Notari della Rev. Camera Apostolica, Reg. 712, fol. 126r–127v; publiziert von Matteoli 1975; vgl. auch Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 145. 76  Zum Ideal des pictor christianus vgl. Wimböck 2002, S. 23–26. 77  Cigoli 2010, fol. 1r, S. 99: „… così ancora in questo mostrorsi il Celo benigno in influir grazie e doni de più pregiati / nel Cigoli, poi che fu da Dio non solo di tanta modestia e bontà dotato che q[ues] ta sola fu giudicata bastevole or/namento, e degno di molta lode da chiunq[ue] lo praticò, con tanta maniera, e dolce affabilità sé portava con qua/lunq[ue] persona …“ 78  Viviani 1654, in: Opere, Bd. XIX, S. 602; Luca Valerio an Galilei am 4.4.1609, Carteggio 2009, Nr. 1, S. 39 und Federico Cesi an Galilei am 29.6.1613, ebd., Nr. 54, S. 132. 79  Vgl. Mancini 1625/1956, S. 241 und Passeri 1772, S. 303. 80  Cardi 1628/2010, fol. 4r, S. 109: „… è rimasta imperfetta con / tanta perfezione che si crede che quei Rev[eren]di non vogliono farvi metter mano ad altri.“

23 I. Einleitung

3. Niccodemo Ferrucci, Studium der Werke Michelangelos durch Maler, Bildhauer und Architekten, 1613, Öl auf Leinwand, 157 × 138 cm, Florenz, Casa Buonarroti, Inv. 239.

nach Ägypten, die, „obgleich unvollendet, hoch geschätzt [werde], weil sie von einer derart berühmten Person“ stamme (ancorché imperfetta, nondimeno di molta stima, per esser di mano di persona tanto celebre).81 Alessandro Tassoni reiht Cigoli 1613 in die Reihe jener in Rom tätigen Maler ein, die den antiken gleichwertig seien.82 Die Wertschätzung Cigolis kommt auch in der Einfügung seines Porträts in die Galleria der Casa Buonarroti zum Ausdruck, das ihn als Bewunderer Michelangelos zwischen Vasari und Passignano zeigt (Abb. 3). Cigolis Verehrung für den Divino, mit dem Galilei ihn ausdrücklich vergleicht,83 findet einen Höhepunkt in der von ihm selbst angeregten Öffnung von Michelangelos Grab in S. Croce am 2. Januar 1608, von der wir aus einem Brief Francesco Buonarrotis unterrichtet sind. Michelangelos Neffen überließen Cigoli bei dieser Gelegenheit den Gürtel des Künstlers, den er „wie eine Reliquie“ aufbewahrt haben soll.84 Ob 81 

Maffeo Barberini an Sigismondo Coccapani, zit. nach Chappell 1975b, S. 13. Tassoni 1986, S. 899. 83  Vgl. Galilei an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 95: „… poiché oramai V.S. nella propria s’è resa così degna di gloria con le sue tele, quanto il nostro divino Michelagnolo co’ suoi marmi.“ 84  BMLF, Archivio Buonarroti, filza 120, fols. 94r–v: „… la qual cintura si donò al Signor Lodovico Cardi detto Lodovico da Cigoli fiorentino, pittore famosissimo de’ nostri tempi, il quale l’hebbe cara per tenerla quasi come reliquia, per l’affetione che lui porta a Michelagnolo vecchio detto, e 82 

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die Graböffnung im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Diskussionen um die Umgestaltung von St. Peter stand, lässt sich nicht belegen. Tatsächlich jedoch wird Cigolis Bewunderung für Michelangelo eher in seinen Entwürfen zur behutsamen Umgestaltung des Petersdoms als in seinen Gemälden deutlich, die sich von den Epigonen der Vasarischule absetzen.85 Dies erkennt schon Baldinucci, der Cigoli zwar in die Reihe der Michelangelo-Nachgeborenen einordnet, jedoch nicht auf Seiten seiner zweitrangigen Nachahmer, sondern auf einer „via diversa“, die disegno mit bestem Kolorit vereine, was Cigoli den Beinamen eines „Tiziano e Correggio fiorentino“ eingebracht habe.86 Mit der veränderten Einstellung gegenüber der gegenreformatorischen Malerei sank auch Cigolis Ansehen. Während Pietro da Cortona dessen Stephanusmartyrium noch als das beste Bild von Florenz preist, ist es heute kaum noch bekannt.87 Cigolis Heilige ereilte ein ähnliches Schicksal wie die einst hochgelobten „süßen“ Figuren Carlo Dolcis; der Zeitgeschmack hatte sich offensichtlich gewandelt.88 Weisbach verteidigt zwar den sogenannten „himmelnden Blick“ der frühbarocken Malerei, der „uns Modernen“ „vielfach als gesucht, unecht und effekthascherisch“ erscheine, als Konzession an die grobsinnliche Masse, gleichzeitig aber stößt ihn das „süßlich-Widerliche“ besonders bei männlichen Heiligen ab. Nicht zuletzt zeigt sich die trotz der aktuellen Wiederentdeckung der Kunst um 1600 fortbestehende Geringschätzung in den niedrigen Preisen für Cigolis Arbeiten auf dem Kunstmarkt.89 Seine zu Lebzeiten wegen großer Nachfrage mehrfach kopierte, bis dato im Besitz des Paul Getty Museum befindliche Maria Magdalena beispielsweise kam im Januar 2011 für 34375 Dollar unter den Hammer – „to benefit future painting acquisitions“.90 Heinrich Busse kommt das Verdienst zu, Cigolis Werk 1913 durch eine kurze Monographie und die Erstpublikation von Cardis Vita zum Gegenstand kunsthistoria requisizione del qual Lodovico si fece questa faccenda di aprir la sepoltura e mostrarli questo amato corpo …“ Abgedruckt in: Sebregondi Fiorentini 1986, S. 61. 85  Zum Einfluss Michelangelos auf Cigolis architektonische Entwürfe vgl. Gambuti 1973, bes. S. 96–100 und Cigolis Brief an Michelangelo Buonarroti d. J. vom 21.1.1607, in dem er seine Vorschläge zur Umgestaltung von St. Peter vorbringt (in: Matteoli 1964/65, S. 33). Vgl. außerdem den Kommentar in Cardis Vita 1628/2010. fol. 3v, S. 107–108: „si dichiarasse espressam[en]te stimar molto utile / e ragionevole immitar l’esempio di un tant’ Huomo …“ 86  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 79–81. Ausführlich zu diesem Topos in Kap. V.2. 87  Vgl. ebd., S. 109. 88  Weisbach 1920, S. 219 und 89 (bzgl. Correggios Martyrium der Heiligen Placidus und Flavia, um 1524–1525 in Parma). 89  Exemplarisch sei auf die Dissertationen von Gabriele Wimböck zu Guido Reni (2002), von Heiko Damm zu Santi di Tito (2006), Katja Burzer über die Inszenierung neuer Heiliger (2011) und Carolin Behrmann über Märtyrerbilder (2015) verwiesen. Parallel zu der hier vorliegenden Studie entstand eine bislang unpublizierte Dissertation über Cigoli von Lisa Bourla (University of Pennsylvania). 90  Sotheby’s 27.1.2011, Sale N08712, Lot 261. Das Bild entstand als Pendant zu einem Franziskus im Gebet für Cigolis Freund Carlo Guidocci.

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scher Forschung gemacht zu haben. 1959 veranstaltete Cigolis Geburtsstadt San Miniato anlässlich des Jubiläums eine erste Ausstellung, 1985 folgte die Schau Immagini del Cigoli e del suo Ambiente, in der Anna Matteoli die Ergebnisse ihrer Dissertation präsentierte.91 Trotz einiger umstrittener Zuschreibungen bilden ihre zahlreichen, quellengesättigten Arbeiten eine wertvolle Basis heutiger Forschung. Außerdem besorgte sie die Erstpublikation des Briefwechsels von Cigoli und Galilei, der 2009 in einer überarbeiteten Ausgabe von Federico Tognoni erschien.92 Franco Faranda erstellte 1986 einen Werkkatalog mit einer Monographie, die den gegenreformatorischen Aspekt von Cigolis Œuvre betont. Weitere, stärker stilistisch orientierte Monographien liegen von Charles Henry Carman und Roberto Contini vor.93 Eine tragende Säule der Cigoli-Forschung bilden die seit den siebziger Jahren betriebenen, grundlegenden Recherchen Filippo Camerotas zu Cigolis Perspektivtraktat, den er 2010 in einer textkritischen Ausgabe publizierte. Mit Cigolis Arbeitstechniken, insbesondere seinen Studien zu Perspektive, Anatomie und Farbe, hat sich Lisa Bourla in ihrer bislang unpublizierten Dissertation auseinandergesetzt.94 Die umfassendste Untersuchung von Cigolis Werk verdankt sich Miles Chappell, der seit seiner Dissertation von 1971 wohl als der größte Cigoli-Kenner zu gelten hat und 1992 auch den Katalog seiner Zeichnungen erstellte.95 2008 organisierte er zusammen mit Novella Barbolani di Montauto eine kleine, um die frühen Altarbilder in Figline Valdarno konzentrierte Ausstellung unter dem Titel Colorire naturale e vero. 2009 wurde Cigoli in der großen, zum Jubiläum der Erstpublikation des Sidereus Nuncius organisierten Ausstellung Il Cannocchiale e il Pennello in Pisa als Mitglied des Künstlerkreises um Galilei gewürdigt.96 In den Fokus der neuen bildhistorischen Forschung geriet Cigoli durch die auf Erwin Panofskys wegweisenden Aufsatz über Galileo as a Critic of the Arts aufbauende Studie Horst Bredekamps über Galileis Zusammenarbeit mit Cigoli und Passignano. Die genannten Forschungen bildeten den Anstoß zu der vorliegenden Arbeit, die es sich zur Aufgabe macht, Cigolis Beziehung zu Galilei in den größeren Kontext seines Gesamtwerks und der durch die Gegenreformation und den Aufschwung der Wissenschaften geprägten Zeit um 1600 zu stellen.97 91 

Vgl. Bucci/Forlani/Berti 1959; Matteoli 1980 und 1985. Vgl. Matteoli 1959. 93  Vgl. Carman 1972 und Contini 1991. 94  Lisa Bourla: The reform of drawing and the natural act of painting: Lodovico Cigoli and his Florentine circle c. 1600 (PhD thesis, University of Pennsylvania, 2013). Diese Schrift lag der Autorin nicht vor; mit Gewinn wurde hingegen Lisa Bourlas eingehende Studie zu Cigolis Scorticato rezipiert (vgl. Bourla 2015 und Kap. V.3). 95  Vgl. Chappell 1971 und die zahlreichen weiteren in der Bibliographie aufgeführten Publikationen. 96  Vgl. Tongiorgi Tomasi/Tosi 2009. 97  Umgekehrt forderte Eric Cochrane schon 1970, Galilei endlich „as a product of and as a participant in the Counter-Reformation“ zu betrachten (Cochrane 1970, S. 309, Anm. 56). 92 

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Revolution und Reform Miles Chappells nüchterner Einschätzung wonach Cigoli zwar „no sensational innovator“, jedoch durchaus bereit zu Experimenten gewesen sei, ist durchaus zuzustimmen.98 Nicht als Revolutionär, sondern als eigenwilliger Seismograph und neugieriger Beobachter interessiert er uns. Sprechend ist in diesem Zusammenhang Cigolis Empörung über Philosophen mit „verquollenen Augen“ (ochi gonfiati), die „Neues weder sehen noch glauben“ wollen.99 Sie erscheinen ihm wie die Zeitgenossen Michelangelos, die aufgrund der Neuartigkeit seiner Architektur behaupteten, er würde mit seinen Vitruv-Verstößen die Baukunst überhaupt zerstören. Dabei habe Michelangelo nicht die Architektur, sondern die alten Architekten ruiniert, die dem Vergleich mit ihm nicht standhalten konnten, wie die Aristoteliker dem Vergleich mit Galilei.100 Die Baumeister, die Michelangelo, ohne dessen Talent zu besitzen, zu imitieren versuchten, erscheinen Cigoli indes wie der Esel des Apuleius, der beim Versuch, es einem über einen Abgrund springenden Hund gleichzutun, in die Tiefe stürzt. Am Felsrand stehen zu bleiben ist allerdings keine Alternative, denn sei das Neue einmal in der Welt, erscheine jede Fortführung des Alten ([fare] come prima) trivial.101 Später, als Galilei Cigoli skeptisch um seine Meinung über Cesis Vorwort zu seinen Briefen über die Sonnenflecken bittet, weist Cigoli darauf hin, dass eine solche Einleitung Galileis umstrittenen Traktat über die schwimmenden Körper vielleicht vor den heftigen Angriffen geschützt hätte.102 Während Galilei und die Carracci sich selbst als Revolutionäre betrachten, die wie Kolumbus neue Welten ent-

98 

Chappell 1971, S. 20. Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, 65: „… chi è incallito a credere solo quello che passa per la comune in giu[di]cat[o], et se ne ridono, né vogliono le cose nuove né vederle né credere …“ 100  Zu der von Viviani forcierten Suggestion einer „seelenwanderischen Verknüpfung“ von Michelangelo zu Galilei vgl. Bredekamp 2001, S. 155–156 und ders. 2007, S. 14–17. 101  Cigoli an Galilei am 14.7.1612, in: Carteggio 2009, Nr. 36, S. 98.: „… mi credo avengha lo istesso come quando Micelagniolo cominciò a architetturare fuori de l’ordine degli altri fino ai suoi tempi, dove tutti unitamente, facendo testa, dicevano che Micelagniolo aveva rovinato la architettura con tante sue licenze fuori di Vitruvio. Per lo che, sentendone io alcuni, li risposi che gli scambiavano, perché Micelagniolo non aveva rovinato la architettura, ma gli architetti, perché se non avevano disegnio come lui, volendo scerzare come l’asino d’Apuleo, ad imitazione del canino, cascavano nel precipizio, et se facevono le loro architetture come prima così semplice, apparivano cose triviali. Però non si sbigottischa; séguiti allegramente, perché non per questo dicano che la non sia valentuomo.“ 102  Cigoli an Galilei am 24.3.1613, in: ebd., Nr. 51, S. 125–126: „… basta che mi parevano necessarie le cose che la diceva, anzi, vi manchasse che del trattato de l’acque, se bene alcuni avevano ingaggiato la lite, non era da chi havesse cognizione et di filosofia et di matematica insieme, et però non era meraviglia se vi era una sementa di molti spropositi.“ 99 

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decken, zeigt sich Cigoli als didaktischer Reformer, der sein Publikum durch die Integration des Neuen ins Alte in eine neue Ära zu führen versucht.103 Dementsprechend nimmt Cigolis Werk eine Zwischenstellung zwischen Manierismus und Barock ein, die man aus Verlegenheit als „Frühbarock“ bezeichnet hat. In den zwanziger Jahren stritten Nikolaus Pevsner und Werner Weisbach über die Frage, ob die Kunst des Manierismus oder die des Barock der wahre Ausdruck der Gegenreformation sei.104 Einig waren sie sich in der Ablehnung des Manierismus, den Weisbach als Ausdruck einer intellektuellen und ästhetischen „Entartung und Erstarrung“ diffamierte.105 Die Debatte musste nicht zuletzt an der unterschiedlichen Definition des Begriffs „Gegenreformation“ scheitern: Während Pevsner sie primär als verinnerlichte Spiritualität verstand, sah Weisbach in ihr vor allem eine kirchliche Kampagne. In einem grundlegenden Aufsatz zum „antimanieristischen Stil“ hat Walter Friedländer die „Reaktion“ gegen den von ihm so genannten „manierierten Manierismus“ um 1590 beschrieben, die „auf Basis eines gewissen bürgerlich regulierenden Bewusstseins“ gegen die Kunst des Spätmanierismus angetreten sei, die „durch endlose Wiederholungen unverkennbare Merkmale der Überzüchtung und dadurch der Sterilität“ getragen habe.106 Gegen solche „Krankheits-Symptome“ konstatiert Friedländer den „‚gesunde[n]‘ Wille[n] einiger Einsichtiger“, die wie Cigoli den Niedergang des „antiklassischen Stils“ durch die Rückkehr zur Hochrenaissance zu konterkarieren versucht hätten.107 Die Reform gehorcht dem, was Friedländer als das „Großvatergesetz“ bezeichnet – den Rückgang auf die Generation, „gegen die sich die Väter so eifrig gewandt haben […] – freilich in einem neuen Sinne“.108 Dabei kontrastiert schon Friedländer Revolution und Reform: „Demnach entspricht der auf das Subjektivistische eingestellten Revolution von 1520 gegen das Allzuschöne und Allzuausgeglichene, gegen das Normative und Allzu-Natürlich-Rationale der Hochrenaissance und dem Zurückgreifen des neuentstehenden Stiles auf ältere archaische Tendenzen […], eine konservative Reaktion in den achtziger und neunziger Jahren, die nun als Heilmittel gegen die maniera ihrer Väter-Generation auf die soliden Grundlagen der renaissancistischen Malerei in ganz Italien zurückgeht und auf ihr aufbaut.“109 Das biologistische Vokabular übernimmt Friedländer von Kunstschriftstellern des 17. Jahrhunderts wie Bellori und Malvasia, welche die maniera als „Degeneration“

103 

Malvasia 1841, S. 274–276: „Anche il Colombo fu creduto scempio quando alla prima promise di volerci scoprire un nuovo mondo …“ Und Orazio del Monte an Galilei am 16.6.1610, Opere, Bd. X, S. 372. 104  Vgl. Pevsner 1925 und 1928 sowie Weisbach 1928. 105  Weisbach 1928, S. 26. 106  Friedländer 1930, S. 214 und 216. 107  Ebd., S. 215. 108  Ebd., S. 219. 109  Ebd., S. 219–220.

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beschrieben.110 Gemeinsam ist den als Heroen beschriebenen „Männern“, die „gegen diese Handlanger der ‚maniera‘ auf[stehen]“, „der Wille zum Einfachen und Sachlichen (an Stelle des Komplizierten), zur Ehrlichkeit gegenüber der – überprüfbaren – Natur […], zur soliden und vertieften Arbeit“.111 Ein Florentiner Wegbereiter dieser Bewegung ist Santi di Tito, dessen Hieronymus in der Sacra Conversazione in Ognissanti von 1567 Contini als erstes Manifest eines „Florentiner Barock“ interpretiert, der den Manierismus nicht zuletzt auch durch den „normalisierenden“ Einfluss Federico Zuccaris überwunden habe.112 Friedländer nennt Cigoli „an artist, who combined ‚Sachlichkeit‘ with a strong transcendental religious feeling, sobriety and rationality“, in einem späteren Text einen Nachzügler bezüglich des Manierismus „oder besser progressiv im Sinn der Reform“.113 Cigoli ist nicht wie Annibale, von dem Passeri schreibt, dass er „ein Fenster öffnete, durch das er uns die Wahrheit wieder zeigte“ (tutta via aperse una fenestra per la quale fece rivedere la Verità, che si era già smarrita), und doch prägt der Anspruch auf Wahrheit sein gesamtes Schaffen.114 Sein Werk bildet eine Schnittstelle unterschiedlicher Wahrheitsansprüche seitens der Kirche, der Theologie, der Astronomie und Physik, der Akademien, der Philosophie und der Religion, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen.

Inhalt Die vorliegende Studie unterscheidet sechs verschiedene Wahrheitsansprüche, mit denen Cigoli explizit oder implizit konfrontiert war. Jedes Gemälde ist das Resultat der Ausbalancierung dieser Ansprüche, trotzdem werden in jedem Kapitel einzelne Werke als Paradigmen für bestimmte Wahrheiten vorgestellt. Zwei Aspekte von Cigolis Tätigkeit können dabei nur am Rande berücksichtigt werden: sein architektonisches Werk und seine Tätigkeit als Gestalter der festlichen Aktivitäten der Medici, vor allem der Hochzeitsfeierlichkeiten, Begräbnisse und der Cappella dei Principi in S. Lorenzo, denen Eve Borsook, Gaeta Bertela, Anna Maria Petrioli Tofani und Anna Maria Testaverde eingehende Studien gewidmet haben.115 Das erste Kapitel stellt den in der Bildtheologie zentralen Begriff der „veritas historica“ in den Vordergrund. Ausgehend von Cigolis erstem Werk in Rom, dem Hl. Hie110 

Vgl. Belloris Verdikt in seiner Vita Annibale Carraccis: „Fiorenza, che si vanta di essere madre della pittura, e ’l paese tutto di Toscana, per li suoi professori gloriosissimo, taceva già senza laude di pennello; e gli altri della scuola romana on alzando piú gli occhi a tanti essempi antichi e nuovi, avevano posto in dimenticanza ogni lodevole profitto …“ (Bellori 2009, S. 32). 111  Friedländer 1930, S. 217. 112  Contini 2000, S. 168 und 170. 113  Friedländer 1964, S. 71. 114  Passeri 1934, S. 83. 115  Vgl. Testaverde 2009. Zur Architektur vgl. Fasolo 1953a/b und Siebenhüner 1962.

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ronymus als Übersetzer von 1599, wird zunächst die Frage nach der Textgrundlage – der wahren Bibelübersetzung – gestellt, um dann anhand der Gemälde des Gastmahls im Hause des Pharisäers, der Befreiung Jerusalems, der Psyche-Fresken in der Loggetta Borghese und der Debatte um die genauen Maße von Dantes Inferno Cigolis Bemühen um die textgetreue Darstellung biblischer, historischer und fiktionaler Erzählungen zu untersuchen. Den durch Forschung oder Textkritik erkannten Wahrheiten wurde in der Theologie die offenbarte Wahrheit vorangestellt, deren Repräsentation das zweite Kapitel gewidmet ist. Als Beweis der veritas revelata galten die einer strengen Prüfung unterzogenen Wunder, die ein bevorzugtes Sujet der Malerei um 1600 bilden. Märtyrer fungierten als „testis veritatis“, die mit ihrem Leben für die Wahrheit des Evangeliums bürgten. Sprachrohr der Offenbarung waren Propheten und Visionäre, die wie Teleskopbeobachter schauten, was andere nicht sahen. In beiden Fällen schafft die bildliche Darstellung Intersubjektivität und vermeintliche Evidenz. Die im dritten Kapitel vorgestellte Wahrheit der Naturwissenschaften wird nicht gegen die der Kirche gestellt, sondern in vielfacher Weise mit dieser verknüpft. Das Beispiel der Diskussion über die Ursache für das Schwimmen bestimmter Körper zeigt die Ablösung vom Vertrauen in Autoritäten und den Aufstieg des Experiments als Prüfstein der Wahrheit. Zugleich wird jedoch deutlich, dass Galilei allein Mathematik und Geometrie, nicht aber „esperienze“ als Beweise anerkannte. Im Streit um die Hydrostatik verhärteten sich die Fronten zwischen Galilei und den Aristotelikern alter Schule; abschließend treten deshalb die Gegenspieler der Wahrheit – Neid, Sturheit und Verleumdung – in den Blick, mit denen Cigoli wie Galilei zu kämpfen hatte. Spätestens hier sind nun die stets wirksamen Ansprüche des Kunstsystems zu diskutieren. Vor allem auch in den neu gegründeten Akademien wurden kunstinterne Kriterien für wahre bzw. richtige Bilder definiert. Ausgerechnet im Jahr des die Kunst kirchlichen Normen unterwerfenden Bilderdekrets wird in Florenz auf Anregung Vasaris und unter Schirmherrschaft des Großherzogs die Accademia del Disegno gegründet.116 Beide Institutionen formulierten unabhängig voneinander unterschiedliche Maßstäbe dafür, wann ein Bild als wahr zu gelten hatte. Paradigmatisch ist diesbezüglich die Einteilung von Raffaello Borghinis Kunstgespräch Il Riposo aus dem Jahr 1584, bei dem die Gemälde der Florentiner Kirchen in einem ersten Durchgang auf ihre veritas historica, in einem zweiten auf ihre künstlerische Richtigkeit hinsichtlich disegno, colorito, Perspektive und Anatomie untersucht werden. Besonders in Cigolis anatomischen Studien verbinden sich naturwissenschaftliche und künstlerische Interessen. Seine einflussreiche Statuette eines 116  Marcia Hall hat aufgrund dieser Koinzidenz die Frage nach der Bedeutung beider für die Freiheit der Kunst aufgeworfen (vgl. Hall 2011 und Boschloo 2008). David Ganz und Georg Henkel konstatieren eine Wechselwirkung zwischen dem neuen Kunstverständnis und dem Ikonoklasmus, der zur Freisetzung der Bilder aus religiösen Funktionszusammenhängen beigetragen habe (vgl. Ganz/Henkel 2007, S. 263).

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Gehäuteten, der sogenannte scorticato, ist zugleich Ausdruck seines Anspruchs auf korrekte Darstellung und Demonstration medizinischen Wissens. Trotz der neuen Maßstäbe für die Richtigkeit von Bildern blieben jedoch weiterhin auch traditionelle Kriterien für verae effigies wirksam, die am Beispiel von Cigolis Kopie des auf einer Totenmaske beruhenden Bildnisses des Hl. Francesco di Paola aufgezeigt werden. Die von den Kontroverstheologen geforderte Prägnanz und Verständlichkeit von Bildern findet ihr Äquivalent nicht nur in der zunehmenden Vereinfachung der Kompositionen, der Reduktion der Figuren und Farben und der Verdichtung narrativer Gehalte in einem fruchtbaren Augenblick, sondern auch im Aufstieg des philosophischen Ideals der „Klarheit und Deutlichkeit“ als Kriterium wahrer Aussagen. Als wahr galt fortan das, was man mit „einem Blick“ erkennen konnte. Eine Entsprechung findet das Ideal der semplicità in der Debatte um den Vorrang von Tasso oder Ariosto und in der zeitgenössischen Musiktheorie, die sich auf die antike Monodie besann und den Text bzw. die emotional gefärbte Stimme als Leitinstanz deklarierte. Erst wenn ein Stück oder ein Gemälde die Rezipienten sinnlich zu affizieren vermochte, hatte es sein Ziel erreicht. Abschließend ist deshalb eine Wahrheit zu untersuchen, die hier behelfsmäßig mit dem von Thomas Morus geprägten Begriff der „veritas affectiva“ belegt werden soll – der „Wahrheit des Gefühls“, die sowohl auf der Ebene der Produzenten wie der Rezipienten zu suchen ist. Einen eigenen Beitrag zur Affizierung der Betrachter/innen117 leisten Dinge – insbesondere die Leidenswerkzeuge, die als Objekte der Versenkung dienen und oftmals den Sinngehalt emblematisch verdichten. Ein philologisch, historisch, wissenschaftlich und theologisch richtiges, gut gemachtes, einfaches Bild bewegt die Betrachter zur Umkehr und affiziert sie im besten Fall sogar körperlich. Am Beispiel der Stigmatisierung des Franziskus wird gezeigt, inwiefern konkrete Praktiken vor dem Bild die Betrachter bewegen und selbst in ein Bild der Wahrheit transformieren konnten. Doch das vielgelobte „muovere“ kann in ein „muovere troppo“ umschlagen, wenn niedere Affekte angesprochen werden. Die sprichwörtliche „nackte Wahrheit“ wird nach dem Tridentinum zum Problem, Nacktheit häufiger als andere Verstöße gegen die neuen Regeln beanstandet. Auch wenn im Folgenden die bislang vernachlässigte Konvergenz der verschiedenen Wahrheitsansprüche betont wird, dürfen die Konfliktlinien nicht übersehen werden. Gerade Bilder vermögen Divergentes zu verschmelzen und in ihrer Gesamterscheinung zu überzeugen, ohne grundlegende, besonders aus der historischen Distanz erkennbare Spannungen zu eliminieren. Die Ursache der Konvergenz lässt sich kaum analytisch fassen: Ist die Rede von „Zeitgeist“ und kulturellem „Klima“ einmal mit einer spötti117 

Im Folgenden wird die weibliche Form der besseren Lesbarkeit wegen nicht immer explizit genannt. Der Sammelbegriff „die Betrachter“ umfasst Frauen und Männer, Gelehrte und Ungebildete, Gläubige und Ungläubige, Kenner und Laien. Zur Vorstellung einer „ars una“ für unterschiedliche Zielgruppen vgl. Kap. II.1.

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schen Handbewegung weggefegt, ist noch nicht erklärt, wie alles mit allem zusammenhängt – oder eben nicht. Ein etwas in die Jahre gekommener Ansatz ist die Diskursanalyse: Im Folgenden kommt sie insofern zum Einsatz, als zunächst ein Wortfeld – vero, verità, verisimilitudo – in verschiedenen Texten aufgesucht und auf das jeweilige Verständnis überprüft wird, das es mit bestimmten Praktiken, Bildern und sozialen Strukturen verknüpft. Es soll folglich nicht allein darum gehen zu untersuchen, wie Bilder Wahrheitsdiskurse aufgenommen haben, sondern auch darum aufzuzeigen, wie sie diese selbst prägten und in welche „Wahrheitsszenen“ sie eingebunden sind.

Dank Auf der Suche nach dem, was als Wahrheit galt, aber auch nach Bildern, Büchern und Ideen haben mich viele Personen und Institutionen unterstützt und begleitet. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossene Dissertation, die für die Publikation geringfügig überarbeitet und – soweit möglich – um aktuelle Literatur ergänzt wurde. Herzlich danken möchte ich meinen Betreuern, Horst Bredekamp und Thomas Macho, der Andrea von Braun- und der Gerda Henkel Stiftung, die das Projekt großzügig gefördert haben, der DeutschFranzösischen Hochschule, Katja Richter und Verena Bestle im Verlag Walter de Gruyter, der Graphikerin Petra Florath, den Mitarbeiter/innen der Zeichnungskabinette in Florenz, Rom, Paris, Wien und Berlin, der Archive in Florenz, Lucca, Rom und Fucecchio sowie den Organisator/innen und Teilnehmer/innen zahlreicher Kolloquien und Konferenzen, mit denen ich unterschiedliche Aspekte meiner Arbeit diskutieren durfte. Für wichtige Anregungen, Unterstützung, Kritik und Gespräche danke ich Angela Broda, Andrew Caspar, Angela Carone, Steven Corcoran, Heiko Damm, Tobias Daniels, Iris Därmann, Maarten Delbeke, David Ganz, Jana Graul, Martin Krechting, Susanne Kubersky-Piredda, Katja Kynast, Karin Leonhard, Antonio Lucci, Alberto Malvolti, Walter und Josefine Mersmann, Paulina Ochmann, Anja Buschow Oechslin und Werner Oechslin, Benjamin Paul, Manos Perrakis, Volker Remmert, Evke Rulffes, William Shea, Lothar Sickel, Colin Slim, Claudia Steinhardt-Hirsch, Wiebke-Marie Stock und besonders Frank Fehrenbach.

II. Ver itas histor ica : Sehen und Lesen



1. Übersetzungen: Wahr e Bilder, wahr e Bücher

„In principio erat verbum …“: Cigolis erstes Gemälde in Rom, Hieronymus als Bibelübersetzer für die rechte Seitenwand der Mancini-Kapelle in der Florentiner Pfarrkirche S. Giovanni dei Fiorentini aus dem Jahr 1599, zeigt den greisen Gelehrten in seiner von göttlichem Licht erhellten Studierstube (Abb. 4).1 In seine Arbeit vertieft, bemerkt er weder die Betrachter noch die über ihm auf Wolken schwebenden, durch ihre Attribute als Allegorien ausgewiesenen Frauengestalten. Auf einem Hocker im Vordergrund hat er seine Vulgata-Handschrift abgelegt, die auf den Prolog des Johannes-Evangeliums aufgeschlagen ist: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott …“2 Als détail emblématique zeigt der Codex das Programm des Gemäldes an: Was hier ins Bild gesetzt wird, ist eine Arbeit an Texten. Dem einen verbum steht die Vielzahl der auf Hieronymus’ Schreibtisch aufgetürmten Übersetzungen entgegen. Deren Basis bildet der hebräische Urtext, zum Abgleich dient die griechische Septuaginta, weitere Bücher lagern daneben. Der Vorgang der Übersetzung wird figuriert durch die Vermittlung zwischen Hieronymus’ lesender linker Hand und seiner schreibenden rechten –

1  Das Bild entstand in Florenz, im Auftrag der Gebrüder Duccio di Baldassare und Gerolamo Mancini, die am 20.2.1590 das Patronatsrecht für die Kapelle erworben hatten. Gewidmet wurde sie auf testamentarischen Wunsch ihres in der Kapelle bestatteten Onkels, Gerolamo di Duccio, dessen Namenspatron Hieronymus. Zu Cigolis Gemälde vgl. Carman 1972, S. 128–129; Contini 1991, S. 66 und Faranda 1986, S. 70–72. Zur Baugeschichte der Pfarrkirche vgl. v. a. Günther 2001. 2  Der Text lautet: „In principio erat verbum et verbum erat apud deum et Deus erat verbum. Hoc erat in principio apud Deu¯ . Omnia p[er] ipsum factum est [eigentlich: facta sunt; der folgende Halbsatz ist ausgelassen]. In ipso vita erat et / vita erat lux hominum, et lux in tenebris lucet et tenebrae eam non compredeherunt fuit homo missus a Deo cui non erat Iohannes. Hic venit in [testimonium] per …“

34 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

inspiriert durch das auf die hohe Stirn fallende Licht und informiert durch die im Regal hinter ihm stehenden Bücher. Das Bild mag als Paradigma für die gegenreformatorische Malerei insgesamt gelten, denn der Historienmaler ist für den Kunstkritiker Andrea Gilio da Fabriano „nichts anderes als ein Übersetzer, der die Geschichte von einer Sprache in die andere, und diese von der Feder zum Pinsel, von der Schrift in die Malerei überträgt“.3 Der malende Übersetzer ist verpflichtet, „die reine schlichte Wahrheit mit dem Pinsel darzustellen wie der Historiker mit der Feder“.4 Diese Forderung nach der Abbildung der „pura e semplice verità“ bildet das Leitmotiv einer Vielzahl der in Reaktion auf die protestantische Bildkritik entstandenen Traktate. Gilio ist 1564 einer der ersten, die versuchen, die Maler durch den Aufweis ihrer „errori“ und „abusi“ zu „treuen und reinen Aufzeigern der Wahrheit des Gegenstandes“ (fedeli e puri demostratori de la verità del soggetto; 26) zu machen, die den „wahren Grundsätzen der Kunst“ (i veri precetti dell’arte; 18) gehorchen. Verstöße sind entschuldbar, wenn sie aus Unwissenheit oder Unvermögen, nicht aber, wenn sie aus dem Wunsch nach der Vorführung der eigenen Kunstfertigkeit entstehen.5 Hauptzielscheibe von Gilios Kritik ist Michelangelos Jüngstes Gericht, das die „wahre Form bezüglich der Wahrheit der Gegenstände“ (la vera forma circa la verità dei soggetti; 3) zugunsten der virtuosen Darstellung nackter Körper vernachlässigt.6 In Florenz kritisiert Francesco Bocchi 1591 aus ähnlichen Gründen Pontormos Fresken im Chor von S. Lorenzo, die zwar künstlerisch meisterhaft seien, aber „vom Wahren abfallen und als eitel verrufen sind“.7 3 

Gilio 1563/1961, S. 39: „’l pittore istorico altro non è che un traslatore, che porti l’istoria da una lingua in un’altra, e questi da la penna al pennello, da la scrittura a la pittura.“ Zu Gilio vgl. Caputo 2008. Schlosser zählt ihn wie Paleotti zu den „Moralisten“ (1985, S. 378–381). Einen Bogen von einer Darstellung von Hieronymus als Übersetzer zu Gilios Vorstellung des Malers als „traslatore“ hat auch Marieke von Bernstorff geschlagen (vgl. Bernstorff 2010, S. 66). 4  Gilio 1563/1961, S. 25: „Essendo dunque l’uno e l’altro di questi pareggiati in sé stessi, il medesimo giudizio faremo de l’uno che de l’altro, e che non sia meno ubligato a mostrare la pura e semplice verità il pittore col pennello, che si faccia l’istorico con la penna.“ Und S. 55: „Dico dunque che ’l pittore istorico essendo in ogni cosa simile a lo scrittore, quello che l’uno mostra con la penna, l’altro mostrar doverebbe col pennello: l’uno e l’altro però deve essere fedele et intiero demostratore del vero, non intromettendo ne l’opera cosa mascherata, adulterata et imperfetta.“ 5  Ebd., S. 68: „E per questo l’artefice si deve sempre sforzare in ogni miglior modo che possibil sia mostrare il vero, acciò sia scusato aver lasciato quello che mostrare non ha possuto, più tosto che non l’aver voluto o non l’avere inteso.“ 6  Ebd.: „Credo certo che Michelagnolo, come da prima fu detto et è fama publica, che per ignoranza non ha errato, ma più tosto ha voluto abbellire il pennello e compiacere a l’arte che al vero.“ Zu Gilios Michelangelo-Kritik vgl. Barnes 1998, bes. S. 84–85 und Hecht 2012, S. 432–444, der jedoch darauf besteht, dass Gilios Position „keineswegs identisch mit der katholischen Bildertheologie“ gewesen sei (ebd., S. 433). 7  Bocchi 1591, S. 254: „… in somma è questa pittura di Giacopo mirabile per colorito, nobile per disegno, et rarissima per rilievo; et se a queste doti, onde divengono le figure oltra l’altre maravigliose, fosse aggiunta l’ottima imitazione, sarebbe l’opera di vero senza pari. Perché esser non puote, mentre chi

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

4. Cigoli, Hieronymus als Übersetzer, sig.dat. ‚Lod. Cig. C.F. Faciebat 1599‘, Öl auf Holz, 412 × 206 cm, Rom, S. Giovanni dei Fiorentini, Cappella Mancini.

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Die Forderung nach Treue zum biblischen bzw. historischen Text, der sogenannten veritas historica, ist eine Antwort der Gegenreformatoren auf die Humanisten, aber auch auf die Bildkritik der Protestanten.8 Die Argumentation verläuft deshalb zweigleisig: Die Verteidigung der Bilder und ihrer Verehrung paart sich mit dem Eingeständnis von Missständen. Wie weit diese Selbstkritik und der Einfluss der Traktate reichten, ist in der Forschung umstritten.9 Die wohl entschiedenste Position vertritt Christian Hecht, der daran erinnert, dass ein weitgehendes Eingeständnis von Fehlern theologisch und kirchenpolitisch verheerend gewesen wäre und die Traktate vornehmlich darauf zielten, den Status quo zu bewahren: „Das spezifisch Gegenreformatorische der frühneuzeitlichen katholischen Bildertheologie ist die Bewahrung der vielfältigen Tradition des sakralen Bildes.“10 Hechts wichtigster Gewährsmann ist dabei Molanus, der das Ausmaß der Missbräuche relativiert und vor Traditionsbrüchen sowie der Entfernung von Bildern warnt, weil derartige Aktionen die Betroffenen zu sehr verunsichern würden.11 Auch Federico Borromeo nimmt kleinere Fehler im Namen der Aufrechterhaltung der Tradition in Kauf.12 Vor allem aber verweist Hecht auf die harsche Antwort Kardinal Antonianos auf Paleottis Memorandum: „Kein [Glaubens-]Geheimnis, keine heilige Erzählung, das Bild keines einzigen Heiligen [wäre] ohne Missbrauch gemalt! Aber muss etwa die katholische Kirche nach eintausendfünfhundert Jahren belehrt werden, auf welche Weise die heiligen Bilder zu malen sind? Ich leugne nicht, dass sich einige Missbräuche eingeschlichen haben, aber nicht derart viele und geschweige denn an sehr vielen Orten; der allgemeine Gebrauch der Kirche ist richtig.“13 Hecht deutet Antonianos Stellungnahme si mira quello, che è dipinto, attentamente, che si accordi l’animo, che così sia verisimile, che passi la bisogna del fatto; la qual cosa conceputa nel pensiero, cade poscia il tutto dal vero, et riputato vano, si tiene a vile, et a nessun modo si apprezza …“ 8  Vgl. Feld 1990 und Scavizzi 1992. Hecht relativiert in der zweiten Auflage seiner grundlegenden Studie zur Bildertheologie die Bedeutung der veritas historica, insbesondere bzgl. der Details (vgl. Hecht 2012, S. 385). Besonders deutlich bei Federico Borromeo: „Habenda ratio est historicae veritatis, ne scilicet pingendo vana et falsa loquantur Artifices“ (1624/2010, II.10, S. 118). 9  Vgl. Jedin 1935 und 1962; Kirschbaum 1945; Prodi 1962; Kummer 1993; Hecht 2012 und Boesflug/Christin 2007. 10  Vgl. Hecht 1997, S. 182 und 2012, S. 500. 11  Vgl. Hecht 2012, bes. S. 123 und 150–159; vgl. Molanus 1570, Kap. 21 und 47 bzw. 1594, II.28 und II.55. 12  Vgl. z. B. Borromeo 1624, I.8, S. 28: „… magna vis est inveteratae consuetudinis Ecclesiaeque traditionum …“ Eingangs stellt er explizit klar, dass Maler die historica sacra zwar nach Belieben darstellen und verschönern dürften, aber nur, solange sie damit nicht gegen die veritas historica oder die Tradition verstoßen (vgl. I.4, S. 10). 13  „Nullum mysterium, nulla sacra historia, nullius sancti Imago sine abusu depicta est! Aut numquid post annos mille quingentos docenda est Ecclesia Catholica quomodo sacrae imagines pingantur? Non nego irrepisse abusus aliquos, sed non ita multi, neque adeo multis in locis, consuetudo universalis Ecclesiae recta est.“ Zit. nach dem bei Hecht vollständig abgedruckten Schreiben Antonianis (Hecht 2012, S. 505–509, hier S. 508).

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

als „Zusammenfassung der Position der katholischen Kirche zur Bilderfrage“ und damit als „eines der wichtigsten Dokumente, die es zur katholischen Bildertheologie gibt“.14 Doch auch wenn die institutionelle Kirche keine groben Missstände eingestehen wollte oder durfte, zeugen die Umgestaltung zahlreicher Kirchen, die Veränderung der Bildsprache und die zumindest in Einzelfällen überlieferten Bemühungen von Auftraggebern um Korrektheit von einer Sensibilisierung im Umgang mit Bildern. Aufgrund ihrer Praxisferne waren vor allem die vortridentinischen Traktate eher als Diskussionsgrundlage für Theologen denn als Lektüre für Künstler geeignet. Es soll im Folgenden deshalb nicht darum gehen zu zeigen, inwiefern Cigolis Gemälde den Anforderungen der Bildertraktate ‚gehorchen‘, sondern inwieweit beide demselben Geist oder, zeitgemäßer formuliert, denselben Praktiken, Diskursen und Theorien verpflichtet sind – unter der Leitvorstellung der Wahrheit. Was aber war Wahrheit? So omnipräsent die Begriffe verità und vero in der Traktatliteratur sind, so vielfältig ist ihre Verwendung: Die Bedeutungen reichen von ‚wirklich‘ oder ‚historisch‘ bis ‚ähnlich‘ oder ‚naturgetreu‘, von ‚wörtlich‘ bis ‚gut‘. Gilios dringende Forderung nach der Trennung des Wahren vom Falschen (seperar le cose vere da le falze) beispielsweise betrifft die Unterscheidung von Realem und Erfundenem, die Formulierung „veramente e materialmente“ hingegen bezeichnet das Gegenteil von „allegoricamente“.15 Die Wahrheit eines Bildes ist bei Gilio sowohl relational als auch ontologisch bestimmt. Sie besteht zum einen in der textgetreuen, historisch richtigen Wiedergabe eines Sujets, zum anderen ist sie abhängig von der inneren Wahrheit dieses Sujets selbst (la verità del soggetto; 3, 26, 54). Beides bedingt sich wechselseitig, denn wahre, vor allem sakrale Sujets verlangen striktere Texttreue als erfundene. Dementsprechend unterscheidet Gilio drei Arten von Malern: Der pittore istorico ist der Wahrheit der heiligen Schriften verpflichtet; der pittore profano nur der Intention des Dichters; der ohne Textvorlage arbeitende pittore misto allein der Wahrscheinlichkeit (verisimile).16 Während sich das Wahrheitsverständnis Gilios nur aus seinen Beispielen und der Kritik an den „errori“ der Maler erschließen lässt, entwickelt der scholastisch geschulte, am Konzil beteiligte Reformbischof Gabriele Paleotti in seinem 1582 erschienen Discorso intorno alle imagini sacre e profane eine systematische Wahrheitslehre.17 Dabei definiert er 14 

Hecht 2012, S. 321. Gilio 1563/1961, S. 71: „Benché questo precetto sia dato al poeta, conviene anco al pittore, a cui appertiene di seperar le cose vere, da le falze, e non le confondere insieme …“ und ebd., S. 78. 16  Ebd., S. 15: „… da questa ignoranza nasce il non sapere distinguere il vero dal finto e dal favoloso, il poetico da l’istorico, i tempi, i modi, l’età, i costumi e l’altre qualità convenevoli a le figure che fanno. Perché doverebbono sapere che il pittore a le volte è puro istorico, a le volte puro poeta, et a le volte è misto.“ Borghini nimmt Gilios Unterscheidung explizit auf (vgl. Borghini 1584, S. 53). 17  Zu Paleotti vgl. Prodi 1559 und 1967; Scavizzi 1992, S. 131–140; Baumgarten 2004, S. 52–59 und Steinemann 2006. Hecht beschreibt Paleotti etwas zu streng als „ausgemacht unsystematische[n] Denker“, dessen Versuch, theologisch tragfähige Kriterien zur Beurteilung von Bildern aufzustellen, am 15 

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Wahrheit einmal ontologisch als Substanz (la sostanzia delle cose, nelle quali consiste principalmente la verità) und einmal korrespondenztheoretisch als „Übereinstimmung des Zeichens mit der bezeichneten Sache“ (aequalitas signi ad rem significatam).18 Signifikanterweise verkürzt er die Formel der „adequatio intellectus vel signi ad rem intellectam et significatam“ um die Korrespondenz zwischen Geist und Ding oder Zeichen auf die zweistellige Beziehung zwischen Bild und Gegenstand.19 Diese Beziehung besteht in der Ähnlichkeit (similitudine), deren Herstellung als das erste Ziel der Malerei definiert wird. Sie ist, wie noch Galilei schreiben wird, „die Seele“ der Malerei.20 Etwaigen platonischen Einwänden hinsichtlich der Wahrheitsfähigkeit der Bilder kommt Paleotti mit der Einschränkung zuvor, dass Bilder nie die Substanz bzw. die eigentliche Wahrheit der Dinge, sondern nur das der Wahrheit Ähnliche (la similitudine della verità) zeigen und deshalb nicht dem Vorwurf der Täuschung unterlägen.21 Trotzdem könnten Bilder „wahr“ sein, zumindest solche, die entsprechend dem „vero modo“ christlichen Malens entstanden seien und keine Fehler enthielten, also weder anmaßend (temerario, II.3) noch anstößig (scandaloso, II.4), irrig (erroneo, II.5), verdächtig (sospetto, II.6) oder wahrhaft häretisch (eretico, II.7) seien.22 Unterschied von Bild und Text scheitere (vgl. Hecht 2012, S. 306, 109 und 320). Scavizzi bezeichnet den Discorso dagegen als „real catechism for painters“ (1992, S. 131). 18  Paleotti 1582/1961, S. 364–365: „Il vero si piglia in più modi, come scrivono gli autori, ma noi lasciando l’altre parti, pigliamo qui il vero prout est aequalitas signi ad rem significatam, cioè quella pittura che si conforma intieramente con quello che si vuol rappresentare …“ Vgl. Thomas von Aquin, Summa II–II, qu.109, art.1; 1943, Bd. XX, S. 122: „Sic enim accepta veritas non est habitus, quod est genus virtutis, sed aequalitas quaedam intellectus vel signi ad rem intellectam et significatam, vel etiam rei ad suam regulam, ut in Primo habitum est.“ 19  Vgl. ebd., I, qu.21, art.2; 1934, Bd. II, S. 203: „Respondeo dicendum quod veritas consistit in adaequatione rei et intellectus […]. Quando igitur res sunt mensura et regula intellectus, veritas consistit in hoc, quod intellectus adaequatur rei, ut in nobis accidit: ex eo enim quod res est vel non est, opinio nostra et oratio vera vel falsa est. Sed quando intellectus est regula vel mensura rerum, veritas consistit in hoc, quod res adaequantur intellectui: sicut dicitur artifex facere verum opus, quando concordat arti.“ 20  Paleotti 1582/1961, S. 210: „Il fine della pittura serà l’assomigliare la cosa rappresentata, che alcuni chiamano l’anima della pittura, perché tutte l’altre cose […] sono accessorie ad essa“ und Galilei, Considerazioni, Opere, Bd. IX, S. 76: „Abbiamo in pittura il disegno e ‘l colorito […] le quali due parti […] rendono la imitazione e rappresentazione perfetta, che è l’anima e la essenzial forma di queste due arti.“ 21  Paleotti 1582/1961, S. 359: „Nientedimeno, considerandosi che questa arte non è stata introdotta per rappresentarci la sostanzia delle cose, nelle quali consiste principalmente la verità, ma solamente la similitudine della verità, non potiamo dire che ella ne inganni, quando ci figura bene questa similitudine, facendo allora propriamente l’officio suo; ma solamente ci ingannerà quando non rappresenterà la similitudine che deve, e questo è che chiamiamo imagine falsa o burgiarda, perché manca dell’officio per lo quale ella è stata ritrovata.“ S. a. 364. Ähnlich definiert schon Braun 1548/1978, S. 109–110. 22  Die Titelseite kündigt fünf Bücher an, „… dove si scuoprono varii abusi loro e si dichiara il vero modo che cristianamente si doveria osservare nel porle nelle chiese, nelle case et in ogni altro luogo.“ Emser verurteilt Missbräuche mit anstößigen, vorgeblich wundertätigen, kostspieligen, übertrieben vielen oder kunstvollen Heiligenbildern (vgl. Göttler 1990, S. 281–287).

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

Dem Modell der aristotelischen Poetik und der klassischen Logik zufolge kann ein Bild für Paleotti auf zweierlei Weise falsch sein: entweder indem es ein falsches Objekt oder indem es ein Objekt falsch darstellt (o perché l’ imagine rappresenterà uno oggetto falso, o perché, essendo l’oggetto vero, ella lo figurerà falsamente).23 Ein Objekt wiederum kann auf zweierlei Weisen falsch sein – bezüglich seiner Möglichkeit (wie die historische Person Augustus auf einem fliegenden Wagen) oder bezüglich seiner Existenz (wie die Königskrönung einer erfundenen Person).24 In eben diese Kategorie fallen auch die Bilder der „falschen Götter“ der Antike, die jedoch, wie es in Roberto Bellarminos Disputationes de Controversiis Christianae Fidei heißt, in der Heiligen Schrift nicht als „Bilder“, sondern als „Idole“ bezeichnet würden.25 Damit wird das „Bild“ per se als wahr definiert, denn die imago ist die „wahre Ähnlichkeit der Dinge“ (imago est vera rei similitudo), das idolum die falsche Ähnlichkeit (falsa similitudo) bzw. die Darstellung einer falschen Sache (non re vera).26 Der dritte Fall, die falsche Darstellung eines wahren Objekts (l’oggetto è vero ma si figura falsamente), zielt nicht etwa auf eine stilistische Verfehlung, sondern auf die Verfälschung der Begleitumstände.27 Hier zeigen sich die Grenzen des Modells der Übersetzung, denn Text und Bild unterscheiden sich in dem, was Nelson Goodman 1969 als ihre 23  Paleotti 1582/1961, S. 359. Aristoteles unterscheidet Fehler, die aus dem Unvermögen der Nachahmung und solche, die aus dem Unvermögen der Vorstellung bzw. der Unmöglichkeit resultieren (Poetik, § 25, 1460 b). 24  Paleotti 1582/1961, S. 360: „Si dirà anco l’oggetto falso in due modi: primo, se quello ch’è rappresentato non è mai stato né può essere, come chi dipingesse Augusto imperatore in un carro di fuoco vola per l’aria, o le Muse che nascessero da’ tronchi di lauro o d’olivo, overo altre cose tutte finte et imaginate senza alcun fondamento di verità, di che si trovano molti essempii presso gli autori […] Nell’altro modo si dirà l’oggetto falso, quando quel che si figura non è mai stato, ma avria però potuto essere, come chi rappresentasse il beato Polidoro da Castelfranco venire a Bologna et essere coronato re di tutta l’Italia; imperò che, se bene è chiaro che non è stato alcun beato Polidoro di quel luogo, che si sappia, e meno che sia stato coronato re, è però cosa che non è di sua natura impossibile e che avria potuto essere.“ 25  Bellarmino 1870, Bd. III, S. 213: „Hanc esse veram differentiam illarum vocum secundum Ecclesiasticos, probatur Primo, quia Scriptura nusquam tribuit nomen idoli ulli veræ imagini, sed solum simulacris Gentilium, quæ falsos Deos referebant.“ Vgl. dazu Baumgarten 2004, S. 59–67. 26  Ebd.: „Dicunt inter imaginem et idolum hoc interesse, quod imago est vera rei similitudo; ut cum pingimus hominem, equum etc. Imago enim ab imitando dicta est. Idolum autem est falsa similitudo, id est, repræsentat id, quod re vera non est. Ut cum Gentiles proponebant statuas Veneris, aut Minervæ. Illa signa idola erant, quia repræsentabant Deos generis fœminini, quales Dii nec sunt, nec esse possunt. Atque ita vere repræsentabant, sed erant falsæ imagines.“ Zur Unterscheidung von imago/idolum bzw. eikon/eidolon vgl. auch Hecht 2012, S. 88–90. 27  Paleotti 1582/1961, S. 360–361: „L’altro capo è quando l’oggetto è vero, ma si figura falsamente; il che accade quando non si altera la sostanza o il fatto principale, ma solo si pervertiscono alcune particolarità e circonstanze di esso. […] ma noi presupponiamo ora tutta la azzione come fondamento delle circonstanze, essendo chiamate quelle περίστασεις, cioè circumstantiæ, quia circumstant rem, che è il fatto, talché il fatto è fondamento e circonstato, per dir così, e non circonstà …“

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„syntaktische Dichte“ und „Fülle“ bezeichnet hat, der Tatsache also, dass piktoriale Zeichen notwendig mehr Festlegungen treffen als Begriffe und „jeder Unterschied einen Unterschied“ für das denotierte Objekt bedeutet.28 Eine Linie auf dem Papier ist stets bereits eine Linie bestimmter Breite, Länge, Farbe, Gestalt, und das Bildzeichen ‚Pferd‘ gibt, wie Umberto Eco gezeigt hat, immer zugleich auch dessen Haltung, Rasse, Größe, Schmuck etc. an.29 Hier nun lauern potentielle Fehler, denn die Eigenschaften des „Körpers der Wahrheiten“ (corpo delle verità) lassen sich dem Text meist nicht unmittelbar entnehmen und müssen folglich nach Maßgabe des historisch und logisch Wahrscheinlichen festgelegt werden.30 Diese Forderung geht über die Wahrung des decorum hinaus und kann mit ihm, wie auch mit der Tradition, in Konflikt geraten.31 Wie in der neueren Forschung zu Caravaggios erster, 1599 (also im selben Jahr wie Cigolis Hieronymus) entstandener Fassung der Inspiration des Matthäus für die Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi gezeigt wurde, war die plebejische Darstellung des barfüßigen Evangelisten wohl nicht der Grund für den Austausch des Provisoriums durch die heute über dem Altar befindliche Fassung. Im Gegenteil entsprachen die von der Tradition abweichenden, aber durchaus nicht einzigartigen Details dem gegenreformatorischen Ideal und verdanken sich vermutlich der Beratung durch Kardinal del Monte.32 Auch in der Frage nach der angemessenen Darstellung der Verkündigung triumphierte die theologische Richtigkeit über die Tradition: Die Darstellung eines körperlich ausgebildeten, auf Maria zufliegenden Jesuskindes erscheint den meisten Autoren verwerflich, weil sie zwar aus dem Problem

28 

Goodman 1997, S. 133 und 210–214. Eco 2002, S. 236. Ecos Beispiel lässt sich exemplarisch mit Blick auf Montaignes Kritik an einer Kopie der Marc-Aurel-Statue in Pavia historisieren, der er nicht nur künstlerische Mängel, sondern auch unzeitgemäßes Pferdegeschirr vorwirft (vgl. Montaigne 1580/1963, S. 353). 30  Paleotti 1582/1961, S. 365: „… e perché ogni cosa, naturale o artificiale o morale, o di qualunque altra sorte, si presuppone fatta da certa persona et accaduta in certo tempo, certo luogo, con certa causa e certo modo, però ogni narrazione che vorrà spiegare una azzione o altra cosa vera e compita non doverà pretermettere alcuna di queste circonstanze. Onde il pittore, cui officio è d’imitare il vero, doverà precipuamente avere l’occhio a queste circonstanze, con le quali sta accompagnato il corpo delle verità, procurando di chiarirsi bene di tutto il contenuto et ordine del fatto e secondo quello formare il disegno suo. Ma perché tutti i successi et ordini delle cose non si sanno, et infiniti sono tralasciati dagli autori, allora, volendosi esprimere quelle cose che non sono certe, si viene al verisimile. Laonde narrazione verisimile si dirà quella, la quale spiegherà medesimamente tutte le circonstanze dette di sopra, le quali accompagnano il vero …“ 31  Zum Begriff des „decorum“ und seiner Transformation im Bilderdekret, das stattdessen mit den Begriffen „accommodatum“ und „honestum“ operiert, vgl. Gaston 2013, S. 84–85. 32  Einen barfüßigen, plebejischen Matthäus zeigt z. B. schon Girolamo Romanino in Brescia, das übergeschlagene Bein ist Raffaels Jupiter in der Farnesina entlehnt. Dass Bellori die nackten Füße als Grund der Ablehnung bezeichnen konnte, spricht für ein verändertes soziokulturelles Klima (vgl. EbertSchifferer 2010, S. 120–132 und Kap. V.2). 29 

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

der Anschaulichkeit entstehe, aber häretischen Vorstellungen Vorschub leisten könne.33 Die Darstellung von Hebammen bei der Geburt Christi wiederum sei nicht nur irreführend, sondern falsch, denn sie beruhe auf apokryphen Quellen.34 In anderen Fällen war es eher eine gewisse Schludrigkeit oder künstlerische Freiheit, die den Künstlern vorgeworfen wurde. Raffaello Borghinis Vecchietto beispielsweise ärgert sich über Pontormos mangelnde Rücksicht auf die sacra istoria in seinem Sintflutfresko im Chor von S. Lorenzo: Wo ist der Opferaltar, wo sind die Tiere, warum ist Noah nackt, warum gibt es noch Überlebende?35 Über solch theologisch mehr oder weniger relevante Fragen hinaus ergaben sich auch Fragen aus den Leerstellen der Texte, die der Maler mit Konjekturen zu schließen hatte: Welche Haltung hatte Maria beim Eintritt des Verkündigungsengels, welche Kleidung trug sie, wie sah ihre Kammer aus und wie eigentlich ein Engel?36 Insgesamt zeigt sich Paleotti strenger als Molanus oder Gilio, der auf Hieronymus’ Überzeugung verweist, wonach eine gute Übersetzung sich eher an den „Geist“ des Autors halten müsse als an seine Worte.37 Paleottis Diskussion über Wahrheit oder Lüge im Bild ist bildtheoretisch weniger naiv, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die erste Kategorie, die „anmaßenden Bilder“ (pitture temerarie), verdankt sich der Einsicht, dass Bilder nicht nur (mit Goodman gesprochen) „dicht“ und „voll“ sind, sondern auch keine modalen Unterscheidungen treffen können. „Anmaßend“ sind folglich Bilder, die etwas zwar Mögliches, aber Ungewisses als sichere Wahrheit präsentieren.38 Auch wenn Bilder keine Aussagen über den Wahrheitsgehalt des Gezeigten machen, legt die bildliche Evidenz eine indikativische Auslegung nahe. Diese soll von den Betrachtern nicht in Frage gestellt werden, weil ein vorbehaltloses Für-wahr-Nehmen durchaus erwünscht ist. Schließlich steht das erste Ziel der Malerei – die Herstellung von Ähnlichkeit – im Dienste eines noch höheren

33 

Vgl. Hecht 2012, S. 470–471. Vgl. ebd., S. 303, 310 und 472. 35  Vgl. Borghini 1584, S. 80. 36  Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 403–404 und Molanus 1594, II.19, fol. 36v: „Quia verò aliquid horum dum historia pingitur necessariò est superaddendum, communi quodam pictorum consensus & aliorum approbatione receptum est id quod maximam habet probabilitate[m].“ 37  Vgl. ebd., S. 361: „… poiché, secondo il detto volgare delle scuole, malum oritur ex singularibus defectibus“ (die Formel stammt von Dionysius Areopagita, De divinus nominibus, 4). Vgl. Gilio 1564/1961, S. 62: „… dico che il poeta vuole che al senso si attenda e non a le parole; come anco vuole Girolamo ne la lettera che egli da De l’ottimo genere de l’interpretare.“ Vgl. Hieronymus’ Brief „Über die beste Art zu übersetzen“, in dem er für eine sinngemäße Übersetzung plädiert: „non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu“ (Hieronymus 1982, Nr. 57.5, S. 76). 38  Paleotti 1582/1961, S. 270: „Chiamano proposizione temeraria quando una cosa che è possibile, ma non ha ragione certa più per una che per altra parte, alcuno si muove ad affirmarla sicuramente in favore di una parte.“ 34 

42 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

Ziels, nämlich die Menschen zur Tugend und zum wahren Glauben zu führen.39 Dies aber geschieht am effektivsten durch eine vorbehaltlose Auseinandersetzung mit dem Bild.40 Wie also geht ein christlicher Maler vor? – Er liest nicht nur einmal, sondern mehrmals den Text, prüft die Tradition, bedient sich seines gesunden Menschenverstands und fragt im Zweifelsfall einen Experten um Rat. Die letzte Entscheidung liegt, zumindest nominell, beim Bischof.41 Drei Probleme können hierbei auftreten: Der Maler repräsentiert ein falsches Objekt (entweder der Möglichkeit oder der Existenz nach), oder er repräsentiert ein wahres Objekt falsch, irrt also in den Zirkumstanzen. Wie steht es vor diesem Hintergrund um die Wahrheit von Cigolis Hieronymus? Der Kirchenvater ist als historisch-wirkliche, von der Tradition der Kirche approbierte Gestalt fraglos ein oggetto vero, die dargestellte Tätigkeit ist möglich und historisch belegt. Schwieriger ist die Lage bezüglich der Begleitumstände: Ein Porträt des Gelehrten ist nicht überliefert; hier kann sich der Maler folglich nur an Tradition, Wahrscheinlichkeit und Decorum halten. Hieronymus wird gewöhnlich als Greis repräsentiert; sein weißer Bart ist legitimiert durch sein fortgeschrittenes Alter zum Zeitpunkt der Bibelübersetzung; als Kardinal wirkt er gepflegt und würdig.42 Bereits bezüglich der Tracht aber gehen die Meinungen auseinander: Gilio kritisiert die Darstellung von Hieronymus im Kardinalshabit, das erst durch Innozenz III., also 700 Jahre später eingeführt worden sei.43 Cigoli behält das Gewand bei, verzichtet aber (ob bewusst oder nicht) auf den sonst obligatorischen Hut.44 Auch bei der Gestaltung des Interieurs bemüht er sich nicht um historische Korrektheit, sondern setzt den Gelehrten wie Dürer an einen Wangentisch vor Butzenscheiben, wobei der in die Wand eingelassene Handlauf aus pietra serena an Florentiner Architektur erinnert (Abb. 5). Der signifikanteste Verstoß gegen die Wahr39 

Ebd., S. 211: „Sì che, quanto al proposito nostro, la pittura, che prima aveva per fine solo di assomigliare, ora, come atto di virtù, piglia nuova sopraveste, et oltre l’assomigliare si inalza ad un fine maggiore, mirando la eterna gloria procurando di richiamare gli uomini dal vizio et indurli al vero culto di Dio.“ 40  Bezeichnenderweise ist Paleottis Beispiel für ein „anmaßendes“ Gemälde ein durch Text zu einer Aussage transformiertes Bild, nämlich eine Darstellung des Weltuntergangs, der inschriftlich für einen bestimmten Zeitpunkt angekündigt wird (vgl. ebd., S. 270). 41  Vgl. Gilio 1564/1961, S. 43 und 82: „Se i pittori dunque […] s’informassero a pieno de la verità e soggetto de l’istoria, non una volta sola, ma diece, e studiare, leggere, rileggere, domandare e far quello che fidelissimo interprete far deve e ch’appertene al buono istorico, farebbe le sue opere degne di lode …“ Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 288: „… non basta che li pittori si accordino insieme a dipingere una cosa, se ella non è fondata nella ragione, e verisimilitudine grande, et communemente dai dotti accettata.“ 42  Passignano zeigt den Heiligen im gegenüberliegenden Bild in jüngeren Jahren und folglich mit dunklerem Haar. 43  Vgl. Gilio 1564/1961, S. 33 und 51; anders Molanus 1570, Kap. 23, fol. 52r–v . 44  Federico Borromeo erwähnt das Problem des Huts, stört sich aber explizit nicht zu sehr an dem Anachronismus, weil der Hut primär als Symbol für die Kardinalswürde fungiere (1624/2010, II.11, S. 130).

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

5. Albrecht Dürer, Hieronymus im Gehäus, 1514, Kupferstich, 24,7 × 18,8 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. 401-2.

scheinlichkeit und das Decorum sind jedoch die im Raum schwebenden Frauengestalten. Paleotti empfindet die Personifikation von Tugenden in Form von „Frauen, die man jeden Tag sieht“ (donne che si veggono ogni giorno) als eine Trivialisierung, die ihnen allen Glanz raube.45 Cigolis Allegorien sind fast lebensgroß und tragen farbige Gewänder; allein ihre im Vergleich mit dem veristischen Kopf des Alten glatten, malerischen Gesichter, ihr Schweben und die Wolken deuten den anderen Realitätsgrad an. Zumindest die von Borghini eingeforderte räumliche Differenzierung verschiedener Realitätsebenen hat 45  Paleotti 1582/1961, S. 456: „… volendo farle conoscere al popolo, le hanno figurate, come volgarmente si usa, in forma di donna con gli abiti et insegne che le si danno; il che viene tanto ad abbassare et avilire la grandezza loro, che perdono tutta la dignità e splendore della virtù, talché, dove dovriano queste imagini rapir l’animo per meraviglia et infiammarlo d’ardore di bontade, rendono più tosto negligente il pensiero, parendoli rimirare cosa commune e triviale, come sono le donne che si veggono ogni giorno.“

44 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

Cigoli eingehalten.46 Trotzdem unterscheidet sich seine Lösung nur graduell von Darstellungen wie Vasaris Gemälde im Salone dei Cinquecento, das Cosimo I. umgeben von seinen Tugenden zeigt, die seine Studierstube wie Mitbewohner bevölkern. Cigolis Verstöße gegen die verità erklären sich aus seinem Gehorsam gegenüber einem anderen Gebot, das laut Paleotti Vorrang vor der richtigen Nachahmung besitzt: dem persuadere.47 Ziel seines Gemäldes ist es nicht allein, die Betrachter über das historische Ereignis der Bibelübersetzung zu informieren, sondern auch, sie von deren Legitimität zu überzeugen. Schließlich geht jeder Forderung nach einer textgetreuen Übersetzung die Frage voraus, welches überhaupt der wahre Text ist. Seit der Renaissance bestand ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass jeder Text ein Palimpsest und schon die Bibel Produkt von Übersetzungen ist. Dass im Falle des Hieronymus das italienische Sprichwort des „traduttore, traditore“ nicht greift, galt es mit bildlichen Mitteln zu belegen. Die Septuaginta verdankte ihren Namen und ihre Anerkennung der Legende, derzufolge sie von siebzig unabhängigen Übersetzern in identischem Wortlaut verfasst worden war. Eine solche Übereinstimmung konnte sich nur göttlichem Einwirken verdanken und folglich universale Zustimmung erwarten.48 Hieronymus’ Einzelleistung hatte dagegen einen schwereren Stand: Zwar berief er sich auf die von ihm so genannte hebraica veritas, doch waren seine Hebräischkenntnisse recht beschränkt und seine Übersetzungen frei, weshalb sie schon von Augustinus kritisiert und nie allgemein anerkannt wurden.49 Vor allem Lorenzo Valla, Johannes Reuchlin, Jacques Lefèvre d’Etaples, Paul von Middelburg und Erasmus monierten an der Vulgata nicht nur Ungenauigkeiten, sondern sogar sinnentstellende Fehler.50 Das Problem, diese mit dem Renommee des Kirchenvaters zu vereinbaren, lösten schon Lefèvre und Valla, indem sie Hieronymus’ Autor-

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Vgl. Borghini 1584, S. 56–60 und 62 (in Kritik an Bronzinos Laurentiusmartyrium in S. Lorenzo). 47  Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 214 und 215. Sogar anmaßende Bilder sind erlaubt, wenn das Dargestellte wahrscheinlich ist, das Herz bewegt und zur Devotion anregt (vgl. ebd., S. 271). Zu der rhetorischen Kategorie des „persuadere“ vgl. auch Paleottis Vergleich der Ziele des Malers mit denen des Redners (ebd., I.21). 48  Die Legende berichtet von 72 Gelehrten, die in 72 Tagen eine Wort für Wort identische Übersetzung anfertigten. Die Abrundung auf 70 wurde vorgenommen, um die Zahl den 70 inspirierten Auserwählten aus Num 11,24 anzupassen, die Moses bei der Gesetzgebung beistanden. Schon Scaliger bezeichnete die Geschichte angesichts der gravierenden Übersetzungsfehler allerdings als Mythos (vgl. Lebram 1975, S. 37). 49  Vgl. Hieronymus 1982, 20.4. Zur hebraica veritas vgl. Brief 18 A/B, 20 und 36 und dazu Cain 2009, S. 2, 9 und 54. 1546 hatte die theologische Fakultät Löwen eine Liste illegitimer Bibelausgaben publiziert, die nicht nur deutsche und französische, sondern auch diverse lateinische und griechische Ausgaben verbot und 1559 in den ersten päpstlichen Index übernommen wurde (vgl. Jedin 1967, S. 531 und Reusch 1961, S. 176–208). 50  Vgl. Rice 1985, S. 175–179.

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

schaft an der Übersetzung in Frage stellten.51 Paradoxerweise setzte die Diskussion bereits bei dem von Cigoli zitierten Satz des Johannesevangeliums „In principium erat verbum“ ein, da Erasmus darauf bestand, den im griechischen Original verwendeten Begriff λόγος nicht mit „verbum“, sondern mit „sermo“ zu übersetzen, da nicht ein einzelnes Wort, sondern die (durch Christus vermittelte) Rede Gottes gemeint sei.52 Nicht zuletzt aufgrund solcher Monita fertigte Luther seine Übersetzung (zumindest erklärtermaßen) nach dem Urtext, und auch Zwinglis „Zürcher Bibel“ warb auf dem Titelblatt damit, „der ursprünglichen Ebraischen und Griechischen waarheyt nach / auffs aller treuwlichest verteutschet“ zu sein.53 Nach der Reformation kursierten dementsprechend Drucke, die Luther nach dem Vorbild mittelalterlicher Autorenbilder mit einer Inspirationstaube zeigten, in den 1590er Jahren auch Wolfgang Stubers Variation von Dürers Meisterstich, die Hieronymus im Gehäus durch Luther ersetzte.54 Doch die Frage nach der legitimen Übersetzung stellte sich nicht allein vor dem Hintergrund der protestantischen und volkssprachlichen Konkurrenz, sondern auch wegen der Kritik aus den eigenen Reihen. Das Konzil von Trient hatte die Vetus et Vulgata Editio 1563 zwar anerkannt, zugleich aber eine Kommission für ihre Revision eingesetzt.55 Bis zur Zeit des Auftrags an Cigoli hatte sich die Situation zugespitzt: Ungeduldig über die langsamen Fortschritte der Kommission, hatte Sixtus V. die Überarbeitung selbst in die Hand genommen und im Mai 1590 eine philologisch fragwürdige eigene Fassung an die katholischen Fürsten Europas versandt, die jedoch gleich nach seinem Tod – also schon drei Monate später – zurückgezogen wurde. Auf Rat Bellarmins erarbeitete eine von Gregor XIV. eingesetzte neue Kommission eine bereinigte Ausgabe, die 1592 von Clemens VIII. veröffentlichte Sixto-Clementina, die zwar nicht ausdrücklich von Inspiration, wohl aber von einer göttlichen Anregung Hieronymus’ sprach.56 Cigolis Auftraggebern war offenbar daran gelegen, den von dem ehemaligen Vorsteher der Florentiner Pfarrkirche, Filippo Neri, besonders verehrten Patronatsheiligen Hieronymus und seine Übersetzung bildlich zu legitimieren. In den Kategorien Shapins versucht Cigoli dies durch Hinweise auf Hieronymus’ Stand, seine persönliche Integrität und Auserwähltheit zu erreichen: Tracht und Studierstube zeigen sein standing, die Tugendallegorien externalisierten seine positiven Eigenschaften, vor allem aber verweist das in die 51 

Vgl. ebd. und Bentley 1983, S. 50 und 162. Vgl. Bentley 1983, S. 170. 53  Tatsächlich verrät die Übersetzung Luthers, der des Hebräischen nur eingeschränkt mächtig war, deutliche Spuren der Vulgata. 54  Kupferstich, 14 × 12,20 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. 55  In der Sessio IV vom 8.4.1546 definierte das Konzil den Kanon der heiligen Bücher und erklärte die Vulgata als einzig authentische Übersetzung (vgl. Wohlmuth 2002, S. 663 und 664). 56  Vgl. Jedin 1967, S. 530 und Rice 1985, S. 188: „… ad Scripturas sacras interpretandas divinitus excitatus.“ Bis dahin war die von Lukas von Brügge überarbeitete Vulgata des Löwener Dominikaners Johann Henten aus dem Jahr 1547 die verbreitetste Ausgabe (vgl. Jedin 1967, S. 574). 52 

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dunkle Schreibstube einbrechende, transzendente Licht auf seine göttliche Inspiration.57 Dieses Moment wird in den folgenden Jahren noch stärker betont: Hatten frühere Darstellungen Hieronymus primär als Gelehrten vorgeführt, wird ihm nun – etwa von Rubens (Potsdam, 1608/09), Domenichino (Prado, um 1630) oder Guido Reni (Wien, um 1635) – ein inspirierender Engel beigegeben. Laut Cardis Biographie wird Cigolis Hieronymus „von drei himmlischen Tugenden erleuchtet, die ihm göttliche Begriffe eingeben“ (… reflettano in esso concetti divini).58 Die Identifikation der Tugenden ist schwierig; am plausibelsten erscheint die Hypothese Farandas und Continis, der zufolge es sich nicht um die Kardinaltugenden, sondern um verschiedene Allegorien handelt. Fides mit Kreuz und Schale und die auf Hieronymus hinabblickende Prudentia mit Doppelkopf und Schlangenspiegel unterstreichen seine persönliche Eignung für die erhabene Aufgabe.59 Die wichtigste Rolle spielt jedoch die dritte, stark verkürzte Gestalt, die mit zum Licht erhobenem Blick Blüten aus einem geöffneten Buch rieseln lässt. Obgleich unterbestimmt, lässt sie sich am ehesten als Gratia deuten, die Ripa als eine „schöne, lächelnde Frau mit zum Himmel erhobenem Gesicht“ beschreibt, die vielfarbige, dornenlose Rosen verstreut.60 Ihr zum Licht geöffnetes Buch ist neben dem aufgeschlagenen Johannesevangelium (dessen Text Cigoli gekürzt hat, um die mit dem Dargestellten korrespondierende Zeile „lux in tenebris lucet“ zitieren zu können) ein Emblem des Evangeliums. Das himmlische und das heilige Buch legitimieren die Übersetzung, die sich zwischen den beiden materialisiert. Die Worte des oberen Buches sind wirksam, bringen Blüten hervor, welche die beiden Welten verbinden, indem sie in Richtung des gerade entstehenden Manuskripts fallen und ihm so göttliche Gnade einflößen. Die Rückseite einer Vorzeichnung zeugt von Cigolis Versuchen, die Allegorien mit Hieronymus zu korrelieren (Abb. 6).61 Die Skizzen zeigen den Heiligen von der Seite, wie

57  Spätere Maler, etwa Rubens (Potsdam, 1608/09), Domenichino (Madrid, um 1630) oder Guido Reni (Wien, um 1635) indizieren die göttliche Mitwirkung noch expliziter durch die Einfügung eines Engels. 58  Cardi 1628/2010, fol. 3r, S. 105: „… un S. Girolamo, il quale esponendo la Scrittura è illuminato da tre Virtù Celesti, le quali / sopra di lui risedendo tra le nuvole reflettano in esso concetti Divini …“ Baglione erwähnt nur zwei Tugenden (1642/1995, Bd. I, S. 153–154). 59  Vgl. Faranda 1986, S. 70 und Contini 1991, S. 66. Chappell deutet die Buchträgerin als Speranza, die Figur mit Spiegel als Prudentia (1992, S. 88). Eine Zeichnung für diese beiden Tugenden hat Jacob Bean mit Christ Church, Inv. 0232, identifiziert (vgl. Bean 1968), Chappell eine weitere mit GDSU 8832 F (Chappell 1979, Nr. 76). 60  Ripas Iconologia von 1593 enthält nur eine Beschreibung der „Gratia Divina“: „… una donna bella e ardente, con la faccia rivolta verso il cielo“ (Ripa 1593, S. 113). Die Beschreibung der blumenstreuenden „Gratia“ – „Giovanetta ridente et bella, di vaghissimo habito vestita, coronata di diaspri, pietre pretiose et nelle mani tenga in atto di gittare piacevolmente rose di molti colori, senza spine“ findet sich erst in der zweiten Ausgabe (Ripa 1603, S. 195). 61  Die Tuschezeichnung DAGL 917 stammt aus der Sammlung Baldinuccis.

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

6. Cigoli, Hieronymus und Tugenden, braune Tusche auf Papier, 37,2 × 25,4 cm, Florenz, GDSU 1030 F.

er vom Text aufsieht und den Blick zu den hier noch nackten Frauengestalten erhebt, die sich wie Musen zu ihm herabbeugen. Bei dieser Lösung hätte Cigoli Hieronymus in die Tradition der inspirierten Evangelisten gestellt, formal aber gegen Borghinis Regel der räumlichen Trennung von Allegorie und Historie verstoßen. Im Gemälde ist der visionäre Aspekt zurückgenommen, die Aufgabe, das Verhältnis von Hieronymus und Allegorien zu bestimmen, fällt nun dem Betrachter zu. Die im Verhältnis zur Vorzeichnung unternommene 80°-Drehung des Tisches, der Hieronymus von den Allegorien weg und zur Bildebene hinwendet, bezieht den Betrachter als Zeugen, aber auch als potentiellen Leser stärker ein. Die frontale Komposition und das Mobiliar erinnern an Dürers Meisterstich.62 Doch anders als dessen weit in den Raum zurückgesetzter, von seinem Löwen an 62 

Zu einer anderen Form der Hommage an Dürer in Darstellungen des Hl. Hieronymus vgl. Bernstorff 2010.

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7. Santi di Tito, Büßender Hieronymus, 1599, Öl auf Holz, 307 × 193 cm, Rom, S. Giovanni dei Fiorentini, Cappella Mancini.

der ästhetischen Schwelle bewachter Gelehrter, ist Cigolis Hieronymus nah an die Bildebene gerückt. Die leichte Schrägstellung des Tisches ist eine einladende Geste an den am Kapelleneingang – also schräg zum Bild – stehenden Betrachter. Doch Hieronymus ist ihm trotz der Nähe zugleich entzogen, denn die Anbringung des Bildes an der Seitenwand rückt den Heiligen in die Ecke der Kapelle. Die Absorption des Übersetzers und die beleuchteten Kanten von Tisch und Pult halten den Betrachter zusätzlich auf Distanz. Eugene Rice hat das Gemälde als Schwellenbild gewürdigt: „Cigoli’s picture catches a critical moment of transition: not only is it an early instance of the revived interest in showing Jerome translating the Bible under divine inspiration63, it is the last Italian St. Jerome in his study as well as a precocious example of another revival, the illustration 63 

Im frühen 17. Jahrhundert wurde die Darstellung des inspirierten Hieronymus zunehmend populär. Lodocivo Carracci, Domenichio, Francesco Albani, Rubens, Guido Reni u. a. zeigen Hieronymus mit einem Engel.

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8. Domenico Passignano, Hieronymus als Klosterbauherr, 1599, Öl auf Holz, 412 × 206 cm, Rom, S. Giovanni dei Fiorentini, Cappella Mancini.

of Jerome’s penitential lament that he seemed always to fear the fearful voice of the trumpet of the Last Judgment.“64 Gemeint ist das apokalyptische Gemälde auf der Rückwand mit der Inschrift „con tremisco“, das eine Brücke zu Santi di Titos Hauptaltar schlägt, in dem der büßende Hieronymus mit zwei Tugenden dargestellt ist (Abb. 7). Das Gemälde markiert den Kulminationspunkt des Heiligenlebens, das vita contemplativa und vita activa miteinander vereint. Denn Hieronymus’ ruhige Versenkung in Cigolis Gemälde bildet ein Pendant zu Passignanos Darstellung geschäftigen Treibens auf der gegenüberliegenden Seitenwand, wo Hieronymus den Bau eines Klosters anweist und nicht das verbum, sondern der muskulöse Rücken eines Arbeiters in das Bild einführt (Abb. 8).65 64 

Rice 1985, S. 189. Cigoli hat auch für diese Szene einen Entwurf angefertigt (GDSU 1030 F und DAGL 917). Zu den Hypothesen über die Gründe für diesen Sujettausch vgl. Chappell 1992, S. 87 und Valone 1994, S. 143–144. 65 

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Cardis Biographie schreibt nicht allein Hieronymus, sondern auch Cigoli göttliche Inspiration zu: „Die himmlischen Tugenden […] flößten ihm beim Malen ein über die Grenzen der menschlichen Kräfte hinausgehendes Können ein, so dass das Bild hinsichtlich Erfindung, Zeichnung und Kolorit so viel Gefallen fand, dass es in SS. Annunziata, wo es mit den anderen beiden Bildern für dieselbe Kapelle von Santi di Tito und Passignano ausgestellt war, für das beste befunden und von vielen gezeichnet wurde.“66 Nicht nur die Feder des Übersetzers, sondern auch der Pinsel des Malers wird offenbar von Gott geführt. Doch auch seine Wahrheit gerät in Konflikt mit ihrem Gegenspieler, dem Neid: Die durch das übermenschliche Können Cigolis gekränkte Fortuna habe dafür gesorgt, dass das Gemälde beim Transport nach Rom bei einem Schiffsunglück durch Wasser beschädigt worden sei und „die übergroße Schönheit des Kolorits“ sich „verdunkelt“ habe.67 Cardis Deutung des Unglücks rekurriert möglicherweise auf Vasaris Bericht der wunderbaren Rettung von Raffaels Kreuztragung für S. Maria dello Spasimo in Palermo, die einen Schiffbruch überstand, weil „das Wüten der Winde und die Wellen des Meeres der Schönheit dieses Werks Respekt zollten“, weshalb es fortan „als etwas Göttliches“ betrachtet worden sei.68 Schon hier also knüpft sich der Kultwert eines Gemäldes an dessen ästhetischen Wert, weshalb Sylvia Ferino-Pagden die an mittelalterliche Wundererzählungen anknüpfende Legende als Indiz für die Verschiebung vom Kultbild zum Kult schöner Bilder deutet.69 Auch Cardi verschränkt göttliche Begnadung und künstlerische Schönheit. Gerade diese aber ruft Fortuna, eine pagane Gegenmacht, auf den Plan, die dem Bild etwas von seiner „dolcezza“ nimmt, aber durch ihren destruktiven Akt zugleich die ursprüngliche, neiderweckende Schönheit des Bildes belegt. Selbstverständlich gehen die malerischen Qualitäten des Bildes über eine bloße „Übersetzung“ des historischen Themas hinaus. Durch die Komposition und den Einsatz von Licht und Farbe gelingt es Cigoli, Allegorie und Historie in ihrer Trennung zugleich zu verbinden und dabei göttliche Inspiration zu suggerieren, ohne durch die Einführung einer Geisttaube eine eindeutige und angreifbare Aussage zu formulieren. Anders als die

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Cardi 1628/2010, fol. 3r, S. 105: „… tre Virtù Celesti […] in quello influirno / potere che passò il termine delle forze humane, poiche per l’inventione, disegno, e colorito piacque tanto, che messa nella Non/ziata a mostra con l’altre due che andavano nella medesima cappella una fatta da Santi e l’altra dal Passignano, dove / essendo giudicata la meglio, fu da molti disegnata.“ Damit wird Cigoli zum pittore cristiano, der sein Können einsetzt, um göttliche Gnade zu gewinnen: „Il fine principale serà, col mezzo della fatica et arte sua acquistarsi la grazia divina …“ (Paleotti 1582/1961, S. 210). 67  Der Text lautet weiter: „… et invidiandolo la Fortuna di tanto onore, nel quale ella non / ci havea parte alcuna, non volse che con tanta pompa arrivasse a Roma, et aspettando il tempo quando l’hebbe in suo / dominio facendo far naufragio alla barca che la conduceva la fece sommerger nel Mare, per mezzo della cui acqua / adombrò quell’estrema bellezza di colorito, e dove levando, e dove inscurendo, guastò in qualche parte la dolcezza, / et accordamento del tutto.“ 68  Vasari 2004, S. 63. 69  Vgl. Ferino-Pagden 1990, S. 172–174.

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

Gnadenblüten, die auf ihrem Weg von der Allegorie zur Realität gleichsam verglühen, scheint das transzendente Licht auf Kopf, Hand und Tisch des Gelehrten (vgl. Abb. 4). Jede der Tugenden ist auf je eigene Weise mit ihm verbunden: Gratia durch ihr kardinalrotes Gewand und die Blumen, Prudentia mit ihrem nach unten gerichteten Blick, Fides durch ihr weißumhülltes Bein. Kolorit, Komposition und Licht verleihen dem spröden Sujet Unmittelbarkeit und – so zumindest Cardi – „estrema bellezza“. Der inspirierte Künstler ist ein zweiter Hieronymus, der sakrale Sujets ins volgare oder, mehr noch, in eine „Universalsprache“ (un linguaggio commune) übersetzt.70 Das Resultat der Übersetzung ist – nach der ad nauseam wiederholten Formulierung Gregors des Großen – wieder ein Buch: „die Geschichte des Unwissenden“ (l’istoria de l’ignorante), ein „Volksbuch“ (un libro popolare), „die Schrift und Lektion der gewöhnlichen Menschen“ (le scritture, e le lettioni degli huomini volgari).71 Bekanntlich verwandte schon Gregor in seinen Briefen an den Bischof von Marseilles, der 599 zur Vermeidung von Idolatrie Gemälde zerstört hatte, die Formulierung in apologetischer Absicht: Erst freundlich, dann in schärferem Ton rechtfertigte er den Gebrauch von Bildern „damit die, die keine Buchstaben kennen, zumindest lesen, indem sie auf den Wänden sehen, was sie in Büchern nicht lesen können“.72 Andreas Karlstadt hatte gerade dieses zur Rechtfertigung der Bilder immer wieder genutzte Argument unter Verdacht gestellt, die idiotae gezielt von der Lektüre richtiger Bücher abzuhalten und mit Bildern dumm zu halten, aus denen einfache Menschen nichts Heilsrelevantes lernen könnten.73 In den Bildertraktaten verbindet sich das Konzept der Kunst als biblia pauperum mit der Forderung nach einer klaren Bildsprache. „Eine Sache“, so Gilio, „ist umso schöner, je klarer und offener sie ist“.74 Modell ist auch hier die klare, offene und einfache Heilige Schrift (chiara e aperta; facile e aperto) bzw. das rhetorische Vorbild der Predigt, die die Bibel allgemeinverständlich auslegt.75 Der Maler-Übersetzer schreibt „ein für alle 70  Paleotti 1582/1961, S. 221: „… le pitture servono come libro aperto alla capacità d’ogniuno, per essere composte di linguaggio commune a tutte le sorti di persone, uomini, donne, piccioli, grandi, dotti, ignoranti, e però si lasciano intendere, quando il pittore non le voglia stroppiare, da tutte le nazioni e da tutti gli intelletti, senza altro pedagogo o interprete.“ 71  Gilio 1564/1961, S. 26; Paleotti 1582/1961, S. 494 und S. 408; Borghini 1584, S. 77–78; vgl. auch Ottonelli/da Cortona 1652/1973, S. 53. 72  Papst Gregor an den Bischof Serenus von Marseilles im Juni 599: „Idcirco enim pictura in ecclesiis adhibetur, ut hi qui litteras nesciunt saltem in parietibus videndo legant, quae legere in codicibus non valent“, abgedruckt in Chazelle 1990, S. 139. 73  Vgl. Karlstadt 1522, o. S.: „Ich mercke aber, warumb die Bebst soliche bucher [also Bilder] den Leyhen fur gelegt haben. Sye haben vermerckt, wan sie die Schefflein yhn die bucher furtten, yhr grempell marckt wurd nichst tzunhemen. Und man wurt welle[n] wissen was gotlich oder ungotlich, recht oder unrecht ist.“ 74  Gilio 1564/1961, S. 99: „La cosa tanto è bella, quanto è chiara et aperta.“ 75  Ebd., S. 99 und 100; zu Paleottis Predigt-Vergleich s. 1584/1961, S. 496–497. Zur Analogisierung von Malerei und Rhetorik vgl. auch Borromeo 1624/2010, I.11, S. 46.

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offenes Buch“ (un libro aperto alla capacità d’ogniuno), das unmittelbar und mühelos verständlich ist.76 Ein unverständliches Bild hingegen ist wie eine Fremdsprache: „Mir ein Bild zu zeigen, ohne zu wissen, was es darstellt, ist wie einen Ausländer sprechen zu hören, ohne zu verstehen, was er sagt oder ein Buch zu lesen, ohne zu wissen, wovon es handelt“ – mit der verwerflichen Folge, dass das Bild nicht mehr gelesen, sondern nur noch gesehen würde.77 Eine solche „bloße Kunst“ (pura arte bzw. arte sola), die sich im visuellen Genuss erschöpft, widerspricht dem über das erste Ziel der Nachahmung hinausweisenden „fine maggiore“ der christlichen Malerei, die Menschen zum wahren Gottesdienst anzuleiten (indurli al vero culto di Dio) und immer wieder neu von dessen Botschaft zu überzeugen (persuadere).78 Denn Bilder sind in diesem System vor allem Medien: Paleotti bezeichnet sie als „Boten“ (messaggiere) oder als „Schiff“ (nave), das Passagiere von einem Ort zum anderen bringt; der Betrachter wird zu den Gestaden des Sinns „übergesetzt“, ohne dass er seine Aufmerksamkeit auf das Transportmittel richten müsste.79 Dies geschehe erst, wenn das Schiff ins Wanken gerate und somit auf sich selbst aufmerksam mache, wie Farben oder kunstvolle Figuren auf das Bild als solches. Gilio vergleicht deshalb einen Maler, der sich vor allem mit dem Kolorit beschäftigt, mit einem Schriftsteller, der sich an den Buchstaben aufhält, statt Silben oder Wörter zu bilden.80 Hermetische, obskure und manierierte Bildfindungen, für die man einen weiteren „Übersetzer“ bräuchte, lehnen Paleotti und Gilio deshalb dezidiert ab.81 Negativer Höhepunkt solcher Kunst sind für Gilio Vasaris Fresken im Palazzo della Cancelleria, „die zu verstehen man 76 

Paleotti 1582/1961, S. 221, S. 501: „Dipoi, che la pittura seco quella maggior chiarezza che si può e […] sia distintamente compartita, talmente che chi la riguarda, subito con poca fatica ricognosca quello che si vuol rappresentare …“. 77  Gilio 1564/1961, S. 99: „E tanto fa a me vedere una pittura non sapendo che si sia, quanto a sentire parlare un barbaro non intendendo che si dica, o leggere un libro non sapendo di che tratti. […] Sarà dunque simile ad uno ignorante che, avendo in mano un libro istoriato, perché leggere non sa, va vedendo le figure.“ 78  Paleotti 1584/1961, S. 215 und 211: „Sì che, quanto al proposito nostro, la pittura, che prima aveva per fine solo di assomigliare, ora, come atto di virtù, piglia nuova sopraveste, et oltre l’assomigliare si inalza ad un fine maggiore, mirando la eterna gloria e procurando di richiamare gli uomini dal vizio et indurli al vero culto di Dio.“ 79  Ebd., S. 268: „… sì come le parole, quasi messaggiere, portano per le orecchie i concetti nostri ad altri, così la pittura rappresenta per gli occhi le cose da noi significate alla mente altrui“ und S. 297: „… una nave, che essendo stata trovata per condurre gli uomini da un luogo a un altro, se avvenisse che alcuno pellegrino, entrato in nave, si invaghisse tanto di quella commodità, che non si curasse più di uscire di nave né di guingere alla patria destinata, certo che questo saria come prendere il mezzo per fine e farsi concoscere di guidicio molto storto e debole.“ Das Schiffsbild übernimmt er von Augustinus, De doctrina Christiana, I.4. 80  Gilio 1564/1961, S. 15: „Pare a molti d’esser salliti al suppremo grado di perfezzione, com’hanno imparato accompagnare e maneggiar colori; e non s’accorgono che fanno come quello scrittore che sa ben formare le lettere, ma non sa accozzar le sillabe né ordinare le parole.“ 81  Vgl. ebd., S. 9, 24, 49, 112 und Paleotti 1582/1961, S. 221.

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1. Übersetzungen: Wahre Bilder, wahre Bücher

eine Sphinx oder einen Dolmetscher oder einen Kommentator bräuchte“ (per bene intenderle ci bisognerebbe o la Sfinge o l’ interprete o il commento).82 Einem paulinisch-universalistischen Imperativ folgend, muss der Maler seine Bilder mithin so gestalten, „dass jeder, ganz gleich ob gelehrt oder nicht, lernen kann, die Wahrheit zu erkennen“ (si deve fare in modo che ognuno possa imparare di conoscere la verità).83 Wer aber ist „jeder“? Wolfgang Kemp hat Paleotti mit Recht einen „Rezeptionstheoretiker“ genannt, der nicht mehr pauschal vom „Volk“ spreche, sondern von einer heterogenen Menge aus „Männern, Frauen, Adligen, Nichtadligen, Reichen, Armen, Gelehrten und Ungelehrten“, die ganz unterschiedliche Erwartungen und Geschmäcker an die Malerei herantragen.84 Zu ihrer Systematisierung unterscheidet Paleotti vier Grup­ pen – Künstler, Gebildete, Ungebildete und Geistliche –, deren Ansprüchen die Malerei gerecht werden muss, indem sie „den Geschmack aller auf jeweils entsprechende Weise befriedigt“: Kunstfertigkeit für die Maler, Inhalte für die Gelehrten, Schönheit und Quantität für die Ungelehrten und Frömmigkeit für die Geistlichen.85 Gerade spezifisch malerische Werte wie Kolorit, Chiaroscuro, Landschaften und Ornamente, aber auch die „den Blick verzaubernde“, „täuschende Ähnlichkeit“ erfreuen vor allem das Auge der Ungebildeten. Paleottis Ideal ist mithin eine „ars una“, die soziale Einheit durch die gemeinsame Betrachtung desselben, wenn auch jeden anders ansprechenden Bildes herstellt. Dürfen wir Cardi glauben, erntete Cigolis Hieronymusgemälde bei der öffentlichen Präsentation in SS. Annunziata, wo sich seit 1563 das Oratorio dei pittori della Confraternità di San Luca befand, ein solches allgemeines Lob.86 Und tatsächlich hält das Bild für Betrachter aller Bildungsstufen etwas bereit. Die zentrale Botschaft ist unmittelbar einsichtig: Hieronymus übersetzt mit Sorgfalt und göttlichem Beistand die Bibel. Doch dazu bietet sich dem Auge der Gelehrten eine komplexe heilsgeschichtliche Struktur: Hieronymus arbeitet zwischen einem Kruzifix und einem Totenkopf, der als Buchstütze für das Alte Testament dient.87 Erst aus der Perspektive der Gnade, der im Prolog des 82 

Gilio 1584/1961, S. 98. Ebd., S. 96. 84  Kemp 1985, S. 10; vgl. auch Schlosser 1985, S. 383–384. Pamela M. Jones hat diesen Ansatz für die kunsthistorische Forschung fruchtbar gemacht und gefordert, Bildern nicht eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben, sondern auch zu untersuchen, wie unterschiedliche Rezeptionshaltungen die multiplen, in einem Bild angelegten Bedeutungen aktualisierten (vgl. Jones 1999, S. 31). 85  Paleotti 1584/1961, S. 493–494: „… la pittura, la quale ha da servire ad uomini, donne, nobili, ignobili, ricchi, poveri, dotti, indotti, et ad ognuno in qualche parte, essendo ella il libro popolare, dovesse ancor essere formata in modo che proporzionatamente potesse saziare il gusto di tutti.“ Vgl. ebd., S. 147: „… le pitture abbracciano universalmente tutte le sorti di persone“ sowie S. 497: „… a’ quali quando le pitture sodisfacessero, si potria dire che avessero insieme in certo modo il consenso universale del popolo.“ 86  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 3r, S. 105. Vgl. Mersmann 2015; zum Laienurteil vgl. Frangenberg 1986 und Schröder 2003. 87  Zur Kombination von Totenschädel und Buch vgl. Macho 2011, S. 344–345. 83 

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Johannesevangeliums gefeierten Fleischwerdung des Wortes (Verbum caro factum), wird der Tod überwunden. Christus am Kreuz ist das inkarnierte verbum.88 Während sich auf der horizontalen Achse der Tischplatte Tod und Erlösung in Gestalt von Kreuz und Kopf gegenüberstehen, steht das Kruzifix auf der vertikalen Achse des linken Bildrands zwischen Anfang und Ende: Den Worten „in principio“ unten steht auf dem Rahmen des „Bilds im Bild“, auf dem eine schreiende Gestalt den Betrachter an den dies irae erinnert, die Inschrift „con tremisco“ entgegen. Cigoli präsentiert sich in Rom mit einem Bild über Bücher, und doch gelingt ihm, wie schon Cardi bemerkt, wesentlich mehr als eine Übersetzung. Das Wort erscheint in vielerlei Gestalt: als gedachtes, geschriebenes, übersetztes, aber auch als Fleisch gewordenes, als Produkt des Geistes, der Feder und des Pinsels. Und auch der Maler-Übersetzer schreibt: Bescheiden, aber selbstbewusst setzt Cigoli seine Signatur – Lod. Card. F. [lorentinus] Faciebat 1599 – auf eine Strebe unter der Tischplatte. Das Imperfekt ist ein Gestus der Demut und des Stolzes zugleich, denn in eins mit der Betonung der Unvollkommenheit des Werks stellt Cigoli sich damit in die Tradition des Faciebat-Erfinders Apelles und des Florentiner Künstlergottes Michelangelo, der seine Pietà in St. Peter ebenfalls mit Facieba[t] signiert hatte.89 Auch die Signaturen der anderen beiden Altarbilder enthalten Hinweise auf ihre Florentiner Herkunft. Vor allem aber macht sie die Kapelle zu einem Schauraum für Florentiner Kunst in Rom.90 Die Treue zum Text, die von Übersetzern und Malern verlangt wurde, nahm unterschiedliche Ausprägungen an, je nachdem, ob es sich um einen heilsgeschichtlichen, historischen oder fiktionalen Text handelte. Im Folgenden werden einige Beispiele für Cigolis Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Textarten vorgestellt, deren Lücken es für die bildliche Umsetzung durch Konjekturen, zusätzliche Quellen oder Berechnungen zu schließen galt. Im ersten Fall spielt dabei die christliche Archäologie eine zentrale Rolle, im zweiten der Streit um den jeweiligen Wert von Text- und Sachquellen, zuletzt die Anwendung mathematischer Methoden auf einen fiktionalen Text.

88 

Zusätzlich wird der Zusammenhang durch die Inschrift der Grabplatte im Paviment hergestellt, der zufolge der Auftraggeber Tod und Auferstehung ruhig erwartet habe. 89  Der von Plinius erwähnte Brauch war von den Humanisten wiederentdeckt und durch Angelo Poliziano und Paolo Pino verbreitet worden (vgl. Plinius 1973, I, 26–27, S. 21; Juren 1974 und Hegener 2006, S. 152–154). 90  Ausführlicher zu der national- und kunstpolitischen Funktion der Kirche und der Kapelle: Mersmann 2015.

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

9. Cigoli, Gastmahl im Hause des Pharisäers, sig.dat. ‚LOD. CIG. F. 1596‘, Öl auf Leinwand, 120 × 160 cm, Rom, Galleria Doria-Pamphilj, Inv. 104.

2. B i be l : Chr istliche A rch äologie und Konjektur „Lucas. cap. vii. Et ecce mulier ut cognovit quod Iesus accubuit in domo pharisaei stans retro secus pedes ejus lachrimis coepit rigare pedes ei, et capillis suis tergebat et osculabat, et unguento ungebat.“ – „Lukas. Kap. VII. Und also trat eine Frau, die erfahren hatte, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Tisch lag, von hinten an ihn heran, wusch mit ihren Tränen seine Füße, trocknete sie mit ihren Haaren, küsste und salbte sie mit Öl.“ Cigolis Gemälde des Gastmahls im Hause Simons zeigt, was der in fünf Zeilen auf einem fingierten Pergament ins Bild gesetzte Text sagt (Abb. 9).91 Doch gerade die durch das lange

91  Vgl. Lk 7,37: „Als nun eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran. Dabei weinte sie, und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.“ Zu dem Gemälde vgl. Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 104 und Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 100–101. Vgl. auch Faranda 1986, S. 60–61 und S. 128, Nr. 20; Contini 1991, S. 46; Matteoli 1980, S. 140–143 und den Katalogeintrag von Marco Berti, in: Bellesi 2015, Nr. 41. Zu den

56 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

Zitat suggerierte Entsprechung von Text und Bild überrascht durch die fehlende Übereinstimmung des Gemäldes mit seinen Vorbildern. Die neue visuelle Übersetzung verändert die Lektüre des altbekannten Evangelientextes; der Betrachter sieht, was er nun zum ersten Mal bewusst liest, nämlich dass Christus im Hause des Pharisäers zu Tisch lag (accubuit) und Maria Magdalena hinter ihm steht (stans retro), während sie seine Füße salbt. Erklären lässt sich beides nur, wenn man annimmt, dass die Juden den römischen Brauch übernahmen, das Essen von einem sogenannten Triklinium, also einem aus drei Liegen (gr. klinai) bestehenden Speisesofa einzunehmen. Das 1596 im Auftrag des Arztes Girolamo Mercuriale entstandene Gemälde ist ein gelehrtes Nebenprodukt sportmedizinischer Forschung.92 Der Weg von Mercuriales Studien über die römische Badekultur zur historisch akkuraten Sakramentsdarstellung zeigt paradigmatisch die Verknüpfung von Verifizierungsstrategien verschiedener Disziplinen und bildet ein instruktives Beispiel für das Streben nach veritas historica in der sakralen Malerei. Cigoli lokalisiert das Gastmahl in einem dunklen Saal, der sich auf eine Küche und eine sepiafarbene Vedute öffnet. Der Raum wird von dem diagonal aufgestellten Speisesofa dominiert, das drei Seiten eines rechteckigen, weiß gedeckten Holztisches umschließt. Am vorderen Rand der linken Liege lagert Jesus mit leicht angewinkelten Beinen.93 Den linken Arm auf ein Kissen gestützt, wendet er sich seinem Gegenüber zu. Christus bildet den dynamischen Drehpunkt des Bildes: Sein Blick leitet die Aufmerksamkeit des Betrachters zunächst nach rechts zu dem konsterniert schauenden Gastgeber hinüber, um das Auge dann auf dessen Blickachse mit dem ausgestreckten Arm Christi nach links zu lenken, wo Maria Magdalena mit ihren blonden Locken die Füße Christi trocknet.94 Auf diese Seite des hölzernen Podests hat Cigoli auch seine Signatur und das Jahr der Fertigstellung gesetzt. Der Baldachin verleiht der Szene Feierlichkeit, aber auch eine gewisse Theatralität. Der geraffte Stoff erscheint wie ein Bühnenvorhang, der den Blick auf eine Aufführung freigibt oder einen Einblick in eine lange verschleierte Welt erlaubt.95 Die

Zeichnungen GDSU 1019 F, Albertina 741 und Kupferstichkabinett Hamburg 21148, die wahrscheinlich nachträglich als Vorlage für den Stich von Cornelius Galle angefertigt wurde, vgl. Chappell 1992, S. 57–62, Nr. 36–37 und Kultzen 1965, Nr. 83–84. Eine Cigoli zugeschriebene Zeichnung in Ottawa (Inv. 15136) zeigt die Teilnehmer des Gastmahls sitzend. 92  Zu Mercuriale vgl. Arcangeli/Nutton 2008, Siraisi 2003 und Biagioli 1999, S. 33–35, 179 und 181. 93  Vgl. die Figurenstudie in der Pierpont Morgan Gallery, New York 1964.17. 94  Vgl. die Studie mit weißer Tusche auf blauem Grund (GDSU 984 F) und dazu Chappell 1992, S. 60. 95  Vgl. auch das Frontispiz zur dritten Ausgabe von Pedro Chacóns De Triclinio, Amsterdam 1664, in dem ein junger Mann den Titel-Vorhang lüftet, um dem Betrachter einen Blick auf das Gastmahl zu erlauben.

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

ästhetische Grenze wird von dem Blick einer Dienerfigur in zeitgenössischem Gewand überbrückt, der zur Betrachtung der historischen Szene einlädt.96 Für ein Gemälde des Gastmahls mit Triklinium existieren kaum unmittelbare Vorbilder. Doch der durch das Zitat suggerierte Rückgang auf den Bibeltext ist durch andere Texte vermittelt, die dessen Lücken zu schließen helfen. Raffael hatte schon 1517, im Psychezyklus der Farnesina, die olympischen Götter auf einem Liegesofa dargestellt, allerdings offenbar nur auf Basis von Textquellen, denn sie lagern mit den Füßen Richtung Tisch. Diesen Fehler erkannte schon Philander, der in seiner illustrierten Vitruv-Ausgabe von 1545 erstmals das Mobiliar antiker Speisesäle zu rekonstruieren versucht hatte, ohne allerdings die genaue Gestalt des Trikliniums bestimmen zu können, da seine Hauptquelle, antike Sarkophage, dem Medium geschuldete Vereinfachungen vornehmen.97 Der Durchbruch gelang erst auf einem Umweg, der Beschäftigung von Cigolis Auftraggeber mit antiken Leibesübungen, die 1569 in der Publikation seiner Artis Gymnasticae libri sex mit einem Kapitel zum „Accubitus in coena antiquorum“ mündete.98 Schon als Leibarzt Alessandro Farneses hatte Mercuriale Kontakt zu Antiquaren wie Onofrio Panvinio, Fulvio Orsini und Pirro Ligorio, dem Mercuriale wahrscheinlich die ersten Hinweise auf das Triklinium verdankte.99 Seit seiner Berufung an die Universität Parma im Jahr 1569 pflegte Mercuriale den Austausch mit weiteren Altertumsforschern aus Padua und Venedig, wo das Studium antiker Architektur vor allem nach der Veröffentlichung von Barbaros Vitruvkommentar und Palladios Architekturtraktat intensiviert worden war. 1587 wechselte Mercuriale an die Universität Bologna, wo Lavinia Fontana ihn als vielseitig gebildeten Wissenschaftler porträtierte.100 Er korrespondierte mit zahlreichen Gelehrten wie dem Philosophen und Historiographen Francesco Patrizi da Cherso und

96  Vgl. die Federzeichnung im Rijksmuseum Amsterdam 4796 in: Thiem 1977, Nr.  36. Die Zeichnung 5190 in Windsor weisen Forlani 1959, S. 122, Petrioli Tofani 1979, S. 79 und Chappell 1992, S. 60 zurück. 97  Philander 1545, Buch IV, Kap. 5, S. 181–187 (bzw. Vitruv, De architectura libri VI, Kap. 3.8 und 3.10). 98  Hieronimi Mercurialis, De Arte Gymnastica, Paris 1569, zit. nach der dritten Ausgabe, Paris 1577 bzw. dem Nachdruck der abermals ergänzten Ausgabe von 1601: Mercuriale 2008; vgl. dazu auch Federici 2007. Schon Baldinucci schreibt die Bildidee Mercuriale zu (vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 100). 99  Ligorio erörtert das Problem bereits in seinen Antichità Romane, NBN, XIII B 3, fol. 327–329r. Vgl. Herklotz 1999, S. 217 und Vagenheim 2008. Zur umstrittenen Figur Ligorios vgl. Mandowsky/ Mitchell 1963; Schreurs 2000 und Coffin 2004. 100  Das Gemälde von 1588 befindet sich heute im Walters Art Museum in Baltimore. Chappell erkennt in dem kahlköpfigen Greis zur Rechten des Gastgebers auf dem Triklinium ein Bildnis Mercuriales (Chappell 1975, S. 95, Anm. 14). Ein von Cigoli angefertigtes Porträt des Arztes gilt als verloren (vgl. Frosini 1980, S. 195).

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10.  Pirro Ligorio, Accubitus, Kupferstich, in: Girolamo Mercuriale, De Arte Gymnastica, Venedig 1569, fol. 55r.

Aldrovandi, der im Auftrag Paleottis ebenfalls Forschungen zum Triklinium anstellte.101 1592 wurde Mercuriale Leibarzt Ferdinandos I. und erhielt einen Ruf an die Universität Pisa, wo er auch Galilei kennenlernte, mit dem er später einen Briefwechsel unterhielt.102 Der schon zu Lebzeiten des Autors fünfmal neu aufgelegte und seit der zweiten Ausgabe von 1573 mit Stichen von Ligorio aufwändig illustrierte Traktat Artis Gymnasticae verbindet antiquarisches mit medizinischem Wissen.103 In nicht allein deskriptiver, sondern auch präskriptiver Absicht werden antike Leibesübungen und Diätetik auf ihre prophylaktische und therapeutische Wirksamkeit untersucht. Einen begeisterten Leser 101 

Vgl. Siraisi 2003, S. 242 und Ulisse Aldrovandi: „De modo accubendi in mensa apud antiquos et de triclinis antiquorum dissertatio“, UB Bologna, Msc. di U. Aldrovandi III, fol. 257–304 (vgl. dazu Prodi 1984, S. 62). 102  Vgl. Galilei, Opere, Bd. X, S. 54–55, 74–75 und 83–84; Biagioli 1992, S. 21–23, 164 und 167 und Camerota 2004, S. 57. 103  Laut Untertitel ist das Werk nicht nur für Mediziner, sondern auch für Antikenliebhaber von Interesse: „Opus non modo medicis, verum etiam omnibus antiquarum rerum cognoscendarum, & valetudinis conservandae studiosis admodum utile.“ Die Folge-Ausgaben erscheinen 1573 in Venedig;

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

fand Mercuriale in Rubens, der die antiken Übungen in De Imitatione Statuarum als probates Mittel zur Wiedererlangung heroischer Schönheit empfiehlt.104 Ein Kapitel der Artis Gymnasticae ist den antiken Speisegewohnheiten gewidmet, die Mercuriale vor allem im Zusammenhang mit den römischen Badepraktiken interessierten. Die Sitte, das abendliche Mahl im Liegen einzunehmen, erklärt er aus der Einsicht der Römer in die Ruhebedürftigkeit des gebadeten Körpers. Seine Gewährsleute sind antike Autoren wie Horaz und Ovid, Martial, Plutarch und Varrus, Galen, Vitruv und Aristoteles. Etwaige Zweifler glaubt Mercuriale jedoch vor allem mit Zeichnungen überzeugen zu können. Die erste, von Ligorio, „der größten Autorität in antiquarischen Dingen“ (maximae auctoritatis antiquarius) „nach alten Monumenten“ (ex vetustis monumentis) gefertigte Darstellung zeigt das Lagern auf einem Sofa hinter einem dreifüßigen Tisch (Abb. 10).105 Fabrizio Federici und Ginette Vagenheim haben in der Tafel die ausgeschmückte Fassung einer Zeichnung der „tavola di marmo trovata nella via Appia“ aus Ligorios Antichità romane erkannt.106 Mercuriale privilegierte allerdings eine andere Abbildung, die er als „akkurate und getreue Kopie eines sehr alten und wertvollen Marmors“ beschreibt, „der in Padua im großartigen Palast von Paolo Ramnusio, einem exzellenten Kenner der Literatur und Antike zu sehen“ sei (Abb. 11).107 Mercuriale ist stolz, in diesem Relief einen materiellen Beleg für seine zunächst nur auf Schriftquellen beruhenden Vermutungen gefunden zu haben. Noch stolzer allerdings ist er, seine Thesen zur „wahren Form des Liegemahls“ schon vorgestellt zu haben, bevor er von dem Relief Kenntnis erhielt.108 Sachquellen sind ihm zufolge nicht nur schlagkräftige Beweise für Zweifler und Laien,

1577 in Paris; 1587, 1601 und 1644 wieder in Venedig und 1672 in Amsterdam – Letztere mit zusätzlichen Illustrationen von Christoph Coriolanus. Zu Mercuriales Beschäftigung mit dem Liegemahl vgl. Federici 2007. 104  Vgl. Rubens/de Piles 1708, S. 139. 105  Mercuriale 1577, fol. 34v–35r und 1601/2008, S. 122. 106  AST, MS J.a.II.2, fol. 44r; vgl. Federici 2007, S. 225 und Vagenheim 2010/2012, S. 185. Weitere Zeichnungen zum Triklinium hat Ginette Vagenheim im Codex Ursinianus (BAV) und in der Biblioteca Ariostea in Ferrara entdeckt (MS II.384). 107  Mercuriale 1577, fol. 34v–35r und 1601/2008, S. 122: „… ex antiquissimo et omnium rarissimo marmore, quod in Pauli Rhamnusii, viri optimi ac bonarum litterarum omniumque pulcherrimarum rerum studiosissimi, luculentis aedibus Patavii conspicitur, accurate et fideliter repraesentari fecimus.“ Heute befindet sich das Relief im Museo Nazionale Atestino in Este (vgl. Federici 2007, S. 224; Vagenheim 2010/2012, S. 186 und Agasse 1999). 108  Mercuriale 1577, fol. 35r und 1601/2008, S. 122: „Ex hac namque postrema non modo sententia nostra de vera accubitus forma, quam primi forsan omnium Romae Octavio Pantagatho, Onuphrio Panvino aliisque gravissimis viris et postremo Patavii Ligorio, absque marmoris ullius testimonio ac sola coniectura proposuimus, librorumque auctaritatibus tutati sumus, apertissime confirmatur, quaeque fuerint veterum triclinia perspicuo cognoscitur, immo vero Lambini ac aliorum qui ex ingeniis accubitum variis modis describere aggressi sunt, opiniones refelluntur, simul plura scriptorum obscura et praeclara loca illustrantur.“ (Meine Hervorheb.)

60 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

11.  Pirro Ligorio, Ram­ nusischer Marmor, Kupferstich, in: Mercuriale 1569, fol. 56r.

sondern vermögen Experten auch zusätzliche Informationen (in diesem Fall etwa über die Höhe des Trikliniums) zu liefern.109 Damit entspricht Mercuriale dem Trend zur Beschäftigung mit der materiellen Kultur der Antike, die die Antiquare des späten 16. Jahrhunderts vor allem als Zeugnis der „mores et instituta“ der Griechen und Römer schätzten.110 Dem Stellenwert des Reliefs für seine Argumentation und dem neuen Bewusstsein für Fälschungen entsprechend, bemüht sich Mercuriale um den Beweis seines Alters mittels eines aus der Philologie bekannten Verfahrens zur Ermittlung des Urtyps: der Feststellung zusätzlicher Details wie dem Baldachin zum Schutz vor Staub, den Ban-

109 

Mercuriale 1601/2008, S. 142: „Sed huiusmodi oscitantiam commisit ob veri triclinii ignorantiam, quod pedes altos habuisse non est dubitandum, ut facile ex ipsa pictura elucet …“ 110  Vgl. dazu Herklotz 1999, Kap. 10; Haskell 1995, Kap. 6–7; Cochrane 1981, Kap. 15.

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12.  Pedro Chacón, Rekonstruierte Version des Reliefs, in: ders., De Triclinio, Rom 1588, S. 51.

dagen zur Prophylaxe von Kopfweh und dem als Trinkgefäß verwendeten Horn.111 Nach dem Beweis der Echtheit des Artefakts gilt es, für die Richtigkeit der Zeichnung zu bürgen. Während Mercuriale Ligorio in der einfühlenden Rekonstruktion der Antiken ansonsten relativ freie Hand ließ, bestand er in diesem Fall auf unbedingter Originaltreue. Die Abbildung, so betont er, zeige den Marmor „so, wie er heute aussieht, vom Zahn der Zeit zernagt, fast zerstört, damit keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit entstehen“.112 Dass ein solches historisches Bewusstsein keineswegs selbstverständlich war,

111  Mercuriale hält diese Bandagen für medizinisch sinnvoll, da die Verengung der Blutgefäße vor den durch Speisen und Wein entstehenden Dämpfen zu schützen vermöge (vgl. 1577, fol. 36r und 1601/2008, S. 126). 112  Mercuriale 1577, fol. 61 und 1601/2008, S. 128: „Quos etiam monitos cupio, ne si quae discumbentium et mensarum figurae in hoc ipso triclinio minus integrae conspiciuntur, ulla admiratione capiantur, quoniam, ut est hodie marmor ipsum vetustate corrosum et pene deletum, repraesentare satius

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zeigt die Retusche der Zeichnung desselben Reliefs in Pedro Chacóns 1588 erschienener Abhandlung De Triclinio, in der das Streben nach antiquarischer Korrektheit hinter den Wunsch nach Überzeugungskraft und Erkennbarkeit zurücktritt: Trotz oder gerade wegen seines antiquarischen Interesses ergänzt Chacon die vom „Zahn der Zeit“ abgenagten Köpfe (Abb. 12).113 Öffentlichkeitswirksame Brisanz erhält das Relief jedoch nicht im Zusammenhang mit Mercuriales Erklärung des Liegemahls aus der hippokratischen Säftelehre, sondern durch das Zusammentreffen seiner antiquarisch informierten Sportmedizin mit der Theologie. Bereits in der zweiten Ausgabe von 1577 erwähnt Mercuriale die bibelwissenschaftlichen Konsequenzen seiner Funde: Erst das Wissen um das Triklinium könne erklären, wie Maria Magdalena beim Salben der Füße Christi hinter ihm stehen und Johannes beim Abendmahl seinen Kopf an die Brust Christi legen konnte (Joh 13,23).114 Fulvio Orsini nutzt diese Einsicht in seinem überlangen Kommentar zu Chacóns De Triclinio, um dessen letztlich weniger an den christlichen als an den antiken Bräuchen interessierte Studie zu legitimieren.115 Auch Mercuriale fügt dem Trikliniumskapitel in den folgenden Ausgaben einen Anhang über den Nutzen der Altertumskunde für das Verständnis der Heiligen Schrift bei. Die Anwendung der Antikenkenntnisse auf die Bibel setzte die Assimilation der Juden an römische Gebräuche voraus, die Mercuriale trotz der Zweifel des von ihm zu Rate gezogenen Judaisten Vitale Medici für „wahrscheinlich“ hielt.116 Die von Anthony Grafton untersuchten Schriften interessierten sich in diesem Zusammenhang besonders für die Frage, ob das letzte Abendmahl ein vollständiges Paschamahl mit jüdischen Bräuchen, Speisen und Gebeten gewesen war.117 Federico Borromeo verwehrt sich entschieden dagegen; bei Cigoli hingegen wird offenbar Lammbraten serviert.118 Nach Vollendung seines Textes stieß Mercuriale auf die Prolegomena des spanischen Jesuiten Alfonso Salmerón, der ebenfalls von einer Übernahme des Liegemahls durch die Juden ausging. Die unabhängige Formulierung derselben These durch einen zweiten

duximus quam, addentes aut dementes quicquam, fidem nostram suspectam reddere.“ Abgesehen von dem Relief präsentiert Mercuriale nur eine weitere nicht retouchierte Statue, einen Diskuswerfer mit abgebrochenem Arm (vgl. ebd., fol. 82r). 113  Vgl. Ciacconius 1590, zum Gastmahl: S. 46–47, zum Abendmahl: S. 50–51. Chacon wurde von Gregor XIII. nach Rom berufen, um eine Ausgabe der Kirchenväter zu besorgen und an der Kalenderreform mitzuwirken. 114  Diese Geste stellte stets eine künstlerische Herausforderung dar, die mittelalterliche Künstler jedoch gern annahmen und in Gestalt der Christus-Johannes-Gruppe gar aus der Abendmahlsszene isolierten. 115  Vgl. Herklotz 1999, S. 218 und Federici 2007, S. 231–232. 116  Vgl. Mercuriale 1601/2008, S. 146. 117  Vgl. Grafton 2010 (eine umfangreiche Studie ist in Vorbereitung). 118  Vgl. Borromeo 1624/2010, II.4, S. 86.

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

Gelehrten schien für deren Richtigkeit zu bürgen: „Angesichts der großen Macht der Wahrheit“, so bemüht Mercuriale den Topos der vis veritatis, „ist anzunehmen, dass beide [Forscher] vom selben Geist getrieben wurden; alles Gesagte muss folglich als wahr und unablehnbar angesehen werden“.119 Zusätzlich bestätigten weitere archäologische Funde die auf Textbasis aufgestellten Behauptungen: Darstellungen christlicher Gastmähler mit Speisesofas finden sich auf spätantiken Sarkophagen und in der Katakombenmalerei, die seit der Entdeckung der Priscilla-Katakomben im Jahr 1578 nicht nur als Argument gegen den Ikonoklasmus, sondern auch als Schatz wahrer Vorbilder für sakrale Kunst genutzt wurde.120 Im Vorwort seiner postum erschienenen Roma sotterranea bezeichnet Antonio Bosio die Katakomben selbst als Bilder, die die frühe Kirche al vivo porträtieren.121 Die durch Darstellungen antiker Symposien inspirierten frühchristlichen Wandgemälde, beispielsweise in den Katakomben von S. Callisto und SS. Pietro e Marcellino, zeigen meist mehrere Personen an einem sigmaförmigen Tisch mit Fisch, Brot und Trinkgefäßen (Abb. 13).122 Die prägende Komposition der Magdalenenepisode ist in einer um 880 entstandenen Miniatur überliefert, die Christus neben dem Gastgeber und zwei weiteren Gästen am linken Rand einer um einen halbrunden Tisch sitzenden Festgesellschaft zeigt.123 Die frühesten erhaltenen Darstellungen des Abendmahls mit Triklinium finden sich in Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna und im Codex Purpureus Rossanensis aus dem 6. Jahrhundert (Abb. 14).124 Abgesehen von Raffaels missglücktem Versuch der Darstellung eines antiken Gastmahls klafft zwischen der spätantiken bzw. mittelalterlichen Malerei und dem späten 16. Jahrhundert eine Lücke. Die erste mir bekannte Wiederaufnahme des Trikliniums in einem profanen Gemälde ist Alessandro Alloris Gastmahl im Hause des Königs Syphax in der Medicivilla in Poggio a Caiano von 1579, das der Vorliebe Francescos I. nach gelehrten Anspielungen genügen sollte.125 Während Anthony Blunt in seinem seminalen Auf119  Mercuriale 1601/2008, S. 156: „Unde quae solet esse veritas ingens vis, puto eodem spiritu ambos nos ad ea scribenda fuisse impulsos et propterea quicquid ea de re dictum fuit pro vero et irreffutabili habendum esse.“ 120  Vgl. Pfisterer 1924, Wischmeyer 1978, S. 126–149 und Merz 2003, S. 236. 121  Ebd., S. 229. Vgl. Bosio 1634, Proemio, o. S. und dazu Ditchfield 1997, S. 351. Pionier der Katakombenforschung war Panvinio, der in De ritu speliendi mortuos apud veteres (1568) 43 Katakomben aufführt, wobei er sich allerdings nur auf schriftliche Quellen stützt. Während es ihm primär um die Legitimation zeitgenössischer Frömmigkeitspraktiken durch deren Kontinuität mit den Bräuchen der Urkirche gelegen war, überwiegt bei Bosio das antiquarische Interesse (vgl. Merz 2003, S. 230). 122  Vgl. Elbern 1994, Sp. 128–133. 123  Vgl. ebd., Sp. 135: Paris, BNF, Cod.gr. 510, fol. 196v. 124  Vgl. Rudofsky 1980, S. 19 und 25, mit weiteren Beispielen. 125  Die Szene zeigt den Empfang Scipios d. Ä. durch den numidischen König, bei dem die Feinde laut Livius „auf dem gleichen Lager“ (eodem lecto) speisten, was Boccaccio noch als Teilen des Bettes missverstanden hatte (vgl. Kliemann 1976, S. 81–82). Simone Lecchini Giovannoni erwähnt das Triklinium nicht (1991, S. 249–250, Nr. 71).

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13.  Gastmahl, 3. Jahrhundert n. Chr., Wandmalerei, Rom, Calixtus-Katakombe.

satz über das Triklinium Cigolis Gemälde noch als erste datierbare Darstellung eines Liegesofas im sakralen Kontext präsentiert, datiert Julius Müller-Hofstede zwei Stiche Theodor Galles nach Entwürfen von Otto van Veen in die Zeit um 1590 und damit vor Mercuriales Auftrag.126 Sie bilden die Grundlage für zwei Abraham Bloemaert zugeschriebene Stiche in dem 1596 in Rom publizierten Ezechiel-Kommentar der spanischen Jesuiten Jerónimo Prado und Juan Bautista Villalpando, die mit Ez 23,41 (sedesi in lecto pulcherrimo) nun auch einen alttestamentarischen Beleg für das Triklinium präsentierten, den sie mit philologischer Akribie aus Vergleichen der hebräischen und griechischen Fassungen zu belegen suchten (Abb. 15).127 Unzählige Zitate von Varro, Philostrat, Sidonius, Martial, Servius, Plinius, Homer, Cicero, Lukrez, Vergil und anderen stützen ihre These. In akademischer Redlichkeit wird jedoch auch eine Reihe von Belegen dafür angeführt, dass die Juden nicht alle Mahlzeiten im Liegen einnahmen.128 Die Abbildung des Abendmahls zeigt die Jünger speichenförmig auf einem ringförmigen Sofa, dem sogenannten stibadium. Christus lagert in der Mitte und reicht einem Jünger die Hostie, während Johannes den Kopf an seine Brust legt. Offenbar um trotz der ungewöhnlichen Darstellung das Decorum nicht zusätzlich durch die Präsentation der Hinterteile der Apostel zu verletzen, sind diese in Decken gehüllt.129 Beim Gastmahl hingegen lagern die 126 

Blunt 1939, S. 273. Da er Cigolis Gemälde fälschlich auf das Jahr 1592 datiert, nimmt er einen umgekehrten Weg des Motivs von Italien nach Flandern an. Die Idee zu van Veens Zeichnungen vermutet Blunt bei dem antiquarisch interessierten Herzog Ernst von Bayern, an dessen Hof der Maler auf seinem Weg aus Italien gearbeitet hatte (vgl. Müller-Hofstede 1957 und Kultzen 1965, S. 184–188). 127  Prado/Villalpando 1596, S. 289, vgl. S. 290–297 und Blunt 1939, S. 273. 128  Vgl. Prado/Villalpando 1596, S. 289: „Respendeo accubuisse quidem olim ad mensam convivas, sed non omnes, neque semper, neque ubique gentium eam consuetudinem inductam fuisse …“ 129  Die Inschrift lautet: „Coenaculum ex antiquis monumentis et evangelica historia depromptum ubi Ioannes in sinu Iesu cum discipulis recumbentis accubuit.“

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

14.  Letztes Abendmahl, 1. Viertel des 6. Jahrhunderts, Mosaik, Ravenna, Sant’ Apollinare Nuovo.

15. Abraham Bloemaert(?), Gastmahl, in: Prado/ Villalpando 1596, S. 296/297.

Jünger an einem rechteckigen Tisch; die gegenläufige Haltung Christi entspricht der­ jenigen in Cigolis Gemälde.130 Die ähnliche Gestik lässt vermuten, dass Cigoli die Stiche zur Zeit des Entwurfs kannte. Allerdings führt er ihnen gegenüber eine entscheidende Veränderung ein. Obwohl Cigoli sich demonstrativ der historischen Wahrheit verschreibt und das Triklinium exakt nach Mercuriales Angaben gestaltet, verzichtet er auf eine allzu didaktische Darstellung. 130 

Die Bildunterschrift lautet: „Coenatio in qua pedes recumbentis Iesu peccatrix mulier stans retro lachrymis lavit capillis tersit et unxit ungento.“

66 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

Seine (möglicherweise von dem um 1594 fertiggestellten Letzten Abendmahl Tintorettos angeregte) invenzione besteht in der Schrägstellung des Trikliniums, die der Anordnung nicht nur Dynamik verleiht, sondern auch die Gestalt Christi als einzige unüberschnittene und unverkürzte Liegefigur hervorhebt. Die Lichtführung unterstreicht diese Bildordnung, indem sie Brust, Schulter und Hals Christi betont und ihn ohne Nimbus auskommen lässt. Schon Cardi betont die Neuartigkeit von Cigolis Darstellung „secondo il rito antico“, die, wie Baldinucci hinzufügt, „von sehr alten und wichtigen Autoren“ bezeugt werde (al modo che da antichissimi e gravissimi autori sappiamo).131 Durch den umgehend angefertigten Stich von Cornelius Galle fand das Gemälde weite Verbreitung; von den Künstlern wurde Cigolis Bildfindung zunächst begeistert aufgenommen.132 In der von Cigoli konzipierten Cappella del Sacramento in S. Marco beispielsweise findet sich ein von Santi di Titos Sohn Tiberio um 1603 vollendetes Altarbild des Letzten Abendmahls, bei dem die Apostel auf einem verunklärten Triklinium allerdings mehr knien als liegen (Abb. 16).133 Francesco Curradi adaptiert Cigolis invenzione für seinen Magdalenenzyklus im Palazzo Pitti; Domenico Pagani setzt sie in ein Hochrelief um, die Miniaturisten Valerio Mariani und Simonzio Lupida in eine kleinformatige Pietre-dure-Arbeit.134 1649 entwirft Carlo Dolci auf Grundlage des Stichs eine eigene Version, die Cigolis noch etwas manieristisch anmutende Figuren körperlicher, die Stoffe und Farben schlichter gestaltet (Abb. 17).135 Doch obwohl mehrere Autoren die Darstellung des Trikliniums

131  Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 104: „… nel Cenacolo fatto per il Mercuriale […] dove non a sedere, ma a diacere secondo il rito an/tico nello stare a tavola li distribuì con tal’ordine, che piaciuta l’invenzione fu subito fatta intagliare.“ Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 100: „Ebbe il Cigoli […] la bella avvertenza di figurare la persona del Signore a tavola, non a sedere, come quasi tutti i moderni il dipingono, ma giacente al modo, che da antichissimi e gravissimi autori sappiamo, che si praticava in quei tempi.“ 132  Cornelius Galle, GDSU 11190 und 21632 mit einer explizit auf Mercuriale verweisenden Inschrift. Der Stich Alessandro Scacciatis von 1766 (GDSU 298) zeugt von der anhaltenden Wertschätzung der Komposition. Zu den Stichen der 1601er-Ausgabe von Mercuriales Traktat vgl. Blunt 1937, S. 273. Blunt schreibt das Abendmahl Stradano zu. In einer Zeichnung in Windsor zeigt dieser ein Abendmahl, bei dem das Triklinium nach dem Modell des antiken Reliefs fast orthogonal zur Bildfläche aufgestellt ist (Windsor, Royal Library, Inv. 4821). Auch zwei Stiche von Cornelius Galle nach Vorlagen von Stradano zeigen das Gastmahl des Herodes mit einem Triklinium (Wolfenbüttel, HAB Graph Res. C: 177.1 und A1: 7811). 133  Vgl. Baldinucci 1811, Bd. VIII, S. 96–104 und Spalding 1982, S. 465–468, der das Triklinium jedoch nicht erwähnt (ebd., S. 465). Zur Kapelle vgl. Paatz 1952, Bd. III, S. 19 und 28. 134  Vgl. Chappell 1992, S. 62; Mostra 1959, Nr. 120; Berti 1979, Nr. 491 und McCorquondale 1979, Nr. 15. 135  Vgl. Baldinucci 1812, Bd. XIII, S. 383 und Bellesi 2015, Nr. 40, S. 250–251. Die von Dolci als „Studie“ bezeichnete kleinformatige Fassung befindet sich im Nationalmuseum Stockholm, zwei großformatige in englischen Privatsammlungen.

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

16. Santi und Tiberio di Tito, Letztes Abendmahl, um 1603, Florenz, S. Marco, Cappella del Sacramento.

17. Carlo Dolci, Gastmahl im Hause Simons, um 1645, London, Clergy House.

ausdrücklich empfehlen, vermochte sich das Motiv langfristig nicht durchzusetzen.136 Sogar Cigoli selbst präsentiert die Apostel 1603 in seinem Entwurf für ein Abendmahl in pietre dure für die Cappella de’ Principi wieder sitzend.137 Auch Jerónimo Nadal entschied sich für sein verbreitetes Werk gegen die Darstellung des Trikliniums – möglicherweise, wie Hecht vermutet, weil die ungewohnte Darstellung die Leser/innen von der 136  Molanus hält die Aktualisierung der Szene für unproblematisch: „Quod enim tu[n]c paulò aliter fiebat, hoc hîc more nunc vulgato exprimitur“ (Molanus 1570, Kap. 83, fol. 151v). 1570 verweist Molanus auf Philander, in den postumen Ausgaben ist ein Hinweis auf Chacón eingefügt (vgl. ders. 1594, IV.20, fol. 191r). Interiàn de Ayala rät dem pictor christianus eruditus explizit zur Darstellung des Trikliniums, hält andere Darstellungen aber ebenfalls für akzeptabel (vgl. I.9, S. 32 und III.13, S. 143). Borromeo bezeichnet Leonardos Abendmahl als „coenaculum sive triclinium“, obwohl die Apostel sitzend dargestellt sind. Wichtiger ist ihm, dass hier weder Lamm noch eine kreuzförmige Segnung dargestellt sind (Borromeo 1624/2010, II.4, S. 86; vgl. Jones 1993, S. 86). Zum Triklinium vgl. auch Hecht 2012, S. 392–396. 137  Vgl. Chappell 1971b, S. 581. Rubens orientiert sich für sein Abendmahl (Brera, 1631–1632) an Cigolis (verlorenem) Gemälde von 1591, das die Apostel an einem runden Tisch sitzend zeigte (vgl. Jaffé 1977, S. 51).

68 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

Meditation abgelenkt hätte.138 Die historische Wahrheit steht in einem ähnlich spannungsreichen Verhältnis zur frommen Versenkung wie die künstlerische Verfeinerung. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts hingegen findet das Motiv weitere Verbreitung. Die wohl berühmtesten Beispiele sind die jeweils zwei Versionen von ‚Eucharistie‘ und ‚Buße‘ in Poussins Sakramentenzyklen, deren akkurate Darstellung er 1644 in einem Brief an Paul Fréart de Chantelou als Innovation ankündigt.139 Im Appendix der Ausgabe von 1601 berichtet Mercuriale stolz von dem Einfluss seiner Thesen auf die künstlerische Darstellung der Buße Maria Magdalenas und weist Vorwürfe zurück, wonach diese „äußerst wahre Darstellung“ (repraesentatio maxime vero) gegen das Decorum verstoße.140 Trotzdem beauftragte er Cigoli nicht mit einem Bild des neben Christus liegenden Johannes beim Abendmahl, sondern mit dem weniger verfänglichen Gastmahl. Abgesehen davon, dass die Textbasis im Falle der Magdalenenepisode eindeutiger war, war diese auch weniger dazu angetan, Anstoß zu erregen.141 Immerhin konnte Veronese in dem berühmten Inquisitionsprozess die Vorwürfe wegen Verstößen gegen das Decorum in seinem Abendmahlsgemälde für das Refektorium von S. Giorgio Maggiore dadurch entschärfen, dass er das Bild fortan als Gastmahl im Hause Levis deklarierte.142 Dennoch: Mercuriale kann kaum glauben, dass „eine Sache, die so wesentlich für das Verständnis der Wahrheit des Evangeliums“ (ita exigui ad percipiendam Evangelii veritatem) sei wie das Dispositv des Abendmahls, so lange der Aufmerk-

138 

Vgl. Hecht 2012, S. 386. Vgl. Poussin an Chantelou am 30.5.1644, in: Jouanny 1911, S. 272: „Je suis sur le point de vous commencer un second tableau de la pénitense où il y aura quelque chose de nouveau, particulièrem[en]t le tricline lunaire qu’ils appelloient Sigma y sera observé pontuellement.“ Als Poussins Vorbilder hat Jacques Vanuxem die Trikliniumsdarstellungen von Charles de Mallery in Louis Richeomes Tableaux sacrés von 1601 identifiziert (vgl. Vanuxem 1959, S. 155–157). Weitere Beispiele finden sich u.  a. bei Philippe de Champaigne (1656, Nantes, Musée des Beaux-Arts), seinem Neffen Jean-Baptiste (1678, Detroit, Institute of Arts), der sich bezüglich des Trikliniums ausführlichen Rat bei dem Abt von SaintCyran einholte, bei Charles le Brun, Jean Jouvenet, Pierre Subleyras und Antoine Bouzonnet-Stella (zwei Zeichnungen im Hessischen Landesmuseum Darmstadt und im Nationalmuseum Stockholm); vgl. Blunt 1939, S. 273 und Paunet 2015. 140  Mercuriale 1601/2008, S. 66: „… in varios orbis locos sit divulgata. Et, quamvis plerisque eiusmodi repraesentatio tamquam verbis Evangelij mirum in modum consona, maxime vero pictoribus, qui hactenus sese fefellisse agnoverint apprime arriserit, attamen non defuerunt, quibus illud numquam probari potuerit, tum quia eiusmodi accubitus sibi valde indecorus, atque a Christi vita, et moribus alienus …“ (Meine Hervorheb.) 141  Dabei beschäftigte das Triklinium die Autoren über die Konfessionsgrenzen hinweg. Auch protestantische Gelehrte wie Christian Steche, Johann Gottlob Horn und Georg Belitz setzten sich – wenn auch mit geringem Erfolg – für seine Darstellung ein (vgl. Hecht 1997, S. 377). 142  Veronese war am 18.7.1573 vor das venezianische Inquisitionsgericht geladen worden, das sich unter anderem über die Darstellung deutscher Landsknechte und über Diener mit Nasenbluten mokierte. Zu dem Prozess vgl. Schaffran 1960, S. 178–193 und Fehl 1961, S. 325–354. 139 

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2. Bibel: Christliche Archäologie und Konjektur

samkeit der Künstler und Gelehrten entgangen sei.143 Gerne sei er deshalb der Aufforderung zu einer ausführlicheren Beschreibung des Liegemahls nachgekommen „um den Gläubigen und Wahrheitsliebhabern (veritatis amantibus) eine wahre Darstellung der Geschichte zu geben“.144 Damit tritt, wie Ingo Herklotz bezüglich des Kommentars Fulvio Orsinis zu Chacóns De Triclinio schreibt, „die antiquarische Forschung in den Dienst der Gegenreformation“.145 Dass Mercuriale die Bedeutung der veritas historica für sakrale Sujets tatsächlich hoch einschätzte, mögen seine intensiven Quellen-Recherchen im Zuge der Ausstattung seiner eigenen Grabkapelle in S. Mercuriale in Forlì belegen.146 Die Dekoration mit Szenen aus der Vita seines Namenspatrons, mit der Mercuriale das eingespielte Trio von Passignano, Santi di Tito und Cigoli beauftragte, kann als persönliche Bußübung verstanden werden: 1597 verstarb sein erstgeborener Sohn an der Pest – für einen Arzt, der bereits 1576 wegen seiner Fehldiagnose der ersten Pestsymptome in Venedig in Verruf geraten war, sicher ein herber Schlag.147 Die Tatsache, dass Cigolis Darstellung des Siegs des Hl. Mercuriale über einen Drachen letztlich trotzdem nicht den von Mercuriale eingeholten Expertisen entspricht, sondern die Rolle seines Namenspatrons betont, ließe sich mit Anna Matteoli durch das Zurateziehen zusätzlicher Quellen erklären.148 Ebenso denkbar ist jedoch, dass in diesem Fall weniger die Suche nach der wahren Quelle als das partikulare Interesse Mercuriales den Ausschlag gab. Jedes Bild ist das Ergebnis eines Abwägens zwischen Auftraggeberinteressen, Tradition und Korrektheit. Wenn schon Details wie das zur Zeit Christi gebräuchliche Mobiliar „wesentlich für das Verständnis der Wahrheit des Evangeliums“ waren, welche Bedeutung musste dann erst bildlichen Festlegungen zukommen, die unmittelbare theologische Implikationen besaßen wie die Darstellung der Resurrectio Christi und der Assumptio Mariae? Beide Bildaufgaben berühren die zentrale Frage nach der Leiblichkeit der Auferstehung. Molanus beispielsweise hält es für „wahrer“, Christus aus dem geschlossenen Grab steigen zu lassen, da sein mystischer Leib keinen irdischen Beschränkungen 143 

Mercuriale 1601/2008, S. 136: „… quasi vero haud sit verisimile potuisse tanto tempore peritos artifices atque doctissimos interpretes latere rem non ita exigui ad percipiendam Evangelii veritatem momenti.“ 144  Ebd., S. 138: „… ut gentes tandem re ipsa melius considerata paulatim incipiant vetustum errorem exsuere atque simplicibus animis pictura veram eius facti historiam piis et veritatis amantibus repraesentare.“ 145  Herklotz 1999, S. 218. 146  Vgl. Mercuriales Briefwechsel mit dem Humanisten Marcello di Giovanni Battista Adriani im Jahr 1603 (ASF Carteggio di Artisti, Filza 3, fol. 22v–25r, ausgewertet von Matteoli 1984, S. 9–42). Zur Kapelle vgl. Colombi Ferretti 2000. Für die freundliche Bereitstellung von Fotografien danke ich Luca Borghi. 147  Vgl. dazu Palmer 2008. 148  Etwa die Annales Forolivienses von Jacopo Moratini, die Cronache Forlivesi von Leone Cobelli aus dem 15. Jahrhundert oder eine Predigt von 1572 (eine Kopie findet sich in der Biblioteca Vallicelliana, Cod. H 8, I, fol. 475r–483v).

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18. Albrecht Dürer, Auferstehung Christi, 1510, Holzschnitt, 39,1 × 27,8 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. 4600-1877.

19. Cigoli, Auferstehung Christi, 1590, Öl auf Leinwand, 148 × 118 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. 1890/ 5704.

unterworfen und Christus schließlich auch im geschlossenen Uterus empfangen worden sei.149 Zur didaktischen Betonung dieses Mysteriums waren nordische Künstler – allen voran Dürer – schon früh dazu übergegangen, das Grab zusätzlich mit dem in Mt 27,66 erwähnten und angeblich bei der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204 wieder aufgefundenen Siegel zu verschließen (Abb. 18).150 Diesem Modell folgte auch Cigoli in seiner Auferstehung für die Privatkapelle im Palazzo Pitti (Abb. 19).151 Obwohl er sich für die Gestalt Christi an Santi di Titos Altartafel in S. Croce aus dem Jahr 1572/73 orientiert (Abb. 20), ersetzt er dessen offenes Felsengrab durch einen versiegelten Sarkophag.152 149  Vgl. Molanus 1570, Kap. 28, fol. 48r und dazu Mâle S. 61. Paleotti plante in Buch 4 ein eigenes Kapitel „Del sepolcro e custodia“. 150  Zu Dürers Auferstehungsbildnis in der Großen Passion vgl. Berliner 1955, S. 38. Paleotti zählt Dürer unter die in Kunst und Lebensführung vorbildlichen Maler (vgl. Paleotti 1582/1961, Kap. VIII). Zum versiegelten Grab vgl. Hecht 2012, S. 489. 151  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 103 und Faranda 1986, Kat. S. 116, Nr.  6. Identifiziert wurde das Bild von Chappell 1974; vgl. auch ders. 2004, S. 35–41 und 2008, S. 136; Matteoli 1980, S. 168–169; Carman 1972, S. 56 und Vertova 1968, S. 72–73. 152  Von der Auseinandersetzung mit Santi di Titos Altarbild zeugt die Zeichnung GDSU 764 F (vgl. dazu Spalding 1972, S. 128; Chappell 1974, S. 470 und ders. 1982, S. 333–334 sowie 2008, S. 140).

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20. Santi di Tito, Auferstehung Christi, 1574, Öl auf Holz, 430 × 290 cm, Florenz, Santa Croce.

21. Cigoli, Auferstehung Christi, sig.dat. ‚Lodovicus Cardus. F. 1591‘, Öl auf Holz, 270 × 170 cm, Arezzo, Museo Statale d’Arte Medievale e Moderna.

Doch nicht nur das: Die mystische Emergenz des Körpers aus dem geschlossenen Grab wird auch durch die Geste eines Engels betont, der den Deckel leicht anhebt und damit nachträglich das Siegel brechen lässt. Zusätzliche Aufmerksamkeit erhält das fast in der Mittelachse angebrachte Siegel durch die ins Leere greifende Hand eines zu Boden gestürzten Wächters. Als emblematisches Detail fasst das Siegel zusammen, was auf bildlicher Ebene durch die Gegensätze zwischen dem schwebenden Leib und den gestürzten Körpern, dem Gewühl am Boden und dem lichten Luftraum, den scharfen Konturen unten und dem sfumato der Lichtwolken sichtbar wird, an die sich Christus mit seiner irisierend weißen Fahne und dem hellblauen Tuch assimiliert. In der ein Jahr später entstandenen Auferstehung für den Convento della Ginestra in Montevarchi, die sich heute Zu Santis Gemälde vgl. Damm 2009, S. 190–198 und Spalding 1982, S. 32–36. Der Sarkophag widerspricht dem Wortlaut dreier Evangelien, in denen von einem Felsengrab die Rede ist (Mt 27,60; Mk 15,46; Lk 23,53).

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in Arezzo befindet, ist das Siegel beibehalten, der ostentativ gestikulierende Engel jedoch durch einen auf dem Sargdeckel sitzenden ersetzt worden (Abb. 21).153 Mehr noch als in der frühen Fassung gleicht das Szenario einem Schlachtfeld. Die schlafenden Soldaten liegen wie erschlagen im Vordergrund; die weiße spqr-Fahne ist zerknittert zu Boden gefallen; das labarum hingegen flattert in der Hand des Siegers über den Tod. Die Worte des Auferstandenen hatten – so erklärt es der Prediger Cornelio Musso mit Blick auf eine ähnliche Darstellung – „so große Kraft“ (tanta virtù), dass die Soldaten ihre Waffen fallen ließen und zu Boden stürzten: „Es ist, als hätte es einen Donnerschlag gegeben, eine große Explosion, einen Blitz oder ein Erdbeben.“154 Die mystische Qualität des Auferstehungsleibes kommt in der zweiten Fassung vor allem durch den an Dürers Holzschnitt erinnernden goldenen Wolkentrichter zum Ausdruck, in dem Christus mit wehendem Umhang dem Grab entschwebt, während der irdische Himmel sich atmosphärisch verfärbt.155 Der mit ausgestrecktem Arm zum Siegel weisende Wächter ist in diesem Bild durch einen Soldaten in hautengem Brustpanzer ersetzt, dessen Schildgurt die Signatur trägt (Lodovicvs Cardvs F). Cigolis Siegelgräber gehören zu den frühesten in der italienischen Malerei. Tintoretto und Carlo Maratta, aber auch Rubens behalten die mittelalterliche Tradition des offenen Grabes zunächst bei, Annibale Carracci hingegen geht 1593 sogar so weit, die Verschlossenheit des Grabes wie Dürer nicht nur durch ein Siegel, sondern zusätzlich auch durch einen auf dem Deckel schlafenden Wächter zu betonen; Domenichino und Passignano tun es ihm in Rom nach. Im Falle der Assumptio Mariae war die theologische Lage problematischer, denn die Bibel berichtet weder von ihrem Tod noch von ihrer Himmelfahrt. Trotzdem wurde die auf der Legenda Aurea beruhende Darstellung beider Szenen auch von strengen katholischen Theologen geduldet.156 Uneinigkeit bestand jedoch in den Details, die allerdings nicht auf Nebensächlichkeiten, sondern auf die Frage zielten, ob Maria leiblich auferstanden war oder nicht. Paradigmatisch für die Bemühung gegenreformatorischer Auftraggeber um historische Wahrheit sind die gut dokumentierten Erkundigungen, die der Sekretär des Kardinalkollegs, Silvio Antoniano, 1583 anlässlich eines Auftrags für Sci-

153  Vgl. Faranda 1986, S. 53–55 und 118–119, Nr. 9. Carman erkennt in Maso da San Frianos Auferstehung in Settignano das Vorbild für die Haltung Christi und die Soldaten (vgl. Carman 1972, S. 56). Das Bild befand sich in der fünften Kapelle rechts in der Kirche S. Stefano Protomartire in Empoli, die damals Teil eines Augustinerkonvents war. 1690 wurde das Bild im Auftrag Ferdinandos in die Galleria Palatina transferiert. Die Bruderschaft wurde mit 600 Scudi und einer Kopie von Antonio Domencio Gabbiani entschädigt. 154  Musso 1601, S. 616–617. 155  Auf der Zeichnung DAGL 928 notiert Cigoli: „La sera quando risucita Il lume a essere mancino“ (vgl. Matteoli 1978, S. 146–149). 156  Vgl. Molanus 1594, III.32, fol. 143v–144r.

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22. Scipione Pulzone, Himmelfahrt Mariens, 1583, Öl auf Leinwand, 320 × 170 cm, Rom, S. Silvestro al Quirinale/S. Caterina dei Funari.

pione Pulzone einholte (Abb. 22).157 Pierantonio Bandini wünschte für seine Kapelle in der Theatinerkirche S. Silvestro al Quirinale eine Himmelfahrt Mariae, die „mit größtmöglicher Umsicht und Genauigkeit bezüglich der Wahrheit der Geschichte und exakter Darstellung des so großen Mysteriums“ angefertigt werden sollte (fatto con tutta quella circonspettione, et accuratezza che si può maggiore, circa la verità dell’ historia, et esatta ripresentazione di tanto misterio).158 Paleotti ist überfragt und wendet sich an den Historiker Carlo Sigonio, der schon in seiner Devise „Non stimo cosa più che la verità“ seinem Wahrheitsanspruch Ausdruck gab. Mangels Quellen kann jedoch auch Sigonio nur auf

157 

Zu dem großformatigen, auf Schiefer gemalten Altarbild vgl. Dern 2003, S. 135–137. Die Briefe finden sich vollständig ediert bei Prodi 1984, S. 91–93, vgl. dazu ebd., S. 65 und Dern 2003, S. 53–55. 158  Prodi 1984, S. 91.

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23. Cigoli, Himmelfahrt Mariens mit Heiligen, Tusche auf Papier, 33 × 22 cm, Florenz, GDSU 9006 F.

das Gesetz der Wahrscheinlichkeit verweisen.159 Maria sei bei ihrem Tod etwa siebzig Jahre alt gewesen, sollte also das Gesicht einer Greisin tragen; die Anwesenheit der Apostel sei unsicher, wenn überhaupt könnten es nach Judas’ Ausscheiden jedoch maximal elf gewesen sein. Einen solchen Bruch mit der Tradition, die Maria in Analogie zum Auferstehungsalter Christi meist als 33-Jährige darstellte, konnte Paleotti jedoch nicht dulden, da jeder Bruch mit der „consuetudine antica della S.ta Chiesa“ den Häretikern Argumente in die Hände gespielt hätte.160 In seinem Empfehlungsschreiben vom 27.4.1583 verschweigt er deshalb Sigonios Kommentar zum Alter Marias und rät nur, sie in weißem Kleid, mit offenem Haar und Krone darzustellen.161 159 

Sein Motto nennt Sigonio in einem Brief an Fulvio Orsini vom 24.1.1563, zit. nach Boschloo 1974, S. 113. 160  Prodi 1984, S. 93. Das Argument kehrt in Antonianos Stellungnahme zu Paleottis IndexPlänen wieder: „Wenn einmal [die Auffassung] irgendwo eingerissen ist, dass es bei den Bildern zu viele Mißbräuche gäbe, ist der Schritt leicht zur häretischen Auffassung – folglich wären die Bilder zu beseitigen.“ Zit. nach Hecht 2012, S. 506; vgl. auch S. 322. 161  Vgl. Boschloo 1974, S. 151, Anm. 22. Anders als Paleotti nimmt Borghini das Problem von Marias Alter ernst und kritisiert ihr jugendliches Aussehen in Vasaris Pfingstbild in S. Maria Novella

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Heikel aber war vor allem die Frage nach der Sichtbarkeit der Himmelfahrt für die Apostel, deren Anwesenheit bei dem Ereignis meist vorausgesetzt wurde. Paleottis Lösung ist ein Kompromiss und enthält einen argumentativen Trick: Einige sollten nach oben, einige ins Grab schauen „zum einen, weil diese Haltung wahrscheinlich ist und zum anderen, weil die Apostel, ob die Himmelfahrt nun sichtbar oder unsichtbar war, durch Eingebung des Heiligen Geistes sehen konnten, was andere nicht sahen, weshalb sie voller Ehrfurcht das wunderbare Geschehen betrachten“.162 Wie die mit eigentümlicher Sehkraft gesegneten Apostel dürfen nun auch die Betrachter sehen, was möglicherweise nicht sichtbar war. Wieder zeigt sich die eingangs erläuterte modale Unschärfe von Bildern: Einerseits macht das Gemälde keine Aussage über den Realitätsgrad des Dargestellten, andererseits legt die Versammlung zum Himmel blickender Apostel eine Interpretation der Szene als Darstellung eines historischen Moments nahe. Die Tatsache, dass Baglione an Pulzones Himmelfahrt 1642 vor allem die kostbaren Farben lobt, zeigt, dass sich die Bewertungskritierien zunehmend verschoben.163 In seiner im Zweiten Weltkrieg verbrannten Assumptio für S. Maria dell’Impruneta in Florenz zeigte Cigoli die Apostel in Aufregung, während Maria von Engeln in den Himmel emporgetragen wird.164 In einer möglicherweise nach dem Altarbild entstandenen Zeichnung ist das Problem der zeitlichen Differenz zwischen der Versammlung der Apostel und der Himmelfahrt dadurch gelöst, dass diese durch die Heiligen Laurentius, Franziskus und Jakobus ersetzt wurden (Abb. 23).165 Die anachronistische Darstellung entspricht nicht der historischen Wahrheit, gibt sich aber auch nicht als Schilderung einer realen Szene aus, sondern präsentiert die Heiligen wie in einer Sacra Conversazione zu beiden Seiten des Sarkophags. Alle drei schauen zum Himmel, möglicherweise können auch sie wie Paleottis Ausnahmeindividuen mehr sehen als andere.166 (vgl. Borghini 1584, S. 111). Federico Borromeo toleriert das unangemessen jugendliche Alter Maria Magdalenas in Tizians Grablegung (heute: Werkstatt) zugunsten der Steigerung der Affekte (Borromeo 1625/2010, S. 154), vgl. dazu Jones 1993, S. 110. 162  Prodi 1984, S. 193. 163  Baglione 1642/1995, S. 53–54. 164  Öl auf Leinwand, 290 × 200 cm. Das Aussehen des Bildes lässt sich heute nur noch durch eine schlechte Schwarzweißfotografie und einen Stich in Cosotti 1714, S. 24–25 erahnen. Faranda datiert das Gemälde auf die Zeit vor der Immacolata von 1590 (1986 S. 115, Nr. 5), Matteoli auf das Jahr 1593 (1980, S. 135). Cardi erwähnt eine Himmelfahrt Mariens für die Bibliothek von S. Domenico in Fiesole. 165  GDSU 9006 F; Faranda 1986, S. 115–116, Nr. 5a. In seiner Pietà für Sant’ Agostino in Colle Val d’Elsa aus dem Jahr 1599 trennt Cigoli die ohnehin schon zum Vesperbild enthistorisierte Beweinung Christi durch eine bildinterne Stufe zusätzlich von den anachronistischen Heiligen (vgl. Abb. 206). Passignano vermied 1592 in seinem Altarbild für S. Bartolomeo a Monte Oliveto in Florenz das Problem, indem er statt der Himmelfahrt nur die Aufnahme Marias in den Himmel zeigte, in dem die Dreifaltigkeit sie mit der Krone erwartet. Beobachtet wird das Geschehen allein von musizierenden Engeln. 166  Ein skeptischer Kommentar zu der von der persönlichen Vollkommenheit abhängigen Sehkraft findet sich in einem Brief von Bernadetto Minerbetti, Bischof von Arezzo, der den Zeugen, die

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Dass das Problem weiterhin virulent blieb, zeigt der von Elisabeth Oy-Marra untersuchte Streit um Lanfrancos Kuppelfresko in S. Andrea delle Valle. Carlo Ferrante verteidigte die Darstellung von Heiligen bei der Assumptio mit Verweis auf die der Malerei eigene „virtù fantastica“. Ihr sei es erlaubt, Vergangenheit und Gegenwart zu kombinieren und Zeitabstände zu komprimieren. Explizit wird folglich ein „anacronismo“ gebilligt, mit dem verschiedene Zeiten in einem Moment zusammengeführt werden.167

3. Histor ie : W ie es eigentlich gew esen ist, oder: R ehe im Wa ld Das Frontispiz des ersten, 1643 in Antwerpen publizierten Bandes der Acta Sanctorum zeigt die Allegorie der Historia mit aufgeschlagenem Buch und Federkiel über einer mit dem Titelpergament verhängten Höhle, in der mehrere Heilige im Dunkel der Vergangenheit ihrer Rettung vor dem Vergessen oder falscher Berichterstattung harren (Abb. 24).168 Zu beiden Seiten der Höhle sind die Grundsätze der Geschichtsschreibung – Eruditio und Veritas – verkörpert, nach deren Maßgabe Historia die Informationen der von geschäftigen Putti herbeigetragenen Quellen prüft und redigiert. Die Allegorie der Wahrheit wirft mittels eines Konvexspiegels Licht in die Höhle, wobei sie von einem fackeltragenden Putto assistiert wird: „obscura revelo“. Die Geschichtsschreibung arbeitet gegen die Zeit, die in Gestalt des vor dem Postament lagernden Chronos alles zu verschlingen droht. Ein Putto versucht verzweifelt, die Erinnerung dem Zahn der Zeit zu entreißen; von seinem Erfolg zeugen die Akten, die der flämische Jesuit Johannes Bollandus mit Godefridus Henschenius aufgearbeitet hat. Sollte die durch das Konzil von Trient noch vor der Rechtmäßigkeit der Bilder affirmierte Verehrung der Heiligen gegen Vorwürfe gesichert werden, waren deren Viten auf ihre historische Wahrheit zu prüfen, ohne allzu offensichtlich mit der Tradition zu brechen. Zu den Quellen der Acta Sanctorum gehören unter anderem Luigi Lipponis Historiae de vitis sanctorum von 1551–1560, Laurentius Surius’ De probatis Sanctorum historiis von 1570–1577 und Cesare Baronios Martyrologium Romanum. Baronio, ein Paleotti verbundener Oratorianer, den Campanella neben Bellarmin als die wichtigste „Säule“ der katholischen Kirche bezeichnet, arbeitete seit 1584 als Bibliothekar in der Vallicelliana

mirakulöse Bewegungen an einem Madonnenbild beobachtet haben wollten, misstraut (vgl. Bernadetto Minerbetti an Francesco de’ Medici am 4.6.1565: „Hor perchè io non viddi nulla, non le scrissi altro, giudicando di non esser’ stato degno di veder’ quello che altri di più perfettione forse havevano veduto“ (ASF, Archivio Medicio del Principato, vol. 516, fol. 70; Medici Archive Project Online #20523), vgl. Holmes 2013, S. 57). 167  Vgl. Turner 1971, S. 323 und Oy-Marra 1997, S. 205. 168  Bollandus/Henschenius 1643; vgl. dazu Sawilla 2009.

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24. Richard Collin (nach Abraham van Diepenbeeck), Historia mit Eruditio und Veritas, Kupferstich, in: Johannes Bollandus/Godefridus Henschenius, Acta Sanctorum, Antwerpen 1643, Frontispiz.

und trat 1593 die Nachfolge Filippo Neris an, bevor er 1596 von Clemens VIII. zum Kardinal ernannt und 1597 an die Vatikanische Bibliothek berufen wurde.169 1588 erschien der erste Band seiner Annales Ecclesiasticae, der ersten Geschichte der katholischen Kirche. Sie beruht auf Vorträgen, die Baronio auf Anregung Neris im Oratorio Romano gehalten und ab 1570 auf Geheiß einer Kardinalskommission zu verschriftlichen begonnen

169 

Campanella an Paul V. im März 1607, zit. nach Zen 1994, S. 323–324: „Bellarmino e Baronio, colonne e luminari di santa chiesa, chi per tutto il mondo mandano lo splendor loro; lascimi Vostra Beatitudine appoggiare a queste colonne e nel lume loro scoprirsi la verità o bugia mia.“ Zu Baronio vgl. v. a. Jedin 1978 und Zen 1994.

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hatte.170 Das 1588–1607 in 12 Bänden erschienene Monumentalwerk war die Antwort auf das größte historiographische Unternehmen der Epoche, die Magdeburger Centurien, deren Ziel es war, auf der Grundlage einer umfassenden Quellenkritik die lutherische „Sola-scriptura“-Doktrin als Wiederherstellung des wahren Glaubens der durch das Papsttum korrumpierten Urkirche darzustellen.171 Baronio musste es deshalb darum gehen, die rechtgläubige Tradition der im Wesentlichen unwandelbaren Kirche zu beschreiben. Sein Ton ist selten offen polemisch; die Strategie besteht vielmehr in der Präsentation der wahren Gegengeschichte. Dabei überlässt er es ausdrücklich dem Leser, „von den gesagten und gut begründeten Dingen die Sicherheit der Wahrheit zu schälen und von dieser Argumente zur Beseitigung der Häresien abzuleiten“.172 Die „gute Begründung“ beruhte außer auf der Tradition wesentlich auf dem Korpus akzeptierter Schriften.173 Wohl nach 1586 verfasste Baronio deshalb einen Ordo, qui servandus proponitur in historia Ecclesiastica pervestiganda, in dem er nicht nur seine Quellen, sondern auch die Kriterien für ihre Auswahl und Zusammenstellung offenlegte.174 Den ersten Grundsatz bildet die strikte Orientierung an der Chronologie, die ihn zur (zu diesem Zeitpunkt bereits antiquierten) Form der Annalen greifen ließ, statt die von den Centurien eingeführte Periodisierung nach Jahrhunderten zu übernehmen.175 Bei der Auswahl der Quellen gilt das Prinzip größtmöglicher Nähe zum Ereignis: Vorrang genießen zeitgenössische Quellen, vor allem die Briefe der Kirchenväter und Päpste. Spätere Autoren seien nur heranzuziehen, wenn sie sich auf sichere Quellen stützen.176 Im Vorwort zu seiner Ambrosiusvita beruft sich Baronio auf die drei Gebote seines Vorgängers in der Funktion als Bibliothekar der Vaticana, Guglielmo Sirleto: „Behaupte nichts, was nicht eingehend untersucht wurde, füge der Wahrheit als dem ersten Gesetz der Geschichte

170 

Jedin bezeichnet das Werk als den „Anfang der katholischen Kirchengeschichtsschreibung“, weil es erstmals die Institution Kirche zum Gegenstand der Untersuchung macht (vgl. Jedin 1978, S. 54). 171  Die Centurien (angeregt von Matthias Illyricus Flacius, verfasst von Johannes Wigand u. a.) entlarvten z. B. die sog. Canones, die Grundlage des katholischen Kirchenrechts, als Fälschung (vgl. ebd., S. 33–34). 172  Baronio an Antonio Talpa am 9.12.1589, zit. nach Zen 1994, S. 81: „Et perché altra è la professione del historico da quella del defensore de’ dogmi, in tal maniera bisogna nel’historia mostrare per le traditioni et verità li dogmi, che non para haver voluto far quello istesso, ma lassar al lettore, o catholico o heretico che sia, dalle cose dette et ben fondate cavarne la certezza della verità et da quella formarne argumenti in destruttione delle heresie.“ 173  Cochrane 1981, S. 458. 174  Baronios Ordo ist publiziert in: Zen 1994, S. 347–354; vgl. dazu ebd., S. 72–80. 175  Vgl. ebd., S. 353. Trotzdem ist der Ordo in fünf Epochen eingeteilt, die sich allerdings an der profanen Geschichte orientieren. Die Chronologie war zu diesem Zeitpunkt eine junge Methode, die erst durch Scaligers De emendatione temporum 1583 und Denys Pétaus De doctrina temporum von 1607 eingeführt worden war. 176  Vgl. ebd., S. 354.

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25. Cesare Baronio, Annales Ecclesiastici, Rom 1588, Frontispiz.

nichts hinzu und schreibe alles chronologisch auf.“177 Den Historiker nennt Baronio nicht nur einen „Wahrheitsforscher“ (investigator veritatis), sondern eine Verkörperung der Wahrheit (l’ istessa verità): „Wer Geschichte schreibt, muss selbst die Wahrheit sein und sie ohne jede Leidenschaft aufzeichnen; dazu muss er ohne jeden Schatten von Ehrgeiz sein und Geschenke der Großen zurückweisen“.178 Solche Charakterstärke bewies Baronio 177 

Vorwort zu seinem Leben des Ambrosius, Acta Sanctorum, o. S. Baronio 1588, Bd. I, ad an. 34, n. 176 und 1594, Bd. II, Vorwort; sowie eine Notiz, zit. nach Zen 1994, S. 126: „Chi scrive historie deve essere l’istessa verità, acciò che le registri senza una minima macchia di passioni; e per far ciò è necessario che sia distaccato da ogni ombra d’ambitione; e rigettar più che si può doni e regali, massime de’ grandi. Bisogna anco che sia intrepido e costante in scrivere con 178 

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unter anderem bezüglich des notorischen Streits um die Konstantinische Schenkung, deren zentrales ‚Beweisstück‘ schon Lorenzo Valla als Fälschung entlarvt hatte.179 Trotzdem zog Baronio die weltliche Macht des Papsttums nicht in Zweifel und gründete sie stattdessen auf das Erbe Petri, dessen Bronzestatue im Petersdom er täglich die Füße geküsst haben soll.180 Wohl nicht zu Unrecht nennt ihn der scharfzüngige Paolo Sarpi deshalb den „fünften Evangelisten des Papsttums“, für den es keinen Gott neben dem Pontifex gebe.181 Das Frontispiz der Annales zeigt die ecclesia triumphans folglich als rechtmäßige Nachfolgerin der Apostel Petrus und Paulus (Abb. 25). In der Hand hält sie die von einer Geisttaube legitimierte Tiara, darunter eine Bibel mit den claves Petri: Die Kirche eröffnet den Zugang zur Heiligen Schrift und besitzt die Autorität des Bindens und Lösens. Diese Macht suchte Baronio gegen den Widerstand Sarpis auch auf den weltlichen Bereich auszudehnen, was im Frontispiz durch die Ketten der alten und neuen Feinde der Kirche demonstriert wird.182 Der doppelte Anspruch, Quellenkritik zu betreiben, dabei aber die Tradition zu wahren und die Stellung der Kirche zu stärken, zerrt notwendigerweise am Wahrheitsideal des Historikers. Tatsächlich passte Baronio seine Belege in vielen Fällen seinen Thesen an.183 Außerdem erwies sich die chronologische Ordnung als anfällig für Fehler, von denen der deutsche Historiker und Bibliothekar der Bibliotheca Angelica, Lucas Hol­ stenius, mehr als 6000 aufdeckte. Zumindest rhetorisch zeigte sich Baronio jedoch offen für Korrekturen – nicht zuletzt, weil er davon überzeugt war, dass die Quellen der katholischen Tradition unmöglich widersprechen können.184 Trotzdem ist die konfessionelle Geschichtsschreibung stets ein Wechselspiel von Geschichte und Gegengeschichte: Sarpis Historia del concilio Tridentino wird 1670 gekontert von Sforza Pallavicinos „Wahrer Geschichte des Konzils von Trient“ (Vera concilii Tridentini historia); die katholischen Darstellungen der Urkirche mit Gegenschriften wie Gottfried Arnolds Wahre[r] Abbildung der Ersten Christen […] nach der Wahrheit der Ersten einigen Christlichen Religion, schiettezza la pura verità; e non tempi di chi si sia, o Imperatore, o Re, o Qualsivoglia Principe della terra, ma scrivi giusto, etiam a costo della propria vita.“ 179  Vgl. Baronio an Antonio Talpa am 1.12.1590, zit. nach Zen 1994, S. 232: „Di più l’editto della donatione è pieno di bugie inescusabili. Vi prego per carità non mi fate imbrattar la penna a scrivere et defendere sì fatte menzogne a Dio odibili, qual è Dio di verità. […] Assai mi par portarmi modestamente a non la impugnare à fatto come converrebbe a chi fa professione scrivere la verità.“ Zum Streit um die Konstantinische Schenkung vgl. Ginzburg 2001, S. 63–79. 180  Vgl. Zen 1993, S. 233 und Jedin 1978, S. 58. 181  Vgl. Jedin 1978, S. 31. 182  Sarpi war aufgefallen, dass Baronio die liturgische Formel „Deus qui beato Petro apostolo tuo, collatis clavibus regni coelesti, animas ligandi atque solvendi potestatem tradidit“ um das Wort „animas“ gekürzt und damit die kirchliche Bindemacht universalisiert hatte (vgl. Zen 1994, S. 229). Die Bildunterschrift lautet: „Il Petra exaltavit me. Et nunc exaltavit caput meum super inimicos meos.“ 183  Vgl. Cochrane 1981, S. 461–462. 184  Ebd., S. 465.

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allen Liebhabern der historischen Wahrheit, und sonderlich der Antiquität, als in einer nützlichen Kirchen-Historie, treulich und unparthyisch entworfen von 1696. Wie schon die Titel zeigen, bringt gerade die Konkurrenz die Wahrheitsvokabel ins Spiel. Dabei geht es nicht allein um historische Details, sondern auch um die Integrität des Sprechers. Setzte man wie Pallavicino Katholizismus und Wahrheit gleich, war der protestantischen Geschichtsschreibung jeder Boden entzogen.185 Neben jenen Autoren, die sich gegenseitig ihre Deutungshoheit absprachen, die eigenen Historien aber umso ausdrücklicher als „wahr“ etikettierten, stehen einige Skeptiker, die in der Tradition Lorenzo Vallas und Pico della Mirandolas die Wahrheitsfähigkeit der Geschichtsschreibung grundsätzlich in Zweifel zogen. Neben Cesare Campana war es vor allem Mercuriales Korrespondent Francesco Patrizi da Cherso, der „die Erkenntnis des Wahren“ (la cognitione del vero) zwar als sein Leitbild präsentierte, eine absolut wahre, unparteiische Geschichte aber für illusorisch hielt.186 In seinem Dialog Dell’ historia beschreibt er unter anderem das Paradox, wonach der beste Historiker ein hochgestellter Augenzeuge, darum aber auch parteiisch wäre, weshalb historische Wahrheit stets nur näherungsweise zu erreichen sei.187 Solche trotz oder wegen ihrer obrigkeitlichen Parteilichkeit vorgeblich „wahren“ Historien schuf Cigoli vor allem im Auftrag der Medici.188 Interessant sind vor allem drei in inhaltlichem Zusammenhang stehende Werke: Cigolis früher Beitrag zur Festdekoration der Hochzeit von Ferdinando I. und Cristina di Lorena im Jahr 1589, zur wenig später erfolgten Ausmalung des Hofes ihrer Lieblingsvilla in Petraia und die auf Tassos Epos Gerusalemme Liberata beruhende Darstellung der Befreiung Jerusalems aus der Zeit um 1609. Bei der Gestaltung der dynastischen Geschichte steht erwartungsgemäß weniger die veritas historica als die Verherrlichung von Florenz und seiner Herrscherfamilie im Vordergrund. Im zweiten Buch seiner Descrizione del regale apparato fatto nella nobile città di Firenze beschreibt der Künstler und Mathematiker Raffaello Gualterotti ausführlich das von Niccolò Gaddi entworfene Programm der aus fünf Triumphbögen und zwei Fassadenverkleidungen bestehenden Festdekoration, deren primäres Anliegen es war, die lange Tradition der Verbindung von Florenz und Frankreich bzw. zwischen den Häusern der Medici und der Lorena bzw. Guise zu begründen.189 Empfangen wurde der Brautzug von 185 

Ebd., S. 466. Campanas Discorso wurde der 1607 in Venedig publizierten Ausgabe seiner 1596 erstmals erschienenen Delle historie del Mondo als Vorwort vorangestellt; vgl. dazu Cochrane 1981, S. 486. 187  Vgl. Spini 1970, S. 101–104 und Campana 1607, o. S. Patrizi da Chersos Werke wurden 1593 zur Zielscheibe der Kritik Possevinos, der seine Bibliotheca Selecta als zusätzliches Werkzeug zur ideologischen Säuberung der Bibliotheken neben den Index stellte (vgl. Carella 1993, S. 507–516). 188  Vgl. Petrioli Tofani/Gaeta Bertelà 1969, Nr. 67–69 und Stähler 2000, S. 125 und 134–138. 189  Der Band erschien in einer Quart- und einer Folioausgabe mit 69 Radierungen Gualterottis. Der Mathematiker interessierte sich neben der Malerei auch für Astronomie. Er will schon 1598 ein 186 

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Alessandro Alloris Triumphbogen an der Porta al Prato mit der Darstellung der Gründung der Stadt Florenz.190 Die Frage nach den Ursprüngen der Stadt hatte bereits bei der Ausschmückung der Sala Grande des Palazzo Vecchio anlässlich der Hochzeit von Ferdinandos Bruder, Francesco de’ Medici, mit Johanna von Österreich im Jahr 1565 zu Streitigkeiten geführt. Obwohl Cosimo I. de’ Medici seinen historischen Berater, Vincenzo Borghini, Prior des Ospedale degli Innocenti und luogotenente der Accademia del Diseg­ no, gebeten hatte, bei der Darstellung der Stadtgeschichte alles zu vermeiden, „was irgendeinen Zweifel auf sich ziehen oder gar offen als falsch erkannt werden könnte“, hatte der Humanist Girolamo Mei die historischen Grundlagen von Borghinis Stadtgeschichte angezweifelt.191 Ann Moyer hat den folgenden ‚Historikerstreit‘ als Zusammenprall zwischen der humanistischen, primär auf Textquellen basierenden Forschung Meis und dem neuen, materialorientierten Antiquarianismus Borghinis interpretiert.192 Als Vorläufer der Kulturhistoriker interessierten sich die Antiquare, wie schon im Umfeld Mercuriales gesehen, über die politische Geschichte hinaus für Religion und Ökonomie, Militär und die materielle Kultur und zogen dazu nicht nur Text-, sondern auch Sachquellen heran, die sie nach topischen Gesichtspunkten ordneten.193 Hauptstreitpunkt zwischen Borghini und Mei war die Frage nach dem genauen Ort der ersten Florentiner Siedlungen und deren Kontinuität von der Antike bis zur Gegenwart, wobei Mei sich auf Inschriften und Texte, Borghini zusätzlich auf materialkundliche, numismatische, topologische und archäologische Forschungen stützte.194 Obgleich Mei sich nicht davon abbringen ließ, „dass man ein Fundament wesentlich besser auf das Zeugnis von Schriftstellern als auf irgendeinen anderen Überrest bauen“ könne, erkannte Borghini ihn als gleichwertigen Wahrheitssucher an.195 Er vergleicht ihre Forschung mit Fernglas gebaut und 1604 einen dunklen Fleck auf der Sonne beobachtet haben (vgl. Favaro 1907, Nr. 18; zu seinem Fernrohr vgl. seinen Brief an Galilei vom 24.4.1610, BNCF, Ms. Gal. 88, fol. 126r; zu Gaddi vgl. Acidini Luchinat 1980). 190  Vgl. Gualterotti 1589, S. 12 und dazu Matteoli 1974, S. 139–144. 191  Vincenzo Borghini an Girolamo Mei: Cosimo „non volse cose che si potessino tener d’alcuno per dubio, nonchè riconoscere false manifestamente …“ BNCF, Filze Rinuccini 25. 192  Vgl. Moyer 2003, S. 177–193. Zum Antiquarianismus vgl. Momiglianos einflussreichen Aufsatz von 1950. 193  Vgl. Cochrane 1981, S. 423–425 und 435–440. 194  Vgl. Moyer 2003, S. 189–191. Mei zufolge lag das römische Florenz weiter flussaufwärts, wurde im frühen Mittelalter zerstört und von Desiderius Lombardus und Karl dem Großen am aktuellen Ort neu gegründet. Ähnliche Diskussionen gab es auch in Venedig und Siena (vgl. Niccolò Zeno, Dell’origine di Venetia, Venedig 1558 und Cesare Orlandini, De Urbis Senae Eiusque Episcopatus Antiquitate, Siena 1575). 195  Mei an Borghini, Karsamstag 1566, zit. nach Moyer 2003, S. 187: „… ed io sarò sempre d’opinione, che si debba dar fondamento vieppiù sopra il testimonio degli Scrittori, che sopra qualunque altro vestigio, che apparsica senza questo; perchè ne’ casi dell’antichità non si possono confermar le cose con più certo argomento.“

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der Jagd nach einem in den dunklen Wäldern der Antike versteckten Reh, das die beiden an unterschiedlichen Orten zu fangen hofften.196 Für Borghini bestehen die Fährten aus Texten und Überresten, die erhoffte Beute ist die historische Wahrheit. Doch der Jäger wird das scheue Tier nie fest in Händen halten, denn historische Thesen können, so Borghini, nie mehr als Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Auf „erstgradige Wahrheit“ dürfe allein der Mathematiker hoffen; „insofern wir uns aber mit der Geschichte beschäftigen, und vor allem mit einem Aspekt der Geschichte, der nicht Gewissheiten, sondern Konjekturen, Zeichen der verisimilitudo, Namen, Meinungen, Gerüchte, Ähnlichkeiten und, um es kurz zu sagen, Zeugnisse aller Art gebrauchen muss – dürfen wir nicht […] versuchen, die Geschichte […] wie Zahlen und Maße zu behandeln.“197 Der Streit um die Ursprünge der Stadt war Gualterotti offenbar bekannt, weshalb er das von dem Florentiner Maler Giovanni Bizzelli dargestellte Gründungsszenario vor anderen mehr oder weniger „von der Wahrheit entfernten“ Hypothesen verteidigt.198 Tatsächlich sei die Stadt erstmals unter Octavian 40 v. Chr. und dann – wie „von vielen herausragenden Autoren behauptet“ und auf Alloris Triumphbogen dargestellt – von Karl dem Großen neu gegründet worden.199 Die Bilder im Inneren des Portals schildern den Fortgang der Florentiner Stadtgeschichte: die Befreiung von dem Gotenkönig Radagasio; die Herrschaft Karls des Großen als Erneuerer des christlichen Kults; die Vereinigung der Städte Fieseole und Florenz; den Sieg des Charles d’Anjou bei Benevent 1266 (von Cigoli); die Verteidigung von Florenz im Jahr 1312 und den Sieg Gian Galeazzo Viscontis in Mantua.200 Über dem Eingang zur Stadt schließlich zeigt Allori eine große Allegorie der Florentiner Regierung.201 Cigoli wird von Gualterotti als „gentil maestro, e studioso“ gewürdigt, sein heute verlorenes Gemälde besonders ausführlich beschrieben (Abb. 26).202 Es zeigt Charles d’Anjou als Sieger über den Staufer Manfred, der 1258 den für künftige Kreuzzüge strategisch bedeutsamen Thron von Sizilien usurpiert hatte und 1266 bei Benevent von französischen Truppen besiegt worden war. Um die durch die Hochzeit von Ferdinando

196 

Undatierter Brief Borghinis an Mei, BNCF, filze Rin. 25, 14, fol. 54r. Borghini an Mei, BNCF, filze Rin. 25, 14, fol. 47v: „Ma se noi siamo nella historia e in una parte della historia che si serve oltre alle certezze ne suoi bisogni delle conjetture, de segni de verisimili, de nomi, delle opinioni, de remori, delle simiglianze, et in somma de testimonii d’ogni sorte, non vogliamo di gratia scambiare l’ordine delle materie: ne cavando la historia della sua propria: trattarla come i numeri, e come le misure.“ Zit. nach Moyer 2003, S. 188. 198  Einige schrieben die Gründung Herkules, andere Odysseus zu; „più lontana al vero“ sei die Annahme einer Gründung durch die Goten, „più vicina al vero“ die durch Cäsar und Cicero (Gualterotti 1589, S. 12–13). 199  Ebd., S. 15: „… come per molti eccelle[n]ti scrittori s’afferma.“ 200  Vgl. ebd., S. 19–33. 201  Vgl. ebd., S. 34–37; Abb. S. 38–39. Vgl. auch Carman 1978, S. 31 und Chappell 1982. 202  Vgl. Gualterotti 1589, S. 26–27. 197 

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26. Stich nach Cigoli, Sieg von Karl von Anjou über Manfred, in: Gualterotti 1589, S. 28.

de’ Medici und Cristina di Lorena erneuerte Verbindung von Frankreich mit dem Großherzogtum Toskana herauszustellen, betonen Gualterotti und Cigoli nicht nur die französische Herkunft des von Urban IV. berufenen Befreiers Siziliens, sondern auch die Beteiligung von Florentiner Kriegern an der Schlacht. Dramatik erzeugt Cigoli durch die Diagonalen der Standarten, das Helldunkel des Himmels, starke Schlagschatten sowie durch den Kontrast zwischen den Reitern im Vordergrund und der ameisenkleinen Masse der Soldaten im Mittelgrund.203 203 

Tusche auf Papier, 50,4 × 41,2 cm, Oxford, Ashmolean Museum. Vgl. dazu Matteoli 1974, S. 141–142 und Chappell 1982a, S. 333; 1989a, S. 197 und 1992, S. 6.

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Der dritte, von Santi di Tito entworfene Triumphbogen am Canto de’ Carnesecchi war den Häusern Lorena und Guise gewidmet. Vier Gemälde von Santi di Tito, Andrea Boschi und Pagani feierten Godefroy de Bouillon als Anführer des ersten Kreuzzugs und Befreier Jerusalems. Aufgrund der schlechten Quellenlage hält Gualterotti es für nötig, dessen Wahl zum Führer der christlichen Truppen unter Verweis auf das Zeugnis „zahlreicher Autoren“ als zumindest „sehr wahrscheinlich“ (verisimile molto) zu bezeichnen.204 Am Triumphbogen jedoch werden alle etwaigen Zweifel eliminiert; zusätzlich verleiht die Inschrift dem Bild „vollständige Klarheit“ (intera chiarezza).205 Ausführlich beschreibt Gualterotti die Schwierigkeiten des ersten Kreuzzugs, bei dem sich das christliche Europa – „i nostri“ – unter Godefroy zur Befreiung Jerusalems versammelt habe. Der Heerführer wird als Vorfahre Cristina di Lorenas stilisiert, um neben der traditionsreichen Verbindung von Frankreich und Toskana auch die militärische Stärke und das christlich-päpstliche Engagement der am Kreuzzug beteiligten Florentiner Truppen zu demonstrieren: „Die Abstammung von Godefroy über Eustachio“, so Gualterotti, „dauert bereits über 600 Jahre unter dem Namen der Lorena und der Guise, deren Blut dasselbe ist und nur verschiedene Vornamen von Staaten angenommen hat“.206 Die Tatsache, dass die Medici nicht am ersten, sondern erst am vierten Kreuzzug teilnahmen, war nicht bekannt oder wurde bewusst verschwiegen.207 Immerhin erlaubt Lionardo Salviati in seinem Dialog Il Lasca von 1584 auch unwahre, allgemein geglaubte Geschichten, solange diese der Selbstund Fremdregierung von Nutzen seien.208 Der Wunsch nach dem Aufweis einer langen, Frankreich, Italien und Papsttum verknüpfenden Tradition veranlasste das Medicipaar noch im selben Jahr, den Cortile ihrer Villa in Petraia mit den Taten Godefroys im ersten Kreuzzug ausmalen zu lassen.209 Die 204 

Gualterotti 1589, S. 85. Abb. S. 86. „gotofredus bulionius ccc. peditum, et c. equitum qui ad urbem bizantium ex omnibus europae patribus ad hierosolymam liber andam profecturi convenerant, cum summo imrio raedicitur.“ 206  Ebd., S. 95: „La discendenza di Gottifredo per Eustachio già per 600 anni, felicemente dura sotto nome di Loreno, e di Guisa, il cui sangue è lo stesso, e prende diversi cognomi delli stati …“ 207  Schon 1567 hatte Cosimo I. auf Basis alter Urkunden Francesco und Paolo de’ Medici als Vorfahren des (angeblich auf Godefroys Bruder Baudouin zurückgehenden) griechischen Zweiges der Medici gekürt, um die Ansprüche der Toskana auf das Herzogtum Athen und Napoli di Romania zu unterstreichen (vgl. Matteoli 1974, S. 146). 208  Der Titel des 1584 unter einem Pseudonym in Florenz publizierten Werks spricht für sich: Il Lasca dialogo: Cruscata, ovvero Paradosso d‘Ormannozzo Rigogoli […] nel quale si mostra, che non importa, che la Storia sia vera, e quistionasi per incidenza alcuna cosa contra la Poesia (vgl. Weinberg 1961, Bd. I, S. 15–16). 209  Ferdinando I. hatte die 1576 erworbene Villa von Buontalenti restaurieren lassen. Die Südostund Nordwestwände wurden im Auftrag von Lorenzo de’ Medici 1637–1646 von Volterrano mit Fresken zur Geschichte der Medici ausgeschmückt (vgl. Cardi 1628/2010, 2r, S. 102 und dazu Matteoli 1974, S. 145–148). Matteoli identifiziert die Zeichnung GDSU 8902 F als Cigolis Entwurf für die erste Szene 205 

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27. Cigoli, Befreiung Jerusalems, um 1609, Öl auf Leinwand, 151 × 201 cm, Dublin, National Gallery of Ireland, Inv. 1812.

Erzählungen über seine (heute als marginal eingeschätzte) Rolle bei der Eroberung Jerusalems geht auf Albert von Aachen, Raimund von Aguilers und die Gesta Francorum zurück. Verbreitung fand seine Verehrung jedoch vor allem durch die literarische Verarbeitung des Stoffes in den französischen Chansons de Geste und Tassos monumentalem Epos Gerusalemme liberata von 1575, in dem Godefroy/Goffredo gegenüber dem von Leidenschaften getriebenen Rinaldo die rationale Herrschaft verkörpert.210 Tassos Epos bildet vermutlich auch die Grundlage für Cigolis Darstellung der Befreiung Jerusalems in der National Gallery of Ireland aus der Zeit um 1609 (Abb. 27).211 Gezeigt ist wohl der des oberen Registers der Südwestwand mit der Darstellung des Aufbruchs der christlichen Truppen (vgl. Matteoli 1974, S. 148 und 1980, S. 240; ebenso Chappell 1992, S. 10; zur Villa vgl. Winner 1963, S. 249). 210  Vgl. seine „Allegoria del Poema“ in der ersten vollständigen, 1581 in Ferrara publizierten Ausgabe. 211  Die Zuschreibung an Cigoli verdankt sich Carman, der das Bild allerdings in die 1590er Jahre datiert (1978, S. 30–38 und 1985, S. 225–230). Matteoli schreibt das Bild Jacopo Ligozzi zu (1980, S. 344). Faranda datiert es in die Zeit der Hochzeit von Henri IV. und Maria de’ Medici (1986, S. 145, Nr. 46). Contini erwägt einen Zusammenhang mit den nozze von Cosimo II. und Maria Maddalena

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28. Santi di Tito, Befreiung Jerusalems, 1589, Entwurf für sein Triumphbogenbild, Florenz, GDSU 7667 F.

Moment, in dem Goffredo das Signal zum Angriff gibt.212 Die durch das rückansichtige Pferd und den vorgestreckten Kommandostab ins Bild führende Diagonale wird konterkariert von der gegenläufigen Tiefenflucht der Stadtmauer, die von den Kreuzfahrern gestürmt wird. Die Perspektive ist so gewählt, dass die Betrachter, wie die Soldaten, keinen Blick hinter die Mauern werfen können. Die von Santi di Titos Triumphbogenbild inspirierte Leiter und der im Mittelgrund abgeschossene Speer allerdings verweisen auf ein unsichtbares Dahinter (Abb. 28).213 Umstritten ist die Deutung der im Vordergrund

d’Austria im Jahr 1608 (1991, S. 94). Cristina Garofalo hat eine Zeichnung der Einnahme einer Stadt am Meer in der Fondazione Horne (Inv. 5753) mit der Darstellung der Einnahme von Bona für die Esequien Ferdinandos I. 1609 und darüber hinaus mit dem Dubliner Bild in Verbindung gebracht (vgl. Garofalo 2001). 212  Tasso 1991, XVIII.54ff.; vgl. Bastogi 2001, S. 86. 213  Zu Santis Bogen am Canto dei Carnesecchi vgl. Spalding 1982, S. 392–394.

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lagernden, ein wenig nachdenklich wirkenden Grisaillefigur mit Füllhorn, Muschel und dreieckiger Tafel: Carman interpretiert sie als Eva bzw. Mutter Erde, Contini überzeugender als Allegorie des buon governo.214 Denkbar wäre auch ein Hinweis auf die Erfolge der christlichen Ritter zu Wasser und zu Lande, zumal nachdem diese durch die Gründung des mit der Bewachung des Mittelmeers und der Befreiung Jerusalems beauftragten Stephansordens neue Aktualität gewonnen hatten. Um den Vorwürfen Gilios und Bor­ ghinis hinsichtlich der Vermischung der Realitätsebenen zuvorzukommen, hat Cigoli die lebende Statue farblich von den Kämpfern unterschieden. Mit der Verschränkung von Historie und Allegorie übernimmt Cigoli ein Stilmittel Tassos, das Galilei heftig attackierte. In seinen wohl in den Jahren 1589 bis 1595 entstandenen Considerazioni al Tasso vergleicht Galilei dessen obskure Allegorien mit der konfusen Frontalansicht von Anamorphosen, die ihren Sinn nur dem schrägen Blick zu erkennen geben.215 Gerade die Verbindung der Historie mit der Allegorie jedoch erhebt diese für Tasso zum Epos.216 Auf dem Fundament der Geschichte errichte der Dichter ein intellektuelles Gebäude, bei dem, wie in der Bibel, hinter dem Literalsinn eine universale Bedeutung verborgen sei.217 Im Anschluss an Aristoteles hält Tasso die Dichtung für „philosophischer“ als die Historie, weil sie stärker auf das Allgemeine ziele und die Teile des Texts nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit verknüpft sind.218 Das dichterische Schaffen entziehe die Dinge dem partikularisierenden Blick des Historikers und bringe eine eigene, poetische Wahrheit zum Vorschein, die wesentlich beständiger und sicherer sei (la verità de’ quali è molto più stabile e molto più certa).219 In seinem Dialog Il Cataneo overo degli idoli geht Tasso sogar so weit, den Wahrheits- an den Bedeutungsgehalt der Geschichte zu knüpfen: Letztlich sei nichts, was Sinn habe, falsch.220 Dennoch empfiehlt er dem 214 

Vgl. Carman 1978 und Contini 1991, S. 94. Vgl. Galilei, Considerazioni, Opere, Bd. IX, S. 129–130: „Sig. Tasso, vorrei pur che voi sapessi che le favole e le finzioni poetiche devono servire in maniera al senso allegorico, che in esse non apparisca una minima ombra d’obligo: altrimenti si darà nello stentato, nel sforzato, nello stiracchiato e nello spropositato; e farassi mia di quelle pitture, le quali, perchè riguardate in scorcio da un luogo determinato mostrino una figura umana …“ 216  Vgl. Tasso 1875b, S. 471. 217  Ebd., S. 493: „Le parole che si distruggono nella superficie, deono essere intese profondamente; ed in questa guisa sovra i fondamenti dell’istoria conviene fabricar con l’allegoria una fabrica intellettuale, o della mente […] imperò che, s’è lecito a’ sacri teologi nelle Sacre lettere seguir altro senso che il letterale, ciò più agevolmente a’ poeti dovrebbe esser conceduto …“ 218  Tasso 1875a, S. 336; vgl. Aristoteles, Poetik, § 9, 1451b und dazu Scarpati/Bellini 1990, S. 21–24 und Kablitz, S. 79–83. Zur Aristoteles-Rezeption im Cinquecento vgl. die grundlegende Studie von Kappl 2006. 219  Vgl. Tasso 1875a, S. 338. 220  Tasso 1998, S. 761: „… falso non è quel che significa“ und Tasso 1585/1854, S. 450: „… l’allegoria non è falsa, perchè significa.“ Hier beruft er sich auf Augustinus, der in den Questiones Evangeliorum ebenfalls die Fiktion von der Lüge unterscheidet (vgl. Scarpati/Bellini 1990, S. 32). 215 

89

3. Historie: Wie es eigentlich gewesen ist, oder: Rehe im Wald 

Dichter, seine Stoffe nicht im Dunkel der Fiktion, sondern im Licht des wahrhaft Seienden, also der Historie, zu suchen und die Fabel aus wahren wie falschen, aber stets wahr wirkenden Handlungen zu weben.221 Christliche Historien haben als Ausgangspunkt der Dichtung den Vorteil, dass in ihnen das Wunderbare zugleich glaubhaft sei.222 Den Durst des Lesers lösche letztlich nicht das aus den Quellen der Wissenschaften sprudelnde „Wasser des Wahrscheinlichen“, sondern nur das der Samariterin versprochene Wasser aus dem „ewigen Brunnen der Wahrheit“.223 Auch der Literaturkritiker Paolo Beni bezieht sich in seinem Vergleich Tassos mit Homer und Virgil auf die aristotelische Bestimmung der Poesie als Beschreibung der Dinge „wie sie sein sollten oder der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit nach sein könnten, ganz gleich ob wahr oder falsch“.224 Während die Wahrheit für die Historie wesentlich sei, sei sie für die Dichtung eine Akzidenz, denn der Dichter erzähle nur „nach dem Bild des Wahrscheinlichen“ (ad imagine del verisimile), weshalb „das Falsche des Dichters zwischen dem Wahrscheinlichen des Redners und dem Falschen des Lügners“ zu verorten sei.225 Tommaso Campanella hingegen unterscheidet Geschichtsschreibung und Dichtung primär hinsichtlich der Faktur: Der Historiker zeichne (delineare); der 221 

Tasso 1875a, S. 334–335: „Perché in quanto elle [le cose] non sono, stanno ascose e ricoperte nelle tenebre e nella caligine di quel che non è: là dove suol rifuggire il sofista e circondarsi di molti argini e di molti ripari perché sia malagevole il cavarnelo: e quivi suol ricercarle il poeta fantastico, il quale è l’istesso che ’l sofistico; ma ricercandone, è gran pericolo che perda se stesso. Però consiglierei ciascuno che più tosto dovesse cercarne nella luce e nello splendore di quel che è veramente …“ und S. 336: „… le favole si tessono d’azioni così vere come false, le quali abbiano sembianza di vero […] La verisimiglianza, dunque, è necessaria alla favola; e la verità e falsità non è necessaria: ma forse l’una è più lodevole dell’altra.“ Zur Bedeutung der historischen Wahrheit für Tasso vgl. Kablitz 1987; Weinberg 1961, Bd. I, S. 13–16 und 339–348. 222  Vgl. Weinberg 1961, Bd. I, S. 341. 223  Tasso 1585 an Maurizio Cataneo, in: Tasso 1854, S. 449: „Ed io rispondo, che il vero è quell’eterno fonte il quale non si secca per estate, nè cresce per verno: ma i torrenti del verisimile corrono alcuna fiata assai gonfi e torbidi; e possono facilmente seccarsi; e l’acqua loro non è tale che tragga mai la sete: la quale non dirò d’avermi tratta a’ fonti de le scienze, mescolando il lor liquore con quel del piacere […] benchè nè questo nè quello sia bastevole; ma solamente l’acqua che fu promessa a la Samaritana, de la quale chi bee non ha sete in eterno“ (vgl. Joh 4,13–14). Zum Wahrscheinlichen der Dichtung vgl. Aristoteles, Poetik, §§ 9, 14 und 25. 224  Beni 1612, S. 72: „tali quali dovevano essere o ver quali verisimilmente o necessariamente potean essere, vere o false che poi fossero.“ 225  Ebd., S. 73: „… ma il poeta, il qual […] non narra l’istesso verisimile che è quello che si presenta nelle cose, ma narra ad imagine di quel verisimile il quale in dette cose si rappresenta, veramente finge, e però dice il falso: e questo è imitare, cioè dir falso, benché tenga imagine e somiglianza di vero. E in questa guisa il falso del poeta sarebbe mezzano tra ’l verisimile dell’oratore ed il falso dell’uomo mendace che fuor d’ogni verisimile mentisse.“ Andreas Kablitz hat die poetologischen Verschiebungen von der Wahrscheinlichkeit als Vorzug gegenüber der bloßen Faktizität, zu Tassos und Lionardis Lob der allegorischen Wahrheit bis hin zu Giovan Battista Pignas Feier der guten dichterischen Lüge nachgezeichnet (vgl. Kablitz 1987, bes. S. 92 und 102).

90 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

Dichter dagegen arbeite mit Form und Farbe (colorare e figurare).226 Tassos Wahl des christlich-heroischen Stoffes für die Gerusalemme liberata lobt Campanella als Modell „wahrer Sujets wahrer Dichter“ (veri soggetti de’ veri poeti), das der fiktiven Ergänzungen gar nicht bedurft hätte.227 Insgesamt aber bemerkt Campanella bei Tasso eine bedenkliche Tendenz, Dichtung auf schöne Worte zu reduzieren und historische Informationen auszulassen.228 Tasso verteidigt sich: Auch wenn die historische Wahrheit das Fundament seiner Werke bilde, handle es sich bei ihnen doch nicht um Geschichtsschreibung. Folglich sei er kein Fälscher, sondern Dichter: „Dunque non sono falsificatore, ma poeta.“229

4. Dic htung und Wahr heit: Di e V er messung der Hölle Galilei, der laut Viviani Ariosts Orlando Furioso größtenteils auswendig konnte, selbst Sonette und Entwürfe für zwei Komödien schrieb und Teile der Batracomiomachia ins Italienische übersetzte, interessierte sich sein Leben lang für Literatur.230 Doch obgleich er im Discorso delle comete einen grundsätzlichen Unterschied zwischen „poetischer Annehmlichkeit“ (piacevolezza poetica) und „philosophischer Festigkeit und Strenge“ (la fermezza e severità filosofica) konzedierte, legte er in seinen literaturkritischen Notizen ähnliche Maßstäbe an beide Textgattungen an. In den Werken Tassos bemängelte er logische Fehler und sprachliche Vergehen ebenso wie an den Schriften des Jesuitenastro226 

Campanella 1954, S. 322. Ebd., S. 357: „tutte le cause oneste e pie sono giuste […] e questi sono veri soggetti de’ veri poeti, non cianciatori“ und S. 358: „il che non si permetterebbe a chi scrivesse quelle [imprese] del Colombo, sendo per sé ammirabili.“ 228  Ebd., S. 337–338: „Ma il Tasso è più da biasmare, che riduce tutta la poetica in belle parole, e lasciò le belle sentenze, che pone Ariosto con tanta moralità e documenti, e segue il documento greco, del tutto tralasciando le maraviglie di Gierusaleme […] L’Ariosto parlò con più documenti e utilità, ma men delicato: il Tasso poi arrecò tutte le belle parole e l’infilzò con l’ago, ma concetti communi e rubbati, e pochi precetti, e giovamento assai meno degli altri.“ Zur Ariost-Tasso-Kontroverse vgl. Weinberg 1961, Bd. II, S. 954–1073. 229  Tasso 1854, S. 450. 230  Vgl. Viviani, Opere, Bd. XX, S. 585. Vaccalluzzo hat zuerst auf Galileos Rolle als Literaturkritiker hingewiesen (Vaccalluzzo 1896). In der Zeit seiner Dante-Vorlesung machte Galilei Anmerkungen zu Ariost, Tasso und Petraca, die Viviani in seine Pisaner Zeit datiert (Galilei, Opere, Bd. IX, S. 151– 194; IX, S. 61–148 und XIX, S. 627). Armour hält es für möglich, dass einige der Anmerkungen aus der Zeit nach Tassos Tod 1595 stammen (vgl. Armour 1971, S. 149; Galilei, Opere, Bd. XVIII, S. 129 und 192). Am 22.5.1609 bittet Cigoli Galilei im Namen Jacopo Giraldis um seine Anmerkungen zu der ersten Stanze (vgl. Carteggio 2009, Nr. 3, S. 43). Noch 1637/39 fragt Rinuccini Galileo nach seinen Notizen; Galileo berichtet von deren Verlust (Opere, Bd. XVII, S. 242 und 260–261; Bd. XVIII, S. 122–123). Später ist Galilei Tasso gegenüber nachsichtiger (vgl. seine Briefe an Rinuccini vom 5.11.1639 und 19.5.1640, Opere, Bd. XVIII, S. 120–121 und 192–193). 227 

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4. Dichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle

nomen Horazio Grassi.231 Galileis Hauptvorwürfe betreffen Tassos fehlende Klarheit sowie seine Verstöße gegen die verosimiglianza und den costume – beispielsweise wenn einfache Menschen gelehrte Reden halten oder Helden wie Träumer agieren. In diesem Sinne bemängelt Galilei nicht nur Tassos Beschreibungen der Verbreitung von Echos, Träumen oder Schatten durch den Wind, sondern auch die unnatürliche Fernsicht der Protagonisten, die sich über große Distanzen nicht nur sehen, sondern sogar verlieben können.232 Pedantisch wird die Kritik, wenn Galilei sich an den goldenen Angeln der silbernen Tore von Armidas Palast stößt, die doch „normalerweise, weil man sie nicht sieht, aus billigerem Material hergestellt“ würden.233 Vor allem aber echauffiert er sich über die Beschreibung des Hügel, Täler, Wälder, Höhlen und Flüsse umfassenden Gartens im Inneren eines Palasts, der noch dazu auf einem Berggipfel und dieser auf einer Insel gelegen sein sollte.234 „Wenn man“, so rechnet Galilei vor, „vom Mittelpunkt auf den Umfang des Palastes schließen will, so müsste dieser Hunderte von Meilen betragen, obwohl […] dieser Palast auf dem Gipfel eines Berges liegt; und wenn man vom Gipfel auf die Sohle schließen will, so müsste der Berg am Fuß einen Umfang von Tausenden von Meilen haben; und da er auf einer der Kanarischen Inseln liegt, müsste diese Insel die größte der Welt sein, was aber nicht stimmt, denn all diese Inseln sind sehr klein“.235 In gewisser Weise hatte Tasso das Debakel selbst heraufbeschworen, indem er sein Manuskript vorab diversen Gelehrten zur Begutachtung vorgelegt hatte. Die nicht abreißende Kritik veranlasste den Autor nicht nur zu einer Apologie, sondern 1593 auch zu einer Neufassung unter dem Titel Gerusalemme Conquistata, in der er – wohl ohne Kenntnis von Galileis Kommentar – auch die von jenem kritisierten Stellen umformulierte.236

231 

Vgl. Armour 1971 und Bolzoni 2009. Vgl. Galilei, Considerazioni, Opere, Bd. IX, S. 70, 92 und 115. Zur Diskussion über Luft als Klang- oder Bildträger vgl. Cole 2002, S. 624–625. 233  Ebd., S. 138: „Sono alcune altre cosette degne di considerazione […] come saria l’aver le porte d’argento e i cardini d’oro; il che non è ben fatto, perchè i cardini, come quelli che non si veggono, si fanno di materia più vile che le porte, e non per l’opposito“ (zu canto XVI.1). 234  Ebd., zu canto XVI.1: „Questo palazo è tondo, e nel più chiuso grembo, che è quasi centro, ha un giardino, con architettura contraria alla comune, perchè si veggon ben palazi in mezo de’ giardini, ma non per l’opposito. E questo giardino, ben che sia quasi centro del palazo, nulla di meno contiene in sè colline, valli, selve, spelonche, fiumi e stagni, tutte robe costituite su la cima d’un alto monte …“ Vgl. dazu Bredekamp 2007, S. 60–61. 235  Ebd.: „… onde se dal centro si può raccorre la circonferenza, questo palazo doveva girare centinai di miglia, ben che fosse piantato nella cima d’un monte; e se dalla cima si può arguire la pianta del medesimo monte, doveva aver di circuito migliaia di miglia; ed essendo in una dell’isole Canarie, essa isola doveva esser la maggior del mondo; il che repugna al vero, perchè son tutte piccolissime.“ Galilei war nicht der einzige Kritiker: Campanella z. B. polemisierte gegen die unwahrscheinliche Extension von Goffredos Traum (vgl. Campanella 1954, S. 387). 236  Vgl. della Terza 1965, S. 82. 232 

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Galileis Schlussverfahren vom Mittelpunkt des Palasts auf die Größe der Insel beruht auf demselben Postulat geometrisch-poetischer Kohärenz wie seine Überlegungen zum Inferno in Dantes (Divina) Commedia, mit denen er als junger Mathematiker 1587 auf Einladung der Accademia Fiorentina in die Debatte um die genaue Gestalt und Lage der Hölle eingriff.237 In Dantes Welt markiert Jerusalem den „Mittelpunkt der Welt“, von dem aus eine Achse durch den Höllentrichter zum Erdzentrum verläuft. Der Trichter entsteht durch den Sturz Luzifers, der nach seiner Revolte im Himmel kopfüber auf die Südhalbkugel gefallen und in ihrem gottfernsten Punkt – dem Mittelpunkt der Erde – stecken geblieben war. Bei seinem Aufprall floh die gesamte Erdmasse gen Norden und bildete dort die halbmondförmige bewohnte Welt, während über Luzifers Kopf ein Hohlkegel – die Hölle – entstand.238 Gegenüber den älteren, volkstümlichen Beschreibungen stellte Dantes Konzeption der Hölle bereits eine Systematisierung dar. Obgleich von unermesslichen Qualen beherrscht, wird sie als klar gegliederter Raum präsentiert, der für jede Kategorie von Sündern einen eigenen Rang vorsieht, wobei die Nähe zu Luzifer im Verhältnis zu der Schwere des jeweiligen Vergehens steht. Trotzdem bleiben Dantes topographische Angaben relativ ungenau. Er präsentiert keine Gesamtansicht des Kosmos, sondern beschreibt ihn gleichsam von innen, aus der Perspektive der Jenseitswanderer Dante und Vergil. Die gesamte Commedia orientiert sich am Chronotopos des Weges durch die stufenförmige Hölle über das Purgatorium zum Himmel.239 Am tiefsten Punkt des Inferno steckt Luzifer im See Kozytus, den der von seinen eigenen Flügeln produzierte Wind gefrieren lässt.240 An seinem langen Fell seilen sich Dante und Vergil ab, bis sie sich an der Hüfte um 180° wenden und an den Beinen entlang zu einem schmalen Gang gelangen, durch den sie die Südhalbkugel durchqueren, bis sie endlich am Ufer des Läuterungsberges ins Freie treten. Zur Steigerung der Suggestivkraft seines Berichts streut Dante an einigen Stellen Maßangaben ein, die schon früh zum Ausgangspunkt akribischer Versuche zur Kartographierung und Vermessung der Hölle wurden.241 Bereits die erste Ausgabe von 1481 enthielt einen dreiseitigen Kommentar von Cristoforo Landino über „Lage, Gestalt und Maße der Hölle und die Statur der Giganten und Luzifers“.242 Virulent wurde die Debatte jedoch vor allem mit den Berechnungen des Architekten, Mathematikers und Brunelleschi-Biographen Antonio Manetti, dessen Überlegungen 1506 durch Girolamo Benivienis Dialogo di Antonio Manetti cittadino 237 

Vgl. Galilei, Due lezioni, Opere, Bd. IX, S. 29–57. Vgl. dazu Bredekamp 2007, S. 63–69 und Peterson 2011, Kap. 10. 238  Vgl. Dante 2007, I.34.112–126. Zur Lage der Hölle vgl. auch Bellarmin 1870, Bd. I, S. 418. 239  Dante 2007, I.11.16–18: „Von diesen Felsen hier umschlossen […] befinden sich drei Kreise, / in Stufen abwärts …“ 240  Ebd., I.34.50–52. 241  Vgl. die umfassenden Studien von Engel 2006 und Brunner 1999. 242  Cristoforo Landino, Sito, forma et misura dello ’nferno et statura de giganti et di Lucifero (1481), in: Sansovino 1578.

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4. Dichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle

29.  Luigi Alamanni, Aufriss von Dantes Inferno nach den Maßen von Antonio Manetti, 1587, Feder auf Papier, Florenz BML, Cod. Med. Pal. 75, fol. 41.

30.  Luigi Alamanni, Aufriss von Dantes Inferno nach den Maßen von Alessandro Vellutello, 1587, Feder auf Papier, Florenz BML, Cod. Med. Pal. 75, fol. 37.

fiorentino circa al sito, forma et misure dell Inferno di Dante Alighieri poeta excellentissimo in Florenz bekannt wurden (Abb. 29). Seine Gesprächspartner kommen schnell überein, dass zur Dantelektüre unbedingt auch Grundkenntnisse in Geometrie, Arithmetik, Astrologie, Kosmologie und zuletzt auch der Zeichenkunst (un poco di disegno) vonnöten seien. Manettis mehrfach variiertem Modell stand der Entwurf Alessandro Vellutellos aus dem Jahr 1544 gegenüber, der in seiner Descrittione de lo Inferno ankündigt, endlich die „dunkle, von noch niemandem […] erkannte Wahrheit“ der Hölle Dantes zu enthüllen (Abb. 30).243 Mit dem Vorwurf, Vellutellos Hölle vermöge die große Zahl der Verdammten gar nicht zu fassen, macht sich Galilei 1587 zum Advokaten Manettis und damit auch der Accademia Fiorentina. In seiner Vorlesung treibt Galilei die Geometrisierung der Hölle noch einen Schritt weiter, indem er Dantes „Mulde“ und Manettis „Trichter“ in einen „Kegel“ transformiert, in dem die Strahlensätze Anwendung finden können. Auch bei Galilei entsteht die Hölle durch eine Bewegung, doch es ist nicht die eines stürzenden Engels, sondern die eines virtuellen Steinmetzes, der einen Kegel in die Erde fräst, indem 243 

Alessandro Vellutello, Descrittione de lo Inferno (1544), in: ebd.

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er, ausgehend von der Achse zwischen Jerusalem und Erdmittelpunkt, eine zweite Achse im 30°-Winkel zieht und das entstandene Kreissegment so dreht, dass „die Linie dabei die Erde durchschneidet, bis sie schließlich zum Ausgangspunkt zurückgekehrt ist“.244 Die Berechnungen der Literaturarchitekten stützen sich auf eher beiläufige Bemerkungen der Commedia, wie den Wunsch eines Falschmünzers (sic!), seine Anstifter trotz des Kreisumfangs von elf Meilen und der Breite von einer halben Meile zu suchen oder die Mahnung Vergils, angesichts der fortgeschrittenen Zeit und der Entfernung von 22 Meilen nicht länger zu verweilen.245 Die nach unten enger werdende Form der Hölle wird aus Sätzen wie „So stieg ich nieder aus dem ersten Kreis zum zweiten, der ein kleinres Rund umgürtet“ abgeleitet.246 Tatsächlich sind die Angaben jedoch sehr ungenau und zudem auf den unteren Bereich beschränkt. Um von den bekannten auf die unbekannten Größen schließen zu können, muss eine regelmäßige Struktur angenommen werden, die sich dem Text nicht unbedingt entnehmen lässt. Dantes Ungenauigkeit entspricht jedoch nicht allein der Eigenart eines poetischen Texts, sondern wird von ihm selbst auch damit begründet, dass sich die Ungeheuerlichkeit des Gesehenen der Repräsentation entziehe: „Wer könnte, selbst mit ungereimten Worten, / Jemals erschöpfen all das Blut, die Wunden, / Die ich dort sah, auch wenn er oft erzählte? / Versagen würde freilich jede Zunge, / Es wäre unser Geist und unsre Sprache / nicht groß genug, um alle zu umfassen.“247 Die hier als besonders drastisch empfundene Divergenz von Zeichen und Bezeichnetem kann nur durch den Beistand der Musen überbrückt werden, so dass „Sache sich und Wort nicht unterscheiden“.248 Von einem der Riesen auf den Eissee gesetzt, fehlen Dante endgültig die Worte: „Wie ich nun stumm und eisig dort geworden, / Darfst du nicht fragen, Leser, und ich schreibe / Es nicht, weil jedes Wort vergeblich wäre.“249 Trotzdem versucht er Luzifers Flügel durch Vergleiche mit einer Windmühle, Segeln oder einer Fledermaus zu beschreiben und lässt es auch hier nicht an einer vagen Maßangabe fehlen: „Ich mag wohl eher einem Riesen gleichen, / Als Riesen selbst an seinem Arm gemessen. / Stell dir nun vor, wie seine ganze Größe / Sein mag, die solchem Teile wird entsprechen.“250 244 

Galilei, Dante, Opere, Bd. IX, S. 33–34: „… immaginiamoci una linea retta che venga dal centro della grandezza della terra […] sino a Ierusalem […]; dall’altra sino al centro del mondo sia tirata un’altra linea retta, ed aremo un settore di cerchio, contenuto da le due linee che vengono dal centro e da l’arco detto: immaginiamoci poi che, stando immobile la linea che congiugne Ierusalem ed il centro, sia mosso in giro l’arco e l’altra linea, e che in tal suo moto vadia tagliando la terra, e muovasi fin tanto che ritorni onde si partì; sarà tagliata della terra una parte simile ad un cono …“ 245  Dante 2007, I.33, Vers 86–87 und I.29, 9. 246  Ebd., I.5, 1–2; s. a. I.11, 16–18 und I.9, 16–19. 247  Ebd., I.18, 1–6. 248  Ebd., I.32, 1–12. 249  Ebd., I.34, 22–24. 250  Ebd., I.34, 30–33.

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4. Dichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle

Appelliert Dante damit an die Imagination des Lesers, nimmt Galilei den Arm des Riesen (seine braccia!) tatsächlich zum Maßstab für die Vermessung der Hölle. Für den Mathematiker ergibt sich aus den Versen eine simple Gleichung: Die Größe Dantes verhält sich zu der eines Riesen wie dieser zum Arm Luzifers. Gehe man davon aus, dass Dante, wie seine Biographen schreiben, von normaler Statur, also etwa drei braccia groß war, seien nur noch genauere Angaben zur Größe eines Giganten erforderlich. Diese finden sich im vorausgehenden Gesang, wo das Gesicht eines Riesen mit dem „Zapfen von Sankt Peter“ verglichen wird, also jenem bronzenen Pinienzapfen, der noch heute im Hof der Vatikanischen Museen zu besichtigen ist und 5,5 braccia misst (ca. 330 cm). An dieser Stelle demonstriert Galilei seine Kenntnis der Proportionsfiguren Dürers, nimmt jedoch in Abweichung der Idealmaße das Achtfache des Kopfes als Normalgröße an.251 Ein Riese misst demnach 44 braccia und ist 14 ²⁄ ³ mal so groß wie ein Mensch. Der Arm Luzifers ist folglich 14 ²⁄ ³ mal so lang wie ein Riese und misst 645 1⁄3 Ellen. Macht eine Armlänge ein Drittel der Körperlänge aus, kommt man auf 1936 Ellen als Größe des Teufels, von der sich wiederum die Größe der Hölle ableiten lässt, denn da die Brust auf Dreiviertel-Höhe liegt, überragt Luzifer den See um rund 500 Ellen – die innerste Eiszone muss also mindestens doppelt so breit sein. Auf halber Höhe liegt der Bauchnabel, der dementsprechend nicht nur den Mittelpunkt des Körpers, sondern auch der Welt markieren muss. An dieser Stelle schlägt die alte Vorstellung vom Nabel der Welt, dem Omphalos, durch, denn Dante setzt den Mittelpunkt der Welt keineswegs mit dem Bauchnabel gleich: Die 180°-Wende findet vielmehr an der Stelle statt, wo „der Schenkel / gerade in die breite Hüfte mündet“, also auf der Höhe des Geschlechts.252 Damit entsteht ein auch in vielen Proportionsstudien zu bemerkendes Oszillieren zwischen Nabel und Penis. Bei Vitruvs X-förmigem homo ad circulum und mittelalterlichen Mikrokosmosdarstellungen liegt das Zentrum im Nabel. Bei Leonardo da Vincis Überblendung mit dem homo ad quadratum springt der Mittelpunkt mit der Bewegung der Beine zwischen Bauch und Geschlecht (Abb. 31).253 Die Überschrift zu Cesare Cesarianos Vitruvmann von 1521 nennt den Nabel das „centrum naturalis“ des in den Kreis eingeschriebenen Priapus, dessen erigiertes Glied die Verbindung von Mittelpunkt und Schöpfungskraft anzeigt (Abb. 32).254 Diese Idealkörper erscheinen wie Ikonen des salomonischen Spruchs, wonach Gott „alles nach Maß, Zahl und Gewicht“ eingerichtet habe, und der humanistischen Überzeugung vom Menschen

251 

Vgl. Galilei, Dante, Opere, Bd. IX, S. 42: „… e perchè gli uomini ordinariamente sono alti otto teste, ancor che i pittori e gli scultori, e tra gli altri Alberto Durero, nel suo libro della misura umana, tenga che i corpi ben proporzionati devono esser 9 teste, ma perchè di sì ben proporzionati rarissimi si trovano, porremo il gigante dovere esser alto 8 volte più che la sua testa …“ (vgl. dazu Engel 2006, S. 140). 252  Dante 2007, I.34, Vers 76–77. 253  Vgl. Fehrenbach 2010, S. 175–176. 254  Vgl. Cesariano 1521/1969, S. 1969, fol. 50r.

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31.  Leonardo da Vinci, Uomo Vitruviano, 1489–1490, Venedig, Gallerie dell’Accademia, Inv. 228.

32. Cesare Cesariano, Di Lucio Vitruvio Pollione de architectura libri dece, Como 1521, Buch III, fol. 50r, Einsiedeln, Bibliothek Werner Oechslin.

als Maß aller Dinge – für Galilei offenbar auch der Hölle bzw. ihres anthropomorphen Herrschers Luzifer.255 Angesichts der Komplexität der Materie vertraut Galilei explizit auf die Verbindung von Stimme und Anschauung (la viva voce, accompagnando il disegno).256 Er wird seinen Vortrag folglich mit Zeichnungen begleitet haben, die auf einen Blick die Vorzüge von Manettis Modell sichtbar machen sollten. Schon Manetti war überzeugt, dass sich die Gestalt des Inferno nur mithilfe eines Grundrisses erschließe, „da das Auge bei solchen Dingen hilfreicher ist als das Ohr“ (Perché a simili cose serve assai meglio l’occhio che l’orecchio).257 Probleme bereitete ihm allerdings die maßstäbliche Abbildung der riesigen Abgründe, die er mit sechs Zeichnungen unterschiedlichen Maßstabs zu lösen suchte, in 255 

Vgl. Weish 11,20. Noch in seinen Aufzeichnungen zum Discorso intorno alle cose che stanno in su l’acqua aus dem Jahr 1612 notiert Galilei: „posuit Deus omnia in numero, pondere et mensura“ (Opere, Bd. IV, S. 52). 256  Galilei, Dante, Opere, Bd. IX, S. 32: „… oggi qui venuti siamo a tentare se, la viva voce, accompagnando il disegno, potesse, a quelli che comprese non l’hanno, dichiarare l’intenzione dell’una opinione e dell’altra …“ 257  Manetti, zit. nach Engel 2006, S. 81: „… ho caro che tu sia capace di questo disegno, perché egli è la chiave, senza la quale è quasi impossibile a intendere bene questo sito et figura dello inferno …“

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4. Dichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle

denen die „störenden“ Gestalten der Riesen und Luzifers am besten auszulassen seien.258 Auch wenn unklar bleibt, welche Bilder Galilei für seinen Vortrag verwendete, entstand ein Stich von Cornelius Galle nach einer Zeichnung Cigolis eindeutig unter dem Einfluss von Galileis Thesen.259 Die Inschrift folgt seinen Angaben für die Größe Luzifers und zeigt das Eis kugelförmig statt wie bei Vellutello als Scheibe (Abb. 33–34). Cigolis Entwurf stützt sich auf eine Zeichnung Giovanni Stradanos und weist Anklänge an Botticellis Großen Satan aus dem Berliner Dantezyklus auf (Abb. 35–36).260 Offenbar für ein Editionsprojekt wurde das Bild um ein Schema des Höllentrichters in Grund- und Aufriss sowie weitere Schriftfelder ergänzt. Die untere Inschrift erscheint invertiert, gleichsam als solle der Betrachter zum performativen Nachvollzug der 180°-Wende der Protagonisten am Mittelpunkt der Erde aufgefordert werden. Innerhalb des Eissees erscheinen die Verräter wie Splitter in einer Glaskugel, während die Verdammten im zweiten Ring nur bis zum Hals eingefroren sind. Wie die Hölle ein Pendant zum Paradies bildet, ist auch Luzifer ein pervertiertes Pendant der Trinität. Dantes Beschreibung des Teufels als geflügeltes dreiköpfiges Monstrum entsprechend zeigt schon das Höllenfresko in der Strozzikapelle in S. Maria Novella, wie Luzifers drei Mäuler die Erzverräter Brutus, Cassius und Judas zermalmen: „Dem Vordern [Judas] war viel schlimmer als das Beißen / Der Krallen Griff, denn oftmals ist der Rücken / von seiner ganzen Haut entblößt geblieben.“261 Der Krallengriff von Cigolis Luzifer gilt dagegen nicht den Verrätern, sondern dem Betrachter, der an einem unmöglichen, externen Blickpunkt dem Monster frontal gegenübersteht. Mit weit aufgerissenen Augen schaut der Teufel aus dem Bild heraus und greift nach dem Zuschauer, der sich durch Geometrie und Algebra doch gerade von dem Unbeherrschbaren zu distanzieren versucht hatte.262 Das ikonische Bild führt wieder ein, was das diagrammatische der Hölle zu nehmen suchte: die Angst. Immerhin hatte das Tridentinum die 1247 proklamierte Lehre vom Fegefeuer bestätigt und damit eine Vorstufe zur Hölle angenommen, deren Qualen gar nicht drastisch genug geschildert werden konnten, wenn es darum ging, die Gläubigen zum Zelebrieren von Seelenmessen und Sprechen von Fürbitten zu

258  Ebd., S. 83: „Et bisognerebbe lasciare in dietro e’ Giganti et Lucifero, perché guasterebbono ogni cosa.“ Zu Vincenzo Buonannis Diskussion der Illustrationsfrage vgl. Engel 2006, S. 160–161. 259  Vgl. Brunner 1999, S. 88 und 92–93. Anna Maria Petrioli Tofani hält Cigolis Luzifer für einen Entwurf zum Höllen-Intermezzo in Bargaglis Komödie La Pellegrina von 1589 (vgl. Petrioli Tofani 1975, S. 114–115). Die Übereinstimmung von Rossis Beschreibung der Bühnenfigur mit der Zeichnung GDSU 8951 F erklärt sich m. E. eher durch die gemeinsame Orientierung an Dante; eine theatrale Verwendung erklärt nicht die Einfügung von Grund- und Aufriss der Hölle (vgl. Rossi 1589, S. 53). 260  GDSU 273 S; vgl. Brunner 1999, S. 99–100. 261  Dante 2007, 34. 58–60. 262  Helmar Schramm hat Galileis Vortrag als „Dokument einer Übergangszeit“ gedeutet, in der ein distanzierter Blick den der Jenseitswanderer ablöst (Schramm 1995, S. 120).

98 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

33. Cigoli, Luzifer, braune Tusche auf Papier, Florenz, GDSU 123201 F.

34. Cornelius Galle nach Cigoli, Luzifer, Kupferstich, 26,2 × 19,3 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv. RP-P-1985-40.

animieren.263 1586 hatte Bellarmin die scholastischen Meinungen über das Purgatorium zusammengefasst und eine (in Trient vermiedene) Lokalisierung versucht, wobei er Vulkanausbrüche als Beweis für die unterirdische Existenz von Fegefeuer und Hölle ansah.264 In Galles Stich nach Cigolis Zeichnung allerdings wird die Angst durch die augenzwinkernde, Galileis Bauchnabelthese widersprechende Inschrift „centrum mundi“ um Satans Geschlecht ein Stück weit zurückgenommen und damit aller genauen Maße und Inschriften zum Trotz der Ernst des Unternehmens in Frage gestellt (vgl. Abb. 34). Es entsteht eine merkwürdige Dialektik von Mythos und Aufklärung, deren Absurdität darin besteht, dass die akribische Rekonstruktion und Vermessung der Hölle auf Angaben in einem fiktiven Text basieren – auch wenn der nicht unumstrittene Dante im Kuppelfresko des Florentiner Doms in die Reihen der Kirchenlehrer aufgenommen worden war.265

263  Sessio xxv, 3.–4.12.1563, Wohlmuth 2002, S. 774. Vgl. dazu die grundlegende Studie von Göttler 1996. 264  Vgl. Bellarmin, De Purgatorio, in: ders. 1586, coll. 586–590; vgl. dazu Zuccari 1990, S. 625. 265  Obgleich die Protestanten Dante vereinnahmt hatten, nahm Bellarmin ihn gegen Häresievorwürfe in Schutz; der Jesuit Carlo d’Aquino säuberte seine Übersetzung von antiklerikalen Spitzen (vgl. Ricci 1976, Sp. 967–968).

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4. Dichtung und Wahrheit: Die Vermessung der Hölle

35. Giovanni Stradano, Luzifer, 1587–1588, Florenz, GDSU 2739 F.

36. Sandro Botticelli, Großer Satan, 1490–1500, Metallstift und Feder auf Pergament, 63,5 × 46,8 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, Inferno XXXIV,2.

Obgleich sich Galileis Vortrag mit Brunner als „rhetorische Übung“, mit Bredekamp als „intellektueller Sport“ oder mit Peterson als „intellectual entertainment“ interpretieren lässt, muss der große Ernst der Debatte verwundern.266 Dem 24-jährigen Mathematiker ging es wohl primär darum, an einem beliebigen Gegenstand seine Geistesschärfe zu beweisen. Trotzdem verrät die Präzision viel über die intrinsische Verschränkung von Mathematik, Astronomie, Literatur und Theologie, die Cigolis Zeichnung wieder einzufangen suchte. In seinem Aufsatz mit dem suggestiven Titel „Galilei vermisst Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen“ stilisiert Durs Grünbein Galilei zum blinden Positivisten, den die Proportionen der Hölle mehr interessierten als die Leidensgeschichten ihrer Bewohner: „Schnell hat er die mythologischen Beträge, den theologischen Überschuss aus den Gleichungen herausgekürzt, nur noch von Trichtern, Kegeln und Zylindern ist die Rede.“267 Galileis Vorträge bilden für Grünbein deshalb einen Wendepunkt in der Geschichte des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft, an dem sich die Wege beider endgültig scheiden. Doch abgesehen von der langen Tradition der Debatte macht die mathematische Fingerübung Galilei keineswegs blind für die poetischen Qualitäten 266  267 

Brunner 1999, S. 149; Bredekamp 2007, S. 63; Peterson 2011, S. 228. Vgl. Grünbein 1996, S. 95.

100 II. Veritas historica: Sehen und Lesen

der Commedia, genauso wie Cigolis Zeichnung die Hölle nicht gänzlich entdämonisiert, sondern das Monster als Maßstab der in dem Diagramm verarbeiteten Größen vorführt. Gerade wenn man annimmt, dass Galilei anhand von Zeichnungen argumentierte und dazu seine spätere Zusammenarbeit mit Cigoli und Passignano betrachtet, erweist sich Grünbeins These von der Trennung von Wissenschaft und Kunst als falsch. Die in diesem Kapitel erörterten Auseinandersetzungen mit biblischen, historischen und fiktionalen Texten zeugen von einem intensivierten Bemühen um die veritas historica, das sich in Markern wie dem Triklinium, den Bruchstellen von Ramnusios Relief, dem Siegel auf dem Grab Christi oder den Cigolis Luzifer beigegebenen Höllendiagrammen manifestiert. Gleichzeitig aber zeigen die Beispiele auch die Grenzen des Konzepts: Jede bildliche Umsetzung erfordert Konjekturen, die systematische, strategische und ästhetische Probleme aufwerfen. Zudem gerät der Anspruch auf historische Wahrheit immer wieder in Konflikt mit Auftraggeberinteressen oder mit dem Wunsch nach emotionaler Identifikation, der häufig Anachronismen bevorzugt. Vor allem aber kollidiert der Anspruch mit der Tradition, der zentralen Kategorie der Kontroverstheologie. Denn die Bindung der Ikonographie an den Erkenntnisfortschritt bedeutete potentiell eine Infragestellung der traditionellen Gültigkeit der christlichen Kunst. Tatsächlich war es, mit Hecht, „undenkbar, die Bilderfrage oder die Kernbereiche der Ikonographie von antiquarischen Erkenntnissen abhängig zu machen.“268 Trotzdem bleibt die neue Sensibilität für Details bemerkenswert. Darüber hinaus aber kam der Bildkunst die Aufgabe zu, für die katholische Wahrheit selbst zu zeugen.

268

 Vgl. Hecht 2012, S. 385: „Historisierung relativiert. Hätte man die sakralen Bilder vielleicht in gewissen Abständen am ‚Stand der Forschung‘ anpassen sollen? Es war undenkbar, die Bilderfrage oder die Kernbereiche der Ikonographie von antiquarischen Erkenntnissen abhängig zu machen.“

III. Ver itas r evelata : Sehen und Gl auben

1. Lu x ver itatis : W ege zur Wahr heit Anders als die mühevoll aus Texten zu rekonstruierende veritas historica zeigt sich die veritas revelata, die offenbarte Wahrheit, selbst. Cigoli figuriert diesen Vorschein häufig in Form von Licht, das den Einbruch des Transzendenten in die irdische Sphäre anzeigt und „Wahrheitsfiguren“ wie Thaumaturgen, Märtyrer oder Visionäre auszeichnet.1 Spektakulär aufreißende Himmel werden gleichsam zu Cigolis Markenzeichen.2 Den Blick ins Licht als unmittelbaren Zugang zur Wahrheit im Gegensatz zum angelesenen, diskursiven Wissen der heidnischen Philosophen macht Cigoli zum Thema der im Auftrag des Senators Bartolomeo Corsini entstandenen Disputation der Hl. Katharina von Alexandrien in der Klosterkirche von S. Gaggio in Florenz (Abb. 37).3 Mit zum Licht erhobenem Gesicht spricht Katharina zu den fünfzig berühmtesten Philosophen Roms, die Kaiser Maxentius zusammengerufen hatte, um ihre christlichen Thesen zu widerlegen. Statt zu disputieren, hängen die Philosophen jedoch wie gebannt an Katharinas Lippen und geben mit ausladenden Gesten ihrer Bewunderung Ausdruck. Die vom gesprochen Wort besiegten Bücher liegen achtlos auf dem Boden. Ihre Besitzer werden in der Folge konvertieren und dafür auf dem Scheiterhaufen enden, der im Hintergrund bereits brennt. Eine von Baldinucci besonders gelobte Gegenlicht-Figur trägt Holz für den Scheiterhaufen herbei.4 Ihre Überzeugungskraft verdankt Katharinas Rede offen1 

Zum Begriff der „Wahrheitsfigur“ vgl. Kleeberg/Suter 2014, S. 220–222. Ein ähnlicher Einsatz von Licht findet sich auch bei anderen Malern seiner Generation, v. a. bei Jacopo da Empoli, etwa in seiner Verkündigung in S. Trinita in Florenz von 1603. 3  Zur Datierung vgl. Faranda 1986, S. 151, Nr. 59 und Matteoli 1980, S. 187–188, die die ersten Entwürfe auf die Zeit vor 1596 datiert. Cigoli leitete die Renovierungsarbeiten der Kirche, die 1603 abgeschlossen waren. Das Tondo über dem Altargemälde zeigt Katharinas Mystische Hochzeit. 4  Baldinucci 1812, IX, S. 112: „È bellissima un’architettura, che fa campo scuro alle figure, ed è cosa vaga a vedersi il passare che fa per un’apertura una tale persona, in atto di portare quelle legna, che dovevano essere istrumento del martirio della Santa.“ Contini leitet die Figur von einem Schergen in 2 

102 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

sichtlich göttlicher Inspiration, die Cigoli in einer Vorzeichnung durch ein Kruzifix, im Gemälde allein durch das Licht und die Putti anzeigt.5 Cigolis Augenmerk auf das Licht wird besonders in einer collagierten Vorstudie deutlich, die im Vordergrund einen zum Licht bekehrten Philosophen zeigt (s. Bucheinband).6 Das Licht berührt und modelliert jeden Körper, jede Oberfläche des Blattes; im Gemälde animiert und aktiviert es die leuchtenden Farben der Gewänder. Die Gegenüberstellung von Licht und Büchern erscheint wie ein negativer Reflex auf die Lehre von der „doppelten Wahrheit“, derzufolge manche Wahrheiten in der Philosophie richtig, in der Theologie hingegen falsch sein konnten und umgekehrt.7 Neue Virulenz hatte die im 4. Jahrhundert entwickelte Lehre mit den Schriften Pietro Pomponazzis erhalten, der die Vernunft darüber hinaus für überlegen erklärte, weil sie anders als die Theologie nicht nur wahrscheinliche, sondern auch apodiktische Wahrheiten erkennen könne.8 1513 wurde die Duplex-Veritas-Lehre vom Fünften Laterankonzil offiziell verurteilt, und noch Galilei betonte in seinem Brief an Cristina di Lorena 1615 die Einheit der Wahrheit.9 Bei Cigoli stehen die Wahrheiten der Philosophie und der Offenbarung nicht gleichwertig nebeneinander. Der Paragone wird durch die Lichtführung, Katharinas erhöhte Position und die Vernachlässigung der Bücher zugunsten der christlichen Lehre entschieden. Die Katharinendisputation als Sieg des wahren Wortes über die Heiden eignete sich vorzüglich als Motiv im reformatorischen Glaubensstreit. Explizit wird dies auf der Rückseite des 1572 entstandenen Hochaltars des Ingolstädter Liebfrauenmünsters von Hans Mielich, der den spätantiken Philosophen die Gesichtszüge von Professoren, Geistlichen und Verwaltungsbeamten verlieh.10 Anlässlich des Universitätsjubiläums in Auftrag gegeben, feiert der Altar Herzog Albrecht V. und die Professoren als Vorreiter der Rekatholisierung in Bayern. Gleichzeitig aber traf der in der Katharinendisputation inszenierte Gegensatz von Wissen und Offenbarung einen Kern der protestantischen Theologie: „Die göttliche Weisheit“, so der pietistische Mediziner und Kabbalist Heinrich Khunrath, „ist ein Licht, das keine menschliche Philosophie zu verdunkeln vermag.

Baroccis Vitalis-Martyrium in Ravenna (heute Brera) ab und verweist auf Katharinas Ähnlichkeit mit Rubens’ Helena für S. Croce in Gerusalemme in Rom (heute Grasse); vgl. Contini 1992, S. 76. 5  GDSU 9030 F, 380 × 240 cm; vgl. Chappell 1992, S. 107, Abb. 62a. GDSU 8851 F vereint auf einem Blatt Skizzen zur Katharina, zur Ermordung Siseras und zu Petrus Martyr, was auf eine Entwicklung der Komposition vor 1598 schließen lässt (vgl. Faranda 1986, S. 152, Nr. 59a). 6  GDSU 8959 F, 427 × 282 cm; vgl. Chappell 1992, S. 108, Nr. 63. In einem in Rom aufbewahrten zweiten Ausschnitt der quadrierten Zeichnung sind die Gewänder mit Farbvermerken versehen (ICG F.C. 125618; vgl. Chappell 1992, S. 103). 7  Vgl. Pine 1968 und Bianchi 2008, S. 20–21. 8  Vgl. Pine 1968, S. 174. 9  Vgl. Bianchi 2008, S. 149. Ausführlicher zu Galileis Brief in Kap. IV.2. 10  Vgl. Wimböck 1998, S. 84.

103 1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit

37. Cigoli, Disputation der Hl. Katharina von Alexandrien, um 1603, Öl auf Leinwand, 410 × 260 cm, Florenz, S. Caterina d’Alessandria.

104 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

38. Anonym, Zweierlei Licht, Imprese, in: Georgette de Montenay, Emblemata Christiana, Zürich 1584, S. 93.

39. Anonym, Lumine Carens, Imprese, in: ebd., S. 55.

Das höchste, reinste und unbefleckte Licht ist Gott, das wahre Licht Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, das Licht und Leuchten der Weisheit ist der Hl. Geist.“11 Die Reformation hatte die christliche Lichtmetaphorik und den Gegensatz zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Vernunft bzw. Sonne und Fackel zum festen Bestandteil ihrer Bildrhetorik gemacht. Eine Imprese mit dem Motto „Quid vero agis“ in den Emblemes ou devises chrestiennes der französischen Protestantin Georgette de Montenay zeigt einen Mann, der unter den resigniert geschlossenen Augen der Sonne eine Fackel durch den helllichten Tag trägt (Abb. 38). Die Devise räsoniert: „Es ist dumm, inmitten des Lichts (lumen) ein Licht (luce) anzuzünden, / und dem hellen Sonnenlicht eine Fackel hinzuzufügen.  / Die Gebote Christi sind von selbst klar  / und brauchten niemals menschliche Hilfe“.12 Noch deutlicher wird die französische Fassung,

11 

Khunrath 1609, S. 32 und 38: „Sapientia Dei Lux est, quam nulla humana Philosophia obfuscare potest; Summa, purissima, immaculata Lux Deus est, Lux vera Christus est, & Sol Iustitiae; Lux & Lumen Sapientiae, Spiritus sanctus est: Lux est Angelus, Lux est veritas, vita, laetitia …“ 12  Montenay 1584, S. 93: „Stultum est in media lumen succendere luce: / Et sudo soli iungere velle facem. / Per se clara patent Christi præcepta, nec umqua[m] / Humani fuerunt indiga subsidij.“ Dieselbe Metapher verwendet Giorgio Coresio, als er Galilei vorwirft, Aristoteles belehren zu wollen: „Volendo insegnare il Galilei ad Aristotile i principî, [pare che] vada cercando di portar la luce al sole“

105 1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit

40. Tobias Stimmer, Lichtmücken, Holzschnitt, in: Johann Fischart, Binenkorb des Heyl, Christ­lingen [Straßburg] 1579, S. 246.

die den Fackelträger mit den katholischen „Häretikern“ gleichsetzt, die sich anmaßen, „den heiligen Schriften Autorität zu verleihen, um sie authentisch zu machen“, obgleich sie solch vermeintlicher Erhellung gar nicht bedürften.13 Der gleiche Vorwurf trifft Philosophen, die mit ihren Theorien die christliche Wahrheit verdunkeln wie die Sonne auf dem Arm des in einem anderen Emblem dargestellten Gelehrten (Abb. 39).14 Der eigentliche Drahtzieher im Kampf um das Licht ist der Teufel, doch Gott, so heißt es im Text zum 72. Emblem, habe das Licht der Wahrheit so hoch gehängt, dass es trotz allem in die ganze Welt strahle.15 Dieses Vertrauen in die Macht der Wahrheit spricht auch aus einer polemischen Abbildung in Johann Fischarts Binenkorb des Heyl aus dem Jahr 1579, in der das Licht der personifizierten Wahrheit groteske Insektenmenschen anzieht, die durch ihre Kleidung als Mitglieder des katholischen Klerus ausgewiesen sind, der den Zugang (Coresio 1612/1894, S. 220; vgl. de Ceglia 2000, S. 425). Zu Augustinus’ Bild des Menschen als am gött­ lichen Licht entzündete Laterne, vgl. Blumenberg 1957, S. 440. 13  Ebd., S. 92: „Rien ne voyons si clair que le Soleil, / Et cestuy veut sa clarté augmenter: / Ainsi font ceux vn erreur tout pareil, / Qui osent tant encore se vanter, / Qu’ils ont voulu authorité prester / Aux saints escrits pour les rendre authentiques, / Et du Soleil les forces augmenter: / Mais tel erreur loge en cœurs heretiques.“ 14  Ebd., S. 54: „Voicy qui veut que preud’homme on le pense / Pour son habit, monstrant simplicité. / Verité cache, & n’y a apparence / Qu’en son soleil ait rien qu’obscurité. / Ainsi en vain d’avoir Christ s’est vanté / Tout mal vivant, se nourrissant en vice: / Christ vray soleil n’est iamais sans clarté …“ 15  Ebd., S. 71–72.

106 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

zur Wahrheit zu monopolisieren versucht, obwohl er sie falsch interpretiert (Abb. 40).16 All jene „finstern Geyster / die der Schrifft wollen sein eyn Meyster“, fliegen „wie Liechtmucken“ auf die leuchtende Wahrheit zu; dabei tragen sie jedoch Masken, denn „die Warheyt mit irer Klarheyt / Plend all Beschirmer der Unwarheyt“.17 Ein Flugblatt zum 100-jährigen Jubiläum des Thesenanschlags feiert dagegen unter der Überschrift „Christo Soteri Veritatis Vindici, Lvcis Evangelicae Restitvtori Tenebrarum depulsori …“ die Wiederherstellung des Lichts des Evangeliums und die Vertreibung der Schatten durch Luther, Melanchthon und die protestantischen Landesfürsten.18 Doch sosehr sich beide Seiten bemühen, durch die Hell-Dunkel-Metaphorik klare Grenzen zwischen richtig und falsch zu ziehen, erweckte schon die bloße Zahl der Optionen nicht nur bei Philosophen19, sondern auch bei einfachen Menschen wie Ginzburgs Müller Menocchio Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit der Wahrheit: „… ich glaube, dass jeder glaubt, sein Glaube sei gut, aber man weiß nicht, welches der gute sei.“20 Solche Pluralisierung, wie auch die protestantische Anmaßung individueller Bibellektüre als Zugang zum Licht, glaubte die katholische Kirche unterbinden zu müssen. In Cigolis Katharinendisputation wird der Vorrang der einen christlichen Wahrheit gegenüber den schon durch ihre bloße Vielzahl diskreditierten philosophischen Meinungen durch die Gegenüberstellung der auf dem Podest isolierten, vom Licht geheiligten Katharina mit der heterogenen Gruppe von Philosophen unterschiedlichen Alters und Habits sinnfällig. Die katholische Kirche erhob den alleinigen Anspruch auf die Auslegung der Offenbarung, ihre Dekrete galten als veritas revelata, weil sie, wie Bellarmin in den Kontroversien ausführt, als alleiniges Sprachrohr des Hl. Geistes, des spiritus veritatis, unfehlbar sei: „Ecclesiam absolute non posse errare.“21 Allein in der katholischen Kirche gebe es demnach „wahren Glauben, wahren Kult, wahre Vergebung der Sünden und wahres Heil“.22 Die Wahrheit verteile sich entsprechend einer hierarchischen Struktur, an deren Spitze der Papst stehe. In seiner eigenen Katharinendisputation nennt Bellarmin fünfzehn Indikatoren für die Wahrheit der vera ecclesia:23 1. ihre traditionelle Bezeichnung als ‚katholisch‘; 2. ihr Alter; 3. ihre Kontinuität; 4. ihre weltweite Ausbreitung; 5. und 6. die ungebrochene 16 

Schon Franz von Assisi mahnte „… aus Liebe zu dem irdischen Licht, das wir nun mit den Mücken gemein haben, nicht von dem Schauen des ewigen Lichtes [zu] lassen“ (de Voragine 1963, S. 837). 17  Fischart 1579, S. 246–247. 18  Hans Troschel sculp., Nürnberg 1617, Universitätsbibliothek Frankfurt. 19  Grundlegend zur Einstimmigkeit als Wahrheitskriterium vgl. Oehler 1961 und Kap. VI.1. Schon Marsilio Ficino reflektiert über die Vielzahl an Theorien, die zwar alle auf eine Wahrheit bezogen seien, aber die Erkenntnissuche unendlich verlängern (vgl. Schröder 2003, S. 382). 20  Ginzburg 2007, S. 143. 21  Bellarmin 1870, Bd. II, III.14, S. 349. 22  Ebd., IV.1, S. 361: „… in sola vera Ecclesia esse veram fidem, veram peccatorum remissionem, veram spem salutis aeternae …“ 23  Vgl. ebd., IV, S. 361–407.

107 1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit

41.  Pasquale Cati, Das Konzil von Trient, 1588, Fresko, 375 × 350 cm, Rom, S. Maria in Trastevere, Cappella Altemps.

genealogische Linie seit den Aposteln und der alten Kirche;24 7. die Einstimmigkeit ihrer Mitglieder unter sich und mit ihrem Oberhaupt; 8. und 9. die Heiligkeit und Wirksamkeit der Doktrin (also jene efficacia doctrinae, die zur Konversion von Katharinas Zuhörern führte25); 10. das heiligmäßige Leben der Kirchenväter;26 11. die Wunder;27 12. das Licht der Weissagung (lumen propheticum); 13. die Kraft zur Bekehrung der Gegner der Kir-

24 

Vgl. ebd., IV.8, S. 374 und IV.9, S. 379. Vgl. ebd., IV.11, S. 390: „Octava Nota est Sanctitas doctrinae. Vera enim Ecclesia non solum est Catholica, Apostolica, una, sed etiam sancta, ut habet Symbolum Constantinopolitanum. Constat autem sanctam dici Ecclesiam, quia professio ejus est sancta, nihil continens falsum quoad fidei doctrinam, nihil iniustum quoad doctrinam morum.“ Und IV.12, S. 392: „Sola enim vera Ecclesia habet doctrinam, non solum immaculatam, sed etiam convertentem animas, ut dicitur Psalm. 18, et sermonem vivum penetrantem usque ad divisionem animae, ac spiritus …“ 26  Vgl. ebd., IV.13, S. 394. 27  Vgl. ebd., IV.14, S. 396: „Undecima nota est Gloria miraculorum.“ 25 

108 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

che; 14. das unglückliche Ende ihrer Unterdrücker und 15. die irdische und göttliche Glückseligkeit ihrer Verteidiger.28 Viele dieser Belege präsentiert Pasquale Cati 1588 in seinem Fresko des Konzils von Trient auf der linken Seitenwand der Cappella Altemps in S. Maria in Trastevere in Rom (Abb. 41).29 Vor dem Amphitheater thront die mit der Papstkrone geschmückte Ecclesia inmitten ihrer personifizierten Eigenschaften wie Fortitudo, Caritas und Fides. Ihr Kampf ist bereits gewonnen, stolz ignoriert sie die sich zu ihren Füßen windende Allegorie des Unglaubens. Katholizität und Universalität der Kirche werden durch den Erdball figuriert, ihre Anciennität durch das weiße Haar, die Autorität der Schriftauslegung durch die aufgeschlagenen Bücher. Eine Konkretisierung erfährt die Allegorie in der Konzilsgemeinde, deren hierarchische Struktur durch die auf einem Podest platzierten Kardinäle unter dem Wappen des Medicipapstes deutlich wird. Legitimiert wird die Versammlung jedoch nicht nur durch die Autorität von Kirche und Politik, sondern auch durch den Heiligen Geist, der in Form einer Taube in einer Lichtwolke erscheint und die Wahrheit der Konzilsbeschlüsse garantiert. Licht ist die wohl wichtigste Metapher für Wahrheit.30 Gerade in der Malerei aber wird das, was das Licht als Metapher so geeignet macht, evident, denn es ist hier zugleich Objekt und Bedingung der Repräsentation. Laut Thomas von Aquin, der 1567 zum Kirchenvater ernannt wurde, verhält sich die erste Wahrheit zum Glauben wie das Licht zum Sehen: „Das Licht aber ist in gewissem Sinn Objekt des Sehens und in gewissem Sinn nicht. Sofern nämlich das Licht für unser Sehen nur fassbar ist, wenn es sich mit einem begrenzten Körper durch Brechung oder sonst wie verbindet, kann man sagen, dass es an sich nicht Objekt des Sehens ist, sondern vielmehr die Farbe, die immer einem begrenzten Körper angehört: Sofern aber alles nur durch das Licht gesehen werden kann, wird das Licht selbst sichtbar genannt, wie der Philosoph [Aristoteles] sagt; und in diesem Sinn ist die erste Wahrheit an sich Objekt des Glaubens.“31 In Cigolis Lichtschneisen wird die lux veritatis, in den leuchtenden Farben, Gewändern und Gesichtern ihr Abglanz sichtbar. Die Identifikation Christi mit dem Licht und die Hierarchie der Erkenntnisquellen werden besonders in Cigolis Darstellungen der Geburt Christi deutlich. In seiner Anbetung der Hirten in S. Francesco in Pisa aus dem Jahr 1602/1604 strahlt im nächtlichen Stall ein goldenes, an den Rändern rosa gefärbtes Licht, das von jubilierenden Putti umkränzt wird (Abb. 42).32 Auf den Glanz am Himmel antwortet das nackte Neu-

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Zur „foelicitas temporalis“ der Verteidiger der Kirche vgl. IV.18, S. 406–407. Vgl. Friedel 1978 und Torresi 1975/76. 30  Vgl. Blumenberg 1957. Zum Einsatz von Licht zur Herstellung von Evidenz vgl. Rößler 2012, bes. S. 21–24 und 97–105. 31  Thomas von Aquin, De veritate, qu.14, art. 8 (2008, S. 410), vgl. Aristoteles, De anima II, § 67–68. 32  Gemalt im Auftrag der Familie Nerucci. Vgl. Faranda 1986, S. 149, Nr. 54. 29 

109 1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit

42. Cigoli, Anbetung der Hirten, dat. 1602, Öl auf Leinwand, 363 × 235 cm, Pisa, S. Francesco.

geborene als „Licht vom Lichte“ (lumen de lumine, Deum verum de Deo vero), das von beleuchtetem Stroh wie von einem Strahlenkranz umgeben ist.33 Sein Licht wirft Glanz auf Maria und die herantretenden Hirten. Einen Gegenpol zum göttlichen Licht bildet die Fackel der Hirten, die ihnen den Weg nur deshalb weisen konnte, weil der Stern von Bethlehem, der im Zentrum eines Lichtkegels steht, die Richtung vorgab. Der links über der Fackel schimmernde Mond markiert nicht nur den Gegensatz zu dem mit der Geburt beginnenden ‚Tag‘ (laut dem Jesuiten Ludovico Maselli leuchtet das Kind „wie die Sonne bei Sonnenaufgang“), sondern steht auch eine Stufe niedriger in der Himmelshierarchie, weil der Mond das Licht der Sonne nur reflektiert.34 33  34 

Konzil von Trient, Sessio III, 4.2.1546, Wohlmut 2002, S. 662. Vgl. Schöne 1954, S. 112 und 126. Maselli 1610, S. 278.

110 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Der Einsatz unterschiedlicher Lichtquellen in Nachtstücken war seit dem frühen 16. Jahrhundert verbreitet.35 Insbesondere Correggio hatte die Beleuchtung des Stalls durch das Eigenlicht des Kindes in der Dresdener Anbetung zur Meisterschaft gebracht.36 Lomazzo unterscheidet darin vier verschiedene Lichtarten: Sonnenlicht, übernatürliches, künstliches und sekundäres (also reflektiertes oder gebrochenes) Licht.37 Vasari erklärt, er selbst habe für seine Geburt Christi in Camaldoli das Strahlen des Kindes durch den Glanz der Engel, brennende Strohgarben, den Mond und den Stern ergänzt.38 Bezüglich Giovanni Battista Naldinis spätmanieristischer Geburt Christi in S. Maria Novella in Florenz lobt Bocchi das Licht der Engel, das „große Kraft des Wahren“ (gran forza di vero) besitze, um das Evangelium „vor Augen zu stellen“.39 Das Licht wird zum Medium jener Evidenz, die unter dem Begriff der enargeia verhandelt und für die Wirksamkeit von Bildern verantwortlich gemacht wurde.40 Was Vasari als Ausweis seiner Kunstfertigkeit und originelles Mittel zur realistischen Beleuchtung beschreibt, dient zwar auch bei Cigoli der Vorführung seiner Virtuosität, wird aber metaphysisch aufgeladen. Die transzendente Wahrheit tritt in seinen Bildern oft wie ein Lichtpfeil ins Dunkel. Seine Licht­ trichter sind künstlerisches Mittel und göttliches Zeichen der Offenbarung zugleich. Aufreißende Himmel kannten Cigoli und sein Publikum nicht zuletzt aus dem Theater. Eindrücklich beschreibt beispielsweise Bastiano de’ Rossi 1589 die Abschlussszene der von Buontalenti entworfenen intermezzi der Oper La Pellegrina, in der sich die Himmel öffnen, den Blick auf die Götter freigeben und die Bühne in strahlendes Licht tauchen.41 Dass dem Licht Cigolis besondere Aufmerksamkeit galt, zeigt auch eine in München aufbewahrte Studie für eine Anbetung, in der die leuchtenden oder angestrahlten Partien auf dem gebläuten Papier weiß gehöht und mit Schlagschatten ergänzt sind, wodurch ein

35 

Vgl. z. B. Lorenzo Monaco: Predella des Verkündigungsaltars, um 1420, Florenz, S. Trinità und Salimbeni/Gentile da Fabriano: Predella der Pala Strozzi, 1423, Uffizien. Die These Eileen Reeves’, derzufolge Cigoli mit dem grünlich-grauen Schimmer des Mondes bereits auf das „sekundäre“, also von der Erde zurückreflektierte Licht anspielte, erscheint vor dem Hintergrund dieser Tradition fragwürdig, zumal das Problem erst ab 1605 breiter diskutiert wurde (vgl. Reeves 1997, S. 46–51). 36  Vgl. Steinhardt-Hirsch 2008, S. 71 und 122–128. 37  Vgl. Lomazzo 1584, IV.4–11, S. 217–223; vgl. dazu Hecht 2003, S. 207. 38  Öl auf Holz, 207 × 150 cm, 1538, Camaldoli, SS. Donato e Ilariano; vgl. Vasari 2005b, S. 27–28. 39  Bocchi 1591, S. 111: „La luce intorno à gli Angeli per lo contrario del grande scuro della notte hà gran forza in se di vero di porre innanzi à gli occhi, anzi di recar altrui nella mente quello, che è scritto nel Vangelo.“ Vgl. dazu Frangenberg 1986, S. 143. 40  Vgl. von Rosen 2000, S. 178. 41  Rossi 1589, S. 60: „… ecco s’apre il Cielo, per entro al quale nel più alto luogo si vedevano a concistoro gl’Iddei […] il [Cielo] apertosi, ricoperse di solari raggi tutta la scena, il cui splendore, se non fosse stato adumbrato da alcuni vapori, l’occhio non avrebbe già egli potuto sostener lunga fiata la forza di quella luce…“ Zur Inszenierung von Wolken in Kunst und Theater vgl. Buccheri 2003.

111 1. Lux veritatis: Wege zur Wahrheit

43. Cigoli, Anbetung der Hirten, braune Tusche und Bleistift auf gefärbtem Papier, 26,1 × 21,3 cm, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. 1061 Z.

starker Chiaroscuro-Effekt entsteht (Abb. 43).42 Die Beleuchtung von unten, die Farbenspiele auf Marias Schleier und die Schlagschatten ihrer Hände zeigen deutlich, dass das Licht von dem Kind ausgeht. In der heute im Metropolitan Museum aufbewahrten Fassung des Gemäldes von 1599 ist das göttliche Licht durch ovale, aus Putti gebildete Ringe begrenzt. Die dunklen Wolken öffnen sich mit weichen Farbspielen zum Kind (Abb. 44).43 Das rosige Licht findet seinen Widerschein in dem grün-violett schillernden Kopftuch Marias, die das Kind in dieser Version nicht anbetet, sondern durch das Heben der strahlend weißen Windel enthüllt, während der greise Joseph seinen Gedanken nachhängt.44

42 

Vgl. Zeitler 2012, Nr. 34, S. 98–99. Eine weitere Fassung findet sich im Santuario di Montesenario, eine andere in S. Maria Misericordia in Massa. In der Fassung im Wadsworth Atheneum Museum of Art in Hartford erinnern zwar die Gesichter an Cigoli, die steife Komposition scheint jedoch gegen seine Autorschaft zu sprechen. 44  Molanus’ Forderung, Josef als jungen custos zu zeigen vgl. Molanus 1570, Kap. 62, fol. 115; Borromeo plädiert explizit gegen die veritas historica für die Beibehaltung der Tradition (vgl. Borromeo 43 

112 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

44. Cigoli, Anbetung der Hirten, 1599, Öl auf Leinwand, 404 × 267 cm, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. 1991.7.

Die seit dem 16. Jahrhundert verbreitete Entschleierungsgeste ist eine symbolische Form der revelatio der Wahrheit. Denn schließlich, so heißt es in Pierre Charrons Trois veritez contre tous Athees von 1594, widerspreche nichts dem Wesen des Lichts so sehr, wie es zu verbergen: „Dem Licht ist es eigen sich zu zeigen, denn die Wahrheit ist das Licht, das die Dinge entdeckt und sie zeigt, wie sie wahrhaft sind.“45 Die lux veritatis offenbart sich 1624, I.8, S. 28). Die Revelatio-Geste findet sich um 1550 bei Giulio Bonasone, wenig später auch bei Tizian, Veronese und in Vasaris Geburt Christi in der Villa Borghese. Fritz Saxl erwähnt ein Marcello Venusti zugeschriebenes Gemälde im Ashmolean Museum, in dem die revelatio-Geste durch ein Buch mit der Inschrift Veritas de terra orta est, et iustitia de coelo prospexit komplementiert wird (vgl. Saxl 1963, S. 217). 45  Charron 1594, S. 363–364: „Il n’y a rien si ennemy & contraire à la lumière, que d’estre cacher. C’est contre nature de cacher lumiere, & pour dire le vray la lumiere peut bien estre esteinte & amortir, & ne sera plus lumière: mais ne scauroit estre cachée car estant lumière elle se fait voir. Or la verité est la lumière, qui descouvre & faict voir les choses au vray ce qu’elles sont. Ce que le Soleil est au corps, la vérité est à l’esprit.“ Vgl. Leinkauf 2002, S. 60 und 2008, S. 106.

113 2. Beweise: Wunder

selbst, zuweilen durch den Brennspiegel von Redner/innen, Wundertäter/innen, Märtyrer/innen und Visionär/innen. Sie alle treten als „Wahrheitsfiguren“ auf, die – in Lichtinszenierungen eingebunden – durch Worte, Taten, Blut und Schau Zeugnis ablegen und Beweise für die eine Wahrheit liefern.

2. Bew eise : W under Wunder stehen auf Platz 11 von Bellarmins Liste der Indikatoren der Wahrheit der vera ecclesia. Werner Weisbach nennt Wunder den „eigentlichen Hauptgegenstand für die Kunst der Gegenreformation“.46 Ihr Sinn ist es, neue Gläubige zu gewinnen und immer wieder zu beweisen, dass die Wahrheit auf Seiten der Katholiken liegt.47 Während sich die Philosophen durch Katharina von Alexandrien allein durch Worte bekehren lassen, bedarf es für die meisten Ungläubigen sichtbarer Zeichen. Bellarmin erinnert daran, dass Gott Mose seine Wunderkraft erst nach dessen Klage über den Unglauben des Volkes verliehen habe, das nicht auf seine Stimme hörte und deshalb visueller Beweise bedurfte.48 Das Konzil von Trient hatte die Bedingungen für die Anerkennung von Wundern verschärft. Fortan musste jeder Bericht von dem zuständigen Bischof mittels eines stan­ dardisierten juristischen Verfahrens authentifiziert und vom Papst bestätigt werden. „Post-Tridentine miracles“, so Peter Dear, „were no longer matters of local tradition or word-of-mouth accreditation; they were legal constructs“.49 Dabei war nicht nur zwischen wahren Wundern und abergläubischen Überlieferungen, sondern – ähnlich wie bei Visionen – auch zwischen außer- und übernatürlichen Wundern zu unterscheiden. Immer wieder finden sich Warnungen vor falschen Wundern, denn auch Satan vollbringt Taten, die über das menschliche Wissen hinausgehen, stets jedoch auf natürlichen Ursachen beruhen.50 Die discretio spirituum setzt folglich ein Wissen um das in der Natur Mögliche voraus.51 Trotzdem blieb ein logischer Zirkel, den wohl niemand schärfer formuliert hat als Pascal: „Die Wunder dienen der Unterscheidung der Lehre und die Lehre 46 

Weisbach 1920, S. 38. Bellarmin 1870, Bd. II, IV.14, S. 396: „Undecima nota est Gloria miraculorum; sunt autem duo fundamenta praemittenda. Unum, quod miracula sint necessaria ad novam fidem, vel extraordinariam missionem persuadendam. Alterum, quod sint efficacia, & sufficientia, nam ex priore deducemus non esse apud adversarios veram Ecclesiam: ex posteriore deducemus eam esse apud nos.“ 48  Ebd.: „Quod igitur miracula sint necessaria probatur primo Scripturae testimonio. Exod. 4. cum Moses mitteretur a Deo ad populum, ac diceret: Non credent mihi, neque audient vocem meam. Non respondit Deus, debent credere, velint nolint, sed dedit illi potestatem faciendi miracula, et ait: Ut cre­ dant, quod apparuerit tibi Dominus, etc.“ 49  Dear 1990, S. 670. 50  Vgl. Daston 2003, S. 36–37 und Dear 1990, S. 672. 51  Dear 1990, S. 679. 47 

114 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

45. Cigoli, Petrus auf dem Wasser, 1599, Öl auf Leinwand, 254 × 167 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. 1819/8686.

dient der Unterscheidung der Wunder. Es gibt falsche und wahre. Man braucht ein Merkmal, um sie zu erkennen, andernfalls wären sie nutzlos.“52 Trotz oder gerade wegen solcher Vorbehalte wurden Darstellungen biblischer und durch alte oder neue Heilige gewirkte Wunder jedoch kaum seltener. Solche Bilder fungierten als Motoren von Kanonisierungskampagnen, versprachen Hilfesuchenden Beistand und wirkten Anflügen von Skepsis entgegen. Cigolis Wunderdarstellungen spielen den Glauben gegen den Zweifel aus und zeigen neben dem übernatürlichen Ereignis immer auch dessen enargeia, die in der Wirkung auf die Anwesenden sichtbar wird. Wunder bewirken Verwunderung, oft sogar Konversionen. Neben dem ungläubigen Thomas ist der kleingläubige Petrus auf dem See Genezareth der paradigmatische Zweifler. Beiden ist gemein, dass sie weder den Worten Christi noch ihren Augen trauten und die Realität seines Körpers in Frage stellten. Was Thomas 52 

Pascal 2000, Bd. II, S. 824: „Les miracles discernent la doctrine et la doctrine discerne les miracles. Il y a de faux et de vrais. Il faut une marque pour les connaître, autrement ils seraient inutiles.“ Vgl. dazu Dear 1990, S. 672. Ein Wunder wird Pascal 1656 bezeugen: die mirakulöse Heilung seiner Nichte durch die Berührung mit einem Fragment der Dornenkrone (vgl. Pascal 1998, Bd. I, S. 3–6).

115 2. Beweise: Wunder

46. Alessandro Allori, Petrus auf dem Wasser, 1590er Jahre, Öl auf Kupfer, 47 × 40 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/1549.

durch Berührung prüft, testet Petrus, indem er Christus auffordert: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme“ (Mt 14,28). Sein ‚Sprung‘ in den Glauben – der Schritt auf das Wasser – wird ein zweites Mal infrage gestellt, als ihn nach einigen Schritten Furcht überkommt: „Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen“ (Mt 14,30). Cigoli zeigt den Apostel in seinem Gemälde für die Pfarrkirche von Riottoli bei Empoli 1599 just im Moment nach seinem Zweifel. Schon hat Christus die Hand ausgestreckt, schon blickt Petrus mit feuchtglänzenden Augen vertrauensvoll zu ihm auf und hebt das rechte Knie aus dem Wasser (Abb. 45).53 Komposition, Gestik, Stoffe und Meereshintergrund ähneln Baroccis Petrus auf dem

53 

Vgl. auch GDSU 9016 Fv und 8821 F. Matteoli bestreitet die Identifikation dieses Gemäldes mit dem bei Cardi und Baldinucci erwähnten Altarbild für eine Kirche bei Empoli bzw. in Riottoli, das im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sein soll (vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 110–111; Matteoli 1980, S. 213, 369; dies. 1985, S. 24 und Faranda 1986, S. 142, Nr. 40). Chiarini vermutet, dass das Bild von Cigolis Privatlehrer, Sebastiano Coccoli, gen. Morellone, in Auftrag gegeben wurde (vgl. Chiarini 1992, S. 97). Gestochen wurde das Gemälde von Giovacchino Contini und Luigi Calamatta (GDSU 95266 und 7462).

116 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Wasser im Casino Pio IV. und seiner Berufung Petri in Brüssel.54 Noch größere Ähnlichkeit aber besteht zu Alessandro Alloris Kupfertafel in den Uffizien aus dem 1590er Jahren (Abb. 46). Gegenüber dieser kleinen Tafel ist die Geste Christi bei Cigoli fürsorglicher geworden. Statt aufrecht zu dozieren, neigt er sich milde zu Petrus hinunter, während seine Linke den kostbaren Stoff seines Gewandes nach oben rafft. Cigolis wichtigste Veränderung gegenüber dem Bild seines Lehrers ist jedoch die Inversion der Komposition, die den Moment der Rettung unterstreicht, indem sie die Leserichtung des Betrachters berücksichtigt und mittels der aufsteigenden Diagonale einen Zug nach oben suggeriert. Die dominierenden Stofffarben übernimmt Cigoli von Allori, doch verleiht er besonders Petrus durch den prachtvollen Umhang ein größeres Volumen und eine (freilich auch dem anderen Format geschuldete) Monumentalität. Die beiden Figuren dominieren die gesamte Bildfläche, das Boot verschwindet im Hintergrund. Der sich am Horizont ankündigende Morgen hat (wie in Cigolis Auferstehung in Arezzo) die doppelte Funktion, zugleich die Tageszeit und den übernatürlichen Charakter des Geschehens anzuzeigen. Cigolis Schüler Cristofano Allori gelingt durch die Vierteldrehung des Apostels zur Bildebene eine weitere Dramatisierung der Episode. In seinem Gemälde in der von Cigoli entworfenen Cappella Usimbardi in S. Trinita in Florenz zeigt Allori den bis zur Leiste versunkenen Petrus, der panisch in das Gewand Christi greift und mit schreckgeweiteten Augen aus dem Bild schaut.55 Für seinen Aufbruch wird Petrus im gegenüberliegenden Gemälde von Jacopo da Empoli belohnt. Nach der Glaubenskrise gefestigt, erhält der Apostel die Himmelsschlüssel.56 Aus der Gruppe der Zeugen sticht ein – im bozzetto besonders herausgearbeiteter – Charakterkopf hervor, in dem Massimiliano Rossi niemand anderen als Galilei im Gewand eines Apostels erkennen will (Abb. 47).57 Auch wenn keine gesicherten Belege vorliegen und Viviani zwar von Galileis Freundschaft mit dem Maler, nicht aber von diesem Gemälde oder einer Verbindung zu den Usimbardi berichtet, ist die Ähnlichkeit mit dem Galilei-Porträt Ottavio Leonis von 1624 bemerkenswert.58 Rossi versucht seine Hypothese durch Piero Dinis Bemerkung zu stützen, 54 

GDSU 9016 F zeigt die „idea prima“ neben anderen von Barocci übernommenen Skizzen (vgl. Bucci 1953, S. 94). 55  Zur Cappella Usimbardi vgl. Leoncini 1996, S. 109–112 und 2009, S. 150–156. Zwei Jahre nach Erwerb des Patronatsrechts durch die Usimbardi legte Cigoli Pläne zur Umgestaltung der Kapelle vor, die 1607 geweiht und bis 1638 mit Gemälden und Fresken ausgestattet wurde (vgl. Koritzer 1928, S. 52–53 und Matteoli 1974, S. 165–169). 7808 F zeigt die finale Komposition; mehrere Detailstudien belegen die Sorgfalt bei der Entwicklung der Figur Petri (vgl. Chappell 1984a, S. 111–112). 56  Zur ekklesiastischen Ausdeutung der Schlüsselübergabe vgl. Bellarmin 1870, Bd. I, S. 494–504. 57  Vgl. Rossi 2009, S. 241 und 2007, S. 191–197. 58  Vgl. Viviani, Opere, Bd. XIX, S. 602. Rossi verweist auf Lorenzo Usimbardis Bemühungen um Vincenzo Galilei (vgl. Rossi 2007, S. 195). Schon Maria Bianchini wies auf den porträthaften Charakter der Apostel hin, in denen sie Gesellen und Freunde Jacopo da Empolis vermutete, die auch für andere seiner Bilder Modell standen. Das von Rossi mit Galilei identifizierte Gesicht findet sich jedoch nicht in anderen Gemälden (vgl. Bianchini 1987, S. 181).

117 2. Beweise: Wunder

47.  Jacopo da Empoli, Schlüssel­übergabe an Petrus, um 1615, Öl auf Leinwand, 51,5 × 37 cm, Privatsammlung.

wonach Galilei bei seiner Romreise 1611 jeden Tag Häretiker bekehrt habe – eine Metapher, die Galilei sich selbst aneignet, wenn er Paolo Gualdo gegenüber von immer neuen ‚Konvertiten‘ zu seiner Lehre berichtet.59 Das Altargemälde entstand um 1615, also nach Cigolis Tod, in der Zeit von Galileis Brief an Cristina di Lorena, in dem er die Vereinbarkeit von Glauben und Wissen zu begründen suchte. Wie es dazu gekommen sein könnte, dass sich Galilei bildlich hinter den ersten Papst stellte, bleibt eine ungeklärte Frage, die vor dem Hintergrund seiner Versuche zur Verbindung von Kirche und Wissenschaft zu betrachten ist.60 Beide Gemälde bilden in Cigolis Konzeption der Kapelle ein Ensemble, denn schon Petrus’ Schritt auf das Wasser ließ sich als Beweis des päpstlichen Primats deuten.61 Seit 1298 empfing Giottos Navicella die Gläubigen an der Fassade von Alt-St. Peter. Durch die vielen Transfers und Unwetterschäden zerstört, wurde das Mosaik 1675 durch Orazio Manenti in der Lunette über dem Haupteingang erneuert.62 Die Petrusepi-

59  Piero Dini an Cosimo Sassetti am 7.5.1611, in: Opere, Bd. XI, S. 102: „… ogni giorno converte degli eretici che non li credevano“ und Galilei an Paolo Gualdo am 16.6.1612, Opere, Bd. XI, S. 326: „… continuamente si vien convertendo qualche incredulo.“ 60  Vgl. Kap. IV.2. 61  Vgl. Mâle 1984, S. 54. 62  Vgl. Köhren-Jansen 1993.

118 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

sode ist an den rechten Rand gerückt, wo sich ein majestätischer Christus dem Betrachter zuwendet. Im Zentrum steht das Schiff der Kirche, dessen Sturmfestigkeit man gerade auch nach der Reformation gern betonte. Nach Vorstellung katholischer Theologen geht die Wunderkraft Christi nach seinem Tod auf die Apostel und schließlich auf die Kirche über, deren Legitimität durch neue Zeichen und die Erinnerung an die alten gestärkt wird. Der wohl prestigeträchtigste und zugleich nervenaufreibendste Auftrag in Cigolis Karriere war die Darstellung der Wunderheilung Petri auf der Rückseite des südwestlichen Vierungspfeilers von St. Peter im Jahr 1604.63 Der Aldobrandinipapst Clemens VIII. hatte sechs Künstler (Cigoli, Cristoforo Roncalli, Passignano, Francesco Vanni, Giovanni Baglione und Bernardo Castello) mit einem Petruszyklus beauftragt.64 Bis auf Vannis Gemälde sind die auf Schieferplatten gemalten Bilder heute nur noch in Fragmenten erhalten. Die Originale wurden durch Mosaiken ersetzt – im Falle Cigolis nach einem Entwurf Francesco Mancinis aus dem Jahr 1749. Die ursprüngliche Komposition lässt sich aus Vorzeichnungen, Stichen von Nicolas Dorigny und Jacques Callot sowie einer kleinformatigen Kopie aus dem 18. Jahrhundert erschließen (Abb. 48).65 Im Zentrum des Bildes steht Petrus an der Tempelpforte, wo er sich zu einem Gelähmten niederbeugt. Mit Berufung auf den Namen Jesu fasst er ihn an der Hand und richtet ihn auf, während im Himmel die von Putti umgebene Gottheit sichtbar wird. Die anwesenden Juden sind „außer sich vor Staunen“ (Apg 3,11). – „Der Name ‚Wunder‘“ so Thomas von Aquin, „kommt von Verwunderung. […] ‚Wunder‘ aber heißt gleichsam ‚der Bewunderung voll‘, das nämlich, was eine schlechthin und allen verborgene Ursache hat.“66 Erkennen lassen sich Wunder mithin nicht zuletzt an ihrer Wirkung auf die Betrachter. Dementsprechend setzt Cigoli nicht nur das Wunder, sondern auch die verborgene Ursache und die Wirkung, die Verwunderung und die in Apg 4,4 berichtete Konversion vieler Zeugen ins Bild. Neben den Berichten über die von Aposteln gewirkten Wunder wurden nach der Reformation auch mittelalterliche Heiligenerzählungen reaktiviert. Was bereits gegen Heiden und Juden verwandt wurde, ließ sich nun gegen die Protestanten einsetzen. Für den chornächsten Altar in S. Francesco in Cortona inszeniert Cigoli 1597 ein Wunder aus der Vita des Hl. Antonius von Padua, bei dem ein Maulesel die Realpräsenz Christi

63 

Im Magazin des Museo Petriano befindet sich ein Fragment der Schieferplatte mit den Köpfen dreier Zeugen (vgl. Brugnoli 1957, S. 257). 64  Einzig ein Mosaik nach Roncallis Gemälde ist bis heute vor Ort (vgl. Chappell/Kirwin 1974 und v. a. Siebenhüner 1962, S. 229–320). 65  Möglicherweise entstand auch eine Zeichnung von Rubens nach Cigolis Gemälde (vgl. Jaffé 1977, S. 51). 66  Thomas von Aquin, Summa I, qu. 105, art. 7; 1951, Bd. VIII, S. 67: „Respondeo dicendum quod nomen miraculi ab admiratione sumitur. Admiratio autem consurgit, cum effectus sunt manifesti, et causa occulta …“

119 2. Beweise: Wunder

48. Nicolas Dorigny nach Cigoli, Wunderheilung Petri, 1697, Kupferstich, 63,3 × 34,7 cm, Museum Kunstpalast, Sammlung der Kunst­a kademie Düsseldorf, Inv. KA (FP) 4771 D.

in der Hostie bezeugt haben soll (Abb. 49).67 Das Wunder springt ein, wo sogar der begnadete Prediger einen Ungläubigen nicht mit Worten zu überzeugen vermochte. Zeugte die Unverweslichkeit von Antonius’ bis heute in Padua verehrter Zunge erst retrospektiv von der Wahrhaftigkeit seiner Predigt, konnte das Verhalten eines qua Natur unverstellten Tieres bereits zu Lebzeiten von der Wahrheit seiner Worte bürgen. Cigoli zeigt Antonius unter einem Baldachin mit einer Monstranz, vor der ein Maulesel demütig niederkniet. Wie die alttestamentarische Eselin Bileams, die den Engel Gottes eher als ihr Herr erkannte (Nm 22,23–24), erkennt auch er etwas, was die Umstehenden nicht sehen und was prinzipiell nicht sichtbar ist – die Präsenz Christi in der Hostie. Seinen tierischen Gelüsten abhold, lässt der Esel die im Vordergrund verstreuten Haferkörner ‚links liegen‘, um sich vor seinem eigentlichen Herrn zu verneigen und damit den von seinem Besitzer geforderten Beweis für die Transsubstantiation zu liefern. 67 

Vgl. Contini 1991, S. 56 und Mersmann 2010, S. 197–203. Von der anhaltenden Bedeutung des Gemäldes zeugt eine Kopie von Giovanni Martinelli aus dem Jahr 1632.

120 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

49. Cigoli, Eselswunder des Hl. Antonius von Padua, sig.dat. ‚L.C. CIV F. 1597‘, Öl auf Leinwand, 387 × 232 cm, Cortona, S. Francesco.

Die Szene wurde schon in der Renaissance als Teil der Antonius-Vita dargestellt; doch mit der Gegenreformation erhielt das Wunder neue Aktualität, der sehende Esel verwandelte sich in ein Propagandainstrument gegen die blinden Protestanten.68 Als Zeuge der Eucharistie war der Maulesel prädestiniert, denn immerhin gehörte einer seiner bethlehemitischen Vorfahren zu den Zeugen der Geburt Christi; ein anderer hatte 68 

Vgl. Mandach 1899, S. 230–237 und 295.

121 2. Beweise: Wunder

das Kind auf seinem Rücken nach Ägypten und ein weiterer den Erwachsenen nach Jerusalem getragen. Die in der Kontroversliteratur diskutierte Frage nach der Anwesenheit von Ochs und Esel bei der Geburt Christi konnte sich auf zwei alttestamentarische Prophezeiungen berufen, die in der Antoniusvita erneut eine Rolle gespielt haben mögen: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.“ (Jes 1,3). Doch trotz der positiven Konnotationen des Esels im Alten wie im Neuen Testament galt er den Kirchenvätern als dumm und vernunftlos. Gerade seine Einfältigkeit machte ihn jedoch umso verlässlicher, denn die Glaubwürdigkeit eines Zeugen war umso größer, je weniger Interesse er an dem Gegenstand hegte bzw. je weniger Vernunft er besaß, mithilfe derer er die Konsequenzen seiner Aussage abschätzen und eigene Vorteile verfolgen konnte.69 Doch auch wenn Thomas von Aquin Tieren generell die Vernunft absprach, galten sie bis ins 17. Jahrhundert mitunter als rechtsfähige Personen, die in eigenen Prozessen verurteilt wurden, aber auch als Richter, Ankläger, Verteidiger und sogar als Zeugen auftreten konnten.70 Hunde, die die Ermordung ihres Herrn beobachteten, stellten die Täter mit Gebell; im Kanton Basel konnte man sich noch 1654 auf die „Aussage“ eines Hundes, einer Katze oder eines Hahnes berufen, um einen nächtlichen Überfall anzuzeigen.71 Die alte Vorstellung vom Esel an der Krippe als Sinnbild der zum Christentum bekehrten Heiden mag ein weiterer Grund dafür sein, dass in der Antoniusvita ausgerechnet ein (Maul-)Esel missionarisch tätig wird.72 Immerhin vergleicht auch der Physiologus die Apostel mit unfruchtbaren Wildeseln, die (wie die Maultiere) zwar keine leiblichen, wohl aber geistige Kinder zeugen können.73 Eben dies bewirkt die Geste des Esels in Cigolis Bild: Dem prunkvoll gekleideten Albigenser im Vordergrund ist im Moment des Ereignisses die Leine aus den Händen geglitten, die er nun zum Zeichen seiner Bekehrung still zusammenfaltet. Wie die Heilung des Lahmen endet auch das Eselswunder nicht mit der Bekehrung eines Einzelnen. Die Konversion seines Besitzers wird eine Kettenreaktion auslösen, denn er ist nicht der einzige Zeuge des Wunders.

69 

Vgl. Werhahn-Stauch 1994, Sp. 682. Vgl. die Einleitung von Angelo de Fillis für Galileis Briefe über die Sonnenflecken: „… mà la sodisfattione di questi (se alcuno ve n’è) non deve talme[n]te esser’ riguardata, ne meno da essi, che per loro particolar’ interesse, si devano occultare quegli effetti veri, e sensati, che per aggrandimento delle scienze vere, e reali l’istessa Natura và palesando  …“ (Galilei 1613/1967, S. 3). Der Philosoph Joseph Glanvill hält Wunder am verlässlichsten, die von „Menschen voller Schlichtheit, Wahrheit und Reinheit, frei von jedem Ehrgeiz und ohne weltliche Absichten“ vollbracht werden (zit. nach Daston 2003, S. 57). 70  Vgl. Dinzelbacher 2006, S. 137 und Francione 1996, S. 75. 71  Vgl. Francione 1996, S. 81 und 77. Prozesse, in denen Esel beteiligt waren, gab es z. B. 1541 in Loudun, 1556 in Sens, 1560 in Logny, 1566, 1575, 1604 in Paris und Neapel, 1614 in Le Mans, 1623 in Bessay und noch 1750 in Vanvres (vgl. ebd., S. 86–87). 72  Reiser 2007, S. 111–112. 73  Vgl. Physiologus 1981, S. 21: „Vom Wildesel“.

122 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Über ihm türmt sich eine ganze Pyramide von Zuschauern jeden Alters, die sich um die besten Blickpunkte rangeln. Drei junge Männer sind neugierig auf eine Säule geklettert; hinter dem Konvertiten drängen sich ein Greis und ein Mann mittleren Alters, links eine Frau heran; im Hintergrund recken sich die Bürger aus den Fenstern, links, hinter der Gruppe von Geistlichen, sind einige sogar auf die Dächer gestiegen, um besser sehen zu können. Schon Cardi betont in seiner Ekphrase die Rolle der Zeugen, die mit ihrer Körpersprache ihr Erstaunen zum Ausdruck bringen.74 Mit ausgreifendem Gestus weist der kniende Bärtige nicht nur die bildinternen Frauen, sondern auch die Betrachter auf das Wunder hin. Deren Blick wandert so im Dreieck von Zeigearm, Esel und Konvertit zurück zur Hostie, die den strahlenden, exzentrischen Mittelpunkt des Gemäldes bildet. Getreide, Hostie und die Wahrnehmung des Esels stellen drei semiotische Stufen dar. Die Hostie, ein Produkt aus Getreide, symbolisiert den Leib Christi, auf den zeichenhaft das auf die Oblate geprägte Kruzifix verweist; der Esel jedoch sieht darüber hinaus die Realpräsenz Christi. In seinen Überlegungen zur „Seinsvalenz des Bildes“ hat Hans-Georg Gadamer auf die signifikante Bedeutungsverschiebung innerhalb des Repräsentationsbegriffes von der Antike zum Christentum aufmerksam gemacht. Schon bei Tertullian meine Repräsentation nicht mehr nur Abbildung, sondern auch „Vertretung“, „weil das Abgebildete im Abbild selber anwesend ist. Repræsentare heißt Gegenwärtigseinlassen“.75 Bellarmin definiert den Begriff im doppelten Sinne als Verge­gen­wärtigung und als Zeichen oder Bild.76 Um einem magischen Bildverständnis vorzubeugen, hatte das Konzil von Trient die repræsentatio des Bildes und des Sakraments jedoch klar geschieden. Insgesamt lässt sich mit Joseph Wohlmuth folglich eine gegenläufige Bewegung erkennen: Während das Bilderdekret die realpräsentischen Züge von Bildern abschwächt, wird bezüglich der Sakramente die Realpräsenz betont.77 Hatten die Schweizer Protestanten die Eucharistie als ein Zeichen verstanden, das wie ein Wirtshausschild auf den ausgeschenkten Wein verweist, forderte das Konzil die wahrhaftige statt nur bildliche Gegenwart Christi in Brot und Wein (vere, realiter et substantialiter) und definierte die Eucharistie nicht als bloßes Bild (nuda imago), sondern als „wahres und nicht nur wahres, sondern sogar absolut wahres, einzigartiges, allerhöchstes und machtvollstes Opfer“ (verum sacrificium, et non tantum verum sed etiam verissimum, singulare, maximum et potissimum).78 74 

Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 104: „… figure alterate dalla novità del caso stanno in belliss[i]me attitudini poste, con le quali dimostrando la maraviglia del subito avvenimento, aspettano con grand’attenzione l’evento di si fatto spettacolo.“ Vgl. auch die Vorzeichnung in Wien, Albertina, Inv. 232853; Birke 1991, Abb. 142, S. 116. 75  Gadamer 1965, S. 134. 76  „Significat enim praesentem rem aliquem facere, sive reipsa, sive in signo aliquo, vel imagine“, zit. nach Hofmann 1974, S. 80. 77  Wohlmuth 1990, S. 101. 78  Ebd., S. 95 und 199 und ders. 1975, Anm. 22.

123 2. Beweise: Wunder

Da sich das Antonius-Wunder vor einer Kirche ereignet, belegt es nicht nur die Realpräsenz per se, sondern auch die Anwesenheit Christi in der Hostie außerhalb der Eucharistiefeier. Damit wird nicht nur die Position des radikalen, calvinistischen Flügels der Reformation widerlegt, sondern auch die moderatere Position Luthers, der die Realpräsenz zwar nicht grundsätzlich in Frage stellte, aber auf den Moment des Abendmahls beschränkte. Die Anwesenheit Christi ist ihm eine Folge des Sprechakts der Einsetzungsworte, die wie das Fiat der Genesis hervorbringen, was sie sagen: „Aber so die wort da zu kommen, bringen sie das mit, davon sie lauten.“79 Vor allem in Abgrenzung von den anderen Reformatoren plädiert Luther, der die Eucharistie selbst zunächst nur symbolisch verstand, für ein wörtliches Schriftverständnis, „weyl die wortt helle, durre und klar da stehen: ‚Das ist meyn leyb‘ es sey denn das man gewisse helle spruech erfuer bringe, das hie das wortlin ‚Ist‘ solle bedeutten ‚heyssen‘“.80 Da die Präsenz Christi in der Hostie für Luther mit der Messfeier endet, wird ihrer Verehrung, wie sie im Eselswunder und, nach 1592, in den Quarant’ore-Apparaten pompös inszeniert wurde, der Boden entzogen.81 Von der katholischen Theologie grenzte Luther sich zusätzlich durch die Ablehnung der rationalen Durchdringung des Mysteriums ab, wie sie die Scholastik, allen Reden über den Unterschied von Glauben und Wissen zum Trotz, angestrebt hatte.82 Der „Wut des Verstehens“ der theologia gloriæ stellte Luther das Modell einer theologia crucis gegenüber, die zwar das Unsichtbare im Sichtbaren suchen, aber die Grenzen des Verstandes anerkennen sollte.83 Zudem kritisierte er den Begriff der Transsubstantiation, denn ebenso wie Gott sich bei der Inkarnation nicht verwandle, sondern verkörpere, blieben auch in der Eucharistie beide Naturen bestehen – „Und obschon die Philosophie das nicht verstehet, so verstehet es doch der Glaube und hat Gottes Wort ein höheres Ansehen als unseres Verstandes Begreiflichkeit“.84 Das Mysterium sei nicht Sache der Vernunft, denn „myr ist nicht befolen tzu forschen noch tzu wissen, wie gott vater, son, heyliger geyst oder Christus seel ym sacrament sey, Myr ist gnug, das ich weyß, wie das wort, das ich höre, und der leyb, den ich neme, ist warhafftig meyns herrn und gottis. 79 

Luther, Sermon von dem Sacrament (1526), WA 19, S. 491b; vgl. auch Vom Abendmahl Christi (1528) WA 26, S. 282–283: „So ist sein wort freylich nicht ein nachwort, sondern ein machtwort, das da schaffet, was es lautet“. 80  Luther, Vom Anbeten des Sakraments (1523), WA 11, S. 435. Zu Luthers Eucharistielehre vgl. Althaus 1962, S. 318. 81  Zu den Quarant’ore vgl. Imorde 1997. In Florenz wurde das Vierzigstundengebet 1589 von Alessandro de’ Medici einführt (vgl. Cochrane 1973, S. 133). 82  Vgl. Neunheuser 1963. 83  Vgl. Luther, Probationes (1518), WA 1, S. 362: „Quia enim homines cognitione Dei ex operibus abusi sunt, voluit rursus Deus ex passionibus cognosci et reprobare illam sapientiam invisibilium per sapientiam visibilium, ut sic, qui Deum non coluerunt manifestum ex operibus, colerent absconditum in passionibus …“ 84  Luther, De Capitivitate (1520), WA 6, S. 511: „Quod et si philosophia non capit, fides tamen capit …“ Übers. nach: Althaus 1962, S. 171.

124 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Laß die spitzen und glawblosen Sophisten nach solchen unergruendtlichen dingen trachten und die Gottheytt yns sacrament betzaubern.“85 Die „spitzen und glawblosen sophisten“ aber rieben sich an dem mit der Transsubstantiationslehre entstehenden Konflikt zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Glaubenssatz.86 Schließlich ließ sich nicht leugnen, dass Brot und Wein nach der Wandlung genauso aussahen und schmeckten wie zuvor. Die Scholastik löste das Problem mit der Unterscheidung von Substanz und eucharistischen Gestalten: Während die Substanz des Brotes verschwinde, blieben Akzidenzien wie Gewicht, Geschmack und Farbe zurück. Eine solche Abspaltung erklärte Descartes in Reaktion auf die Einwände gegen seine Méditations für unhaltbar und dogmatisch falsch. Seine eigene Eucharistielehre basierte auf dem Axiom, dass jede Sinneswahrnehmung durch den Kontakt mit der Oberfläche von Körpern oder ihren Teilchen zustande komme. Da die Perzeption vor und nach der Wandlung die Gleiche sei, müsse der Leib Christi unter der gleichen Oberfläche enthalten sein wie das Brot. Dies zu bewirken, sei Gott genauso möglich, wie gegen die Natur Akzidenzien von der Substanz zu trennen, nur sei es wesentlich konformer mit den Gesetzen der Physik.87 Solche Fragen möchte Cigolis Gemälde erst gar nicht aufkommen lassen. Das Verhalten des Esels soll beweisen, dass es für das innere Auge mehr zu sehen gibt, als das Gemälde zu zeigen vermag. Bemerkenswerterweise setzt Cigoli seine Signatur – LC Civ[is] Flor[entinus] mdiiic – auf das Sieb mit dem Hafer, als wolle er zeigen, dass er nur für das weltliche Brot bzw. den Bereich des Sichtbaren zuständig und alles andere allein dem inneren Auge sichtbar sei. Oder eben: dass nur im Sichtbaren das Unsichtbare aufscheint.

3. Blutzeugen: Mä rt y r er Wahrheit verlangt, dass man sich zu ihr bekennt – notfalls auch unter widrigen Umständen. Ein parrhesiastes, der antike „Wahrsprecher“, zeichnet sich Foucault zufolge dadurch aus, dass er das Risiko eingeht, eine Überzeugung bedingungslos auch Mächtigeren gegenüber zu vertreten und die Konsequenzen dafür zu tragen.88 Dies gilt in besonderem Maße für Märtyrer. Nachdem Katharina von Alexandrien mit ihrer Rede zwar die

85 

Luther, Meynen lieben herrn und freunden, den Brudern genant Valdenses (1523), WA 11, S. 450. In der 13. Sektion wurde eine wahre Konversion von Brot und Wein in Leib und Blut Christi postuliert (manentibus speciebus panis et vini). Vgl. dazu Wohlmuth 1990, S. 97 und Nelle 2003a. 87  Vgl. Descartes, AT IX, S. 191–197. 88  Foucault entwickelt seine Definition des parrhesiastes als einer Person, die die Wahrheit trotz Statusunterschieden und Gefahren ausspricht, anhand antiker Tragödien (vgl. Foucault 1983/1996, besonders S. 9–19). 86 

125 3. Blutzeugen: Märtyrer

50. Cigoli, Martyrium des Pietro da Verona, dat. 1598, Öl auf Holz, 235 × 165 cm, Florenz, Convento di S. Maria Novella.

Philosophen, nicht aber den Herrscher zu überzeugen vermag, mündet ihr Bekenntnis in letzter Konsequenz in die eloquentia corporis des Martyriums. Noch während sie spricht, flammt hinter ihr bereits der Scheiterhaufen, der die konvertierten Philosophen verbrennen wird. μάρτυς ist der „Zeuge“, μαρτύριον das „Zeugnis“, aber auch der „Beweis“.89 Die in der Katharinendisputation als zeitliche Abfolge gezeigte Verbindung von mündlichem und körperlichem Bekenntnis verschränkt Cigoli 1598 in seinem Martyrium des Pietro da Verona für die Cappella Benedetti in S. Maria Novella in Florenz zu einem Wort-Bild (Abb. 50). Mit seinem eigenen, von der Stirn tropfenden Blut schreibt der zu Boden gestürzte Dominikanermönch die ersten vier Buchstaben seines Glaubensbekenntnisses in den Staub: „Cred-‍“.90 Der Hieb des erhobenen Schwertes des hinter ihm

89  Im NT werden die Apostel als Augenzeugen des Lebens Jesu als „martys“ bezeichnet; Christus als „Märtyrer/Zeuge“ der Wahrheit Gottes (1 Tim 6,13; Hebr. 3,1; Apk 1,5). Das moderne Verständnis des Märtyrers als Blutzeuge entwickelt sich erst zwischen 50 und 150 n. Chr. (vgl. Gelitz 1992, S. 197– 202 und Schwemer 1999). 90  Das heute im Klausurbereich aufbewahrte Gemälde befand sich ursprünglich in einem von Buontalenti gestalteten Marmortabernakel am vierten Pilaster rechts, gegenüber von Jacopo da Empolis

126 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

stehenden Schergen droht ihn an der Vollendung des Wortes zu hindern. Es ist folglich am Betrachter, das bis an den vorderen Bildrand reichende Verb durch das personalisierende -‍o zu seiner eigenen professio fidei zu ergänzen. Hinter Pietro flüchtet mit panisch emporgerissenen Armen sein Mitbruder aus dem Bild, doch um den Gestürzten scheint die Zeit stillzustehen. Er befindet sich in einem Zustand zwischen Himmel und Erde; seine Augen sind zum Himmel gerichtet. Den Mund verklärt geöffnet, schreibt sein Finger fast von selbst. Die Schrift gewinnt Substanz durch die Tinte aus Blut bzw. Ölfarbe; die Zeichen sind gedeckt mit dem Einsatz des eigenen Lebens. Die Betrachter werden zu Zeugen eines Martyriums, das abseits der Öffentlichkeit, in einem Wald auf dem Weg nach Mailand stattgefunden haben soll. Während in Lentinis Vita des Heiligen nur von einem mündlichen Glaubensbekenntnis die Rede ist, erwähnt ein im Zusammenhang des Kanonisierungsprozesses von 1253 als „Zeugnis“ fungierender Brief die ‚Blutsignatur‘ des im Vorjahr enthaupteten Märtyrers.91 Wie ein Maler sein Gemälde „signiert“ der Märtyrer sein sich im Tod beschließendes Werk (subscripsit).92 Die Semantik des Bildes verläuft auf zwei Achsen. Schwert und schreibender Finger bilden ein sich wechselseitig bedingendes Gegensatzpaar: Pietro wird erschlagen, weil er glaubt und manifestiert seinen Glauben durch seinen Tod. Die durch seinen himmelnden Blick gebildete Achse zeigt die Belohnung und ideologische Legitimation seines Todes: In goldenem Licht bringen zwei Putti Krone und Palme des Märtyrers herbei. Mehrere Skizzen zeugen von Cigolis Auseinandersetzung mit Tizians Gemälde in SS. Giovanni e Paolo in Venedig (1527–1529), dessen Komposition er auch durch die Stiche von Martino Rota oder Battista Fontana kennen konnte (Abb. 51).93 Die Zeichnung GDSU 9012 F zeigt den Märtyrer wie bei Tizian auf einen Arm gestützt, während er den anderen Arm in die Höhe reckt und der Scherge von rechts herbeitritt (Abb. 52). In 9008 F variiert Cigoli die Haltung des Märtyrers, übernimmt aber dafür die Geste von Tizians weit ausholendem Schergen (Abb. 53). Weitere Skizzen auf demselben Blatt variieren das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Das Schreibmotiv allerdings findet sich weder im Stich noch in der Kopie des Gemäldes. Der Gedanke zu Cigolis endgültiger Fassung könnte durch Ghirlandaios Fresko im Hauptchor von S. Maria Novella Hl. Hyacinthus in Anbetung der Madonna von 1594 (vgl. Bucci 1963, S. 31 und Matteoli 1980, S. 216– 219). Die in der Sammlung Frascinone befindliche Fassung des Bildes wird von Bucci und Matteoli als modello eingestuft, während Faranda sie m. E. zu Recht für eine nicht eigenhändige Kopie hält (vgl. Faranda 1986, S. 181, Nr. 118). 91  In einem Brief von Fra Giovanni Colonna aus dem Jahr 1252 heißt es: „Vulnera non curabat, pro nihilo ducebat rivolos sanguinis pro quacumque parte sui corporis defluentes, sed fidem qua fervebat et actorem fidei Dominum, piis et puris lacrymis fatebatur ac ipsius fidei symbolum, sui cursus terminio propinquante libens et avidus innocentis sanguinis effusione subscripsit.“ (Meine Hervorheb.) 92  Karin Gludovatz zieht eine Traditionslinie von der Petrus-Martyr-Ikonographie zu Caravaggios Blutsignatur in der Enthauptung Johannes des Täufers von 1608 in Valetta (vgl. Gludovatz 1999, S. 142). 93  Chappell hält eine Venedigreise Cigolis für unwahrscheinlich (Chappell 1971, S. 157).

127 3. Blutzeugen: Märtyrer

angeregt worden sein, das Pietro da Verona beim Schreiben seines Credo zeigt, während sein Mitbruder mit emporgerissenen Armen aus dem Bild flüchtet. Doch während die Schreibgeste aufgrund der großen Entfernung des Freskos dort nur vage erahnbar ist, wird sie in Cigolis nahsichtigem Gemälde zum wichtigsten, Blutzeugen und Betrachter verschränkenden Motiv. Es scheint, als habe Cigoli den von Ghirlandaio so wirkungsvoll inszenierten Effekt der auseinanderstrebenden Diagonalen geopfert, um die Schreibrichtung einhalten und das Wort mit der Bildkante abschneiden zu können, sodass der Betrachter es selbst ergänzen kann.94 Mit seinem Credo veräußerlicht Pietro sein Bekenntnis und erklärt damit nicht nur seinen Glauben, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die sich durch ihre Wahrnehmbarkeit auszeichnet. „Das Wesen der Kirche“, so heißt es bei Bellarmin, „besteht nicht im inneren Glauben […], sondern im äußeren, also im Bekenntnis des Glaubens“, das von den Sinnen wahrgenommen wird.95 Mit dem Sprechakt des Tridentinischen Glaubensbekenntnisses, das am 13.11.1564 von Papst Pius IV. ediert worden war und die Dekrete des Konzils zusammenfasste, affirmierte jeder Katholik seine Zugehörigkeit zur Römischen Kirche.96 Im 16. Jahrhundert reichte ein einfaches „ich glaube“, wie es der Märtyrer im 13. Jahrhundert geschrieben haben soll, nicht mehr aus, es galt zu spezifizieren, woran. Tatsächlich hatte die Anfechtung der katholischen Lehre bedeutenden Anteil an der Intensivierung der Märtyrerverehrung, die sich nicht nur durch eine vermehrte Produktion von Märtyrerbildern, sondern auch durch Lieder, Theaterstücke, Predigten und Vitensammlungen zeigte.97 Neue Aktualität gewann das Thema durch die „neuen Märtyrer“ der Glaubenskriege und Missionen, denen Richard Rowlands 1587 sein Theatrum Crudelitatum Hæreticorum Nostri Temporis und Mathias Tanner 1675 ein Jesuiten-Martyrologium widmeten.98 Gleichzeitig erhob die protestantische Kirche Anspruch auf eigene Märtyrer: Flacius Illyricus bezeichnet in seinem Catalogus testium veritatis von 1556 gerade die Waldenser und Katharer, gegen die Pietro von Verona als Inquisitor aufgetreten war, als „Wahrheitszeugen“, die die Kontinuität einer rechtgläubigen Tradition seit der Urkirche belegen sollten.99 Flacius schreibt eine Geschichte der wahren Kirche, „a 94  Auch Carman hält Ghirlandaios Fresko – neben Zucchis Petrus-Martyrium in Wien – für Cigolis wichtigste Quelle (vgl. Carman 1972, S. 115). 95  Bellarmin 1870, Bd. 2, III.10, S. 342: „Respondeo: formam Ecclesiae non esse fidem internam (nisi Ecclesiam invisibilem habere velimus), sed externam, id est, fidei confessionem.“ 96  Mit der Wiederholung des Taufbekenntnisses wenden sich die Kleriker um Bellarmin gegen Theologen wie Melchior Cano, der die Zugehörigkeit nicht von der Taufe, sondern vom Glauben abhängig machte. 97  Vgl. Gregory 1999, bes. S. 272–341. 98  Vgl. Burschel 2001b. 99  Der Protestant Jean Crespin entwirft 1582 eine Galerie Chrétienne, ou abrégé de l’ histoire des vrais temoins de la vérité de l’ évangile. Der deutsche Pietist Gottfried Arnold nennt nicht nur die frühen

128 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

51. Martino Rota nach Tizian, Martyrium des Pietro da Verona in S. Giovanni e Paolo, 1582–1583, Kupferstich, 40 × 27 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv. A 822-1,B 20.

history of the other Church, the one that was always persecuted for having been on the side of the truth …“100 Wie seine Magdeburger Centurien verlangte auch Flacius’ Catalogus ein katholisches Pendant. Vorgelegt wurde es 1583 von Baronio in Form seines Martyrologium romanum, in dem die Sterbeorte und Todesumstände vor allem frühchristlicher Märtyrer in kalendarischer Form aufgelistet sind.101 Auch in diesem Projekt zeigt sich der Einfluss des Antiquarianismus und der christlichen Archäologie, welche die Katakomben für die Grabstätten frühchristlicher Märtyrer hielt. Antonio Gallonio rekonstruierte in seinem Trattato degli instrumenti di martirio von 1591 minutiös die verschiedenen Folterinstrumente, um den Lesern von Märtyrerviten eine lebendige Vorstellung zu vermitteln (per ridursi in chiaro molti difficoltà che si rappresentano nel leggere gli atti degli […] Märtyrer, sondern auch die verfolgten Wiedertäufer und Mystiker „Zeugen der Wahrheit“, die den späteren „Kindern der Wahrheit“ ein Beispiel gegeben hätten (Arnold 1729, o. S., vgl. dazu Bienert 1977, S. 230–234). 100  Scavizzi 1992, S. 160. 101  Hier wurde die ergänzte, in Antwerpen erschienene Ausgabe verwendet (vgl. Baronio 1589).

129 3. Blutzeugen: Märtyrer

52. Cigoli, Martyrium des Pietro da Verona, Tusche auf Papier, 9 × 13 cm (Ausschnitt), Florenz, GDSU 9012 F.

53. Cigoli, Martyrium des Pietro da Verona, Tusche auf Papier, 11,5 × 13 cm, Florenz, GDSU 9008 F.

martiri).102 Unter der Feder Gallonios und dem Stichel Antonio Tempestas wurden die Martyrien zu Anwendungsfeldern ingeniöser Apparate, die nach Art der etwa zeitgleich entstehenden Maschinenbücher vorgeführt wurden. Die letzte Tafel versammelt die Marterwerkzeuge zu einer Art Trophäum (Abb. 54). 102 

Gallonio 1591; vgl. dazu Touber 2009 und Behrmann 2015, S. 252 und 258–264 zum ähnlichen Bildgebrauch von Folterdarstellungen in Strafgesetzbüchern.

130 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Im selben Zeitraum entstanden in Rom – insbesondere in jesuitischen Kollegkirchen – mehrere aufwändige Märtyrerzyklen, in S. Susanna, S. Tomaso di Canterbury, S. Vitale, in Baronios Titularkirche SS. Nereo e Achille und in S. Stefano Rotondo, der frühchristlichen Rundkirche auf dem Monte Celio.103 Be­ ginnend mit einer Kreuzigung und der Steinigung des Protomärtyrers Stephanus entwickelte Niccolò Circignani, gen. Pomarancio, dort 1583 ein enzyklopädisches Panorama von 32 Gemälden, in denen je drei Martyrien zusammengestellt sind. Nach Art mnemotechni­ scher oder didaktischer Traktate sind die einzelnen Szenen mit Buchstaben gekennzeichnet, die auf eine zweisprachige Legende im unteren Register verweisen und wissenschaftliche Genauig­ 54. Antonio Tempesta (evtl. nach Gaspare Celio), Folterwerkzeuge, in: Antonio Gallonio, Trattato de keit suggerieren.104 Michele Lauretano, gli instrumenti di martirio, Rom 1591, fol. 159r. der für das Programm verantwortliche Rektor des Collegio Germanico-Ungarico, feiert besonders diese genaue Kennzeichnung als Pionierleistung.105 Vorlage waren vermutlich die Abbildungen, die Jerónimo Nadal für das Meditationsbuch Evangelicae Historiae Imagines entwarf.106 Akribisch werden die verschiedenen Foltermethoden in einem bewusst nüchternen, schonungslosen Stil präsentiert. Die Fresken zeigen in stereotyper Weise jeweils die Folter, die Schergen und den verantwortlichen Tyrannen. Engel und andere Hinweise auf Transzendenz, die bei Cigoli eine solch große Rolle spielen, fehlen. Paradigmatisch ist das Fresko des von einer Steinplatte zerquetschten Hl. Arte103  Vgl. Herz 1988b, S. 53–70; Bailey 2003, S. 135–148; Behrmann/Priedl 2014 und vor allem Behrmann 2015, Kap. 3. Eine eindrucksvolle Liste der zwischen 1550 und 1605 entstandenen Märtyrerbilder in römischen Kirchen findet sich in Monssen 1983, S. 101–104. Paleotti nahm den Zyklus zum Vorbild für die Krypta in S. Pietro in Bologna (vgl. Bianchi 2014, S. 129). 104  Vgl. Monssen 1982; Korrick 1999; Insolera 2000, S. 129–138 und Bailey 2003, S. 133–148. Carolin Behrmann verweist auf ähnliche Beschriftungsverfahren in botanischen und anatomischen Traktaten (vgl. Behrmann 2014, S. 105–106 und 2015, S. 178–179). 105  Archivum Romanum Societatis Iesu (ARSI), Rom. 185, 25, vgl. Bailey 1999, S. 159. 106  Diese wurden zwar erst 1593 publiziert, zirkulierten aber Buser zufolge schon lange vor der Drucklegung (vgl. Buser 1976, S. 424).

131 3. Blutzeugen: Märtyrer

55. Niccolò Circignani (gen. Pomarancio), Das Martyrium der Hl. Johannes, Paulus, Bibiana und Artemisius, 1582–1583, Rom, S. Stefano Rotondo.

mius, dessen Augen aus ihren Höhlen gepresst werden (Abb. 55). Der darüber gesetzte Buchstabe kennzeichnet das Bild als sachliche Schilderung, trotzdem ist dem starren Blick der toten Augen kaum standzuhalten. Gerade diese einfache Darstellungsweise und die pure Quantität der Martern erschienen Lauretano als Garanten für eine starke Rührung des Betrachters: „Die unendlichen Arten von Qualen und die große Zahl der Märtyrer zu betrachten, erweckt starke Devotion; ist die Malerei nur mittelmäßig schön (mediocramente bella), aber sehr fromm, können viele sie nicht ohne Tränen und spirituelle Regung betrachten.“107 Vor den Bildern sollten sich die Schüler des Kollegs auf ihre Missionen vorbereiten, die sie potentiell ins Martyrium führen konnten.108 Armenini traut Bildern von Leiden und Martyrium der Heiligen zu, die Ungelehrten auf den „wahren Weg“ (il vero cammino) zu führen, weil das Auge die Seele mehr als alle anderen Sinne zu Hass, Liebe oder Angst bewegen könne. Die „quasi wahre“ Darstellung der Folterungen habe schon oft zur „wahren Pietät“ (vera pietà) geführt.109 107  108  109 

Lauretano, Diario, MS, Hist. 103, fol. 49, Archivio del Collegio Germanico-Ungarico, Rom. Vgl. Buser 1976, S. 424–425. Armenini 1587/1823, S. 38–39.

132 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Trotzdem dürfen neuzeitliche Märtyrerdarstellungen nicht per se als Aufrufe zur imitatio missverstanden werden.110 Die Bilder in S. Stefano Rotondo richteten sich, wie Carolin Behrmann betont, nicht an Märtyrer, sondern an Ordensmitglieder und waren entsprechend didaktisch gerahmt.111 Peter Burschel hat das Aufleben der Märtyrerverehrung im 16. Jahrhundert als Antwort auf „kollektive Leid-, Angst- und Chaos-Erfahrungen“ und als Training für ihre Bewältigung gedeutet, das Glaubens- in Konfessionsgemeinschaften verwandelte.112 Eine enge Korrelierung von konkreten Ereignissen und Kunst ist freilich ebenso schwierig wie die Rekonstruktion kollektiver Befindlichkeiten. Trotzdem mögen reale und psychische Gewalterfahrungen einen relevanten Erfahrungshintergrund für Märtyrerdarstellungen gebildet haben. Das Florenz des ausgehenden 16. Jahrhunderts war trotz der konsolidierten politischen Lage und der relativ homogenen konfessionellen Struktur kein friedlicher Ort. Vor allem seit der Pucci-Verschwörung von 1560, die 1575 mit einem Racheversuch der Familie erneut aufgeflammt und von Francesco de’ Medici blutig beendet worden war, fürchteten die Medici Aufstände, denen sie mittels eines ausgefeilten Spionagesystems und eines allgemeinen Waffenverbots vorzubeugen suchten. Öffentliche Hinrichtungen für Delikte wie Mord, Sodomie, Diebstahl, Inzest und Vergewaltigung waren an der Tagesordnung. Der Chronist Francesco Settimanni zählt für die als friedvoll geltende Regierungszeit Ferdinando de’ Medicis von 1587 bis 1609 140 Exekutionen.113 Auf dem Land hielten Räuberbanden die Toskaner in Bann: Stündlich, so klagt ein Zeitgenosse, gebe es in den Provinzen von Casentino und Romagna Überfälle.114 Auch nach der Hinrichtung ihres Anführers, Alfonso Piccolomini, war das Problem der Brigandage nicht beseitigt, was Florenz und Bologna 1609 zu einem Abkommen über die beidseitige Öffnung der Grenzen zugunsten der Strafverfolgung veranlasste.115 Die Angst vor im Wald lauernden Räubern – tatsächlich handelte es sich bei dem Mord an Pietro da Verona wohl um einen zum Martyrium umgedeuteten Raubüberfall – konnte also von Cigoli durchaus angesprochen werden. Darüber hinaus ist der Fall des Pietro da Verona insofern interessant, als der Dominikaner sich den Hass der ‚Häretiker‘ in seiner Funktion als Inquisitor zugezogen hatte, also als Repräsentant jener Institution, die seit dem 13. Jahrhundert offiziell auch foltern durfte. Marter wie Folter zielen darauf, den Willen zu brechen, beide wollen ein Geständnis erzwingen, die Wahrheit gewaltsam ans Licht bringen.116 „Die Begriffe der Zeugenschaft, 110 

Vgl. dazu Schirrmeister 2000, S. 144. Vgl. Behrmann 2015, S. 24. 112  Burschel 2006, S. 250–251. Externbrink und Scholz-Hänsel deuten die exzessive Gewalt in Riberas Märtyrerdarstellungen als Ausdruck der sozialen Gewalt in Süditalien (vgl. dies. 1996, S. 23–30). 113  Vgl. Berner 1971, S. 217, der sich auf ASF, Man. 130, fol. 131–132 stützt. 114  ASF, Misc. Medicea, 33, no. 2, fol. 2r, zit. nach Berner 1971, S. 217, Anm. 56. 115  Vgl. ebd., S. 215–217. Zur Festnahme und Exekution Piccolominis vgl. Lapini 1900, S. 310 und 314. 116  Vgl. Sabadell 2007. 111 

133 3. Blutzeugen: Märtyrer

des Dokuments, des Fakts oder Beweises führen“, wie Carolin Behrmann gezeigt hat, „ein Doppelleben im Bereich der Theologie und des Rechts“.117 Die römische Inquisition sah Folter in allen Fällen vor, wo Zweifel an der Vollständigkeit der Aussage bestanden, vorgelegten Fakten widersprochen wurde, andere Beweismittel versagten, Komplizen ermittelt werden sollten oder der Wahrheitseid verweigert wurde.118 Folter galt mithin als Instrument der Wahrheitsfindung (ad eruendam veritatem).119 Trotzdem wussten schon Juristen wie Albertus Gandinus oder der Verfasser des Hexenhammers, Henricus Institoris, dass peinliche Verhöre oft trügerisch und ergebnislos waren.120 Unter der Folter, so schließlich der Jesuit Friedrich Spee, löse nicht die Macht der Wahrheit, sondern die des Schmerzes die Zunge.121 1655 bezeichnet sogar der Autor eines berühmten Inquisitionshandbuchs, Cesare Carena, die Folter als „fragiles und trügerisches Mittel“ (res fragilis & fallax), weil unter der Tortur nicht nur die Leidensfähigen, sondern auch die Schwachen lögen.122 Nicht einmal das Überstehen der Folter konnte als eindeutiger Unschuldsbeweis gewertet werden, weil sich das Durchhaltevermögen auch magischen Mitteln oder dem Einfluss des Teufels verdanken könne.123 Obgleich das Hl. Offizium versuchte, sich beim Inquisitionsverfahren zumindest offiziell von der Praxis weltlicher Gerichte abzugrenzen, wurde die Folter nicht grundsätzlich als Widerspruch zur christlichen Religion empfunden.124 Die Strafordnung sah drei Stadien der Folter vor: Zunächst wurden dem Opfer die Folterwerkzeuge nur gezeigt, dann wurden ihm Daumenschrauben angelegt und zuletzt die festgesetzte Folter vollzogen.125 Diese bewusste Unterscheidung von körperlicher und geistiger Folter, der tortura per territionem, nutzt auch Cigoli, der grundsätzlich den Moment vor dem eigentlichen Martyrium repräsentiert und damit die Vorstellung des eigentlichen Gewaltaktes der Phantasie des Betrachters überlässt. Zugleich aber setzt er immer auch die Erlösung ins Bild, als orientiere er sich an Augustinus’ Mahnung, dass nicht das körperliche Leiden, sondern das Motiv den Märtyrer zum Märtyrer mache (Christi martyrem non facit poena sed causa).126 Die von Burschel konstatierte Brutalisierung 117 

Behrmann 2015, S. 249. Vgl. Schmidt 2000, S. 208 und 210. Zur Folter durch weltliche Gerichte vgl. van Dülmen 1995. 119  Vgl. Kantorowicz 1926, S. 156 und Behrmann 2015, S. 264. Ähnlich bei Kramer 1487/1992, fol. 105v: „qualiter ad questiones sit procedendum pro dicenda veritate in punitiones sanguinis.“ 120  Vgl. auch ebd., fol. 106r: „questiones sunt fallaces et sepius […] inefficaces.“ 121  Vgl. Spee 1631, S. 77. 122  Carena 1655, S. 355: „Mentietur in tormentis, qui pati potest, mentietur etiam qui pati non potest.“ 123  Vgl. Tedeschi 1983, S. 163–188. 124  Vgl. Masini 1621/1990, S. 12 und dazu Schmidt 2000, S. 214–215. 125  Vgl. Farinacci 1637, S. 468: „torqueatur animus, et non corpus“ und die Empfehlung in den Literae variae S. Congregationis Sancti Officii, fol. 292: „E giachè per l’età non se gli può dare la corda, gli faccia una gravissima territione ne tormenti“ (4.4.1600), zit. nach Schmidt 2000, S. 212; vgl. auch van Dülmen 1995, S. 32. 126  Vgl. dazu Wild 2001, S. 133. 118 

134 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

der Martyrien im 17. Jahrhundert gilt deshalb für Cigolis Darstellungen nur bedingt. Gegen die analytischen, nüchtern distanzierten Bilder Pomarancios und Tempestas einerseits und grausame Darstellungen, wie sie Caravaggio oder Artemisia Gentileschi in diesen Jahren malten, andererseits, entwickelt Cigoli ein emotional involvierendes Modell, bei dem weniger die Qualen als das Bekenntnis, die transzendente Ursache und die Belohnung im Vordergrund stehen. Seine Märtyrer sind nicht die kämpferischen Triumphatoren der Jesuitendramen, die (in Auerbachs Worten) aktiv „gegenleiden“, sondern introvertierte Gestalten, deren Widerstand gegen die Welt in deren spiritueller Überwindung besteht.127 Gleichzeitig aber entfernt sich Cigoli von den sentimentalen Schilderungen nach Art eines Sebastiano del Piombo, denen Gilio mangelnde Grausamkeit vorwarf.128 Cigolis Martyrium des Petrus von Verona gewinnt seine Kraft aus dem Gegensatz zwischen der Dynamik von Schergen und Fliehendem und dem zeitlichen Stillstand um die Gestalt des Märtyrers, der bereits eine andere Welt erblickt (vgl. Abb. 50). Noch stärker tritt das Moment der Verinnerlichung in Cigolis Martyrium des Apostels Jakobus und seines Schreibers Josias aus dem Jahr 1605 in den Vordergrund (Abb. 56). Obgleich auch hier der gewaltsame Tod unmittelbar bevorsteht, vermittelt die Zweiergruppe den Eindruck ruhiger Innerlichkeit.129 Mitten im Tumult der bevorstehenden Enthauptung neigen sich die beiden im Vordergrund knienden Märtyrer einander zu und bilden eine intime, kompositorisch abgeschlossene Einheit. Der Entschluss des von Jakobus bekehrten Schreibers Josias, mit dem Apostel in den Tod zu gehen, wird sowohl in der Legenda Aurea als auch in der Historia Certaminis Apostoli überliefert, die damals für eine Schrift aus dem ersten Jahrhundert gehalten wurde. Cigoli zeigt den Moment, in dem Jakobus Josias sein Bekenntnis abnimmt und ihn küsst, bevor beide zusammen das Martyrium erleiden.130 Wie das Petrusmartyrium ist auch dieses Gemälde ein Bekenntnisbild: Josias spricht ein „credo“, für das sein Körper im Anschluss sichtbar einstehen wird. 1605 im Auftrag Ferdinandos I. gemalt, der das Bild als Geschenk an Fabio Gonzaga sandte, zeugt das Jakobusmartyrium von Cigolis Begegnung mit der römischen Kunst der Jahrhundertwende.131 Die an Annibales Farnesefiguren erinnernden, muskulösen Körper der Märtyrer und Schergen sind auf engem Raum nah an die Bildfläche gerückt, die ganz mit dicht gedrängten Leibern ausgefüllt ist. Nur im oberen Viertel des 127  Burschel 2006, S. 263 und Auerbach 1967, S. 164: „Nicht den Nullpunkt der Leidenschafts­ losigkeit außerhalb der Welt [wie ihn die Stoa projiziert], sondern das Gegenleiden, das leidenschaftliche Leiden in der Welt und damit auch gegen die Welt ist das Ziel christlicher Weltfeindschaft …“ 128  Vgl. Gilio 1564/1961, S. 40. 129  Chappell hält die lyrische Darstellung des dramatischen Sujets für eine bewusste Inversion der Kunstmittel, die ein Argument im Paragone darstellen könnte (Chappell 1971, S. 215). 130  Fast zeitgleich malen Bernardino Poccetti im Hof des Oratorio di S. Pierino und Allori in der Spanischen Kapelle von S. Maria Novella Jakobus auf dem Weg zu seinem Martyrium (vgl. Chappell 1971, S. 202). 131  Cuppini 1963, S. 51–53.

135 3. Blutzeugen: Märtyrer

56. Cigoli, Martyrium des Apostels Jakobus und seines Schreibers Josias, sig.dat. ‚L.C. 1605‘, Öl auf Leinwand, 305 × 215 cm, Polesine, S. Jacopo.

Bildes wird hinter den Standarten ein Stück Himmel sichtbar. Während einer der Schergen zum Schlag ausholt, greift ein anderer nach dem langen Haar des Apostels – eine Geste, die an nordalpine Darstellungen der Geißelung Christi erinnert und die christiformitas des Märtyrers unterstreicht.132 Wie die Figur Jesu in Giottos Gefangennahme ist Jakobus eine „szenische Konfigurationsfigur“ im Sinne Imdahls, in der mehrere Ereignisse zu einer „äußersten Geschehensdichte“ komprimiert sind.133 Während Jakobus sich zum 132  Ein wohl frei nach dem nachgestellten Modell Cranachs gemalter, mit der Hand zurückgerissener Haarschopf findet sich um 1585 auch in Ludovico Carraccis Geißelung Christi (Douai, Musée de la Chartreuse); vgl. dazu Keazor 2007, S. 185 und Boschloo 1974, Bd. II, S. 190, Anm. 5. 133  Imdahl 1994, S. 309, bzgl. der Figur Christi im Codex Egberti; zur Gefangennahme vgl. ebd., S. 311–312.

136 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Kuss nach links wendet, wird er von seinem Henker nach rechts gezogen. Er ist ergriffenes Opfer und handelnder Akteur zugleich, die Fesseln hängen lose um seine Handgelenke. Die beiden Männer sind bildlich erniedrigt und doch – dank ihrer Unabhängigkeit vom äußeren Geschehen – frei. Währenddessen blickt der Herrscher gelangweilt oder melancholisch auf das Drama hinab. Der Märtyrer ist, wie Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch gezeigt hat, der absolute Gegenspieler des Souveräns: „Tyrann und Märtyrer sind im Barock die Janushäupter des Gekrönten. Sie sind die notwendig extremen Ausprägungen des fürstlichen Wesens“, denn beide erheben sich über das Gesetz.134 Der Tyrann tut dies, indem er einen Ausnahmezustand schafft, der Märtyrer, indem er sich freiwillig für den Tod entscheidet. Luciano Cuppini sieht Cigolis „schüchterne Annäherung an die Wahrheit des Realen“ auf „das weiche Inkarnat und den effekthascherischen Pikturismus“ des Gemäldes beschränkt; doch mit einem solchen Begriff von „Realismus“ wird man dem Werk nicht gerecht. Cigolis Wahrheit liegt eher im Gegensatz der Affekte, der eine kathartische Wirkung auf die Betrachter haben soll.135 Er zeigt weder rollende Köpfe noch spritzendes Blut, sondern jeweils den Moment kurz vor dem entscheidenden Schlag, in dem die Zeit stillzustehen scheint und ein Moment der Ein- und Umkehr möglich ist. Besonders greifbar wird die temporale Verdichtung in den Zeichnungen für ein Martyrium des Hl. Sebastian, in dem sich die Spannung der Sehnen zweier Bögen, an welche die Schützen bereits ihre Pfeile gelegt haben, auf den Betrachter überträgt (Abb. 57).136 Anders als von Gilio gewünscht, zeigt Cigoli Sebastian nicht als „von Pfeilen gespicktes Stachelschwein“, sondern erneut in dem Augenblick, bevor die Pfeile der Schützen den makellosen, an einen Baumstumpf gebundenen, nackten Körper treffen.137 Ausgestellt ist ein der brutalen Gewalt vollkommen ausgelieferter Leib, der von der Wahrheit zeugt. In einer Notiz unterhalb der Zeichnung wendet sich Cigoli mit der Bitte an seinen Auftraggeber, ihm bei der Gestaltung eine „licenzia poetica“ zu gewähren, die es ihm erlaube, mit dem langen, schmalen Format umzugehen und dem Bild mehr „Erfindung“ und „Kraft“ zu verleihen (mi da campo, à maggior / invenzione, torna più aperto et con più forza).138 Da die 134 

Benjamin 1925/1982, S. 51; vgl. dazu Weigel 2007, S. 13–15; Behrmann 2009 und 2015, S. 362–371. 135  Cuppini 1963, S. 53. 136  London, BM 1910-10-13-2. Faranda weist die Attribuierung zweier Sebastian-Bildnisse an Cigoli zurück, publiziert aber eine Zeichnung aus der Eremitage, die den Heiligen in einer ähnlichen Haltung zeigt (vgl. Faranda 1986, S. 175, Nr. 94). Chelazzi Dini 1963, Nr. 57b verweist auf ein angeb­ lich von Cigoli signiertes Sebastiansgemälde in einer Florentiner Privatsammlung. 137  Gilio 1564/1961, S. 42: „Certo sarebbe cosa nova e bella vedere […] Sebastiano pieno di frezze rassimigliare un estrice.“ Vgl. Gregori/Dini 1963, S. 58 und Matteoli 1980a, Nr. 86 A. Christian Hecht liest diese Formulierung als ironische Überspitzung (vgl. Hecht 2012, S. 434). 138  „Se si fa interra al palo non mi pare di acomodarmi a mia …/ et tanto più mi ripugnia lo spazio stretto et lungho. Imp …/ mi vorrei pigliare un poco di licenzia poetica, come dalla altr …/ iò o fatto, del

137 3. Blutzeugen: Märtyrer

57. Cigoli, Martyrium des Hl. Sebastian, braune Tusche auf Papier, 40,9 × 18,9 cm, London, British Museum, Inv. 1910.1013.2.

58. Cigoli, Martyrium des Hl. Sebastian, Verso von Abb. 57.

Umstände des Auftrags nicht bekannt sind, lässt sich nur spekulieren, inwiefern Cigolis Entwurf von den Vereinbarungen abwich. Wahrscheinlich aber ist, dass er den Heiligen durch Assistenzfiguren und Details ergänzen wollte. Die „forza“ des Bildes resultiert vor allem aus dem Gegensatz zwischen der immobilisierten Haltung Sebastians und den wehenden Gewändern der Schützen. Das verso zeigt eine noch dynamischere Komposisituarlo sollevato per che mi da campo, a maggior …/ invenzione, torna più aperta et con più forza. Con tutto ciò [detto]/ le piace che sono prontissimo per servirla con ogni Affetto …“ Vgl. Chappell 1971, S. 177–178 und 1981, S. 89–90.

138 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

59. Cigoli, Steinigung des Stephanus, sig.dat. ‚LOD.CIG. F. 1597‘, Öl auf Leinwand, 450 × 287 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. 1890/8713.

tion: In das Bild führt nicht der Blick einer verzweifelten Augenzeugin, sondern der Rücken eines Schergen. Vor allem aber ist die Hauptfigur nun dem Sebastian Fra Bartolomeos nachempfunden, deren Nacktheit Vasari zufolge großes Aufsehen erregte.139 Nun von Pfeilen durchbohrt, hängt der Heilige an einem Baum und blickt mit aufgerissenen Augen aus dem Bild (Abb. 58). 139 

Vgl. Vasari 1973, Bd. IV, S. 188 und ausführlicher in Kap. VII.2.

139 3. Blutzeugen: Märtyrer

60. Giulio Romano, Steinigung des Stephanus, 1520–1521, Öl auf Holz, 288 × 403 cm, Genua, S. Stefano.

Grundsätzlich lassen sich im späten 16. Jahrhundert zwei Stränge beobachten: einerseits eine zunehmende Brutalisierung, andererseits eine Vorliebe für lyrische Szenen wie etwa die Pflege Sebastians durch Irene statt seines Martyriums. Offene Gewalt zeigt Cigoli nur in dem Gemälde der Steinigung des Stephanus aus dem Jahr 1598, das Pietro da Cortona als das beste Florentiner Bild seiner Zeit bezeichnet (Abb. 59).140 Was wir sehen, ist nicht eigentlich eine Steinigung, sondern eine brutale körperliche Misshandlung. Der viktorianischen Kunsthistorikerin Anna Jameson erscheint die Steinigung, deren „rigour and pathos“ sie bewundert, „more like a murder than a martyrdom“.141 Kniet Stephanus in älteren Darstellungen meist isoliert in einer Art Lichtung, in die erboste Juden aus einiger Distanz Steine werfen, präsentiert Cigoli einen emotional aufgeladenen, physischen Angriff. Für Weisbach markiert Cigolis Gemälde, besonders im Vergleich mit dem Genueser Altarbild Giulio Romanos, den „Übergang von dem idealisierenden Stil der

140  Vgl. Baldinucci, der zu Pietro da Cortonas Lob des Bildes als „… la più bella di quante egregie pitture possiede la nostra città“ hinzufügt: „… ed è concetto universale che quando il Cigoli non avesse fatto altro che quest’ opera, sarebbesi con essa sola, a gran ragione guadagnato il nome del Correggio Fiorentino“ (1812, Bd. IX, S. 109). Cigolis Vorbild war Santi di Titos Steinigung in SS. Gervasio e Protasio von 1579, in dem allerdings die Saulusgruppe fehlt (vgl. Contini 1991, S. 50). 141  Jameson 1857, S. 535.

140 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Hochrenaissance zum Barock“ (Abb. 60): Giulio Romano „isoliert den Heiligen, der im Vordergrunde in einer gemessenen, wohl ausbalancierten Haltung kniet […], während sich die andringende Schar der die Steinigung vollziehenden Juden in weitem Bogen um diese Gruppe zieht. Bei Cigoli dagegen ein wüstes Handgemenge: wild aussehende Henkersknechte mit gemeinen und teuflischen Zügen zerren, treten und steinigen den umsinkenden und aus Wunden blutenden Stephanus“.142 Cigolis Diagonalkomposition sei „barock gedacht“, „die Glieder unter Entwertung der Einzelformen mit komplizierterer Gruppenbildung und malerischer Absicht ineinander verschachtelt“ – mit dem Ziel, menschliche „Urinstinkte“ zu wecken und ein „sinnliche[s] Pathos der Grausamkeit“ zu entwickeln.143 Das Knien des Heiligen erscheint nicht mehr als selbstgewählte Pose, sondern als Folge der Misshandlung. Stephanus hat die Balance verloren und ist mit ausgebreiteten Armen auf die Knie gesunken, während die Tassel noch nachschwingt. Die ausgebreiteten Arme können sowohl als Gebetsgeste als auch als Versuch gedeutet werden, das Gleichgewicht zu halten. Ihre starke Diagonale vermittelt zwischen Himmel und Erde und weist einen Weg aus dem Knoten aus Körpern. Die Extremitäten überschneiden sich mehrfach: Der linke Scherge berührt mit dem Fuß Stephanus’ Bein und mit der Hand die Achsel seines Nachbarn; dieser scheint mit dem Ellbogen die Stirn seines Nebenmanns zu berühren, der wiederum Stephanus an der Schulter packt, während sein vorgestellter Fuß von der linken Hand des Heiligen überschnitten wird. Der über Stephanus’ Kopf gehaltene Stein wird ihm den letzten Schlag versetzen, doch der Scherge im Vordergrund hält den Werfer zurück, als wollte er die Folter absichtlich verlängern. In diesem Moment zeitlichen Stillstands reißt der Himmel auf und Stephanus erblickt die Trinität. Der brutalen Gewalt steht auch hier die Erlösung entgegen, beides vereint sich in Stephanus’ Gesicht: Während das Blut von der Stirn fließt, sind die geröteten Augen zum Himmel gerichtet.144

4. Augenzeugen: V isionä r e Das Problem von Blutzeugen besteht darin, dass sie durch ihren Tod zwar ihren Glauben, nicht aber dessen Wahrheit zu belegen vermögen. Der englische Jesuit Robert Southwell bringt das Problem 1587/88 auf den Punkt: „For if all were martyrs, that die for their religion, then many heresies both contrary among themselves, and repugnant to

142 

Weisbach 1920, S. 158. Ebd., S. 159. Eine plastische Beschreibung gibt auch Busse 1911, S. 20. 144  1603 macht Ripa die „occhi rivolti al cielo“ zum festen Bestandteil des Märtyrerbildes (Ripa 1603, S. 304). 143 

141 4. Augenzeugen: Visionäre

the evident doctrine of Christ, should be truths, which is impossible.“145 Nicht jedes religiös motivierte Selbstopfer also sollte als Martyrium gelten. Parallel zur Martyrologie entwickelten sich deshalb Antimartyrologien, und zwar bei Katholiken wie bei Protestanten unterschiedlicher Orientierung.146 Das Frontispiz zum Martyrologium Romanum kennt und löst das Problem durch den inschriftlichen Verweis auf Cyprians Aussage, wonach niemand ein Märtyrer sein könne, der nicht der [richtigen] Kirche angehöre: „… esse martyr non potest qui in Ecclesia non est.“ Baronio spricht dementsprechend nicht nur von „falschen“, sondern auch von „Pseudomärtyrern“.147 Neben Cyprian bot Augustinus eine vielzitierte, aber kaum gegen die sinnliche Performanz wirksame Unterscheidungshilfe. Ihm zufolge war nicht die Strafe, sondern die Ursache ausschlaggebend dafür, ob ein Opfer als Märtyrer bezeichnet werden konnte: „Christi martyrem non facit poena sed causa.“148 Wahre Standhaftigkeit im Tod war als Distinktionskriterium deshalb problematisch, weil die Menschen auch in die Irre geleitet oder vom Teufel gestützt sein könnten, weshalb man früh dazu riet, zwischen constantia und pertinancia zu unterscheiden.149 Ein Zusatzkriterium waren im Zuge des Martyriums gewirkte Wunder bzw. die Wirksamkeit der Fürbitte. Baronio vergleicht Häretiker, die sich als wahre Märtyrer ausgeben, ohne postume Wunder zu wirken, mit Wespen, die zwar die Bienen nachahmen, aber keinen Honig produzieren.150 In der Legenda Aurea fungiert weniger die Todesbereitschaft als die Leidensresistenz der Märtyrer als Beleg ihrer Heiligkeit, die oft noch vor Ort zu Konversionen der Umstehenden führt. Die Verantwortlichen ereilt häufig eine göttliche Strafe, die zumindest retrospektiv die Unrechtmäßigkeit der Tötung bzw. die Wahrheit des Zeugnisses zu belegen vermag.151 Indem Cigoli einige seiner Märtyrer zu Visionären macht und damit den Referenten ihres Zeugnisses ins Bild setzt, liefert er einen weiteren, bildlichen ‚Beweis‘ für die Gültigkeit ihres Bekenntnisses. Denn „auch wenn weder der Visionär selber noch ein Beobachter seiner Ekstasen die ‚Wirklichkeit‘ der Vision mit Gewissheit bestätigen oder leugnen kann“, so Victor Stoichi¸t ˘a in seinem grundlegenden Werk über die spanische Visionsmalerei, „spielt der Betrachter eines Visionsgemäldes die Rolle eines Beobachters des Visionsakts, der die sichtbare Wirklichkeit der Erscheinung bezeugen kann.“152 Der Betrachter ist gegenüber den bildinternen Beobachtern im Vorteil, weil er mit dem Visionär zugleich dessen Vision zu sehen vermag. Gerade weil das Zeugnis empirisch nicht überprüfbar ist, ist die bildliche Evidenz entscheidend. 145  146  147  148  149  150  151  152 

Gregory 2001, Kap. 8. Ebd., S. 316. Baronio 1589, S. xxi: „De falsis hæreticorum martyribus, eorundemq[ue] pseudomartyrologiis“. Augustinus, Ad Cresconium grammaticum, III:47; vgl. Gregory 2001, S. 329–339. Vgl. Gregory 2001, S. 333–335. Baronio 1589, S. xxiv im Anschluss an Tertullian; vgl. Gregory 2001, S. 328. Vgl. dazu Schirrmeister 2000, S. 136. Stoichi¸t ˘a 1997, S. 200.

142 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

61. Cigoli, Laurentiusmartyrium, sig.dat. ‚L.C. 1590‘, Öl auf Holz, 300 × 175 cm, Figline Valdarno, Museo della Collegiata di Santa Maria.

Besonders bemerkenswert ist Cigolis Strategie, wo es, wie im Falle des Hl. Laurentius, keine Textgrundlage für eine Vision gibt. In seinem frühen Laurentiusmartyrium für eine Bruderschaft des Hospitals von Figline Valdarno bei Florenz aus dem Jahr 1590 zeigt Cigoli den Märtyrer auf einem Rost vor dem erhöhten Thron des Kaisers Valerian just in dem Moment, in dem die Flammen auf den jugendlich schönen, noch unversehrten Körper übergreifen und zwei Schergen ansetzen, ihn mit Zangen auf dem Rost zu wenden (Abb. 61).153 Zu diesem Zeitpunkt hat Laurentius bereits auf wunderbare Weise zwei 153 

Vgl. Contini 1991, S. 36 und Chappell in: ders./Barbolani di Montauto 2008, S. 110, Nr. 2.14. Contini nennt das Gemälde „il manifesto rivoluzionario della nuova pittura fiorentina“ (Contini 2000, S. 178).

143 4. Augenzeugen: Visionäre

62. Tizian, Lauren­tius­ martyrium, 1548–1559, Öl auf Leinwand, 493 × 277 cm Venedig, S. Maria Assunta dei Gesuiti.

Folterungen überstanden und mit seiner Standhaftigkeit seinen Gefängniswärter bekehrt; doch reichen Cigoli diese Belege nicht aus. Die Heiligmäßigkeit soll im Moment des Martyriums selbst sichtbar werden, durch den Körper und das, wovon er zeugt. Leib und Gesicht des Heiligen drücken keinerlei Schmerzempfindung aus, sondern externalisieren seine mystische Erfahrung, die zusätzlichen Ausdruck in einem Lichtkegel findet.154 Oberhalb der Augen des Sterbenden reißt im Dunkel der Nacht ein goldleuchtender Himmel auf, in dem zwei Putti Laurentius eine Krone und eine Märtyrerpalme reichen. Die ausgestreckte Hand scheint schon nach der Palme zu greifen. Das Symbol wird zu einem materiellen Bestandteil der Szene oder zumindest der Vision des Märtyrers. Die 154 

Vgl. Stoichi¸t ˘a 1997, S. 201 und Gaston 1974, S. 362.

144 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Tatsache, dass der Fluchtpunkt der Zentralperspektive genau auf der Handfläche des Heiligen liegt, unterstreicht diese Verbindung von Auge und Hand, Sehen und Greifen (vgl. Abb. 150).155 Das Transzendente liegt auch hier nicht in der Tiefe, sondern in der vertikalen Begegnung von Himmel und Erde. Diese Begegnung wird jedoch nicht für die vor Ort anwesenden Zeugen, sondern nur für den Betrachter sichtbar. Er sieht mehr als der Herrscher, für dessen erhöhtes Auge das Spektakel inszeniert wird. Der komplizenhafte Blick Valerians aus dem Bild und das extreme Heranrücken des Rosts an die Bildebene machen den Betrachter zum privilegierten Zeugen, der Laurentius’ imitatio Christi in letzter Konsequenz selbst imitieren soll. Die bildinternen Zuschauer und die Schergen sind blind, der externe Betrachter aber zeugt für den Zeugen. Voraussetzung ist, dass der mediale Status des Bildes vergessen wird und die Wahrheit sich scheinbar selbst zeigt, denn sonst würde nach dem Bezeugten – dem Evangelium – und dem Blutzeugen nun auch das Bild als dritte Instanz der Lüge verdächtigt. Wie der unversehrte Körper Sebastians entspricht auch der Leib des sich auf dem Rost räkelnden Laurentius nicht der Forderung Gilios, ihn der veritas historica entsprechend „verbrannt, gekocht, aufgeplatzt, zerfetzt und deformiert“ zu zeigen.156 Stattdessen wählt Cigoli erneut den Moment kurz vor dem Übergreifen der Flammen. Eine kleine, leuchtende Feuerzunge an Laurentius’ Lendentuch fungiert als Blickfänger. Sie wird den schönen Körper rasch verzehren; das grausame Spektakel wird vor das innere Auge verlegt. Damit scheint das Bild Molanus’ Forderung nach Bildern, die „gleichsam wie Funken die Herzen der Menschen entflammen“, bildlich umzusetzen.157 Als Vorbilder dienten Cigoli offenbar Tizians 1548/57 bzw. 1567 entstandene Fassungen des Themas in der Chiesa dei Crociferi in Venedig (heute i Gesuiti) und im Escorial, die genaue Textobservanz für bildliche Innovationen nutzen (Abb. 62). Erstens integriert Tizian im Anschluss an Prudentius eine Vesta-Statue und kontrastiert so die heidnischen Idole mit der christlichen Bildkunst, zweitens gestaltet er die Szene in Anlehnung an die Legenda Aurea als Nachtstück.158 Schon David Rosand hat die Inszenierung von Licht und Dunkel als zentrales Bildthema erkannt: Laurentius’ Aussage, wonach seine Nacht kein Dunkel kenne und alle Dinge leuchten, nimmt Tizian zum Anlass einer virtuosen Inszenierung verschiedener Lichtarten. Vor allem in der venezia155  Zu der perspektivischen Vorzeichnung GDSU 2002 S vgl. Chappell 1992, S. 13–15, Nr. 7 und Kap. V.3. 156  Gilio 1564/1961, S. 42: „Certo sarebbe cosa nova e bella vedere […] Lorenzo ne la graticola, arso, incotto, crepato, lacero e difformato.“ Zur Laurentiusmarter vgl. auch Gallonio 1591, S. 90/91. 157  Molanus 1570, Kap. 29, fol. 61r: „Ut ergo sacris diuorum imaginibus honor & veneratio maior impendatur, oportet eas sic depingi, sculpi & effigiari, ut quosdam velut igniculos, in hominum pectoribus succendant …“ 158  Zu dem venezianischen Gemälde vgl. Vasari 1973, Bd. VII, S. 453. Tizian orientiert sich streng an dem Bericht des Prudentius aus dem 4. Jahrhundert, der Laurentius’ Tod als Sieg über die heidnischen Kulte in Rom interpretiert, die Tizian in einer Vesta-Statue verkörpert (vgl. Gaston 1973 und 1974).

145 4. Augenzeugen: Visionäre

nischen Version bricht himmlisches Licht durch die Wolken, während Fackeln und Rost von Feuer glühen und die Körper und Rüstungen Licht reflektieren.159 Cigoli führt die Idee des Einbruchs metaphysischen Lichts ins Extrem und unterstreicht den visionären Charakter des Lichtpfeils. Schon in seiner Steinigung des Stephanus aus dem Jahr 1597 reißt im Moment äußerster Gewalt der Himmel auf und gibt den Blick auf die dreigestaltige Gottheit frei (vgl. Abb. 59). Anders als im Laurentiusmartyrium gibt es hierfür eine Textgrundlage: Cigoli kombiniert zwei sukzessive Momente des Johannesevangeliums, Stephanus’ Rede in der Synagoge – „Ich sehe den Himmel offen und den Sohn zur Rechten Gottes stehen“ (Apg 7,56) – und seine darauffolgende Steinigung.160 Vision und Marter, Tod und Aussicht auf Erlösung fallen in eins. Die Öffnung des Himmels wird durch die ungewöhnliche Schrägstellung der Wolkenbänke figuriert, die Stephanus, wenn überhaupt, nur einen kleinen Spalt optischer Sichtbarkeit lassen. Auf die Knie gesunken, die Arme weit ausgebreitet, vermittelt sein Körper zwischen Himmel und Erde. Stephanus’ Augen sind nach oben gerichtet, während das Blut von seiner Stirn zu Boden tropft: Blick und Blut fungieren als zwei – auch für die Anwesenden sichtbare – Weisen des Bekenntnisses. Der Gegensatz zwischen der körperlichen Gewalt und der verheißungsvollen Vision wird bildlich durch den Gegensatz zwischen den kräftigen Farben und dem Detailreichtum der Marterszene einerseits und dem lichten, unscharfen Himmelsausblick andererseits markiert; der auffällige Größenunterschied unterstreicht zusätzlich die räumliche Entfernung. Für Cigoli gilt demnach, was Panofsky verallgemeinernd behauptet, aber letztlich nur auf eine bestimmte Klasse neuzeitlicher Gemälde zutrifft, nämlich dass die Visionsdarstellung die Unterscheidung zweier Bildmodi verlangt, einen entwickelten „Naturalismus“, von dem sich die Darstellung der imaginären Erfahrung unterscheiden lässt. David Ganz hat dieses Verfahren treffend als „Modell negativer Analogie“ bezeichnet, das Farben, Detailschärfe und Maßstab im Wechsel von Realität zu Vision umkehrt.161 Damit entspricht Cigoli bis ins Detail der Forderung Cristoforo Sortes, die Alterität der Vision durch die Wahl der Bildmittel auszudrücken: „Ich denke, man sollte keine grellen und allzu stofflichen Farben verwenden, sondern weiche und zarte, die geeignet sind, eine übermenschliche Substanz und reine Gottheit darzustellen […]. Zudem muss 159 

Vgl. Rosand 1975, S. 63. Bereits die früheste überlieferte Darstellung des Martyriums, Cosmos Indicopleustes’ Christliche Topographie, und die byzantinische Tradition verbinden Vision und Steinigung. Durch Raffael wird die Vision erstmals Teil der Komposition (vgl. Henning 2000, S. 208–209). 161  David Ganz hat gezeigt, dass Panofskys wie auch Stoichi¸t ˘a s Thesen zur Visionsdarstellung für das Mittelalter nicht zutreffen: Die Vision ist hier oft nicht eindeutig von der Umgebung getrennt, dem Visionär wird ein quasi göttlicher Blick zugesprochen, der keine eindeutige Analogisierung mit dem Betrachter erlaubt. Die Vision wird nicht mimetisch nachgeahmt, sondern eher durch ein relationales Gefüge nach Art eines „Lageplans“ repräsentiert (Ganz 2008, S. 18–21). 160 

146 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

man wissen, dass die göttlichen Dinge, die manchmal erscheinen, immer von einem anmutigen Glanz umgeben sind. Sie sind in ein sehr sanftes Licht getaucht und setzen eine Fernperspektive voraus, die vielen Malern unbekannt ist, weil sie mehrerer Ebenen und Distanzen bedarf.“162 Cigolis Perspektive entspricht in etwa derjenigen von Tizians Gloria für Karl V., das heißt, die Vision ist in leichter Untersicht gezeigt, die dem Betrachter den Eindruck vermittelt, von einem irdischen Standpunkt oder sogar mit den Augen des Visionärs zu schauen.163 Zusätzlich nutzt Cigoli das di sotto in sù für dramatische Lichteffekte, die an der Grenze zwischen der von himmlischem Glanz erhellten Oberund der dunklen Unterseite der Wolken entstehen. Tatsächlich allerdings legt er den Fluchtpunkt für die Himmelsszene wesentlich höher als den der Marter, um allzu starke Verkürzungen zu vermeiden und dem Betrachter eine überzeugende Ansicht zu bieten. Die Kompromisslösung entspricht dem Plädoyer Vicente Carduchos, die formale Richtigkeit dem visuellen Eindruck nachzuordnen: „Die Erfahrung und die Klugheit lehren uns, dass eine übertriebene Strenge große Nachteile für den Gesichtssinn mit sich führen kann, weil man die Figuren und Historien durch ihre Verkürzungen so sehr entstellen und unkenntlich machen würde, dass sie dem Auge unangenehm und dem Verstand unbegreiflich wären.“164 Die hardliner allerdings wollten die Inkohärenz zweier Fluchtpunkte für Himmel und Erde nicht tolerieren: „Die neuen Kenner der Perspektive waren darüber empört; sie verwarfen diese Lösung und erklärten es für unmöglich, dass der Fluchtpunkt unten und die historia oben sei. Niemals könne man von unten die Oberseite der Wolken sehen, die als Boden dient oder auf der die Figuren sitzen. Man behauptete also, dass dies ein Zeichen großer Unwissenheit und gegen alle Kunst und Vernunft sei.“165 Die Berechtigung solcher Darstellungen verdanke sich der tieferen Einsicht der Maler in das Wesen der Vision: „Diejenigen, die solche Gemälde geschaffen haben, hatten in der Beschauung höhere Regionen als andere erreicht und waren, im Einklang mit einer bestimmten Philosophie, der Ansicht, dass das, was sie malten, nichts mit dem leiblichen Sehen zu tun hatte. Es sollten vielmehr bildhafte Visionen oder geistige Erscheinungen sein, die nur unserem Verstand oder unserer Einbildungskraft zugänglich sind.“166 Gerade dann aber stellt sich das Problem der Objektivierung, denn die innere Schau ist notwendig privat. Vor diesem Hintergrund erweist sich Cigolis Steinigung als Reflexion über drei unterschiedliche Formen der Zeugenschaft: das Blutzeugnis des Märtyrers, die Augenzeugenschaft der Umstehenden und die Wahrnehmung des Betrachters.

162 

Sorte 1580/1960, S. 293–296; vgl. Stoichi¸t ˘a 1997, S. 86. Für den Hinweis auf Cristoforo Sorte und die unterschiedlichen Stilmittel danke ich Benjamin Paul. 163  Bekannt war das Bild durch den Stich von Cornelis Cort aus dem Jahr 1565. 164  Vicente Carducho, Diálogos de la pintura, Madrid 1633, S. 223–224, zit. nach Stoichi¸t ˘a 1997, S. 95. 165  Ebd., S. 255 und Stoichi¸t ˘a 1997, S. 91. 166  Ebd., S. 227 und Stoichi¸t ˘a 1997, S. 95.

147 4. Augenzeugen: Visionäre

Denn obgleich sie sich auf engstem Raum befinden, sehen die Anwesenden Unterschiedliches: Die Schergen sehen den Heiligen nicht als solchen; Stephanus sieht nicht seine Peiniger, sondern die Vision; die Zuschauer rechts schauen auf Stephanus, doch die Brille, die einer von ihnen in einer Vorzeichnung trägt, ist Zeichen seiner Blindheit.167 Am linken Rand hat sich ein moderner Zeuge, der Stifter Zaccaria Tondelli, eingeschmuggelt, er schaut aus dem Bild zum Betrachter.168 Die Figuren vor ihm wenden sich vom Geschehen ab und sehen nichts. Der Steinwerfer vorne rechts sieht zwar nicht die Vision, wohl aber Stephanus als Sehenden. Der Betrachter vor dem Bild schließlich sieht den Visionär und seine Vision, die Schauenden und die Wegschauenden. Die trotz der relativen Nähe zum Ereignis stark verkleinerten Figuren der Gruppe links bilden eine in sich geschlossene Einheit, die von dem muskulösen Rücken des Schergen im Vordergrund abgegrenzt wird. Es handelt sich um den römischen Soldaten Saulus, der laut Apg 7,58 über die abgelegten Kleider der Schergen wachte und nun gerade dabei ist, einem Mann aus dem Hemd zu helfen (Abb. 63). Dabei wendet er sich von dem Ereignis ab und sieht damit ebenso wenig wie derjenige, dessen Kopf vollständig von seinem Gewand überdeckt ist. Für die auffällige Figur des Hemdüberziehers gibt es kaum Vorläufer in einer Steinigung des Stephanus, wohl aber in einem anderen ikonographischen Kontext, der Taufe.169 Marilyn Aronberg Lavin hält ein Wandgemälde im Baptisterium von Parma aus der Zeit um 1350 für die erste italienische Übernahme des offenbar byzantinischen Motivs (Abb. 64).170 Ähnliche Figuren finden sich beispielsweise in einer Zeichnung aus dem Umkreis Pisanellos, die wohl die verlorenen Fresken Gentile da Fabrianos im Lateran dokumentiert, in Piero della Francescas Taufe Christi in Borgo San Sepolcro und in einer Volkstaufe der Gebrüder Salimbeni im Oratorio di S. Giovanni in Urbino (Abb. 65–66). In Florenz konnte Cigoli eine vergleichbare Figur in Bartolomeo di Giovannis Predella aus dem Jahr 1488 sehen (Abb. 67), vor allem aber in Andrea del Sartos Grisaillefresko der Volkstaufe im Chiostro dello Scalzo von 1515–1517, das den Malern seiner Generation als unerschöpfliches Modell gedient haben soll (Abb. 68).171 Tatsächlich findet sich ein solcher Täufling auch in Cigolis eigenem Werk. Die Figur erscheint in zwei Vorzeichnungen für ein verlorenes Gemälde der Taufe Christi aus dem Jahr 1603, in denen sie jeweils auf der linken Seite neben Christus steht (Abb. 69).172 167 

GDSU 996 F. Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 110. 169  Ausführlicher in: Mersmann 2011. 170  Lavin 1981, S. 109–113. Bernhard Degenhart hat die Haltung des Neophyten auf einen Satyr in einem Dionysos-Sarkophag zurückgeführt (vgl. Degenhart/Schmitt 2004, S. 443–444). 171  Vasari lobt die Vielfalt der Haltungen von Andrea del Sartos Täuflingen, von denen sich einige entkleiden, andere warten und andere getauft werden (vgl. Vasari 2005, S. 33). 172  Vgl. die blau aquarellierte Tuschezeichnung GDSU 8804 F und die blassbraune Tuschezeichnung im Berliner Kupferstichkabinett Inv. 15455. Cardi erwähnt ein Battesimo di S. Giovanni in Livorno (1628/2010, fol. 3r, S. 105), weitere Quellen bei Chappell 1981, S. 59–61. 168 

63. Cigoli, Saul hilft einem Mann aus dem Hemd, Ausschnitt aus Abb. 59.

64. Anonym, Taufe Christi, um 1350, Fresko, Parma, Baptisterium.

65.  Pisanello (Umkreis), Zeichnung nach Gentile da Fabrianos Fresko der Taufe Christi im Lateran, um 1431–1432, Paris, DAGL RF 420.

66.  Piero della Francesca, Taufe Christi, 1448–1450, Tempera auf Holz, 167 × 116 cm, London, National Gallery.

68. Andrea del Sarto, Volkstaufe, 1515–1517, Grisaillefresko, 192 × 206 cm, Florenz, Chiostro dello Scalzo. 69. Cigoli, Taufe Christi, braune und blaue Tusche auf Papier, 17,7 × 17,5 cm, Florenz, GDSU 8804 F (Ausschnitt). 70. Cigoli, ‚Hemdauszieher‘, Steinigung des Stephanus, Florenz, GDSU 996 F (Ausschnitt).

67.  Bartolomeo di Giovanni, Taufe Christi, 1488, Tempera und Öl auf Holz, 23 × 53 cm, Florenz, Ospedale degli Innocenti (Ausschnitt).

150 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Der enge Konnex zu der Steinigungsfigur wird vor allem in jenen Vorzeichnungen deutlich, in denen der Hemdüberzieher mit nacktem Torso gezeigt wird (Abb. 70).173 Ob die Figur zu Cigolis Werkstattfundus gehörte oder über die Formkorrespondenz hinaus ein inhaltlicher Zusammenhang besteht, lässt sich nicht entscheiden. Zunächst handelt es sich bei der Figur um ein Virtuosenstück im Sinne Pinos, der in jedem Bild eine „forcierte, mysteriöse und schwierige“ Figur empfiehlt (sforciata, misteriosa e difficile).174 Trotzdem stellt sich die Frage, ob das Zitat gänzlich in seinem neuen Kontext aufgeht oder aber die Konnotationen von Taufe, Neubeginn und Konversion mittransportiert. Einen Schlüssel zur Interpretation der Rolle Sauls im Kontext der Steinigung liefert die ungewöhnliche Darstellung des Soldaten bei Giulio Romano, der, während er auf den Märtyrer weist, zum Himmel aufschaut und Christus anzublicken scheint (vgl. Abb. 60). Ausgerechnet Saulus, der blinde Verfolger, der auf seinem Weg nach Damaskus zugleich geblendet und erleuchtet werden (caecatus illuminatu est) und durch die Taufe sein Augenlicht zurückerhalten wird, ist der einzige Anwesende, der Stephanus’ Vision zu sehen scheint. Michael Fritz deutet diesen Blick als Vorzeichen seiner späteren Konversion, die in der Apostelgeschichte nur zwei Kapitel nach der Steinigung erzählt wird (Apg 9,3–6).175 Tatsächlich geht das Martyrium des Stephanus der Konversion Pauli nicht nur chronologisch voraus, sondern bedingt es auch. Denn es ist Stephanus’ Gebet im Moment seines Todes, das – in Analogie zu der Fürbitte Christi für seine Kreuziger – die Konversion seiner Verfolger erlaubt. Eben diesen Moment stellt Cigoli dar, denn laut der Apostelgeschichte sinkt Stephanus im Moment der Fürbitte auf die Knie (Apg 7,60). In seiner Predigt Pro solemnitate conversionis S. Pauli, die durch die Aufnahme in die Legenda Aurea weite Verbreitung fand, nennt Augustinus Saulus einen durch das Gebet des Stephanus in ein Lamm verwandelten Wolf: „Saulus lupus propter Stephani orationem mutates in ovem.“176 Dabei war es ausgerechnet die Lektüre einer Passage aus Paulus’ Römerbrief, die Augustinus’ eigene Konversion veranlasst hatte, besonders Paulus’ Aufruf, das fleischliche Vergnügen hinter sich zu lassen und „Jesus Christus anzuziehen“ (induite dominum Iesum Christum; Rm 13,13), beziehungsweise „das alte Selbst auszuziehen, 173 

ICG F.C. 124194 sowie GDSU 995 F und 1002 F. Dafür, dass Cigoli die Figur nach dem Modell zeichnete, spricht auch eine Rötelzeichnung in den Uffizien, die allerdings nicht ganz dieselbe Haltung aufweist. 174  Pino 1548/1960, S. 115; vgl. dazu Cole 2001, S. 532. 175  Vgl. Fritz 1996, S. 48–58. Wohl zu weit führt allerdings Fritz’ Vermutung, der rot-grün changierende Rock Sauls könnte als „Hinweis auf die innere Wandlung“ gelesen werden (ebd., S. 56). 176  Augustinus 1865, Bd. V.I, sermo 279, I.1, S. 1275; vgl. auch Bd. V.II, sermo 382, IV.4, S. 1686: „… elisus est lupus, erectus est agnus […] elisus est Saulus, erectus est Paulus. Nam si martyr Stephanus non sic orasset, Ecclesia Paulum hodie non haberet.“ Durch die Aufnahme in die Legenda Aurea erhielt Augustinus’ Predigt weite Verbreitung (vgl. de Voragine 1998, S. 198 und 200). Die Konversion findet einen weiteren Ausdruck in dem Namenswechsel von Saulus (dem Erwünschten) zu Paulus (dem Kleinen).

151 4. Augenzeugen: Visionäre

das von verwerflichen Begierden korrumpiert wird und das neue Selbst anzuziehen …“ (Eph 4,22–24).177 Es ist Stephanus’ Fürbitte, die es Saulus erlaubt, den alten Adam wie ein Gewand aus- und den neuen Menschen anzuziehen. Der Hemdüberzieher, der zunächst als eine Figur verweigerten Sehens erscheint, könnte somit als Figuration des inneren Wandels gedeutet werden. Dafür spricht auch die bildliche Umsetzung der Wortbedeutung, denn beim Ausziehen stülpt sich das Gewand um, es wird gleichsam ‚konvertiert‘.178 Zu Cigolis Zeit war das Motiv der Einkleidung durchaus verbreitet: Das Konzil von Trient zitierte in seinem Bußdekret den Brief des Paulus an die Galater: „… durch die Taufe ziehen wir Christus an und werden in ihm eine völlig neue Schöpfung“ (Gal 3,27).179 Die Mystikerin Maria Maddalena de’ Pazzi, die nach einer Verzückung im August 1586 alles daransetzte, die Erneuerung der Kirche voranzutreiben, flehte Angelo Pientini, den Beichtvater von Alessandro de’ Medici, eindringlich an, Christus „anzuziehen“: „Bitte, bekleide Dich, mein Vater, mit dem, der uns das Gewand und die Nacktheit hinterlassen hat […] bitte bekleide Dich, bitte bekleide Dich, bitte bekleide Dich, und fürchte Dich nicht, die Wahrheit zu sagen.“180 Während Cigolis Hemdauszieher durch eine Phase der Blindheit geht, um sehen zu lernen, verwandelt sich der Steinwerfer im rechten Vordergrund im Moment der Betrachtung. Obgleich keiner der Umstehenden die Vision sieht, scheint er zumindest zu ahnen, dass Stephanus etwas sieht. Mit offenem Mund starrt er auf sein Gesicht, das Leiden und Erlösung, Blut und Schau auf kleinster Fläche zusammenführt. Im Gegensatz zu den Grimassen der Schergen ist das „engelsgleiche“ Gesicht des Stephanus oval, hellhäutig, jung und glatt. Beim Anblick von Stephanus’ zugleich visuellem und körperlichem Zeugnis zeigt der vordere Scherge Zeichen der Reue. Wieder gelingt es Cigoli, in einem höchst dramatischen Bild die Handlung zu suspendieren und einen Moment der Zeitlosigkeit oder des Zögerns einzuführen – in die Betrachtung versunken, hält der Scherge seinen Stein zurück. In gewisser Hinsicht nimmt Cigolis Gemälde folglich vorweg, was es erzielen will. Einerseits soll es bekehren und die Blinden sehend machen, andererseits erreicht es dieses Ziel, indem es zeigt, was nur ein gläubiger Betrachter sehen kann. Cigoli inszeniert nicht nur das Martyrium, sondern auch ein Theater der Imitation, indem er dem Betrachter 177  Augustinus 1987, VIII.12.29, S. 416–417; vgl. Kol 3,9: „… ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird …“ 178  Vgl. Hadot 1971, Sp. 1035. 179  Sessio XIV, 25.11.1555, Wohlmuth 2002, S. 704: „Per baptismum enim Christum induentes nova prorsus in illo efficimur creatura …“ In Gal 3,27 heißt es: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt.“ 180  Vgl. Pazzi/Vasciaveo 2009, S. S. 59: „Dhe, Vestasi il mio Padre di quello che ha lasciato per noi la Vesta e spoglia, dico lo svenato Agnello; Dhe Vestasi; Dhe Vestasi; Dhe Vestasi; E non tema di dir la Verità …“ Vgl. ebd., S. 64, 89, 93 und 103 und Puccini 1675.

152 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

mehrere Identifikationsfiguren anbietet, die bereits unterschiedliche Grade der Konversion erreicht haben. Die sich ausziehende Figur ist entweder noch nicht zum Mittäter geworden oder schon dabei, den alten Adam auszuziehen. Stephanus jedoch hat Christus bereits angezogen: Seine für einen Diakon der frühen Kirche unangemessen reich bestickte Dalmatica wird zum sichtbaren Ausdruck der gegenreformatorischen Kirche, die durch die Erinnerung an die Märtyrer und die Paulinische Mission neu gestärkt worden war. Mit der „Veröffentlichung“ von Stephanus’ Vision wird sichtbar, was die Zuhörer seiner Rede nicht hören und die Anwesenden nicht sehen wollen oder können. Der Betrachter wird so zum Augenzeugen der Vision, die durch ihre Privatheit suspekt war – nicht nur, weil sie vorgetäuscht, sondern auch, weil sie Resultat einer geistigen Verwirrung oder des Einflusses von Dämonen sein konnte. Johannes Gerson hatte schon 1401 in De distinctionis verarum visionum a falsis „falsche Visionen“ auf manische und melancholische Zustände zurückgeführt; Johannes vom Kreuz eine strenge kirchliche Kontrolle visionärer Erfahrungen gefordert.181 Augustinus unterscheidet bekanntlich drei Formen der Wahrnehmung (genera visionum): die visio corporalis für das körperliche Sehen körperlicher Dinge, die visio spiritualis für das geistige, bildhafte Sehen nichtkörperlicher Dinge in der Offenbarung oder im Traum und die bildlose visio intellectualis für das innere Sehen von Bedeutungen und die Schau des göttlichen Lichts, die nur Engeln uneingeschränkt möglich ist.182 Die visio spiritualis jedoch konnte auch durch Dämonen verursacht werden, die Trugbilder vor das innere Auge zauberten, die dann aufgrund der Stärke der Einbildungskraft auf die äußeren Sinne übergingen.183 Francesco Cattani da Diacceto warnte deshalb 1567 vor dem Vermögen des Teufels, verschiedene Gestalten anzunehmen, wobei er wie ein Maler vorgehe, der seinen Figuren Form und Farbe verleihe.184 Dämonen könnten „Dinge vor uns erscheinen lassen, die dort nicht sind, sei es mittels irgendwelcher natürlicher Qualitäten, die solche Wirkungen erzielen können oder mittels der Kondensation von Luft oder auf irgendeine andere Weise“.185 Der

181 

Stoichi¸t ˘a 1997, S. 27. Vgl. Augustinus 1964, XII.36.69; S. 295–296. David Ganz hat die Augustinische Lehre der genera visionum für die Deutung mittelalterlicher Visionsbilder fruchtbar gemacht (vgl. Ganz 2008, S. 13–14). 183  Vgl. Kramer 1487/1992, S. 148–151 und Augustinus, De Civitate Dei, XVIII. 184  Cattani da Diacceto 1567, fol. 23r: „Possono anco formarsi de corpi & mostrarsi a nostri occhi in varie spezie sendo in lor’ potere oprar quelle cose che si conducon’ a fine col’ moto locale de corpi inferiori. Una delle quali è oprar’ corpi che paino d’huomo, ò di qual si voglia animale: constistendo la similitudine del corpo nella figura & nel colore. La figura s’induce mediante ’l moto locale […] i colori ancora s’inducono mediante ’l moto locale, onde i pittori col mezzo de pennelli et d’altri strumenti colorano i corpi …“ Vgl. dazu Cole 2002, S. 623. 185  Cattani da Diacceto 1567, fol. 27r: „Resta hora che dopo questo diciamo qualmente que maravigliosi effetti che da essi derivano, come è il far’ gittare fuori di bocca altrui, agora, chiovi, ossa, spugne, 182 

153 4. Augenzeugen: Visionäre

berühmte Exorzist Girolamo Menghi glaubt, dass Dämonen die Trugbilder mittels lokaler Bewegungen hervorrufen, indem sie wie Maler „Farben hinzufügen, vermindern oder verändern, oder die Luft verhärten und kondensieren“.186 Pérez de Valdivia stellt 1585 resigniert fest: „Es gibt keine Vision, die restlos sicher ist.“187 Die Skepsis kam jedoch nicht nur von außen, sondern oft schon von den Visionären selbst: Zuweilen trauten sie ihrer eigenen Erfahrung nicht. Torquato Tasso, der nach einer Ausfälligkeit gegen den Herzog von Ferrara 1579 für sieben Jahre inhaftiert worden war und in dieser Zeit nicht nur unter Depressionen litt, sondern auch Visionen erlebte, glaubte fest daran, verhext worden zu sein. Eine Befürchtung, die er auch zahlreichen Ärzten – unter anderem Girolamo Mercuriale – gegenüber äußerte.188 Mercuriale diagnostizierte eine melancholia hypocondriaca, die Modekrankheit der italienischen Elite des späten 16. Jahrhunderts, die der Galenianer als Folge eines Säfteungleichgewichts erklärte, gegen das er strenge Diät, Abstinenz und Medikamente verordnete.189 Nur Patienten, die „in natürlichen Dingen unwissend seien“, so schreibt er einem anderen Ratsuchenden, würden ihre Symptome auf den Einfluss von Dämonen zurückführen.190 Dabei war die Dämonologie zu seiner Zeit eine durchaus angesehene Wissenschaft, die auch zur Grundlage für Tassos Dialog Il Messaggiero über das Verhältnis von Realität, Vision und Traum wurde. Darin zweifelt er nächtliche Visionen wie Flammen und Schatten von Ratten an, weil sie von Dämonen, körperlichen Defekten oder geistiger Verwirrung verursacht sein könnten; bei seiner Marienerscheinung aber möchte er an ein göttliches Wunder glauben.191 ò oprar’ cose simiglianti, sono illusioni, tal che ci fanno parer’ quel che non è, ò mediante alcune qualità naturali attive, atte à cagionar’ simili effetti, ò mediante la condensazion’ dell’aria, o altro modo.“ 186  Menghi 1576/1987, S. 40: „… tutto ciò che col moto di questi corpi inferiori può esser fatto dalla natura, il Diavolo lo può fare, & per che il suo apparere in diverse forme […] & che questo sia vero, ce lo insegna l’esperienza dell’arte del pignere, poi che col moto locale, li pittori la fanno, aggiongendo, levando, mutando, & disponendo con tal moto detti colori con lo loro istrumenti“ und fol. 43: „… aggiongendo, sminuendo, mutando, & disponendo gli colori, indurando, & condensando l’aria …“ Vgl. Cole 2002, S. 623. 187  Pérez de Valdivia, Aviso de gente recogida, Barcelona 1585, S. 150, zit. nach Stoichi¸ta˘ 1997, S. 26. 188  Tasso 1854, Bd. II, Nr. 244, S. 237: „Nondimeno io ho certa opinione di essere stato ammaliato.“ Zu dem Briefwechsel vgl. Calabritto 2011. 189  Mercuriales Antworten sind nicht erhalten, lassen sich aber aus seinem Liber Responsorvm und Tassos Bemerkungen erschließen (vgl. ebd., S. 202–203). 190  Vgl. Mercuriale 1588, Bd. II, S. 47: „Iam vero quicunque varios melancholiae mores expendere diligenter vult, absque labore cognoscit, eum instar Promethei cuiusdam mille formas habere, milleque admirandos effectus in humanis corporibus producere, qui non temere, ut perhebent Hippocrates, & Avicennas a populo rerum naturae ignaro in Demonas referuntur.“ Vgl. auch Bd. IV, S. 28 und 89. 191  Vgl. Tasso 1854, Bd. I, S. 479–481, Nr. 656: „… E benchè potesse facilmente essere una fantasia, perch’io sono frenetico, e quasi sempre perturbato da vari fantasmi, e pieno di malinconia infinita; nondimeno, per la grazia d’Iddio, posso cohibere assensum alcuna volta; la quale operazione è del savio, come piace a Cicerone; laonde piuttosto dovrei credere che quello fosse un miracolo della Vergine …“

154 III. Veritas revelata: Sehen und Glauben

Eine ähnliche Unsicherheit spricht auch aus den Briefen von Maria Maddalena de’ Pazzi, die ihre eigenen Zweifel und die ihrer Umwelt mittels rhetorischer Strategien und der Anrufung von Autoritäten zu vertreiben versuchte.192 Ihre Mitschwestern konnten nur das „Dass“ der Verzückung bezeugen, die sich in schwer verständlichen Monologen äußerte. Der Inhalt konnte nach eigener Einschätzung nur von kirchlicher Seite oder anderen Mystikerinnen geprüft werden.193 In ihrem Bemühen, Mitstreiter zu finden, die sich mit ihr zum „Instrument dieser Wahrheit“ (instrumento da essa Verità; S. 58) machten, versuchte Maria Maddalena, ihre Leser mit eindringlichen Worten zu überzeugen. Die von ihr ständig beschworene „verità“ ist zunächst einmal Christus selbst: Er ist ihr Gemahl, ist Wort, Blut und „süße Wahrheit“ (esso mio Sposo Verbo dolce Verità; 68). Zugleich aber ist er Zeuge ihrer Wahrhaftigkeit: „Dieselbe Wahrheit weiß, dass ich nicht lüge.“194 Die „Wahrheit dieser Wahrheit“ müsse immer bekannt werden (sempre conferisca e referisca verità della Verità; 62). In ihrem Vorhaben geht die junge Mystikerin durchaus strategisch vor: Sie wendet sich nicht direkt an den Erzbischof, sondern zunächst an seinen Beichtvater, zwei Tage später jedoch an den Papst, dann an den Bischof, das Kardinalskollegium, die Mystikerin Caterina de’ Ricci und andere. Maria Maddalenas Strategie besteht darin, sich selbst als bloßes Medium zu präsentieren, das durchsichtig auf die Wahrheit wird. Sie behauptet, „im Namen“ Christi zu sprechen (da parte; 58 und 114) und der „Mund der Wahrheit“ zu sein (la bocca della Verità; 94). Immer wieder betont die Karmeliterin, dass nicht sie selbst, „die nutzlose, arme Dienerin“ (la inutile e miserabile serva sua; 65) es sei, die spreche, sondern Gott selbst (Dhe non pigli; Dhe non pigli queste Parole da Creatura alcuna; ma dall’ istesso Dio; 77). Ihre Bitten äußere sie unter Zwang (sforzata: 78, 89, 100, 107), das Zeugnis der Wahrheit sei beinahe unerträglich (Dhe si, sia quasi insopportabile in manifestar tal Verità; 102). Die Erneuerung verlangt das Ablegen aller Selbstverliebtheit und Verstellung. Fortan, so heißt es, gelte das Prinzip der „nackten Wahrheit“ (nuda Verità; 58).195 Für ihre Wahrheit ist Maria Maddalena auch bereit, das Martyrium zu erleiden.196 Trotzdem hat sie Angst, sich zu täuschen und fleht

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Im Unterschied zu mittelalterlichen Visionärinnen wie Hildegard von Bingen oder Brigitta von Schweden beschreibt Maria Maddalena ihre Erscheinungen nur andeutungsweise als visuelle (vgl. Ganz 2008, Kap. 4). 193  Vgl. Pazzi/Vasciaveo 2009, S. 49. 194  Maddalena an Alessandro de’ Medici am 30.7.1586, ebd., S. 78: „Ma tutto procedente Ma tutto procedente Ma tutto procedente da Dio stessa Verità, la cui Verità s’a che io non mentisco, E che dico la Verità, e essa Verità scrutator de cuori chieggo in testimonio di tutti e Pensieri, Parole, e attione che ho fatto, e farò in tal opera.“ 195  Ebd., S. 58–59: „E però da parte dell’humanato Verbo Constringo voi, insieme con gli altri coaiutatori, a spogliarvi d’ogni Amor proprio d’ogni rispetto humano e simulatione, andando sempre con ogni rettitudine, con Nuda Verità, e sincera parola, mettendovi innanzi lo svenato Agnello christo Jesu …“ Zum Topos der „nackten Wahrheit“ vgl. Konersmann 2008. 196  Ebd., S. 78: „Son preparata a sopportare ogni sorte di Morte che quella sapessi trovare.“

155 4. Augenzeugen: Visionäre

den Bischof an, zu ihr ins Kloster zu kommen, um sie einer Prüfung zu unterziehen: „Bitte kommen Sie, kommen Sie, um sich von der Wahrheit zu überzeugen, den Willen Gottes zu hören und zu sehen, ob diese Dinge von Gott herrühren oder von seinem Gegenspieler.“197 Erst nach dem Examen könne er glauben, was er wolle, ob das Ganze eine Illusion sei oder von Gott komme (E poi creda, o non creda, che sia da Dio, o sia Illusione; 78).198 Was Maria Maddalena von dem Bischof kraft seines Amtes erwartet, traut sie ­Caterina de’ Ricci, die mit ihren Mitschwestern in Prato die Erinnerung an Savonarola wachhielt, kraft ihrer seherischen Qualitäten zu und bittet sie, ihr „auf der Grundlage ihres Lichts“ zu antworten.199 Doch alle Bemühungen bleiben erfolglos: Caterina will nicht involviert werden und verweist die Karmeliterin an die Jungfrau Maria, die hier allein helfen könne.200 Sosehr Maria Maddalena den Bischof ein zweites Mal anfleht, die Ohren dem „Schrei der Wahrheit“ nicht zu verschließen und zu ihr zu kommen, bleibt ihr Brief unbeantwortet.201 Papst und Bischof strafen sie mit Nichtbeachtung, eine Antwort des Beichtvaters ist nicht überliefert. Die Kirche mochte um diese Zeit von einer Erneuerung offenbar wenig wissen. Eine Gefahr fürchtete sie durch Maddalenas Aktivitäten scheinbar nicht, obgleich die Karmeliterin vom Volk, aber auch von vielen Adeligen verehrt wurde und als Beraterin von Maria de’ Medici Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen suchte.202

197  Maddalena an Alessandro de’ Medici am 30.7.1586, ebd., S. 78: „Dhe venga, Dhe Venga a chiarirsi ormai della Verita e a intendere il Voler di Dio e vedere se procede tal cose da esso Dio, O dall’avversario suo: Et gli dico ancor che ci trovassi la contrarietà sua sento non dimeno nell’intrinsico mio che tal sia il Voler di Dio, et parmi essere sforzata dall’istesso Dio, a Credere che ciò sia la stessa Verità. […] purché esso venga, a chiarirsi della verità e intendere il Voler di Dio; E poi creda, o non creda che sia da Dio, o sia Illusione non mi recherà ne pena ne Contento purché vegga che esso metta in esecution l’opera la quale mi trovo essere sforzata, a fargli Noto.“ 198  Im zweiten Brief spricht sie von einem „inganno“: „Et gli replico che se non crede sia cosi, e teme, o dubita che sia inganno venga a Chiarirsi non volendo più sopportare che un Anima, a lui suggetta stia in tal pericolo, ma come Amorevol Padre dar l’ufitio suo Venendo, a liberare una sua Figliuola da tale inganno …“ (ebd., S. 107). 199  Maddalena an Caterina de’ Ricci am 10.8.1586, ebd., S. 104: „Dico dell’opera, e volontà sua, se veramente è opera sua o no; Vi prego a manifestarmi secondo il lume che n’havrete; et ancora se l’intrinsica Unione che ho con Dio, alcune volte constretta da esso Dio proceda da lui.“ 200  Vgl. das kurze Antwortschreiben Caterina de’ Riccis vom 12.8.1586, ebd., S. 212. 201  Maddalena an Alessandro de’ Medici am 24.8.1586, ebd., S. 107: „Venga, Venga, a Chiarirsi della Verità, ne voglia piu turare gli Orecchi alla Voce e Esclamatione della Verità.“ 202  Vgl. S. 213–214 und S. 174–176. Als Maria de’ Medici zu ihrer Hochzeit nach Frankreich reist, rät Maria Maddalena ihr nach einer Marienerscheinung zur Rehabilitierung der Jesuiten und zur Vernichtung der Hugenotten. Zum Lohn verspricht sie der künftigen Königin reichen Kindersegen (vgl. Cochrane 1973, S. 136).

IV. Ver ità della sci enz a : Sehen und R echnen

1. H i m me lsv isionen: befleckter Mond und unbefleckte Empfä ngnis Das Problem der Visionäre, ihre Erfahrungen von Täuschungen zu unterscheiden und glaubwürdig zu kommunizieren, ähnelt strukturell den Schwierigkeiten Galileis, seine Teleskopbeobachtungen zu interpretieren und Zweifler von seinen Deutungen zu überzeugen. Nachdem er 1609 das Fernrohr zum ersten Mal auf den Himmel gerichtet hatte, jagte eine Entdeckung die andere. Am 7.1.1610 beschrieb er die Mondkrater, bald darauf die Jupitermonde, die Venusphasen, die Sonnenflecken und die Gestalt Saturns.1 Am Collegio Romano hielt man die Jupitermonde im Februar 1611 noch für eine von den Linsen verursachte „Halluzination“.2 Grienberger schlägt deshalb höhnisch vor, die vermeintlichen Monde nicht „sidera Medicea“, sondern „sidera vitrea“ zu nennen.3 Ebenso wie Maria Maddalena de’ Pazzi bei ihren Erscheinungen damit rechnen musste, Trugbildern des Teufels oder der Imagination aufzusitzen, musste ein Astronom optische Täuschungen ausschließen und versuchen, die subjektive Wahrnehmung zu kollektivieren – durch Worte, Bilder und das Angebot an andere, sich mit einem Blick durch das Fernrohr selbst zu überzeugen. Dies jedoch scheiterte nicht nur häufig an den schwierigen Beobachtungsbedingungen, sondern auch am Widerstand der Theorie. Ein gewisser Zweifel war Paul Feyerabend zufolge vor dem Hintergrund des damaligen Wissensstandes, der schlechten Qualität der Teleskope und der vielfältigen Möglichkeiten der Täuschung durchaus berechtigt.4

1  Vgl. dazu Bredekamp 2007 und Biagioli 2002. Zum genauen Zeitpunkt der von Galilei vordatierten Erstbeobachtung der Sonnenflecken vgl. Bredekamp 2007, S. 227–228. 2  Paul Guldin an Johann Lanz am 13.2.1611: „… hallucinationem potius deceptionemque visus esse existimabant, quam veras observationes Astronomicas“, zit. nach Camerota 2004, S. 201. 3  Grienberger an Galilei am 22.1.1611, Opere, Bd. XI, S. 31. 4  Vgl. Feyerabend 1986, Kap. 10.

158 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Cigoli jedoch vertraut Galilei und empört sich über alle Menschen mit „verquollenen Augen“ (ochi gonfiati), die „Neues weder sehen noch glauben“ wollten.5 Auch der Neuem durchaus aufgeschlossene Astronom Christoph Scheiner zweifelt angesichts der „Unglaubwürdigkeit“ der Sonnenflecken zunächst an seinen eigenen Beobachtungen. In einem Brief an Markus Welser schreibt er am 12. November 1611: „Weil aber diese Dinge allen Glauben überstiegen, trugen wir anfangs Bedenken, ob sich dies nicht zufällig durch einen verborgenen Fehler des Auges, des Fernrohrs oder der Luft ereignete.“6 Auch seine Lösung besteht in der Berufung weiterer Zeugen: „Deshalb zogen wir die Augen verschiedenster Leute hinzu, die alle ohne Zweifel dasselbe in derselben Lage, Anordnung und Zahl sahen. Wir zogen daraus den Schluss, dass in den Augen kein Fehler sei; wie nämlich sollte es sonst geschehen, dass die Augen Verschiedener an einem Zustand derselben Art leiden und diesen an gewissen Tagen in einen anderen verändern?“7 Ähnlich verfährt Cigoli, der im März 1612 an Galilei schreibt: „Ich glaube nicht, dass es mir nur so erscheint, denn ich habe es auch anderen gezeigt; noch glaube ich, dass es ein Mangel des Teleskops ist, weil ich [die Sonnenflecken] in verschiedener Form sehe …“8 Am 30.1.1610 hatte Galilei angekündigt, den Traktat über die neuen Sterne „an alle Philosophen und Mathematiker“ und „ein Exemplar zusammen mit einem vortrefflichen Fernrohr, mit dem all diese Wahrheiten nachgeprüft werden können“, an den Großherzog zu senden.9 Die Veröffentlichung der Beobachtungen und die Versendung von Fernrohren an die Fürsten und Astronomen Europas war folglich nicht nur eine Karrierestrategie Galileis, sondern auch eine Maßnahme zur Erweiterung des Zeugenkreises.10 Die Augenzeugen fungierten zudem als Multiplikatoren: Im November 1610 berichtet Cigoli Galilei von den Unterstützern, aber auch von den Skeptikern, die sich in Rom über die Existenz der Jupiter5 

Cigoli an Galilei am 1.10.1610, Carteggio 2009, Nr. 7, S. 48; am 1.7.1611, Nr. 16, S. 61 und am 11.8.1611, Nr. 18, S. 65: „… chi è incallito a credere solo quello che passa per la comune in giu[di]cat[o], et se ne ridono, né vogliono le cose nuove né vederle né credere …“ 6  Christoph Scheiner an Markus Welser am 12.11.1611; 1612 veröffentlicht als Tres Epistolae de Maculis Solaribus, S. 1r–v: „Quia verò res haec omni fide prope maior erat, dubitavimus initio, ne forte id latente quodam vel oculorum, vel tubi, vel aeris vitio accideret.“ 7  Ebd.: „Itaque adhibuimus diversissimorum oculos, qui omnes nullo dempto, eadem, eodemq; situ & ordine & numero viderunt: conclusimus ergo vitium in oculis non esse, alias enim qui fieri posset ut tam diversorum oculi uniusmodi affectione laborarent, eandemq; certis diebus mutarent in aliam?“ 8  Cigoli an Galilei am 23.3.1612, Carteggio 2009, Nr. 28, S. 82: „Ora, se mi è parso, non lo credo, perché l’ò fatte vedere ad altri ancora; né credo sia imperfezione dello ochiale, poi che le veggo varie, et delle tonde et delle bislunghe …“ 9  Galilei an Belisario Vinta am 30.1.1610, Opere, Bd. X, S. 281: „… ne manderò una copia al Ser. mo G.D., insieme con un occhiale eccellente, da poter riscontrare tutte queste verità.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 24. Vgl. auch die nicht versendete Fassung vom 19.3.1610, Opere, Bd. X, S. 298: „Stimo in oltre necessario il mandare a molti principi non solamente il libro, ma lo strumento ancora, acciò possino incontrare la verità della cosa.“ 10  Vgl. Biagioli 1993 und zuvor Westfall 1985.

159 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

monde stritten. Der geistliche Linceer Giovanni Battista Ciampoli beispielsweise habe öffentlich erklärt, die Sterne gesehen zu haben (disse che aveva veduto le stelle) und auch Michelangelos Neffe, Michelangelo Buonarroti der Jüngere, lasse Galilei mitteilen, dass er „Augenzeuge der Planeten“ (testimonio oculato sopra i pianeti) geworden sei: „Er sagt, dass er sie gesehen habe und sagt es wieder, so oft, dass jeder, der es nicht glaubte, es glauben wird“ (E dice che gli ha veduti e lo ridice, tanto che qualcun, che non lo credeva, lo va credendo).11 Dieses Versprechen, zu „sagen, bis alle glauben“, zeugt von dem Vertrauen in die Macht der Worte und die Enthüllung der Wahrheit durch die – aktiv unterstützte – Zeit. Doch die Überzeugungskraft, das musste auch Cigoli bald einsehen, verdankte sich nicht allein dem besseren Argument und der visuellen Evidenz, sondern maßgeblich auch der Autorität und dem sozialen Ansehen der Zeugen. Für Florenz gilt also, ähnlich wie für das von Shapin untersuchte Milieu der Royal Society, die Abhängigkeit des „Vertrauens“ vom sozialen standing des Sprechers.12 Skandalgeschichten und der spätere Prozess verdunkeln, dass Galilei ein solches standing in den frühen 1610er Jahren durchaus besaß. Bei seinem Rombesuch im Frühjahr 1611 wurde er von Paul V. und den Jesuiten des Collegio Romano mit Ehren empfangen.13 Kardinal Francesco Maria del Monte berichtet Cosimo II. Ende Mai begeistert: Galilei „hatte die Gelegenheit, seine Entdeckungen so gut vorzustellen, dass sie von allen verdienstvollen Männern und Sachverständigen dieser Stadt nicht allein als völlig wahr und wirklich, sondern auch als höchst wunderbar anerkannt worden sind; lebten wir heute in jener antiken Römischen Republik, hätte man ihm sicherlich eine Statue auf dem Kapitol errichtet, um seinen vortrefflichen Wert zu ehren“.14 Für den Dichter Giovan Battista Manso ist die Autorität Galileis und Paolo Benis ausschlaggebend für die Glaubwürdigkeit ihrer Behauptungen. Er selbst halte die Neuigkeiten „bewogen von Eurem und des Herrn Galileo Ansehen, nicht nur für möglich, sondern für höchst wahr, weil keines der Dinge, die sein können […], angefochten werden sollten angesichts der Beobachtung zweier an Gelehrsamkeit und Vortrefflichkeit außergewöhnlicher Männer, wie beide Herren es sind“.15 Cigoli hingegen vermag die

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Postskriptum zu Cigolis Brief an Galilei vom 13.11.1610, Carteggio 2009, Nr. 13, S. 58. Vgl. Shapin 1994, S. 3–41 und van Helden 1994. 13  Den Empfang im Collegio Romano dokumentiert ein avviso vom 18.5.1611 in der BAV, Urb. Lat. 1079, fol. 375v; vgl. Ostrow 1996b, S. 231. Galilei rühmt sich selbst, von vielen Würdenträgern geehrt zu werden: „Io sono favorito da molti di questi Illustrissimi Sigg. Cardinali, Prelati e diversi Principi“ (Opere, Bd. XI, S. 89). 14  Francesco Maria del Monte an Cosimo II. am 31.5.1611, Opere, Bd. XI, S. 119; Übers. nach Bredekamp 2007, S. 98. 15  Vgl. Giovan Battista Manso an Paolo Beni im März 1610, Opere, Bd. X, S. 292: „… ma i più dotti non le giudicano impossibbili, et io, mosso dalla autorità di V.S. e del S.r Galileo, le tengo non pure possibbili, ma verissime, poi che niuna di quelle cose che possono essere […] si dee negare all’osservatione fatta da due huomini così singolari in dottrina et in bontà, quali sono le SS. VV.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 24–25. 12 

160 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Zweifler oftmals nicht zu überzeugen: Als „Mann geringer Autorität“, so resigniert er im August 1611, „schenken sie mir keinen Glauben“.16 Ein besonders hartnäckiger Ungläubiger ist ein namentlich nicht genannter Anhänger des Bologneser Astronomen Giovanni Antonio Magini, der Cigoli wie ein moderner Pilatus (un satrapo, che somigliava Pilato) erscheint, also ein Skeptiker, der Jesus’ Anspruch mit der berühmten Frage „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38) abtut und den Rufen der Mehrheit gehorcht.17 Bei einem abendlichen Wortgefecht mit Cigoli behauptet er, im Hause des Kardinal Farnese habe ein Fernrohr „genau das Gegenteil“ von dem gezeigt, was Galilei behauptete (mostrava tutto il contrario) – offensichtlich nichts als ein „römisches Märchen“ (una fiaba e spantacata romanescha), denn der Kardinal gehörte in dieser Zeit zu Galileis Unterstützern.18 Der Jesuitenastronom Christophorus Clavius, über dessen Anhänger Cigoli noch im Oktober 1610 geklagt hatte, dass sie „rein gar nichts glaubten“ (questi Clavisi, che sono tutti, non credono nulla), gehört hingegen zu denjenigen, die sich durch eigene Anschauung bekehren ließen.19 Schon zwei Monate später gibt er Galilei gegenüber zu, die Monde nun selbst durch das Fernrohr „mehrmals sehr deutlich“ gesehen zu haben (l’ habbiamo qua in Roma più volte veduti distintissimamente).20 Er zeigt sich damit weit offener als Galileis Kollegen Cesare Cremonini in Padova und Giulio Libri in Pisa, die den Blick durch das Fernrohr angeblich ganz verweigerten.21 Die Karikatur dieser Gelehrten als bornierte Aristoteliker ist in den letzten Jahren relativiert worden.22 Allerdings wurde dieses Bild schon von den Zeitgenossen gezeichnet und trug fraglos zur Schärfung des Profils der ‚Modernen‘ bei. Galileis Briefwechsel ist voller Spitzen gegen sture Philosophen. Tatsächlich wurden die meisten Thesen des Sidereus Nuncius zumindest

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Cigoli an Galilei am 23.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 19, S. 67: „… come homo di poca autorità, non mi danno fede.“ 17  Cigoli an Galilei am 1.7.1611, ebd., Nr. 16, S. 61. 18  Ebd.: „… a presso al Cardinale Farnese era uno altro che li aveva presentato uno ochiale che mostrava tutto il contrario …“ 19  Cigoli an Galilei am 1.10.1610, ebd., Nr. 7, S. 48. 20  Clavius an Galilei am 17.12.1610, Opere, Bd. X, S. 364. Am 28.1.1611 berichtet Cigoli: „Ò inteso ancho di qua del Padre Clavio, che dice che à visto i nuovi pianeti, et così uno altro suo compagnio“ (Carteggio 2009, Nr. 15, S. 59). 21  Die verbreitete Annahme einer Weigerung stützt sich auf Bemerkungen in Galileis Briefwechsel (vgl. Galilei an Kepler am 9.8.1610, Opere, Bd. X, Nr. 379, S. 423; Galilei an Gualdo am 6.5.1611, ebd., Nr. 526, S. 100 und Gualdo an Galilei am 29.7.1611, Opere, Bd. XI, Nr. 564, S. 165). Nach Giulio Libris Tod schreibt Galilei süffisant an Welser: „A Pisa è morto il filosofo Libri, acerimo impugnatore di queste mie ciancie, il quale, non le havendo mai voluto veder in terra, le vedrà forse nel passar al cielo“ (Galilei an Welser am 17.12.1610, Opere, Bd. XI, S. 14). 22  Kuhn erinnert daran, dass „Fernrohrbeobachtungen nur als rhetorische, nicht aber als beweisende Argumente für Hypothesen der Art Galileis tauglich“ gewesen seien, weshalb Cremonini das Fernrohr mit gewissem Recht nicht als angemessenes Erkenntnismittel anerkannte (Kuhn 1996, S. 402 und 398).

161 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

von den Astronomen des Collegio Romano relativ schnell anerkannt. Die Bestätigung der Phänomene implizierte jedoch nicht notwendig die Übernahme von Galileis Deutung. Dissens bestand insbesondere bezüglich Galileis Interpretation der Mondflecken als Hinweis auf eine gebirgige Mondoberfläche.23 Darüber, dass der Mond nicht von selbst leuchtet, bestand seit der Antike Konsens. Uneinigkeit aber bestand hinsichtlich seiner Beschaffenheit und der Erklärung seiner mit bloßem Auge sichtbaren Flecken. Aristoteles hatte den Mond als ätherische Scheibe betrachtet, welche die Land- und Wasserflächen der Erde reflektierte. Plutarch hatte den Mond mit einem Spiegel verglichen, aber auch die Hypothese vertreten, dass er der Erde in allen Punkten gleiche.24 Leonardo wies den Vergleich mit dem Hinweis zurück, dass ein Spiegel das Licht nicht streuen, sondern ein kleines Bild der Sonne reflektieren würde, und nahm stattdessen an, dass der Mond mit einer vom Wind bewegten Wasserfläche bedeckt sei.25 Vermutlich war es Galileis Auseinandersetzung mit Plutarch und mit Leonardos Notizbüchern, die dazu führten, dass er seine Meinung zur Reflexionskraft rauer Flächen 1606/07 änderte und bereits vor Einsatz des Teleskops eine unebene Mondoberfläche annahm.26 Dazu aber begünstigte, wie Samuel Edgerton und Horst Bredekamp gezeigt haben, Galileis künstlerische Schulung seine Deutung der Mondflecken als Schatten. Seine Vertrautheit mit Chiaroscuro-Techniken und künstlerischer Perspektive erlaubte es Galilei zu sehen und zu zeichnen, was beispielsweise sein englischer Zeitgenosse Thomas Harriot nicht sah: „Unlike Harriot, he brought to his telescope a special ‚beholder’s share‘ […] that is, an eyesight educated to ‚see‘ the unsmooth sphere of the moon illuminated by the sun’s raking light.“27 Harriot, so Edgerton, fehlte das „visual conceptual framework“, das Galilei aufgrund seines Studiums von Traktaten wie jenen von Barbaro, Jamnitzer oder Guidobaldo del Monte besaß, in denen auch die Schattierung von Polyedern vorgeführt wurde.28 Galilei sieht nicht nur deshalb mehr und anderes, weil

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Vgl. Galilei, Opere, Bd. III.1, S. 59–60. Schon Demokrit und andere antike Autoren hatten eine hügelige Mondoberfläche angenommen (vgl. Ariew 1984). Zum Einfluss von Plutarchs De facie in orbe lunae auf Galilei vgl. Fabbri 2012. 25  Vgl. Reeves 1997, S. 29–31 und Nanni 2010, S. 49. Bezüglich der Mondflecken brachte Leo­ nardo drei Hypothesen vor: Einmal deutet er die Flecken als vom Mondmeer aufsteigende Wolken, an anderer Stelle als Schatten in den Wellentälern oder – und dies scheint die präferierte Erklärung zu sein – als Inseln im reflektierenden Wasser (vgl. Nanni 2010, S. 50–51). 26  Vgl. Reeves 1997, S. 114–118. In Florenz gab es mindestens vier, in Padua zwei Kopien von Leonardos Trattato della pittura; Cigolis Freund Gregorio Pagani wurde schon in den 1580ern mit seiner Illustration betraut. Sven Dupré hat gezeigt, wie sich aus Galileis Auseinandersetzung mit dem Mond­ licht im Jahr 1607 die Verwendung einer Blende vor der Objektivlinse des Teleskops entwickelte (vgl. Dupré 2003, S. 375–377 und 2014, S. 312–316). 27  Edgerton 1984, S. 227. 28  Ebd., S. 228. Heinz Herbert Mann macht die schlechtere Qualität von Harriots Fernrohr für seine Fehlbeobachtungen verantwortlich (vgl. Mann 1987, S. 59, Anm. 20). 24 

162 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

er das Fernrohr zunehmend verbessert, sondern auch, weil sein Auge und seine Hand ausgebildet und durch entsprechende Lektüren vorgeprägt waren.29 Dass Sinneswahrnehmung allein keineswegs ausreicht, macht Galilei in einem Brief an Grienberger deutlich: „Woher wissen wir, dass der Mond gebirgig ist? – Wir wissen es nicht durch die bloße Sinneswahrnehmung (senso), sondern durch die Verbindung der rationalen Argumentation (discorso) mit Beobachtungen (osservationi) und sinnlichen Erscheinungen (apparenze sensate).“30 Diese Form der discorso, osservationi und apparenze sensate verbindenden Reflexion wendet Galilei auch auf die Frage an, warum die Mondberge nur an der Lichtschattengrenze, nicht aber an der Peripherie sichtbar werden. In seiner Antwort geht es Galilei, wie Simone de Angelis gezeigt hat, um „die Wahrheitsbedingungen seiner Behauptung“ (Galilei spricht von den „fondamenti della verità della nostra asserzione“).31 Seine Argumentation verweist auf die Gesetze der Perspektive (bei der frontalen Betrachtung der mittleren Mondzone erscheinen die Berge größer als von der Seite) und auf die Gesetze der Wahrnehmung (leuchtende Körper zeigen sich nur aus der Nähe in ihrer wahren Gestalt, aus der Ferne erscheinen sie größer, weil die Strahlen die Konturen verunklären). Zur Plausibilisierung seiner Behauptung schlägt Galilei außerdem ein „Experiment“ (esperienza) vor: beleuchte man eine geschlitzte Metallplatte von hinten, sei der Unterschied zwischen einem glatten und einem unregelmäßigen Schlitz nur bei der Betrachtung aus der Nähe, nicht aber aus der Ferne sichtbar.32 Die Brisanz der Annahme einer gebirgigen – und also erdähnlichen – Mondoberfläche lag in der damit implizierten Aufweichung der fundamentalen Differenz zwischen sublunarer und (vollkommener) supralunarer Welt.33 Schon die Erscheinung der Nova im Jahr 1604 hatte die Vorstellung von der Unveränderlichkeit der Himmelsphären ins Wanken gebracht. Mit einiger Anstrengung aber ließ sich die These halten – beispielsweise indem man die Nova, wie der Linceer Jan van Heck, als Fixstern der achten Himmelssphäre deutete.34 Die traditionelle Vorstellung von einer glatten Mondkugel dagegen versuchte Clavius durch den Rückgriff auf Averroës’ Erklärung der Flecken durch Dich-

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Vgl. Bredekamp 2007, S. 92–93 und 2014, S. 100–101. Galilei an Grienberger am 1.9.1611, Opere, Bd. XI, S. 178–203, hier S. 183: „Come dunque sappiamo noi, la [Luna] esser montuosa? Lo sappiamo non col semplice senso, ma coll’accoppiare e congiungere il discorso coll’osservationi et apparenze sensate.“ Vgl. dazu de Angelis 2014, S. 282. 31  Vgl. ebd., S. 193 und de Angelis 2014, S. 293. 32  Ebd., S. 198–199 und de Angelis 2014, S. 294–295. 33  Vgl. de Angelis 2014, S. 279. Michele Camerota hat gezeigt, wie uneinig die Mathematiker des Collegio Romano in diesem Punkt waren (vgl. Camerota 2004, S. 208). 34  Unter der Feder des gegen Häresieverdacht anschreibenden Niederländers erhält die Debatte eine konfessionelle Note, indem er die Behauptung von der fluiditas des Himmels als Irrglauben nordalpiner Häretiker abtut. Der um die Trennung von Religion und Wissenschaft bemühte Federico Cesi sucht diese Tendenz bei der Drucklegung zu entschärfen (vgl. Thielemann 2014, S. 159). Zur Bedeutung der Nova für das wiedererweckte Interesse an der Mondoberfläche vgl. Fabbri 2012, S. 122–127. 30 

163 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

teunterschiede innerhalb eines transluziden Himmelskörpers zu retten.35 Galilei wird diese Position im Dialogo Simplicio in den Mund legen, der die Flecken als „apparenza“ bzw. „illusione“ abtut.36 Cigoli verleitet Clavius‘ Erklärung zu einem Ausbruch über Mathematiker ohne „disegno“, die nicht nur schlechte Mathematiker, sondern auch Menschen ohne Augen seien.37 Galilei hingegen beglückwünscht er zu seinem Sehvermögen: „Es genügt, dass Ihr das Auge habt, damit Euch nicht der Kurs Eurer Studien abhandenkommt …“38 Dementsprechend gibt Galilei seinen Worten von Anfang an Zeichnungen und Stiche bei, die in der Entwicklung und Publikation seiner Theorien eine heuristische und argumentative Funktion erfüllen.39 Die Tatsache, dass das 2005 aufgetauchte Exemplar des Sidereus Nuncius mit vermeintlich eigenhändigen Tuschezeichnungen des Mondes als Fälschung entlarvt wurde, ändert nichts an Bredekamps Einsicht in die fundamentale Bedeutung von Bildern für Galileis Erkenntnisprozess.40 Besonders ein in der Florentiner Nationalbibliothek aufbewahrtes Blatt mit sechs Mondzeichnungen zeugt von Galileis Anspruch, die Mondphasen „haargenau“ (a capello) zu dokumentieren (Abb. 71).41 In den Textabbildungen allerdings folgte Galilei nicht allein dem Grundsatz der Naturtreue, sondern auch den Regeln der Rhetorik: Bredekamp konnte zeigen, dass Galilei beispielsweise das Detail des kreisrunden, „böhmischen Kraters“ auf der Mittelachse einsetzte, um seine These von der Ableitbarkeit des Mondreliefs aus dem Schattenspiel auf der

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Vgl. Ariew 1984, S. 219–223; Ostrow 1996b, S. 231, 223; Grant 1985, S. 137–162 und Guthrie 1960. Erstmals vertreten wird die Dichte-Hypothese von Alhazen (vgl. dazu Dupré 2003, S. 375). Adaptiert wird die Theorie u.a. von Albert von Sachsen, der den Mond mit einer unregelmäßig lichtdurchlässigen Alabasterkugel verglich (vgl. Nanni 2010, S. 49). 36  Galilei, Dialogo, Opere, Bd. VII, S. 111: Simplicio: „… e circa questo particulare della montuosità della Luna, resta ancora in piede la causa che io addussi di tale apparenza, potendosi benissimo salvare con dir ch’ella sia un’illusione procedente dall’esser le parti della Luna inegualmene opache e perspicue.“ 37  Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, S. 66: „Ora io ci ò pensato et ripensato, né ci trovo altro ripiegho in sua difesa, se non che un matematico, sia grande quanto si vole, trovandosi senza disegnio, sia non solo un mezzo matematico, ma ancho uno huomo senza ochi.“ 38  Ebd.: „… basta che abbiate l’ochio che non vi impedischino il corso dei vostri studi, il che vi si[a] sopra tutte le cose a quore, poi che la vita è breve.“ 39  Vgl. Winkler/Helden 1992, S. 194–217 und Bredekamp 2007 bzw. 2014. 40  Zur Fälschung vgl. Gingerich 2009; Wilding 2012; Schmidle 2013 und Bredekamp/Brückle/ Needham 2014. 41  Galilei an Belisario Vinta am 30.1.1610, Opere, Bd. X, S. 300: „… voglio disegnare le faccie della [luna], di un periodo intero con grandissima diligenza, et imitarle a capello, perchè in vero è una vista di grandissima meraviglia; et in tutto ho pensiero di far tagliare in rame da artefice eccellente, il quale ho di già appostato …“; und S. 299: „… per li quali disegni si rappresentino a capello le figure di tutta una lunazione …“ (Meine Hervorh.) Das Blatt BNCF Gal. 48, fol. 28r diente den Fälschern um Marino Massimo de Caro als Vorlage.

164 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

71. Galileo Galilei, Mondphasen, 1610, braune Tusche auf Papier, Florenz, BNC, Gal. 48, fol. 28r.

72. Mondrelief, Kupferstich, in: Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, fol. 9v.

rauen Oberfläche anschaulich zu belegen (Abb. 72).42 Einen weiteren Schritt hätte die von Luca Valerio vorgeschlagene Anfertigung eines dreidimensionalen Mondmodells bedeutet, mithilfe dessen man den „Unwissenden und einfachen Gemütern“ das Schattenspiel auf der rauen Oberfläche hätte demonstrieren können.43 Aus welchem Material dieses Modell hätte bestehen sollen, ist leider nicht überliefert. Im Sidereus Nuncius aber vergleicht Galilei den Mond, insbesondere die hellen Flecken im dunklen Teil, mit der schrundigen Oberfläche von semitransparentem Eisglas (vetro a ghiaccio), das sich einer 42  Vgl. ebd., S. 211–216. In Rubens’ Immacolata für den Hochaltar des Freisinger Doms (um 1626) bezwingt Maria mit Hilfe des Erzengels Michael den Drachen der Häresien bzw. der Feinde Böhmens – eine Reverenz an den Sieg der Habsburger in der Schlacht am Weißen Berg am 8.11.1620, der wie der Sieg von Lepanto der Hilfe der Jungfrau zugeschrieben wurde. Verführerisch, aber fragwürdig ist Lubomír Konecnys Deutung des hellen Flecks auf dem Mond als Anspielung auf den von Galilei mit Böhmen verglichenen kreisrunden Krater (vgl. Konecny 2005, S. 86–90). Eher als um eine Mulde scheint es sich um ein Glanzlicht zu handeln. Zu den Beziehungen zwischen Rubens und Galilei vgl. Huemer 1983, S. 175–196. 43  Cigoli an Galilei am 3.5.1613, Carteggio 2009, Nr. 53, S. 128: „Mi disse [Virginio Orsini] che lui [Luca Valerio] aveva detto a V.S. che la facesse di rilievo [la luna], acciò gli ignioranti o i semplici ne restassino più facilmente capaci …“

165 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

73. Cigoli, Von Passignano beobachtete Sonnenflecken, Brief vom 16.9.1611, Florenz, BNC, Gal. 89, fol. 41r.

74. Cigoli, Aufzeichnung der Sonnenflecken, April und Mai 1612, Florenz, BNC Gal. 89, fol. 117v (Ausschnitt).

aus Murano nach Florenz überlieferten Technik verdankte. „Galileo’s familiarity with the culture of glass“, so Sven Dupré, der die Bedeutung des traditionellen optischen und handwerklichen Wissens für Galileis Entdeckungen aufgezeigt hat, „allowed him to choose from among all the myriad types of glass the one whose associated vocabulary of light allowed him to argue for a rough moon“.44 Bemerkenswert ist dabei, dass Galilei überhaupt an der kristallinen Materie festhielt. Die Kontroverse über die Mondmaterie wurde zum Streit der Glasvergleiche, als Lodovico delle Colombe die Herausforderung annahm und den Mond nun seinerseits als vollkommen glatte Kristallglaskugel mit weißem Enamel-Einschluss verglich, die ihm trotz seiner perfekten Gestalt eine raue Erscheinung verlieh.45 Gegenüber den Mondillustrationen im Sidereus Nuncius bedeutet die Dokumentation der Sonnenflecken einen objektivierenden Sprung (Abb. 73–74). Alle Möglichkeiten des Irrtums, die zwischen Sonne, Auge und Hand auftreten können, werden mit dem sogenannten Helioskop ausgeschlossen, das die Sonnenflecken durch ein Fernrohr auf Papier projizierte (Abb. 75–76).46 In seinem zweiten Brief an Welser preist Galilei die von seinem Schüler Benedetto Castelli entwickelte und auch von Scheiner genutzte Vorrich-

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Dupré 2014, S. 318. Vgl. Lodovico delle Colombe, Contro il moto della terra, in: Opere, Bd. III, S. 287 (vgl. Reeves 1997, S. 156). 46  Am 14.7.1612 berichtet Cigoli Galilei erstmals von seinen Beobachtungen mit dem Helio­ skop: „… le machie sono cavate dal’ochiale così dentro la stanza“, weshalb die Bilder invertiert seien (Carteggio 2009, Nr. 36, S. 99). 45 

166 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

75. Cigoli, Vorstellung des Helioskops, Brief vom 14.7.1612, Florenz, BNC, Gal. 89, fol. 128v.

tung, mit der sich Zeichnungen „von unbedingter Richtigkeit“ (d’assoluta giustezza) bzw. „ohne den haarkleinsten Fehler“ (senza error d’un minimo capello) anfertigen ließen.47 Die Sonne selbst malt ihr Bild und dies sogar unaufgefordert.48 Damit erinnert das Verfahren an Maria Maddalena de’ Pazzis Beteuerung, ein bloßes „Instrument“ zu sein, das die offenbarten Wahrheiten ohne eigenes Zutun wiedergebe.49 In einem Prozess „gemeinsamer Schulung“ entwickelte Galilei zusammen mit Cigoli und Passignano ein zunehmend standardisiertes Aufschreibesystem.50 Cigoli mahnt zu einer „einheitlichen Regel“ (un regolo unito), die „Blindproben“ erlauben und Abweichungen unmittelbar sichtbar machen sollte.51 Die von Cigoli gelegentlich konstatierten Divergenzen verschwinden vor

47 

Galilei in seinem ersten Brief an Markus Welser am 4.5.1612, in: Galilei 1613/1967, S. 28: „… disegni delle macchie solari d’assoluta giustezza, si nelle figure d’esse macchie, come ne’ siti di giorno in giorno variati, senza error d’un minimo capello, fatte con un modo esquisitissimo ritrovato da un mio discepolo, le quali potranno essergli per avventura di giovamento nel filosofare circa la loro essenza.“ Eine ausführliche Beschreibung des Projektionsverfahrens gibt er in seinem zweiten Brief vom 14.7.1612, in: ebd., S. 52–53 (vgl. dazu Bredekamp 2007, S. 217–282 und Mann 1986, S. 131). Kepler verwendete eine ähnliche Methode zur Beobachtung der Mondphasen (vgl. Camerota 2004, S. 162–163). 48  Vgl. Galileo 1613/1967, S. 53–54. 49  Als „istrumento“ bezeichnet sie sich in ihrem Brief vom 25.7.1586 (Pazzi 2009, S. 58), als „sforzata“ am 30.7. (S. 78) und erneut am 3.8. (S. 89), am 5.8. (S. 100) und am 24.8. (S. 107). 50  Vgl. Bredekamp 2007, S. 242. Cigoli berichtete Galilei von den Beobachtungen, die er selbst, sein Schüler Sigismondo Coccapani und Passignano anstellten (vgl. Cigoli an Galilei am 16./23.9.1611 und am 14.7.1612; Passignano an Galileo am 30.12.1611). Damianakis Vermutung, Passignano habe in der Weltkugel in der Hand Gottvaters in der neuen Sakristei von S. Maria Maggiore auf die Sonnenflecken angespielt, erscheint mir wenig plausibel (vgl. Damianaki 2000, S. 28). 51  Cigoli an Galilei am 28.7.1612, Carteggio 2009, Nr. 37, S. 100: „Pure vedrò se si potrà acomodare un regolo unito con l’ochiale, che si possino fare più giuste.“ Am 6.5.1612 konstatiert Cigoli eine Differenz: „… questi due la vede con le sue la differenza ma come o detto sono fatte cosi a ochio“ (Notiz auf BNCF, Gal. 89, fol. 117v, Opere, Bd. XI, S. 349; vgl. Abb. 74).

167 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

76. Daniel Widman, Helioskop, Kupferstich, in: Christoph Scheiner, Rosa Ursina, Bracciano 1630, S. 150.

der beeindruckenden Übereinstimmung der an weit entfernten Orten angefertigten Zeichnungen, was Galilei in seinen Briefen an Welser als Beleg ihrer Präzision anführt.52 Die durch das Aufzeichnungsverfahren suggerierte Objektivität lässt leicht übersehen, dass schon der Stil der Zeichnungen ein Argument beinhaltete. Bredekamp konnte zeigen, dass Galilei mit seinen „wolkenhaft“ auf dem Papier schwebenden Flecken seine These von deren Position auf der Sonnenoberfläche untermauerte, während Scheiner seine Deutung der Flecken als Sterne durch klar konturierte Formen nahelegte.53 Cigoli erweist sich in diesem Zusammenhang als autonomer Beobachter, der – nachdem er die Meinung „anderer unbekannter und bekannter Maler“ eingeholt hat – eine dritte Interpretation ins Spiel bringt, derzufolge sich die Flecken weder vor noch auf, sondern in der Sonne befinden, wo sie sich „wie kleine Körnchen in einer Karaffe“ bewegen.54 Letztlich aber hält er, auch wenn er weiterhin unsicher bleibt, Scheiners Stern-These für „wahr-

52  Vgl. Galilei 1613/1967, S. 56: „… e chi non è capace di più, procuri di haver disegni fatti in regioni remotissime, e gli conferisca con i fatti da se ne gli stessi giorni, che assolutamente gli ritrovarà aggiustarsi con i suoi; ed io pur hora ne hò ricevuti alcuni fatti in Brusselles dal Sig. Daniello Antonioni ne i giorni 11.12.13.14.20. & 21. di Luglio, i quali si adattano à capello con i miei, e con altri mandatimi di Roma dal Sig. Lodovico Cigoli famosissimo Pittore, & Architetto …“ 53  Vgl. Bredekamp 2007, S. 244–245. Zur Funktion des Stils vgl. ebd., bes. S. 236 und 282. 54  Cigoli an Galilei am 23.3.1612, Carteggio 2009, Nr. 28, S. 82: „Et per la commodità a Santa Maria Maggiore ò fatto queste 26 osservazioni incluse, sopra le quali, poi che gli altri pittori incogniti e cogniti ànno detto il loro parere, mi fia lecito ancora a me il dirlo: che siano nel sole, come bruscholi dentro una caraffa, che vagando per quella si acostino ora alla circunferenza et si faccino visibili, et ora si incentrino et così si vadino spegniendo, non lo conoscho …“

168 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

77. Cigoli, Madonna auf dem Mond, 1611–1613, Kuppelfresko, Rom, S. Maria Maggiore, Cappella Paolina.

scheinlicher“.55 Bezüglich der irritierenden ovalen Form der Flecken aber hält er sich bescheiden zurück: „… weil das keine Speise für meine Zähne ist, überlasse ich Euch das Denken“.56 55  Ebd.: „… ma mi pare più verisimile che siano stelle che passando si interponghino fra noi e ’l sole, se bene anche in questo ci ò qualche dubbio.“ Vgl. dazu auch Bredekamp 2009, S. 239. 56  Ebd., S. 83: „Ma mi dà noia quel sempre esser la parte più carica di scuro verso il centro del corpo solare. Però non essendo pasto da’ mia denti, ci lascierò pensare a voi.“ Zu Cigoli und Galilei als „peers“ vgl. Chappell 2010, S. 87 und ders. 2009.

169 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

78. Cigoli, Apostel (wie Abb. 77).

Diese Spannung zwischen eigensinniger Aneignung und Reverenz prägt auch Cigolis wichtigstes Werk, mit dem er Galileis Entdeckung an einem der prominentesten Orte Roms publik machte.57 Es handelt sich um die in den Jahren 1611–1613 freskierte Kuppel der Cappella Paolina in S. Maria Maggiore, in der die Madonna auf einem zerklüfteten Mond im Kreis der Apostel erscheint (Abb. 77–78).58 Es ist, als gäbe Cigoli den Besuchern ein virtuelles Fernrohr in die Hand, um die mit bloßem Auge nicht erkennbaren Mondflecken sichtbar zu machen.59 Damit wird die Fernrohrbeobachtung – wie die auf Leinwand gebannte Vision – öffentlich. Die Erscheinung erhält durch das Fresko eine scheinbare Objektivität, die der teleskopischen Wahrnehmung fehlt. Die Deutung der Flecken blieb jedoch offen, denn wie die realen konnten auch und gerade die unbewegten, gemalten macchie als Hinweise auf Dichteunterschiede innerhalb der Mondmaterie interpretiert werden. Anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten zum 400. Jahrestag des Erscheinens des Sidereus Nuncius, aber auch schon im Zuge der intensiven Beschäftigung mit den Bezie-

57  Zu Eileen Reeves’ These, wonach Cigoli schon in der Kreuzabnahme von 1607 das sekundäre Mondlicht und sogar den Kopernikanismus thematisiert haben soll, vgl. Reeves 1997, S. 129–137 und Kap. V.2. 58  Vgl. Edgerton 1984; Mann 1987; Ostrow 1996a, S. 240–244 und 1996b; Reeves 1997, S. 138–183; Bredekamp 2007, S. 94–99 und Booth/Helden 2001. 59  Auf der Vorzeichnung GDSU 10174 S weist der Mond signifikanterweise noch keine Flecken auf.

170 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

hungen zwischen Kunst und Wissenschaft seit den 1980er Jahren ist Cigolis Mond zum Paradigma der engen Beziehungen von Astronomie, Kunst und Kirche geworden.60 Dabei wurde es üblich, den „befleckten Mond“ mit der „unbefleckten Empfängnis“ in Verbindung zu setzen.61 Die Worte suggerieren einen doppelten Skandal, der darin bestünde, dass Cigoli es nicht nur gewagt hätte, eine umstrittene astronomische Beobachtung in einer Papstkapelle in einer der sieben Hauptkirchen Roms zu präsentieren, sondern mit dem befleckten Mond zugleich auch die traditionelle Emblematik zu unterminieren.62 Diese assoziierte Maria in Anlehnung an Hl 6,10 („Wer ist, die da erscheint wie das Morgenrot, wie der Mond so schön, strahlend rein wie die Sonne“) mit dem Mond, der wie das apokalyptische Weib von der Sonne bekleidet wird (mulier amicta sole; Offb 12,1).63 Um das Fresko zu verstehen, ist es notwendig, den auf den Mond verengten Blick zu weiten und die ‚Konstellation‘ der Zeit um 1610 zu rekonstruieren.64 Dazu gehören zunächst die wichtigsten Akteure: der naturwissenschaftlich relativ desinteressierte Papst Paul V., der Galilei 1611 zwar wohlwollend empfangen hatte, aber später den Prozess gegen ihn unterstützte; der erst am 17.8.1611 zum Kardinal berufene Giacomo Serra, der die Aufsicht über das Projekt führte; die für das Programm zuständigen Oratorianer Tommaso und Francesco Bozio und natürlich Cigoli und Galilei, die besonders während der Freskierungsphase in regem Kontakt standen.65 Dazu gehört aber auch der unmittel-

60 

Die Literatur zur Verbindung von wissenschaftlicher Revolution und Künsten ist in den letzten Jahren angewachsen. Genannt seien nur die „Klassiker“ Ackerman 1961, Gilbert 1966, Kemp 1990, Edgerton 1991 und Reeves 1997. 61  Vgl. z. B. Reeves 1997, S. 167: „The Immacolata and the Maculate Moon“. 62  In seiner History of the Warfare of Science with Theology in Christendom behauptet Andrew Dickson White: „To make the matter worse, a painter, placing the moon in a religious picture in its usual position beneath the feet of the blessed Virgin, outlined on its surface mountains and valleys; [and] this was denounced as a sacriledge logically resulting from the astonomer’s heresy“ (White 1898, Bd. I, S. 132–133). 63  Ostrow 1996b, S. 225 und Reeves 1997, Kap. 3. Isidor von Sevilla beispielsweise bezeichnet den Mond als Zeichen der Jungfrau und der Kirche, weil er von der Sonne beleuchtet werde wie sie von Christus. 64  Mulsow definiert eine (philosophische) Konstellation als „dichten Zusammenhang wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente“ (Mulsow 2005, S. 74). Die folgende Analyse ist keine systematische Anwendung der Methoden der Konstellationsforschung, teilt aber viele ihrer Interessen – etwa an der Untersuchung von Netzwerken, Kommunikationssituationen, Denkräumen, sozialer Interaktion etc. 65  Ausführlich zu den Brüdern Bozio: Ostrow 1996a, S. 186–190. Giacomo Serra verdankte seine Position dem Erwerb des Kammerklerikats (1601) und des prestigeträchtigen Amts des tesoriere generale (1608), das er auch nach seiner Ernennung zum Kardinal beibehielt. Dank seiner finanzpolitischen und administrativen Kompetenzen wurde er zu einem engen Vertrauten Pauls V., der ihn 1615 schließlich als Legat nach Ferrara sandte (vgl. Reinhard 2009, S. 186, 192, 203, 205, 248 und 577).

171 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

79. Hodegetria, sog. Salus Populi Romani, spätantik (?), Tempera und Gold auf Zedernholz, 117 × 79 cm, Rom, S. Maria Maggiore, Cappella Paolina.

80. Cappella Paolina mit Bildtabernakel und dem Grabmal Clemens’ VIII.

bare Kontext des Freskos in der Kapelle, die gleich nach der Wahl Pauls V. als Pendant zur Cappella Sistina auf der gegenüberliegenden Seite in Auftrag gegeben worden war.66 Die von Flaminio Ponzio entworfene Kapelle sollte einerseits als Grabstätte von Clemens VIII. und Paul V., andererseits der Neuinszenierung der berühmten Lukasikone dienen, die als Regina Coeli (seit 1870 als Salus Populi Romani) verehrt und am 27. Januar 1613 an ihren neuen Standort überführt wurde (Abb. 79).67 Wie Gerhard Wolf in seinen grundlegenden Studien über die Hodegetria gezeigt hat, war die Einrichtung der Kapelle ein weiterer Schritt zur Fixierung der Ikone nach der Abschaffung der seit dem 9. Jahrhundert durchgeführten Himmelfahrtsprozession, bei der die Marienikone auf halbem

66  Zur Bau- und Ausstattungsgeschichte der Kapelle vgl. Schwager 1983, S. 241–312; Wolf 1993; Ostrow 1996a und Corbo 1967. 67  Als Lukasbild wird die Ikone erstmals in einer Quelle aus der Mitte des 13. Jahrhunderts bezeichnet (vgl. Wolf 1990, S. 141). Zur Ikone vgl. auch Belting 1990, S. 79–83, 349–353, zur Neuinszenierung S. 539–541 und Ostrow 1996a, S. 120–132. Zu früheren Ikoneninszenierungen vgl. Weißenberger 2007.

172 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Weg dem als acheiropoieton verehrten Christusbild aus der Lateransbasilika begegnete.68 Berühmtheit hatte die Regina Coeli vor allem durch die Pestprozession am 25. April 590 erlangt, während derer Gregor der Große eine Engelsvision über dem Hadriansgrabmal erlebte, die Federico Zuccari tausend Jahre später im Auftrag Paleottis darstellte.69 1569 erwirkte der Jesuitengeneral Francesco Borgia die Erlaubnis, die Regina Coeli für Missionszwecke zu kopieren.70 Unzählige Repliken kursierten nicht nur in Europa, sondern auch in der Neuen Welt. Wolf sieht einen intrinsischen Zusammenhang zwischen der weltweiten Verbreitung von Kopien, der Abschaffung der kultischen Aktivierung der Ikone um 1570 und der Neuinszenierung in S. Maria Maggiore. Gerade mit der Verwandlung der Regina Coeli in die Missionsmadonna par excellence sei eine neue Rahmung und Fixierung des Urbilds notwendig geworden.71 Wie die Marienikonen in S. Maria in Aracoeli, S. Maria in Trastevere und der Chiesa Nuova wurde auch die Regina Coeli inhaltlich und künstlerisch neu gerahmt und zugleich fiktionalisiert: Inmitten des aufwändigen Marmoraltars in der neu errichteten Cappella Paolina wird das Bild von Bronzeengeln in den Lapislazulihimmel getragen.72 Die Kapelle wurde 1611–1616 von den wichtigsten Bildhauern und Malern Roms (Giuseppe Cesari, Baglione, Guido Reni, Passignano und Baldassare Croce) prunkvoll mit Fresken, Skulpturen, Steinschmuck und Stuckaturen ausgestaltet (Abb. 80). Die ungewöhnliche Ikonographie zeigt Szenen des Kampfes gegen die frühen Häresien, insbesondere diejenigen, die die Rechtmäßigkeit der Bilderverehrung in Frage stellten. Maria erscheint als himmlische Kombattantin, die direkt oder vermittelt über ihre Bilder in die Auseinandersetzungen eingreift.73 Mit seiner ikonophilen und mariozentrischen Ausrichtung tritt das von Stephen Ostrow ausführlich analysierte Bildprogramm der protestantischen Infragestellung der Vermittlerrolle Mariens und der Bilder entgegen.74 Die Dekoration entstand zu einer Zeit relativer Schwächung der Kirche: Das Interdikt gegen Venedig erwies sich als wirkungslos, politische Mitsprache- und Handlungsmöglichkeiten schwanden.75 Das von Francesco und Tommaso Bozio ungewöhnlich detailliert formulierte Programm demonstrierte dagegen politische Stärke. In der Kuppel erscheint 68 

Wolf 1991/1992, S. 285. Vgl. Weddigen 2000, S. 195–268. 70  Vgl. Belting 1990, S. 539. 71  Vgl. Wolf 1991/1992, S. 332. 72  Vgl. ebd. und Warnke 1968, S. 61–102; Belting 1990, S. 539–545 und Ganz/Henkel/ Lentes 2004. 73  Die dargestellten Figuren und Legenden sind Baronios Annales und Tommaso Bozios De signis ecclesiae dei von 1591 entnommen (vgl. Wolf 1991/1992, S. 302). 74  Zur antiprotestantischen Ausrichtung vgl. Ostrow 1996a, bes. S. 210 und 238. 75  Wolf 1991/1992, S. 332. 1606 hatte Paul V. den Senat mit dem Kirchenbann und die Repu­­ blik mit einem Interdikt belegt. Ebenso wenig wirksam war das Verbot an die englischen Katholiken, James I. einen Eid zu leisten, der dem Papst das Recht auf die Absetzung von Fürsten absprach. 69 

173 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

81. Cigoli, Kuppelfresko (wie Abb. 77).

Maria als Siegerin über die Ketzer. Laut der in der Biblioteca Vallicelliana aufbewahrten Programmschrift zeigt Cigolis Kuppelfresko die Vision des Johannes auf Patmos:76 „In der Kuppel wird die Vision der Apokalypse 12 dargestellt: also eine mit der Sonne bekleidete Frau, unter den Füßen der Mond, um den Kopf eine Krone aus 12 Sternen, gegenüber der Hl. Michael in Gestalt eines Kämpfers, umgeben von den drei, jeweils in drei Ordnungen unterschiedenen (Engels-)Hierarchien, darunter, am unteren Rand kommt eine Schlange mit zertretenem Kopf wie in Kap. 3 der Genesis hervor. Umgeben von den zwölf Aposteln. Diese Frau bedeutet sowohl die Kirche, wie Andrea Cesariense und St. Methodius schreiben, und die Madonna, wie der Hl. Bernhard in dem besagten Kapitel 12 mit vielen lateinischen [Kirchenvätern] sagt, und wörtlich bedeutet sie nicht weniger die Kirche als die Madonna, die von dem durch die Inkarnation markierten Anbeginn der Welt mit den Engeln bis zu ihrem Ende kämpft und im Himmel triumphiert. Und so heißt es in der ersten Weissagung der Schöpfung ‚und sie wird deinen Kopf zertreten‘ gegen die Schlange, die den Dämon bedeutet …“77 76 

Bib. Vall. MS O.57 II, fol. 377r–378v, erstmals publiziert bei Calenzio 1907, S. 993–997. Ebd., fol. 377r: „Nella Cupola si dipingerà la Visione della Apokalypsi c. 12: cioè Una Donna vestita di Sole, sotto i piedi la Luna, intorno al capo una corona de dodici stelle, incontro S. Michele Archangelo in forma di Combattente, intorno le tre hierarchie distinte ciascuna in tre ordini, sotto abasso esce un serpente colla testa schiacciata come al c.3 del Genesi. Intorno i dodici Apostoli. Tal Donna significa 77 

174 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Die blonde, in majestätische Gewänder gehüllte Frauengestalt ist demnach zugleich die Madonna, eine Allegorie der Ecclesia triumphans und das mit der Sonne bekleidete apokalyptische Weib, das die Inschrift am Kuppelfuß als „mulier amicta sole“ anspricht. Umringt wird sie von gravitätischen Aposteln, die in lockeren Gruppen miteinander und mit den Betrachtern kommunizieren.78 Zu Marias Rechter schaut Petrus in die Kapelle bzw. auf das Wappen Pauls V. hinunter; über den Aposteln musizieren Engel in schillernden Gewändern. In der Laterne erscheint – ähnlich wie in Raffaels Cappella Chigi – Gottvater mit Dreiecksnimbus (Abb. 81). Elisa Acanfora hat Cigolis Komposition in die 1611 noch junge Tradition nicht architektonisch gegliederter Kuppelfresken eingeordnet und mit Correggios Himmelfahrtskuppel in Parma (1522), Zuccaris Höllenfresko in S. Maria del Fiore (1578–1579) und Poccettis Fresko in der Neri-Kapelle in S. Maria Maddalena dei Pazzi in Florenz (1599) verglichen, die jedoch strenger gegliedert sind und mehr Figuren aufweisen.79 Cigoli deutet die Ringe der Himmelshierarchien zwar noch an, lockert sie aber durch die Segmentierung der Wolken und die freie Gruppierung der Figuren auf und antizipiert so die barocken Kuppelgestaltungen von Lanfranco und Pietro da Cortona.80 Schon die Tatsache, dass Maria von den Aposteln umgeben ist, spricht gegen die von Sara Elizabeth Booth und Albert van Helden vertretene These, wonach in der Kuppel nicht die Immacolata oder die Himmelfahrt, sondern eindeutig das apokalyptische Weib dargestellt sei und schon daher kein Konflikt mit dem befleckten Mond entstehe.81 Die verschiedenen Bedeutungen der Hybridfigur aber lassen sich zumal innerhalb des mariologischen Programms der Kapelle nicht voneinander trennen. Auch wenn das schriftliche Programm die Madonna nicht explizit als Immacolata bezeichnet, legen Ikonographie und Inschriften diese Bedeutung nahe. Sowohl die Kirchenväter im Vestibül als auch die Propheten in den Zwickeln künden von der jungfräulichen Geburt.82 Zwar bezieht sich der Begriff der Immacolata conceptio entgegen einem verbreiteten Missverständnis nicht auf die Jungfrauengeburt, sondern darauf, dass Maria selbst schon ohne e la Chiesia, come vuole Andrea Cesariense e S. Methodio. E la Madonna, come S. Bernardo nel detto cap. 12, con molti latini e litteralmente non meno significa la Chiesa, chè la Madonna che dal Principio del Mondo manifesta coll’Incarnatione agl’ Angioli combatte sino al fin del Mondo, Triomphando in cielo. E così la prima prophetia detta nel crear del mondo, ‚et ipsa conteret caput tuum‘ contra il serpente significante il Demonio …“ 78  Vgl. GDSU 8843; GDSU 979 F und ICG F.C. 160641. 79  Acanfora 2000, S. 29–52; vgl. schon Carman 1972, S. 169 und Chappell 1971, S. 152. 80  Zu Lanfranco vgl. Hecht 2003, S. 248. Im Vergleich mit Lanfrancos Fresko in S. Andrea della Valle kritisiert Bellori Cigolis Kuppel jedoch als unharmonisch und steif (senza concento e modulazione) (Bellori 1672/2009, Bd. II, S. 385). 81  Vgl. Booth/Helden 2001, bes. S. 194. 82  Die Spruchbänder prophezeien: „Ecce virgo concipiet et pariet filium“ (Jes 7,14); „Foemina circundabit virum“ (Jer 31,22); „Deus Israel ingressus est per eam“ (Ezl 44,2) und „Abscissus est lapis de monte sine manibus […] factus est mons magnus“ (Dan 2,34). Zur Exegese vgl. Ostrow 1996a, S. 213–214.

175 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

Erbsünde geboren wurde; trotzdem unterscheidet das Marienlob (etwa im Bild der specula sine macula) selten klar zwischen Makellosigkeit und Virginität.83 In der Figur der Immacolata verbinden sich insofern beide Motive, als die apokalyptische Bekleidung mit der Sonne (mulier amicta sole) sich auf die jungfräuliche Empfängnis, der Triumph über die Schlange hingegen auf die Erbsünde beziehen ließ.84 Explizit formuliert wurde die These von der unbefleckten Empfängnis erstmals in Anselm von Canterburys De conceptu virginali von 1099. Widerstand kam vor allem von Seiten der Dominikaner, die in der Doktrin eine Herabsetzung der Einzigartigkeit Christi sahen. Sie konnten sich in 82.  Luca Signorelli (Werkstatt), Immacolata ihrer Kritik nicht nur auf Augustinus, sonConcezione, um 1523, Öl auf Holz, 217 × 163 cm, Cortona, Museo Diocesano. dern auch auf Thomas von Aquin berufen, für den die Ausnahmerolle Marias allein in der Reinigung in utero bestand.85 1438 wurde die Lehre auf dem Konzil von Basel offiziell anerkannt, trotzdem wertete Sixtus IV. noch 1482/83 beide Ansichten als nichthäretisch. Das Konzil von Trient bezog nicht explizit Stellung zur Frage der Jungfrauengeburt, nahm Maria aber von der Erbsünde aus und unterstrich ihre Verehrungswürdigkeit als co-redemptrix und Gottesmutter.86 Neuen Aufschwung erhielt der ImmacolataKult durch den ihrer Fürbitte zugeschriebenen Sieg von Lepanto im Jahr 1571. Ende des 16. Jahrhunderts setzte sich daher die von breiter populärer Zustimmung getragene Front aus Jesuiten und Franziskanern durch und erwirkte die Kodifizierung der Lehre, die jedoch weiterhin umstritten blieb.87 Zu einer endgültigen Klärung kam es erst 1854, als Pius IX. die Freiheit Marias von der Erbsünde als doctrina revelata deklarierte. 83 

Vgl. dazu Ostrow 1996a, S. 239–240 und Francia 2004. Vgl. dazu Reeves 1997, S. 143–144. 85  Augustinus’ Gnadentheologie ließ die Unschuld Marias nicht zu, weil mit ihr die Universalität der Erbsünde in Frage gestellt worden wäre. 86  Vgl. Ostrow 1996a, S. 239–240 und 248–251. Cigoli betont Marias Beteiligung am Erlösungs­ werk auch in seiner Seelenwägung für S. Michele Arcangelo in Pianezzoli, wo die Mutter ihrem Sohn die Waagschale mit der Seele eines Gerechten in die Hand gibt. 87  Philipp III. nötigte Paul V. noch 1617 zu einer Stellungnahme gegen die öffentliche Lehre von der sündigen Zeugung Mariens. 1622 verbot Gregor XV. den Dominikanern den Gebrauch des Namens „Sanctificatio Beatae Mariae Vergine“ und verordnete bis auf Weiteres Stillschweigen. 84 

176 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

83. Cigoli, Immacolata Concezione, 1589–1590, Öl auf Leinwand, 250 × 185 cm, Pontorme, S. Michele Arcangelo.

In Anlehnung an die Trinitätsikonographie repräsentierte die neuzeitliche Malerei die Immacolata zwischen den Schenkeln Gottvaters als Überwinderin der Erbsünde (Abb. 82). Maria ist schon hier dreifach kodiert: Die Gottesmutter ist zugleich auch die Schlangentöterin des Protoevangeliums und das von der Sonne bekleidete, auf dem Mond stehende und von zwölf Sternen umkränzte apokalyptische Weib.88 In dieser Hybridform zeigt Cigoli Maria bereits in einem Frühwerk für die Kapelle der Confraternita di Maria Santissima Immacolata in S. Michele Arcangelo in Pontorme von 1589/90 88 

Laut Einheitsübersetzung von Gen 3,15 spricht Gott zur Schlange: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deiner Nachkommenschaft und ihrer Nachkommenschaft: Sie wird dir den Kopf zertreten und du wirst ihrer Ferse nachstellen.“

177 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

(Abb. 83).89 Das Bild ist durch die Flügel des an Cigolis Inferno-Zeichnung erinnernden Satans horizontal in zwei Hälften geteilt. In der Mittelachse thront Maria auf einer dunklen Wolkenbank. Ihr Fuß ruht auf einer nach oben gerichteten, auffällig kleinen Mondsichel. Der Kopf Satans ist aufgrund der starken Beschädigung des Gemäldes nicht zu erkennen. Die untere Bildhälfte wird von den Gestalten Adams und Evas dominiert, die an den Baum der Erkenntnis gefesselt sind.90 In fast identischer Pose einmal von vorn, einmal von hinten gesehen, sind sie perfekte Beispiele der von David Summers beschriebenen figure come fratelli.91 Mit ihren angewinkelten Knien führen sie zugleich die Verkürzungskünste des Malers und die Verkrümmung der sündigen Menschen vor. Evas weich modellierte Oberschenkel und ihre geröteten, an Barocci geschulten Knie verleihen ihr einige Sinnlichkeit, Adams Energie ist durch Fesseln und Haltung gebremst. Komposition und concetto verdankt Cigoli Vasari, der 1540 im Auftrag Bindo Altovitis eine Immacolata für die Kirche Santi Apostoli in Florenz geschaffen hatte (Abb. 84).92 In seiner ausführlichen Beschreibung betont Vasari die Komplexität der Bildaufgabe, für die er Ratschläge bei vielen Freunden eingeholt habe.93 Cigoli reduziert und monumentalisiert Vasaris Figuren und macht die Bedeutung des Sujets durch eine klarere Bildaufteilung sinnfällig. Direkt unter dem Teufel erscheint nun der Kopf Evas, die mit Maria eine typologische vertikale Achse des Heils bildet, welche die durch die Verbreiterung der Fledermausflügel hervorgehobene, horizontale Zweiteilung durchbricht. Stärker noch als bei Vasari wird die Stauchung der schönen, gefesselten Körper zum sichtbaren Ausdruck der durch ihr Begehren versklavten Menschen. Die neue Ökonomie der Sünde presst die in Signorellis Immacolata von 1523 noch stolz stehenden Stammeltern gleichsam zu

89 

Vgl. Contini 1991, S. 38. Das durch einen Brand beschädigte Bild wurde im Juni 1589 bestellt und vor Oktober 1590 aufgestellt. Vgl. die reiche Dokumentation in ASF Compagnie Soppresse: Com. della Concezione nella Chiesa di S. Michele a Pontorme presso Empoli, Archivio 653: c, xxxiv, Reg. 1, cc. 3 B, 4 B, 5 B, 7 B, 13 B, c. 3 B. GDSU 966 F zeigt Maria auf dem Halbmond sitzend. Christel Thiem erkennt darin eine Auseinandersetzung Cigolis mit Annibales Pala della Madonna in Christ Church (Thiem 1958, S. 290). Die Cigoli zugeschriebene Immacolata im Dom von San Gimignano ist zweifellos nicht von seiner Hand. 90  Vgl. GDSU 6683 F und 6630 F. Eva erinnert an Santi di Titos Eva in S. Girolamo in Volterra; vgl. Chappell 1971 und Matteoli 1980, S. 161. 91  Vgl. Summers 1977/78. 92  Bei seinem Entwurf orientierte sich Vasari offenbar an Entwürfen Rosso Fiorentinos für ein Deckenfresko in SS. Annunziata aus dem Jahr 1528. Für den Lucceser Auftraggeber Biagio Mei schuf Vasari 1543 eine Replik des Bildes, die sich heute in der Villa Giungi in Lucca befindet (vgl. Giunti 1989, S. 36). 93  Vgl. Vasari 1973, Bd. VIII, S. 219–220: „La qual cosa perché a me era assai malagevole, avutone Messer Bindo et io il parere di molti comuni amici, uomini litterati, la feci finalmente in questa maniera: figurato l’albero del peccato originale nel mezzo della tavola, alle radici di esso come primi trasgressori del comandamento di Dio feci ignudi e legati Adamo et Eva […] tutti dico legati per ambedue le braccia, eccetto Samuel e S. Giovanni Batista i quali sono legati per un solo braccio, per essere stati santificati nel ventre …“

178 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

84. Giorgio Vasari, Immacolata Concezione, 1541, Tempera auf Holz, 58 × 40 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/1524.

Boden. Doch die von Putti gehaltenen Inschriften versprechen Erlösung: „Qvos Evae Culpa Damnavit“/„Mariae Gratia Solvit“. Hoffnung darauf konnten sich auch die Gläubigen vor dem Gemälde machen – vor allem, wenn sie ihren Geldbeutel zückten: Bei der Einrichtung der Kapelle in Pontorme hatte die Bruderschaft eine Erlaubnis zur Erteilung von Indulgenzien eingeholt und neben einem Buch für deren Dokumentation auch eine Opferdose angeschafft.94 Gegenüber der nicht als natürliches Objekt, sondern als Symbol aufgefassten Mondsichel von 1589/90 wirft der zerklüftete Mond der Paolina Fragen nach seiner Deutung im Zusammenhang mit der Immacolata conceptio auf. Eileen Reeves führt in ihrer Studie Painting the Heavens zwar zahlreiche Belege dafür an, dass für die Beschrei94  Das Rechnungsbuch vermerkt am 3.10.1588 Ausgaben zur Erteilung der „procura per cavar le indulgentie“, am 6.10. die Anschaffung eines „libretto dalle indulgentie della co[n]cetione“. Schon Sixtus IV. soll für ein „Ave Sanctissima“ vor einem Bild der Maria virginis in sole einen Ablass von 11.000 Jahren gewährt haben. Er hatte 1476 das Fest der Immacolata Concezione eingeführt und die Zelebranten mit Ablässen belohnt.

179 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

bung von Mond und Maria ähnliches Vokabular verwendet wurde, nennt jedoch keinen Astronomen oder Theologen, der explizit eine Verbindung zwischen Mondflecken und Mariologie hergestellt hätte.95 Tatsächlich existiert kein Hinweis auf eine durch Cigolis Mond ausgelöste Debatte; die den Maler zermürbende Kritik an seinem Fresko betraf allein ästhetische Gesichtspunkte. Wir müssen daher mit Ostrow annehmen, dass der vermeintliche Skandal der „Befleckung“ keiner war. Ein Grund für das Ausbleiben von Kommentaren könnte in der schlechten Sichtbarkeit der Flecken bestanden haben. Immerhin zeigt auch der Stich in der 1621 publizierten Monographie von Paolo de Angelis einen glatten Mond (Abb. 85).96 Kardinal Serra allerdings wird das Fresko vom Gerüst inspiziert haben und zeigte sich Cigoli zufolge überaus zufrieden.97 Der Papst, auf dessen Urteil Cigoli im April 1612 noch wartete, war offenbar so begeistert, dass er sich (angeregt von seinem Neffen Scipione Borghese) ab Juli sogar für Cigolis Aufnahme in den Orden der Cavalieri di Malta einsetzte – eine Würde, die der Großmeister des Ordens nur widerwillig und dank des Engagements des Kardinalnepoten gewährte.98 Giulio Mancini macht dagegen die Kritik an der Kuppel für den frühen Tod des Künstlers verantwortlich, und auch Cigoli selbst berichtet von der harschen Kritik seiner Gegner.99 Tatsächlich räumt David Stone, der das lange Tauziehen um Cigolis 95  Bzgl. der Sonnenflecken hingegen finden sich Beispiele einer direkten Konfrontation von Metapher und Gestirn: In seinem dritten Brief stellt Galilei Gott als „wahre, reine, unbefleckte Sonne“ (vero sole puro & immacolato) der „anderen, materiellen, unreinen Sonne“ (altro Sole materiale, e non puro) gegenüber (Galilei 1613/1967, S. 101). Der Kanoniker Jean Tarde besteht auf einer Interpretation der ‚Sonnenflecken‘ als Planeten (die er zu Ehren des Königs als Sidera Borbonia bezeichnet), weil die Sonne als Emblem Ludwigs XIV. keine Makel haben durfte (vgl. Lewis 2006). 96  Paolo de Angelis 1621 (Imprimatur 1616), S. 194. 97  Cigoli an Galilei am 13.4.1612, Carteggio 2009, Nr.  29, S. 85: „Il resto, tutto il cielo, la Madonna, e tutti gli angioli, et ogni restante, è fornito, et con sadisfazione del Sig.r Cardinal Serra et degli altri. Ci resta ora il più e ’l meglio, che è Sua Santità, et anco come nella veduta da basso tornerà.“ – Ein anderes Fresko der Kapelle hingegen wurde beanstandet, weil es nicht der veritas historica entsprach: In seiner Investitur von St. Ildefonso hatte Guido Reni die Gewandübergabe einem Engel statt der Jungfrau übertragen. Dies widersprach „der Wahrheit des Wunders“ und wurde entsprechend von Lanfranco korrigiert (vgl. Ostrow 1996b, S. 230–230, Anm. 61). 98  Die Nominierung erreichte Cigoli allerdings erst auf dem Totenbett; den Malteserorden, mit dem Coccapani ihn in dem wohl postum entstandenen Porträt in Chambéry (Musée des Beaux-Arts, Inv. M. 990) schmückt, hat er nie empfangen. Zum langen Tauziehen zwischen dem Großmeister Alof de Wignacourt und Scipione Borghese vgl. Stone 2006: Ursprünglich hatte der Kardinal für Cigoli einen Abito di Devotione, eine noch höhere Auszeichnung als den 1608 an Caravaggio verliehenen Abito di Obbedienza Magistrale beantragt. Der Streit entbrannte, als offenkundig wurde, dass es sich bei Cigoli um einen von Aufträgen abhängigen Maler handelte, der noch dazu hoch verschuldet war. Cigolis Warten auf die Auszeichnung wird auch in seinem Brief an Galilei vom 3.11.1612 und von Mancini erwähnt (vgl. Mancini 1625/1956, Bd. I, S. 229). Zur Künstlernobilitierung vgl. Schütze 1992. 99  Vgl. ebd.: „Operò […] in S. Maria Maggiore la cupola della cappella, dove non havendo havuto nè dato sodisfattione, per quanto vien detto, s’amalò e, per curiosità o troppo sapere, pigliò

180 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Auszeichnung rekonstruiert hat, ein, dass das Engagement der Borghese möglicherweise nicht nur Cigolis Meisterschaft honorieren, sondern auch ihre eigene Reputation retten sollte.100 Eine weitere mögliche Erklärung für das Stillschweigen über die Flecken liegt in der Tatsache, dass die Clavisi zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Existenz der Flecken, sondern nurmehr Galileis Interpretation derselben anzweifelten. Denn auch Cigolis Mond ließ sich aus ihrer Warte als unregelmäßig dichte Ätherkugel betrachten. Doch diejenigen, die den glatten Mond verteidigten, taten dies nicht, um die Marienikonographie, sondern um die aristotelische Vorstellung von der Perfektion der Himmelskörper zu retten. Ebenso wenig wie die Leser des Sidereus Nuncius assoziierten offenbar die Betrachter von Cigolis Fresko die Mondflecken mit der Frage nach Marias Unbeflecktheit. Die erste und bislang einzig bekannte Erwähnung der Flecken findet sich in einem Brief Federico Cesis an Galilei, in dem er von dem „Freundschaftsdienst“ berichtet, den ihm Cigoli, der sich in der Kapelle „göttlich“ bewährt habe, mit der teleskopisch genauen Darstellung des Mondes geleistet habe.101 Einen entscheidenden Hinweis auf die zeitgenössische Deutung des Mondes gibt jedoch ein von Ostrow ausgewertetes Memorandum des Kaplans Andrea Vittorelli aus dem Jahr 1616, in dem der Mond nicht als Emblem der Jungfrau, sondern als der von ihr bezwungene Gegenspieler interpretiert wird.102 Auch wenn Vittorelli, der bereits 1611 den Sidereus Nuncius kommentierte, die Flecken nicht explizit erwähnt, spricht er von der Korrumpiertheit des Mondes und deklariert ihn als Symbol des „geistigen Irrsinns“ (pazzia di mente).103 Eine negative Deutung des befleckten Mondes als „corpo impuro“ findet sich auch in den anlässlich von Galileis Rombesuch 1611 verfassten Stanze sopra le stelle e macchie solari.104 Wie die Schlange wäre der negativ senz’ordine del medico non so che seme ricino e, malignandosi la febre, in un tratto infiacchendosi la vita, morì in pochissimi giorni.“ Und Cigoli an Galilei am 3.11.1612, Carteggio 2009, Nr. 46, S. 118: „Io sto bene et allegro, e non senza disgusto de’ mia nemici, sentendo e veggendo andare le cose contrarie al loro desiderio, et dello affrescho ancho a canbiare oppinione che io non sapesse dipigniere; anzi dicano pur di quelli alcuni, che le paiono fatte a olio. Io fa la gatta morta, fingo di non sapere nulla, e rido drento.“ 100  Vgl. Stone 2006, S. 211. 101  Federico Cesi an Galileo am 23(?).12.1612, Opere, Bd. XI, S. 449: „Il signor Cigoli s’è portato divinamente nella cupola della cappella di S.S.tà a S. Maria Maggiore, e come buon amico e leale ha, sotto l’imagine della Beata Vergine, dipinto la Luna nel modo che da V.S. è stata scoperta, colla divisione merlata e le sue isolette.“ 102  Vgl. Vittorelli 1616, S. 223–225. Diese negative Deutung des Mondes findet sich bereits bei Gregor d. Gr. (vgl. Reeves 1997, S. 139–140). 103  Vittorelli 1616, S. 225: „La Luna non solamente significa difetto di corrottione, ma pazzia di mente.“ Vgl. dazu Ostrow 1996b, S. 233. 104  Figliucci 1615, S. 19, XLII. In Borghinis Il Riposo werden die (präteleskopischen) Mondflecken metaphorisch als irdischer Anteil des aus ewigen und vergänglichen Komponenten zusammen­ gesetzten Mondes erklärt, der (wie die Seele zwischen Intellekt und Leib) zwischen der Sonne und der Erde stehe (vgl. Borghini 1584, S. 5).

181 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

85. Anonym, Aufriss der Cappella Paolina, Kupferstich, in: Paolo de Angelis, Basilicae S. Maria Maioris, Rom 1621.

konnotierte Mond folglich eine Figuration der in den Wandfresken dargestellten Häresien und stünde im Einklang mit dem Gesamtprogramm. So plausibel Ostrows Interpretation ist, mag sie zwar die Rezeption, nicht aber unbedingt Cigolis eigene Deutung des Mondes spiegeln. Denn anders als der Kaplan wird der Maler die Flecken keineswegs als Makel empfunden haben. In einem Brief spricht Cigoli von den mit dem Fernrohr beobachteten „Schönheiten des Himmels“ (bellezze del

182 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

cielo).105 Galilei vergleicht die Flecken mit dem wertvollen Eisglas und den Augen auf Pfauenfedern. Die wechselnden Aspekte des Mondes nennt er einen „wahrhaft höchst wunderbaren Anblick“ (in vero è una vista di grandissima meraviglia) bzw. gar einen „Anblick, der alle Wunder übersteigt“ (la qual vista avanza tutte le meraviglie).106 Auch wenn sich Galilei wünscht, einst in der „wahren, reinen und unbefleckten Sonne“ alle Wahrheiten zu erkennen, die jetzt nur gleichsam blind in der „materiellen und unreinen Sonne“ gesucht werden können, erscheint diese doch als typos der anderen.107 In der materiellen Welt aber ist die Veränderlichkeit der befleckten Oberfläche für Galilei nicht unbedingt negativ konnotiert. Nur die Angst vor dem Tod, so schreibt er 1612, lasse uns Veränderlichkeit hassen, dabei hätten wir eigentlich das Gegenteil zu fürchten – die Versteinerung durch Medusa.108 Ebenso wird Cigoli die malerischen Schattenspiele auf dem Mond geschätzt haben. In seinem Fresko sind sie Teil einer zugleich religiösen und physikalischen Lichtinszenierung, die mit dem vom göttlichen lux ausgestrahlten lumen beginnt, das sich über Marias Kopf bündelt, ihre Brüste und den Mond modelliert und die Oberseite der Wolke beleuchtet. Eine blau getuschte Vorzeichnung zeigt deutlich, wie genau Cigoli die Lichtregie geführt hat: Hier wirft Marias nackter Fuß einen deutlichen, schraffierten und lavierten Schatten auf den Mond (Abb. 86).109 Hinter Marias Rücken strahlt zusätzliches Licht hervor, das sie wie eine Glorie umgibt und von einem Engel zu ihrer Rechten mit Asklepieion-Gestus abgeschirmt wird.110 Um das tradierte Motiv des umgekehrten Halbmondes und die himmlische Hierarchie beibehalten zu können, erlaubt Cigoli sich jedoch eine licentia gegenüber der Naturwahrheit: Der Mond wird von oben beleuchtet (Abb. 87).111 Der fast schwarze Schatten betont die Lichtundurchlässigkeit des soliden (und eben nicht kristallinen oder wolkigen) Himmelskörpers. Die scharf gezogenen 105 

Cigoli an Galilei am 28.1.1611, Carteggio 2009, Nr. 15, S. 60. Galilei an Belisario Vinta am 19.3.1610, Opere, Bd. X, S. 300 und am 18.6.1610, ebd., S. 373. Zum Vergleich mit Pfauenfedern und Eisglas vgl. ebd., III.1, S. 65. 107  Galilei an Welser am 01.12.1612, Opere, Bd. V, S. 187: „… ci sortisca, per grazia del vero Sole, puro ed immacolato, apprendere in Lui con tutte le altre verità quello che ora, abbagliati e quasi alla cieca, andiamo ricercando nell’altro Sole materiale e non puro.“ Vgl. 1 Kor 13,12. 108  Galilei 1613/1967, S. 147: „Tuttavia non sò dall’altra banda, quanto per divenir manco mutabili, ci fosse caro l’incontro d’una testa di Medusa, che ci convertisse in un marmo, ò in un diamante, spogliandoci de’ sensi, e di altri moti, li quali senza le corporali alterazioni in noi sussister non potrebbono …“ 109  Vgl. GDSU 10174 S. 110  Hier verbindet sich die Vorstellung von der mit der Sonne bekleideten Jungfrau mit dem Motiv der Glorie. Die Nutzung der Glorie als nicht nur inhaltliche, sondern auch optische Auszeichnung einer aus dem optischen Zentrum gerückten Figur geht auf Correggios Assunta in Parma zurück (vgl. Hecht 2003, S. 214). 111  Darauf verweist schon Ostrow 1996b, S. 230. Über die Ausrichtung der Mondsichel wurden auch noch lange nach Galileis Entdeckungen erhitzte Debatten geführt (vgl. Pacheco 1649/1990, S. 576–577). 106 

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86. Cigoli, Immacolata (Detail), braune und blaue Tusche auf Papier, Florenz, GDSU 10174 S.

87. Cigoli, Mond und Schlange (wie Abb. 77)

Konturen jedoch zeigen, dass hier kein natürlicher Schatten gemeint ist, sondern ein dunkles Pendant zu dem hellen Kegelstumpf über Marias Kopf, das zum symbolischen Ort des Bösen wird. Folglich wird die Drachenschlange, die (anders als der Mond) im ikonographischen Programm explizit mit den Ketzern assoziiert wird, nicht wie gewöhnlich auf dem Mond zertreten, sondern in den Schatten verbannt.112 Die gegenüber der Tradition und Cigolis eigener Immacolata in Pontorme vollzogene Trennung von Mond und Schlange spricht dafür, dass der Maler den Mond positiv bewertete. Mit der Verschiebung der Schlange umgeht Cigoli zudem einen an der Frage nach der richtigen Übersetzung der Verfluchung Satans entbrannten Streit.113 Die Septuaginta übersetzte Gen 3,15 als: „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nach-

112 

Dazu passt Reeves’ Vermutung, wonach Cigoli auch Galileis Gegner im Schatten verortete: „… the observer who failed to see the moon as Galileo described it and Cigoli painted it […] occupied the shadowy region beneath the lunar body“ (Reeves 1997, S. 17). 113  Überraschenderweise erscheint das Motiv der zertretenen Schlange jedoch unmittelbar unterhalb der Madonna, in Cesaris Bogenfeld mit der Vision Gregors des Großen. Dominiert wird das Bild von einer (angeblich aus dem Templum Pacis Vespasians stammenden) weißen Säule, vor der die lebendige Statue eines Engels eine Schlange zertritt (vgl. Abb. 80 und dazu Wolf 1991/1992, S. 314–317).

184 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

wuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse“, wobei „er“ und „ihn“ auf Christus bezogen wurde. Die Vulgata hingegen übersetzte das Personalpronomen mit ipsa und schrieb das Zertreten des Schlangenkopfes damit – wie die Gebrüder Bozio in der Programmschrift – Maria zu. Caravaggio fand 1605/06 in der Madonna dei Palafrenieri eine Mischlösung, insofern er das Fußpaar von Mutter und Sohn vereint den Schlangenkopf zerquetschen lässt (vgl. Abb. 192).114 Cigolis Schlange wird jedoch nicht nur vom Schatten, sondern auch vom Raum verschluckt, denn er ergänzt die Lichtführung durch eine schon von Kemp und Wolf beobachtete kinetische Regie. Die Anlage rechnet mit der Bewegung des Betrachters, der vom Eingang den Ausschnitt mit der Schlange sieht, bevor diese mit jedem Schritt in die Kapelle weiter hinter dem Gesims verschwindet und dafür ihre Bezwingerin stärker hervortreten lässt.115 In der Mitte der Kapelle angekommen, enthüllt ein Blick zur Laterne schließlich den Ursprung des Lichts in Gestalt der dreifaltigen Gottheit. Dabei sorgt der dunkle Wolkenring um die Laterne dafür, dass der Goldgrund der Inschrift und das gemalte sowie das reale Licht der Laterne noch stärker hervortreten. Die durch das Oberflächenrelief nahegelegte Deutung von Cigolis Mond als Abbild des realen Himmelskörpers führt zu einem bislang nicht diskutierten Paradox, denn ein solcher Mond würde die Dimensionen der Madonna ins Unermessliche steigern. Doch Cigoli nimmt den maßstäblichen Bruch, den schon Manetti in den InfernoIllustrationen für unumgänglich hielt, bewusst in Kauf. In Himmel, Hölle und Kunst gelten offenbar andere Regeln. Das Spiel mit den Größenverhältnissen und das eschatologische Programm der Kapelle eröffnen jedoch auch die Möglichkeit, räumliche und zeitliche Entfernungen miteinander zu korrelieren: In der Erläuterung der Imprese „Oculorum Uno“ vergleicht der Tortoneser Bischof Paolo Aresi 1630 unter dem Motto Et remotissima propre – „Das Entfernteste nah“ – den Blick des „Evangelisten Galileo“ durch das Fernrohr mit der Offenbarung des Johannes auf Patmos (Abb. 88).116 Während der Blick des einen die Weite des Raumes durchquere, reiche der Blick des anderen bis ans Ende der Zeiten. In dem berühmten Emblembuch Pia Desideria des Jesuiten Herman Hugo aus dem Jahr 1624 ist der Blick durch das Fernrohr explizit ein Blick in die Zukunft (Abb. 89).117 Boëtius à Bolswerth illustriert darin den Vers „Wären sie klug, so begriffen sie alles und verstünden, was in Zukunft mit ihnen geschieht“ (Dtn 32,29) mit dem Bild

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Vgl. dazu Mâle 1932, S. 39–40 und Ostrow 1996a, S. 237. Vgl. Wolf 1991/1992, S. 311–312 und Kemp 1990, S. 96. 116  Aresi 1630, S. 458: „… che à noi di contemplare più giova ciò, che ci ha scoperto il nostro Evangelista Galileo, cioè l’Apostolo Giovanni, il quale di lume divino illustrato col Canocchiale della Fede, e della contemplatione, che possono dirsi i due vetri di questo instromento, altissimi misteri, e nel suo Vangelo, e nella sua Apocalisse ci ha scoperti …“ Als Instrument weiser Voraussicht wird das Fernrohr bei Aresi zur Imprese Maffeo Barberinis. 117  Eine ausführliche Deutung der Bildfindung gibt Göttler 2010, S. 5–22. 115 

185 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

88. Anonym, Fernrohr, Kupferstich, in: Paolo Aresi, Imprese sacre, Tortona 1630, S. 453.

89.  Boëtius à Bolswerth, Emblem zu Dtn 32,29, in: Herman Hugo, Pia Desideria, Antwerpen 1624, Nr. 14.

der Seele, die durch ein (invertiertes) Fernrohr das Jüngste Gericht erblickt.118 Der Betrachter schaut mit der Rückenfigur durch das Rohr und erkennt am Ende einer die zeitliche Entfernung verräumlichenden, perspektivischen Flucht Christus als Weltenrichter auf dem Regenbogen. Unter ihm wartet der Tod mit Schwert und Palme. In der Illustration sind die beiden optischen Mittel zur Manipulation von Entfernungen – Perspektive und Fernrohr – in ein Verhältnis gesetzt. Die Perspektive verlängert, das Fern-

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Sollte die Inversion intendiert sein, wäre die falsche Handhabung des Fernrohrs als Vorwurf zu lesen. Die bewegte Geste der linken Hand scheint allerdings dafür zu sprechen, dass die Seele (wie der Betrachter) durchaus des Todes eingedenk wird. Göttler interpretiert die Umkehrung des Fernrohrs als Anzeiger des „reversal of vision and perception associated with the eschatological imagination and the meditation on death“ (ebd., S. 8). Als unmittelbaren Vorläufer identifiziert sie die beiden FernrohrEmbleme in Giovanni Ferros Teatro d’ imprese von 1623, in dem das Motto „Et remotissima prope“ für die Weitsicht Maffeo Barberinis, das Motto „Propiora Procul“ für seine Zurückstellung weltlicher Interessen steht (vgl. ebd., S. 18–20).

186 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

90. Adam Elsheimer, Flucht nach Ägypten, sig.dat. ‚Adam Elsehimer fecit Romae 1609‘, Öl auf Kupfer, 30,6 × 41,5 cm, München, Alte Pinakothek, Inv. 216.

rohr verkürzt den Raum; am Ende der Allee und der Zeiten wartet das Weltgericht.119 Auf ähnliche Weise ‚zoomt‘ auch Cigoli die am Ende der Tage auftretende Jungfrau heran. Er zeigt auf dem räumlich entfernten Mond die zeitlich entfernte Apokalypse. Zugleich erfüllt die Jungfrau die Weissagungen der Propheten in den Zwickeln, die eine ähnliche Teleskopage der Zeiten des Alten und Neuen Bundes vollziehen. Der durchkraterte Mond ist ein Beispiel dafür, wie flexibel die Kirche in den frühen 1610er Jahren mit den astronomischen Beobachtungen umging und versuchte, die Neuigkeiten des Sternenboten theologisch einzuholen. Dabei war Cigoli bekanntlich nicht der einzige Künstler, der astronomische Beobachtungen in seine Gemälde integrierte. Schon 1609 zeigte Adam Elsheimer in seiner Flucht nach Ägypten nicht nur den

119  In der elf Jahre später in London publizierten protestantischen Fassung wird das Bild um eine nackte Personifikation des „Fleisches“ ergänzt, das vergeblich versucht, die Seele vom Blick durch das Fernrohr abzuhalten. Die Seele bleibt jedoch standhaft und fordert das Fleisch auf, mit ihr den Blick von den gegenwärtigen Vergnügungen auf die wahren, zukünftigen Freuden zu lenken (vgl. Göttler 2010, S. 20–22).

187 1. Himmelsvisionen: Befleckter Mond und unbefleckte Empfängnis

gescheckten Mond, sondern auch die Milchstraße (Abb. 90).120 Ähnlich wie im Fall des Trikliniums begegnet gründliche Bibellektüre neuen wissenschaftlichen Trends, denn Elsheimer nimmt den Wortlaut von Mt 2,14 bezüglich des nächtlichen Aufbruchs der Heiligen Familie ernst und nutzt zugleich die Chance, seine (wohl mit einem der ersten in Rom kursierenden Fernrohre angestellten) astronomischen Beobachtungen in ein sakrales Bild zu integrieren.121 Die gescheiterten Versuche, den Nachthimmel auf einen bestimmten Tag zu datieren und die Beobachtung Anna Ottani Cavinas, dass die Milchstraße bei derart strahlendem Vollmond gar nicht sichtbar wäre, zeigen jedoch, dass der Realitätseffekt nicht auf Naturtreue beruht.122 Elsheimers Milchstraße ist zugleich die Himmelsspur des der Heiligen Familie vorbestimmten Weges, wobei die Korrespondenz zwischen Himmel und Erde auch durch die Verdoppelung des Mondes in der Spiegelung deutlich wird.123 Die beiden Mondscheiben bilden, wie Andreas Thielemann treffend bemerkte, „eine Art Scharnier, das Himmel und Erde verbindet“.124 Komplementiert wird dieses „Brücken-Motiv“ durch die aufsteigenden Funken des Lagerfeuers: „Rechts kommt das himmlische Licht durch die Spiegelung vom Himmel herab auf die Erde. Links steigt umgekehrt der gewaltige Funkenflug, der vom Feuer ausgeht, bis in den gestirnten Himmel auf.“125 Wie bei Cigoli wird die Wahrheit der theologischen Botschaft folglich durch die astronomisch ‚richtige‘ Darstellung betont. Mindestens so wichtig wie die von den Bildtheologen diskutierte Frage, ob Maria tatsächlich auf einem Esel nach Ägypten geritten ist und das Abendmahl im Liegen eingenommen wurde, war auch die Repräsentation des Sternenhimmels: War die eigentliche Gestalt des Mondes oder der Milchstraße einmal bekannt, musste sie dargestellt werden. Ebenso wie Cigoli die um Maria versammelten Apostel „dal naturale“ porträtierte, musste auch der Mond „nach dem Modell“ gemalt werden.

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Wie Chrysa Damianaki bemerkte, steht der Mond in Elsheimers Gemälde auf dem Kopf (Damianaki 2000, S. 57–58). Ottani Cavini vermutete 1976 trotz der Schwierigkeiten in der Chronologie der Ereignisse einen Zusammenhang mit Galilei. Thielemann konnte 2014 zeigen, dass Elsheimer für die Anfertigung des Bildes wohl auf eines der schon 1609 in Rom kursierenden Fernrohre zurückgegriffen hat. Johannes Faber bezeichnet 1625/1649 Giambattista della Porta als ideellen Erfinder des Fernrohrs und berichtet von einem Teleskop, das Cesi zeitgleich mit Galilei auf Gerüchte aus Belgien hin in Rom gebaut und verteilt habe. Bestätigt wird der Bericht durch einen Brief della Portas an Cesi vom 28.8.1609. Auch Scipione Borghese habe ein flandrisches Fernrohr besessen (vgl. Thielemann 2104, S. 136–139). 121  Vgl. Dekiert 2015, S. 31–33. 122  Vgl. Ottani Cavina 1976, S. 144. 123  Vgl. Keith Andrews 1976, S. 595 und Dekiert 2005, S. 34. 124  Thielemann 2014, S. 125. 125  Ebd., S. 141 und 153.

188 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

2. Kon v ergenzen: Zw ei Himmel , zw ei Bücher, eine Wahr heit Im selben Brief, in dem Cigoli Galilei über die Bestätigung der Jupitermonde durch Clavius berichtet, erzählt er von seinem Vergnügen beim Gestalten der Kuppel: Ihm bliebe nichts als Verachtung für diese Welt, wenn er nicht „so viele Schönheiten des Himmels“ (tante bellezze del cielo) sehen, genießen und hören könnte.126 Die Zweideutigkeit der Formulierung ist umso größer, wenn man weiß, dass Cigoli seine Teleskopbeobachtungen tatsächlich von der Laterne der Cappella Paolina aus durchführte.127 Noch komplexer wird die Situation, wenn man zum physischen und metaphysischen Himmel noch den gemalten berücksichtigt – eine Differenz, die Buonarroti spielerisch aufhebt, wenn er Galilei schreibt, Cigoli befinde sich gerade in der „Spitze des höchsten Himmels“, wo er „vor Gottvater und seinem Glanz“ (also dem Laternen-Fresko) stehe (vgl. Abb. 81).128 Der Himmel des Freskos ist weder der Nacht- noch der Taghimmel: Cigoli malt ein goldenes, transzendentes Wolkenmeer, ein künftiges Reich, das für den Menschen nur mit einem spirituellen Teleskop sichtbar wird.129 Eine Möglichkeit, den scheinbaren Widerspruch der beiden Himmel zu lösen, wäre der Hinweis auf zweierlei Ordnungen oder Weisen des Sprechens, wie sie Gilio angelegentlich der Frage nach der Möglichkeit der Auferstehung im eigenen Körper trotz Verwesung äußert: „Nach der Ordnung der Natur“ (secondo l’ordine de la natura) sei so etwas unmöglich, nicht jedoch für den Glauben (per fede). Der Unterschied bestehe darin, ob man „come filosofo“ oder „come cristiano“ spreche; für die spirituellen Dinge gälten andere Regeln als für die körperlichen.130 Mit einer solchen Beilegung des Problems durch die Offenhaltung des Widerspruchs ließen sich allerdings nicht alle Gemüter beruhigen, denn der ‚himmlische Himmel‘ war kein virtueller, sondern ein realer Ort, der – wie die Debatte um die Vereinbarkeit des Heliozentrismus mit der Lage der Hölle im

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Cigoli an Galilei am 28.1.1611, Carteggio 2009, Nr. 15, S. 60: „… oltre che sono molto ocupato per servizio della cappella di Sua Santità, nella quale tiro inanzi molto allegramente, nè mi rimane altro di disgusto in questo mondo, se non di non la potere e godere et vedere anchor io et sentire di tante bellezze del cielo …“ Nach Giulio Libris Tod erlaubt sich Galilei den Witz, dass Giulio Libri, der die Mediceischen Sterne von der Erde nie habe sehen wollen, sie nun vielleicht auf dem Weg in den Himmel erblicke (Galilei an Welser am 17.12.1610, Opere, Bd. XI, S. 14). 127  Vgl. Cigoli an Galilei am 23.3.1612, Carteggio 2009, Nr. 28, S. 81. 128  Buonarroti an Galilei im Oktober 1610, ebd., Nr. 10, S. 54: „Il Cigoli è nel colmo del più alto cielo, ciò è nel pinnacolo della lanterna della cupola della cappella del Papa, dinanzi al Dio Padre e al suo splendore.“ 129  Einzig hinter dem Schwert Pauli reißen die Wolken etwas auf und geben den Blick auf ein Stück blaues Firmament frei. 130  Gilio 1564/1961, S. 64 und 65.

189 2. Konvergenzen: Zwei Himmel, zwei Bücher, eine Wahrheit

Mittelpunkt der Welt bzw. mit der Lehre von der Himmelfahrt Christi zeigt – durchaus topographisch verortet werden musste.131 In Cigolis Bericht seiner ersten mit dem eigenen Fernrohr durchgeführten Beobachtungen sind die Übergänge von Erd- zu Himmelsbeobachtungen fließend. Als Maßstab der Sehschärfe dient die Uhr von St. Peter; in einem Atemzug nennt er die deutlich sichtbaren Türen, Fenster und Menschen in Frascati und Tivoli, den Mond und die Jupitermonde.132 Anders als Ignatius von Loyola, der bei der Betrachtung der Sterne ausgerufen haben soll: „Wie schmutzig erscheint mir die Welt, wenn ich die Augen zum Himmel erhebe“, trägt die Himmelsschau Cigoli über irdische Verstrickungen hinweg.133 Auch Paleotti weiß um den diletto sensuale, den die Schönheit des Sternenhimmels, und den diletto razionale, den die Einsicht in dessen göttliche Ordnung zu stiften vermögen.134 Und in den utopischen Staatsentwürfen des frühen 17. Jahrhunderts, Campanellas Città del Sole von 1602, aber auch Johann Valentin Andreaes protestantischer Christianopolis von 1619, spielt die Astronomie eine große Rolle für die Religion, denn sie führt „uns gleichsam selbst in den Himmel ein und macht ihn in gewisser Weise unserer Erde untertan“.135 In seinem berühmten Brief an die Großherzogin Cristina di Lorena von 1615 nutzt Galilei die Tatsache, dass Theologen und Astrologen von zweierlei Himmeln sprechen, um der Wissenschaft einen eigenen Raum zu schaffen: Der Hl. Geist, so zitiert er ein Wortspiel Baronios, wolle allein lehren „wie man in den Himmel geht, nicht aber, wie der Himmel geht“ (l’ intenzione dello Spirito Santo essere d’ insegnarci come si vadia al cielo, e

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Vgl. Francesco Ingoli, De Situ et Quiete Terrae, in: Opere, Bd. V, S. 408; Scheiner/Locher 1614, S. 23 und dazu Shea 1986, S. 125. 132  Vgl. Cigoli an Galilei am 23.3.1612, Carteggio 2009, Nr. 28, S. 81–82: „Non credo avere scritto a V.S. come io ò uno ochiale, et è assai buono, tanto che veggo da Santa Maria Maggiore l’orivolo di S. o Pietro, la lancetta dello orivolo, ma i numeri de l’ore non così distine et intelligibile come vedevo con il suo […] La luna la veggo benissimo, e nel dintorno, pur di verso la parte luminosa, qualche inegualità: le stelle di Giove me le mostra benissimo; Saturno non lo conoscho, né Venere non l’ò provata.“ 133  Vgl. die Bildunterschrift in einem Stich in der Vita Ignatii von 1609: „… Heu quam sordet tellus, cum coelum aspicio?“ Vgl. dazu Laneyrie-Dagen 2006, S. 142–143 und Mâle 1984, S. 144. 134  Paleotti 1582/1961, S. 217: „… chi guarda il cielo stellato piglia la prima dilettazione, vedendolo di sì bel colore e che, oltre il cerchio figurato della luna, è compartito di sì numerosa schiera di stelle, a guisa di varii lumi posti da lontano, alcuni maggiori, altri che scintillano, altri che si movono, altri che stanno fissi; dalla quale varietà e bellezza sente il senso grandissimo piacere. Comincia dipoi il medesimo a discorrere con la ragione intorno alla grandezza di ciascuna stella, e la volubilità de’ cieli, il corso de’ pianeti e l’ordine costantissimo di ciascuno […]; onde ne gode grandemente l’intelletto e si rallegra.“ 135  Andreae 1619/1977, S. 101 und dazu Sommer 1996, S. 124. Auf dem Altar des Tempels von Campanellas Sonnenstadt „gibt es nichts anderes als einen sehr großen Globus, auf den der gesamte Himmel gemalt ist, und einen zweiten, auf dem die Erde abgebildet ist“. Sonne und Sterne werden als „Bildnisse Gottes und Tempel des Himmels“ verehrt (Campanella 2008, S. 7 und 57).

190 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

non come vadia il cielo).136 Die Bibel betrifft seines Erachtens nur Heilswahrheiten, nicht aber die Natur und sei nicht dazu da, uns über das zu belehren, was auch Sinnen und Geist zugänglich sei, sondern nur über das, was den menschlichen Verstand übersteige.137 Das Tridentinum hatte in der Klärung der Frage nach der Interpretationshoheit der Natur noch keinen akuten Bedarf gesehen.138 Retrospektiv wurde jedoch das Dekret vom 8. April 1546, das alle Entscheidungen „in rerum fidem et morem“ der Kirche zusprach, zum Angelpunkt der „Auseinandersetzung über die Wahrheit der Natur und zugleich die Natur der Wahrheit“.139 Es griff freilich nur, wenn man die Astronomie zur Glaubensfrage erklärte. Der Sprengstoff der Debatte lag nicht allein im potentiellen Widerspruch des Kopernikanismus zur Hl. Schrift, sondern in der Frage nach der Deutungsmacht: Die Galileo-Affaire, so Ernan McMullin, war nicht primär ein Zusammenstoß rivalisierender Weltbilder, sondern eine Debatte um die Autorität und Auslegung der Schrift.140 Die Grundlage von Galileis Brief an die Großherzogin bildete ein kurz nach Cigolis Tod, am 21.12.1613 verfasstes Schreiben an Benedetto Castelli, in dem Galilei seine Ansichten über die Verwendung der Hl. Schrift bei physikalischen Fragestellungen und die Gottgefälligkeit der Naturforschung dargelegt hatte.141 Anlass des Briefes war ein Tischgespräch Castellis mit Cosimo II., Cristina und dem Pisaner Philosophen Cosimo Boscaglia, die den frisch ernannten Ordinarius für Mathematik gebeten hatten, den Widerspruch zwischen Kopernikus und Bibelpassagen wie Josuas Anhalten der Sonne zu erläutern.142 Gleich zu Beginn seines „brillant treatise on hermeneutics“143 affirmiert Galilei die „unanfechtbare und unverletzliche Wahrhaftigkeit“ der Hl. Schrift, fügt aber hinzu, dass ihre Exegeten durchaus irren könnten, vor allem, indem sie den nur zuguns136 

Galilei an Cristina di Lorena, 1615, Opere, Bd. V, S. 309–348, hier S. 319; vgl. dazu Drake 1957, S. 186. 137  Ebd., S. 333: „Ma più dirò, che non solamente il rispetto dell’incapacità del Vulgo, ma la corrente opinione di quei tempi, fece che gli scrittori sacri nelle cose non necessarie alla beatitudine più si accomodorno all’uso ricevuto che alla essenza del fatto.“ 138  Vgl. Reinhardt 2001, S. 381. 139  Ebd., S. 385: „… nemo […] in rebus fidei et morum sacram […] scripturam ad suos sensus contorquens, contra eum sensum, quel tenui et tenet sacra mater ecclesia […] aut etiam contra unanimen consensum patrum ipsam scripturam sacram interpretari audeat, etiamsi huiusmodi interpretationes nullo unquam tempore in lucem edendae forent.“ 140  McMullin 1998, S. 275. 141  Vgl. Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 282–288. Eine Kopie des Briefes ging an Piero Dini, der ihn an Bellarmin weitergeben sollte. 142  Zur Karriere von Josua 10,12–13 („Sonne, bleib stehen über Gibeon und du, Mond, über dem Tal von Ajalon und die Sonne blieb stehen, und der Mond stand still, bis das Volk an seinen Feinden Rache genommen hatte“) in der astronomischen Debatte, insbesondere bei Clavius, vgl. Remmert 2005, S. 35–53. 143  Shea 1986, S. 124.

191 2. Konvergenzen: Zwei Himmel, zwei Bücher, eine Wahrheit

ten der populären Verständlichkeit gewählten „nackten Wortlaut“ (il nudo senso delle parole), für den „wahren Sinn“ (vero senso) der Verkündigung hielten.144 Auf den Wortlaut sei nur in heilsrelevanten Punkten zurückzugehen, die „durch keine anderen Wissenschaften und kein anderes Mittel als durch den Mund des Hl. Geistes selbst glaubwürdig gemacht werden“ können.145 Widersprächen sinnliche Erfahrung (sensata esperienza) oder zwingende Beweise (necessarie dimostrazioni) den biblischen Aussagen, müssten diese allegorisch ausgelegt werden.146 Zu den bewiesenen Tatsachen zählte Galilei auch den Heliozentrismus, den er mit seiner Theorie der Gezeiten und der Venusphasen zu belegen suchte.147 Als Galilei diese These bei seiner Romreise 1615 vertreten will, wird er jedoch von Cesi und dem Florentiner Botschafter gewarnt.148 Paul V. beauftragt Kardinal Orsini, Galilei von seiner Theorie abzubringen; die Doktoren der Congregatio pro Doctrina Fidei werden eingeschaltet, Kopernikus’ De Revolutionibus und Paolo Antonio Foscarinis Lettera auf den Index gesetzt; Galilei erhält die berühmte Verwarnung. Galileis Hermeneutik kollidierte nicht nur mit dem tridentinischen Grundsatz, nach dem neben der Bibel auch die Tradition volle Verbindlichkeit besaß, sondern auch mit der Auffassung vom Primat des wörtlichen Schriftsinns. Melchior Cano hatte 1585 betont, nicht nur die Worte, sondern jedes Komma der Bibel seien vom Heiligen Geist eingegeben.149 Auch Bellarmin schien nichts gefährlicher, als an irgendeinem Punkt an der Überlieferung zu rütteln. In seinem Brief an Foscarini, der ihn von der Vereinbarkeit von Kopernikanismus und Bibel überzeugen wollte, definiert der Kontroverstheologe den Geozentrismus zwar nicht als Glaubensfrage ex parte obiecti, also mit Blick auf den

144  Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 282: „… parmi che […] non poter mai la Scrittura Sacra mentire o errare, ma essere i suoi decreti d’assoluta ed inviolabile verità. Solo avrei aggiunto, che, se bene la Scrittura non può errare, potrebbe nondimeno talvolta errare alcuno de’ suoi interpreti ed espositori, in varii modi […] Onde, sì come nella Scrittura si trovano molte proposizioni le quali, quanto al nudo senso delle parole, hanno aspetto diverso dal vero, ma son poste in cotal guisa per accomodarsi all’incapacità del vulgo, così per quei pochi che meritano d’esser separati dalla plebe è necessario che i saggi espositori produchino i veri sensi, e n’additino le ragioni particolari per che siano sotto cotali parole stati profferiti.“ (Meine Hervorheb.) 145  Ebd., S. 284: „Io crederei che l’autorità delle Sacre Lettere avesse avuto solamente la mira a persuader a gli uomini quegli articoli e proposizioni, che, sendo necessarie per la salute loro e superando ogni umano discorso, non potevano per altra scienza nè per altro mezo farcisi credibili, che per la bocca dell’istesso Spirito Santo“ (im selben Wortlaut auch an Cristina di Lorena, 1615, Opere, Bd. V, S. 317). 146  Ebd., S. 283 (und an Cristina di Lorena, S. 317). 147  Vgl. Shea 1986, S. 127. 148  Vgl. Cesi an Galilei am 12.1.1615, Opere, Bd. XII, S. 129 und Giucciardini an Curzio Picchena, 5.12.1615, ebd., Bd. XII, S. 242. Auch Piero Dini mahnt Galilei im Mai zur Bekundung seiner Akzeptanz gegenüber den kirchlichen Autoritäten (vgl. Dini an Galilei am 2.5.1615, ebd., Bd. XII, S. 175). Ciampoli warnt Galilei am 28.2.1615 vor der aus der Analogie von Mond und Erde abgeleiteten Behauptung von Mondmenschen, wie sie Campanella schon 1611 vermutet hatte (vgl. ebd., S. 146). 149  Cano 1585, II.12, vgl. dazu McMullin 1998, S. 275.

192 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Gegenstand, wohl aber mit Blick auf den Sprecher, ex parte dicentis.150 Entsprechend hält er jemanden, der die Aussage verneint, dass Abraham zwei Söhne hatte und Jakob zwölf, ebenso für einen Häretiker wie jemanden, der die jungfräuliche Geburt Christi(!) in Frage stellt, da beide Sätze „vom Hl. Geist durch den Mund der Propheten und Apostel verlautbart“ worden seien.151 Nach der Weiterleitung des Briefes an Galilei schießt der Astronom mit denselben Waffen zurück: Wesentlich mehr als die Frage nach der Erdbewegung sei es eine Glaubensfrage, ob Abraham Söhne und Tobias einen Hund besessen habe – denn dies sei Inhalt der Hl. Schrift.152 Es gebe hier keinen Grund, warum der Hl. Geist nicht die Wahrheit sprechen sollte, denn sowohl die Bejahung wie die Verneinung seien für alle Menschen gleichermaßen glaubhaft. Anders gestalte sich die Lage bei der Erdbewegung und dem Stillstand der Sonne, die „weit vom Verständnis des gemeinen Volks entfernt“ seien (lontanissime dall’apprensione del vulgo).153 Gerade aber im Fall der Sonnenbewegung gibt es für Bellarmin keinen Grund, am Literalsinn zu zweifeln: Josua hatte die Sonne in ihrem Lauf angehalten, also musste sie sich zuvor bewegt haben.154 Trotz allem gesteht Bellarmin am Ende seines Briefes zu, dass in dem (von ihm für unmöglich gehaltenen) Fall, dass jemals ein „wahrer Beweis“ (una vera dimostratione) für den Heliozentrismus erbracht werden sollte, die Bibelauslegung behutsam angepasst werden müsse.155 Diese offene Flanke gibt Galilei Gelegenheit aufzutrumpfen: Während seine Gegner nur Sophismen, Paralogismen und Lügen anführen könnten, habe er „tausend Experimente und notwendige Beweise“ (mille esperienze e mille dimostrazioni necessarie)

150  Bellarmino an Foscarini am 12.4.1615, Opere, Bd. XII, S. 172: „Nè si può rispondere che questa non sia materia di fede, perchè se non è materia di fede ex parte obiecti, è materia di fede ex parte dicentis …“ und S. 171: „… è cosa molto pericolosa non solo d’irritare tutti i filosofi e theologi scolastici, ma anco di noucere alla Santa Fede con rendere false le Scritture Sante …“ Mit seinem Brief reagierte Bellarmin auf Foscarinis Lettera sopra l’opinione de Pittagorici e del Copernico della mobilità della terra, Neapel 1615. Vgl. dazu McMullin 1998, S. 282. 151  Ebd., S. 172: „… così sarebbe heretico chi dicesse che Abramo non habbia havuti due figliuoli e Iacob dodici, come chi dicesse che Christo non è nato da vergine, perchè l’uno e l’altro lo dice lo Spirito Santo per bocca de’ Profeti et Apostoli.“ 152  Vgl. Galilei, Considerazioni circa l’opinione copernicana, Opere, Bd. V, S. 368. 153  Ebd. 154  Bellarmin an Foscarini, am 12.4.1615, Opere, Bd. XII, S. 172: „… il Concilio prohibisce esporre le Scritture contra il commune consenso de’ Santi Padri; e se la P.V. vorrà leggere non dico solo li Santi Padri, ma li commentarii moderni sopra il Genesi, sopra li Salmi, sopra l’Ecclesiaste, sopra Giosuè, troverà che tutti convengono in esporre ad literam ch’il sole è nel cielo e gira intorno alla terra con somma velocità, e che la terra è lontanissima dal cielo e sta nel centro del mondo, immobile.“ 155  Ebd.: „Dico che quando ci fusse vera demostratione che il sole stia nel centro del mondo e la terra nel 3° cielo, e che il sole non circonda la terra, ma la terra circonda il sole, allhora bisogneria andar con molta consideratione in esplicare le Scritture che paiono contrarie, e più tosto dire che non l’intendiamo, che dire che sia falso quello che si dimostra. Ma io non crederò che ci sia tal dimostratione, fin che non mi sia mostrata …“

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zur Hand.156 Die Kampflinie verläuft folglich nicht zwischen Bibel und Naturforschung, sondern zwischen zwei verschiedenen Forschungsansätzen. Bibel und Kopernikus sprächen beide die Wahrheit, und „zwei Wahrheiten können einander nie widersprechen“ (due verità non posson mai contrariarsi).157 Gerade aber ihm, der diese Widerspruchsfreiheit aufzuweisen versuche, so klagt Galilei, werde nun der Mund verboten.158 Tatsächlich wird der Jesuit Melchior Inchofer Galilei später vorwerfen, ein Anhänger der verurteilten Duplex-Veritas-Lehre zu sein und sich dabei Unmögliches anzumaßen, nämlich ‚Beweise‘ für Hypothesen vorzustellen, die Glaubenswahrheiten (und dazu gehöre auch der Stillstand der Erde) widersprächen.159 Der Satz von der Kongruenz aller Wahrheiten findet sich bereits in der maßgeblichen Genesisauslegung des Jesuiten Benito Pereira: „… verum omne semper cum vero congruat.“160 Da zwei Wahrheiten immer übereinstimmen, könne die Wahrheit der Hl. Schrift den wahren Gründen und Beobachtungen der menschlichen Wissenschaften nie widersprechen. Gegen den ersten Eindruck bedeutet die Kongruenz-Formel jedoch keine Pluralisierung der Wahrheit. In seinem 1624 bis 1630 verfassten Dialogo schreibt Galilei ausdrücklich, dass stets nur eine Erklärung wahr sein könne (una sola al più potrebbe esser vera).161 Der Unterschied ist mithin allein modaler Art: In der Hl. Schrift, davon ist Galilei überzeugt, erscheine die Wahrheit oft in verhüllter Gestalt, die im Lichte der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis erst aufzudecken sei.162 Damit aber bekommt die Bibelauslegung einen Zeitvektor, denn von jedem unverstandenen Satz könne möglicherweise eines Tages das Gegenteil aufgezeigt werden. Und wer wolle dem menschlichen Geiste Grenzen setzen? Wer behaupten, dass alles bereits erkannt worden sei?163 Die in der zunehmenden Beobachtungsschärfe liegende Brisanz erkennt der aus der Paolina-Schrift bekannte Andrea Vittorelli schon 1611: „All dies ist unsicher, wenn nicht unmöglich, aber wenn zu den bislang bekannten sieben Planeten nun die vier des Herrn 156 

Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 285. Ebd., S. 283 und ähnlich S. 285. 158  Vgl. Galilei an Piero Dini im Mai 1615, Opere, Bd. XII, S. 184. 159  Vgl. Bianchi 2008, S. 149. Ausführlicher zur veritas duplex in Kap. III.1. 160  Vgl. Galilei an Cristina, 1615, Opere, Bd. V, S. 320, wo Galilei Pereiras In Genesim zitiert: „Illud etiam diligenter cavendum et omnino fugiendum est, ne in tractanda Mosis doctrina quidquam affirmate et asseveranter sentiamus et dicamus, quod repugnet manifestis experimentis et rationibus philosopiæ vel aliarum disciplinarum: namque, cum verum omne semper cum vero congruat, non potest veritas Sacrarum Literarum veris rationibus et experimentis humanarum doctrinarum esse contraria …“ Vgl. dazu auch Remmert 2005, S. 31. 161  Galilei, Dialogo, Opere, Bd. VII, S. 447. 162  Vgl. Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 283. 163  Vgl. ebd., S. 284: „… crederei che fusse prudentemente fatto […] obbligargli in certo modo a dover sostenere per vere alcune conclusioni naturali, delle quali una volta il senso e le ragioni dimostrative e necessarie ci potessero manifestare il contrario. E chi vuol por termine a gli umani ingegni? chi vorrà assertire, già essersi saputo tutto quello che è al mondo di scibile?“ 157 

194 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Galilei, des bekannten Mathematikers der Universität Padua, hinzukommen […] was sagen dann die Rabbiner?“164 Hans Blumenberg hat das Fernrohr als Katalysator der „neue[n] Bedeutung der Zeit im Erkenntnisprozess“ beschrieben, die im Topos der veritas filia temporis bereits angelegt ist: „… der exzentrisch im Kosmos kreisende und mit den Künsten seiner Technik und Optik sich das Unsichtbare erobernde nach-kopernikanische Mensch ist in die perspektivische Ungeduld und Unruhe der Zeitform des unendlichen Durchlaufens seiner Möglichkeiten gestürzt, in das ständige Noch-Nicht, in dem sich die Wahrheitsrelevanz der Zeit für ihn entdeckt hat.“165 Immer neue Entdeckungen verlangten Erklärungen, die mit bloßen Beobachtungen nicht zu geben waren. Ebenso wie die teleskopisch verstärkten Augen den Himmel, mussten die „Augen des Geistes“ – so der Linceer Angelo de Filiis in seiner Einleitung zu Galileis Briefen über die Sonnenflecken – die Wissenschaft durchdringen.166 Gerade die scharfäugigen Luchse waren von dieser zunehmenden Durchdringung der Geheimnisse der Natur überzeugt und auch Welser schwärmt 1612 von seinem Jahrhundert, das „eine Wahrheit nach der anderen aus dem tiefen Brunnen der Unwissenheit“ ziehe (il secolo nostro con tirar’ una verità dietro all’altra dal cupo pozzo dell’ ignoranza, & non si lasci sgomentare da gl’ invidi, & emuli).167 In seinem Brief an Cristina di Lorena sichert Galilei die Castelli gegenüber gemachten Aussagen theologisch ab. Über dessen Vermittlung hatte ein Barnabiterpriester Galilei zusätzliche Argumente geliefert, um die Theologen auf ihrem eigenen Feld schlagen zu können.168 Nun konnte Galilei auf einen spätantiken Präzedenzfall zurückgreifen, bei dem erstmals Bibel und Naturphilosophie kollidierten. In De Genesi ad Litteram hatte Augustinus die Einwände der Manichäer gegen den Wortlaut der Schöpfungsgeschichte widerlegt, beispielsweise das Ausrollen des Himmels, der doch eigentlich aus Kristallschalen bestehen sollte. In Anbetracht der Fortschritte in der Wahrheitssuche riet schon Augustinus zur Vorsicht: Es sei besser, keine feste Position zu vertreten, als eine, die später widerlegt werde. Sollten sichere Beweise vorgebracht werden, gelte es zu zeigen, dass die Bibel deren Wahrheit nicht widerspreche.169 Auch die These, nach der sich die Bibel am 164 

Vittorelli 1611, S. 233–234: „Tutto ciò è incerto, se bene non impossibile; ma se è sette fin’ hora conosciuti pianeti s’aggiungessero i quattro dal Signor Galilei publico mathematico dello studio di Padova, co’l beneficio di un perfettissimo occhiale, di sua inventione ritrovati […] che diriano i rabbini, & gli altri della significata opinione?“ 165  Blumenberg 2002, S. 17–18. 166  Vorwort zu Galilei 1613/1967, S. 2: „Non solamente li Celesti scoprimenti insieme col mezo del conseguirgli: mà di più il penetrar’ con gli’occhi della mente tutta quella scienza, che d’essi haver si puote.“ 167  Welser an Galilei am 5.10.1612, in: Galilei 1613/1967, S. 99. 168  Castelli an Galilei am 6.1.1615, Opere, Bd. XII, S. 126. Der Brief an Cristina wurde 1626 in Straßburg erstmals veröffentlicht und später auch der lateinischen Ausgabe des Dialogo beigefügt (Opere, Bd. V, S. 309–348). 169  Vgl. Augustinus 1959, II.9.21, S. 55 mit Bezug auf Ps 103,2 und I.18.37; 1959, S. 31.

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beschränkten Verständnishorizont ihrer Leser orientiere, konnte Galilei nun auf Augustinus stützen.170 Gleich zu Beginn des Briefes spielt Galilei mit dem Hinweis auf Kopernikus’ Rolle bei der am 24.2.1582 von Papst Gregor XIII. proklamierten Kalenderreform einen Trumpf aus, der nicht nur die Abhängigkeit der Kirche von der Astronomie zeigen, sondern auch deutlich machen sollte, dass nicht der Kopernikanismus mit der Hl. Schrift kollidierte, wohl aber der Kirchenkalender mit dem Himmel.171 1582 hatten sich die Ungenauigkeiten des Julianischen Kalenders so weit addiert, dass das Frühjahrsäquinoktium nicht mehr auf den 21., sondern auf den 11. März fiel; außerdem erschwerten die Probleme bei der Bestimmung der Mondzyklen die Berechnung des Osterdatums. Anders als Luther, der darauf drängte, den Glauben von den Sternen zu trennen und das Osterfest an ein fixes Datum zu binden, hielt die katholische Kirche an der Verknüpfung von Astronomie und Festkalender fest. Auf der letzten Session des Konzils hatte Pius IV. zur Reform von Breviar und Missale aufgerufen, für die 1568 zunächst ein rein numerisches Verfahren, nämlich die Verschiebung der sogenannten „Goldenen Zahlen“ vorgeschlagen wurde.172 Die von Gregor XIII. eingesetzte Kommission legte jedoch eine ratio corrigendi vor, die nicht dem Paradigma der „irdischen“, sondern der „himmlischen Zeitmessung“ entsprach.173 Die Astronomie, die mit der Installation von Meridianen in den Kathedralen von Florenz und Bologna längst in die Kirchen eingezogen war, siegte über die Arithmetik. Als Urvater der maßgeblich von Clavius erarbeiteten Reform präsentiert Galilei Kopernikus, der vom Papst nach Rom berufen worden sei, wo er die Grundlagen für die Synchronisation des Kalenders mit den astronomischen Daten gelegt habe.174

170 

Vgl. ebd., V.6.19, S. 176. Kepler hatte in der Astronomia Nova (1609) mit denselben Argumenten zu zeigen versucht, dass der Kopernikanismus der Hl. Schrift nicht widersprach. Ihm allerdings ging es dabei vorrangig um die Unabhängigkeit der Philosophie. Seine Erklärung wurde später mit Galileis Brief an Cristina veröffentlicht. 171  Galilei an Cristina, 1615, Opere, Bd. V, S. 312: „Niccolò Copernico […] uomo non solamente cattolico, ma sacerdote e canonico, e tanto stimato, che, trattandosi nel concilio Lateranense, sotto Leon X, della emendazion del calendario ecclesiastico, egli fu chiamato a Roma sin dall’ultime parti di Germania per questa riforma, la quale allora rimase imperfetta solo perchè non si aveva ancora esatta cognizione della giusta misura dell’anno e del mese lunare …“ Tatsächlich wurde Kopernikus 1514 nicht von Leo X., sondern von Paul von Middelburg konsultiert. Auch wenn seine Berechnungen bei der Reform nur eine untergeordnete Rolle spielten, wird das Studium der Planetenbewegungen im Vorwort zu De Revolutionibus mit der Kalenderdebatte in Verbindung gebracht (vgl. dazu Proverbio 1983, S. 129–134). 172  Vgl. North 1983. 173  Vgl. Macho 2002b, S. 204–227. Der Kommission unter dem Vorsitz Kardinal Guglielmo Sirletos gehörten u. a. auch Pedro Chacòn, Clavius und Ignazio Danti an, der im Torre dei Venti einen Gnomon eingerichtet hatte. 174  Die Reform bestand in der Streichung von zehn Tagen und einer arithmetischen Klausel zur Regelung der Schaltjahre. Die Reform wurde von der Ostkirche und den Protestanten zunächst abgelehnt, weshalb in Deutschland lange beide Daten angegeben wurden (vgl. Ziggelaar 1983, S. 223).

196 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Kopernikus’ Planetentafeln erscheinen als Nebenprodukt seines kirchlichen Auftrags, welcher der Astronomie einen großen Aufschwung gab und von Jesuiten, insbesondere Clavius, vollendet worden war.175 Das Collegio Romano, so wird suggeriert, steht in der Tradition des Kopernikus, der den entscheidenden Schritt zur Harmonisierung von Kalender, Osterfeier und Sternen vollzogen und damit irdische und weltliche Zeit in Einklang gebracht habe. Schon im Brief an Benedetto Castelli hatte Galilei zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen zwei Wahrheiten auf die Metapher der „zwei Bücher“ zurückgegriffen, die ihre Kongruenz ihrem gemeinsamen Ursprung im göttlichen Wort verdankten. Die Bibel sei „das Diktat des Heiligen Geistes“, die Natur „die gehorsamste Vollstreckerin der göttlichen Befehle“ (osservantissima esecutrice de gli ordini di Dio).176 Die Metapher des „Buchs der Natur“ stammt, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, aus dem lateinischen Mittelalter.177 Alan ab Insulis nennt jedes Geschöpf ein Buch, Bild oder Spiegel: „Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum“.178 Bonaventura deutet die beidseitig beschriebenen Buchrollen aus Ez 2,9 und Offb 5,1 als das zweifache Buch der göttlichen Weisheit und der wahrnehmbaren Welt, in denen Gott jeweils erkannt werden wolle.179 1605 kehrt die Metapher in Francis Bacons The Advancement of Learning wieder: Gott habe dem Menschen zwei Bücher gegeben, wobei die Bibel seinen Willen, die Schöpfung seine Macht enthülle. Die Natur bilde den Schlüssel zum Verständnis der Bibel und animiere zur Reflexion auf die göttliche Allmacht.180 Auch die Sonnenflecken interpretiert Galilei im Horizont des Textparadigmas als „Lettern“ (caratteri indelibili), die immer und allen vor Augen stünden. Wie die Wahrheit zeigten sie sich dank des „natürlichen Lichts“ selbst: „… die Sonnenflecken“, so schreibt er 1612 an Paolo Gualdo, „werden sie stets peinigen, weil man sie immer sehen wird; und mit gutem Recht gebietet die Natur dieses eine Mal, Rache zu nehmen an der Undankbarkeit derer, die sie so lange missachteten und in ihrer törichten Verstocktheit die Augen 175 

Zu Clavius’ Rolle in der Kalenderreform vgl. Baldini 1983, S. 137–169. Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 282: „… perchè, procedendo di pari dal Verbo divino la Scrittura Sacra e la natura, quella come dettatura dello Spirito Santo, e questa come osservantissima esecutrice de gli ordini di Dio …“ 177  Vgl. Blumenberg 2000, S. 47–107. 178  Ebd., S. 51. 179  Bonaventura, Breviloquium II, c. 11: „… duplex est liber, unus scilicet scriptus intus, qui est Dei aeterna ars et sapientia, et alius scriptus foris, scilicet mundus sensibilis.“ 180  Bacon 1605, Buch 1, vi.16: „… for our Saviour saith, You Err, Not Knowing the scriptures, Nor the Power of God; laying before us two books or volumes to study, if we will be secured from error; first, the Scriptures, revealing the Will of God; and then the creatures expressing His Power; whereof the latter is a key unto the former: not only opening our understanding to conceive the true sense of the Scriptures, by the general notions of reason and rules of speech; but chiefly opening our belief, in drawing us into a due meditation of the omnipotency of God, which is chiefly signed and engraven upon His works …“ 176 

197 2. Konvergenzen: Zwei Himmel, zwei Bücher, eine Wahrheit

geschlossen halten wollen vor dem Licht, das die Natur ihnen zu ihrer Belehrung stets darbietet. Mit unauslöschlichen Lettern zeigt sie uns endlich, wer sie ist und wie feind sie dem Müßiggang ist, dass sie jedoch stets und allenthalben Gefallen hat am Bewirken, Erzeugen, Hervorbringen und Auflösen, worin selbst ihre Vollkommenheit liegt.“181 Eine ähnliche Spannung zwischen dem Anspruch auf die Sichtbarkeit dieser „Lettern“ und dem Problem ihrer Deutung zeigt auch Cigolis Unzufriedenheit über das Auseinanderklaffen zwischen Grienbergers vernünftiger Erklärung der ovalen Erscheinung der Sonnenflecken und seiner eigenen Wahrnehmung (in contrario a quel che il senso mi mostra.)182 Doch sein Vertrauen in das Auge macht Cigoli nicht blind für die Notwendigkeit von Theorie: Schon im August 1611 mahnt er Galilei, nicht nur seine Beobachtungen, sondern auch die dazugehörigen Hypothesen zu veröffentlichen (non solo colle semplice pratiche, ma principalmente con le buone teorice).183 Spätestens seit den 1620er Jahren lässt sich in Galileis Schriften eine Verschiebung in der Gewichtung von Empirie und Mathematik erkennen. Spätestens seit dem Saggiatore von 1623 ist das „Buch des Universums“ nicht mehr ohne weiteres lesbar, denn es ist in der „Sprache der Mathematik“ geschrieben, deren Buchstaben Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren seien.184 Die Tatsache, dass Galilei das Alphabet bei der Wiederholung der Formulierung im Jahr 1641 um Quadrat, Kugel, Kegel und Pyramide, nicht aber um Zahlen ergänzt, deutet Bredekamp als Hinweis auf seine „unausgesprochene Barriere gegenüber der Algebra“.185 Da Galilei in der Praxis alle Formen in Gleichungen übersetzte, ist die Auslassung der Zahlen möglicherweise nicht nur ein Indiz seines visuellen Denkens, sondern auch eine bewusste Abgrenzung gegenüber pythagoreischen bzw. platonischen Vorstellungen der Zahlenharmonie. 181 

Galilei an Paolo Gualdo am 16.6.1612, Opere, Bd. XI, S. 327: „… ma queste [macchie solari] gli terranno sempre al tormento, perchè sempre si vedranno: et è ben ragione che la natura mandi una volta a vendicarsi contro l’ingratitudine di coloro che tanto tempo l’hanno bistrattata, et che per certa loro sciocca ostinazione voglion tener serrati gl’occhi contro a quel lume ch’ella, per loro insegnamento, gli tien sempre davanti. Ecco che ella finalmente con caratteri indelebili ci mostra chi ell’è e quanto ella sia nemica dell’ozio, ma che sempre et in ogni luogo gli piace di operare, generare, produrre e dissolvere, e queste sono le sue somme eccellenze.“ 182  Cigoli an Galilei am 23.3.1612, Carteggio 2009, Nr. 28, S. 82: „Molte ne ò viste ovate, massimo negli estremi, dove dice il Padre Grembergero che viene che noi aquistiamo della parte luminosa, et però ci pare ovata; la qual ragione mi quieterebbe, se però non fusse in contrario a quel che il senso mi mostra …“ 183  Cigoli an Galilei am 23.8.1611, ebd., Nr. 19, S. 67. 184  Galilei, Saggiatore, Opere, Bd. VI, S. 232: „La filosofia è scritta in questo grandissimo libro che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (io dico l’universo), ma non si può intendere se prima non s’impara a intender la lingua, e conoscer i caratteri, ne’ quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali mezi è impossibile a intenderne umanamente parola; senza questi è un aggirarsi vanamente per un oscuro laberinto.“ 185  Galilei an Fortunio Liceti, Januar 1641, Opere, Bd. XVIII, S. 295 und Bredekamp 2007, S. 332.

198 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Cassirer und Koyré haben Galilei dagegen als Platoniker beschrieben, der zwar Aristoteles’ Realismus nie in Frage stellte, den peripatetischen Empirismus aber für naiv hielt.186 Wenn Galilei sich selbst als „matematico e filosofo“ bezeichnet, grenzt er sich von jenen peripatetischen „Pseudophilosophen“ ab, deren Bücher eine dritte Kategorie neben dem Buch der Natur und dem Buch der Bücher bilden.187 In seinem Brief an Kepler polemisiert Galilei gegen jene, die „die Philosophie für ein Buch wie die Aeneis oder die Odyssee halten und folglich glauben, dass die Wahrheit weder in der Welt noch in der Natur, sondern (gemäß ihrer eigenen Worte) in der Vergleichung der Texte gesucht werden müsse“.188 Im Mittelpunkt der scholastischen Disputation stand bekanntlich der Syllogismus, ein deduktives Verfahren, mithilfe dessen sich aus zwei Prämissen mit einem gemeinsamen terminus medius Schlussfolgerungen ziehen lassen. Die „Vergleichung der (autoritativen) Texte“ diente der Prüfung einer These gegen alle erdenklichen Einwände in der Dialektik von pars adstruens und pars destruens.189 Am 22. April 1611 sendet Galilei Salviati einen Brief Keplers, in dem dieser den Astronomen Francesco Sizzi kritisiert, dessen „Erfindungen“ „der dem Auge sichtbaren Wahrheit“ entgegenstünden: „Die sichtbare Welt wird verworfen; er hat sie weder selbst wahrgenommen noch schenkt er den Erfahrungen Glauben. So spaziert er als Peripatetiker mit kindischen Spitzfindigkeiten in der Bücherwelt auf und ab und leugnet, dass die Sonne leuchtet, weil er selbst blind ist.“190 Denselben Tenor hat Welsers Klage über jene, die „nie ihren Blick von diesen Papieren erheben wollen, als wäre dieses große Buch der Welt nicht von der Natur geschrieben worden, um von einem anderen als Aristoteles gelesen zu werden“.191 Cigoli dagegen polemisiert gegen alle, die nur glauben, was aus dem Mund des Aristoteles komme – zumal sie anders als ihr Meister nicht von dem Wunsch nach Wahrheit, sondern allein von ihrer Sturheit geleitet seien (onde si vede non aver per fine la verità, come lo istesso lor maestro comanda, ma la ostinazione).192 Vor allem die Erklärung der Sonnenflecken sollte die Peripatetiker eines Besseren belehren. Galilei 186 

Vgl. Koyré 1998b und Shea 1986, S. 123. Vgl. Galilei an Cesi am 12.5.1612, Carteggio 2009, Nr. 30, S. 86 und Galileis Postillen zu La Gallas De phaenomenis in orbe lunae, in: Opere, Bd. III, S. 395–396. 188  Galilei an Kepler am 19.8.1610, Opere, Bd. X, S. 423: „Putat enim hoc hominum genus philosophiam esse librum quendam velut Eneida et Odissea; vera autem non in mundo aut in natura, sed in confrontatione textuum (utor illorum verbis), esse quaerenda.“ 189  Vgl. Traninger 2012, S. 48 und 57. 190  Kepler an Galilei am 28.3.1611, zit. in dessen Brief an Filippo Salviati vom 22.4.1611, Opere, Bd. XI, S. 77: „… repudiato mundo sensibili, quem nec ipse vidit nec expertis credit, ratiunculis puerilibus spaciatur Peripateticus in mundo chartaceo.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 28. Vgl. Sizzi 1611. 191  Galilei 1613/1967, S. 104: „… non vogliono mai sollevar gl’occhi da quelle carte, quasi che questo gran libro del Mondo non fosse scritto dalla natura per esser letto da altri, che da Aristotele …“ 192  Cigoli an Galilei am 6.10.1612, Carteggio 2009, Nr. 42, S. 110; vgl. auch seinen Brief vom 11.8.1611, Nr. 18, S. 65: „… né vogliono le cose nuove né vederle né credere, cor una massima, che quello che non à saputo né detto Aristoti[le] et Tolomemo et altri grandi omini, non può stare …“ 187 

199 2. Konvergenzen: Zwei Himmel, zwei Bücher, eine Wahrheit

hält seine Theorie für „das Begräbnis, oder mehr noch, das Jüngste Gericht der Pseudophilosophie“ (il funerale o più tosto l’estremo et ultimo giuditio della pseudofilosofia).193 Tatsächlich aber kam es schon vor der Drucklegung der Briefe über die Sonnenflecken zu Auseinandersetzungen mit den Zensoren, die nicht zuletzt auf der Unschärfe des Begriffs „cielo“ basierten. Das Buch sollte ursprünglich mit einem Brief Welsers beginnen, in dem dieser Mt 11,12 zitiert: „Das Königreich des Himmels leidet Gewalt, und gewalttätige Männer nehmen es mit Gewalt.“194 Bemerkenswerterweise fürchteten die Zensoren jedoch weniger die mit dem Teleskop bewaffneten Männer, als die Verquickung des wissenschaftlichen Texts mit dem Wortlaut der Bibel, denn sie plädierten nicht für die Streichung des Begriffs „Himmel“, sondern für eine Paraphrase des Matthäusverses.195 In dieselbe Richtung zielt die Substitution von Galileis Inanspruchnahme „göttlicher Inspiration“ (divina ispirazione) durch die pagane Berufung auf „günstige Winde“, die ihn zur Verteidigung des Kopernikanismus getrieben hätten. Ein dritter Einwand bezog sich auf die Unveränderlichkeit des Himmels, die Galilei in der ersten Fassung nicht nur als falsch, sondern auch als „Widerspruch zu den unzweifelhaften Wahrheiten der Heiligen Schrift“ bezeichnet hatte. Dabei konnte er sich auf Kardinal Carlo Conti berufen, den er bereits im Sommer 1612 um eine Einschätzung der theologischen Brisanz der Sonnenflecken gebeten hatte. Conti gab Entwarnung: Mehr als Galilei widerspreche Aristoteles der Bibel, gar die Kirchenväter wären von der corrottibilità des Himmels ausgegangen.196 Trotzdem wurde von den Zensoren auch Galileis Umformulierung, seine Theorie stehe „in vollkommener Übereinstimmung mit den Wahrheiten des Heiligen Geistes“ abgelehnt, so dass er in der Endfassung gänzlich auf die Erwähnung der Bibel verzichtete. Im Zentrum der Vorwürfe gegen Galilei stand neben dem Konflikt über die Bibelauslegung vor allem die Frage nach dem Modus astronomischer Aussagen. Bellarmin unterscheidet in seinem Brief an Foscarini zwischen absoluten und hypothetischen Sätzen, wie sie auch Kopernikus über die bewegte Sonne geäußert habe: „Mir scheint, Sie und Herr Galileo täten gut daran, sich darauf zu beschränken, Vermutungen zu äußern, statt absolute Aussagen zu machen (parlare ex suppositione e non assolutamente), ebenso 193  Galilei an Cesi am 12.5.1612, ebd., Nr. 30, S. 86. Cesi greift die Formulierung in seiner Antwort vom 17.5.1612 auf (vgl. ebd., Nr. 31, S. 88). 194  Welser verwendet die Formel „Regnum caelorum vim patitur, et violenti rapiunt illud“ erstmals in einem Gratulationsschreiben an Galilei vom 6.1.1612, Opere, Bd. XI, S. 257. Zur Kritik der Zensoren an dem Satz vgl. Cesi an Galilei am 24.11.1612, ebd., S. 437 und Welser an Giovanni Faber am 15.2.1613, ebd., S. 483. 195  Vgl. Opere, Bd. V, S. 138–139. 196  Vgl. Carlo Conti an Galilei am 7.7.1612, Opere, Bd. XI, S. 354: „… la Scrittura non favorisce ad Aristotele, anzi più tosto alla sentenza contraria, sì che fu comune opinione de’ Padri che il cielo fosse corruttibile“ und Galilei, Istoria, Opere, Bd. V, S. 139; vgl. dazu Biagioli 2002, S. 64–65, Anm. 92 und Bredekamp 2007, S. 264.

200 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

wie ich immer geglaubt habe, dass es Kopernikus getan hat.“197 Galilei kann bei dieser Aussage nur den Kopf schütteln. Wer behaupte, Kopernikus habe die Bewegung der Erde „nicht in rei natura für wahr“ erklärt, habe De Revolutionibus offenbar nicht gelesen.198 Trotz dieser deutlichen Worte im Mai 1615 hält Galilei sich nach seiner Abmahnung 1616 mit öffentlichen Aussagen zurück. Erst als sein Florentiner Unterstützer Maffeo Barberini 1623 als Urban VIII. den Papstthron besteigt, nutzt Galilei den – unter der Bedingung hypothetischen Sprechens – gewährten Freiraum. Am Ende des Dialogo lässt er sich sogar zu der Aussage herab, dass der Kopernikanismus „weder wahr noch endgültig bewiesen“ und der göttliche Ratschluss ohnehin dunkel sei.199 Doch sein Trick, diese Worte ausgerechnet Simplicio in den Mund zu legen, wurde ihm zu Verhängnis: Am 12.4.1633 wird Galilei vor die Congregatio pro doctrina fidei berufen, am 22.6.1633 schwört er dem Heliozentrismus ab.

3. „V er e dimostr a zioni et esper ienze“: Str eit über schw immende Kör per In seinem Brief an Castelli behauptet Galilei, über „mille esperienze e mille dimostrazioni necessarie“ für den Heliozentrismus zu verfügen.200 Was aber versteht er unter esperienza und dimostrazione? Die Tatsache, dass an anderer Stelle des Briefes von „sensata esperienza“ die Rede ist, legt nahe, esperienza hier nicht als „Experiment“, sondern als „sinnliche Wahrnehmung“ zu lesen.201 Schon in der Diskussion um die Mondberge hatte Galilei erklärt, dass sinnliche Wahrnehmung allein (il semplice senso) nicht ausreiche: Das Wissen um die hügelige Oberfläche verdanke sich der Verbindung des discorso mit osservationi und apparenze sensate.202 Zur Plausibilisierung seiner Behauptung schlug Galilei in diesem Fall ein „Experiment“ (esperienza) vor, das zeige, dass der Unterschied zwischen einem glatten und einem unregelmäßigen Schlitz in einer von hinten beleuchteten Metallplatte nur bei der Betrachtung aus der Nähe, nicht aber aus der Ferne sichtbar wird.203 197 

Bellarmino an Foscarini am 12.4.1615, Opere, Bd. XII, S. 171: „Dico che mi pare che V. P. et il Sig. Galileo facciano prudentemente a contentarsi di parlare ex suppositione e non assolutamente, come io ho sempre creduto che habbia parlato il Copernico.“ 198  Vgl. Galilei an Piero Dini, Mai 1615, Opere, Bd. XII, S. 184. 199  Galilei, Dialogo, Opere, Bd. VII, S. 488: „… confesso, il vostro pensiero parermi bene più ingegnoso di quanti altri io me n’abbia sentiti, ma non però lo stimo verace e concludente …“ 200  Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 285. 201  Ebd., S. 283 (und an Cristina di Lorena, S. 317). 202  Galilei an Grienberger am 1.9.1611, Opere, Bd. XI, S. 178–203, hier 183: „Come dunque sappiamo noi, la [Luna] esser montuosa? Lo sappiamo non col semplice senso, ma coll’accoppiare e con­ giungere il discorso coll’osservationi et apparenze sensate.“ Vgl. dazu de Angelis 2014, S. 282. 203  Ebd., S. 198–199 und de Angelis 2014, S. 294–295. r

201 3. „Vere dimostrazioni et esperienze“: Streit über schwimmende Körper

Sprachlich macht Galilei folglich keinen strengen Unterschied zwischen einer Wahrnehmung, einer instrumentengestützten Beobachtung und dem, was man heute als Experiment versteht. Die stärkste Beweiskraft haben für Galilei Aussagen, die sich sowohl durch sinnliche Erfahrung (sensata esperienza) wie auch durch rationale Beweisführungen (veri/necessarie dimostrazioni) belegen lassen. Im scholastischen Verständnis verwies esperienza auf verallgemeinerte Aussagen darüber, wie sich Dinge normalerweise zutragen. Denn anders als die Diffamierung der Peripatetiker als Bücherwürmer suggeriert, war die aristotelische Physik keineswegs blind, sondern bezog ihre Überzeugungskraft gerade aus wiederholten, prinzipiell allen zugänglichen Beobachtungen. Diese Erfahrung bedurfte ob ihrer Evidenz keiner formalen Beweise. Eine ähnliche Vorstellung von Erfahrung als Resultat wiederholter Wahrnehmungen findet sich durchaus auch bei Galilei. In seinem Kommentar zu La Gallas Kritik am Sidereus Nuncius beispielsweise vergleicht er die wahre Philosophie mit dem Zeichnen nach der Natur, das Studium der Philosophiegeschichte dagegen mit dem Abzeichnen älterer Werke: Ebenso wie Maler gelangten auch Wissenschaftler allein durch „mille e mille esperienze“ zur Perfektion.204 Trotzdem war Galilei scheinbar evidenten Beobachtungen gegenüber skeptisch und verwies auf die Standpunktgebundenheit jeder Beobachtung (beispielsweise im Falle der Bootsinsassen, die nicht entscheiden können, ob sich ihr Schiff oder das Ufer bewegt).205 Peter Dear beobachtet im Lauf des 17. Jahrhunderts eine Verschiebung von der Beschreibung der gewöhnlichen Erfahrung zur Beschreibung besonderer, folglich auf konkrete Zeugen angewiesener historischer Ereignisse: „The new ‚experience‘ of the seventeenth century, therefore, established its legitimacy in historical reports of events, often citing witnesses. The singular experience could not be evident, but it could provide evidence.“206 Galilei verwendet den Begriff „esperienza“ sowohl für die sinnliche Wahrnehmung Einzelner wie auch für „Experimente“ im engeren Sinne, wobei diese noch 204  Galilei, In orbe lunae, Opere, Bd. III.1, S. 395 und 396: „… così, per eccitar e ’ndirizzar la mente al ben filosofare, è utile il vedere ed osservar le cose già da altri filosofando investigate, ed in particolare le vere e sicure, quali sono principalmente le matematiche. E come quelli che mai non venisse al ritrar dal naturale, ma sempre continuasse in copiar disegni e quadri, non solo non potrebbe divenir perfetto pittore, ma nè anco buon giudice delle pitture, non si essendo assuefatto a distinguere il buono dal cattivo, il bene imitato dal mal rappresentato, col riconoscere ne i naturali stessi per mille e mille esperienze gli effetti veri de gli scorci, de i dintorni, dei lumi, dell’ombre, dei riflessi, e l’infinite mutazioni delle varie vedute …“ 205  Vgl. Galilei/Blumenberg 2002, S. 164 und 174–178. Vgl. dagegen Bellarmino an Fosacrini am 12.4.1615, Opere, Bd. XII, S. 172: „… chi si parte dal litto, se bene gli pare che il litto si parta da lui, nondimeno conosce che questo è errore e lo corregge, vedendo chiaramente che la nave si muove e non il litto; ma quanto al sole e la terra, nessuno savio è che habbia bisogno di correggere l’errore, perchè chiaramente esperimenta che la terra sta ferma e che l’occhio non s’inganna quando giudica che il sole si muove, come anco non s’inganna quando giudica che la luna e le stelle si muovano.“ (Meine Hervorheb.) 206  Dear 1987, S. 134; vgl. auch ebd., S. 173–174 und Dear 1990, S. 665–666.

202 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

weniger heuristische als illustrative Funktionen besaßen.207 Wahrheit lässt sich Galilei zufolge nur geometrisch bzw. mathematisch, nicht aber empirisch beweisen.208 Bezüglich des (Gedanken-)Experiments des vom Schiffsmast fallenden Steins behauptet er, bereits vor der Durchführung durch vernünftiges Nachdenken zu demselben Ergebnis gekommen zu sein. Im Dialogo betont Salviati, dass er auch ohne Experimente wisse, was eintreten werde – weil es so eintreten müsse.209 Die spektakulären Fallexperimente am Turm von Pisa, mit denen Viviani Galilei zum Pionier der empirischen Forschung stilisierte, haben schon Lane Cooper und Alexandre Koyré als Legende entlarvt. Allerdings konnte Stillman Drake zeigen, dass Koyrés Beschreibung Galileis als abstrakt denkendem Platoniker ebenso wenig haltbar ist.210 Anhand zahlreicher in Favaros Werkausgabe nicht berücksichtigter Notate konnte Drake beweisen, dass Galilei sehr wohl experimentierte. Auch wenn er seine Messergebnisse nicht immer veröffentlichte, stellte er offenbar lange Versuchsreihen an, bei denen das Hantieren mit eigens entwickelten Apparaten wie Präzisionswaage, schiefer Ebene oder Pendel eine entscheidende Rolle spielten.211 Grundsätzlich also wusste Galilei um die rhetorische und heuristische Funktion von Experimenten und nutzte sie in einigen Fällen, um Hypothesen zu verifizieren, teilweise auch, um neue zu entwickeln – nicht aber, um sie zu belegen.212 Ein instruktives Beispiel für Galileis ambivalente Haltung zum Experiment bildet die Diskussion über schwimmende Körper, die Galilei und Cigoli in den Jahren 1611 bis 1613 ebenso sehr beschäftigte wie die Astronomie.213 Die Frage avancierte zum Testfall des Aristotelismus und stellt ein Musterbeispiel für die Inflation von Wahrheitsvokabeln bei umstrittenen Aussagen dar. In seinem im Mai 1612 publizierten Discorso […] intorno alle cose che stanno in su l’acqua o che in quella si muovono (dem laut Drake ersten gedruckten Beitrag zur experimentellen Physik) glaubte Galilei belegen zu können, dass die Schwimmfähigkeit von Körpern nicht, wie die Aristoteliker behaupteten, von der Form, 207  Vgl. z. B. Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 283: „… effetti naturali che o la sensata esperienza ci pone innanzi a gli occhi o le necessarie dimostrazioni ci concludono“ und Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 31: „… ho più ferme demostrazioni ed evidenti esperienze che le loro non sono“ und S. 34: „con ragioni e con esperienze“. 208  Vgl. z. B. Discorsi, Opere, Bd. VIII, S. 296: Um zu beweisen, dass die Maximalgeschwindigkeit eines Projektils bei einem Winkel von 45° erreicht ist, seien Experimente weder möglich noch nötig. 209  Galilei an Francesco Ingoli, Opere, Bd. VI, S. 501–561, hier S. 545 und Dialogo, ebd., Bd. VII, S. 171. 210  Vgl. Fahie 1903, S. 216 und Koyré 1998a und 1998b; dagegen vgl. Drake 1978a und 1978b. 211  Vgl. z. B. Naylor 1990 und Palmieri 2008, S. 10–17. 212  Die bereits erwähnte „esperienza“ zur Wirkung einer von hinten beleuchteten, geschlitzten Metallplatte beispielsweise wird v. a. zu didaktischen und affirmativen Zwecken eingesetzt (vgl. de Angelis 2014, S. 294–295). 213  Grundlegend zu dem Streit: Drake 1960, S. 56–63 und 1970a; Salvo 2010; Ceglia 1999 und Biagioli, der ihn als paradigmatisches Beispiel eines „court dispute“ präsentiert (1993, Kap. 3).

203 3. „Vere dimostrazioni et esperienze“: Streit über schwimmende Körper

sondern allein vom relativen Gewicht der Körper abhängig sei.214 Die aristotelische causa per se des Sinkens oder Schwimmens war das Streben der Elemente nach ihrem natürlichen Ort, die Form die causa per accidens. Im Vorwort erklärt Galilei es zu seinem Ziel, „das Wahre vom Falschen, die realen von den scheinbaren Gründen erkennen zu geben“ (per far conoscere il vero dal falso, le reali dall’apparenti ragioni).215 Tatsächlich waren es erst die Anfechtungen seiner Gegner, die Galilei dazu veranlassten, die zunächst nur mündlich und in Notizen entwickelten Argumente zu verfeinern und Experimente durchzuführen, um mittels „wahrer Beweise“ (vere dimostrazioni) zur „Erkenntnis der Wahrheit“ (in cognizione della verità) zu gelangen.216 Galilei versprach, mit größter Einfachheit und Klarheit „die wahre und vollständige Ursache“ (la vera e total causa) des Schwimmens zu liefern und behauptete später, das Versprechen eingelöst zu haben: „Und dies ist die einzige, wahre, richtige und absolute Ursache des Schwimmens oder Sinkens“ (E questo è la sola, vera, propria, e assoluta cagione del soprannotare, o andare al fondo).217 Grundlage für seine Argumentation sind die Schriften des Archimedes Über das Gleichgewicht und Über Körper im Wasser sowie ein ihm zugeschriebener mittelalterlicher Traktat, der bis zur Publikation eines Manuskripts von Niccolò Tartaglia das Standardwerk zur Hydrostatik darstellte.218 1565 hatte Federico Commandino eine verbesserte lateinische Archimedesausgabe publiziert, welche die nachfolgende Debatte maßgeblich bestimmte; 1586 erschien Simon Stevins Traktat über Hydrostatik, 1603 Marino Ghetaldis Promotus Archimedes seu de variis corporum generibus gravitate magnitudine comparatis.219 Galilei waren vermutlich beide Traktate bekannt, obgleich er keinen der modernen Theoretiker explizit anführt.

214 

Discorso al Serenissimo Don Cosimo II. Gran Duca di Tosana. Intorno alle cose, che stanno in sù l’acqua, ò che in quella si muovono. Di Galileo Galilei. Filosofo, e Matematico della Medesima Altezza Serenissima, Florenz 1612, S. 6: „… e per ciò tutti i corpi più gravi di essa, di qualunq. figura si fussero, indifferentemente andavano a fondo, e i più leggieri, pur di qualunque figura, stavano indifferentemente à galla.“ 215  Galilei, Discorso, Opere, Bd. IV, S. 65. 216  Ebd., S. 66–67: „… pur debbo sperarne un altro mio utile proprio, cioè di venire in cognizion della verità, nel sentir riprovare le mie fallacie, e introdurre le vere dimostrazioni da quelli, che sentono in contrario.“ 217  Galilei an Cosimo II. o. D., Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 35 und 50. In der Druckfassung heißt es schließlich: „E per procedere con la maggiore agevolezza e chiarezza che io sappia, parmi esser necessario, avanti ad ogni altra cosa, dichiarare qual sia la vera, intrinseca e total cagione dell’ascendere alcuni corpi solidi nell’acqua e in quella galleggiore, o del discendere al fondo; e tanto più, quanto io non posso interamente quietarmi in quello che da Aristotile viene in questo proposito scritto“ (Galilei, Discorso, Opere, Bd. IV, S. 67). 218  1543 publizierte Tartaglia eine lateinische Übersetzung, 1551 und 1565 erschienen kommentierte italienische Ausgaben. Ausführlicher zur Publikationsgeschichte vgl. Drake 1969, S. 12. Dem „archimedischen Prinzip“ zufolge entspricht die Auftriebskraft eines Körpers der Gewichtskraft des von ihm verdrängten Wassers. 219  Vgl. Commandino 1565 und dazu Drake 1960, S. XI und ders. 1969, S. 13.

204 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Der im Juli 1611, kurze Zeit nach Galileis triumphalem Besuch in Rom einsetzende Streit um die schwimmenden Körper liest sich wie eine Reihe öffentlicher Duelle, denen jedoch jeweils ein Gegner fernblieb, weil man sich nicht über die Waffen verständigen konnte.220 Die vielseitige Feindschaft gegen Galilei speiste sich aus unterschiedlichsten Motiven: Giovanni de’ Medici grollte Galilei wegen dessen Kritik an einem Ingenieursprojekt; Lodovico delle Colombe, der 1610 ein Manuskript Contro il moto della terra in Umlauf gebracht hatte, verdächtigte Galilei zu Recht, seine Hände beim Verriss seines Buches über die Nova im Spiel gehabt zu haben.221 Akut war er verärgert, weil er Clavius nicht zu einer gemeinsamen Offensive gegen Galileis Monddeutung hatte bewegen können.222 Eine Diskussion mit den Pisaner Professoren Vincenzio di Grazia und Giorgio Coresio über die Eigenschaften des Eises im Hause Filippo Salviatis bot für delle Colombe eine willkommene Gelegenheit zur Rache: Bestand Eis aus kondensiertem oder rarefiziertem Wasser? Galilei plädierte für Letzteres und führte die Schwimmfähigkeit als Argument an. Der Beweis konnte jedoch nur funktionieren, wenn man das Schwimmen als Folge der geringeren Dichte des Eises und nicht seiner breiteren Auflagefläche interpretierte. Man vereinbarte eine Schauvorführung, doch stattdessen präsentierte delle Colombe seine auf den ersten Blick schlagenden Experimente mit sinkenden Kugeln und schwimmenden Blättchen aus Ebenholz vorab öffentlich in der Stadt. Galilei sah nicht nur sein Ansehen als Wissenschaftler, sondern auch seine neue Position als Hofmathematiker in Gefahr. Als ein zweites Treffen vereinbart wird, weigert er sich, die seines Erachtens nicht aussagekräftigen Experimente durchzuführen und formuliert bei dieser Gelegenheit ein strenges empirisches Programm: Um zwischen Ursachen und Akzidenzien unterscheiden zu können, gelte es beim Experimentieren alle anderen Ursachen auszuschalten.223 „The

220 

Drake und Biagioli haben den Hergang zu rekonstruieren versucht. Galilei kannte und kommentierte delle Colombes Schrift, die auch biblische Belege gegen die Erdbewegung enthielt, sah darin aber offenbar (ebenso wenig wie in Niccolò Lorinis diesbezüglichen Bemerkungen) keine Gefahr (vgl. Remmert 2005, S. 24–25). 222  Vgl. Opere, Bd. XI, Nr. 534, S. 118 und Nr. 587, S. 212 und No. 602, S. 228–229; letzeren Grund vermutet Biagioli 1993, S. 170, Anm. 49. Lodovico delle Colombe war Cigolis Lieblingsgegner, vgl. seine Bemerkungen in Briefen an Galilei am 23.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 19, S. 67, am 11.11.1611, Nr. 23, S. 73–74 und am 1.2.1613, Nr. 50, S. 124. Drake relativiert die tatsächliche Rolle delle Colombes in der Affäre (vgl. Drake 1980, S. 57). 223  Vgl. Galilei, Discorso, Opere, Bd. IV, S. 66 und Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 19: „Essendo la questione, se la figura operi o no circa ’l descendere o non descendere i corpi della medesima gravità in specie nell’aqqua, o potendo di tale varietà esserne cagione diversi accidenti, oltre alla figura, bisogna, chi bene vuol determinare circa il nostro particolare, rimuovere, nel far l’esperienza, tutte le altre cause che possono produr questo medesimo effetto, lasciando ne i corpi la sola diversità di figura“ und S. 28: „… bisogna rimuover tutte le altre cause che possono far tal diversità …“ 221 

205 3. „Vere dimostrazioni et esperienze“: Streit über schwimmende Körper

dispute“, so Biagioli, „turned almost totally into a confrontation over the very rules of the game“.224 Öffentliche Streitigkeiten standen dem persönlichen Mathematiker und Philosoph des Großherzogs nicht gut zu Gesicht. In einem Brief an Cosimo II. kündigt Galilei deshalb an, von nun an einzig auf die Feder zu vertrauen, um die gegnerischen Falschaussagen zu widerlegen, die für die Mehrheit „das Gesicht und die Erscheinung der Wahrheit“ (faccia e sembianza di vero) trügen.225 Galilei präsentiert sich als Ritter der Wissenschaft, dessen Pflicht es sei, seinen Patron mit dem „unbesiegbaren Schild der Wahrheit“ (con lo scudo invincibile della verità) vor „Missgunst, Neid und Dummheit“ (malignità, invidia, o ignoranza) zu schützen und zu zeigen, dass seine Theorie absolut wahr war und ist (è stato sempre ed è assolutamente vero).226 Beschlossen wird Galileis Brief mit der Beteuerung, seine „wahre Aussage“ vor der „Gefräßigkeit der Lüge“ gerettet, ja diese „bezwungen und getötet“ zu haben (salvandole dalla voracità della bugia da me atterrata ed uccisa).227 Als wahrer Ariosta vergleicht Galilei die Aristoteliker mit den Einwohnern von Pianto, die Orlando anschuldigten, ihren Gott Proteus mit der Rettung so vieler zum Opfer bestimmter Jungfrauen verärgert zu haben.228 Der nackte, aber unverletzliche Held, so Galilei, wäre gestorben, hätte er sich nicht verhalten wie ein Bär, der von kleinen bellenden Hunden betäubt wird.229 Er selbst allerdings sei nicht Orlando und besitze „nichts Undurchdringliches als das Schild der Wahrheit“ (nè ho altro d’ impenetrabile che lo scudo della verità). „Ansonsten nackt und unbewaffnet“, suche er Schutz bei seiner Hoheit.230 Die Wahrheit des Schildes überträgt sich metonymisch auf den ganzen Körper, der nackte Galilei ist selbst die nuda veritas.231 In einem anderen Entwurf beschwört Galilei noch deutlicher den Topos der nackten Wahrheit: Ein Grund, seine Position schriftlich 224 

Biagioli 1993, S. 172–173. Vgl. Galilei, Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 30–31 und seine Beteuerung im Discorso, Opere, Bd. IV, S. 65. 226  Ebd. 227  Galilei, Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 51. 228  Ebd.: „… imitando in ciò gli abitatori dell’Isola del Pianto irati contro di Orlando, al quale, in guiderdone dell’aver egli liberate da l’orribile olocausto e dalla voracità del brutto mostro tanto innocenti verginelle, si movevano contro, rimorsi da strana religione e spaventati da vano timore dell’ira di Proteo, per sommergerlo nel vasto oceano …“ 229  Ebd.: „… e ben l’avriano fatto se egli, impenetrabile, ben che nudo, alle lor saette, non avesse fatto loro quello che suol fare l’orso de i piccioli cagniuoli, che con vani e strepitosi latrati importunamente l’assordano.“ 230  Ebd.: „Ma io, che non sono Orlando, nè ho altro d’impenetrabile che lo scudo della verità, disarmato e nudo nel resto, ricorro alla protezione dell’A.V., al cui semplice sguardo cadranno in terra le armi di qualunque, fuori di ragione, contro alla ragione imperiosamente vorrà muovere assaliti.“ 231  Den Topos der „nackten Wahrheit“ verwendet Galilei auch in seinem Brief an Castelli, in dem er die „verità nuda e scoperta“ den verdunkelten Dogmen der Bibel entgegensetzt (21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 283). Zur Geschichte dieses Topos vgl. Konersmann 2008. 225 

206 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

zu vertreten, sei der, dass jene Fantasten, die „tausend Chimären und fantastische Schrullen“ (mille chimere e fantastichi ghiribizzi) vorbrächten, in der Öffentlichkeit lauter schrieen, als jene, durch deren Mund die Wahrheit spreche, welche sich, „wenn auch langsamer, mit Ruhe still enthüllt und entblößt“ (la quale, se bene con più tempo, con quiete tranquillamente si svela e si denuda).232 Der enthüllten Wahrheit steht Lodovico delle Colombe als Personifikation des Nebulösen gegenüber. Wenn er eine Imprese für ihn zu entwerfen hätte, schnaubt Cigoli 1613, wäre dies ein Kamin ohne Abzug, aus dem der Rauch ins Zimmer quillt, in dem sich Leute versammeln, für die „die Nacht vor dem Abend“ kommt.233 Der Kampf des Wahrheitsritters Galilei ist nicht nur ein Kampf gegen solchen Nebel, sondern auch für die Freiheit der Philosophie. Dafür beruft Galilei sich ausgerechnet auf Aristoteles, der ihn gelehrt habe, auf den Verstand statt auf die Autorität eines Meisters zu setzen. „Das Philosophieren“, so zitiert er Alcinoos, „möchte frei sein“ (’ l filosofare vuol esser libero).234 Einen Gesinnungsgenossen findet er in Luca Valerio, der Galileis Frontalangriff gegen die Peripatetiker begrüßt, auch wenn er fürchtet, durch den Discorso in ein „noch größeres Meer des Zweifels“ (un pelago di dubii sempre magiori) gezogen zu werden: „Was immer sich als die Wahrheit erweist, gefällt mir das freie Philosophieren natürlich wesentlich besser als das Denken nach den Regeln irgendeiner philosophischen Grammatik oder grammatischen Philosophie; denn Philosophie muss diejenige genannt werden, die bei dem von wahrem Begehren nach Wahrheit geleiteten Nachdenken an den Nägeln nagt, und nicht [praktiziert wird], um plaudernd den Anschein eines Gelehrten zu geben.“235 Wohl nach Abschluss eines ersten Pamphlets über das Schwimmverhalten wird ein weiterer Schaukampf inszeniert.236 Der Großherzog hat Besuch von dem Pisaner Peri232 

Galilei, Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 30 und 31: „… quelli che per loro inavvertenza si inducono a voler sostener il falso, più altamente strepitano, e più ne i luoghi pubblici si fanno sentire, che quelli per i quali parla la verità, la quale, se bene con più tempo, con quiete tranquillamente si svela e si denuda …“ 233  Cigoli an Galilei am 1.2.1613, Carteggio 2009, Nr. 50, S. 124: „… un cammino senza sfogo della sua gola, nel quale facendovi fuoco, il fumo per quella non trovando esito, tornasse indreto e riempiesse la propria abitazione, nella quale si ragunano Gente a chui si fa notte inanzi sera.“ 234  Galilei, Discorso, Opere, Bd. IV, S. 65: „… non per capriccio, o per non aver letto o inteso Aristotile, alcuna volta mi parto dall’opinion sua, ma perchè le ragioni melo persuadono, e lo stesso Aristotile mi à insegnato quietar l’intelletto à quello che m’è persuaso dalla ragione, e non dalla sola autorità del maestro; ed è verissima la sentenza d’Alcinoo, che’l filosofare vuol’ esser libero.“ 235  Luca Valerio an Galilei am 23.8.1612, Carteggio 2009, Nr. 38, S. 102–103: „Ma qualunche si sia la verità, in somma mi piace molto, al mio solito, il filosofar libero, et non come per regole d’una certa grammatica filosofica, o filosofia grammaticale, se però filosofia se dee chiamare quella che per lo più hoggi dì s’usa per tedio di starsi a roder l’unghie in contemplando con vero disidèro di saper la verità, et non per acquistar cicalando apparenza d’huomo dotto.“ Valerio hatte seit 1600 den Lehrstuhl für Mathematik an der Sapienza inne. 236  Am 1.10.1611 berichtet Galilei Cigoli von dem Wettkampf und einem Essay, den Drake für einen vom Discorso unterschiedenen Text hält (Carteggio 2008, Nr. 22, S. 72; vgl. Drake 1960, S. 60).

207 3. „Vere dimostrazioni et esperienze“: Streit über schwimmende Körper

patetiker Flaminio Papazzoni, den Galilei durchaus achtete. Einer der anwesenden Kardinäle schlägt sich auf die Seite des Gasts, Maffeo Barberini auf die Seite Galileis; er ist der Sieger des Abends. Trotzdem melden sich immer wieder Kritiker zu Wort. Nach einer ernsten Krankheit arbeitet Galilei im Winter 1611 an der weniger polemischen Druckfassung des Discorso. Dabei ist seine Beweisführung nicht immer stringent. Wenn ihm die Argumente ausgehen, greift er auf zusätzliche Bedingungen – wie die Benetzung der Körper – zurück, die für das unterschiedliche Schwimmverhalten von Objekten desselben Gewichts verantwortlich sein soll.237 Im Discorso rekurriert er auf kleine Dämme, die das Wasser davon abhielten, das Holzplättchen zu bedecken – was schwimme, sei folglich nicht das Plättchen, sondern ein Luft-Holz-Komposit, das leichter sei als Wasser.238 Die weitere Forschung gab beiden Parteien Recht, denn neben dem relativen Gewicht spielt auch die Spannung der Wasseroberfläche eine Rolle, weshalb flache Gegenstände tatsächlich besser schwimmen.239 Obgleich das Thema scheinbar fernab von den konfliktträchtigen astronomischen Debatten liegt, die Galilei in der Einleitung des Discorso ausführlich schildert, sind die Reaktionen heftig.240 Anders als Welser, den die Lektüre „bekehrt“, so dass er „mit Gründen und Experimenten gerüstet und gestärkt, nicht wüsste, wie die Widersacher sie angreifen sollten“, sind die Peripatetiker keineswegs überzeugt.241 Umgehend erscheinen zahlreiche Gegenschriften, denn immerhin steht nicht nur die Autorität des Aristoteles, sondern auch die Reputation der toskanischen Wissenschaftshonoratioren auf dem Spiel.242 Schon im Juli 1612 erscheinen die Considerazioni sopra il Discorso del sig. Galileo Galilei eines Anonymus, hinter dem Favaro Arturo Pannocchieschi de’ Conti d’Elci, Drake hingegen Flaminio Papazzoni vermutet und von dem Cigoli schreibt, dass er „mit

237  Vgl. Galilei, Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 30–35. Im Discorso führt er zudem den Begriff des momentum ein, mit dem er der Abhängigkeit der Sinktiefe von der Größe des Behälters Rechnung zu tragen suchte (vgl. Biagioli 1993, S. 184–185). 238  Ausführlicher bei Biagioli 1993, S. 198–199. 239  Trotzdem gilt: Alle Körper mit geringerer Dichte als Wasser schwimmen, unabhängig von ihrer Form. Dabei kommt es neben der Masse bzw. Gewichtskraft auch auf das (eingetauchte) Volumen bzw. die Flüssigkeitsverdrängung des Körpers an (vgl. de Ceglia S. 427). 240  Vgl. Galilei, Discorso, Opere, Bd. IV, S. 63–64. 241  Welser an Galilei am 5.10.1612, in: Galilei 1613/1967, S. 99: „… la cui lettura mi convertì in modo, & non mi vergogno di confesserlo, che ciò, che da principio mi parve paradosso, hora mi riesce indubitato, e talmente munito, e fortificato da ragioni, & isperienze, che certo non sò discernere come, & dove gl’avversarij siano per assaltarlo …“ 242  Vgl. Accademico Ignoto, Considerazioni sopra il Discorso del sig. Galileo Galilei […] fatte a difesa e dichiarazione dell’opinione d’Aristotile, Pisa 1612, in: Opere, Bd. IV, S. 143–196; vgl. dazu Drake 1960, S. 61–63.

208 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

viel Beiwerk und Metaphern“ Fundamente lege, in die feindliche Soldaten problemlos einmarschieren könnten.243 Doch Galileis Versuche, in diese labilen Bauten einzudringen, bleiben erfolglos; ein Pamphlet folgt dem nächsten.244 Im Dezember 1613 erklärt sich Lodovico delle Colombe seinerseits zum Hüter des „Lichts der Wahrheit“, das von den Schatten seiner einzig nach Neuheit trachtenden Gegner verdunkelt werde.245 Seinen Vorwurf kleidet er in den Vergleich von Aristoteles mit einer legendären apulischen Statue, die von Schatzsuchern zerstört wurde, weil sie den gnomonischen Rätselspruch der Figur nicht verstanden. Einzig der gute Mathematiker wisse den von der Statue angezeigten „Schatz der Wahrheit“ zu heben bzw. die Schriften des Aristoteles, „die Summe der philosophischen Wahrheit“, richtig zu deuten.246 Delle Colombes Darstellung des Streitverlaufs ist freilich eine andere als die Galileis. Ihm zufolge hatte der Mathematiker zugestimmt, einem gemeinsamen Freund, den Kanoniker Francesco Nori, die Entscheidung darüber zu überlassen, welches der vorgeschlagenen Experimente am geeignetsten sei, „die Wahrheit zu enthüllen“.247 Galilei sei jedoch zum verabredeten Termin nicht erschienen und habe stattdessen seinen Traktat veröffentlicht, um „mit Argumenten von dem zu überzeugen, was er den Sinnen nicht zeigen konnte.“248 Entgegen dem ersten Anschein hatten Galileis Behauptungen durchaus kosmologische Implikationen, denn sie stellten die Idee des natürlichen Strebens der Elemente in Frage. Der Anonymus erfasst durchaus den Ernst der Lage: Wenn Galilei recht habe, sei jede Aufwärtsbewegung erzwungen und die gesamte Ursachenlehre hinfällig.249 Galilei

243  Cigoli an Galilei am 6.10.1612, Carteggio 2008, Nr. 42, S. 110: „Et stando in sul fuso, con bellissimi epiteti fratini, e traslati o metafore […] va facendo un cumulo di fondamenti che, se non vi fabrica sopra, e’ soldati nimici enterranno dentro senza schala.“ 244  Vgl. Coresio, Operetta intorno al galleggiare de’ corpi solidi, Florenz 1612, in: Opere, Bd. IV, S. 197–286; Benedetto Castelli reagiert in Galileis Namen (vgl. ebd., S. 245–286). Zu Coresio, der 1614 von einem (möglicherweise vorgetäuschten) religiösen Wahnsinn befallen wird, vgl. de Ceglia 2000, S. 407–411. 245  Lodovico delle Colombe, Discorso Apologetico di Lodovico delle Colombe intorno al Discorso di Galileo Galilei …, Florenz 1612, in: Opere, Bd. IV, S. 313–369, hier S. 317: „Ma che si trovino intelletti che, a somiglianza di costoro, sperino far nuove apparir le medesime cose di già tralasciate per la falsità loro, in derision degli stessi inventori, e che voglino oggi, che risplende sì bel giorno di verità, far buio altrui con le tenebre dell’intelletto loro …?“ 246  Ebd., S. 311–370, hier 313. 247  Vgl. ebd., S. 318. Laut delle Colombe sollten die Versuchsobjekte dasselbe Material und Gewicht besitzen; die Auswahl der Formen sollte bei ihm, die Bestimmung der möglichst gleich dichten Objekte bei Galilei liegen und der Versuch viermal wiederholt werden (vgl. ebd., S. 318–319). 248  Ebd., S. 319. Beide Kontrahenten verschweigen, dass sie jeweils einen verabredeten Termin versäumten (Biagioli 1993, S. 176). Cigoli erwähnt das Fortbleiben von „il Pippone“ in einem Brief an Galilei am 23.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 19, S. 67. 249  Vgl. Opere, Bd. IV, S. 157.

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hat die Konsequenz selbst deutlich gesehen: Es gebe „nur eine einzige, wahre und richtige Ursache“, „Unterscheidungen wie per se oder per accidens, proprie vel improprie, absolute vel respective […] werden nur aufgebracht, um denen zu helfen, die die wahren, eigentlichen und unmittelbaren Ursachen der philosophischen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, nicht erfassen können“.250 Noch deutlicher wird Castelli, der die sechzehn unterschiedlichen Ursachen „und weiteren hundert Chimären“ (cent’altre chimere) der Peripatetiker gegen Galileis „eine einfache und klare Schlussfolgerung“ (una sola, semplice e reale conclusione) stellt.251 Zur Disposition steht also die Frage, in welchen Fragen sinnliche Wahrnehmung auf welche Weise erkenntnisleitend ist. Galileis Kontrahent Vincenzio di Grazia bringt das methodologische Problem auf den Punkt: Galilei wolle gerade jene Dinge, die in den Bereich des Sinnlichen fallen, mathematisch beweisen, solche aber, die sich dafür nicht eigneten – wie die Mondkrater oder Sonnenflecken – empirisch. Natürliche Phänomene lassen sich seiner Meinung nach jedoch grundsätzlich nicht mathematisch erklären, denn Mathematik sei eben keine Wissenschaft der Bewegung.252 In ihren instruktiven Studien zu Wunder und Beweis in der frühen Neuzeit hat Lorraine Daston gezeigt, dass sich das moderne Verständnis einer „wissenschaftlichen Tatsache“ erst im England der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausbildete, wo Boyle, Hooke und andere den Begriff der „matter of fact“ entwickelten.253 Einem Empiriker wie Boyle mussten Galileis hydrostatische Theorien als unzulässige Geometrisierung erscheinen: „Those Mathematicians, that have added anything considerable to the Hydrostaticks […] have been wont to handle them, rather as Geometricians, than as Philosophers, and without referring them to the explication of the Phaenomena of Nature.“254 Solche Vorwürfe hatte Galilei jedoch gewissermaßen vorhergesehen. In einem Briefentwurf verteidigt er seine Verquickung von Geometrie, Physik und Philosophie und betont einmal mehr seinen Glauben an eine einzige Wahrheit: „Als ob es je mehr als eine Wahrheit geben könnte, als ob die Geometrie bis heute die Erkenntnis wahrer Philosophie behindert hätte, als ob es unmöglich wäre, sowohl Geometer als auch Philosoph zu sein und niemand, der sich mit Geometrie auskennt, Ahnung von Physik haben und sich nicht auf physikalische Weise mit physikalischen Dingen auseinander-

250 

Galilei an Tolomeo Nozzolini im Januar 1613, Opere, Bd. IV, S. 299: „… la quale [cagione], perchè è una sola, vera, propria, conosciuta ed intesa da me e da altri, non ammette distinzion veruna di per se o per accidens, proprie vel improprie, absolute vel respective, alle quali distinzioni sono necessitati di ricorrere per aiuto quelli che non conseguiscono l’intera cognizione delle cause vere proprie ed immediate de i loro filosofici problemi.“ 251  Castelli, Considerazioni, Opere, Bd. IV, S. 580. 252  Vgl. Vincenzio di Grazia, Considerazioni, Opere, Bd. IV, S. 436 und 385. 253  Vgl. Daston 1991, S. 337–363. 254  Boyle 1666, Vorwort, o. S.; vgl. dazu Dear 1990, S. 681–682.

210 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

setzen könnte!“255 Dabei beruft er sich auf Aristoteles, der ebenfalls an einschlägigen Stellen geometrische Beweise eingefügt habe.256 Gerade Galileis „demostrazioni geometriche“ beschäftigen auch Cigoli, der den Discorso […] intorno alle cose che stanno in su l’acqua angeblich gleich dreimal liest und Luca Valerio um Hilfe bittet, um die geometrische Beweisführung zu verstehen.257 Als Valerio wegen seiner Beziehung mit Margherita Sarrocchi (der Galilei den Traktat immerhin als Erster geschickt hatte) als Ratgeber ausfällt, wendet Cigoli sich an den Abt des Klosters von S. Prassede, Don Orazio Morandi: Die schwimmenden Körper ziehen weite Kreise.258

4. „Ta nta v is est v er itatis“? Ne i d, V er leumdung und Ignor a nz Am 4. August 1597 hatte Galilei in einem Brief an Kepler seine Freude darüber ausgedrückt, „bei der Erforschung der Wahrheit einen so bedeutenden Bundesgenossen zu haben, der ein Freund der Wahrheit selbst ist“.259 Kepler griff das Wahrheitspathos auf und empfahl Galilei eine groß angelegte Kampagne: Es gelte die Masse „mehr und mehr 255  Galilei, Opere, Bd. IV, S. 49: „Qua io m’aspetto un rabbuffo terribile da qualcuno de gli avversarii; e già parmi di sentire intonar negli orecchi chè altro è il trattar le cose fisicamente ed altro matematicamente, e che i geometri doveriano restar tra le lor girandole, e non affratellarsi con le materie filosofiche, le cui verità sono diverse dalle verità matematiche; quasi che il vero possa esser più di uno; quasi che la geometria a i nostri tempi progiudichi all’aqquisto della vera filosofia, quasi che sia impossibile esser geometra e filosofo, sì che per necessaria conseguenz[a] si inferisca che chi sa geometria non possa saper fisica, nè possa discorrere e trattar delle materie fisiche fisicamente.“ 256  Galilei, Discorso, Opere, Bd. IV, S. 50: „Vegghino gli avversarii se io tratto le materie con i medesimi termini che Aristotile, e se egli medesimo, dove è necesssario, introduce demostrazioni geome­ triche …“ 257  Cigoli an Galilei am 30.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 35, S. 95: „Ricevetti […] il libretto dal maestro della posta e la sua lettera, et ne ho hauto grandissmo gusto, se bene a qualche mal passo ò bisognio del bastone del Sig.r Luca Valerio.“ Und am 14.7.1612, Nr. 36, S. 99: „Ò letto il libretto mandatomi tre volte, tanto mi è piaciuto. Solo arei bisognio, a quelle dimostrazioni geometriche, del Sig.r Luca; ma egli [è] tanto stravagante diventato, che se ne può far poco capitale, se bene gli è tanto detto aperto per il resto, che in ogni modo si intende.“ 258  Cigoli an Galilei am 28.7.1612, Carteggio 2009, Nr. 37, S. 100–101: „… il Sig.r Luca, del quale pure se ne può far poco capitale, perché è più imerso che mai in quello umore solito della S.a M.ta S. […] Però lo aiuto che havevo per bene intendere quelle dimostrazioni geometriche del libretto di V.S., non potendo da lui, ò trovato, mentre sono a Santa Maria Maggiore, il Padre proccuratore Don Orazio di Santa Persedia, monico di Santa Trinità, et credo che sia quello. Basta.“ Morandi geriet später wegen der Voraussage des Todes von Urban VIII. in Verruf. 259  Galilei an Kepler am 4.8.1597, Opere, Bd. X, S. 68: „… profecto summopere gratulor, tantum me in indaganda veritate socium habere, adeoque ipsius veritatis amicum.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 9.

211 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

mit sachverständigen Aussagen zu überschütten, um sie so vielleicht mit List zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen“.260 Zwar sei die Erklärung der Himmelserscheinungen durch die Bewegung der Erde „nicht von selbst glaubwürdig“; doch „da [die Theorien] wahr sind, warum sollten sie nicht als unwiderlegbar aufgedrängt werden?“261 Inständig ermuntert Kepler seinen Kollegen daher zur Veröffentlichung: „Habt Vertrauen, Galilei, und tretet hervor“ (Confide, Galilaee, et progredere!).262 Die Chancen standen seines Erachtens gut: „Wenn ich recht vermute, wollen nur wenige der hervorragenden Mathematiker Europas uns im Stich lassen. So voller Macht ist die Wahrheit“ (tanta vis est veritatis).263 Zur Überzeugung hartnäckiger Mathematiker, die „von Berufs wegen keine Annahmen ohne Beweis“ hinnähmen, empfiehlt er eine subversive Strategie, die viel über die Mechanismen neuzeitlicher Wissenschaft verrät: „An einem Ort gibt es nur einen Mathematiker […] Dann soll er, wenn er anderswo einen Gesinnungsgenossen hat, von diesem einen Brief erwirken. Auf diese Art und Weise kann er durch Vorzeigen dieses Briefes bei den Gelehrten die Annahme erwecken, alle Professoren der Mathematik wären allenthalben eines Sinnes.“264 „Alle allenthalben eines Sinnes“: Keplers „Trick“ macht sich die andauernde Bedeutung des consensus omnium als Wahrheitskriterium zunutze. Klaus Oehler hat gezeigt, dass sich die aristotelische Wertschätzung des Gemeinurteils – „Was allen Menschen wahr erscheint, davon gilt die Aussage, dass es so ist“ – gegen Platons Vorbehalte der sinnenverhafteten Masse gegenüber durchsetzten konnte.265 „Einheit ist das Gütesiegel der Wahrheit, und die Vielfalt ihrer Meinungen ist der Beweis des Irrtums“ (Errori varietas, veritati unitas competit) schreibt Bacon in einer Frühschrift.266 1612 zeigt sich Scheiner begeistert über die Kongruenz der von ihm und Galilei angestellten Sonnenbeobachtun260 

Kepler an Galilei am 13.10.1597, ebd., S. 70: „… authoritatibus illud magis magisque obruere incipiamus, si forte per fraudem ipsum in cognitionem veritatis queamus …“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 12. 261  Ebd.: „… cumque sint vera, cur non pro irrefutabilibus obtruderentur?“ 262  Ebd. 263  Ebd.; vgl. auch Galilei 1613/1967, S. 129: „Mà perche troppo invencibile è la forza della verità, ripigliamo pure i medesimi disegni, e consideriamogli spogliati d’ogn’altro affetto fuori, che del venire in notizia del vero, e troveremo i tempi di detti passaggi essere eguali frà di loro, e tutti circa 14. giorni.“ (Meine Hervorh.) 264  Kepler an Galilei am 13.10.1597, Opere, Bd. X, S. 70: „Est in quolibet loco mathematicus unus […]. Tum si habet alibi locorum opinionis socium, literas ab ipso impetret; qua ratione, monstratis literis (quorsum etiam mihi tuae prosunt), opinionem hanc in animis doctorum excitare potest, quasi omnes ubique professores mathematum consentirent.“ Doch: „Verum quid fraude opus est?“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 13. 265  Oehler 1961, S. 103–127; vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1172b. Auch im Streit um die schwimmenden Körper referieren Galileis Gegner vielfach auf die opinio communis, den consensus omnium bzw. die diuturna experientia (vgl. de Ceglia 2000, S. 422). 266  Francis Bacon, Temporis partus masculus, zit. nach Zittel 2002, S. 215.

212 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

gen, die ad unguem übereinstimmten: „Du wirst staunen, vergleichen, dich wundern und erfreuen, sobald du siehst, dass – bei der so großen Distanz zwischen unseren Orten – der eine mit dem anderen hinsichtlich Zahl, Ordnung, Größe und Gestalt der Flecken so angenehm in Einklang steht.“267 Umso schärfer tritt die Differenz ihrer jeweiligen Erklärung der Beobachtungen hervor, von der sich Scheiner jedoch nicht entmutigen lässt: Als Freunde im Geiste würden sie die Wahrheit zweifellos ans Licht bringen.268 Die Bedeutung von Einstimmigkeit als Wahrheitskriterium zeigt sich auch in den konfessionellen Konflikten, die bis in die Gewissensentscheidung Einzelner hineinreichen und vielfach in Konversionsberichten beschrieben werden. Exemplarisch lässt sich dies an der 1699 publizierten Revocation des lutherischen Pfarrers Adam Ignatius Stobaeus aufzeigen, der „mit einhelliger Beystimmung aller Christen die Einigkeit, welche Christus seiner Kirchen erbethen hat“ als eines der sichersten Zeichen erkennt, die „Gott gesetzet hat, seine wahre Religion aus allen zu erkennen. […] Nemlich gleich wie nur ein Glaub, ein Gott, der die Warheit ist, welche nothwendig einig ist, Also ist auch nothwendig einig die wahre Religion.“269 Abgesehen von der unzulässigen Spaltung der einen Kirche erscheinen den Altgläubigen die neuen Konfessionen auch deshalb weit von der einen Wahrheit entfernt zu sein, weil die unterschiedlichen protestantischen Partikularkirchen selbst untereinander keine Einigkeit erzielen können. Paradigmatischen Ausdruck findet diese Skepsis in einem Flugblatt mit dem Titel „Anatomia Lutheri“, das den Reformator in einer Travestie des letzten Abendmahls auf dem Seziertisch zeigt, wo er von Calvin, Melanchthon, Zwingli und anderen „gemartert, anatomiert, gemetzget, zerhackt, zerschnitten, gesotten, gebraten und letztlich gantz auffgefressen wirdt“.270 Als Gegenbild mag das bereits erwähnte Fresko Pasquale Catis in der Cappella Altemps gelten, das die Einigkeit des Konzils feiert, die in der Personifikation der Ecclesia mit Papstkrone – dem von Stobaeus ersehnten, unfehlbaren Richter – ihren universalen Ausdruck findet (vgl. Abb. 41).271

267 

Scheiner an Welser, zit. in dessen Brief an Giovanni Faber vom 9.11.1612, Opere, Bd. XI, S. 428: „Oblector incredibiliter, quando video eas cum meis, meas cum ipsius, ad unguem convenire. Intueberis, conferes, miraberis, delectaberis, cum animadvertes, in tanta locorum distantia, alterum cum altero tam belle concordare, quoad numerum, ordinem, situm, magnitudinem et figuram macularum.“ 268  Ebd.: „Quod si tam bene mihi cum Galilaeo, vel ipsi mecum, conveniret de corporum istorum substantia, pulchrior coniunctio excogitari non posset. Interim, dum discrepamus sententiis, amicitia conglutinemur animorum, praesertim cum ad unum scopum tendamus utrique, qui est Veritas; quam nos eruturos, nequaquam diffido.“ Übers. nach Bredekamp 2007, S. 277. 269  Strobaeus 1699, o. S. 270  So der Wortlaut des Flugblatts. Eine ausführlichere Analyse gibt Joseph Koerner, der in dem Titelblatt der 1567 edierten Tischreden Luthers das Vorbild für die Komposition erkannt hat (vgl. Koerner 2004, S. 397–399). 271  Vgl. Kap. III.1. Zu Bellarmins Vorstellung des Papstes als „iudex“, der allein oder zusammen mit den Konzilien die Letztentscheidung in allen Streitfragen besitzt, vgl. Remmert 2005, S. 33–34.

213 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

Das im säkularen Konzept des consensus omnium implizierte „kumulative Wahrheitsverständnis“ beruht auf der Annahme, dass zwar kein Einzelner eine apodiktische Wahrheit, die Vielen aber wahrscheinliche Sätze zu einer dialektischen Wahrheit versammeln können.272 Die politische Brisanz dieser Auffassung zeigt sich bei Machiavelli, der zwar nicht die einzelnen Bürger, wohl aber das Volk als Ganzes für klüger als einen Alleinherrscher hält.273 Während Cicero die Übereinstimmung als die wahre „Stimme der Natur“ bezeichnet (omnium consensus naturae vox est), wird das lumen naturale in der StoaRezeption des 17. Jahrhunderts zur Grundlage metaphysischer Systeme: „Der gesunde Menschenverstand“, so Descartes im Anschluss an Cicero, „ist die bestverteilteste Sache der Welt“ – auch wenn man seinen Gebrauch erst erlernen müsse.274 Galilei ist – obgleich er sich mehrfach auf das lumen naturale beruft275 – dem Gemeinurteil gegenüber skeptisch. Nicht nur das Beispiel der das Ufer unisono für bewegt haltenden Bootsinsassen, sondern auch sein eigener, alltäglicher Kampf gegen eingefleischte Vorurteile lassen ihn vor den „Vielen“ resignieren, die gegenüber den „Wenigen“ die Meinung dominieren. 1597 klagt Galilei über die geringe Zahl derer, „die nach Wahrheit streben und nicht den verkehrten philosophischen Grundsätzen folgen“, so dass Kopernikus zwar bei „einigen“ unsterblichen Ruhm, bei „unendlich vielen“ jedoch nur Spott geerntet habe.276 Im Saggiatore vergleicht er die Philosophen mit einsam fliegenden Adlern im Gegensatz zu den schwarmweise auftretenden Staren.277 Entscheidungen, so Giovanfrancesco Sagredo 1611, würden von einem „Gericht von Millionen und Abermillionen von Dummköpfen“ getroffen, „deren Stimmen nach Anzahl und nicht nach Gewicht“ geschätzt würden.278 272 

Oehler 1961, S. 107. Machiavelli 1509/2000, Kap. 58, S. 160–165; vgl. dazu Oehler 1961, S. 109. 274  Descartes, Discours de la méthode, AT VI, S. 2: „Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée …“ 275  Vgl. z. B. Galilei an Paolo Gualdo am 16.6.1612, Opere, Bd. XI, S. 327. 276  Galilei an Kepler am 4.8.1597, Opere, Bd. X, S. 68: „Miserabile enim est, adeo raros esse veritatis studiosos, et qui non perversam philosophandi rationem prosequantur [… Copernicus] licet sibi apud aliquos immortalem famam paraverit, apud infinitos tamen (tantus enim est stultorum numerus) ridendus et explodendus prodiit.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 9. 277  Vgl. Galilei, Saggiatore, Opere, Bd. VI, S. 237: „Io, signor Sarsi, credo che volino come l’aquile, e non come gli storni. È ben vero che quelle, perchè son rare, poco si veggono e meno si sentono, e questi, che volano a stormi, dovunque si posano, empiendo il ciel di strida e di rumori, metton sozzopra il mondo. Ma pur fussero i veri filosofi come l’aquile, e non più tosto come la fenice. Sig. Sarsi, infinita è la turba de gli sciocchi, cioè di quelli che non sanno nulla; assai son quelli che sanno pochissimo di filosofia; pochi son quelli che ne sanno qualche piccola cosetta; pochissimi quelli che ne sanno qualche particella; un solo Dio è quello che la sa tutta.“ 278  Giovanfrancesco Sagredo an Galilei am 13.8.1611, Opere, Bd. XI, S. 172: „Chi non sa che giudice di questo doverà esser la rota di un infinito numero de millioni di sciochi, i voti de’ quali sono stimati secondo il numero, e non a peso?“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 32. Ähnlich plädiert auch Descartes gegen das „Stimmenzählen“ und vertraut bei der Wahrheitsfindung auf die Meinung der Wenigen (vgl. Regulae III.2, AT X, S. 367). 273 

214 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Und auch Cigoli polemisiert gegen diejenigen, die nur glauben, was die Zustimmung der Allgemeinheit findet (quello che passa per la comune in giu[di]cat[o]).279 So ‚antidemokratisch‘ Galileis Position ist – Castelli gegenüber unterscheidet er zwischen dem Plebs und den „wenigen, die es wert sind, vom gemeinen Volk geschieden zu werden“280 –‍, ist sie doch insofern progressiv, als Galileis ‚Elite‘ sich weder notwendig aus der Akademie noch aus der gesellschaftlichen Oberschicht rekrutiert. Die „Wenigen“, denen Galilei Urteilsfähigkeit zugesteht, sind nicht die gesellschaftlich distinguierten Entscheider, sondern die Experten. In einem Brief an Paolo Gualdo macht Galilei seinem Ärger über das standesspezifische Bildungssystem Luft, das junge Männer aus gutem Hause durch die Universitäten schleuse, während Talentiertere durch den Erwerb des Lebensunterhalts vereinnahmt würden; dabei stehe der Weg zur Wahrheit – und hier zeigt sich ein Abglanz der aristotelischen Auffassung von der Wohlverteiltheit der Vernunft – prinzipiell jedem Menschen offen. Auch die Unterprivilegierten sollten „sehen, dass ebenso wie die Natur ihnen wie den Philosophen Augen verliehen hat, ihre Werke zu sehen, ihnen auch Hirne gegeben hat, die fähig sind, sie zu durchdringen und zu verstehen“.281 Diese ‚Demokratisierung‘ nennt Galilei auch als Motiv für die Redaktion seiner Schriften auf Italienisch: „Ich habe [den Brief an Welser] in der Volkssprache geschrieben, weil ich es für nötig erachte, dass jedermann ihn lesen kann.“282 Mit solchen Erwägungen steht Galilei im Einklang mit den Bemühungen der Accademia Fiorentina, das Toskanische als Nationalsprache zu etablieren. Dieses Vorhaben kam den hegemonialen Plänen Cosimos II. entgegen, von denen sich die Akademiker, wie Michel Sherberg gezeigt hat, jedoch zugleich zu distanzieren suchten.283 Hatte der lateinunkundige Cigoli im Oktober 1610 unter Berufung auf die Großen der Florentiner Literatur noch für eine Veröffentlichung in der Volkssprache plädiert, riet er in Anbetracht der Internationalisie-

279 

Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, S. 65. Galilei an Castelli am 21.12.1613, Opere, Bd. V, S. 282: „… quei pochi che meritano d’esser separati dalla plebe …“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. I, S. 169. 281  Galilei an Paolo Gualdo am 16.6.1612, Opere, Bd. XI, S. 327: „… voglio ch’ e’ vegghino che la natura, sì come gl’ha dati gl’occhi per veder l’opere sue così bene come a i filuorichi, gli ha anco dato il cervello da poterle intendere e capire.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 34. 282  Ebd.: „Io l’ho scritto vulgare perchè ho bisogno che ogni persona la possi leggere, e per questo medesimo rispetto ho scritto nel medesimo idioma questo ultimo mio trattatello.“ 1564 hatte sich der Anatom Prospero Borgarucci gegen die Auffassung gewandt, die Geheimnisse der Philosophie und der Natur nur einigen Wenigen vorzubehalten und seine Entscheidung für das Volgare damit begründet, dass besonders ein zugleich erhabener und gemeiner Gegenstand wie der menschliche Körper allen verständlich sein sollte (vgl. Borgarucci 1564, S. 6–7). Descartes ging so weit, gerade den Lateinunkundigen zu vertrauen, da diese sich allein ihres „natürlichen Lichts“ bedienten (vgl. Discours de la méthode, AT VI, S. 77). 283  Vgl. Sherberg 2003, S. 26–55. 280 

215 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

rung der astronomischen Debatte ab 1611 zu lateinischen Auflagen.284 Wiederholt ruft Cigoli Galilei zur unverzüglichen Veröffentlichung seiner Beobachtungen über die Sonnenflecken in hoher Auflage auf. Am 28.7.1612 drängt er: „Schreiben Sie, und verlieren Sie keine Zeit!“285 Drei Monate später: „Und entschließen Sie sich von jetzt ab sowohl auf Italienisch wie auch auf Latein und in großer Auflage zu drucken, und nicht, wie Sie es bisher getan haben, in solch knapper Zahl.“286 Und noch in seinem letzten Brief vom 3. Mai 1613 heißt es: „Aber ich wünschte, dass Sie – wie ich es bereits andere Male gesagt habe – in beiden Sprachen schreiben, denn das Lateinische ist allen Ländern gemein.“287 Gegen Ende steigert sich der Brief zur inständigen Bitte um die Publikation der Wahrheit: „Tun Sie es, tun Sie es, tun Sie es, ohne wie in der Vergangenheit zu zögern! Schreiben Sie die Wahrheit ohne Leidenschaft und ohne zu schmeicheln oder das Feld der Fortuna zu überlassen und ohne sich in Ihrem Lauf bremsen zu lassen …“288 Nicht erst Karl Mannheim hat die gruppenbildende und beschleunigende Wirkung von Konkurrenz innerhalb der Wissenschaft erkannt.289 Schon die Scholastik nutzte die epistemologische Funktion von Streit in Form der Disputatio. In diesem Sinne betont auch Coresio die Fruchtbarkeit des Schlagabtauschs: Wenn die Menschen weniger nach der Erkenntnis des Wahren streben würden, gäbe es zwar vermutlich mehr Eintracht; gelegentliche Zwietracht aber sei durchaus nützlich, denn sie animiere zur disputatio, die die 284 

Cigoli an Galilei am 1.10.1610, Carteggio 2009, Nr. 7, S. 49: „… avendo voluntà di farlo vulgare, pure agli amici vostri vorrebbono che fusse più semplice et positivo. Io non l’ò visto, et quando lo avesse visto, per essere latino, non lo arei inteso; però ella sa che il Petracha, Dante e ’l Boccaccio quanto semplicemente l’ànno posto. Io non so, nè chi me lo disse mel seppe bene dire. Basta. V.S. vi avertischa, se lo fa vulgare.“ Laut Cardi vernachlässigte Cigoli das Lateinstudium zugunsten des Zeichnens (vgl. Cardi 1628/2010, fol. 1r, S. 100). 285  Cigoli an Galilei am 28.7.1612, Carteggio 2009, Nr. 37, S. 101: „… scriva, e non perda tempo.“ 286  Cigoli an Galilei am 19.10.1612, ebd., Nr. 43, S. 112: „Et risolvetevi da qui inanzi a stampare e vulgare et latino le stesse cose, et in copia grande, e non, come avete fatto, con tanta scarsità.“ Am 24.2.1613 rät er erneut zu Zweisprachigkeit: „Anzi, fatele tutte e vulgari e latini, per più farli crepare, et che ne sia insino su per le pancaccie“ (ebd., Nr. 51, S. 126). 287  Cigoli an Galilei am 3.5.1613, ebd., Nr. 53, S. 129: „Che ella prema nello scrivere queste sua nella nostra lingua mi piace, ma il consiglio è più per interesso della lingua, che della gloria di V.S. Però vorrei ch’ella le scrivessi, come ò già detto altre volte, et nell’una et nella altra lingua, perché la latina è comune a tutte le nazioni, et di già la vede che il Velsero quasi gniene accennò improposito del finto Apelle, per intendere queste sue lettere delle machie del sole. Però et il Nuncio sidero et tutti fategli ristanpare e vulgari e latini, e suplischa in quello che lei ha manchato …“ 288  Ebd.: „Fatelo, fatelo, fatelo, et non manchate a voi medesimo, come havete fatto per il passato. Scrivete il vero senza passione et senza curarvi di adulare o cedare il campo alla fortuna, né per loro ritardate il corso …“ Vgl. Chappell 1975a, S. 98, Anm. 34. Die Erwähnung von Fortuna geht vermutlich auf den in der zeitgenössischen Emblematik verbreiteten Topos „sapiens supra fortunam“ – „Der Weise steht über dem Schicksal“ zurück. Vgl. dazu Mulsow 2012, S. 177. 289  Mannheim 1982, S. 325–370 und Mulsow 2007, S. 175.

216 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Wahrheit durch Abwägen etablierter Meinungen ans Licht bringt.290 Auch Cigoli ermutigt Galilei, die Anfeindungen im Zusammenhang mit dem Discorso positiv zu sehen, denn sie brächten in letzter Konsequenz die nackte Wahrheit ans Licht: „… der Wahrheit ist es eigen, sich umso schneller zu enthüllen, je mehr man an sie rührt. Daher freut Euch der Nachstellungen …“291 Die Formulierung verbindet mehrere Topoi: die Vorstellung von der nackten bzw. enthüllten Wahrheit, Aretinos Devise „veritas odium parit“ und das Motto „virescit vulnere veritas“.292 Bredekamp hat besonders die Geschwindigkeit, mit der Galilei den Sidereus Nuncius zusammenstellte, hervorgehoben: „Wohl niemals [ist] ein Buch von vergleichbarer Bedeutung schneller produziert worden.“293 Motor war hier, wie auch bei der Beobachtung der Sonnenflecken, nicht allein die Neugier, sondern auch der Kampf um Priorität, der Galilei sogar zu Rückdatierungen verleitete.294 Fulgenzio Micanzios Schlachtruf vom Sieg der Wahrheit betrifft 1631 denn auch nicht mehr die astronomischen Phänomene selbst, sondern Galileis Anspruch auf deren Erstbeobachtung.295 Martin Mulsow erkennt im raschen Schlagabtausch ein grundlegendes Kennzeichen frühneuzeitlicher Netzwerke: „Es ist ein Bild der Beschleunigung, das sich einem aufdrängt, der Atemlosigkeit, in der man die Aktivitäten des Gegners beäugt und die eigenen Reaktionen vorangetrieben hat.“296 „Die Emergenz von Ideen“, so Mulsow, „war dann aber erst eine Nebenfolge der Produktionen oder sogar eine Folge aus dem Interpretationskonflikt der bereitgestellten Potentiale“.297 Galileis Discorso ist ein typisches Beispiel einer solchen Konfrontation, die ihn erst zur Ausarbeitung seiner Argumente 290  Vgl. Coresio, Operetta intorno al galleggiare, in: Opere, Bd. IV, S. 203: „Se gli uomini si quietassero ugualmente nella cognizione del vero, […] starebbono senza dubbio oltr’a tutti gli altri i letterati in continua concordia tra di loro e si goderebbono tranquillamente il proprio ozio. […] Il muoversi, adunque, qualche volta alcuna discordia tra’ letterati sarà cosa utile, bella e gioconda e degna altresì d’un amator di virtù …“ Vgl. dazu de Ceglia 2000, S. 412. 291  Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, S. 66: „Imperò, Sig.r Galileo, la verità à per suo proprio, quanto più si rimesta, più presto si squopre. Sì che rallegratevi delle perseguzioni …“ Übers. nach Bredekamp 2007, S. 320; vgl. ders. 2014, S. 246. Zu Aretinos Devise vgl. Dolce 1557/1970, S. 23 und Mulsow 2012, S. 182. 292  Das Motto „virescit vulnere veritas“ fand nicht nur als Druckerzeichen von Thomas Creede, sondern auch auf den Titelblättern des Cosmographical Glasse von 1559 bzw. der englischen Euklidübersetzung von 1570 Verwendung. Mulsow führt das Motto „premendo virescit“ auf die antike Vorstellung von der Antiperistasis zurück, wonach sich von Kälte umschlossene Wärme kontrahiert und dadurch stärker wird. Vgl. Mulsow 2012, S. 216. 293  Bredekamp 2007, S. 115. 294  Ebd., S. 338. 295  Der Servitenmönch stellt sich Galilei am 27.9.1631 als Gewährsmann für die frühe Beobachtung der Sonnenflecken zur Verfügung: „La memoria di ciò m’è fresca come se fosse hieri. Ma che bestie si trovano! La verità vince“ (Opere, Bd. XIV, S. 299). Zum Prioritätsstreit vgl. Bredekamp 2007, S. 227–230. 296  Mulsow 2007, S. 169. 297  Ebd., S. 175.

217 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

veranlasste. Dem wahrheitsgenerierenden (und politisch stabilisierenden) Potential von Streit war er sich dabei bewusst: „Es ist gut, wenn der Fürst Philosophen versammelt, die uneinig sind und verschiedenen Sekten angehören, denn so findet man besser die Wahrheit; ebenso ist es für sie besser, wenn ihre Minister uneinig sind und ihre Vasallen aufgesplittet und befeindet, denn auf diese Weise sind die Dinge, das Leben und der Staat in größerer Sicherheit.“298 Dazu gehörte allerdings eine gewisse Streitkultur, die Galilei in der Debatte um die schwimmenden Körper vermisste. In Anbetracht der Tatsache, dass seine Gegner zu unzulässigen Waffen – etwa irreführenden Experimenten – gegriffen hätten und „der philosophische Disput bereits zu einem bissigen Wettstreit verkommen“ sei (avendo già la disputa filosofica degenerato in gara contenziosa), habe er sich entschieden, den Kampf nun auf dem Papier fortzuführen.299 Entsprechend mahnt auch Cigoli seinen Freund zu einem strategischen Vorgehen gegenüber den „räudigen Vögeln“ (ucellacci), die sich durch die Wahl eines berühmten Rivalen einen Namen zu machen versuchten und von Sturheit mehr als von der Liebe zur Wahrheit getrieben seien (onde si vede non aver per fine la verità […] ma la ostinazione).300 – Hinter dem Banner der Wahrheit wird stets auch in eigener Sache gekämpft. Die nuda veritas hat ihre Gegenspieler nicht nur in der Ignoranz, sondern auch in Neid und Missgunst: Die Briefe Galileis, Cigolis, Cesis, Salviatis und Luca Valerios sind voll von Flüchen gegen invidiosi, calunniatori und maledici.301 Schon 1610 ruft Cigoli Galilei auf, sich gegen seine Feinde zu „rüsten“.302 1611 warnt er ihn vor den hinter seinem Rücken feixenden satrapi, die zwar Inbegriff der Ignoranz, aber trotzdem zu fürch298  Galilei, Opere, Bd. IV, S. 23: „È bene che il principe abbia filosofi discordi e di sette diverse, perchè così meglio si ritrova il vero; si come per i medesimi è bene che i lor ministri siano discordi, ed i lor vassalli in parte ed in nimicizie, perchè così hanno la roba la vita e lo stato in maggior sicurtà.“ 299  Galilei an Cosimo II., o. D., Opere, Bd. IV, S. 35. 300  Cigoli an Galilei am 23.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 19, S. 67: „Di grazia, avisatemi, et vi ricordo a venire una volta sola, et poi levarve da torno, et atendere con quelli che sono già famosi e noti al Mondo a concorrere, perché cotesti ucellacci si vogliono far luogho non per valore proprio, ma per la elezione del rivale …“ Zit. 6.10.1612, Nr. 42, S. 110. 301  Valerio spricht wiederholt von „calunniatori“, die, so heißt es am 24.9.1610, Galilei Behauptungen über den Mond in den Mund legen, die die Steine zum Lachen brächten (Carteggio 2009, Nr. 6, S. 47). Am 25.8.1612 zeigt er seine Genugtuung darüber, dass Galileis Gegner im Kampf um die schwimmenden Körper nicht anders könnten als ihre „livida et arrabbiata invidia“ zu verdecken (Nr. 39, S. 104). Am 31.8.1613 bittet er Gott, Galilei vor Neid und übler Nachrede zu bewahren (Nr. 55, S. 133). Im Oktober 1610 versucht Valerio den Verleumdungen einen Sinn abzugewinnen, indem er sie als Zeichen der Vorsehung interpretiert, die daran erinnern, dass jedes vollkommene Werk und das Entdecken der Wahrheit sich allein Gott verdanke (Nr. 9, S. 51). Vgl. auch Cesi an Galilei am 29.9.1612, Nr. 41, S. 107; 28.10.1612, Nr. 44, S. 113; 3.11.1612, Nr. 45, S. 115–116 und 23.12.1612, Nr. 48, S. 121. Am 10.11.1612 beschreibt Cesi seine Vorfreude auf den dritten Brief über die Sonnenflecken, der der Wahrheit zur Ehre, den Neidern und Tyrannen zum Tadel gereichen werde (Nr. 47, S. 119). 302  Cigoli an Galilei am 1.10.1610, Carteggio 2009, Nr. 7, S. 49: „Tutto dico a V.S., acciò si armi et che i nimici non la trovino sprovista alla difesa …“

218 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

ten seien.303 Galilei berichtet Salviati im April 1611 von Gerüchten, denen zufolge er „vor dem Guss heißen Wassers“ bzw. der Kritik an seinen Publikationen geflohen sei, weil er seine Thesen nicht verteidigen könne.304 Gott möge dafür sorgen, „dass die Überschwemmungen nicht einträten, deren Fluten ich auf meine Feinde zukommen sehe und sie darin untergehen“.305 Auch Sagredo kennt die „wütenden Stürme der Eifersucht“ auf „dem stürmischen Meer des Hofes“, wo Intrigen „schlechter und neidischer Menschen“ das Herz junger Fürsten bedrohten.306 Als Cigoli im Dezember 1611 Galileis Gegner als eine beim Erzbischof versammelte „Schar von Lästermäulern und Neidern Eurer Tugend und Meriten“ (una certa sciera di malotichi et invidiosi della virtù et dei meriti di V.S.) beschreibt, erwähnt er erstmals religiöse Motive der Hetze.307 Er empfiehlt seinem Freund, der Missgunst ins Auge zu sehen und beschließt den Brief mit einem Wunsch zur Bewahrung vor Neid.308 Eine visuelle Umsetzung findet der Wunsch im Rahmen seines Galilei-Porträts auf der LinceiAusgabe der Briefe über die Sonnenflecken (Abb. 91).309 Das ovale Medaillon wird nicht nur von zwei Putti mit den Insignien von Geometrie und visueller Astronomie, Zirkel und Fernrohr, sondern auch von zwei Masken gerahmt, in denen sich die lorbeergeschmückte Tugend und die schlangenfressende, eselsohrige Invidia erkennen lassen. Während die Tugend auf ihren Vertreter hinabsieht, stiert Invidia auf die offenbar in der linken Ecke lauernden Neider, die sie gleichsam als Apotropäum schon auf der Außenseite des Traktats abhalten soll. Sei es Kritikunverträglichkeit oder gekränkter Stolz, auch Cigoli selbst sah sich in Florenz, vor allem aber in Rom ständig Anfeindungen gegenüber. Vor allem ortsfremde Künstler hatten einen schweren Stand, weil die einheimischen ihr Territorium eifersüchtig verteidigten. Bei seinem Einstand in Rom hatte Cigoli nur den „Neid der Natur“ zu spüren bekommen, die angesichts der Perfektion seines Hieronymus ihre Alleinstellung 303  Cigoli an Galilei am 1.7.1611, ebd., Nr. 16, S. 61: „Non di meno bisognia temerli, perché dietro alle spalle ti fanno le mine […] Però state all’erta con essi et chiariteli, ma in pubricho …“ 304  Galilei an Salviati am 22.4.1611, Opere, Bd. XI, S. 90: „… altri [hanno scritto] che io sono scappato per fuggir l’acqua calda venutami addosso per le pubblicazioni di scritti e stampe contro di me …“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 27. 305  Ebd.: „Ma volesse Dio che non fosser più vere le piene, che io veggo muoversi a sommergere i miei avversari.“ 306  Sagredo an Galilei am 13.8.1611, Opere, Bd. XI, S. 171: „… ma chi può nel tempestoso mare della Corte promettersi di non esser dalli furiosi venti della emulatione, non dico sommerso, ma almeno travagliato et inquietato?“ 307  Cigoli an Galilei am 16.12.1611, Carteggio 2009, Nr. 24, S. 75. 308  Ebd., S. 76: „Ora gliene scrivo, acciò apra gli ochi a tanta invidia e malignità di così fatti malefici, parte dei quale avete dei loro scritti satirci et ignioranti …“ und: „Et con questo le prego da Dio ogni felicità e conteno, et che la difenda dalla invidia, perché sopra ogni altro n’à di bisognio.“ 309  In einem undatierten Brief an Francesco Stelluti spricht Federico Cesi von dem Porträt „che ha fatto fare il Cigoli, pittor suo amico“; zit. nach Tongiorgi Tomasi 2009, S. 24.

219 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

91. Cigoli, Porträt Galileo Galileis, Kupferstich, in: Galilei 1613, Titelseite.

als Künstlerin gefährdet sah und das Gemälde durch Wasser ruinierte.310 Bei seinem prestigeträchtigen Auftrag für die Wunderheilung Petri jedoch traf Cigoli und seine Florentiner Kollegen Cristoforo Roncalli und Francesco Vanni der Neid der römischen Künstler.311 Ferdinando de’ Medici hatte Cigoli den Auftrag vermittelt, ein Pferd zur Verfügung gestellt und für seinen Empfang durch den Botschafter und seine Unterbringung in der Villa Medici gesorgt. Wenig später jedoch rief er ihn wegen der Vorbereitungen zur Hochzeit seines Sohnes nach Florenz zurück, was Cigoli zur Unterbrechung seiner 310 

Vgl. Kap. II.1. Unbekannte hatten Spottgedichte an Roncallis und Vannis Bilder geheftet, die später an Giuseppe Cesari gesandt wurden, der mit Roncalli wegen des Auftrags für die Dekoration der Peterskuppel im Streit lag. Nachdem Clemens VIII. Roncalli die Leitung entzogen und an Cesari übertragen hatte, hatte Paul V. ihn erneut mit der Mosaizierung der Kuppel betraut. Möglicherweise war dieser Streit auch Anlass für das Attentat auf Roncalli am 2.3.1607, bei dem nicht, wie Baglione suggeriert, Caravaggio, sondern der Cavaliere d’Arpino der Hauptverdächtige war. Baglione wiederum hatte 1603 eine Verleumdungsklage gegen Caravaggio, Orazio Gentileschi und andere Künstler angestrengt, nachdem diese Spottverse auf eines seiner Gemälde verfasst hatten (vgl. dazu Sickel 2002, S. 159–189 und Spagnolo 2010). Zu den Anfeindungen gegen Cigoli vgl. Cardi 1913, S. 35–40. Zur Künstlerrivalität in Rom vgl. Wimböck 2011, die insbesondere den Streitigkeiten um die Imitation des Personalstils nachgeht. 311 

220 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Arbeiten zwang.312 Nach Rom zurückgekehrt, fand er nicht nur sein Gemälde enthüllt vor, sondern sah sich auch mit einem Plagiatsvorwurf konfrontiert: Die römischen Rivalen hatten gefälschte Stiche in Umlauf gebracht, die belegen sollten, dass Cigoli sein Gemälde nach einer flämischen Vorlage kopiert habe.313 Erzürnt zerstörte er das bereits begonnene Gemälde und malte es vor aller Augen neu.314 Wieder spielt der Topos der enthüllten Wahrheit eine Rolle: Gaben die römischen Maler vor, Cigolis perfides Plagiat ans Licht zu bringen, indem sie den Schleier von dem Gemälde rissen, belegte Cigoli die Wahrheit, indem er die Öffentlichkeit zur Zeugin seiner Kunstfertigkeit machte. Schlussendlich konnte er triumphieren: „Weil das Wahre und die Tugend letztlich die größte Kraft (forza) besitzen“, so zitiert Cardi abermals den Topos von der Macht der Wahrheit, habe Cigolis Bild letztlich am besten gefallen, ja man habe sogar dem Gemeinurteil zuzustimmen, demzufolge die Wunderheilung Cigolis bestes Gemälde sei.315 Auch hier also belegt der consensus omnium die Wahrheit; das Kunsturteil fällt auf den Straßen.316 Doch auch wenn die Wahrheit in der St.-Peter-Affaire siegte – eine gewisse Ernüchterung blieb. Im folgenden Winter genoss Cigoli Cardi zufolge die Zurückgezogenheit in S. Paolo fuori le mura, wo er an seiner Hl. Brigidia und der Grablegung Pauli arbeitete. Die Beobachtung eines verbrennenden Astes soll ihm ein melancholisches Wortspiel auf seinen Namen eingegeben haben: „Cigola quel vento che và via“.317 Noch in der größten Verzweiflung zeigt sich der echte Dantista, denn der Vers stammt aus dem 13. Gesang des Inferno, in dem Dante den „Wald der Selbstmörder“ durchschreitet und versteht, dass

312 

Dank an Lothar Sickel für den Hinweis auf das großherzogliche Engagement. Cardi 1628/2010, fol. 4v, S. 110: „… e di poi vistala finita, e molto più lodabile di quello, che dalla bozza ha/veano conceputo, e poi che non li dava loro il quore con l’opere di superar la virtù di lui, presero espediente sommi/nistratoli in vero da non legittima e pura mente, di subito disegnarla per farla intagliare si come fecero per mano di un’ fiammingo, e speditam[en]te impressola in una carta sudicia, andavano dicendo che egli l’havea cavata da una stampa / forestiera e quella mostravono …“ Zu anderen Plagiatsskandalen vgl. Cropper 2005. 314  Cardi 1628/2010, fol. 4r, S. 108: „Et arrivato a Roma per dar fine alla Tavola di S. Pietro, la qual trovando che mentre mancava di la, era / stata da sopracciò scoperta acciò publicam: te si vedesse, il che udì con tal dispiacere, che lasciatala stare deliberò allon=/tanarsi da quella, e rimutarla …“ 315  Vgl. ebd., fol. 4v–5r, S. 111: „… perche ha finalm[en]te troppa forza il / vero e la virtù, piacque quella del Cigoli assai più d’ogn’altra […] doversi confermare il consenso comune, / che quest’opera fra quante ne habbia fatte sia la più celebrata, e la più bella […] doversi confermare il consenso comune,/ che quest’opera fra quante ne habbia fatte sia la più celebrata, e la più bella.“ Von dem Ruhm des Gemäldes zeugt nicht nur dessen Verbreitung durch Stiche von Nicolas Dorigny und Jacques Callot, sondern auch eine m. W. bisher unbeachtete monumentale Replik an der Innenfassade der Kirche des Monasterio de San Jerónimo in Granada, in der sich auch ein von Cigolis Flucht nach Ägypten inspiriertes Fresko findet. 316  Vor allem in Florenz hatte das Laienurteil eine lange Tradition (vgl. Schröder 2003 und Frangenberg 1986). 317  Cardi 1628/2010, fol. 4r, S. 109. 313 

221 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

die Sträucher entleibte Seelen sind, die klagen und bluten, wenn man einen Zweig bricht: „So wie aus einem grünen Zweig beim Brennen / Des einen Endes der am andern seufzet / Und zischelt von dem ausgeströmten Dampfe, / So kam zu gleicher Zeit aus diesem Splitter Blut …“318 Der „Gebrochene“ erweist sich hier als der durch Neid und Intrigen gestürzte Kanzler Friedrichs II., der seiner Schmach vergeblich durch den Freitod zu entfliehen suchte.319 Cigolis Pessimismus war berechtigt, denn schon wenig später hatte er Probleme mit Gualterotti, der mit einigen bei ihm in Auftrag gegebenen Landschaften unzufrieden war und ihn deshalb beim Großherzog anschwärzte. In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung schreibt Cigoli an Galilei, er habe „Florenz verlassen um dem Neid und der üblen Nachrede Raum zu geben“.320 Abermals aber setzt er auf Enthüllung: „Ich will mir die Maske abziehen und die Sache aufklären.“321 Offenbar aber war er damit wenig erfolgreich, denn noch Monate später schimpft Cigoli, Gualterotti gebe am Morgen als wahr aus, was er nachts geträumt habe (la notte le sognia e la mattina le dà fuora per vere).322 Gleichzeitig sah sich Cigoli auch in der Cappella Paolina harscher Kritik ausgesetzt. Seine Briefe sind voller Klagen über spitze Bemerkungen seiner Kollegen, die (wohl aufgrund der von Cigoli selbst mehrfach erwähnten langen Trockenzeiten) seine Befähigung zum Malen a fresco in Zweifel zogen. Als echter Freund verteidigt Galilei sein Werk; Cigoli dankt für die Rückendeckung und gibt sich tapfer: Er habe sich entschlossen, „ihr Gebell“ (loro abbaiate) zu ignorieren, sein Bestes zu geben und auf Gottes Hilfe zu vertrauen.323 Der Vergleich missgünstiger Neider mit bellenden Hunden hatte in Florenz Tradition.324 Schon in seinem Brief vom 23.8.1611 hatte Cigoli Galilei die Veröffentlichung seiner Theorien als Mittel gegen das „Beißen“ (mordere) seiner Kritiker empfohlen.325 Und auch Luca Valerio riet Galilei wenig später, die Leute „bellen“ (abaiare) zu lassen.326 In seinem Brief an Cosimo II. vergleicht sich Galilei, wie bereits erwähnt, mit Ariosts 318  Dante 2007, Inf. XIII. 40–44, S. 51: „Come d’un stizzo verde ch’arso sia / da l’un de’ capi, che da l’altro geme /e cigola per vento che va via,/ sì de la scheggia rotta usciva insieme /parole e sangue …“ 319  Ebd., S. 64–72. 320  Cigoli an Galilei am 23.9.1611, Carteggio 2009, Nr.  21, S. 71: „… io mi sono partito di Firenze per dar luogho alla invidia et ai mali dicenti …“ 321  Ebd.: „… perché io mi vo’ cavar la maschera e chiarirlo, poi che me ne à fatte tante, che io ò lo stomaco carico, e perciò è necessario una buona medicina da purgarci.“ 322  Cigoli an Galilei am 13.4.1612, ebd., Nr. 29, S. 85. 323  Ebd., S. 84–85: „Del buono ufizio fatto per me, la ringrazio; et se bene nel dipigniere a frescho io ò bisognio di difesa, mi basta qua che la duri il non aver questo bisognio, tanto che io acomodi un poco la necessità“ und am 8.6.1612, ebd., Nr. 33, S. 91. 324  Vgl. Wazbinski 1977, S. 14–17. 325  Cigoli an Galilei am 23.8.1611, ebd., Nr. 19, S. 67: „… fatela publicha, et non solo colle semplice pratiche, ma principalmente con le buone teorice, acciò poi non vi possino mordere chome fanno.“ 326  Cigoli an Galilei am 11.11.1611, ebd., Nr. 23, S. 74: „Però il Sig.r Luca grida che li lasciate abaiare, et attendete a tirare a’ fini di quelle cose che li avete detto …“ bezieht sich auf den Traktat De

222 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Orlando, der nur überlebt habe, weil er sich verhalten habe wie ein „Bär gegenüber kleinen Hunden, die ihn mit eitlem und lärmendem Gekläff betäuben“.327 Seinem Biographen Giovan Battista Cardi zufolge machte Cigoli seinem Ärger über die Anfeindungen seiner Kollegen in einer Zeichnung des Triumphs der Tugend über den Neid Luft (Abb. 92).328 Sie zeigt einen weiblichen Akt, der sich aus harten Dornen erhebt und an den Armen wie Daphne in Lorbeer verwandelt, ohne sich um die aus einer Höhle fauchende Invidia zu kümmern. Eine handschriftliche Notiz auf einer Vorzeichnung nennt jedoch „den Fall“ des Adressaten (il caso di V.S.) als Anlass zur Darstellung der Tugend, die wie der Lorbeer Jupiters Blitz nicht fürchte und den Anfeindungen des Neides widerstehe.329 In Übereinstimmung mit Ripas Be­schreibung figuriert Cigoli Invidia als ausgemergelte alte Frau mit Schlangenhaupt, die von einer Schlange in die Brust gebissen wird und ihr eigenes Herz verschlingt.330 Ihre dunkle, deformierte Gestalt kontrastiert mit dem hellen Idealkörper der Virtù, deren Strahlen Invidia mit ihrem missgünstigen Rauch nicht zu vernebeln vermag. Chappell hielt Galilei für den Adressaten der Allegorie, die Cigoli mit Blick auf die Anfeindungen nach dem Erscheinen des Sidereus Nuncius im März 1610 entworfen haben soll.331 So plausibel diese Deutung (auch vor dem Hintergrund der Invidia-Maske auf Cigolis Galilei-Porträt) ist, spricht doch ein 2002 von Vladimir Juren publizierter motu, der – bereits 1590 begonnen – unvollendet geblieben war, weil Galilei an seinen eigenen Begriffen zweifelte. Vgl. Valerio an Galilei am 23.10.1610, ebd., Nr. 9, S. 52. 327  Galilei an Cosimo II., Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 51: „… e ben l’avriano fatto se egli, impe­ netrabile, ben che nudo, alle lor saette, non avesse fatto loro quello che suol fare l’orso de i piccioli cagniuoli, che con vani e strepitosi latrati importunamente l’assordano.“ 328  GDSU 1018 F. Cardi 1628/2010, fol. 4v, S. 111: „… il che essendoli referto senza restarne alterato disse,/ che l’inganno non havea fondam[en]to e perciò in breve resterebbe distrutto, e che havendo quelli disegnata la sua Storia, / egli voleva disegnar la loro, et in q[ues]to proposito un giorno messosi a disegnare finse che una Giovane ignuda di bello / aspetto, quasi che prodotta da sterpi havesse i piedi fra pruni e spine, e che dal lato destro uscendo d’una caverna / una sozza e brutta Vecchia con orrida faccia, col capo di serpi in cambio di capelli cinto, con occhio torvo rivolta/ alla giovane dalla sua immonda bocca verso di lei spirasse avvelenati vapori, e nella man’ destra tenendo info/cate saette al volto di essa rabbiosam[en]te l’avventasse, le quali punto nocendo alla giovane, illesa rimaneva col / capo coronato, e con le braccia elevate all’Aria convertite in rami di fresco e verde Alloro.“ Tomasi erwähnt zusätzlich ein verlorenes Gemälde der „Virtù insidiata dalla Maldicenza“, in: Carteggio 2009, S. 18. 329  GDSU 8953 F: „Il caso di V.S. m[i] [h]a fatto sovenire questo concetto, se il lavoro non teme del fulmine spinto da giove che farà mai in mano del invidia parendomi che la Virtù abbia principio dalla fatica, … figurando questa femmina per lei la fo uscirse per la fatica fra sassi e serpi et finischino nel onore come per la corona et le braccia convertite in lauro si vede me pare si potessi ritrovare dove l’invidia perfinanco la vuole fulminare dove ella non temendo di quello in mano a Giove tanto meno devo temere in mano alla invidia.“ 330  Ripa beschreibt Invidia mit Verweis auf Alciati, Sannazzaro, Petrarca, Ovid, Horaz und Plinius als nacktes altes Weib mit vertrockneten Brüsten und Schlangenhaupt (vgl. Ripa 1603, S. 241–243). 331  Vgl. Chappell 1975a.

223 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

Brief dafür, dass Cigoli die Zeichnung nicht für Galilei, sondern für den Dichter Giambattista Marino anfertigte, der kurz zuvor aufgrund übler Nachrede zum dritten Mal in­haf­­ tiert, schlussendlich aber rehabilitiert worden war.332 Nicht allein Marinos Gesetzesverstöße, sondern auch sein Stil waren zum Gegenstand heftiger Kritik geworden. Mit der Lupe entdeckte Juren im Hintergrund der Zeichnung eine Skizze des Parnass mit Pegasus und eine kleine Figur mit der Bezeichnung „po­ vero Marino“. Auch wenn die Formulierung merkwürdig ironisch klingt und keine Belege für eine persönliche Bekanntschaft von Cigoli und Marino existieren, spricht doch unter anderem die Tatsache, dass in Cigolis Brief von zwei Zeichnungen die Rede ist, für den Dichter als Empfänger der Allegorie: Marino hatte zahlreiche Künstler zur Beteiligung an seinem imaginären Mu­seum aufgerufen, in 92. Cigoli, Triumph der Tugend über den dem er später Cigolis Endy­mion und eine verNeid, braune Tusche auf Papier, 27,2 × 17,1 cm, lorene (oder erfundene) Leda be­sang.333 Die Florenz, GDSU 1018 F. Tatsache, dass der weiblichen Allegorie in Cigolis Zeichnung die in dem Brief beschriebenen Attribute fehlen, die sie eindeutig als Personifikation der Poesie gekennzeichnet hätten (eine Lyra, Geistesflügel und das Strahlen des furor poetico), lässt allerdings die Möglichkeit zu, dass Cigoli das concetto zunächst für Galilei entwarf und dann auf Marino anpasste.334 Die Kombination von Höhle und nackter, antikisierter Frauengestalt erinnert an die bekannte Allegorie der von Chronos aus dem Abgrund gezogenen Wahrheit mit dem Motto veritas filia temporis (vgl. Abb. 1). Wie die Wahrheit wächst die Tugend aus den Dornen und wird sich unweigerlich gegenüber ihren Widersachern durchsetzen. Eigentlich war die Wahrheit nach Thomas von Aquin keine Tugend, sondern deren Ziel, aber auch Cardi nennt Wahrheit und Tugend in einem Atemzug (ha finalm:te troppa forza il vero e la virtù).335 Dass auch die Veritas explizit als Gegenfigur zu Neid und Missgunst 332 

Juren 2002. Chappell lehnt Jurens These ab (vgl. Chappell 2009, S. 138–139). Zum Endymion vgl. Kap. V.1. 334  Eine vermittelnde Position nimmt auch Bredekamp ein (2007, S. 321–322). 335  Cardi 1628/2010, fol. 4v, S. 111; vgl. Thomas von Aquin, Summa II-II, qu. 109, art. 1; 1943, Bd. XX, S. 122: „… non est virtus intellectualis: sed finis earum.“ 333 

224 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

93. Cornelis Cort nach Federico Zuccari, Lamento della Pittura, 1579, Kupferstich, 34,4 × 54,3 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. 9-1982.

fungieren konnte, zeigt Berninis Statue der nackten Wahrheit von 1646–1652, mit der er auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe hinsichtlich der Statik nach dem Bau des Glockenturms von St. Peter reagierte, und die er seinem ältesten Sohn „als ewige Warnung“ vermachte.336 Auch wenn sich die Frage nach dem Adressaten von Cigolis Zeichnung nicht endgültig klären lässt, spricht schon die Vielzahl der möglichen Kandidaten für sich: Der Neid ist der ständige Gegenspieler der Wahrheit. Cigolis Erlebnisse waren alles andere als ein Einzelfall, und auch sein kreativer Umgang mit der Kritik hatte berühmte Vorläufer. Neben Botticellis Verleumdung des Apelles und Daniele da Volterras polemischen Reliefs in der Orsinikapelle der Trinità-dei-Monti waren Cigoli sicher auch die Skandalgeschich-

336 

Vgl. Marchi 2005, S. 127–132.

225 4. „Tanta vis est veritatis“? Neid, Verleumdung und Ignoranz

94.  Federico Zuccari, Porta Virtutis, 1581, Oxford, Christ Church College, Inv. JBS 544.

ten um Federico Zuccari bekannt.337 Vor der Einweihung seiner kontrovers diskutierten Domkuppel im März 1579 hatte Zuccari ein als Lamento della Pittura bekanntes Blatt publiziert, in dem er sich selbst bei der Darstellung der klagenden Malerei zeigt, die sich strahlend über der zusammengekauerten Invidia erhebt (Abb. 93).338 Beim Malen wird der Künstler von zwei Hunden angegriffen, die er jedoch stolz ignoriert. Wiederum mit Hunden rächt sich Allori, der Zuccari nicht nur den Zuschlag für die Fertigstellung der

337 

Zu Daniele da Volterras Reliefs vgl. Graul 2009, zum Künstlerneid allgemein ihre noch unpublizierte Dissertation. Zu Zuccari vgl. Lapini 1596/1900, S. 201. Auch bei der Rezeption von Tizians Assunta steht laut Dolce die Invidia der Wahrheit im Wege: Erst nachdem sich der Neid gelegt und die Wahrheit allen nach und nach die Augen geöffnet habe, habe man begonnen, Tizians Kunst zu bewundern (vgl. Dolce 1557/1970, S. 99). 338  Vgl. Heikamp 1957b, S. 182–184. Cristina Acidini hat den Bildtitel als „Il pittore della vera Intelligenza“ korrigiert (vgl. Acidini 2010, S. 36).

226 IV. Verità della scienza: Sehen und Rechnen

Domkuppel neidete, sondern auch mehrfach von diesem kritisiert worden war.339 In einem Fresko in der Medicivilla von Poggio a Caiano (1579–1584) zeigt er zwei kläffende Köter, von denen einer einen Hemdfetzen mit seiner Signatur, der andere eine Karte mit der Inschrift „Si latrabitis latrabo“: „Wenn Ihr bellt, belle ich auch“ im Maul hält. Noch bekannter als der Lamento wurde Zuccaris Porta Virtutis, eine Allegorie des Triumphs des tugendhaften Künstlers über seine Kritiker, die 1581 sogar zu seiner Verbannung aus dem Kirchenstaat führte (Abb. 94). Anlass war die von Zuccaris Bologneser Kollegen inszenierte Kampagne gegen sein Gemälde der Vision Gregors des Großen bei der Pestprozession im Jahr 590 für die Familienkapelle Gregors XIII. in S. Maria del Baraccano in Bologna, das in der Mitte des Triumphbogens zu erkennen ist. Beim Eintreffen des Bildes hatten einheimische Maler eine Liste mit angeblichen „Fehlern“ verfasst, aufgrund derer das Gemälde zurückgewiesen und der Auftrag an den Bologneser Maler Cesare Aretusi weitergegeben wurde. Die wenig überzeugende Liste und die Tatsache, dass der Auftraggeber sich nicht auf Zuccaris Korrekturvorschläge einließ, sprechen dafür, dass theologische und künstlerische Argumente in diesem Fall nur als Vorwände einer kunstpolitischen Intrige dienten. Zuccari reagierte mit einer scharfen Bildpolemik, die er am Lukastag, dem 18.10.1581, über dem Portal von S. Luca in Rom präsentierte.340 Die Zeichnung zeigt die Wege zur Tugend und die Personifikationen ihrer Gegner Neid, Verleumdung und Unwissenheit, die von Minerva überwunden werden.341 Durch die Fürsprache des Herzogs von Urbino erhielt Zuccari noch während seiner Verbannung die Erlaubnis zur Dekoration der Capella della Rovere in Loreto; weniger als zwei Jahre später wurde er begnadigt.342 Tristan Weddigen hat gezeigt, inwiefern der Prozess Zuccari zum Raffaelismus führte, der seinen deutlichsten Ausdruck in den Fresken der vatikanischen Paolina und der antimichelangelesken, „posttridentinischen Moralästhetik“ der Statuten der Accademia di San Luca finde, die fortan definierte, was in Rom als ‚wahre Kunst‘ zu gelten hatte.343

339  Vgl. Wazbinski 1977, S. 9–10. Zur Kuppel vgl. Paatz 1952, Bd. III, S. 516–518; Heikamp 1957b und 1967. 340  Vgl. Baglione 1642/1744, S. 405. Cigoli wird die Geschichte von Passignano gehört haben, der Zuccaris Entwurf umgesetzt haben soll (vgl. Heikamp 1958, S. 48–49; Zapperi 1991 und Acidini 2010, S. 38–43). 341  Patrizia Cavazzini hat erkannt, dass es sich bei dem in Zuccaris Ekphrasis verschwiegenen Bildfeld über dem Kopf der Minerva um das zurückgewiesene Gemälde für S. Maria del Baraccano handelt, gerahmt von den Allegorien Disegno, Invenzione, Colore und Decoro, den vier Aspekten, unter denen das Bild kritisiert worden war (vgl. Cavazzini 1989, S. 169–177). 342  Weddigen 2000, S. 261. 343  Ebd., S. 262.

V. De’ v er i pr ecetti della pittur a : Kunst und Wahr heit

1. V er a effigies und „da l v ero“: Wa nn ist ein Bild wahr? Die „Wahrheit der Kunst“ ist ein moderner Topos; „wahre Kunst“ und „wahre Bilder“ hingegen sind auch im Diskurs um 1600 omnipräsent. Als „wahr“ wurden Bilder bezeichnet, die – wie in den vorangegangen Kapiteln erläutert – der veritas historica und den religiösen Dogmen entsprachen, aber auch solche, die eine enge Beziehung zur sichtbaren Realität unterhielten, vor allem aber Bilder, die nicht von Menschenhand geschaffen waren.1 An erster Stelle dieser verae effigies standen indexikalische Bilder wie das Schweißtuch der Veronika oder die Sacra Sindone, an zweiter die von Engeln oder Lukas gemalten Ikonen.2 Danach kamen solche Bilder, die direkt (qua Berührung oder Ähnlichkeitsbeziehung) mit einem solchen Vorbild in Verbindung standen, schließlich solche, die dal vero, also nach der Natur gemalt waren. „Wahr“ und „wirklich“ wurde häufig synonym verwendet; die Trauben des Zeuxis beispielsweise waren laut Gilio so exakt „nach der Natur“ (dal naturale) gemalt, dass sie „den wahren/echten ähnelten“ (rassimigliassero ai veri).3 1 

Gerhard Wolf analysiert perspektivische, deskriptive und vermeintlich echte Gottesbilder als die drei grundlegenden „Konzepte von Bildern mit Wahrheitsanspruch“ im Cinquecento (vgl. Wolf 1997, S. 39). Stellvertretend für die umfangreiche neuere Literatur zum Thema vgl. die grundlegende Darstellung von Klaus Niehr 2004. 2  Zur Bewegung, welche die Präsentation der vera icon im Jahr 1581 auslöste, vgl. Montaigne am 25.3.1581; 1992, S. 122. Zu dem nach Erscheinen von Alfonso Paleottis Traktat 1598 verstärkt verehrten Grabtuch vgl. Wimböck 2006, S. 141. Im Falle des sindone blieb die ‚Wahrheit‘ des Abdrucks nicht unhinterfragt: Paleotti bat Aldrovandi um eine Stellungnahme zum Problem, wie das Tuch das Gesicht Christi zeigen könne, obwohl es Johannes zufolge durch ein zusätzliches Tuch bedeckt gewesen sei (vgl. ebd., S. 157). Allgemein zu den Lukasbildern vgl. Wolf 1990, S. 141–145. 3  Gilio 1564/1961, S. 10: „Qual pittore mai potrebbe ricarvarli tanto del naturale, che rassimigliassero ai veri?“ Zu dem Topos vgl. Körner/Peres 1990.

228 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

In der Cappella Paolina sind komplexe Vorbild-Abbild-Relationen im Spiel: Zentrum der Kapelle ist die von Lukas dal naturale gemalte Regina Coeli, deren Kopie Federico Borromeo als zuverlässiges Vorbild für Marienbilder in seine Mailänder Sammlung aufnahm (vgl. Abb. 79).4 Cigoli tritt mit dieser vera effigies nicht in Konkurrenz. Er orientiert sich für seine Immacolata nicht an der Ikone, sondern setzt ein Kunst-Bild darüber, das anderen Maßstäben der Wahrheit bzw. Richtigkeit – den Regeln des disegno, der Anatomie, des Schattenwurfs und der Perspektive – entspricht (vgl. Abb. 77). Wie die Madonna ist der Mond zu ihren Füßen dal vero, nach dem (instrumentell und über Galileis Zeichnungen vermittelten) Original gemalt. Und auch die Apostel sind angeblich dal naturale gestaltet, wobei hier freilich nicht die Jünger selbst, sondern anonyme Greise Modell gestanden haben sollen, die Cigoli wiederum durch die Brille der Gemälde Annibale Carraccis betrachtete (vgl. Abb. 78).5 Diese Gleichzeitigkeit von Kult-, Kunst- und technischen Bildern, aber auch vielfältige Verschiebungen zwischen den Bildtypen kennzeichnen die Zeit um 1600. Hans Beltings einflussreiche Studie zur Ablösung des magischen durch das künstlerische Bild in der Renaissance wurde inzwischen einer Revision unterworfen.6 Einzelstudien konnten zeigen, dass das Kultbild auch in der Neuzeit seine Bedeutung nicht verlor und umgekehrt auch Kunstbilder zu Kultbildern werden konnten.7 Obgleich die Kirche danach strebte, den populären Bildkult einzudämmen, ging es ihr keineswegs darum, ihn gänzlich abzuschaffen. Ihre Strategie bestand vielmehr darin, die einzelnen Legenden über wundertätige oder auf wunderbare Weise entstandene Bilder sorgfältig zu prüfen und ihre Verehrung in regulierte Bahnen zu lenken. Für Belting zeigt insbesondere Rubens’ Neuinszenierung der Madonna della Vallicella in der Chiesa Nuova von 1608, inwiefern Kultbilder nun auf die Re-Auratisierung durch künstlerische Verfahren angewiesen waren

4  Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 166 und Jones 1993, S. 170. 1593 hatte Cigoli mit zehn anderen Malern an einem Wettbewerb für eine Darstellung von Lukas als Marienmaler für den Hauptaltar von S. Luca al Castello, der Kirche der Accademia, teilgenommen. Cigoli wird zweitplatziert, den Auftrag erhält Ligozzi (vgl. Matteoli 1973, S. 218). 5  Da die Apostel nicht die Gesichter bekannter Persönlichkeiten tragen, verstößt Cigoli nicht gegen das Verbot, Heiligen die Züge eines anderen zu geben (vgl. Borromeo 1577/1962, S. 42–43). Die sechs Porträts bärtiger Männer sollen in den Besitz Kardinal Serras gelangt sein und werden heute mit einigen in der Galleria Corsini befindlichen Bildnissen identifiziert. Faranda zweifelt zu Recht an der Zuschreibung aller Bilder des stilistisch disparaten Ensembles an Cigoli (Faranda 1986, Nr. 83c, S. 170). 6  Vgl. Belting 1990; Holmes 2013, S. 13; Ganz/Henkel/Lentes 2004 und den instruktiven Beitrag von Ganz und Henkel 2007, die in der Verstärkung des Rahmenwerks ein Anzeichen zunehmender „Verkirchlichung“ erkennen (ebd., S. 279). 7  Vgl. z. B. ein aus einer fürstlichen Sammlung in den sakralen Raum überführtes Cranachbild, das fortan wundertätig wurde (Henkel 2004, S. 223–229). Trexler zeigt das Fortleben von Bildkulten in Florenz am Beispiel der Madonna von Impruneta (vgl. Trexler 1972). Zu Kopien nach Gnadenbildern vgl. Wimböck 2006, S. 89–95.

229 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

95.  Madonna della Vallicella, Fresko, 132 × 83 cm, Rom, S. Maria in Vallicella.

(Abb. 95–96): Die Ikone wurde nicht nur neu gerahmt, sondern alltags auch von einem modernen Bildnis überdeckt.8 Mit der Entfernung von Raffaels Madonna di Foligno aus der römischen Kirche S. Maria in Aracoeli im Jahr 1565 präsentiert Ferino Pagden jedoch einen genau umgekehrten Fall, nämlich die Substitution eines Kunstbildes durch ein Kultbild, die sogenannte Madonna d’Aracoeli.9 Außerdem bezogen auch die modernen Gemälde ihre Legitimität 8  Vgl. Belting 1990, S. 541–545. Ilse von zur Mühlen hat die Frage nach den Gründen für die Ablehnung der ersten, noch unter Baronio in Auftrag gegebenen Fassung neu aufgeworfen und dabei die in zentralen Punkten von den tridentinischen Grundsätzen abweichende ästhetische Position Baronios herausgearbeitet: Während der Realitätsgrad der Ikone in der ersten Fassung ambivalent blieb und auch als Vision Gregors gedeutet werden konnte, wurde das Marienbild in der zweiten Fassung – im Widerspruch zum Bilderdekret – zum Objekt der Anbetung (vgl. von zur Mühlen 1995 und Stoichi{â 1999, S. 103–115). Zu Baronios, Paleotti nahestehender Kunstauffassung vgl. auch Toscano 1985 und Kraut­ heimer 1967. Zur Vorgeschichte gerahmter Ikonen vgl. Warnke 1968 und Weißenberger 2007. Ein Florentiner Beispiel ist Santi di Titos Rahmung der Madonna del Soccorso in Prato (vgl. dazu Hall 2011, S. 207–211). 9  Vgl. Ferino Pagden 1990, S. 175–176 und Ganz/Henkel/Lentes 2004, S. 16–17.

230 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

96.  Peter Paul Rubens, Neuinsze­nie­ rung der Madonna della Vallicella, Alltagsansicht, 1608, Öl auf Schiefer, 425 × 250 cm, Rom, Chiesa Nuova.

aus ihrer Nähe zur vera effigies: Zwar wurde immer wieder daran erinnert, dass nicht die Bilder selbst, sondern die darin dargestellten Heiligen die wahren Akteure seien und die Verehrung nicht dem Bild, sondern dem Prototyp zu gelten habe, doch erstens häuften sich weiterhin die Berichte über Bildwunder, und zweitens schienen die Heiligen trotzdem in manchen Bildern besser erreichbar zu sein als in anderen.10 Die auf der Baustelle der Cappella Paolina beschäftigten Arbeiter beispielsweise schrieben der Regina Coeli die Vermeidung eines Unfalls zu.11 Außerdem war das gesamte, der Bestrafung paganer Ikonoklasten und dem Triumph der Ikonophilen gewidmete Bildprogramm der Kapelle ein 10  Vgl. Paleottis Kriterienkatalog für „imagini sacre“ (Paleotti 1582/1961, S. 197–198). Baronio begründet die Verehrung der Bilder mit deren besonderer „Verbindung“ zum Dargestellten (vgl. von zur Mühlen 1995, S. 33). Zur Wundertätigkeit von Marienbildern vgl. Astolfi 1624 und später Gumppenberg 1673. 11  Vgl. Wolf 1991/1992, S. 332 und Cousiné 2000, S. 60.

231 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

Manifest für die Wirksamkeit und Legitimität der Verehrung von Bildern, insbesondere Marias.12 Die Madonna wirkte jedoch nicht nur durch alte, sondern auch durch moderne Gemälde wie beispielsweise Guido Renis Assunta in Castelfranco Emilia aus dem Jahr 1627, durch das am Tag seiner Aufstellung ein (wenn auch bescheidenes) Wunder gewirkt worden sein soll: Die vor dem Bild aufgestellten Kerzen brannten, ohne sich zu verzehren, was der ortsansässige Apotheker durch genaues Wiegen bestätigen konnte.13 Die Begründung für das Gnadenzeichen wurde in der besonderen Frömmigkeit Renis gesucht, der seinen Biographen zufolge ein großer Verehrer der Gottesmutter war und nicht nur eine Marienerscheinung, sondern auch eine Bildheilung erlebt haben soll.14 Auch Cigoli schrieb die Heilung seiner schweren, angeblich durch seine Leichensektionen verursachten Krankheit der Fürbitte Marias zu. Sein erstes Bild nach seiner Genesung soll eine Madonna dello Spasimo gewesen sein, die laut Baldinucci in der Nähe des Castello di Cigoli ausgestellt und mit vielen Votivgaben bedacht wurde.15 In San Miniato befand sich außerdem ein Votivbild, mit dem sich Cigolis gehbehinderter Neffe, sein späterer Biograph Giovan Battista Cardi, bei der lokalen, kultisch verehrten Rosenkranzmadonna für eine empfangene Gnade bedankte: „Giovan Batista Cardi nato zoppo di anni 4 dala SS. Vergine del Rosario di Cigoli ricevè la grazia. 1612.“(Abb. 97)16 Die schlichte Tafel zeigt ein vor dem Marienbild kniendes Kind mit seiner Mutter, die liebevoll den Arm um ihren genesenen Sohn legt und mit der Hand auf seine Wohltäterin weist. Während Dilvo Lotti und Anna Matteoli das Bild für ein Werk Cigolis halten, weist Faranda die Hypothese mit

12 

Baglione zeigt den Tod des bilderfeindlichen Kaisers Leon von Armenien, Reni den Sieg des Herakleios und die Wunderheilung des Johannes von Damaskus, Giuseppe Cesari die Marienvision Gregors des Großen. Zur göttlichen Rache an den byzantischen Ikonklasten vgl. auch Molanus 1594, I.5. 13  Vgl. Wimböck 2006, S. 227–228. 14  Malvasia will sich für die Wahrheit dieser Berichte zwar nicht verbürgen, die Anmut von Renis Madonnen scheint ihm jedoch dafür zu sprechen (vgl. Malvasia 1678/1841, Bd. II, S. 53). Zu Reni als pictor christianus vgl. Wimböck 2006, S. 18–20. 15  Zu Cigolis Krankheit vgl. Kap. V.3. Da in Castello di Cigoli bereits seit dem Mittelalter eine Madonna dello Spasimo verehrt wurde, könnte eine Verwechslung vorliegen; möglicherweise betete Cigoli während seiner Krankheit vor diesem Bild. Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 86–87: „… ed avendo per avventura riconosciuto il dono della nuova sanità dall’intercessione della Gran Madre di Dio, volle che a suo onore fusse esposta al pubblico la prima pittura, che dopo il male avessero partorita i suoi pennelli, che fu un’ Immagine della medesima con altre figure, stata chiamata poi la Madonna dello Spasimo, ed altrimenti anche la Madonnina, alla quale fu dato luogo presso al Castello di Cigoli, che in segno di ricevute grazie, essendo stata in tempo adornata di gran quantità di voti, diede occasione a’ Nipoti di Ludovico di fabbricarle una devota Cappella, per entro la quale viene tuttavia da quei del paese adorata.“ 16  Ursprünglich in der Kirche SS. Michele Arcangelo, Giovanni Battista e Saturnino (vgl. Faranda 1986, S. 180, Nr. 111). Anna Matteoli konnte das Wunder auf das Jahr 1592 datieren (vgl. Matteoli 1980, S. 350–351).

232 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

97. Cigoli (?), Votivbild Giovan Battista Cardis, 1593/1612, Öl auf Holz, 34 × 25,5 cm, San Miniato, Museo Diocesano.

Hinweis auf die schlechte Qualität der Tafel zurück.17 Auch wenn Cigoli hier bewusst einen archaischen Stil gewählt haben könnte, scheint besonders das Gesicht der Mutter tatsächlich auf eine andere Hand zu deuten. Auch durch Kunstbilder konnten mithin Wunder gewirkt werden. Zugleich aber wurden nun auch stilistische Begründungen für den göttlichen Ursprung von Bildern gegeben. Um die Wahrheit der Legenden zu belegen, denen zufolge das Gesicht Marias im Verkündigungsbild von SS. Annunziata von einem Engel gemalt worden sei, beruft sich Bocchi auf das Zeugnis Michelangelos, demzufolge das Bildnis nicht das Werk eines menschlichen Pinsels, sondern „wahrhaft etwas Göttliches“ (cosa divina veramente) sei. Bocchi selbst historisiert das Argument, indem er schreibt, dass kein mittelalterlicher Maler dieses Werk hätte vollbringen können; außerdem gleiche die dargestellte Kammer der erst nach der Fertigstellung des Bildes aus Jerusalem überführten Casa di Loreto.18 17 

Vgl. Dilvo Lotti, in: Bellosi/Lotti/Matteoli 1969, S. 98; Matteoli 1980, S. 350–351 und Faranda 1986, S. 180. 18  Bocchi 1592, S. 50. Vgl. Schröder 2003, S. 275–292 und Holmes 2013, S. 259–266. Zur Casa di Loreto vgl. Nagel/Wood 2010, S. 195–215.

233 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

98. Crocino und Cigoli, Kopie eines Porträts von S. Francesco di Paola, 1585, Öl auf Leinwand, 220 × 145 cm, Florenz, S. Giuseppe.

Abgesehen von diesen stilistischen und historischen Argumenten gilt auch hier das Kriterium des „consensus omnium“: Schon die Tatsache, dass das Bild alle Betrachter gleichermaßen affiziere und zu „einer Stimme“ (una voce) vereine, scheint Bocchi von dessen göttlichem Ursprung zu zeugen.19 Zusätzliche Bestätigung erhielt die Heiligkeit des Bildes jedoch vor allem durch fortwährende „Gnadenbeweise“, die es zu einem beliebten Pilgerziel und vielkopierten Vorbild werden ließen.20 Auch Cigoli gehört – neben Allori, 19 

Bocchi 1592, S. 44 und 85. Vgl. auch Alberti/Barocchi 1585/1962, S. 231–232 und dazu Wazbinski 1985 und Holmes 2004. 20  U. a. für Maria de’ Medici, Ferdinando Gonzaga, die Prinzessin von Bayern und Claudio Acquaviva (vgl. Lottini 1618 und dazu Wazbinski 1987b, S. 629–631 sowie Matthews-Grieco 2009).

234 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Gamberucci, Dolci und Dandini – zur großen Zahl der Florentiner Künstler, die eine Kopie des von Allori im Auftrag der Medici restaurierten Bildes anfertigten.21 Allori besaß zu diesem Zweck einen vom Original abgenommenen Karton, der die Relation zu dem Kultbild garantierte, auch wenn Gesichter oder Kleidung der Figuren dem modernen Geschmack angepasst wurden. Die Ähnlichkeitsbeziehung ergab sich primär aus der Komposition, weniger aus den Details und noch weniger aus dem Stil.22 Exemplarisch zeigt sich die fortdauernde Bedeutung „wahrer Bilder“ in den Umständen der Herstellung der Kopie eines Porträts des Hl. Francesco di Paola, dem Gründer des Minimenordens, die Bianca Cappello 1584 für die von ihr protegierte Chiesa di Maria Santissima del Giglio e San Giuseppe in Florenz in Auftrag gab (Abb. 98).23 Dazu ließ die Großherzogin über den Florentiner Botschafter in Rom, Francesco Gerini, beim Ordensgeneral der Minimen um die Ausleihe des „wahren Bildnisses“ (il vero retratto) des Heiligen bitten.24 Das heute verlorene Bildnis wurde von den Minimen hoch verehrt – laut Gerini aufgrund seiner „Schönheit und Frömmigkeit“ (per la bellezza et devozione sua), laut dem General aufgrund seiner Authentizität (per esser del naturale).25 Unter der Bedingung seiner baldigen Rücksendung wurde das anlässlich von Francescos Kanonisierung nach Rom versandte Gemälde jedoch trotzdem verliehen. Als der von Bianca engagierte Maler, Tommaso di Andrea della Croce (gen. Cro­cino), vor der Fertigstellung 21 

Vgl. Holmes 2014, S. 54 und 269–271; Wazbinski 1987b, S. 630–632; Matteoli 1980, S. 134; zu Dolcis Kopie vgl. Federico Berti, in: Bellesi 2015, Nr. 34. Allori wurde von Francesco I. mit einer Kopie für Federico Borromeo beauftragt (vgl. Lecchini Giovannoni 1991, Abb. 172, Nr. 75). 22  Vgl. Holmes 2013, S. 270. Auch Federico Borromeo erwartete nur eine ikonographische bzw. physiognomische, nicht aber eine stilistische Imitation der Kultbilder (vgl. Jones 1993, S. 170–171). 23  Vgl. Faranda 1986, S. 114, Nr. 3. Anna Matteoli hat die Geschichte des Bildes auf Basis der von ihr recherchierten Archivalien publiziert (vgl. Matteoli 1980, S. 195–197 und Paatz 1941, Bd. II, S. 359–373). Nach dem Hochwasserschaden von 1966 wurde es im Istituto di Restauro Spinelli in Florenz restauriert. Für Auskünfte und die freundliche Bereitstellung der Abbildung danke ich der Restauratorin Martina Previatello. 24  Vgl. Francesco Gerini an Bianca Cappello, am 6.7.1584, ASF Mediceo n. 5937, fol. 30r.: „… io col’nome pur’ dell’Alt:a Vra ancora, hò conseguito dal Generale, et altri padri qui della Religione med:ma il vero retratto di quel’glorioso San Franc:o di Paula, che fu mandato di Francia, quando a tempo di Leone ne fu fatta la canonizatione sua, et lo mando al’A.V. con l’occ.ne di certe fregate del Ser:mo Gran Duca mio sig:re, accioche ella ne possa far cavar il transeto, che mi scriveva il Sec.rio Giovanni, che la desiderava, havend’io promesso a questi padri di restituir loro l’originale del quale tangano grandiss:o conto che mal’ condotto sia per la vecchiezza sua; essendo stata usata da me questa diligenza per havermi mostrato quel padre, che vene qua ultimamente, come a V.Alt.a et a lui sari stato molto caro il detto originale di leone per la bellezza, et devotione sua …“ Vgl. auch den Brief von Stefano di Francia an Bianca Cappello, ASF Mediceo n. 5937, fol. 56r. 25  Ebd. Das Bild wurde bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts in der Sakristei der Trinità dei Monti, anschließend im Vatikanpalast aufbewahrt (vgl. Fiot 1961, S. 119–120). Für die Auskünfte zum Verbleib des Bildes danke ich P. Paolo Raponi.

235 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

der Ko­­pie starb, bewegte der Zeitdruck den für Mediciaufträge zu­ständigen Bernardo Buontalenti, seinen krankheitsbedingt auf dem Familiensitz weilenden Schüler Cigoli nach Florenz zu­ rückzurufen, um das Bild zu vollen­den. Das Original wurde schließlich erst am 11. No­­vember 1585, sieben Tage vor der Weihe und feierlichen Überführung der Kopie, nach Rom zurückgesandt.26 Bei dem Bildnis handelte es sich um eines der verlorenen Porträts Francesco di Paolas, die der Hofmaler Anne de Bretagnes, Jean Bourdichon, nach des­ ­sen Tod 1507 in Plessis-les-Tours gemalt hatte, wo der Heilige seit seinem Ruf an den französischen Hof als Eremit gelebt hatte. Obgleich kein acheiropoieton, war 99. Anonym, S. Francesco di Paola, 16. Jahrhundert, das „dal vero“ gemalte Bild in mehrParis, Saint-Louis-en-l’Île. facher Hinsicht ausgezeichnet.27 Im Ka­­ nonisie­rungsprozess hatte Bourdichon ausgesagt, gleich nach dem Tod des Heiligen eine Maske und ein Porträt angefertigt zu haben.28 Ein zweites Bildnis sei entstanden, als der Leichnam bei der Exhumierung zwei Wochen nach der Bestattung unverwest aufgefunden worden sei.29 Bei diesem Porträt könnte es sich um das Vorbild eines Profil-Bildnisses in Saint-Louis-en-l’Île handeln, das den Heiligen als Toten zeigt (Abb. 99).30 Die Geschichte ähnelt derjenigen der Statue der Hl. Cäcilie in S. Cecilia in Trastevere aus dem Jahr 1600, die Stefano Maderno nach der 26 

Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 1v, S. 100–101 und Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 87. Zu Crocino vgl. Chappell 1982. Am 3.8.1584 bittet der General um die Rückgabe (ASF Mediceo n. 5937, fol. 245r). Lorenzi Venturini wendet sich am 5.11. an Buontalenti (ebd., fol. 558r). Vgl. auch den Brief Gerinis an Bianca vom 1.12. (n. 5935, fol. 190r–v). Von der Weihe und der Prozession zur Überführung des Bildes berichtet auch Agostino Lapini (vgl. Lapini 1900, S. 239). 27  Vgl. König-Nordhoff 1982. 28  Vgl. Acta Sanctorum: Processus Turonensis, S. 159–161. Totenmasken wurden auch von Ignatius von Loyola, Filippo Neri und Carlo Borromeo angefertigt (vgl. Burzer 20911, S. 32–34 und Hecht 2012, S. 97). 29  Vgl. Belting 2001, S. 145. Auch Antoine Dondé berichtet, Bourdichon habe von dem Gesicht des Heiligen nach seinem Tod und erneut nach dem Auffinden der unverwesten Leiche Abdrücke (moule/impression) genommen, „um davon ein wahrhaftigeres Bild zu haben“ (afin d’en avoir un plus véritable trait) (vgl. Fiot 1961, S. 93). 30  Vgl. ebd., S. 71.

236 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Auffindung des unverwesten Leichnams anfertigte und mit der Inschrift „dal vero“ kennzeichnete.31 Bourdichons verlorenes erstes, auf dem Sterbebett entstandenes Bildnis jedoch erweckte den Toten wieder zum Leben und zeigte Francesco als greisen Mönch in einer braunen Kutte mit Pilgerstab – eine Bildformel, die den meisten späteren Darstellungen als Vorlage diente.32 Während diesen Bildern die Abkunft von Bourdichons Urbild zur Legitimation genügt (Michael Lasne beispielsweise beschreibt seinen Stich inschriftlich als vera Effig. S. Fran. A Paula ex Prototypo), möchte ein 1710 entstandenes Gemäldes des spanischen Malers Lucas Valdès sogar glauben machen, ein Engel habe Francescos Porträt gemalt (Abb. 100). Möglicherweise entstand die an die Legende von SS. Annunziata erinnernde Behauptung in Konkurrenz mit den Jesuiten, die 1682 bis 1685 im Korridor zu Ignatius von Loyolas ehemaligen Gemächern in der Casa Professa del Gesù eine ähnliche Entstehung des Porträts ihres Ordensgründers proklamiert hatten.33 Neben dem Brustbild existierte ein weiteres Bourdichon zugeschriebenes Porträt, das Fiot zufolge nur als „Bild im Bild“ überliefert wurde.34 Die Darstellung des in die Betrachtung des Kruzifixes versenkten Heiligen wurde offenbar zum Vorbild für das anonyme Altarbild in der Florentiner Kirche S. Francesco di Paola aus dem Jahr 1602, das inschriftlich als „ritratto naturale“ ausgewiesen ist. Während Madernos Skulptur den Leichnam der Hl. Cäcilie gewissermaßen verdoppelte, erhielten Bourdichons Porträts eine umso größere Bedeutung, als Francescos Leiche 1562 durch die Hugenotten verbrannt worden war.35 In diesem Fall gilt folglich der von Belting zu Unrecht verallgemeinerte Satz wonach „erst die Absenz der Körper […] die Präsenz zustande[bringt], die Bildern eigen ist“.36 Eines von Bourdichons Bildnissen war zudem eine Kontaktreliquie, da es angeblich auf den Brettern gemalt war, auf denen der dem Ar­mutsideal verpflichtete Heilige verstorben war.37 Bildträger und Totenmaske waren beide durch Körperkontakt legitimiert und folglich über die ikonische Ähnlichkeit hinaus auch indexikalisch mit dem Urbild verbun­den. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass die Großherzogin das Urbild folglich nicht nach einem der zahlreichen Stiche kopieren ließ, sondern auf der

31 

Vgl. Kämpf 2004. Vgl. beispielsweise die Aquaforte von Giovanni Ambrogio Brambilla aus dem Jahr 1584 (Casa Generalizia dell’ Ordine dei Minimi). 1609 erscheint das Bildnis in der Heiligenvita von Claude du Vivier aus dem Jahr, 1620 auf den Officia propria Sancti Francisci de Paula, 1621 in der Vita von Bernardo Serponti (vgl. dazu Fiot 1961, S. 68, 77–78 und 81 sowie Amato 2007). 33  Zu Lebzeiten hatte sich Ignatius dem Bescheidenheitstopos entsprechend gegen eine Porträtierung gewehrt. Nach seinem Tod wurden in Mailand dagegen unzählige Bildnisse des Ordensgründers hergestellt (vgl. Burzer 2011, S. 29–30). 34  Vgl. Fiot 1961, S. 81–83. 35  Vor allem bei Heiligenbildern mahnte Paleotti zu einer möglichst ähnlichen Darstellung (vgl. Paleotti 1582/1961, S. 349 und Borromeo 1624/1994, Kap. 8). 36  Belting 2005, S. 134. 37  Vgl. auch Morosini 2000, S. 109. 32 

237 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

Versendung des kostbaren Originals be­­ stand. Offenbar sollte durch den unmittelbaren Kontakt des Malers mit dem Bild nicht nur die Originaltreue gewährleistet, sondern auch eine emphatische Kennzeichnung „dal vero“ gerechtfertigt werden oder gar etwas von der Gnade des Prototyps abstrahlen. Da Bourdichons Porträts nicht er­ hal­ten sind, ist die Frage nach der Übereinstimmung der Kopie mit dem Original kaum zu beantworten. Fraglos unterscheidet sich das von Crocino und Cigoli angefertigte Gemälde jedoch von einem Bild der französischen Renaissance (vgl. Abb. 98). Obwohl die starre Haltung und der Goldnimbus dafür sprechen, dass die Kopisten nicht nur die Ikonographie, sondern auch den archaischen Stil zu imitieren suchten, 100. Michel Lasne, Vera effigies ex prototypo, richteten sie sich nach den modernen An­ Kupferstich, Paris 1645. sprüchen an ein Bild dal vero.38 Statt der flächigen, hellhäutigen Gestalten anderer Porträts Bourdichons zeigen Crocino und Cigoli einen plastischen, in sich gekehrten Heiligen mit Holzsandalen, dessen zur Seite gewandte Augen von der Kapuze verschattet werden. Während die reduzierte Komposition und die Nähe der Figur zur Bildfläche altertümlich wirken, zeugen die atmosphärischen Werte der Hintergrundlandschaft von der Entstehungszeit der Kopie. Der niedrige Horizont trägt zur Heroisierung der bildfüllenden Figur bei, stilisiert sie zum exemplum und animiert den Betrachter zum Niederknien.39 Dies sollte sich auch vor der Kopie lohnen, denn gleich nach der Aufstellung bemühte sich die Großherzogin um eine Indulgenz.40 Noch während man die Wahrheit von Bildern durch ihre Abkunft von verae effigies zu legitimieren suchte, wurden in der Kunstliteratur eigene Richtlinien dafür entwickelt, wann ein Bild als „wahr“ zu gelten habe. Die Reihenfolge der Bewertungskriterien in

38  Diesem Typus folgen u. a. auch Mantegna, Rubens, Alonso Cano, Mattia Preti, Murillo, Luca Giordano, Tiepolo und Goya. 39  Der niedrige Horizont findet sich auch in dem auf das Jahr 1577 datierten Kupferstich, den Domenico Brusasorci als Vorlage für sein Bildnis des Heiligen in Verona nutzte (heute in S. Paolo in Campo Marzo). 40  Vgl. ASF, Mediceo n. 5938, Fra Greg.o da Paola am 8.12., fol. 134r.

238 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Borghinis Il Riposo ist für die Zeit um 1600 typisch: In einem ersten Durchgang werden die Gemälde der Florentiner Kirchen auf ihre Schriftreue untersucht, im zweiten auf die Qualität von Zeichnung, Kolorit, Anatomie und Perspektive. Auch wenn die 1563 auf Initiative Vasaris mit Unterstützung Cosimos I. gegründete Accademia del Disegno noch keine Ausbildungsstätte im heutigen Sinne darstellte und neben der Lehre auch die Funktionen einer Zunft und einer Bruderschaft erfüllte, war sie doch aus dem Gedanken geboren, aus der Kunst einen akademischen Beruf zu machen. Die Akademie bestimmte mithin maßgeblich den Diskurs darüber, was als „wahres Bild“ zu gelten hatte.41 Cigoli wurde 1579 mit einem Gemälde von Kain und Abel in die Akademie aufgenommen und 1581 zum maestro accademico ernannt.42 In den folgenden Jahren übernahm er die üblichen Aufgaben als Gutachter und festaiolo. Gerade der Gestus des gelehrten, in besten Kreisen verkehrenden Akademikers entsprach dem Selbst- und Fremdbild des von seinem Neffen als „huomo di molta erudizione“ bezeichneten Cigoli, der sich in seinem Perspektivtraktat allerdings ausdrücklich als Praktiker präsentierte.43 In Vasaris organizistischem Entwicklungsmodell war die Kunst mit Michelangelo und Raffael zur Reife gelangt.44 Anton Francesco Grazzini, gen. Il Lasca, feiert Michelangelo anlässlich der Beerdigungsfeierlichkeiten als Sieger über „das Wahre und die Natur“ (’ l vero e la natura contraffece / sì ben, che l’una e l’altro vinto pare).45 Um diesen Standard zu halten, mussten die Maler die Regeln der Kunst kennen, die sie durch Naturstudium, vor allem aber durch die Auseinandersetzung mit den Meistern der Spätrenaissance erlernen sollten. Die Fixierung auf Michelangelo allerdings weckte – nicht nur auf Seiten derer, die wie Gilio an dessen onestà zweifelten – zunehmend Kritik. Dolce wehrte sich entschieden gegen Vasaris campanilismo und versuchte, Tizian seinen wohlverdienten Platz unter den großen Meistern zu sichern und die zeitgenössische Malerei vor dem Niedergang zu retten.46 Denselben pessimistischen Ton schlägt 1587 Giovanni Battista Armenini an, der die abgebrochenen Malerkarrieren von Sebastiano del Piombo, Daniele da Volterra und anderen als Indiz dafür ansieht, dass neben Michelangelo, der sich zu seinem Lebensende selbst von der Malerei abgewandt habe, keine neue Generation habe

41  Charles Dempsey hat Pevsners lange verbindliche Einschätzung, nach der die Akademie keine Lehrstätte war, sondern primär der sozialen Distinktion der Künstler diente, relativiert (vgl. Dempsey 1980). Negativere Einschätzungen finden sich noch bei Goldstein 1975, S. 145–152 und Ward 1976. Vgl. dazu auch Heikamp 1957a; Wazbinski 1987a und Barzman 1992. 42  Vgl. Matteoli 1973, S. 217. Das Bild konnte bislang nicht identifiziert werden. 43  Friedländer verzeichnet in der Generation nach Vasari ein Sinken des „hochgespannte[n] Bildungsniveau[s]“, das er als Zeichen der „Gesundung“ der Florentiner Kunst interpretiert (Friedländer 1930, S. 218–219). 44  Vgl. Blum 2010. 45  Grazzini 1882, S. 314. 46  Vgl. Dolce 1557/1960, S. 196.

239 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

heranwachsen können.47 In seinem Traktat De veri precetti della pittura versucht Armenini, den im Vorwort beklagten Verfall der Kunst durch die Aufstellung von Regeln zur Produktion und Bewertung „wahrer Bilder“ (vere pitture) aufzuhalten.48 Sein erklärtes Ziel war es, die weit vom „vero modo“ entfernte zeitgenössische Malerei auf den „wahren Weg“ (il vero sentiero bzw. la vera via) zurückzuführen.49 Dazu galt es, sich nicht allein auf das Urteil des „äußeren Auges“ zu verlassen, das sich leicht von der Schönheit der Farben blenden lasse, sondern auf das „Auge des Intellekts“, das – wenn es in den Regeln des Kolorits, der Perspektive, Proportion und der Verteilung von Licht und Schatten geschult sei – in allen Dingen das Wahre zu erkennen vermöge.50 Mehr als die Accademia del Disegno war die „Akademie“ der Carracci in Bologna eine Werkstatt: Ohne viele Worte, so beschreibt Bellori das Atelier, wurde anhand von Beispielen und Vorführungen unterrichtet.51 Ein wichtiger Impuls zur Erneuerung war die Auseinandersetzung mit den Werken Correggios und Tizians, die Annibale 1580 dafür lobte, dass sie „wahr und nicht bloß wahrscheinlich“, „natürlich, nicht künstlich oder gezwungen“ seien.52 Wahrheit ist gleich Natürlichkeit, und Natürlichkeit verdankt sich dem Naturstudium. Der revolutionäre Charakter der Bologneser Schule wurde bereits von Annibale selbst proklamiert, der das Unverständnis seiner Kritiker mit den Vorbehalten gegen Kolumbus’ Versprechen einer „neuen Welt“ verglich.53 Ihre Entdeckungsreise führte die Carracci zur Wahrheit: Emphatisch lobt Passeri Annibale dafür, seinen Schülern „ein Fenster geöffnet zu haben, durch das er sie die Wahrheit wieder sehen ließ, die bereits untergegangen war“.54 Ein Programm, welches das Naturstudium höher bewertet als das Kopieren, entwirft – wenig überraschend – auch Galilei. In seinem Kommentar zu Giulio Cesare La 47 

Vgl. Armenini 1587/1823, S. 15–18. Ebd., S. 1–2 und 15. 49  Ebd., S. 4: „E nel vero son questi tali dal vero modo gran fatto lontani, che non si accorgono, che tien d’impossibile, che alcuno, senza aver chi li mostri i debiti ordini e documenti, s’incammini egli stesso per retto e lodato sentiero, che lo conduca a termine di lode e di onore.“ Zu vero sentiero / via vera: vgl. auch S. 88, 92, 164, 260; vero lume: S. 54, 66 und 68. 50  Ebd., S. 27: „… non deve seguirsi il giudizio solamente dell’occhio esteriore, il quale può facilmente essere abbagliato dalla vaghezza di quelle varie tinte. E nel vero troppo facil sarebbe, se così fosse, il giudicar l’opere di quest’arte, ma ricorre bisogna all’occhio dell’intelletto i quale, illuminato dalle de­bite regole, conosce il vero in tutte le cose.“ 51  Vgl. Bellori 1672, S. 100 und dazu Boschloo 1974, S. 40. 52  Annibale an Ludovico Carracci am 28.4.1580: „… mi piace questa schiettezza, a me questa purità che è vera, non verisimile, e naturale non artifiziata nè sforzata.“ (Malvasia 1678/1841, S. 269). Vgl. Keazor 2007, S. 146. 53  Malvasia 1678/1841, S. 276: „Anche il Colombo fu creduto scempio quando alla prima promise di volerci scorire un nuovo mondo“ (vgl. dazu Boschloo 1974, S. 39). Ähnlich vergleicht Orazio del Monte auch Galilei mit Kolumbus (vgl. Orazio del Monte an Galilei am 16.6.1610, Opere, Bd. X, S. 372). 54  Passeri 1934, S. 83. 48 

240 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Gallas Kritik am Sidereus Nuncius vergleicht er die wahre Philosophie mit dem Zeichnen dal naturale und das Studium der Philosophiegeschichte mit dem Abzeichnen älterer Werke.55 Denn obgleich Letzteres zu Schulungszwecken ebenso nützlich sei wie das Studium der „wahren und gesicherten“ Erkenntnisse alter Philosophen, führe allein das ausgiebige Naturstudium (mille e mille esperienze) angehende Wissenschaftler oder Maler zur Perfektion, da sich nur durch Erfahrung „die wahren Effekte der Verkürzungen, der Konturen, der Lichtstrahlen, der Schatten, der Spiegelungen und der unendlichen Vielfalt unterschiedlicher Blickwinkel“ erkennen ließen.56 Tatsächlich zeichnete sich nicht nur in Bologna, sondern auch in Florenz seit etwa 1570 ein Umschwung ab. In Ablehnung der Extravaganzen der Vasari-Schule entwickelte vor allem Santi di Tito eine neue, einfachere Formensprache und hielt seine Schüler zum Naturstudium an.57 Zu seinen Schülern und Anhängern gehörten neben Cigoli auch Antonio Tempesta, Gregorio Pagani, Andrea Boscoli und Agostino Ciampelli, die eine eigene Spielart des Florentiner Barock prägten und teilweise nach der Jahrhundertwende auch in Rom Einfluss entwickelten. Während sich die römischen Reformer vor allem an Raffael orientierten, dessen Klarheit und Anmut auch Ligorio als Vorbild promulgierte,58 richtete sich die Aufmerksamkeit der Florentiner auf die Meister des frühen Cinquecento, insbesondere Andrea del Sarto, Correggio und Fra Bartolomeo zurück.59 Fürsprecher einer solchen Malerei war vor allem Francesco Bocchi, der mit seinem Discorso sopra Andrea del Sarto einen Anti-Vasari schrieb, in dem er del Sarto als Vollender der Malerei feierte.60 Seine Figuren im Traum des Pharao beispielsweise lobt Bocchi dafür, dass sie „für wahr und nicht als Kunstwerke“ aufgefasst würden.61 Ebenso seien die Figuren im Chiostrino dei Voti „dem Wahren und der Natur so gleich“, dass man glaube, nicht ein

55  Galilei, In orbe lunae, Opere, Bd. III.1, S. 395: „Tra ’l filosofare e lo studiar filosofia ci è quella differenzia appunto che tra ’l disegnar dal naturale e ’l copiare i disegni …“ 56  Ebd., S. 396: „… così, per eccitar e ’ndirizzar la mente al ben filosofare, è utile il vedere ed osservar le cose già da altri filosofando investigate, ed in particolare le vere e sicure, quali sono principalmente le matematiche. E come quelli che mai non venisse al ritrar dal naturale, ma sempre continuasse in copiar disegni e quadri, non solo non potrebbe divenir perfetto pittore, ma nè anco buon giudice delle pitture, non si essendo assuefatto a distinguere il buono dal cattivo, il bene imitato dal mal rappresentato, col riconoscere ne i naturali stessi per mille e mille esperienze gli effetti veri de gli scorci, de i dintorni, dei lumi, dell’ombre, dei riflessi, e l’infinite mutazioni delle varie vedute …“ 57  Vgl. Spalding 1983 und Damm 2009. 58  Vgl. Schreurs 2000, S. 169. 59  Vgl. Spagnolo 2005, S. 224–225. 60  Vgl. Bocchi 1567/1989, S. 111–139 und dazu Schröder 2003. 61  Bocchi 1567/1989, S. 135: „… par che tutte escano della tavola, per vere et non fatte dall’arte si cognoscono.“

241 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

Bild, sondern „die Sache selbst“ zu betrachten.62 Wahre Kunst ist demnach diejenige, die sich nicht als solche zeigt, sondern der Natur angleicht oder gar mit ihr verschmilzt.63 Zwei wichtige Kriterien zur Bewertung des „Wahrheitsgehalts“ bzw. der „Natürlichkeit“ eines Bildes sind in den zitierten Bemerkungen Bocchis bereits angesprochen: Täuschung und scheinbare Lebendigkeit. Kunst war umso „wahrer“, je mehr sie log. „Je mehr die Malerei täuscht und versteht, ihre Fiktion für wahr auszugeben“, so Federico Zuccari, „als desto erfreulicher und perfekter erweist sie sich“.64 Noch pointierter formuliert es Francisco d’Olanda: „… wenn ein großer Maler […] ein Werk schafft, das falsch und lügnerisch erscheint, ist diese Falschheit sehr wahrhaftig; und würde er dann mehr Wahrheit einsetzen, wäre es eine Lüge.“65 Täuschung (inganno) ist folglich keine Lüge (bugia), sondern die große Kunst der Malerei als „wahrer Nachahmerin der Natur“ (reale, & vera imitatrice della Natura).66 Die paradoxe Verquickung von Wahrheit und Falschheit war nicht neu: „Wie könnte ein Gemälde wahr sein, wenn das Pferd darauf nicht falsch wäre?“, fragt schon Augustinus.67 Mosini feiert Annibale Carracci als neuen Zeuxis, weil er einen Hund mit einer gemalten Treppe zu täuschen verstand, und als neuen Parrhasios, da er einen eitlen Auftraggeber durch sein gemaltes Spiegelbild hinters Licht zu führen verstand.68 Dass Annibales Malerei sich trotzdem nicht mit photorealistischem Vokabular beschreiben lässt, wie Boschloos Bezeichnung als „reporter [of] objective reality“ suggeriert, haben spätestens die Analysen zu den Vorbildern und Sinngehalten des Bohnenessers oder des Fleischerladens gezeigt und Henry Keazors Studien zum „vero modo“ belegt.69 Zudem bezeichnete derselbe Annibale, der angeblich durch perfekte Naturnachahmung Hund und Mensch zu täuschen verstand, Caravaggios Judith als „troppo

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Ebd., S. 208: „In questa è l’imitazione tanto felice, tanto al vero conforme, & alla natura che pare, che il caso si scorga in cosa, che avvanga al presente, & non in pittura si contempli.“ 63  Vgl. ebd., S. 137 und 136: „… allora si tiene ella migliore et più perfetta, quando è simile alla natura et quasi una medesima cosa, che per arte semplicemente mostrarsi.“ 64  Zuccaro/Heikamp 1961, II.24, S. 244: „E questo suo inganno non pur’è artificioso; ma gustoso, e grato; e quanto più inganna, e sa dar’ad intendere la sua fintione per vera, tanto più grata, e perfetta si dimostra; poiche l’inganno suo, e la sua fintione è arte grande, e non è in specie di vitio; ma di virtù: e però non si deve chiamar bugia, come alcuni ignoranti dissero; ma reale, & vera imitatrice della Natura …“ 65  D’Olanda 2003, II.3, S. 134: „… giacché ogni volta che un grande pittore […] fa qualche opera che sembri falsa e bugiarda, quella tale falsità è molto veritiera; es se allora egli impiegasse più verità, sarebbe una menzogna.“ 66  Ebd. Christiane Kruse erkennt in Zuccaris „Medientheorie“ Anzeichen eines Paradigmenwechsels vom Renaissancekonzept der finestra aperta zum barocken Modell der Maske. Imitatio naturae sei nicht mehr Ziel, sondern „Instrument der Kunst zum Zweck der Selbstanzeige“ (Kruse 2005, S. 99). 67  Augustinus, De quantitate Animae; 1965, Bd. II, S. 10: „Aut unde vera pictura esset, si falsus equus non esset?“ Vgl. Kruse 2005, S. 88. 68  Giovanni Atanasio Mosini, in: Agucchi 1646/2007, fol. 17–18, S. 74. 69  Boschloo 1974, S. 79; zu Annibales „Mangiafagioli“ (1583–1585, Rom, Galleria Colonna) vgl. Ebert-Schifferer 2010, S. 46. Zur Kritik an Boschloo vgl. Keazor 2007, S. 84–88 und 108.

242 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

naturale“.70 Unter dem Ruf „Zurück zur Natur“ versammelten sich folglich Strömungen, die sich nur sehr pauschal unter die Begriffe ‚Naturalismus‘ und ‚Idealismus‘ subsumieren lassen. Cigoli oszilliert zwischen diesen beiden Polen. Cardi nennt ihn einen „wahren Nachahmer der Natur“ (vero immitator’ della Natura).71 Doch auch, wenn Cigoli dem Naturvorbild verpflichtet ist, interessiert er sich nur bedingt für die soziale Wirklichkeit. Unter den hunderten nachgelassener Zeichnungen finden sich kaum Genre- oder Alltagsszenen und einen Bohnenesser, wie hintergründig er auch sein mag, sucht man unter seinen Gemälden vergeblich. „Effets de réel“ erzielt Cigoli vornehmlich durch Details wie die Muscheln in Petrus auf dem Wasser, die Blumenvase in der Verkündigung von Montughi, die Flechten in der Stigmatisierung des Hl. Franziskus, den Nähkorb in der Madonna mit Kind von 1598 oder genau beobachtete Tiere wie in der Anbetung der Könige von 1605 (vgl. Abb. 45, 172, 218 und 105).72 Cigoli ist nicht Ligozzi, der in dieser Zeit so minutiöse wie elegante Pflanzen- und Tierstudien anfertigte, und noch weniger Caravaggio, zu dem Cigoli angeblich auch persönlich in einem distanzierten Verhältnis stand.73 Am nächsten kommt Cigoli Caravaggio in seinem Ecce Homo, das ein eindrucksvolles Chiaroscuro aufweist und das, wenn auch nicht, wie von Cardi behauptet, im Wettbewerb, so doch offenbar in Auseinandersetzung mit einer Dornenkrönung Caravaggios entstanden ist (vgl. Abb. 231).74 Demonstrative Details wie die schwarzen Fingernägel von Caravaggios Heiligen sind bei Cigoli kaum denkbar; schmutzige Fußsohlen hingegen gehören auch für Cigoli durchaus zum Decorum und finden sich beispielsweise in seiner Anbetung der Hirten in Pisa (vgl. Abb. 42).75 Ob Cigoli mit den Bologneser Reformern in Kontakt stand, ist ungeklärt. Eine Auseinandersetzung mit ihrem Stil jedoch scheint – besonders in Cigolis römischen Werken – offensichtlich. Gesichert ist allerdings zumindest das Zusammentreffen ihrer Gemälde: In der Sammlung Corradino Orsinis fungierten zwei Darstellungen Johannes

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Malvasia 1678, Bd. I, S. 344. Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 113. 72  Ein ähnliches Augenmerk auf stilllebenhafte Elemente findet sich schon bei Santi di Tito (vgl. etwa den Korb in seiner Verkündigung in S. Maria Novella) und bei Jacopo da Empoli (vgl. etwa Vase und Korb in seiner Verkündigung in S. Trinita). 73  Laut Baldinucci speiste Cigoli zwar gelegentlich mit Caravaggio, hielt sich aber ansonsten von ihm fern und ließ sich nur bedingt von seinem Stil beeinflussen (vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 148). 74  Lothar Sickel hat die sog. „commitenza Massimi“ als nachträgliche Konstruktion entlarvt und gezeigt, dass die Gemälde von Caravaggio, Cigoli und Passignano im Abstand von zwei Jahren entstanden sind (Sickel 2003 S. 170–178; vgl. Cardi 1628/2010 fol. 4v, S. 110). Von Cigolis Interesse am Chiaro­­s­curo zeugt auch seine Vorzeichnung (Paris, DAGK 915r), die sich in der Sammlung Baldinuccis befand. Ausführlicher zu diesem Gemälde: Kap. VII.4. 75  Zum Motiv der schmutzigen Füße vgl. Valeska von Rosen 2009, S. 273–274. 71 

243 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

101. Cigoli, Johannes der Täufer in der Wüste, braune und blaue Tusche auf Papier, 11,8 × 8,3 cm, Florenz, GDSU 975 F.

102.  Pietro del Po nach Annibale Carracci (und Cigoli?), Johannes der Täufer, Kupferstich, 42,7 × 33,7 cm, Rom, ICG F.C. 30929.

des Täufers von Cigoli und Annibale als Pendants (Abb. 101–102).76 Cigoli zeigt den Täufer von vorn, Annibale – in deutlicher Anspielung auf einen von Michelangelos ignudi – von schräg hinten. Beide Figuren haben den rechten Arm ausgestreckt; nebeneinander gehängt werden sie (und damit auch die beiden Maler) aufeinander verwiesen haben. Laut Bellori soll Cigoli sogar die kleine Christus-Figur in Annibales Gemälde eingefügt haben – vielleicht, um der ostentativen Geste des Jünglings einen eindeutigen bildinternen Referenten zu geben.77 Von Annibales Wertschätzung für Cigoli könnte auch eine Rötelzeichnung aus dem Nationalmuseum Stockholm zeugen, die eine Inschrift aus dem 18. Jahrhundert als Porträt Cigolis aus der Hand Annibales kennzeichnet (Abb. 103).78 Gezeigt ist ein offenbar fehlsichtiger Mann mit Spitzbart, der bei der konzentrierten

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Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 4r, S. 109: „S. Giovanni nel deserto, il quale è / assolutam[en]te il più bello che facesse mai.“ Cigolis Gemälde ist verloren, lässt sich aber aus der von Berti identifizierten Vorzeichnung GDSU 975 F erschließen (vgl. Berti 1960, S. 133–134). Sickel publizierte Annibales, aus Kopien und einem Stich von Pietro del Po bekanntes Gemälde 2004 als mögliches Original (vgl. Sickel 2004, S. 461–462). 77  Vgl. Bellori 1672/2009, Bd. I, S. 96; dazu Chappell 1981a, S. 85–86 und Sickel 2004, S. 462. 78  Vgl. Bjurström 2002, S. 98–99, Nr. 41.

244 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

103. Annibale Carracci, Porträt Cigolis (?), Rötel auf Papier, 21 × 16, 5 cm, Stockholm, Nationalmuseum. Inv. 944/1863.

Arbeit am Stehpult gezeigt wird. Neben Annibale beschäftigte sich offenbar auch Ludovico Carracci mit Cigolis Werk: Keazor konstatiert einen Zusammenhang zwischen Ludovicos Geburt des Täufers von 1604 und Cigolis Beschneidung aus den späten 1590er Jahren. Die Ähnlichkeit besonders der Vorzeichnung mit Cigolis Maria deutet auf eine direkte Auseinandersetzung Ludovicos mit dem ursprünglich in der Sammlung Ludovisi befindlichen Bild, das heute in der Eremitage aufbewahrt wird.79 Ein Bindeglied zwischen Cigoli und den Carracci ist der Kunsttheoretiker und Hobbyastronom Giovanni Battista Agucchi.80 Seinem – mit Galileis Unterstützung verfassten – Discorso accademico del mezzo zufolge ist „das wahrhaft Schöne“ (il vero bello) in 79 

Öl auf Leinwand, 329 × 216 cm, 1604–1605, St. Petersburg, Eremitage; vgl. Faranda 1986, S. 153, Nr. 61; Keazor 2007, S. 320–321, Anm. 33. Zur Nähe zwischen Cigoli und den Carracci vgl. auch Chappell 1981a und Faranda 1986, S. 30. 80  Cigoli erwähnt Agucchi Galilei gegenüber am 23.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 19, S. 66 und am 3.11.1612, ebd., Nr.  46, S. 118. In den Opere sind allein 13 Briefe Agucchis von 1611 bis 1613 enthalten, in denen er Galilei von seinen Fernrohrbeobachtungen berichtet. Agucchi ist auch in die Debatte um die schwimmenden Körper involviert und hält Papazzoni für den Autor der anonymen Considerazioni (Agucchi an Galilei am 1.9.1612, Opere, Bd. XI, S. 390). Zu Agucchis Austausch mit

245 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

der Schöpfung nur schattenhaft zu erahnen und die echte Schönheit nur schwer von der falschen zu unterscheiden. Es gelte deshalb, die Sinne zu schärfen und auf die Mitte zu zielen, in der beide zusammenträfen.81 Cigolis Bemerkung, „dass man die Natur am vollkommensten nachahme, indem man das Schöne aus dem Schönen auswähle“ (che […] scelto il bello dal bello s’ immitasse nel più perfetto la Natura), zeigt eine gewisse Nähe zu den idealistischen Positionen Agucchis, der die Künstler – in einer doppelten Frontstellung gegen Manieristen und Naturalisten – aufforderte, das Streben der Natur so sehr zu internalisierten, dass sie diese zu übertreffen vermochten.82 Nach dem Vorbild des Zeuxis beschränke sich ein vollkommener Künstler nicht auf die Abbildung des Partikularen, sondern strebe nach der Perfektion der Natur im Bild. Zwar bilde die Beobachtung dal vero den Ausgangspunkt, doch zeigten ideale Maler „die Dinge nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollten“.83 Agucchis Lehre geht zurück auf Vincenzo Dantis Unterscheidung zwischen ritrarre und imitare, der genauen Nachahmung bzw. Vollendung der Natur. Für Danti bedeutet Imitieren nicht nur, die unvollkommene Realität nachzubilden, sondern Kunstwerke in Entsprechung mit der intentionalen Form der Natur so zu gestalten wie sie aussähe, wenn sie zur Vollkommenheit gereift wäre.84 Während seines Landaufenthalts und seines Studiums bei Santi di Tito soll Cigoli jeden Tag nach der Natur (dal naturale) gezeichnet haben.85 Später traf er sich häufig mit seinem Freund Gregorio Pagani und anderen Malern in den Räumen Girolamo Macchiettis zum Aktzeichnen, um seine „natürliche und wahre Farbgebung“ (un modo colorire naturale e vero) mit einem perfekten disegno zu ergänzen.86 Aus den Treffen entwickelte sich eine Art privater Akademie, in der Pagani auch Vorlesungen über die Malerei hielt.87 Zusätzlich zeichnete Cigoli zusammen mit Andrea Commodi jedoch auch immer wieder nach Michelangelos Skulpturen in San Lorenzo, von denen Vasari behauptete, dass sie die Malerei immer wieder „ins Licht zurückzuführen“ vermögen.88 Auch Cigolis Galilei vgl. Panofsky 2012, S. 62–66; Drake 1978a, S. 175–176, 211–212 und Reeves 1997, S. 5; zu seiner Kunsttheorie vgl. Mahon 1947, S. 111–154. 81  Vgl. BNC, Man. Galileiani 246: Mans. Agucchi, Del Mezzo Discorso Academico, fol. 99v. 82  Cardi 1628/2010, fol. 5v, S. 115; vgl. Agucchi 1646/2007, fol. 7, S. 65. 83  Agucchi 1646/2007, fol. 7, S. 65: „… eglino non contenti d’imitare quel che veggono in un sol soggetto, vanno raccogliendo le bellezze sparse in molti, e l’uniscono insieme con finezza di giuditio, e fanno le cose non come sono, ma come esser dovrebbono per essere perfettissimamente mandate ad effetto.“ 84  Vgl. Danti 1567/1960, I.16, S. 264–269. 85  Cardi 1628/2010, fol. 1v, S. 100: „… di continuo disegnando qual cosa dal natu/rale, e dal rilievo“ und S. 101: „… Santi di Tito pittore che teneva il primo luogo, dal quale ogni giorno andando a/ disegnar’ dal naturale …“ 86  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 92. Als Macchietti 1587 nach Spanien ging, übernahm Pagani das Studio im Palazzo Guadagni. 87  Vgl. Baldinucci 1811–1812, Bd. VII, S. 45 und 1811, Bd. VIII, S. 64. 88  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 2r, S. 101: „… et bene spesso ritirandosi nella Sagrestia di S. Lorenzo con il / Commodi suo coetano, grande studio facevano intorno alle Divine sculture del Buonarroto cer-

246 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Praxis, Michelangelos Statuen in weichem Ton und Wachs nachzumodellieren, entspricht Vasaris Empfehlung, mit Figurinen zu arbeiten, obwohl nur dal naturale geschaffene Werke „neben der ihnen innewohnenden Anmut und Lebendigkeit etwas Schlichtes, Leichtes und Liebliches“ besäßen.89 Wie einflussreich die Forderung nach dem Zeichnen dal naturale war, zeigt beispielhaft die Entscheidung Ferdinandos I., seinen Hofbildhauer Pietro Tacca 1607 nach Livorno zu schicken, um im örtlichen Sklavenbad Modelle für die Figuren der Gefangenen zu studieren, die an dem von Cigoli entworfenen Monument Heinrichs IV. in Paris oder aber für das Standbild des Großherzogs in Livorno eingesetzt werden sollten.90 Die einschlägigen Traktate behandeln das Problem des Naturalismus sowohl auf der Ebene der Produktion wie auch der Rezeption: Wahr ist, was inhaltlich richtig ist, dal vero gemalt wurde und lebendig erscheint. Neben „Natürlichkeit“ wird „Lebendigkeit“ zu einem der wichtigsten Kriterien.91 Paleotti verwendet „lebendig und wahr“ (vivo e vero) oft als Paar beinahe synonymer Begriffe.92 Besonders die freien, sanft kolorierten Gemälde aus Cigolis Spätwerk belegen für Cardi dessen Vermögen, das Gemalte „lebendig“ erscheinen zu lassen.93 Über den Franziskus der Stigmatisierung schreibt Baldinucci mit Anspielung auf Petrarca, dass ihm nur der Atem fehle (vgl. Abb. 218).94 Vor allem aber seine Beschreibung des Hagelwunders des Hl. Hyacinthus (Abb. 104) überbordet von Lebendigkeits-Lob. Das Gesicht des Begleiters des Heiligen sei „vivissima“; der Page im Hintergrund könne „weder schöner noch lebendiger“ sein (nè più bello, nè più vivo); der kleine Hund erwache spielend zum Leben (scherzando se gli allancia alla vita).95 In Cigolis cando d’immitarle / con fare le figure intere o parte di esse con terra atta a maneggiarsi per tal lavoro …“; Vasari 1973, Bd. VII, S. 196: „Le quali statue sono con bellissime forme di attitudini ed artificio di muscoli lavorate, bastanti, se l’arte perduta fosse, a ritornarla nella pristina luce.“ 89  Vasari 1973, Bd. I, S. 171: „… perciocchè le cose che vengono dal naturale, sono veramente quelle che fanno onore a chi si è in quelle affaticato, avendo in sè, oltre a una certa grazia e vivezza, di quel semplice, facile e dolce che è proprio della natura, e che dalle cose sue s’impara perfettamente, e non dalle cose dell’arte abbastanza giammai.“ Übers. nach Vasari 2006, S. 100. Auch Barocci soll mit kleinen Figuren gearbeitet haben, die er wie auf einer Bühne arrangierte (vgl. Scavizzi 1992, S. 254 und Barzman 1992, S. 43). 90  Vgl. Mack-Andrick 2005, S. 111 und 113 und die Zeichnungen GDSU 1766 Orn. und 970 F. 91  Zum Topos der Lebendigkeit vgl. Fehrenbach 2003. 92  Vgl. z. B. Paleotti 1582/1961, S. 220: „… quelle pitture che più imitano il vivo e vero, per modo che ingannano gli animali e tal volta gli uomini, come racconta Plinio di Zeusi e di Parasio, tanto più sempre sono state degne di commendazione e maggiormente hanno dilettato i riguardanti.“ Für Federico Borromeo ist Kunst umso wirksamer, je „naturalistischer“ sie ist. Dabei verwendet er nicht das Wort „verisimilitudo“, sondern „imitatio“, „similitudo“ oder „effigies“ (vgl. Jones 1993, S. 100). 93  Cardi 1628/2010, fol. 4v, S. 110: „… infra i sopradetti quadri vi sono di quelli lavorati con tanta franchezza, e si fatta dolcezza coloriti,/ che ha mostrato come possa ingegno humano, per mezzo dell’eccellenza della pittura, ridurre le cose dipinte a parer / vive.“ 94  Ausführlicher in Kap. VII.4. 95  Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 260 und Contini 1991, S. 108.

247 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

104. Cigoli, Hagelwunder des Hl. Hyacinthus, Öl auf Leinwand, 252 × 184 cm, Privatsammlung.

Anbetung der Könige von 1605 (Abb. 105) rühmt Baldinucci das Porträt eines englischen Rassehundes, dem zum Lebendigsein nur die Bewegung fehle (un ritratto d’un Cane, della bellissima e grande razza d’Inghilterra, a cui per parer vivo, altro non manca, che il moto).96 Cigoli habe vor allem Tiere „mit solcher Bravur, Lebendigkeit und solchem Geist“ (con tanta bravura, vivacità e spirito) abgebildet, dass Baldinucci sich noch lange an das offenbar dal vero gemalte Bild eines Hundes in einem Gemälde für die Familie Ricasoli erinnert, das er in seiner Kindheit gesehen hatte. Gerade dieser im Bild ewig

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Ursprünglich in San Pier Maggiore in Florenz; vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 111; Contini 1991, S. 81, Nr. 21. Carlo Borromeo hatte unnötige Darstellungen von Tieren im sakralen Raum verboten; in der Anbetung jedoch ließ sich der Hund als Begleiter der Könige legitimieren (vgl. Borromeo 1577/1962, S. 43). Sein Cousin Federico bedauert ausdrücklich die Zensur eines kleinen Hundes aus Tizians Anbetung der Könige in Carlos Sammlung – wohl ohne zu wissen, dass dieser (wie in Madrid und Cleveland zu sehen) im Zentrum der Komposition das Bein hebt (vgl. Borromeo 1624/2010, I.9, S. 32 und dazu Jones 1993, S. 116).

248 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

105. Cigoli, Anbetung der Könige, dat. 1605, Öl auf Leinwand, 345 × 233 cm, Stourhead, Sammlung Hoare.

249 1. Vera effigies und „dal vero“: Wann ist ein Bild wahr?

lebendige Hund soll seinem Herren bis zum Tod treu angehangen und schließlich vor Trauer auf dessen Grabstein gestorben sein.97 Auch im Placet des Zensors von Cigolis Perspektivtraktat, Pandolfo Ricasoli, heißt es, der Maler und künftige Stephansritter habe mit seiner Schrift der Malerei nützen wollen, deren Werke lebendig erscheinen, auch wenn sie auf Fragen schwiegen.98 Zu einem Leitmotiv wird die ambivalente Lebendigkeit von Bildern in Giovan Battista Marinos Galeria von 1619, in der die später von Bellori explizierte Ambivalenz von Täuschung und Enttäuschung – „Ich habe weder Leben noch Atem, und doch lebe und atme ich“ (Non ho vita, né spirto, e vivo e spiro) – in den verschiedensten Variationen durchgespielt wird.99 Das Sonett zu Cigolis verlorener oder imaginierter Leda beschreibt die scheinbare Lebendigkeit des Schwans als Dialektik von Überschuss und Mangel: Die Lebendigkeit oder vielmehr die Verewigung des Schwans im Bild bedeute einen Verzicht auf den Wohlklang seines Gesangs, denn der Schwan, so Marino, singe nur sterbend, Cigolis Pinsel aber verhindere seinen Tod, indem er das Tier unsterblich mache.100 Die Ambivalenz piktorialer Lebendigkeit, die sich von ihrem Schöpfer verselbständigt, bringt Galilei in einer Polemik gegen die Aristoteliker auf den Punkt, die das Bild ihres Meisters in Stein meißeln und dieser Chimäre dann blind gehorchen wie ein „Bildhauer, der aus einem großen Marmorblock […] das Bild eines Herkules oder eines Jupiters geformt hatte. Mit wunderbarer Kunst hatte er ihm solches Leben, so grause Majestät zu verleihen gewusst, dass jeden Beschauer Furcht anwandelte und schließlich der Künstler selbst sich davor zu fürchten begann, wiewohl Ausdruck und Bewegung das Werk seiner Hände war. So groß war sein Grauen, dass er sich nicht erkühnt hätte, ihm fürder mit Hammer und Meißel zu nahen.“101

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Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 111–112: „Ma non fu questa l’unica volta che il Cigoli, con tanta bravura, vivacità e spirito, ritrasse così fatti animali, perché io mio ricordo, fin dal tempo di mia fan­ ciullezza averne un altro veduto della stessa qualità, fatto per uno della nobil famiglia de’ Ricasoli. E quello stesso cane […] essendogli morto il padrone e portato il cadavero in Chiesa per darli sepoltura, non mai si volle partire dal feretro fin che il padrone sepolto non fu. Poi, posatosi come sbalordito in sulla lapida del sepolcro donde non si discostò mai, finalmente per inedia e malinconia sopra quel sasso lasciò la vita.“ Das entsprechende Gemälde gilt als verloren. 98  Cigoli 1628/2010, fol. 101 v., S. 329–330: „… il Sig[no]r Ludovico / Cardi Cigoli, Eccellente Pittore, e futuro per li suoi meriti Cavaliere Ierosolomitano, volendo / giovare ancora con eruditi, e loquaci Scritti di Prospettiva alla sua amata / Pittura, le sui opere come vive si trovano, ma interrogate, con verecundia tacciano,/ ha composto il presente libro, degno in vero delle Stampe.“ 99  Vgl. Fehrenbach 2014 und Cropper 1991. 100  Vgl. Marino 2009, S. 34: „Sai tu, Civoli mio, perché non canta?/ Però, che non sapendo/ Cantar, se non morendo,/ Come in sì lieta sorte / Può mai temer di morte,/ Se tu con quel pennel, che tanto vale,/ L’hai già fatto immortale?“ 101  Galilei, Dialogo, Opere; Bd. VII, S. 137: „Questi tali mi fanno sovvenire di quello scultore, che avendo ridotto un gran pezzo di marmo all’immagine non so se d’un Ercole o di un Giove fulminante, e datogli con mirabile artifizio tanta vivacità e fierezza che moveva spavento a chiunque lo rimirava, esso ancora cominciò ad averne paura, se ben tutto lo spirito e la movenza era opera delle sue mani; e ’l terrore

250 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

106. Cigoli, Narziss, braune Tusche, Rötel, Kreide auf getöntem Papier, 28,6 × 39,7 cm, Paris, DAGL 905.

2. Di segno u nd color e : Cigoli a ls „Cor r eggio e Tizi a no fior entino“? Eine Zeichnung im Louvre zeigt den an einer Quelle lagernden Narziss, der mit zur Schulter geneigtem Kopf in die Betrachtung seines Spiegelbildes versunken ist (Abb. 106). Der auf ihn gerichtete Pfeil Amors ist gewissermaßen verspätet, denn der versonnene Gesichtsausdruck des nackten Jünglings und seine nach dem Bild greifende Hand sprechen dafür, dass er sich bereits in sein Gegenüber verliebt hat. Im Hintergrund erscheint, mit furchtsam aufgerissenen Augen, die von Narziss verschmähte Nymphe Echo, deren Leib sich offenbar noch nicht bis auf die Stimme verzehrt hat. Das Blatt ist, wie häufig bei Cigoli, ein Palimpsest. Auf dem Recto findet sich zusätzlich eine Rötelskizze zweier Männer in Anbetung, auf dem Verso die Zeichnung eines männlichen Aktmodells, zwischen dessen gespreizte Beine vier kleine Tuscheskizzen mit Varianten des Narzissmotivs gesetzt sind (Abb. 107). Die Figur der Vorderseite ist mit Rötel und grauer Tusche auf grau gefärbtem Papier skizziert, die Kontur mit mehreren dünnen schwarzen Federstrichen era tale, che più non si sarebbe ardito di affrontarlo con le subbie e ’l mazzuolo.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. I, S. 210.

251 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

107. Cigoli, Narziss, Verso von Abb. 106.

252 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

umrissen, das Relief weiß herausgearbeitet. Resultat ist ein skulpturaler Körper, dessen flüchtiges Spiegelbild durch zarte getuschte Linien angedeutet ist. Neuzeitliche Aktdarstellungen des Narziss sind selten; bekannt sind allein Cellinis Figur nach antikem Vorbild und Alloris nackter, aber gänzlich unklassischer Narziss, dessen Verrenkung – will man keine homoerotischen Anspielungen erkennen – wohl seine moralische Verworfenheit anzeigen soll.102 Die sowohl durch die Nacktheit wie auch durch das rilievo von Cigolis Narziss geweckte Assoziation zur antiken Skulptur findet eine Legitimation in der Ovidschen Vorlage: ,,Reglos“, so heißt es dort, „staunt er sich an, mit unbeweglichem Antlitz / Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist“.103 Der starre Blick wird in der Zeichnung durch die leeren Augen angedeutet; der Körper jedoch ist alles andere als reglos. Die Geste des linken Arms entspringt dem Begehren, das Gegenüber zu liebkosen – „möglich scheint die Berührung: Die Liebenden trennt nur ein Kleines“.104 Doch die in Caravaggios Narziss von 1598/99 durch die Schließung des Kreises aus realen und gespiegelten Armen suggerierte Vereinigung von Ich und Bild bleibt bei Cigoli aus; die Beziehung ist eine rein optische. Einerseits ist das Spiegelbild durch die Platzierung am Bildrand auch für den Betrachter in greifbare Nähe gerückt, andererseits erscheint es invertiert und dadurch entzogen. Die Tatsache, dass der Papierrand den Kopf des Spiegelbildes abschneidet, gibt Derrida in seinen von einigen Louvre-Zeichnungen inspirierten Aufzeichnungen eines Blinden Gelegenheit zu einer Reflexion über die Unmöglichkeit, in das eigene Gesicht zu blicken: „…  es kann und mag sich nicht im Spiegel anschauen.“105 Sollte Cigoli das später in die Sammlung Baldinucci gelangte Blatt tatsächlich selbst beschnitten haben, dann wohl mit der Absicht, die Aufmerksamkeit des Betrachters vom Spiegelbild auf den Gespiegelten zu lenken und ihn so daran zu erinnern, dass seine eigene Beziehung zu der Zeichnung jener des Narziss zu seinem Spiegelbild entspricht – zumal gerade die ungewöhnliche Nacktheit des Jünglings den Blick des Betrachters fesselt wie dessen Spiegelbild den Blick des Narziss.106 102 

Cellini, Narziss, um 1548, Bargello, Florenz (zur Deutung der Statue als Kommentar zum Paragone vgl. Nova 2003, S. 197–200). Alessandro Allori, Narziss, Öl auf Holz, Washington, Türkische Botschaft. Für die moralische Deutung spricht auch die Ähnlichkeit des Narziss mit Alloris Versuchung des Hl. Bernhard. Die Haltung von Cigolis Figur erinnert an den sog. Sterbenden Gallier aus dem Museo Archeologico Nazionale in Neapel, der 1514 entdeckt wurde und sich in der Sammlung Farnese befand. 103  Ovid, Metamorphosen, III, 418. Später heißt es, Narziss’ Hände „glänzten wie Marmor“ (III, 481); vgl. dazu Kruse 1999, S. 100, die den Vergleich mit der Statue auf das ästhetisch betrachtete Spiegelbild bezieht. Paleotti führt die eitle Selbstliebe des Narziss im Zusammenhang mit seiner zwiespältigen Wertung von Porträts an (Paleotti 1582/1961, S. 335). 104  Ebd., III, 453. Zur erotischen Komponente vgl. Pfisterer 2001. 105  Derrida 1997, S. 73. Claudia Blümle hat diese Überlegungen mit Blick auf psychoanalytische Bildtheorien weitergeführt (vgl. Blümle 2009). 106  Zu Narziss „als Spiegelbild des Bildbetrachters“ vgl. Kruse 1999, S. 111. Mit der Spiegelung allein des Körpers verkehrt sich das traditionelle Motiv der bloßen, oft vom Brunnenrand abgeschnittenen

253 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

Der Paragone von Natur und Antike wird in der Zeichnung zugleich aufgerufen und beigelegt. Die lebendige Statue spiegelt sich in einer Quelle vor einer Landschaft. Der gleichzeitig angesprochene Paragone von Malerei und Bildhauerei jedoch wird zugunsten der Malerei entschieden.107 Mittels rilievo, Wasserspiegel und bildinternen Betrachtern unterstreicht Cigoli die Möglichkeit, Mehransichtigkeit und Volumen auch im zweidimensionalen Bild zu suggerieren. Der Betrachter sieht Handrücken und -teller zugleich und kann, indem er sich in Amor oder Echo versetzt, auch die Profil- oder Rückenansicht des Aktes imaginieren.108 Benedetto Varchi hatte den Streit um den Vorrang der Künste nach seiner berühmten Umfrage 1547 durch die gemeinsame Ableitung von Skulptur und Malerei aus dem disegno zu schlichten versucht.109 Trotzdem blieb das Thema als intellektuelles Spiel aktuell, so dass Raffaello Borghini sein Kunstgespräch noch 1584 mit einer langen Aufzählung der jeweiligen Argumente eröffnet.110 Einen originellen Beitrag zu der Debatte liefert ein auf den 26. Juni 1612 datierter, an Cigoli adressierter Brief, der in einer (möglicherweise ungenauen) Kopie überliefert ist und mit guten Gründen Galilei zugeschrieben wird.111 Chappell hat den Brief plausibel mit der zeitgleichen Ausgestaltung der Cappella Paolina in Zusammenhang gebracht.112 Ausgehend von dem Gedanken, dass die Skulptur das chiaroscuro von Natur aus besitzt, während die Malerei es kunstvoll erschafft, kommt der Autor des Briefes zu der These, dass „jene Nachahmung die kunstvollste ist, die das Relief in seinem Gegenteil abbildet, also in der Fläche“.113 Grundsätzlich sei eine Nachahmung umso bewundernswerter, je mehr sich die Mittel Spiegelung des Kopfes, die Thomas Macho auf das kleine Format antiker Handspiegel zurückführt (vgl. Macho 2002a, S. 22). 107  Alessandro Nova hat zu Recht vor der verbreiteten „Willkür bei der Anwendung des Paragone-Begriffs“ auf konkrete Kunstwerke gewarnt (Nova 2003, S. 185). Obwohl der Zusammenhang der Zeichnung mit der Debatte nicht eindeutig belegbar ist, erscheint mir diese Deutung in diesem Fall trotzdem legitim. 108  Zugleich erinnert der Wasserspiegel an die von Alberti empfohlene Praxis, die Reliefwirkung mittels eines Spiegels zu überprüfen (vgl. Alberti 1436/2007, S. 142). 109  Vgl. Varchi/Barocchi 1549/1960 und dazu Mendelsohn 1982. 110  Borghini 1584, S. 25–51. 111  Galilei[?] an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 91–95. Schon Favaro stellte die Authentizität des in Form einer seicentesken Kopie überlieferten Briefes in Frage, weil er sowohl stilis­ tisch als auch insofern aus dem Rahmen fällt, als weder Cigoli noch Galilei die Frage andernorts erwähnen (vgl. Favaro, Opere, Bd. XI, 340, Anm. 713). Olschki hielt den Brief für falsch (1927, S. 139); Togoni geht von einer untreuen Kopie aus (2009, S. 33). Panofsky (1956, S. 4), Damianaki (2000, S. 63–64), Tongiorgi Tomasi (2009, S. 21) und Bredekamp (2014, S. 248) weisen die Kritik zurück. Für Galileis Autorschaft spricht neben der Originalität der Argumente v. a. die Erwähnung der „macchie“ am Ende des Briefes. 112  Vgl. Chappell 2010, S. 88. 113  Galilei[?] an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 94: „… artificiosissima imitazione sarà quella che rappresenta il rilevo nel suo contrario, che è il piano.“ Bredekamp verknüpft diese These mit Galileis Zeichnungen des Mondreliefs und seiner mutmaßlichen Zurückweisung des

254 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

von dem nachzuahmenden Objekt unterscheiden.114 Nach diesem Grundsatz ist der Pantomime dem Schauspieler ebenso vorzuziehen wie ein Musiker, der Schmerz durch Klänge auszudrücken vermöge, einem Schluchzenden.115 In Cigolis Narzisszeichnung erinnert die Nymphe Echo an das Vermögen der Malerei, sogar Klänge zu suggerieren: Während der Jüngling in seine stumme Betrachtung versunken ist, scheint der Betrachter Echos Klage zu hören. Ein Vorzug der Malerei besteht dem Paragonebrief zufolge in ihrer Farbigkeit, vor allem durch „colori naturalissimi“.116 Im Dialogo vergleicht Galilei Farben mit Buchstaben, die – zu Worten kombiniert – alles repräsentieren können, ohne diesem selbst zu ähneln. Mittels einfacher Farben, so Galilei, ließen sich Menschen, Pflanzen, Häuser, Vögel, Fische und überhaupt alle Gegenstände abbilden, ohne dass der Maler dazu Augen, Federn, Schuppen, Blätter oder Steine auf seiner Palette haben müsse – oder sogar dürfe.117 Das Lob der Farbe entspricht Galileis aristotelischer Bewertung der Farben als dem „eigentlichen Objekt des Sehens“ (il proprio oggetto della vista), das jedoch wie die sinnliche Wahrnehmung im Allgemeinen als subjektiv und kontextabhängig bestimmt wird.118 Cigoli suchte die Einsicht in die Relativität der Farbintensität durch ein Diagramm zu demonstrieren, das einen weißen Kreis innerhalb eines schwarzen Quadrats zeigt. Jeder Leser kann damit selbst die Erfahrung machen, dass der Kreis durch den dunklen Hintergrund heller als die Umgebung zu strahlen scheint (Abb. 108).119 Umgekehrt erkannte Galilei, Vorschlags Virginio Cesarinis, die Mondoberfläche zu didaktischen Zwecken auch plastisch darzustellen (vgl. Bredekamp 2014, S. 249–250 und Mann 1987, S. 56–57). 114  Galilei[?] an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, S. 93: „… quanto più i mezzi, co’ quali si imita, son lontani dalle cose da imitarsi, tanto più l’imitazione è maravigliosa.“ Diese Ästhetik des Unähnlichen erinnert nicht nur an Albertis Bevorzugung kunstvoll gemalten Goldes, sondern auch an Varchis Lob für die Überwindung der größten Differenz zwischen Sujet und Medium. 115  Vgl. ebd. 116  Vgl. ebd., S. 92: „… nella pittura, oltre al chiaro et allo scuro, che sono, per così dirlo, il rilevo visibile della scultura, vi ha ella i colori naturalissimi, de’ quali la scultura manca.“ 117  Vgl. Galilei, Dialogo, Opere, Bd. VII, S. 135: „… il pittore da i semplici colori diversi, separatamente posti sopra la tavolozza, va, con l’accozzare un poco di questo con un poco di quello e di quell’altro, figurando uomini, piante, fabbriche, uccelli, pesci, ed in somma imitando tutti gli oggetti visibili, senza che su la tavolozza sieno nè occhi nè penne nè squamme nè foglie nè sassi: anzi pure è necessario che nessuna delle cose da imitarsi, o parte alcuna di quelle, sieno attualmente tra i colori, volendo che con essi si possano rappresentare tutte le cose …“ Reeves hat in der Bemerkung zu Recht eine Spitze gegen die von den Medici geschätzte Federkunst erkannt (Reeves 1997, S. 7). 118  Vgl. Piccolino/Wade 2008. 119  Cigoli 1628/2010, fol. 7r, S. 121–122: „Da questi dua contrari [bianchezza und oscurità] procedono le differenze del colore, per mezzo del quale si distingue il conte/nuto dal contenente, si come per esempio nella superficie .ABCD. descritto il cerchio .E. sarà esso il contenuto,/ e la data superficie AC. il contenente, la qual figura .E. quanto sarà di più diverso colore al suo con/tenente, tanto più si farà manifesta all’occhio, come se il cerchio .E. sarà più bianco, et il contenen/te .AC. più nero, con maggior forza si rappresenterà all’occhio …“

255 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

dass die Sonnenflecken vor der gleißenden Sonnenscheibe schwärzer wirken, als sie es in Wahrheit sind.120 Der Erscheinungshaftigkeit der Welt würden Maler eher gerecht als Bildhauer, die „die Dinge nachahmen wie sind“, während jene sie zeigen, „wie sie erscheinen“ (gli scultori […] imitano le cose com’elle sono, e questi com’elle appariscono).121 Dies wird jedoch nicht als Mangel gedeutet, sondern als Vorzug. Denn weil Dinge nur auf eine Weise sind, aber auf vielerlei Weise erscheinen, bewältige der Maler eine schwierigere und darum noblere Aufgabe.122 Auch die vergeblich nach dem Bild ausgestreckte Hand von Cigolis Narziss ist 108. Cigoli, Relative Erscheinung von mithin kein Eingeständnis eines Defizits, sondern eine Schwarz und Weiß, Kupferstich, in: Feier des „Als-ob“, denn letztlich habe eine Skulptur Cigoli 1628/2010, fol. 7r, S. 121. dem Tastsinn kaum mehr zu bieten als ein Gemälde.123 Die Subjektivität und Variabilität von Farben hatte diese schon lange in den Ruf des Trugs gebracht. Erasmus lobte Dürers Stiche, die ihren Reiz ganz ohne „buhlerische Farben“ (colorum lenocinium) entfalten, Cellini nannte Farben „Bauernfängerei“ (ingannacontadini) und auch bei Vasari und Agucchi steht die Farbe unter dem Verdacht, nur Maskerade schlechter Zeichnung zu sein.124 Die „weit vom Wahren wie vom Wahrscheinlichen entfernten Malweisen“, so Agucchi, setzen mehr auf den Schein als auf die Substanz und schmeicheln den Augen des einfachen Volkes, das sich von „der Schönheit der Farben und dem Schmuck der Gewänder“ begeistern lasse.125 Armenini unterminiert sein eigenes Metier, indem er allein dem geistigen Auge die 120 

Galilei 1613/1967, S. 13: „Egli ci appar più splendido del campo, che lo circonda, & in oltre paragoniamo la negrezza delle macchie solari, sì con la luce dell’istesso Sole, come con l’oscurità dell’ambiente contiguo, e trovaremo per l’uno, e per l’altro paragone non esser le macchie del Sole più oscure del campo circonfuso […] le macchie solari non esser punto men chiare delle parti piu splendide della Luna, benche situate nel fulgidissimo ca[m]po del disco solare ci si mostrino tenebrose, e nere, e se esse non cedono di chiarezza alle più luminose parti della Luna, quali saranno elleno in comparazione delle più oscure macchie di essa Luna.“ 121  Galilei[?] an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 94. 122  Vasari klagt über die Behauptung, wonach die Skulptur der Malerei so überlegen sei wie die Wahr­ heit der Lüge (vgl. Vasari 2004, S. 30). Zu dem Argument der Bildhauer vgl. Körner 2003, S. 221–224. 123  Vgl. Galilei[?] an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 92: „Ora chi crederà che uno, toccando una statua, si creda che quella sia un uomo vivo? Certo nessuno … “ 124  Vgl. Göttler 1990, S. 281 und Cellini an Benedetto Varchi am 28.01.1546, in: Barocchi 1960, S. 80–81; vgl. Vasari 1973, Bd. VII, S. 427–428; vgl. Puttfarken 1991. 125  Agucchi 1646/2007, fol. 9, S. 66: „… sorgevano nuove, e diverse maniere lontane dal vero, e dal verisimile, e più appoggiate all’apparenza, che alla sostanza, contentandosi gli artefici di pascer gli occhi del popolo con la vaghezza de’ colori, e con gli addobbi delle vestimenta …“

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Erkenntnis des Wahren zutraut, während das äußere sich allzu leicht von der Schönheit der Farben ablenken lasse.126 Die Zuordnung der Zeichnung zur Substanz und der Farbe zur Akzidenz geht auf Aristoteles zurück. Die Entgegensetzung von Linie und Farbe als Paradigmen von Geist und Materie hingegen ist eine neoplatonische Vorstellung, welche die Florentiner Theoretiker nutzten, um die epistemische Höherwertigkeit des disegno zu bekräftigen.127 Gekontert wurde bekanntlich von venezianischer Seite: Für Dolce ist die Farbe nicht nur „wahrer“, sondern auch das, was den Bildern Lebendigkeit verleiht.128 Die feurigste Verteidigung des Kolorits unternimmt jedoch Roger de Piles, der die Farben gleichsam als ‚Wahrheitskleid‘ beschreibt: Der Maler, so schreibt er, „skizziert sein Sujet mittels der Zeichnung und vollendet sie dann mit dem Kolorit, das, indem es das Wahre über die gezeichneten Objekte wirft, diese zugleich mit der Perfektion überzieht, zu der die Malerei fähig ist“.129 Vor diesem Hintergrund erweist sich Cigolis Narziss nicht nur als Statement im doppelten Paragone von Natur und Antike bzw. Malerei und Bildhauerei, sondern darüber hinaus auch als künstlerisches Manifest für das Zusammenspiel von Farbe und Linie. Denn das hier mit der Statue verglichene Spiegelbild ist nicht irgendein, sondern das erste Gemälde, das Urbild der Malerei.130 Für Cigoli existieren Bilder seit Anbeginn der Welt: Laut seiner Prospettiva pratica entstehen sie gleich nach der Erschaffung von Erde und Licht als Spiegelungen auf dem Wasser oder als Projektionen in natürlichen Camerae obscurae.131 Deren Lichtbilder sind gleichsam eine Schnittmenge der Ursprungslegenden von Plinius (Schattenriss) und Alberti (Spiegelbild), denn sie sind farbig wie die Reflexion

126 

Armenini 1587/1823, S. 27: „… non deve seguirsi il giudizio solamente dell’occhio esteriore, il quale può facilmente essere abbagliato dalla vaghezza di quelle varie tinte. E nel vero troppo facil sarebbe, se così fosse, il giudicar l’opere di quest’arte, ma ricorre bisogna all’occhio dell’intelletto il quale, illuminato dalle debite regole, conosce il vero in tutte le cose.“ 127  Vgl. Krieger 2006, S. 93. 128  Dolce 1557/1960, S. 183. Erstmals hatte Paolo Pino die Beseelung an die Farbgebung gebunden (vgl. Krieger 2006, S. 94 und Fehrenbach 2003). 129  de Piles 1708, S. 318–319: „[Le peintre] ébauche son sujet par le moyen du dessin, et le finit ensuite par le coloris, qui en jetant le vrai sur les objets dessinés y jette en même temps la perfection dont la peinture est capable“ (vgl. Puttfarken 1985). 130  Stellvertretend für die umfangreiche Literatur zu den Ursprungsmythen vgl. Damisch 1976; Wolf 1998; Kruse 1999 und Pfisterer 2001. 131  Cigoli 1628/2010, fol. 6v, S. 118–119: „… poi che creato il Mondo e la luce, ella appare nelle / chiare, e quiete acque come si vede per le reflessioni de gl’Alberi, et altro, che se le rappresenti d’avanti, percio / che tutto è contenuto sotto la medesima ragion’ di pittura, e con altro modo più proprio la Natura lo mostra / in que luoghi serrati, dove per un picciol’ foro trapassi il lume, a cui in debita distanza dentro sia opposta una / superficie bianca, in essa tutti i simulacri che di fuori gli saranno opposti verranno dipinti, e di tanto più / vivaci vivaci colori, quanto da maggior’ lume saranno percossi …“

257 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

des Narziss, aber aufrecht und fixierbar wie ein Schatten an der Wand.132 Cigolis Erklärung der Entstehung von Kunst ist im Ansatz eine Theorie der Entwicklung von Wissen und praktischer Kompetenz aus der sinnlichen Wahrnehmung. Durch zahlreiche Beobachtungen (molte osservazioni) bzw. langjährige Erfahrung (lunga esperienza) mit natürlichen Camere oscure habe sich ein solides Wissen und schließlich die hochedle Kunst entwickelt, die heute „mit korrekter Vernunft“ (con retta ragione) vorgehe.133 Interessant ist Cigolis Ursprungserzählung vor allem da, wo sie von Vasaris Version abweicht: Erstens ist das früheste Bild für Cigoli nicht notwendig 109. Cigoli, Projektion der ein Porträt (und schon gar kein Selbstbildnis wie in der Sonnenflecken durch ein Fernrohr, Casa Vasari).134 Zweitens ist der Hauptakteur dabei nicht Brief vom 14.7.1612, Florenz, der Künstler, sondern die nach geometrischen Gesetzen BNC, Gal. 89, fol. 128v. vorgehende Natur. Die ersten Bilder sind mithin autopoietisch und notwendig „wahr“. Diese Eigenschaft teilen sie mit den auf ein Blatt projizierten Sonnenflecken, die von der Sonne selbst gezeichnet und von Cigoli nur fixiert wurden (Abb. 109). Cigoli schreibt eine ‚Kunstgeschichte ohne Namen‘, denn nicht ein legendärer Maler, sondern irgendein „anderer“ (altrui) sei angesichts der bunten Erscheinungen an der Wand auf die Idee gekommen, sie festzuhalten (secondando e lineando e dipingendo tali apparenze). Drittens ist die Einsetzung der Camera obscura als erstes Medium auch insofern signifikant, als sie eine direkte Bezugnahme auf den Körper des Betrachters als Bildmedium erlaubt. Im Anschluss an Leonardo vergleicht Cigoli die Projektion mit dem Sehvorgang, bei dem sich ebenfalls „Simulakren“ auf der Retina abbilden – eine Analogie, die Cigoli erstmals auch graphisch durch die Parallelisierung von Auge und Camera obscura darstellte (Abb. 110).135 Der wichtigste Unterschied zu Vasaris Ursprungslegende 132 

Vgl. ebd., S. 119: „… ma perche tolto via tal mezzo se ne fuggono, e / spariscono, perciò mi credo in mente altrui cadesse, per ritenerli, andar con colori sopra tal superficie / secondando e lineando, e dipingendo tali apparenze, il che ha più del verosimile di quello, che da Plinio / vien referto, sopra le ombre, e sbattimenti de corpi, poi che l’ombra i termini estremi solo dimostra, e / questa non solo gl’estremi, ma le parti di mezzo, con ogni maggior’ proprietà, che in artifiziosa pittura / si possa deside­ rare  …“ Ausführlich dazu Bredekamp 2007, S. 289–293. Die Tatsache, dass die projizierten Bilder invertiert sind, kommentiert Cigoli nicht. 133  Ebd., S. 119–120: „… dalli quali esempi, ò qualunq. altra cagione di suo principio, continuato l’uso di / essa per lunga esperienza si è fatta una cognizione prodotta da molte osservazioni, la quale al fine / è divenuta arte nobiliss[i]ma et hora come arte procede, con retta ragione nelle cose che si hanno da fare …“ 134  Vgl. Jacobs 1984. 135  Vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 6v, S. 119 und dazu Kemp 1991, S. 134–135 und Bredekamp 2007, S. 288–293/2014, S. 253.

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liegt jedoch in der Betonung der Farbigkeit der projizierten Bilder. Cigolis erstes Bild ist konturlos und entsteht durch die auf die Wand bzw. die Retina treffenden Simulakren, deren Farben umso lebhafter sind, je heller es ist.136 Damit ähnelt Cigolis Position derjenigen Dolces und Bocchis, die beide betonen, dass die Natur keine Konturen kenne und die Kunst des Malers im Zusammenblenden von Farben bestehe – einem tonalen Stil, wie er auch Galileis ästhetischen Vorlieben entsprach.137 Parallel dazu betont Cigoli die Rolle des Schimmers (barlume) als einem „mezzo“ zwischen Licht und Schatten, das weniger Caravaggios chiaroscuro als Leonardos und Correggios sfumato zum Vorbild nimmt.138 In dem Abschnitt Del lume seines Perspektivtraktats definiert Cigoli das in einem diaphanen Medium diffundierte Licht als lume bzw. als aktive Qualität eines Himmelskörpers.139 Ändere das 110. Nach Cigoli, Analogie von Auge Licht durch Reflexion seine Form, werde es splendore und Camera obscura, in: Cigoli genannt.140 1628/2010, fol. 14v, S. 140. Selbstverständlich ging es in der UrsprungsDebatte nie allein um ein historisches Problem, sondern auch und vor allem um die Definition der Malerei. Der Erfolg der Butades-Geschichte erklärt sich aus dem Primat des disegno, dessen komplexe Geschichte hier nicht in extenso aufgerollt werden kann. Wolfgang Kemp hat den schrittweisen „Übergang des Prinzips von der Seite der Forma und Pratica auf die Seite des Concetto oder der Idea“ 1974 nachgezeichnet.141 Ausgehend von einem vagen Begriffsfeld, in dem disegno sowohl das „Prinzip“ der Künste als auch die Zeichnung oder das Medium bezeichnen konnte, verschob sich die Bedeutung zuneh136 

Cigoli 1628/2010, fol. 6v, S. 119: „… in essa tutti i simulacri che di fuori gli saranno opposti verranno dipinti, e di tanto più / vivaci colori, quanto da maggior’ lume saranno percossi, ma perche tolto via tal mezzo se ne fugguno, e / spariscono perciò mi credo che in mente altrui cadesse, per ritenerli, andar con colori sopra tal’ superficie / secondando e lineando, e dipingendo tali apparenze, il che ha più del verosimile di quello, che da Plinio / vien referto, sopra le ombre, e sbattimenti de’ corpi, poi che l’ombra i termini estremi solo dimostra, e / questa non solo gli estremi, ma le parti di mezzo, con ogni maggior’ proprietà, che in artifiziosa pittura / si possa desiderare …“ (Meine Hervorheb.) 137  Vgl. Dolce 1557/1970, S. 67; Bocchi 1567/1989, S. 123 und dazu Hattendorff 1992. Zu Galileis Ästhetik vgl. Bredekamp 2007, S. 46–50. 138  Vgl. die Notiz auf dem verso von GDSU 988 F. 139  Vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 11v. 140  Die Fortsetzung des Kapitels ist verloren, was Reeves zu der Hypothese veranlasst, dass Cigoli hier über das „sekundäre Mondlicht“ reflektierte (vgl. Reeves 1997, S. 122). 141  Kemp 1974, S. 225; vgl. auch Barzman 1992.

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mend in Richtung einer „Wissenschaft“ der Proportion, bis der Begriff in den 1565er Jahren oft gleichbedeutend mit idea verwandt wurde und somit das kreative Prinzip schlechthin bezeichnete.142 Kanonisch wurde schließlich Vasaris Doppeldefinition des disegno als „anschauliche Gestaltung und Klarlegung jenes Bildes, das man im Sinn hat und das man im Geist sich vorstellt und in der Idee hervorbringt“.143 In der zweiten Auflage der Viten von 1560 nennt Vasari den disegno den „Vater unserer drei Künste“, der aus der Vielzahl der Einzelformen ein allgemeines Urteil bilde.144 Um sichtbar zu werden, bedürfe der disegno der Schulung der Hände, die „ausdrücken und nachzeichnen, was die Natur geschaffen hat“.145 Eine Schärfung des Begriffs ergab sich aus Zuccaris Unterscheidung von disegno interno und disegno esterno, wobei der erste ein quasi göttliches Prinzip bezeichnet, von dem der Künstler inspiriert wird, der zweite aber das zeichnerische Vermögen, mit dem das geistige Vorstellungsbild auf das Papier gebracht wird.146 Cigoli wird mit Vasaris wie auch mit Zuccaris Konzeption vertraut gewesen sein; 1604 hielt er einen Vortrag in der Accademia di San Luca, in dem es laut Cardi um die „Notwendigkeit des disegno“ ging.147 Diverse Bemerkungen lassen vermuten, dass auch Cigoli ein dualistisches Disegno-Konzept vorschwebte. Seine Schüler soll er stets ermahnt haben, ihren Geist nicht mit Phantasien abzulenken, weil eine genaue Vorstellung Voraussetzung guter Bilder sei.148 Passignano bewundert er für die Kongruenz von wendigem Geist und flinker Hand, auch wenn sie zu geringer Sorgfalt im Farbauftrag führe.149 142 

Kemp 1974, S. 215. Vasari 1973, Bd. I, S. 169: „… si può conchiudere che esso disegno altro non sia che una apparente espressione e dichiarazione del concetto che si ha nell’animo, e di quello che altri si è nella mente immaginato e fabbricato nell’idea.“ Übers. nach Vasari 2006, S. 98. 144  Vgl. Kemp 1974, S. 229–230. 145  Vasari 1973, Bd. I, S. 169: „… questo disegno ha bisogno […] che la mano sia, mediante lo studio ed esercizio di molti anni, spedita ed atta a disegnare ed esprimere bene qualunque cosa ha la natura creato …“ 146  Vgl. Demirsoy 2000 und Barzman 1992, S. 46, Anm. 25. 147  Cardi 1628/2010, fol. 3v, S. 108: „… una lezzione, contenente la necessità del Disegno,/ nella quale mostrando q[uan]to ogni discorso et operazione congiunta con quello meglio conseguisse il suo fine,/ concluse che tutti gl’Huomini volendo con perfezione operare havevano di esso necessità …“ Vgl. Matteoli 1973, S. 227. 148  Cardi 1628/2010, fol. 5v, S. 115: „… e però consigliava i sua giovani […] a starsene ritirati, dicendoli che per / venir valent’huomo era necessario innamorarsi della professione, la quale in qualunq[ue] ricerca tutto l’huomo, e non bisognava svagarsi, e / riempier l’immaginativa di diversi fantasmi, da i quali essendo distratta mal’agevolm[en]te si rende atta all’opera per le varie invenzioni che si ha di bisogno, le quali se non sono prima profondam[en]te immaginate, non si possono con le mani molto bene esprimere …“ 149  Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 403–404: „… e fu, che avendo egli [Passignano] (come era solito di dire il Cigoli di lui ragionando) così obbediente la mano a’ suoi pensieri, e possedendo sì gran franchezza di pennello, ogni minimo indugio a veder comparire sulla tavola il proprio concetto gli pareva mille anni …“ 143 

260 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Auch Cigolis Bemerkung, ein Mathematiker ohne disegno sei nicht nur ein schlechter Mathematiker, sondern auch ein „Mensch ohne Augen“, lässt darauf schließen, dass der disegno für ihn sowohl intellektuelle als auch praktische Anteile besaß: Sehen, Denken und Zeichnen bilden für ihn eine Einheit.150 Eine Erweiterung des Begriffs leistet Cigoli in seinem Perspektivtraktat, in dem er den disegno als „die ausgewogen verteilte Menge von Linien und angemessenen Farben“ (la bon distribuita quantità di linee e colori proporzionali) definiert, mit denen vergangene, gegenwärtige, erfundene und ideale Dinge nachgeahmt würden.151 Die Kürze der Formulierung und die wenig originelle Definition der Malerei als imitatio lässt leicht über die bemerkenswerte Tatsache hinwegsehen, dass Cigoli hier tatsächlich das Kolorit zu einem Bestandteil des disegno erklärt. Künstlerische Mimese vollzieht sich für ihn immer durch das Zusammenwirken von Linie und Farbe, die er – anders als beispielsweise Guidobaldo del Monte, dessen Perspektivtraktat er ansonsten zum Vorbild nahm – ausdrücklich zu den Grundlagen der Malerei zählt.152 Wie Galilei nennt auch Cigoli die Farbe „den eigentlichen Gegenstand der Wahrnehmung“, der durch das Licht bzw. das Diaphane transportiert werde.153 Wie Maurizio Lorber gezeigt hat, referiert Cigoli hier auf die (möglicherweise über Dantes Convivio vermittelte) aristotelische Theorie, derzufolge das Sehen auf ein vermittelndes Medium angewiesen ist und sich mittels species bzw. simulacra vollzieht.154 Schwarz und Weiß würden zwar als Farben bezeichnet, aber insofern das eine die Sehstrahlen kondensiere und das andere sie streue, rauben beide die Sicht; „vero oggetto“ des Sehens seien deshalb die schmerzlos sichtbaren, dazwischenliegenden Farben wie turchino, verde und pagonazzo.155 Dass Cigoli und Galilei bei dessen Besuch in Rom 1611 über Farbwirkungen diskutiert haben, lässt sich aus Cigolis Bemerkung schließen, er habe sich bemüht, die Kuppel

150  Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, S. 66: „… un matematico, sia grande quanto si vole, trovandosi senza disegnio, sia non solo un mezzo matematico, ma ancho uno huomo senza ochi.“ Vgl. dazu Bredekamp 2014, S. 246. 151  Cigoli 1628/2010, fol. 7r, S. 122: „… e tutto procede dalla bon distribuita / quantità di linee e colori proporzionali, li quali noi significhiamo sotto nome di disegno, d’onde ne / procede la perfetta immitazione dalla pittura, la qual si divide in tre specie, una delle cose che / furono ò sono, l’altra di quelle si dice che siano ò par che siano, l’ultima di quella sorte come elle doverrebbono essere …“ 152  Vgl. del Monte 1600, Proemio; vgl. dazu Lorber 1989, S. 85. Die Definition der drei Arten der Nachahmung übernimmt Cigoli von Aristoteles (Poetik, § 25, 1460b). 153  Cigoli 1628/2010, fol. 11v, S. 134: „Il colore non è corpo, ma una qualità di quello, la quale noi non veggiamo se non nella superficie / del corpo opaco, il quale mediante quella distinguiamo, e se bene veggiamo la luce e l’ombra, che non sono colori, li veggiamo non dimeno sotto specie di / colore, che è il proprio oggetto della vista, tutta volta che il mezzo sia ben disposto,/ il qual mezzo è il diafano.“ Vgl. Aristoteles, De Anima II (B) 7, 418a. 154  Lorbeer 1989, S. 86–87. 155  Cigoli 1628/2010, fol. 12v, S. 136.

261 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

111.  Federico Barocci, Madonna del Popolo, 1575/79, Öl auf Holz, 360 × 250 cm, urspr. Arezzo, heute Florenz, Uffizien, Inv. 1890/751.

so zu kolorieren, dass die Figuren auch aus der Distanz überzeugen.156 Beide sollen Traktate über Farben geschrieben haben, wobei der Maler den Schwerpunkt vermutlich weniger auf die Theorie als auf die Herstellung und Verwendung von Farben legte.157 Cardi berichtet von Cigolis Zorn über Santi di Titos Kritik an seiner Verwendung des schnell oxidierenden Kupferazetats (verde rame), die er jedoch schlagfertig mit dem Hinweis auf seine gute Ausbildung (beim Meister selbst!) gekontert haben soll.158 Die Biographen beschreiben Cigolis Farbgestaltung als Ergebnis einer bewussten, mit Pagani unternommenen Recherche. Als Wendepunkt fungiert ihre Reise zu Baroccis eben fertig gestellter Madonna del Popolo in Arezzo (Abb. 111).159 Zurückgekehrt, hätten die jungen Künstler aus den gewonnenen Eindrücken, kombiniert mit häufigem Zeichnen nach der Natur, einen „neuen, schönen und gefälligen Stil“ (una nuova bella e piacevole maniera) und eine

156 

Cigoli an Galilei am 13.4.1612, Carteggio 2009, Nr. 29, S. 85: „Io mi sono ingegniato di co­lorirle gagliardo, et le figure non azuffate e ammontate, et le amontate separate con chiari e scuri, però non credo mi abbino da mancare per la distanza.“ 157  In einem Brief an Belisario Vinta vom 7.5.1610 erwähnt Galilei – wohl in strategischer Absicht – einen geplanten Traktat über Licht und Farbe, De visu et coloribus (vgl. Opere, Bd. X, S. 352). 158  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 2r, S. 102. 159  Vgl. ebd. und Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 92 und ders. 1811, Bd. VIII, S. 322.

262 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

112.  Federico Barocci, Kreuzabnahme, 1567–1569, Öl auf Leinwand, 412 × 232 cm, Perugia, S. Lorenzo, Cappella di S. Bernardino.

„natürliche und wahre Farbgebung“ (un modo colorire naturale e vero) entwickelt.160 In den frühen 1590er Jahren folgt eine Reise mit Passignano nach Perugia zu Baroccis Kreuzabnahme von 1569, die Cigoli ebenfalls stark beeindruckt haben soll (Abb. 112).161 Trotzdem sind die Spuren Baroccis in Cigolis Gemälden weniger deutlich als die Biographen behaupten. Vor allem Cigolis zwischen 1604 und 1608 entstandene Kreuzabnahme im Palazzo Pitti erinnert zwar in der Haltung Christi, weniger aber in Stimmung und Farbgestaltung an Baroccis stark bewegte, fast flackernde Darstellung (Abb. 113).162 160  Baldinucci 1811, Bd. VIII, S. 322: „… collo studio continovo del naturale, e col nuovo gusto fattosi sopra il bel modo di fare del Barocci, una nuova bella, e piacevole maniera si formarono.“ Und ders. 1812, Bd. IX, S. 92. Die Formulierung „colorire naturale e vero“ wurde titelgebend für die Ausstellung in Figline Valdarno im Jahr 2009. 161  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 96: „… fino a quel giorno s’era tal volta lasciato intendere, che per quanto avea fino allora veduto d’opere da’ viventi maestri non s’era presa di loro molta paura, nel vedere questa seconda opera del Baroccio si diede per vinto …“ 162  Vgl. Contini 1991, S. 92; Faranda 1986, S. 164–165, Nr. 79 und Bredekamp 2007, S. 87–88. Das Gemälde wurde schon im Jahr 1600 in Auftrag gegeben, aber offenbar erst vor dem Aufbruch nach Rom 1604 begonnen und während Cigolis Florenzaufenthalt zu den Hochzeitsfeierlichkeiten Cosimos II. fertiggestellt.

263 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

113. Cigoli, Kreuzabnahme, 1604–1608, Öl auf Holz, 321 × 206 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. Pal. 51.

264 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

114. Rubens, Kreuzabnahme, Mitteltafel des Archebusier-Triptychons, um 1612, Öl auf Holz, Antwerpen, Kathedrale.

115. Scipione Pulzone, Kreuzigung, 1585–1590, Öl auf Leinwand, 281 × 170 cm, Rom, S. Maria in Vallicella.

Die Bewegung des Leichnams erscheint zugleich als reale Gewichtsverlagerung und elegantes Gleiten – eine Leistung, die schon Rubens bewunderte, der Cigolis Gemälde noch im Entwurfsstadium zeichnete und später als Vorbild für sein Triptychon in Antwerpen verwendete (Abb.  114).163 Bei Cigoli führt eine abfallende Diagonale von dem ausgestreckten Arm des Schergen über den Arm, die Flanke und den Oberschenkel Christi über den Rand von Johannes’ rotem Mantel zu Boden. Die Bewegung wird von dem Farb-Vierklang Blau, Gelb, Weiß, Rot begleitet. Das Blutrot des Mantels beeindruckte Pulzone offenbar so sehr, dass er es für seine Kreuzigung in der Chiesa Nuova übernahm (Abb. 115). Cigolis Grundfarben unterscheiden sich deutlich von den hellen Tönen seiner noch manieristischen früheren Fassung (Abb.  116).164 Die Diagonalkomposition strukturiert nicht nur die Fläche, sondern infolge der leichten Schrägstellung des Kreuzes auch den Raum – eine Anlage, die Cigoli von Alloris Kreuzabnahme in S. Croce adap-

163  164 

Vgl. Jaffé 1977, S. 51–52 und Friedländer 1964, S. 76–80. Vgl. Bredekamp 2007, S. 43.

265 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

116. Cigoli, Kreuzabnahme, 1579, Öl auf Leinwand, 320 × 220 cm, Uffizien, Florenz, Inv. 1890/7791.

tierte (Abb. 117).165 Er nutzt die Schrägstellung nicht nur, um den dynamischen vom kontemplativen Raum zu trennen, sondern auch, um das Kreuzesholz zu betonen – das Gemälde entstand im Auftrag der Compagnia della Croce.166 Nicht nur diese Aspekte sprechen gegen Eileen Reeves’ Deutung des schrägen Kreuzes als Hinweis auf eine in dem Gemälde versteckte kopernikanische Botschaft: „… the lunar body is depicted in 165 

Vgl. Lecchini Giovannoni 1991, Nr. 12, S. 219 und Hall 1979, S. 48. Ähnlich auch in Caravaggios Kreuzigung des Apostels Andreas (um 1607, Cleveland Museum of Art). 166  Vgl. Contini 1991, S. 92. Zum „Aufschwung der Kreuzverehrung“ in den Jahren 1570 bis 1610 vgl. Richter 2009, S. 4.

266 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

117. Alessandro Allori, Kreuzabnahme, 1560, Öl auf Holz, 420 × 290 cm, Florenz, S. Croce.

the Deposition in precisely the way Galileo would describe it several years later in the Sidereus Nuncius, and the Copernican argument of the painting is an anticipation of the more explicit statements of that first telescopic treatise.“167 Der Kreuzbalken zeigt ihrer Meinung nach auf den matt glänzenden Mond, der so zum zentralen Motiv des Bildes werde. Auf den Mond zeige außerdem der Turbanträger, den Reeves nicht nur als Nikodemus, sondern darüber hinaus als „Nikodemiten“, also als klandestinen Anhänger des „Galiläers“ Galilei identifiziert.168 Wie schon in der Anbetung der Hirten in Pisa habe Cigoli hier das sogenannte sekundäre (von der Erde reflektierte) Mondlicht dargestellt. Zwar ist die Einfügung der Gestirne in eine Kreuzabnahme – anders als bei Kreuzigungsdarstellungen – relativ selten, aber durchaus nicht einmalig.169 Vor allem aber

167 

Reeves 1997, S. 129. Ebd., S. 134. 169  V. a. nordische, aber auch italienische Maler zeigten die Gestirne in der Kreuzigung (z. B. Rogier van der Weyden, Lucas Cranach und Jörg Breu d. Ä. bzw. Perugino in S. Maria Maddalena dei Pazzi und Raffael in S. Domenico in Città di Castello). Beispiele für Sonne und Mond in der Kreuzabnahme finden sich seit dem Mittelalter (etwa im Psalter der Blanka von Kastilien, BNF, um 1230), v. a. aber in Alloris Kreuzabnahme im Prado (um 1560). 168 

267 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

sind die Himmelskörper keineswegs „supremely realistic“, sondern den Farbkonventionen entsprechend rot/blau und emblematisch dargestellt, also mit den trauernden Personifikationen von Sol und Luna.170 Ähnliche Figuren finden sich – möglicherweise angeregt von Michelangelos Kreuzigung aus der Zeit um 1540 – nicht nur in Alloris Kreuzabnahme im Prado, sondern auch in Vasaris Kreuzigung in S. Maria del Carmine (beide um 1560). Nadeije Laneyrie-Dagen hat die Motivgeschichte der mirakulösen Finsternis nachgezeichnet, die sich nach der Kreuzigung über das Land gelegt haben soll und die Exegeten seit dem Mittelalter durch die Interposition einer dichten Wolke oder gar als irreguläre Sonnenfinsternis zu erklären suchten.171 Auch wenn ihre Vermutung, wonach Cigoli durch die Sonnenfinsternis vom 12. Oktober 1605 zu der Einfügung der Gestirne angeregt worden sein könnte, nicht ganz von der Hand zu weisen ist, wäre die Anspielung auf das astronomische Ereignis dann vermutlich deutlicher ausgefallen – wie etwa in Rubens’ nach seiner Italienreise entstandenen Aufrichtung des Kreuzes, in der sich die Mondscheibe vor die Sonne zu schieben beginnt.172 Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit verneinen, dass Cigoli den Mond bereits beobachtete, bevor das Thema durch die Erfindung des Fernrohrs virulent wurde, doch besteht die Gefahr, eine Art „sekundäres Licht“ von seinem Mond in S. Maria Maggiore auf sämtliche früheren Gemälde zu projizieren. Mehr als für ein „Copernican argument“ nutzte Cigoli das Gemälde jedenfalls zum Experimentieren mit der Verteilung von farbigen Körpern im Raum. Cigolis gleichwertiges Augenmerk auf Farbe und Linie wird bis heute gebetsmühlenartig als geglückte Verbindung von Florentiner disegno und venezianischem colorito beschrieben: Baldinucci übernimmt die angeblich zu seiner Zeit geläufige Bezeichnung des Malers als „Tiziano e ’l Correggio fiorentino“ und stellt einen Bezug von Cigolis Ecce Homo zu Correggios Vorgängerbild her.173 Schon Cardi behauptet, Cigoli habe jedes Bild Correg170  Reeves 1997, S. 128. Der Farbklang wiederholt sich in Wams und Hose eines Helfers und den Gewändern Marias. 171  Vgl. Laneyrie-Dagen 2006. Domenico Brusasorci zeigt in seiner um 1560 entstandenen Kreuzigung für S. Fermo Maggiore in Verona tatsächlich eine Sonnenfinsternis. 172  Vgl. ebd., S. 139. Trotz des effet de réel entspricht allerdings auch hier weder die Bewegungs­ richtung noch die Schwärze der Mondscheibe der Anschauung, sondern eher den Konventionen astro­ nomischer Darstellungen. Auch wenn keine Aufzeichnungen existieren, ist davon auszugehen, dass Galilei die Finsternis beobachtet und vielleicht sogar mit Cigoli und/oder Rubens über die Sonnenfinsternis gesprochen hatte (vgl. ebd., S. 140). Zum Kontakt zwischen Galilei und Rubens vgl. ebd., S. 57–90 und Huemer 1983. Ein gemeinsamer Freund ist Girolamo Mercuriale (vgl. ebd., S. 61). 173  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 82 und 97 bzw. 109. Bzgl. des Ecce Homo heißt es: „Dissesi allora che il Cigoli facesse questa pitttura con intenzione di condurre un quadro che ben potesse comparire a confronto d’un’opera del Coreggio, e che egli non punto adulasse sé stesso, l’opera medesima il dice“ (ebd., S. 132). Cigoli kannte vermutlich nicht nur Agostino Carraccis Stich nach Correggios Gemälde, sondern auch eine der in Florenz und Rom bewunderten Kopien.

268 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

118. Cigoli, Kopie nach Correggios Mystischer Hochzeit, Ende 16. Jahr­­hundert, Öl auf Leinwand, 103 ×103 cm, Pistoia, Museo Civico.

gios kopiert, das er habe finden können.174 Von dieser Begeisterung zeugt eine einfühlsame Kopie von Correggios hochgelobter Mystischer Hochzeit der Hl. Katharina von 1527, die sich heute im Museo Civico in Pistoia befindet (Abb.  118/119).175 Die Farbe von Marias Kleid changiert zu dem für Cigoli so typischen Magenta; die weichen Inkarnate und die tonale Abtönung aber kommen Correggios Stil bemerkenswert nah. Ein Echo der Auseinandersetzung mit Correggios Komposition findet sich noch in der nach Cigolis erstem Romaufenthalt entstandenen Mystischen Hochzeit für S. Giaggio. Am ehesten lässt sich Correggios Einfluss sonst in Cigolis frühen Bildern wie der Unbefleckten Empfängnis und der Seelenwägung feststellen, die zugleich auch leonardeske Züge aufweisen.176 Marcia Hall zufolge hat Cigoli von Correggio vor allem die bildlichen Mittel zur affektiven Adressierung des Betrachters gelernt – eine Lektion, die er mit Barocci teilt, 174 

Vgl. Cardi 1612/2010, fol. 2r, S. 102. Zu Cigolis Kopie vgl. Chelazzi Dini 1963, Nr. 49a und Spagnolo 2005, S. 188. Möglicherweise ersetzte die Kopie das 1582 von Caterina Sforza di Santafiora nach Rom gebrachte Gemälde, das Vasari wohl noch in Modena gesehen hat. 176  Das fein gezeichnete ovale Gesicht Marias beispielsweise erinnert an Correggios Madonna mit Kind (1512–1524, Mailand), doch sind Cigolis Farben dunkler, die Figuren monumentaler (vgl. Chelazzi Dini 1963, S. 51–56 und Barbolani di Montauto 2009, S. 152, Nr. 4.2). Anna Matteoli erkennt in dem Jesusknaben der Anbetung der Könige in Stourhead eine Reminiszenz an das Kind in Correggios Madonna di S. Gerolamo in Parma, was jedoch nur bedingt überzeugt (vgl. Matteoli 1978, S. 143). 175 

269 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

119. Correggio, Mystische Hochzeit, um 1527, Öl auf Leinwand, 105 × 102 cm, Paris, Louvre.

weshalb sie vorschlägt, Cigoli eher als „the Florentine Barocci“ denn als „Correggio fiorentino“ zu bezeichnen.177 Baldinucci ist der Bezug zu Correggio vermutlich nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil die Auseinandersetzung mit dessen Kuppeln auch für die Carracci einen Wendepunkt markierte.178 Correggios Inkarnate schienen Annibale „aus wahrem Fleisch“ (di vera carne) zu sein, seine Figuren zu „atmen, leben und lachen mit einer Grazie und Wahrhaftigkeit, dass man mit ihnen lachen und sich freuen“ müsse (spirano, vivono e ridono con una gratia e verità, che bisogna on essi ridere e rallegrarsi).179 Auch der Topos der Vereinigung von disegno und colore kulminiert in den Carracci-Viten: Agucchi lobt Annibales Verbindung von virtuoser Zeichnung und an Correggio geschultem Kolorit.180 In der berühmten Grabrede auf Annibale wird ein Ideal entworfen, das Bernini später halb bewundernd,

177  178 

Vgl. Hall 1999, S. 255. Brief Annibales an Ludovico Carracci, zit. nach Malvasia I, S. 268; vgl. Keazor 2007, S. 23

und 35. 179  Annibale an Ludovico Carracci am 18.4.1580, in Teilen abgedruckt bei Malvasia 1678/1971, S. 236–237; Vollabdruck in Perini 1990, S. 150–151. Zur Diskussion über die Authentizität der Briefe vgl. Spagnolo 2005, S. 203–214. 180  Agucchi 1646/2007, fol. 11, S. 69: „… per costituire una maniera d’una sovrana perfettione, converrebbe col disegno finissimo di Roma unire la bellezza del colorito Lombardo …“

270 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

halb scherzhaft mit einem Eintopf vergleichen wird: Annibale vereine „die graziöse Linie Raffaels, die Anatomie Michelangelos, die Noblesse Correggios, das Kolorit Tizians und den Erfindungsreichtum Giulio Romanos oder Mantegnas“ – „als ginge man durch die Küche und schöpfe aus jedem Topf einen Löffel“.181 Die Bezeichnung Cigolis als „Tiziano fiorentino“ hat ebenfalls ein gewisses Recht, auch wenn – wie schon Chappell und Carman betonen – aus den vor allem im Martyrium des Petrus Martyr und der Laurentiusmarter feststellbaren Anklängen an Tizian nicht notwendig auf eine Venedigreise geschlossen werden kann.182 Das „venezianische“ Kolorit könnte Cigoli auch über die Vermittlung von Florentiner Künstlern wie Passignano, Ligozzi oder Macchietti kennengelernt haben, bei dessen Laurentiusmarter in S. Maria Novella es sich ebenfalls um eine Nachtszene handelte (Abb. 120).183 Während der Arbeit an der Grablegung Pauli soll Cigoli zudem einen Tizian-Schüler getroffen haben, von dem er nicht nur die „Handhabung der Farben“ (il maneggiare i colori) gelernt, sondern auch von Tizians Eigenart gehört haben soll, vollendete Bilder mit einigen freien Pinselstrichen zu bearbeiten (strapazzare), um die Anstrengung zu verbergen und die Meisterschaft zu demonstrieren – eine Praxis, die sich in Cigolis späten Bildern – beispielsweise der Ermordung des Sisera und dem (wiewohl unfertigen) Hyacinthus – tatsächlich beobachten lässt.184 Im Ecce Homo wird die von Andrea Commodi und Giovanni Bilivert bewunderte freie Pinselführung (la franchezza dei colpi) zusätzlich affektiv aufgeladen, da die „colpi“ Farb- und Geißelungsspuren zugleich hinterlassen (vgl. Abb. 231).185 Baldinucci allerdings nutzt die Anekdote über die Begegnung mit dem Tizianschüler für die Bemerkung, Cigoli habe solche Gesten gar nicht nötig gehabt, weil seine Gemälde

181 

Vgl. Chantelou/Bernini 2006, Eintrag vom 5.7.1665, S. 43; vgl. Mahon 1953b. Vgl. Chappell 1971, S. 157 und Carman 1972, S. 51. Cecchi hingegen greift Mina Gregoris Hypothese einer Italienreise erneut auf (Cecchi 1992, S. 84). 183  Vgl. Carman 1972, S. 51. Passignano hatte von 1581 bis 1589 mit Zuccari in Venedig gearbei­ tet und war dort stark von Tintoretto beeinflusst worden (vgl. Freedberg 1993, S. 625–626). 184  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 127: „… dicevagli il pittore che Tiziano era solito di condurre le cose sue con grande accuratezza ed amore; ma condotte che l’aveva presso a lor fine, dava loro sopra alcuni colpi, come noi diremmo strapazzati, e questo faceva per coprire la fatica, e farle parere più maestrevoli, la qual cosa essendo piaciuta al Cigoli, se ne fece subito imitatore.“ Vasari äußerte Kritik an Tizians pastosem Duktus: „… usando nondimeno di cacciarsi avanti le cose vive e naturali, e di contrafarle quanto sapeva il meglio con i colori, e macchiarle con le tinte crude e dolci, secondo che il vivo mostrava, senza far disegno …“ (Vasari 1973, Bd. VII, S. 427). Zur freien Pinselführung im Sisera-Gemälde vgl. Cecchi 1992, S. 84. 185  Das Urteil Commodis und Biliverts wird im Zusammenhang eines Briefwechsels erwähnt, der die Eignung des Ecce Homo als Geschenk für den spanischen Staatsminister erörterte. Letztlich wurde statt des Gemäldes eine Reiterstatuette Philipps IV. nach Spanien gesandt (vgl. dazu Goldberg 1992). 182 

271 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

120. Girolamo Macchietti, Laurentiusmarter, Öl auf Holz, 407 × 259 cm, Florenz, S. Maria Novella.

ohnehin keine Anzeichen von fatica erkennen ließen und sogar die frei gezeichneten Bozzi aus der Distanz vollendet erschienen.186 Überblickt man die Entwicklung von Cigolis Kolorit, lässt sich einerseits eine zunehmende Vereinfachung und andererseits eine zunehmende Differenzierung feststellen. Vereinfachung insofern, als Cigoli immer häufiger Grundfarben großflächig nebeneinandersetzt; Verfeinerung in jenen Werken, in denen prachtvolle Stoffe vorgeführt werden, die disegno und colore insofern vereinigen, als die Farbe durch eingewebte Muster

186 

Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 127: „Vaglia questo, quanto può valere appresso a chi non n’ha vedute le sue bozze, perchè in quelle, che sono venute sotto l’occhio nostro, abbiamo riconosciuta tanta franchezza, che nulla più. E mentre il suo bozzare, con tinte sì proprie, e sì a’ luoghi loro situate, in mediocre distanza ce l’ha fatte parere del tutto finite, e ben finite, non sappiamo riconoscere, come avesse avuto bisogno il Cigoli di ricoprire nelle sue pitture, quella fatica, che fin da’ primi colpi elle non mai dimostrarono.“ Zu Baldinuccis Gegenüberstellung einer Malerei „di colpi“ im Gegensatz zum sfumato und Tizians „franchezza“ vgl. Suthor 2010, S. 93–95.

272 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

gebändigt, aber zugleich gefeiert wird (Abb. 121–123). Seine Schüler, vor allem Cristofano Allori und Bilivert, kultivierten die Gestaltung buntfarbiger Gewänder weiter (Abb. 124–125). Es scheint, als stünde das Cigoli als Florentiner und Bruder eines Textilhändlers gleichsam angeborene Interesse an Stoffen seinem Wunsch nach malerischer Vereinfachung entgegen.187 Auch wenn die Gestaltung immer auch von Sujet und Auftraggeberwünschen abhängig war, lassen sich beim Vergleich beispielsweise der beiden Martyrien von 1598 und 1605, der Steinigung des Stephanus und der Enthauptung von Jakobus und Josias, deutliche Veränderungen feststellen. Statt kleinteiliger Brokate zeigt Cigoli monochrome Stoffe; das fein abgetönte Kolorit weicht dem Nebeneinander glatter Farbflächen in Rot, Blau, Grün und Gelb, die Abschattungen weitgehend vermeiden. In einigen Bildern gibt Cigoli dem Kontrast zwischen monochromen und gemusterten Stoffen eine inhaltliche Gewichtung. Wenn es das Decorum erlaubt, malt er prachtvolle, farbenstarke Seiden- und Brokatgewänder, die sich weit von den pastellfarbenen, strukturlosen Kleidern der frühen Manieristen entfernen und die detailreichen Kostüme Bronzinos ins Malerische wenden. Im Staatsporträt Cosimos I. von 1603 trifft Cigolis Interesse an Stoffen auf den großherzoglichen Wunsch nach der Inszenierung des prachtvollen Krönungsornats, der offenbar dal naturale repräsentiert wurde.188 Erstmals ersetzt ein reiches Gewand aus Brokat und Samt mit einem Hermelinmantel nach venezianischer Mode die Darstellung des Mediciherzogs in Rüstung. Neben Königen dürfen auch kirchliche Würdenträger in prächtigen Gewändern auftreten. In der Madonna del Rosario von Pontedera trägt Augustinus einen purpurnen Brokatmantel, der neben der schlichten Kutte der Heiligen noch prachtvoller wirkt (Abb. 126). Gleichsam als Reaktion auf die physische Nähe wird der Stoff im Vordergrund unscharf, als sollte der Betrachter ermuntert werden, seinen Blick nicht auf die Hüllen, sondern auf den oberen Teil des Bildes zu fokussieren. Ein Paradestück für Cigolis Meisterschaft in der Variation von Texturen ist die mehrfach kopierte Anbetung der Könige von 1605, die Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) kunstbeflissen für ihre strahlenden Blautöne bestaunt – „I love the use of the color blue by the artist“ (vgl. Abb. 105).189 Diese treten besonders durch den Kontrast mit dem 187  Wenn Cecchis Vermutung stimmt, nutzte Cigoli für Jael und Sisera sehr feines, gemustertes Leintuch, das sonst nur in Norditalien und dem Veneto verwandt wurde und möglicherweise von seinem Bruder, dem linaiuolo Ulivieri Cardi, besorgt wurde (vgl. Cecchi 1992, S. 86). Zu Ulivieri vgl. Matteoli 1975, S. 164. 188  Öl auf Leinwand, 394 × 215 cm, Florenz, Palazzo Medici-Riccardi, Inv. 1890, Nr. 3784. Das Bild diente vermutlich als Modell für die Fürstenstatuen in der Cappella dei Principi. Vgl. Przyborowski 1982, S. 98; Langedijk 1971 und dies. 1981, Bd. I, S. 427 und 166; Mack-Andrick, S. 218, 220–221, 225 und Abb. 97, S. 339. 189  Das Bild wurde 1605 im Auftrag der Familie Albizzi für ihre Presbiteriumskapelle in der 1783 zerstörten Kirche S. Pier Maggiore in Florenz gemalt und gelangte 1790 in die englische Privat-

121. Cigoli, Brokat, Ausschnitt aus Abb. 59: Steinigung des Stephanus, 1598.

122. Cigoli, Monochrome Stoffe, Ausschnitt aus Abb. 56: Jakobus und Josias, 1605.

123. Cigoli, Seide, Ausschnitt aus Abb. 127: Kreuztragung des Heraklius, 1594. 124. Cristofano Allori, Seide, Ausschnitt aus: Judith mit dem Kopf des Holofernes, 1615–1617, Öl auf Leinwand, 139 × 116 cm, Florenz, Galleria Palatina, Pal. 96. 125. Giovanni Bilivert, Gewänder, Ausschnitt aus: Der Erzengel Gabriel weist Tobias’ Geschenke zurück, 1612, Öl auf Leinwand, 175 × 146 cm, Florenz, Galleria Palatina, Pal. 202.

274 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

schlichten Kleid Marias hervor, das Paleottis Mahnung entspricht, die Gottesmutter nicht mit reichen Gewändern und Schmuck darzustellen, „die bei der Betrachtung Übelkeit verursachen“.190 Vor Maria kniet ein bärtiger König in hermelingefüttertem Goldbrokat mit samtenem Untergewand, der zum Vorbild von Carlo Dolcis preziöser Anbetung in London wurde.191 Der jugendliche König hinter ihm trägt einen mit Leopardenfell gefütterten Seidenmantel, sein Page ein Kleid aus blauem Samt.192 Hier geht es nicht nur um optische Opulenz, sondern auch um die Adressierung des Tastsinns durch die metallischen, pelzigen, samtenen, kühlen und warmen Oberflächen. – Immerhin wird im Paragonebrief der Vorzug der Malkunst auch damit begründet, dass diese außer dem Relief auch andere Oberflächeneigenschaften nachahmen könne, wie das Weiche und Harte, das Warme und Kalte, das Glatte und Raue, das Schwere und Leichte.193 Wie ambivalent die Feier von Farben und Texturen war, zeigt Cigolis Altargemälde im Hauptschiff von S. Marco aus dem Jahr 1594 (Abb.  127).194 Auf den ersten Blick glaubt man eine Kreuztragung vor sich zu sehen. Doch wer hier auf gebeugtem Rücken das Kreuz nach Jerusalem trägt, ist nicht Christus, sondern der byzantinische Kaiser Herakleios. Was ihn als Herrscher auszeichnet, hat er abgelegt. Ein Page trägt seine Krone, während er barfuß und in einem einfachen Hemd auf das Stadttor zuschreitet. Der Legende zufolge verschloss sich das Tor dem Sieger über die Perser, als dieser im Triumph die zurückeroberte Kreuzreliquie in die Grabkirche bringen wollte. Ein in einer cigolesken Lichtwolke erscheinender Engel erinnert ihn daran, dass Christus mit dem Kreuz durch dasselbe Tor geschritten sei und mahnt zur Demut. Erst als Herakleios vom

sammlung. Erstmals publiziert wurde es in Waterhouse 1962, S. 154, Abb. 131. Eine kleinere Replik aus S. Agostino Vescovo in Lucca befindet sich in der Pinacoteca Nazionale, eine andere in der Collezione Carmen Gronau in Fiesole (vgl. Chappell 1975, S. 11 und Matteoli 1978, S. 135–138). Molanus hatte die Darstellung der (von Luther infrage gestellten) Könige ausführlich verteidigt, die Darstellung eines Äthiopiers allerdings mit Verweis auf die Kölner Ikonographie als jungen Brauch entlarvt (vgl. Molanus 1570, Kap. 57, fol. 107v–110r). 190  Paleotti 1582/1961, S. 373: „Dall’abito poi, quando, sendo ella la vera idea dell’umiltà e modestia, vien rappresentata con ricci, vestimenti et ornamenti pomposi e vani, e fino con le perle e pendenti alle orecchie, che fa stomaco a vederla.“ 191  1649, London, National Gallery 6523. 192  Vgl. die Zeichnungen GDSU 982 F, 983 F und 1033 F, Letzteres wohl eine Kopie von GNSD 130587 F.C, wo der Page die Kapelle von San Niccolò Vescovo in der Hand hält. Matteoli zieht einen berechtigten Vergleich zu Veroneses Anbetung in S. Corona in Vicenza (Matteoli 1973, S. 145). 193  Galilei an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 92: „… non si accorgendo che non solamente è sottoposto a tal sentimento il rilevato e il depresso (che sono il rilevo della statua), ma ancora il molle e il duro, il caldo e ’l freddo, il delicato e l’aspro, il grave e ’l leggiero, tutt’indizi dell’inganno della statua.“ 194  Vgl. Contini 1991, S. 42.

275 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

126. Cigoli, Madonna del Rosario, sig.dat. ‚L.C. 1595‘, Öl auf Holz, 263 × 168 cm, Pontedera, SS. Jacopo e Filippo.

276 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Pferd steigt und seine prächtigen Kleider ablegt, darf er passieren.195 Cigoli zeigt den Kaiser allerdings nicht, wie etwa Cesare Nebbia, im weißen Unterkleid, sondern in einem braunen, mit einem Strick gegürteten Gewand, das eher an eine Kutte erinnert.196 Die Armut des Kleides tritt umso mehr hervor, als der gebeugte Herakleios zwischen einem reichgewandeten Priester und seinem stolz posierenden Pagen erscheint, der in einem prächtigen, modernen Aufzug im Vordergrund steht und die Krone hält.197 Die abgelegte Krone und das grün-rote, im Licht schimmernde Kostüm des Pagen sind Objekt der Bewunderung der im Vordergrund knienden Mutter, die mit zur Seite gestrecktem Arm, geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen ein Schulbeispiel einer raffaelesken AdmiratioFigur ist. Der Page lenkt ihren Blick über die Schulter zum Betrachter. Er weckt dessen Augenlust, um ihm gleich darauf bewusst zu machen, dass der eigentliche Held optisch zurückgenommen im Mittelgrund steht und auch der Betrachter sein Gewand ablegen muss, wenn er der Aufforderung Christi zur imitatio folgen möchte – „wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24). Cigoli malte das Bild ausgerechnet für den Altar der Florentiner Kreuz-Bruderschaft der Seidenweber, die Confraternità dei Tessitori e Torcitori di Seta.198 Damit wird die Figur des Pagen noch problematischer, denn er trägt die Kunst der Seidenweber und die malerische Virtuosität Cigolis zur Schau und erinnert zugleich daran, dass das wahre Gewand ein brauner Kittel ist. Das Verhältnis der Florentiner Autoritäten zu reichen Gewändern war nicht erst seit der Gegenreformation ambivalent. Einerseits bezog Florenz einen großen Teil seines Reichtums aus der Produktion und dem Handel mit Stoffen, andererseits mahnte nicht nur Savonarola zur Bescheidenheit.199 Schon im republikanischen Florenz waren Kleidervorschriften und Gesetze gegen den Luxus erlassen worden, die 1546, 1562 und 1568 erneuert wurden.200 Trotzdem zeigt gerade die Kreuz-

195  Vgl. de Voragine/Maggioni 1998, S. 932. Als Abschluss von Giovanni Maria Cecchis Esaltazione della Croce war die Episode 1589, im Vorfeld der Feierlichkeiten zur Hochzeit von Ferdinando de’ Medici und Cristina di Lorena, in der Florentiner Compagnia del Vangelista aufgeführt worden (vgl. Ferraro 1988). 196  Vgl. bspw. Agnolo Gaddi, Kreuztragung des Heraklius, um 1385–1387, Florenz, S. Croce. Zu Cesare Nebbias Fresko im Oratorio del SS. Crocifisso in Rom vgl. Richter 2009, S. 175. 197  In der im Zweiten Weltkrieg verlorenen Fassung für den Hauptaltar von S. Croce in Empoli hält ein Page sämtliche Gewänder des Königs. Foto in der Soprintendenza: Lastra 1104; Abb. in Chappell 1992, S. 42, Abb. 24c.; vgl. Chelazzi Dini 1963, Nr. 55. 198  Vgl. Matteoli 1985, S. 5. Zu den Handwerker-Bruderschaften vgl. Weissman 1982, S. 202. 199  Mehr als ein Viertel der Bevölkerung war in diesem Sektor beschäftigt. Zwar war der Export feiner Wollstoffe von der Rezession der Jahre 1581 bis 1585 beeinträchtigt worden, gleichzeitig aber prosperierten Rohwollhandel und Seidenherstellung (vgl. Cochrane 1973, S. 110–111 und Berner 1971, S. 212–214). 200  Noch 1638–1640 gab es 255 Prozesse wegen der Transgression der Luxusgesetze (vgl. Reimann 2007, S. 59).

277 2. Disegno und colore: Cigoli als „Correggio e Tiziano fiorentino“?

127. Cigoli, Kreuztragung des Heraklius, sig.dat. ‚L.C.1594‘, Öl auf Holz, 350 × 267 cm, Florenz, S. Marco, Florenz.

278 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

tragung des Herakleios, dass die Lust des Malers an Farbe und Textur nicht in den Versuchen der Theologen, den diletto sensuale für den diletto intelletuale oder spirituale zu vereinnahmen, aufgeht. Paleotti kritisierte komplexe Bilder, bei denen die Ungebildeten „auf der bloß farbigen Verständnisebene“ (in quella sola appresa colorita) verweilten und verlangte vom „Auge des Christen“, unter die Oberfläche zu dringen (l’occhio del cristiano deve penetrare più oltre).201 Doch in Cigolis Gemälde bleibt die Spannung zwischen Augenlust und Abkehr vom Irdischen, zwischen Kult und Kritik der Oberfläche unaufgelöst.

3. „Pennello o sca lpello“: Cigolis A natomiestudien Während Paleotti seine Leser auffordert, das Wahre unter der farbigen Oberfläche der Dinge zu suchen, wird von Künstlern zunehmend erwartet, nicht nur Oberflächen zu gestalten, sondern auch das „Darunter“ zu studieren: Die anatomische Sektion wird zur Bedingung nicht nur richtiger Körperdarstellung, sondern auch der Etablierung von Kunst als Wissenschaft.202 Schon Alberti hatte empfohlen, bekleidete Figuren erst nackt zu zeichnen und Aktfiguren die Haut „auszuziehen“, um Knochen und Muskeln richtig zu disponieren, bevor diese dann mit Fleisch „eingekleidet“ würden.203 Vasari erklärt die reale Enthäutung von Menschen für unentbehrlich, „um zu wissen, wie die Knochen darunter liegen, sowie die Muskeln und die Nerven mit allen Anordnungen und Begriffen der Anatomie, um mit größerer Sicherheit und Richtigkeit die Glieder im Menschen zu platzieren und die Muskeln in den Figuren anzulegen“.204 Dolce stimmt diese Anatomieversessenheit skeptisch, da sie Figuren hervorbrächte, die selbst wie écorchés erschienen: „Wer also detailliert die Muskeln erforscht, versucht die Knochen an ihrem Platz zu zeigen. Das ist löblich, aber oft stellt er den Menschen geschunden, ausgetrocknet und 201  Paleotti 1584/1961, S. 387: „Se direte che sotto vi stanno allegorie e sensi morali ascosi, si risponderà che questi sono noti a pochissimi e per la imbecillità nostra non causano i dovuti effetti, anzi mantengono gli animi bassi in quella sola appresa colorita.“ Und ebd., S. 388: „E se replicarete che le ville, le fontane et i palazzi si dipingono per mero diletto degli occhi, noi responderemo, come di già abbiamo detto, che l’occhio del cristiano deve penetrare più oltre, talmente che col diletto sia congionto il giovamento presente o subsequente.“ 202  Vgl. Joly 2008, S. 39 und Vasaris Lob der Gewänder Andrea del Sartos, die den Körperbau erkennen lassen (Vasari 2005, S. 570). 203  Alberti 2007, II.36, S.122: „… come a vestire l’uomo prima si disegna ignudo, poi il circondiamo di panni, così dipignendo il nudo, prima pogniamo sue ossa e muscoli, quali poi così copriamo con sue carni che non sia difficile intendere ove sotto sia ciascuno moscolo.“ 204  Vasari 1973, Bd. I, S. 172: „… così aver veduto degli uomini scorticati per sapere come stanno l’ossa sotto et i muscoli et i nervi con tutti gli ordini e termini della notomia, per potere con maggior sicurtà e più rettamente situare le membra nell’uomo e porre i muscoli nelle figure.“ Übers. nach Vasari 2006, S. 102.

279 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

128. Cigoli, Steinigung des Stephanus (Ausschnitt), braune und schwarze Tusche auf Papier, weiß gehöht, 42,2 × 28, 6 cm, Florenz, GDSU 1001 F.

hässlich dar.“205 Weit wichtiger sei es, „die Knochen mit saftigem und zartem Fleische zu bekleiden, als sie zu schinden“.206 Dass Cigoli den ersten Teil von Albertis Regel gelegentlich befolgte und bekleidete Figuren erst nackt zeichnete, zeigen etwa seine Studien für Herakleios und die eindrucksvolle Tuschezeichnung eines der Steiniger des Stephanus, unter deren transparenten Gewändern sich der nackte Körper abzeichnet. Mehr als an der Natur scheint sich Cigoli für die mit weißer Schraffur herausgearbeitete Muskulatur 205  Dolce 1557/1960, S. 142: „Chi adunque va ricercando minutamente i muscoli, cerca ben di mostrar l’ossature a luoghi loro: il che è lodevole: ma spesse volte fa l’huomo scorticato, o secco, o brutto da vedere.“ Übers. nach Dolce 1557/1970, S. 58. 206  Ebd., S. 174: „… è di assai maggiore importanza vestir l’ossa di carne polposa e tenera, che iscorticarle …“

280 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

129. Cigoli, Anatomische Studie, braune Tusche auf Papier, Florenz, GDSU 9000 F.

des Steinwerfers allerdings an Michelangelos Vorzeichnungen für die Schlacht von Cascina orientiert zu haben (Abb. 128).207 Doch auch realen Menschen zog Cigoli die Haut aus: Seit seiner Jugend sezierte er mit großer Begeisterung Leichen. Frucht seiner Studien sind zahlreiche Zeichnungen und der um 1600 entstandene scorticato im Bargello, der in den europäischen Akademien bis ins 18. Jahrhundert hinein Verwendung fand (Abb. 129–130).208 Baldinucci beschreibt 207

Vgl. Michelangelos weiß gehöhte Kreidestudie für einen Lanzenträger (Wien, Albertina Inv. 123v). 208  Vgl. Bucci/Forlani/Berti 1959, S. 43; Bucci 1969, S. 156–158 und Jaffé 1977, S. 51, der Cigolis Einfluss in Rubens’ écorché-Zeichnungen erkennt. U. a. firmiert 1808 ein Gipsabguss von Cigolis Scorticato im Inventar der Abgusssammlung der Münchener Akademie der Künste (vgl. Meine-Schawe 2004, Anhang 3). Die Liste der einschlägigen Literatur zu Écorchés ist relativ kurz. Den besten Überblick bieten Ameisenowa 1963 und Amerson 1975. Grundlegend zu Cigolis scorticato vgl. Wazbinski 1987a. Am 5.7.2000 wurde bei Sotheby’s ein gehäuteter Pfeilschütze als Werk Cigolis versteigert; angesichts fehlender Quellen erscheint die Zuschreibung jedoch fraglich.

281 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

die 65 cm hohe, 1678 in Bronze gegossene Wachsfigur in Alberti’scher Tradition als ein mit Muskeln „angezogenes“ Skelett: „Die Hüften, bis zur Scham, sind mit ihren Muskeln bekleidet, der Oberschenkel ist vom Beinmuskel bis zur Kniescheibe nackt, ebenso wie Unterschenkelmuskel und Schienbein.“209 Die Figur steht im Kontrapost; die Hüfte ist leicht zur Seite geschoben, das linke Bein etwas angewinkelt, der Fuß nur sachte aufgesetzt. Die rechte Hand berührt beinahe den Oberschenkel, der linke Arm aber ist weit über den Kopf gehoben, als wolle der écorché seine Betrachter begrüßen und dabei zugleich seine Muskeln in Aktion zeigen. Mehr als ein bloßes didaktisches Hilfsmittel ist der Gehäutete eine selbstbewusste Verkörperung des unter die Haut gehenden Forscherblicks. Bereits Ghiberti hatte Bildhauern die Teilnahme an Sektionen empfohlen, die Florentiner Künstlern seit 1303 erlaubt war. Michelangelo, Raffael und Bandinelli, vor allem aber Leonardo sezierten selbst.210 Mehr als 600 erhaltene Zeichnungen für einen geplanten Anatomietraktat belegen, wie sehr Leonardo sich nicht allein für die Disposition der Knochen und Muskeln, sondern 130. Giovanni Battista Foggini nach Cigoli, Scorticato, 1678, Bronze, 65 cm, für alle vitalen Vorgänge des Körpers interessierte.211 mit Elfenbeinsockel 71 cm, Florenz, Schon 1563, ein halbes Jahr nach der Gründung der Museo Nazionale del Bargello, Inv. 29 B. Accademia del Disegno, waren ihre Statuten um einen Paragraphen ergänzt worden, der die Akademiker zu einer jährlichen Sektion im Ospedale di Santa Maria Nuova verpflichtete.212 1578 präsentiert Stradano die Anatomie als obligatorischen Bestandteil der akademischen Ausbildung, und tatsächlich experimentierte Federico Zuccari in den in dieser Zeit entstandenen Vorzeichnungen für die Verdammten der Domkuppel mit enthäuteten 209 

Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 155: „L’anche fino al gallone son vestite de’ lor muscoli; il femore dal rotatore alla rotula è nudo, e la tibia e la tibula sono nella stessa maniera.“ 210  Erste Spuren künstlerischen Anatomiestudiums finden sich bereits 1301 in Pisanos Kanzel in Sant’ Andrea in Pistoia, vor allem aber in Maitanis Figuren an der Fassade des Doms von Orvieto. Vasari nennt Pollaiolo den ersten Künstler, der selbst Häutungen durchführte (vgl. Vasari 1568, Bd. VII, S. 146 und 151). 211  Zu Leonardo vgl. v. a. Laurenza 2009 und Kemp 1972. 212  Heikamp 1972, S. 298. Allgemein zur Anatomie vgl. Schultz 1985.

282 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

131. Cornelis Cort nach Giovanni Stradano, Die Künste des Disegno, 1578, Kupferstich, 44 × 29,5 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. 504-1981.

Figuren (Abb. 131–132). Auch Cigolis Lehrer Allori interessierte sich für die Anatomie des menschlichen Körpers, den er in zahlreichen Zeichnungen – inklusive einem zunächst von der Haut, dann auch von den Muskeln entkleideten Gekreuzigten – studiert und in seinem Libro de’ ragionamenti delle regole del disegno zur Nachahmung empfahl (Abb. 133).213 In Alloris eigenem Anatomiesaal im Kreuzgang von S. Lorenzo sezierte Cigoli schon früh mit solcher Leidenschaft Tag und Nacht Leichen, dass er sich eine schwere Krankheit zuzog, wegen derer er sich auf das Familiengut zurückziehen musste.214 Cardi und Baldinucci schreiben die Erkrankung dem Verwesungsgeruch, der ungesunden Haltung beim

213 

Vgl. Allori, Il primo libro de’ ragionamenti delle regole del disegno, in: Barocchi 1961, Bd. II, S. 1941–1981. Allori übernahm das Interesse von Bandinelli, der in S. Maria Nuova unter der Leitung Alessandro Menchis, dem ersten Arzt der Accademia del Disegno, Sektionen unternommen hatte (vgl. Lechini Giovannoni 1991, S. 310). 214  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 1r–v, S. 100 und Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 85: „… non so se per far compagnia al Maestro o pure per appagare suo gran genio in questi studj tanto necessarj all’arte sua, veniva fatto il passare i giorni, e talora l’intere notti fra quelle malinconiche operazioni …“

283 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

Sezieren und Zeichnen, aber auch dem furchtbaren Anblick zu (il … spavento e terrore di si fatti spettacoli).215 Auch wenn sie die Sektionen nicht als neutrale Untersuchungen, sondern als „melancholische Operationen“ (malinconiche operazioni) beschreiben, interpretieren beide Autoren Cigolis Krankheit nicht etwa als göttliche Strafe für das uner-

132.  Federico Zuccari, Scorticato, Ausschnitt aus einer Vorzeichnung für das Höllenfresko in der Kuppel von S. Maria del Fiore, um 1577, Rötel und Tusche auf Papier, London, British Museum.

laubte Eindringen in die Geheimnisse der Natur, sondern als leidenschaftliche Aufopferung für ein wissenschaftliches und künstlerisches Ideal. Ein ähnlicher Fall ist der Aretiner Künstler Bartolomeo Torri, der angeblich nicht nur wie besessen sezierte, sondern sogar Leichenteile unter seinem Bett versteckte – eine Praxis, die Vasari für seinen frühen Tod mitverantwortlich macht.216

215  Cardi 1628/2010, fol. 1v, S. 100: „… dimorando di continuo fra il fetore e schifezza de cadaveri, spavento e terrore di si fatti spettacoli,/ assiduità et attenzione nel disegnarli, fu nella detta stanza dal mal caduco così fieram[en]te assalito, che quasi un mese stette / di tal maniera sbalordito, et in particolare con la memoria offesa, che poco ò punto delle cose passate si ricordava.“ Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 85: „… far riparo alla violenza che facevano a’ suoi sensi gli odori corrotti, e gli spaventosi aspetti di quei morti, aggiunta l’immobile fissazione, con che egli gli andava osservando e disegnando, finalmente gli fu forza il cadere sotto il peso d’una mala sanità …“ 216  Vasari 1973, Bd. VI, S. 16; vgl. dazu Jacobs 2002, S. 439. Vasaris Bericht veranlasste Agostino Carracci zu einer polemischen Randnotiz gegen Maler, die über das sinnvolle Maß an Anatomiestudium hinaus im Inneren des Körpers jagen als seien sie Ärzte (zit. in Perini 1990, S. 158).

284 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

133. Alessandro Allori, Kreuzigung, Anatomiestudien, Florenz, GDSU 10309, 10256 und 10321 F.

Als der berühmte Leibarzt des englischen Königs, Theodore Mayerne, im Winter 1599 im Ospedale di S. Maria Novella Vorlesungen und Sektionen veranstaltete, wandte Cigoli sich erneut der Anatomie zu.217 Bald soll ihn eine „große Freundschaft“ mit dem 217 

Cardi 1628/2010, fol. 3r, S. 105: „In q[ues]to tempo Teodoro Maierne fiam/mingo eccellente notomista tagliando molti corpi nello Spedale di S. Maria Nuova gli porse comodità di a lungo disegnarne

285 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

auch an Pigmenten interessierten Arzt verbunden haben, der Henri Duc de Rohan auf einer diplomatischen Mission durch Italien begleitete und auch mit Orazio und Artemisia Gentileschi, Callot und Rubens in Kontakt stand.218 Cigoli erwarb dabei solch profunde Kenntnisse der Anatomie, dass ihm nach Einschätzung Baldinuccis niemand in der Handhabung von Pinsel oder Skalpell gleichkam (e’ non avesse pari fra quanti allora maneggiavano pennello o scarpello).219 Die Bemerkung, Cigoli habe seine Kenntnisse erneut „auf Kosten seiner Gesundheit“ (a gran costo di sua sanità) erworben, ist auch hier kein Vorwurf, sondern kürt Cigoli zum Märtyrer der Wissenschaft, der nicht bei der Erforschung der „hauptsächlichen Dispositionen der Teile, der Form und Lage der Muskeln, ihrer Drehung, Verbindung und ihrer Veränderung bei Bewegung“ stehenblieb, sondern darüber hinaus auch ihr Funktionsprinzip zu ergründen suchte, das Galileis Leibarzt, Girolamo Fabricio d’Acquapendente, 1611 in De muscoli artificio genauer beschrieb.220 Damit entspricht Cigoli dem von Aldrovandi und Armenini entworfenen Ideal eines Künstlers, der nicht nur das Äußere, sondern auch die inneren Organe kennt, die Cigoli in einem heute verlorenen sbozzo ebenfalls vor Augen gestellt haben soll.221 Die entscheidende Wende in der wissenschaftlichen Anatomie und ihrer Illustration hatte bekanntlich die Veröffentlichung von Andreas Vesalius Traktat De humani corporis fabrica im Jahr 1548 gebracht, der die bis dahin weitgehend unangefochtene Autorität Galens grundlegend unterminierte.222 Ab 1600 veröffentlichte Fabricio nach / nella quale occasione fece la sua Notomia di cera, la quale condusse con tale diligenza, et esquisitezza, che ha superato senza alcun’ dubbio ogn’altra, che antica ò moderna si sia veduta, et essendo così tenuto comunem[en]te è giudicata cosa de/gna d’esser assicurata con materia da resister meglio all’ingiurie del tempo, nella qual fatica havendo vista l’incate/natura dell’ossa, nervi, e legature, come anco da quelle i muscoli piglino principio, e come per lo lungo, o per obliquo, ò per tra/verso si distendino, et in che luogo sieno più ò meno carnosi, et alla fine convertendosi in téndoni si intreccino, e / nascondino, attaccandosi per mezzo delle legature all’osso, e quali nelle varie attitudini habbino offizio di muovere / più un membro che l’altro, e per tal cagione che gonfi e che abbassi, per il che variam[en]te mutandosi la forma e sito / loro …“ Datierung nach Bourla 2015, S. 331, Anm. 7. 218  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 114; vgl. Chappell 1971, S. 78; Davis 1967, S. 11–12 und Jaffé 1977, S. 51. 219  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 113. 220  Ebd., S. 114: Cigoli „… profondandosi sempre più nell’intelligenza delle principali disposizioni delle parti, della forma e positura de’ muscoli, del rigirare e congiungersi e variar de’ medesimi ne’ moti e – quel che è più – del loro principio, andava altresì perfezionando così bel lavoro.“ 221  Vgl. ebd., S. 155: „… dalle clavicole in là, ha un fil di ferro che doveva servire per l’ossatura del modello: la testa è abbozzata; ha lo scheletro, e dentro sono l’interiora …“ Zum Anspruch, auch das Innere zu kennen vgl. Aldrovandi am 3.11.1581, Mss. U. Aldrovandi 6, Bd. II, fol. 147v, UB Bologna, zit. nach Boschloo 1974, S. 114: „Et accio il pittore si faccia eccellentissimo, et instruttissimo nella pittura delle parti interiori bisogna che habbia conversatione con gli anatomici eccellentissimi et vedda con diligenza tutta la settione del corpo humano cosi interiore come esteriore …“ und Armenini 1587/1823, S. 76. 222  Einen Vorläufer hatten die Abbildungen in den Holzschnitten zu Berengario da Carpis Commentaria supra Anatomia Mundini von 1521 und seiner Isagogae Breves von 1522 (vgl. Kemp 1970). Pos-

286 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Abschluss seiner nie publizierten, eindrucksvoll kolorierten Tabulae anatomicae Teile seines Totius animalis fabricae theatrum mit präzisen Illustrationen.223 Sein Schüler William Harvey allerdings misstraute seinen Abbildungen und verzichtete in seiner Abhandlung De Motu Cordis, in der er 1628 erstmals den Blutkreislauf beschrieb, fast gänzlich auf Abbildungen.224 Der Aufschwung der Anatomie im 16. Jahrhundert ist zweifellos Ausdruck der Umwertung der Neugier, die Blumenberg als Kennzeichen der Epochenwende zur Neuzeit beschrieben hat und die in der wohlwollenden Kommentierung von Cigolis Erkrankung durch seine Biographen deutlich wird.225 Für Augustinus war gerade das Begehren, unter die Haut zu schauen, noch Inbegriff krankhafter curiositas: „Was Lust auch wäre dabei, einen zerfleischten Leichnam mit all seinem Grauen zu betrachten? Und doch, wenn irgendwo einer liegt, laufen sie hin, um sich zu entsetzen.“226 Obwohl die Sektion von Leichen nicht gegen christliche Dogmen verstieß, die Zergliederung von Heiligen gängige Praxis war und der Vatikan 1472 offiziell den medizinischen und künstlerischen Nutzen von Sektionen anerkannt hatte, waren die Vorbehalte vor allem in der Bevölkerung groß: Sektionen wurden nur an Verbrechern durchgeführt, die Zerstückelung galt als Entehrung.227 In Campanellas Città del Sole zeigen Sektionen jedoch weniger die Hinfälligkeit als die Vollkommenheit des menschlichen Körpers.228 Anatomie ist in der Sonnenstadt Religionsunterricht, der den Schöpfer in seinen Werken sichtbar macht. „Wer den Bau der Welt anschaue, die Anatomie des Menschen […], der Tiere und Pflanzen, und wer dabei auch auf den Nutzen ihrer Teile und Teilchen achte“, so der Fremdenführer, „der könne gar nicht anders, als sich mit erhobener Stimme zur Vorsehung Gottes bekennen“.229 Ähnliche Formulierungen finden sich bei Prospero Borgarucci, der die Einsicht in die göttliche Allmacht als den ersten Nutzen der Anatomie anführt.230 Im sevino allerdings empfiehlt den Malern noch 1594 die Galenlektüre zur anatomischen Schulung (vgl. Possevino 1594, S. 281). 223  Zanobio 1981, Bäumer 1991, Bd. II, S. 234–244, 292 und 306. 224  Vgl. die ausführliche Analyse in Zittel 2009, S. 261–262. 225  Vgl. Blumenberg 1988 und Daston 2003, S. 77–97. 226  Augustinus, Confessiones, X.35.55; 1987, S. 575: „Quid enim voluptatis habet videre in laniato cadavere quod exhorreas? Et tamen sicubi iaceat, concurrunt, ut contristentur, ut palleant.“ 227  Vgl. Bernabeo 1983, S. 31 und 34 und Park 1994, S. 1–33. 228  Vgl. Sommer 1996, S. 125. Andreae nennt den Leib einerseits „eine kleine Welt“ und „eine Zusammenfassung des Weltalls“, nimmt den „Anblick unseres Elends“ bei der Sektion aber vor allem zum Anlass, Christus um die Umwandlung der endlichen in Auferstehungsleiber zu bitten (Andreae 1977, S. 74–75). 229  Campanella 1602/2008, S. 63. 230  Borgarucci 1564, S. 12. Die anderen sind das Erkennen und Heilen von Krankheiten und die Einsicht in den Aufbau des Körpers. Auch Melanchthon spricht sich für Sektionen aus, die den Menschen nicht nur über sich selbst, sondern auch über den göttlichen Schöpfungsplan Gottes informieren (vgl. Kemp/Wallace 2000, S. 14).

287 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

Rückgriff auf Platons Timaios und Galen nennt er den Menschen „eine kleine, eine vollkommene Welt“ (un picciolo, un perfetto mondo), deren geheime Wunder man am aufgeschnittenen Körper betrachten könne (tagliando a co[n]templare i miracoli secreti di natura).231 Der hohe Rang der Anatomie, so Giovanni Paolo Crasso im Vorwort, verdanke sich dem Wert des menschlichen Körpers, der von allem Geschaffenen inklusive der Himmelskörper der vornehmste sei.232 Die in diesem Paragone von Leib und Sternen aufgerufene Nähe von Anatomie und Astronomie wird auch in der burlesken Titulierung Galileis als einem „modernen Anatomen“ bei der Observation der „Venus“, sowie in Galileis eigenem Vergleich von Geometrie und Anatomie deutlich, die seines Erachtens beide auf ihre Weise Theorie und Praxis verquicken: Ebenso wie der Anatom ein guter Arzt sein könne, könne auch der Geometer ein guter Ingenieur sein.233 Im Dialogo stellt Galilei die Großartigkeit des „aus so vielen Muskeln, Sehnen, Nerven, Knochen gefügten“, bewegungsfähigen Körpers interessanterweise gerade durch den Vergleich mit dem quasi göttlichen Vermögen Michelangelos heraus, Statuen im Stein zu entdecken. Zugespitzt heißt es: „Können wir nicht mit gutem Grund sagen, dass die Herstellung einer Statue unendlich weit von der Schöpfung eines lebendigen Menschen entfernt ist, ja sogar von der eines gemeinen Wurms?“234 Die beiden neuen Leitwissenschaften Anatomie und Astronomie teilten zudem das Ideal der autoritätskritischen, empirischen Beobachtung. Geglaubt wurde – zumindest dem Anspruch nach – nur noch, was man „mit eigenen Augen“ (per autopsia) gesehen

231 

Borgarucci 1564, S. 2. Ebd., o. S.: „Imperoche è nobilissimo, havendo oggetto & materia il corpo humano, di tutti i corpi creati (comprendendo anche le sfere celesti) nobilissimo.“ 233  Galileis polemische Antwort auf den Rat eines Arztes, der Anatom Aquapendente solle sich nicht als Heiler versuchen, lässt auf konkrete Erfahrungen mit Sektionen schließen: „Io gli risposi che, av[en]do più volte ricevuta la sanità dal sommo valore del Sig. Aqquapendente, potevo deporre e far sempre fede che Sua Eccellenza mai non mi dette bevanda alcuna composta di diapalme, di caustici, di fila, di pezze, di tente, di rasoi, nè mai, in vece di tastarmi il polso, mi fece un cauterio o mi cacciò un dente di bocca, ma, come eccellentissimo fisico, mi purgò con manna, cassia, rabarbaro, ed usò gli altri rimedii opportuni alle mie indisposizioni“ (Opere, Bd. IV, S. 50). Das 1613 kreierte Wortspiel Astronom/ Anatom stammt von dem Florentiner Burleskendichter Alessandro Allegri. Zu seiner Mischung aus „elite knowledge and lower-class foolery“ vgl. Reeves 2009, S. 193–194. 234  Opere, Bd. VII, S. 128: „Non direm noi che ’l sapere scoprire in un marmo una bellissima statua ha sublimato l’ingegno del Buonarroti assai assai sopra gli ingegni comuni degli altri uomini? […] e però che cosa è in comparazione d’un uomo fatto dalla natura, composto di tante membra esterne ed interne, de i tanti muscoli, tendini, nervi, ossa che servono a i tanti e sì diversi movimenti? […] non possiamo noi dire, e con ragione, la fabbrica d’una statua cedere d’infinito intervallo alla formazion d’un uomo vivo, anzi anco alla formazion d’un vilissimo verme?“ Sforza Pallavicino hat den Vergleich 1665 aufgegriffen und schießlich die um eine Berninibüste surrende Fliege als dem lebendigen Modell we­sentlich ähnlicher bezeichnet als den behauenen Stein (vgl. Delbeke 2012, S. 29). 232 

288 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

hatte.235 Aldrovandi beispielsweise versichert in seiner Naturgeschichte nichts zu schreiben, was er nicht mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Händen berührt und seziert habe.236 Dementsprechend verlangt er auch vom Künstler, nur mit dem Modell vor Augen zu zeichnen.237 Doch das Pathos der Unmittelbarkeit bezieht auch die Skepsis gegenüber Abbildungen ein. Trotz seiner aufwändigen Illustrationen betont Vesalius die Unerlässlichkeit eigener Beobachtung: „Ich meine, dass es nicht nur schwierig, sondern komplett sinnlos und unmöglich ist, zu hoffen, einzig durch Bilder oder Tabellen zu einem Verständnis der Teile des Körpers […] zu gelangen, auch wenn niemand bestreiten wird, dass diese hierbei überaus helfen, das Gedächtnis zu stärken.“238 Trotzdem waren Bilder äußerst nützlich für die Teilnehmer der Sektionen. Denn obgleich sie nicht mehr in der bloßen demonstratio von verlesenem Buchwissen bestanden, war es schwierig, im Durcheinander des zerschnittenen, blutigen Körpers Details und Zusammenhänge zu erfassen. Erkennen lässt sich – ähnlich wie im Falle der durch das kleine Sichtfeld der Fernrohre fragmentierten Mondoberfläche – vor allem das, was man anhand der klärenden und synthetisierenden Illustrationen zu sehen gelernt hat; Theorie und Empirie sind stets verschränkt.239 „Die Abbildungen allein“, so Claus Zittel, „verifizieren oder bestätigen nichts. Die Beglaubigung des Beobachteten obliegt bei der Sektion den Teilnehmern“.240 Dabei jedoch galt nicht ein Auge gleich dem anderen; die Glaubwürdigkeit der Zeugen war, wie bei Visionen und in der Astronomie, an ihr soziales standing gebunden.241 Vor diesem Hintergrund geht Zygmunt Wazbinski so weit zu vermuten, dass Cigolis scorticato gar nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit Mayernes Sektionen entstand, sondern im Wesentlichen auf die von Leonardo im Ospedale von S. Maria Nuova zurückgelassenen Zeichnungen des von ihm sezierten Hundertjährigen zurückgeht (Abb. 134– 135). Als Indiz führt er die noch Galen verhaftete Anatomie der Schultermuskulatur an, die Cigoli nicht ‚autoptisch‘ beobachtet, sondern von Leonardo übernommen haben könnte.242 Auch der erhobene Arm könnte von Leonardo angeregt sein, der in zwei bekannten Zeichnungen Rumpf und Arm aus je vier Ansichten in 30°-Schritten präsen235 

Borgarucci 1564, Proemio, o. S. Zur autopsia als Strategie, den Betrachter zum Augenzeugen zu machen, vgl. Behrmann/Priedl 2014 passim und S. 15. 236  Mss. U. Aldrovandi, 91, fol. 508r, UB Bologna: „… non iscrivendo cosa alcuna, che co’proprii occhi, io no habbi veduto, et con le mani mie toccato, et fattone l’Anatomia, così delle parti esteriori, come interiori …“ Zit. nach Boschloo 1974, S. 113. 237  Brief vom 3.11.1581, in: Mss. U. Aldrovandi, 6, Bd. II, fol. 147v., UB Bologna: „… deve molto bene considerare il pittore in tutte queste cose et havere il modello avanti gli occhi, accio lo possa imitare et dipingere al vivo …“ Vgl. auch den Brief vom 21.8.1581, ebd., fol. 129r/v. 238  Vesalius 1538, Dedicatio; Illustrationen von Joannes Stephanus von Calcar; Übers. nach Zittel 2009, S. 256. 239  Zur synthetischen Funktion der Zeichnung vgl. Bredekamp 2007, S. 113. 240  Zittel 2009, S. 356. 241  Vgl. ebd. 242  Wazbinski 1987a, S. 195–196.

289 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

134.  Leonardo da Vinci, Hals- und Schultermuskulatur, 1509-1510, Windsor, RL 19003r (A4r).

tiert und sich vornimmt, das Ganze für einen erhobenen, einen gesenkten, einen vor- und einen zurückgestreckten Arm zu widerholen.243 Wazbinskis These mag den Sachverhalt überspitzen: Lisa Bourla, die dem scorticato eine eingehende Studie gewidmet hat, konnte etwa zeigen, dass Cigoli nicht nur die Richtung der Muskelfasern, sondern erstmals auch die Lymphknoten in der Leiste dargestellt hat.244 Trotzdem ist es nicht unplausibel anzunehmen, dass die Kenntnis von Leonardos Zeichnungen Cigolis Blick auf die Sektionen informiert haben könnte. Zu Recht erinnert Wazbinskis These an die intrinsische Verschränkung von Sehen und Wissen und die Tatsache, dass jede Beobachtung und vor allem jede graphische oder plastische Umsetzung ikonographischen Vorbildern folgt.

243  Vgl. O’Malley/Saunders 1982, Nr. 47, S. 134. Domenico Laurenza erklärt Cigolis Nähe zu der Leonardozeichnung als entferntes Echo von Pontormos Interesse an Leonardos Anatomiestudien. Cigolis écorché wäre dann ebenso wie die von Laurenza publizierte Zeichnung eines offenbar lebensgroßen Gehäuteten im Metropolitan Museum (Inv. 1880.80.3.105) ein später Abkömmling von Pontormos Anatomiestudien (vgl. Laurenza 2012, S. 34–35). 244  Vgl. Bourla 2015, S. 324.

290 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

135.  Leonardo da Vinci, Schulter- und Armmuskulatur, 1509–1510, Windsor, RL 19008v (A9v).

Damit ergibt sich eine Parallele zu Cigolis Darstellung des Mondes in der Paolina, die im gleichen Maße auf Galileis Darstellungen wie auf eigene (von den Zeichnungen informierte) Teleskopbeobachtungen und auf die Auseinandersetzung mit der ikonographischen Tradition zurückgeht. Leonardos Zeichnungen waren jedoch nicht die einzigen Vorbilder, an denen Cigoli sich orientieren konnte. Schon Vesalius’ Stecher, der wohl aus dem engeren Umkreis Tizians stammte, zeigt das schrittweise Abtragen der Hautschichten, wobei er das Makabre der Darstellung durch Reverenzen an die klassische Malerei abzumildern suchte (Abb. 136).245 Seine Illustrationen wurden vorbildlich für Gaspare Becarras Holzstiche in der 1586 ins Italienische übersetzten Historia de la composizion del cuerpo humano des spanischen Anatomen Juan Valverde de Humasco, unter denen sich auch eine Figur findet, der offenbar eine „Autovivisektion“ gelungen ist (Abb. 137).246 Das Messer in der 245 

Vgl. dazu Bohde 2002 und Kemp 1970, S. 277–288. Vgl. Roberts/Tomlinson 1992, S. 211 und Szladits 1954, S. 420–427. Ähnliches demonstriert Giulio Bonasone, der in Anlehnung an Vesal eine Serie von 14 gehäuteten bzw. sich in Anspielung auf das nosce te ipsum selbst häutenden Figuren entwarf, die sich heute in der BNCF befindet (vgl. dazu Massari 1983, S. 109). 246 

291 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

136. Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica, Basel 1555, S. 214.

137. Gaspare Becerra, Scorticato mit eigener Haut, Holzschnitt, in: Juan Valverde de Humasco, Historia de la composizion del cuerpo humano, Rom 1559, S. 64.

Linken, präsentiert sie in Apollo-Pose ihre abgezogene Haut und verschmilzt so, wie Claudia Benthien treffend bemerkt, mit Marsyas zu einer Figur.247 Die paradoxe Verbindung von Leben und Tod in den scorticati ist schon häufig beschrieben worden: „Die Kompaktheit der Muskulatur, die Absenz des Blutes und nicht zuletzt die mangelnde Farbigkeit des Drucks“, so Silke Kurth, „evozieren eine künstliche Erscheinung der Anatomien, die gehäutet sind und doch unverletzt scheinen, die geöffnete Körper aufweisen und doch abgeschlossen und ‚fertig‘ wirken“.248 Die blutrote Färbung von Cigolis Wachsfigur jedoch macht das Fehlen jedes Anzeichens von Schmerz noch auffälliger. Die Figur ist ein faseriges Bündel aus Widersprüchen: Der Gehäutete scheint zu leben, sein Körper ist, wie Marsyas, „nichts als Wunde“, doch sein Geist spürt keinen 247 

Valverde 1556, Buch II, Tafel 1, S. 64; vgl. dazu Benthien 2000, S. 339. Kurth 2009, S. 307. Lisa Bourla vergleicht die ambivalente Lebendigkeit der Figur mit dem von Edgar Allen Poe geprägten Paradox der Aussage „I am dead“ (Bourla 2015, S. 323). 248 

292 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Schmerz.249 Das hier wohl erstmals für eine Anatomiefigur verwendete rote Wachs wird nicht nur wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Fleisch gewählt, sondern auch wegen seiner Eignung für präzises Arbeiten.250 Zugleich erinnert es an ex voti, deren Anblick Cigoli angeblich kaum ertragen konnte.251 Einen Vorläufer beim Einsatz von Farbe für einen écorché hat Cigolis Figur in den antiken Statuen des geschundenen Marsyas aus rotem Porphyr, insbesondere jenem Torso am Eingang zum Garten Cosimos I., dessen Bedeutung für die Florentiner Kunst Frederika Jacobs eindrucksvoll gezeigt hat.252 Das von Vasari bewunderte Verfahren, mit dem der antike Bildhauer die Adern des farbigen Steins einbezog, findet sich auch in Marco d’Agrates Heiligem Bartholomäus vom Mailänder Dom aus dem Jahr 1562, dessen geäderter Marmor der sonst wohlproportionierten Ge­ stalt eine viszerale Qualität verleiht.253 Während Michelangelo den Hl. Bartholomäus in der Sixtina bekanntlich mit seiner Haut in der Hand, aber im unversehrten Auferstehungsleib präsentierte, nutzte Bronzino 1556 einen Bartholomäus als Demonstrationsobjekt seiner anatomischen Kenntnisse: Hautlos, aber mit lebendigem, tränenfeuchten Auge kniet er betend vor einem (heute verlorenen) Cristo nudo (Abb. 138).254 1575 begeisterten sich die Zuschauer einer allegorischen Prozession zum Heiligen Jahr über einen Hl. Bartholomäus, dessen abgezogene Haut der Natur so ähnlich gewesen sei, dass sie „dem Wahren mehr glich als dem Falschen“.255 Cigoli hingegen verzichtet bei seinem scorticato auf jeden mythologischen oder biblischen Vorwand und präsentiert ihn in einer ruhigen, unaufgeregten Pose. Erste plas-

249 

Ovid, Metamorphosen, VI.388. Die Anregung zur Verwendung von Wachs vermutet Bourla in der Wachs-Ton-Technik der Vogelmodelle Giambolognas, dessen Statue eines gehäuteten Pferdes Cigoli zur Schaffung eines écorché angeregt haben könnte (vgl. Bourla 2015, S. 322 und 320). 251  Zur Nähe von Anatomie und Reliquienkult vgl. Böhme 2003, S. 110–139 und Kurth 2009, S. 309. Ausführlicher zu der von Baldinucci (1812, Bd. IX, S. 147) überlieferten Votiv-Anekdote in Kap. VI.3. 252  Vgl. Jacobs 2002, bes. S. 429–430. Eine Anspielung auf das Gartenportal mit zwei Marsyasfiguren fand sich auch auf Michelangelos Katafalk (Abb. S. 427). 253  Vgl. Vasari 1973, Bd. III, S. 367. 254  Vgl. Falciani/Natali 2010, S. 312. Vgl. auch die Darstellung der „Maritri scorticati“ in Gallonio 1591, S. 128/129. Ulisse Aldrovandi hatte Paleotti gegenüber das künstlerische Anatomiestudium explizit mit der korrekten Darstellung von Martyrien (bes. des Hl. Erasmus) verbunden (vgl. Aldrovandi/ Barocchi 1961, Bd. II, S. 511–517 und dazu Behrmann 2014, S. 89). Umgekehrt war die Autopsie von Heiligen seit dem 13. Jahrhundert verbreitet und wurde u. a. auch bei Filippo Neri und Carlo Borromeo durchgeführt (vgl. Burzer 2011, S. 20–21). 255  So der Chronist Angelo Pientini, zit. nach Wisch 1990, S. 87: „… & come dicevano quelli che la [pelle] vedero più da presso, si scorgevano insino le palpebre & l’altre parti del volto, & nella pella come nella persona le tagliature & scorticature cosi ben fatte, & talmente simili al naturale, che assimigliava più al vero che al finto.“ 250 

293 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

tische scorticati gab es laut Joseph Meder seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.256 Bekannt wurden jedoch vor allem die stark bewegten Statuetten Bandinellis und Pietro Francavillas aus der Zeit um 1576, die nicht nur als Studien-, sondern auch als Sammlerobjekte fungierten (Abb. 139–140).257 Doch bei Cigoli ist nichts zu spüren von dem Pathos dieser manierierten Figuren oder dem memento mori von Zuccaris armen Seelen in der Domkuppel, nichts von einer neoplatonischen Deutung, wie sie noch kurz zuvor Melchior Meier und Stradano präsentiert hatten, die die Häutung des Marsyas wie eine Sublimierung präsentierten.258 Im Vergleich besonders mit den Mus­­kelmännern bei Valverde und Vesal ist Cigolis Figur schlank, fast schmächtig. Auf den schmalen Schultern wirkt der Kopf groß, die Beine und das flache Gesäß verweisen auf einen jungen Athleten. Am ehesten erinnert seine Statur wohl an Michelangelos 138.  Bronzino, Hl. Bartholomäus (Fragment), David – in demonstrativer Abgrenzung von 1556, Öl auf Holz, 115,7 × 93,7 cm, Rom, den gefeierten ignudi.259 Ein nicht angespannGalleria dell’Accademia Nazionale di San ter Muskel, das wird demonstriert, ist flach, Luca, Inv. 423. eine leichte Kraftanstrengung wie das Armheben rechtfertigt nur ein leichtes Anschwellen. Schon Leonardo hatte bekanntlich gegen Zeichner polemisiert, deren Aktfiguren eher einem „Sack mit Walnüssen“ oder einem „Bündel Rettiche“ glichen.260 Federico Borromeo echauffiert sich über die Künstler, die einzelne Gliedmaßen so akribisch zeigen, „als wollten sie anatomische Tafeln zur

256 

Vgl. Meder 1919, S. 226–227. Ein Bronzeabguss von einer der drei scorticati Francavillas befindet sich heute im Museum der Jagiellonen-Universität in Krakau (vgl. Ameisenowa 1963, S. 49–54). Boscolis expressive Zeichnung der Figur mit zurückgeworfenem Kopf und vorgehaltener Hand befindet sich im GDSU 8228 F (vgl. Joly 2008, S. 47). Francavilla verfasste auch einen Traktat mit anatomischen Abbildungen, Il Microcosmo, und entwickelte eine Figur, bei der Haut und Muskeln schichtenweise geöffnet werden konnten (vgl. Baldinucci 1846, Bd. III, S. 65). 258  Vgl. Baldinucci 1846, Bd. III, S. 65 und Benthien 2000, S. 337–338 und 345–346. 259  Vgl. schon Laurenza 2012, S. 34. 260  Leonardo/Richter 1883, Bd. IV, S. 107–108. 257 

294 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

139.  Baccio Bandinelli (zugeschr.), Scorticato, Bronze, 51 cm, Paris, Musée des Arts Decoratifs.

140.  Pietro Francavilla, Scorticato, Bronze, um 1576, Krakau, Uniwersytet Jagiellonski.

Wundheilung schaffen statt Anreize zur Religion“.261 Von solchen Kritiken abgesehen, entspricht Cigolis schmächtige Statuette dem medizinischen Ideal. Denn auch wenn Borgarucci prinzipiell alle Leichen für die Sektion geeignet hielt, bevorzugte er junge, mittelgroße, „gemäßigte“ Körper (un corpo temperato, cioè ben carnoso, di mediocre statura, & giovane).262 Mehr noch als die Künstler zu eigenen Sektionen anzuregen, scheint es Cigolis Anliegen gewesen zu sein, eine mehr oder weniger verbindliche Norm vorzugeben und eine praktische Hilfestellung zu leisten.263 Der erhobene Arm garantierte dabei größtmögliche Sichtbarkeit und erlaubte Cigoli im Rekurs auf Leonardo einen Seitenhieb auf die muskulösen ignudi. Darüber hinaus aber ist der erhobene Arm möglicherweise auch eine Anspielung auf einen von Hans Körner wiederentdeckten Paragone. Die „braccia in 261  Borromeo 1624/2010, I.12, S. 52: „Nonnulli rursus singulas corporis partes articulosque et flexus et compages ita ostentant, quasi tabulas anatomisticas sanandis vulneribus, non quasi incitamenta religionis exhibere vellent.“ Vgl. dazu Jones 1993, S. 111. 262  Borgarucci 1584, S. 10. 263  Vgl. Wazbinski 1987a, S. 190.

295 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

141. Michelangelo, Trunkener Bacchus, um 1496/1497, Marmor, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

142.  Jacopo Sansovino, Bacchus, 1510–1512, Marmor, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

143.  Pietro Francavilla, Apollo als Sieger über Python, 1591, Marmor, Baltimore, Walters Art Museum.

aria“ stellte eine Herausforderung an Bildhauer dar, die von Malern mühelos gemeistert wurde. Gerade mittels dieses Motivs ließ sich die Überwindung der Begrenzungen des Materials demonstrieren.264 Jacopo Sansovino beispielsweise hatte Michelangelos trägen Bacchus durch seinen dynamischen Gott mit hochgerissener Weinschale zu übertreffen versucht, Pietro Francavilla das Motiv für seinen Apoll adaptiert (Abb. 141–143). Matteoli erkennt ein Vorbild für Cigolis écorché in der Bronzestatue eines antiken Redners, dem sogenannten Arringatore, der mit flach erhobener Hand seine Zuhörer adressiert (Abb. 144).265 Bocchi beschreibt die 1566 in Perugia aufgefundene und in der Medicisammlung ausgestellte Bronzestatue ausführlich. Die Figur werde für einen Redner gehalten, der mit solcher Lebendigkeit öffentlich spreche, dass die Natur selbst ihn zu

264  Körner 2003, S. 226–231. Nicht zufällig ist der erhobene Arm eines Cigoli zugeschriebenen anatomischen Wachsmodells, das 2013 bei Hampel versteigert wurde, abgebrochen und falsch angesetzt worden (Lot 207). 265  Etruskisch, 1. Jh. v. Chr, rechter Arm restauriert, bis 1588 im Palazzo Pittti, danach in den Uffizien, heute im Museo Archeologico in Florenz; vgl. Census Nr. 155496. Den Vergleich zieht Matteoli 1974, S. 150.

296 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

bewegen scheine.266 Die Geste von Cigolis scorticato geht über das in der Druckgraphik verbreitete Spiel mit der paradoxen Lebendigkeit des Gehäuteten hinaus, denn der lebende Tote scheint seinen Betrachter zu bemerken, ja sogar mit ihm zu sprechen. Durch den leicht geöffneten Mund und den Kontrapost wirkt Cigolis Figur lebendiger als der hohläugige Redner. Dass sie sich vollständig reanimieren und wieder „ankleiden“ ließ, zeigt die von Bourla aufgezeigte Verwendung des scorticato für Cristofano Alloris Bild eines Fährmanns, der mit erhobenem Arm die Stakstange führt.267 Lebende Tote inszeniert Cigoli jedoch auch in ganz anderen Kontexten, etwa in einem um 1592 entstandenen Andachtsbild in der Galleria Corsini, das Baldinucci „nach dem Leichnam Christi selbst“ gemalt zu sein scheint (Abb.  145).268 Doch die aschfahle Haut, die geschlossenen Lider und der 144. Statue des Aulus Metellus (sog. zurückgesunkene Kopf treten in eine eigenartige Arringatore), etruskisch, 90–80 v. Chr., Spannung zu der ostentativen Geste, mit der der 179 cm, Florenz, Museo Archeologico. Tote seine Seitenwunde aufschiebt. Der tiefe Lanzenstich ist just über den unteren Bildrand und nah an die ästhetische Grenze gesetzt. Anders als in Caravaggios Ungläubigem Thomas legt Cigolis Christus den Finger selbst in die Wunde und animiert zu einem zugleich verifizierenden und gerührten Blick. Im Gegensatz zu Thomas, der erst glauben will, was er anfassen kann, wird Cigolis Betrachter als ein Christ angesprochen, der glaubt, was er mit geistigem und leiblichem Auge zugleich sieht. Neben der Anatomiefigur und dem Schmerzensmann bilden Cigolis Zeichnungen bewegter Skelette eine dritte Spezies lebendiger Toter. Die zahlreichen, wohl nicht in Sektionen, sondern anhand eines Ateliergerippes angefertigten Skizzen dienten nicht nur 266 

Bocchi 1591/1971, S. 46: „In testa della Galleria verso il Palazzo si vede una statua di bronzo, stimata, che alle fattezze, & al sembiante sia uno Scipione, che sembra, che favelli publicamente, con prontezza così viva, così fiere, così sciolta, come avviene in chi è vivo, che mosso dalla natura con viva attitudine adopera. 267  Die Gastfreundschaft des Hl. Julian, 1612–1618, Öl auf Leinwand, 259 × 202 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. 1912/41; vgl. Bourla 2015, S. 329–330. 268  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 94. Die Pastellfassung ist oberhalb der Wunde beschnitten (vgl. Faranda 1986, S. 122, Nr.  13a–b). Zur Parallelisierung von Wunde und Schnitt im Bildträger vgl. Bredekamp 2010, S. 261–263.

297 3. „Pennello o scalpello“: Cigolis Anatomiestudien

145. Cigoli, Christus mit Seitenwunde, 1592, Öl auf Leinwand auf Holz, 66 × 51 cm, Florenz, Galleria Corsini.

dem Studium des Knochenbaus, sondern wurden auch für Beerdigungsfeierlichkeiten eingesetzt. Die wohl im Zusammenhang mit den Gedenkfeiern für Philipp II. in S. Lorenzo 1598 und für Ferdinando I. in Rom 1609 entstandenen Skelette re-narrativieren den im scorticato wissenschaftlich gebannten Tod (Abb. 146).269 Ein Zeitgenosse beschreibt die Figuren als „zwei große, schaurig bis zum Boden in dunklen Stoff gehüllte Leichname“ mit Spruchbändern, die dem Verstorbenen einen ruhigen Schlaf wünschen (Dormivi et Requievi) bzw. in dessen Namen um ewige Ruhe für seine Seele bitten (Convertera anima mea in requiem).270 Die Vitalität der scheletri animati erinnert an Cigolis, auf eine Formulierung in Augustinus’ Bekenntnissen zurückgehende Notiz: „Questa Vita mortale  / Questa Morte vitale“.271 Mit Ausnahme solcher Skelette muss der sezierte Körper in Gemälden in drei Schritten wieder bekleidet werden: mit Muskeln, Haut und Gewändern. Damit ver269 

Vgl. GDSU 8993 F, 1992 S und 8992 F; vgl. Ciardi/Tomasi 1983, Kat. Nr. 37–39. Strozzi 1609, S. 6, zit. nach Ciardi/Tomasi 1983, S. 90: „… sopra un proporzionato quadro tutto coperto di nero, si vedeva la cassa, tenuta in mezo da due gran morti di rilievo, che horridamente ammantate fino a terra d’oscuro cotone le sedevano dalle bande, e con funestosa maniera spiegavano una per ciascuna gl’infrascitti motti: Dormivi et Requievi. Convertera anima mea in requiem.“ Vgl. GDSU 8992 F. 271  GDSU 8865 Fv; vgl. Augustinus, Confessiones, I.6.7; 1987, S. 20: „Quid enim est quod volo dicere, domine, nisi quia nescio, unde venerim huc, in istam dico vitam mortalem an mortem vitalem?“ 270 

298 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

146. Cigoli, Skelett mit Mantel, 1609, Bleistift, Rötel und Kreide auf gefärbtem Papier, 30,8 × 20,7 cm, Florenz, GDSU 8992 F.

schiebt sich der Schwerpunkt von der Zeichnung zum Kolorit. Armenini assoziiert die Haut ausdrücklich mit der Farbe, die beide dem Körper erst einen angenehmen, weichen Anblick verliehen.272 Vasari feiert Raffael für sein Vermögen, Farbe in Fleisch zu verwandeln; Reni scheint Rubens’ Farbe mit Blut gemischt zu sein.273 Nicht nur Mimik und Gestik, auch die Haut lässt Charakter, Lebensumstände und Emotionen sichtbar werden.274 In diesem Sinne legt Cigoli großen Wert auf Inkarnate. In der Steinigung des Stephanus beispielsweise haben die Steiniger (in Entsprechung zu Lomazzos „Farbphysiologie“, die jedem Temperament bestimmte Farbwerte zuordnet) eine dunkle, rötliche Hautfarbe, während das blasse Gesicht des Heiligen engelhaft bleich leuchtet (vgl. Abb.  59).275 Neben Charaktereigenschaften kann das Inkarnat aber auch vorübergehende Affekte wie

272  Armenini 1587/1823, S. 76: „Di poi vien la pelle, che cuopre ogni cosa, la quale la natura ha fatto molle e delicata, sparsa di belle e vaghe varietà dei colori; la qual coperta fa che tutto il componimento del corpo riesce piacevole, vago e maraviglioso …“ 273  Vgl. Vasari/Masselli 1832–1838, S. 501. Zu Reni vgl. Heinen 2001, S. 76. 274  Vgl. Kruse 2000, S. 305–325. 275  Vgl. Lomazzo 1584, II.4, S. 114.

299 4. Perspektive: Körper und Raum

Erregung oder Trauer anzeigen.276 Die wollüstigen Wangen von Potiphars Frau sind gerötet; aus der Haut Marias unter dem Kreuz hingegen ist alles Blut gewichen (vgl. Abb. 170, 113). Im Ecce Homo schließlich wird die geschundene Haut zu der mit colpi bedeckten Leinwand – eine Technik, die insbesondere Rubens für seine Darstellung des Themas nach seiner Rückkehr aus Italien übernahm (vgl. Abb. 231).277

4. Perspektiv e : Kör per und R aum Neben der Anatomie war die Perspektive das wichtigste Ingrediens eines ‚richtigen‘ Bildes. Und wie mit dem scorticato versuchte Cigoli auch hier, Künstlern eine anwendungsorientierte Norm an die Hand zu geben. Diesen Anspruch markiert seine zur Publikation vorbereitete, aber erst im 20. Jahrhundert edierte Prospettiva Pratica bereits im Titel (Abb. 147).278 Cigolis Interesse gilt dabei weniger der räumlichen Tiefe als den haptischen Körpern. Damit entfernt er sich ebenso weit von den architektonischen Bildbühnen der Renaissance wie von den Figurenteppichen der Manieristen. Seine nah an die Bildebene gesetzten Gestalten erscheinen als autonome Akteure. Von ihnen her entfaltet sich der Raum, und darauf, sie in ihrer irregulären Form richtig abzubilden, zielt sein Ehrgeiz.279 Vor allem für die Darstellung des menschlichen Körpers, „die schwierigste unter den schwierigen“ Aufgaben, hält Cigoli die traditionellen perspektivischen Verfahren für ungenügend.280 Bloß nach Augenmaß (a occhio e a caso) zu arbeiten, widerspräche jedoch seinem Gelehrtenethos.281 Ein Hilfsmittel bietet der von ihm entwickelte Prospettograph, dessen Gebrauchsanleitung Cigoli in Anspielung auf die „due regole“ 276 

Zur Veränderung der Gesichtsfarbe durch Gefühle wie Scham, Furcht, Schmerz oder Freude vgl. Borghini 1584, S. 36–37. 277  Zu Rubens’ Ecce Homo (um 1610, Eremitage) vgl. Jaffé 1977, S. 51. Ulrich Heinen hat die Verfahren beschrieben, mit denen Rubens die „Malhaut“ der Leinwand wie die Körperhaut „zum Auftrittsort der Affekte“ macht, und auf parallele Entwicklungen in der Dermatologie verwiesen (vgl. Heinen 2001, S. 76–79). 278  GDSU Ms. 2660 A; publiziert von Profumo 1995; kritisch editiert in Camerota 2010 (zit. als Cigoli 1628/2010). 279  Vgl. ebd., fol. 83r, S. 285 und fol. 93v, S. 309: „… con maggior facilità si possa ritrarre non/ solo tutto quello che è ordinato con l’altre regole, ma quello che più importa si potrà immitare con somma esquisitezza / una figura umana, ò qualunque altro corpo irregulare, cosa che per le solite regole far non si puote, od’/ al meno non senza infinito tedio, e fatica …“ 280  Ebd., fol. 83r, S. 285: „… ma che di altre cose d’altro (oltre a quello che le regole / possono) ci faccia di mestiero, come per esempio volendo una veduta di strade con varij Tempij ornamenti di Palazzi, Paesi, o od’ altra composizione […] come et più maggiori ancora nel rap=/presentare un di corpo humano, il quale tra i piu difficili essendo difficilissimo, tanto piu degli’altri, è neces=/sario …“ 281  Ebd.: „… e non di meno la difficoltà, la lunghezza del tempo e la tediosa fatica, che tali regole ingombrano ci as=/tringono, per venire alla conclusione dell’opera nostra, ad abbandonare ogni regola,

300 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

147. Cigoli, Prospettiva Pratica, um 1628, Titelblatt, Florenz, GDSU 2660 A.

148. Nach Cigoli, Anwendung des Perspektivapparats (Fenster); Florenz, GDSU 2660 A, fol. 95v.

Ignazio Dantis und Giacomo Barozzi da Vignolas als „terza regola di prospettiva“ bezeichnet (Abb. 148–149).282 Die wichtigste Innovation gegenüber den Modellen von Dürer, Alberti, Danti und Buontalenti besteht in der Ersetzung des über große Distanzen niemals ganz straff zu spannenden Fadens durch den eigenen Sehstrahl, der „jedweden Gegenstand in einem Augenblick erreicht und in allen Teilen abtastet“, was das Zeichnen auf große Distanz erlaubt.283 Cigolis Wortwahl verrät viel über seine Vorstellung vom et ad operare (come si dirà) à occhio, et a caso, la qual cosa scema di molto la dignità della tanto nobile arte della pittura.“ 282  Vgl. Danti/Vignola 1583/1974 und Cardi 1628/2010, fol. 3v, S. 107. Zur Entwicklung der Instrumente beschäftigte Cigoli lange Zeit (laut Camerota wohl von 1604 bis 1608) einen Schreiner in seinem Haus. Zu den Apparaten vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 83r–96r, S. 285–318; zur „terza regola“ vgl. Camerota 2013, S. 4. 283  Cigoli 1628/2010, fol. 83v, S. 288: „… tutta via molte volte riuscirà l’operazione falsa, e la ragione è questa, che il raggio visivo sciolto dalla / materia si distende naturalmente per retta linea, ma il filo per esser corporeo e grave, e di natura pieghe=/vole, sostantato solo ne gl’estremi, se bene sia tirato si curva nel mezzo, e piu e meno, secondo che piu, e meno hà da / prolungarsi per toccare i termini delle cose vedute […] Dalle quali difficoltà / spinto hò pensato i duoi seguenti strumenti ne i quali in vece del

301 4. Perspektive: Körper und Raum

Sehen als Tasten, das hier allerdings auf jede Distanz und instantan funktioniert. Diese taktile, gegenstandsorientierte Auffassung zeigt sich auch in der von Cigoli erwähnten Möglichkeit, die Objekte vor der sezione zu positionieren, so dass diese vom Auge groß projiziert werden, statt sich zum Fluchtpunkt hin zu verkleinern.284 Abgesehen vom Zeichnen entfernter Dinge bestand ein Vorteil des Geräts in der Möglichkeit, Bilder auf geneigte oder gewölbte Flächen und Verkürzungen von unten oder oben zu zeichnen.285

149. Cigoli, Prospettiva Pratica, Anwendung des Perspektivapparats (Stange), London, British Museum, Inv. 1933-3-10-7r.

Camerota hat die Entwicklung des Instruments anhand von Zeichnungen im British Museum, in Williamsburg und im Berliner Kupferstichkabinett rekonstruiert.286 Grundsätzlich funktionieren die Geräte ähnlich wie das Dürer’sche Fadenkreuz, kommen aber ohne Sehfaden aus: Auf einer Schiene sind ein Visier und (auf Höhe der Bildebene) ein filo ci serviamo del proprio raggio visivo, il quale / senza servitù di chi lo porti giugne in uno stante à qual si voglia dato oggetto, e quello va toccando in ogni / sua parte secondo che si vede, e che si vuole, e subito con lo strumento si fa la sezione, e segamento di / ciascun raggio visivo …“ Buontalenti hatte ein Gerät nach Dantis Squadra bauen lassen, das möglicherweise auch bei den Unterrichtsstunden mit Ricci Verwen­dung fand (Camerota 2009, S. 146). Die Distanzfunktion begeistert auch Andrea Commodi, der das Gerät mit Cigoli in Rom testet. 284  Vgl. ebd., fol. 36v, S. 197: „Modo di tirare in prospettiva un corpo quando è fra la sezione / e l’occhio.“ Danti kritisiert dieses Verfahren (Danti/Vignola 1583, S. 2 und 42; vgl. dazu DubourgGlatigny 2003, S. 10–11). 285  Vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 90r–92r. 286  London, BM 1933-3-10-7r; Williamsburg, Muscarelle Museum of Art; Berlin, Kupferstich­ kabinett KdZ 17172 (vgl. Koppenleitner/Rössler 2007, S. 80). Der der Berliner Zeichnung beigefügte Text weist darauf hin, dass das Gerät das Zeichnen auf jede Distanz und die Darstellung von Gegenständen erlaubt, die nur in Form von Grund- und Aufriss gegeben sind – eine Idee, die Cigoli wohl von Jamnitzer geborgt hat (vgl. Camerota 2013, S. 8). Im Williamsburger Gerät lässt sich der vertikale Stab schräg stellen, um Decken oder Anamorphosen zu zeichnen (ebd., S. 9).

302 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

orthogonaler Stab angebracht, auf dem sich mittels eines Fadenzugs eine durch das Visier angepeilte Perle auf und ab schieben lässt, während die linke Hand den Stab selbst bewegt. Kemp wertet das Gerät als erstes „automated drawing system“: „It uses only one operation to make a direct transcription on the drawing surface of the object as it appears at the intersection.“287 Bei der Abbildung „realer, vorliegender Dinge“ (le cose vere e presenti) übertreffen die Apparate – davon ist Cigoli überzeugt – die auf Grund- und Aufriss angewiesenen Regeln, da sie „unmittelbar und mit großer Einfachheit und vielleicht mit größerer Richtigkeit“ (con maggior giustezza) funktionierten.288 In seinem Wunsch nach künstlerischer Wahrheit vertraut Cigoli den Apparaten mithin mehr als Lineal und Augenmaß. Wie bei der helioskopischen Transkription der Sonnenflecken wird auch hier Richtigkeit durch „automatische“ Projektion garantiert. Auch Cardi lobt die Apparate dafür, dass ihre Ergebnisse akkurater seien als ein nach Regeln oder Intuition geschaffenes Bild und zudem auf jede Distanz und sogar ohne Vorbildung eingesetzt werden könnten.289 Cigolis Zielgruppe sind jedoch weniger Cardis „vollständig unerfahrene“ (del tutto inesperto) als innovationsfreudige Künstler.290 Trotz der im Titel beanspruchten Praxisnähe beharrt Cigoli auf der Notwendigkeit von Theorie. Die Geräte solle erst einsetzen, wer die Regeln verstanden habe.291 Denn ein „Maler ohne Perspektive“, so Cigoli im Anschluss an Leonardo, „ist wie ein Seemann ohne Steuer oder Kompass“ (il pittore senza pros[pettiv]a sia come [un] Nocchiero in Mare senza timone, ò bussola).292 Umgekehrt werden die Geräte nicht wie bei Danti/Vignola zur Demonstration der theoretischen Prinzipien herangezogen, sondern als „Überwindung“ der Regel präsentiert.293 Nichtsdestotrotz verkörpern sie ein Wissen und können demnach auch – mit Pascal Dubourg-Glatigny – als epistemische Instrumente verstanden werden, die eher als „Demonstrations-“ denn als „Funk287 

Kemp 1990, S. 179. Vgl. ebd., fol. 83v, S. 288: „… con maggior brevità, universalità, e facilità di q[uan]ti io ne habbia veduti, ne con minor’/ avanzo vincono ancora le consuete regole lineari […] ma nel ritrarre le cose vere e presenti, superano quelle [strumenti] incomparabilmente, poi che non gli fa di mestiero, ne / di pianta ne di proffilo, ma immediatam[en]te operano con grandissima facilità, e forse con maggior giustezza, poiche / a quelle [regole] è piu che à questi necessario il trasportar delle misure, nel che sempre si dupplica il pericolo dell’errare …“ 289  Cardi 1628/2010, fol. 3v, S. 107: „… il che fù con altro tanto utile, poi che ri/dusse a tal perfezione il suo principale strum[en]to, sparso già per tutto con tanta stima de periti, che ardiscono dire, che sia im/possibile il poterlo più migliorare ò facilitare, operando egli da ogni data distanza, e per mezzo di ciascuno, ben che del / tutto inesperto del disegno e prospett[iv]a così perfettam[en]te, che ne regole, ne ingegno humano senza q[ues]to mezzo può in alcun modo arrivarvi.“ 290  Ebd., fol. 3v, S. 107. 291  Cigoli 1628/2010, fol. 83r, S. 286: „… tali regole di linee sono piu atte ad illuminare i principianti nel ben’intendere la prospettiva, che per/ più facilmente operare col mezzo di esse in pittura …“ 292  Ebd., fol. 30r, S. 180. 293  Vgl. Camerota 2009, S. 144. 288 

303 4. Perspektive: Körper und Raum

tionsobjekte“ fungieren.294 Demonstriert wird dabei allerdings weniger Cigolis Perspektivtheorie als sein unbedingter Anspruch auf Präzision bzw. geometrisch wahre und deshalb umso mehr täuschende Bilder. Seinen Wissensdurst macht Cardi auch für Cigolis Entschluss verantwortlich, Unterricht bei dem Hofmathematiker Ostilio Ricci zu nehmen, der im Hause Buontalentis schon Don Giovanni de’ Medici und Galilei unterrichtete.295 Seit 1590 lehrte Ricci auch an der Accademia del Disegno, an der 1571 auf Drängen Ignazio Dantis ein Lehrstuhl für Mathematik eingerichtet worden war.296 Dantis Le due regole della prospettiva pratica bilden neben Guidobaldo del Montes Perspectiva libri sex aus dem Jahr 1600 Cigolis wichtigste Referenz.297 Galileis langjähriger Korrespondent Del Monte lieferte die erste theoretische Begründung des von ihm als „punctum concorsum“ bezeichneten Fluchtpunkts und eine ausführliche Diskussion der Skenographie, die er beim Bau des Theaters in Urbino umgesetzt hatte.298 Als seinen wichtigsten „Meister“ in der Perspektivlehre bezeichnet Cigoli jedoch Galilei: Mit ihm beriet er sich über Gestaltung und Maße seines Kuppelfreskos in S. Maria Maggiore; ihn bat er um seine Einschätzung zu „Pietro Acolti Aretino, gran professore di prospettiva“.299 Pietro di Fabrizio Accolti, Sekretär Giovanni de’ Medicis und ebenfalls Lehrer an der Accademia del Disegno, publizierte 1625 selbst eine „Prospettiva pratica“, in der auch eine Variante von Cigolis Apparat vorgestellt wird.300 Der Titel, Lo inganno degl’occhi, zeigt jedoch die Verschiebung, die sich seit Cigolis Traktat vollzogen hatte und die damit zusammenhängt, dass das perspektivische Bild, wie Gottfried Boehm pointiert formuliert: „lügen [muss], wenn es die Wahrheit sagen will“.301 Cigoli macht es sich zur Aufgabe, diese Lüge theoretisch so zu untermauern und so zu operationalisieren, dass sie zumindest insofern wahr ist, als sie festen Regeln folgt.302 Doch Regelgehorsam allein reicht 294 

Vgl. Dubourg-Glatigny 2003, S. 11. Cardi 1628/2010, fol. 1v, S. 101: „E perché stimava oltr’a modo il sapere quanto/ si aspetta ad un perfetto pittore, presa occasione per l’amicizia che teneva con Ms Ostilio Ricci Mattematico provi/ sionato dall’Alte[ezz]e il quale ogni giorno dopo che havea data la lezione all’Ecc:mo Sig:r D[on] Giovanni, in casa Ms Ber/nardo, introducendo Lodo[vic]o nelli principi di Mattem[atic]a e Prospett[iv]a …“ Zu Ricci vgl. Matteoli 1974, S. 135–206; Settle 1971, S. 121–126; Kemp 1990, S. 93 und Bredekamp 2007, S. 33–36. 296  Vgl. Matteoli 1974, S. 136. 297  Vgl. del Monte 1600. 298  Vgl. Drake 1969, S. 44–45. 299  Vgl. Viviani, Opere, Bd. XIX, S. 602: Cigoli „… pregiavasi di poter dire che nelle prospettive egli solo gli era stato il maestro.“ Vgl. auch Cigoli an Galilei am 1.7.1611, Carteggio 2009, Nr. 16, S. 62. Eine Notiz auf einer Skizze für das Kuppelfresko lobt Galilei dafür, dass er die Kuppel schneller und präziser zu vermessen vermochte als seine römischen Kollegen (vgl. Acanfora 2000, S. 32). 300  Vgl. Accolti 1625, S. 84. 301  Boehm 2003, S. 57. 302  Zur Dialektik von Subjektivität und Objektivität der Perspektive vgl. Panofsky 1924– 1925/1998, S. 742. 295 

304 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

nicht aus. Mehrfach warnt Cigoli davor, sich durch gewagte Verkürzungen zu sehr vom „Wahren und Wahrscheinlichen“ zu entfernen.303 Zugunsten der Glaubwürdigkeit empfiehlt er außerdem verschiedene Verfahren mit „modesta licenza“ zu kombinieren.304 Oberstes Ziel ist dabei weniger die Täuschung als die Plausibilität. Accolti und zahlreiche Maler der Generation nach Cigoli hingegen legen den Akzent auf das inganno: Giovan Battista Strozzi feiert in seiner Widmung an Accolti die Erscheinung, die sich dem Wahren nicht angleiche, sondern es oftmals sogar übertreffe.305 Besonders deutlich wird der Unterschied in ihrer jeweiligen Bewertung von Anamorphosen, die Cigoli zwar in seinem Traktat beschreibt, aber niemals hergestellt zu haben scheint, während Accolti sich rühmt, ein verzerrtes Porträt Cosimos II. angefertigt zu haben, das „die Kraft der Perspektive in ihren Täuschungen“ zeige.306 Galilei verabscheute Anamorphosen bekanntlich ebenso wie komplexe Allegorien, die ihre Bedeutung allein von der Seite zu erkennen geben und von vorne nur „eine konfuse und ungeordnete Mischung aus Linien und Farben“ zeigen – eine Haltung, die Cigoli möglicherweise teilte.307 Folglich dauerte es 30 Jahre, bis der junge Minimenmönch Jean-François Niceron und sein Lehrer Emmanuel Maignan im Kabinett des Sammlers Louis Hesselin auf Cigolis Perspektivapparat stießen und ihn für die Konstruktion monumentaler Anamorphosen ‚zweckentfremdeten‘.308 Eine bis heute im Konvent der Trinità-dei-Monti erhal303 

Cigoli 1628/2010, fol. 76r, S. 270: „… il più che sia possibile si vadia accomodando e secondando senza allon=/ tanarsi dal vero, ò dal verisimile.“ Und fol. 78r, S. 274: „… per conseguire l’intento nostro senza partirsi dal / vero ò dal verisimile avvertendo che nella breve distanza le cose fra di loro venghano scorciate con più violenza …“ 304  Ebd., fol. 78r, S. 274: „… non dimeno perche altrui facilm[en]te / per troppa licenza si potrebbe partire tanto dal verisimile, che ritenessi poi del temerario, perció non sempre / tutto ad’un solo remedio si deve ricorrere, ma mistamente dando e togliendo al’uno, et all’altro, con modesta licen/za il nostro necessario potremo conseguire …“ 305  Giovan Battista Strozzi, in: Accolti 1625, o. S.: „… Ma come l’apparenza adegui il vero,/ E spesso ancor sovrasti / Rimira in ammirabili contrasti:/ Oltre all’invitte forze di Natura / Vedrai la sovr­ umana oprar Pittura.“ Pallavicino wird den inganno später als „maestro di verità“ feiern, weil er Bewunderung und Einsicht in die Wahrheit generiere (vgl. Delbeke 2012, S. 65–66). 306  Vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 91v, S. 304–305 und Accolti 1625, S. 49: „In questa guisa si fece gia da noi un ritratto del Gran Duca Cosimo Secondo di Gloriosa Memoria rassegnato nella Galleria dell’Illustrissimo Cardinale Medici mio Signore, & chiunque in esso rimira, comprende la forza della Prospettiva ne gl’inganni suoi.“ 307  Galilei, Tasso, Opere, Bd. IX, S. 129: „… quelle pitture, le quali, perché riguardate in scorcio da un luogo determinato mostrino una figura umana, sono con tal regola di prospettiva delineate, che, vedute in faccia e come naturalmente e comunemente si guardano le altre pitture, altro non rappresentano che una confusa e inordinata mescolanza di linee e di colori, dalla quale anco si potriano malamente raccapezare imagini di fiumi o sentier tortuosi, ignude spiagge, nugoli o stranissime chimere.“ Vgl. dazu Panofsky 1956, S. 6 und Bredekamp 2007, S. 52–53. Ausführlicher dazu in Kap. II.4. 308  Ferdinando II. erhielt das Manuskript 1629 zum Geschenk – vermutlich zusammen mit dem Gerät, das später in die Sammlung Louis Hesselins gelangte. Camerota hält es für möglich, dass Cigoli

305 4. Perspektive: Körper und Raum

tene Anamorphose verzerrt ausgerechnet das Bild des Ordensgründers, Francesco di Paola, dessen vera effigies Cigoli zu Beginn seiner Karriere kopiert hatte.309 Trotzdem zeigen gerade auch Cigolis Ausführungen zu Anamorphosen, dass er Bilder als Projektion verstand, deren Korrektheit vom Winkel der Bildfläche abhing. Nicht zuletzt wird diese Auffassung bei der Transkription der Sonnenflecken relevant, denn auch der vom Helioskop projizierte Fleck wird zur Anamorphose, sobald die Projektionsebene nicht orthogonal, sondern schräg zum Lichtbündel steht. Cigolis Traktat wurde zu Lebzeiten nicht fertiggestellt; nach seinem Tod nahm sein Neffe sich des Manuskripts und der bereits vorhandenen Zeichnungen Cigolis und seines Bruders Sebastiano an und vervollständigte den Text mit teilweise redundanten Ergänzungen.310 Cigolis Erben schenkten das Manuskript Ferdinando II., der es – vermutlich anlässlich der Gründung der Accademia del Cimento – an Leopoldo de’ Medici weitergab, der Vincenzo Viviani, Galileis Biographen, mit einer Revision betraute. Vermutlich war es folglich auch Viviani, der das Frontispiz um ein griechisches Motto ergänzte, das – wie schon Camerota bemerkt hat – das enge Verhältnis zwischen Sehen, Zeichnen und Verstehen betont: „Wenn Du Dich bemühst, alle Dinge zu beobachten“.311 Martin Kemp hat dem Traktat 1991 einen ersten Aufsatz gewidmet und zentrale Passagen übersetzt; 1992 erschien Rudolfo Profumos Textausgabe mit einem Versuch der Händescheidung.312 Seit 2010 liegt eine sorgfältige kommentierte Ausgabe von Filippo Camerota vor, dessen profunden Untersuchungen zur Prospettiva und ihren Quellen wenig hinzuzufügen ist.313 Im Folgenden soll deshalb das Augenmerk vor allem auf die Anwendung der Perspektive in Cigolis Gemälden gerichtet werden, um zu zeigen, wie er die akademischen Ansprüche auf künstlerische Richtigkeit mit den neuen religiösen Ansprüchen an sakrale Bilder in Einklang zu bringen versuchte. Eine Vorzeichnung zu Cigolis Laurentiusmartyrium mit penibel gerastertem Schachbrettboden zeugt von der Bedeutung, die vor allem der junge Maler der perspektivischen Korrektheit beimaß (Abb.  150).314 Zugleich aber weist das Bild bereits in die Gegenrichtung. Nicht die Tiefe des Raums, sondern der nah an die Bildfläche gerückte Rost das Gerät als „oggetto da collezione“ mit Blick auf die Instrumentensammlung im Stanzino entwickelte (vgl. Camerota 2013, S. 10–14 und ders. 2009, S. 149–150). 309  Vgl. dazu Mersmann 2008, S. 29. 310  Vgl. Chappell 2003. 311  Das Motto fehlt in der von Viviani 1676 angefertigten Kopie, die sich heute in der BNCF (Mas. Gal. 107) befindet (vgl. Camerota 2004, S. 147–148 und 168). 312  Kemp 1991 und Profumo 1992. 313  Vgl. Camerota 1986, 2009 und Camerota 2010. 314  GDSU 2002 S; vgl. Chappell 1992, S. 13–15, Nr. 7 und Cardi 1628/2010, fol. 2r, S. 103: „… fece gran’ fatiche / per tirar bene in prospettiva si il piano e sito di tutte le figure, come ancora la Graticola et altri ornamenti, che in essa / vengon’ rappresentati …“ Vgl. auch Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 98.

306 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

150. Cigoli, Perspektivkonstruktion des Laurentiusmar­ tyriums, 1590, Rötel und braune Tusche auf Papier, 41 × 27 cm, Florenz, GDSU 2002 S.

und die Figuren bestimmen die Komposition, deren räumliche Struktur durch den Lichtkegel verunklärt wird. Anders als bei Tizian ist der Rost mit der Breitseite schräg ins Bild gesetzt, so dass der Körper des Märtyrers ohne starke Verkürzung gezeigt werden kann (vgl. Abb. 62). Die Ecke des Rosts und der rechte Ellbogen ragen bis an die Bildebene heran und vermitteln dem Betrachter den Eindruck, in fühlbarer Nähe der glühenden Kohlen zu stehen. Tiefe entsteht gleichermaßen durch die Linearperspektive wie durch den Kontrast zwischen den leuchtend warmen Farben des Vorder- und den dunklen Farben des Hintergrundes. Die Tatsache, dass der Schnittpunkt der Bodenorthogonalen (den Cigoli im Anschluss an Guidobaldo del Monte als „punto di concorso“ bezeichnet) keinen „Fluchtpunkt“ am Horizont bildet, sondern von der erhobenen Hand des Heiligen verdeckt und damit an die Bildfläche zurückgebunden wird, ist für die Florentiner Malerei typisch, weist aber darüber hinaus in eine für Cigolis Werk bestim-

307 4. Perspektive: Körper und Raum

mend werdende Richtung.315 Die Tiefe wird ins Bild geholt, die entscheidende Vermittlung geschieht nicht zwischen vorne und hinten, sondern zwischen Himmel und Erde. Dieselbe Logik findet sich in Cigolis Entwurf zu einer Inspiration eines Papstes, die nicht nur durch einen ‚federführenden‘ Engel, sondern auch durch eine Geisttaube repräsentiert wird (Abb. 151).316 Auch hier fängt Cigoli den Fluchtpunkt mit einer Hand auf – diesmal mit der rechten eines jugendlichen Dieners, der einen Vorhang beiseitezieht und damit die Enthüllung der Wahrheit emblematisch wiederholt. In seinem Traktat unterscheidet Cigoli den gemalten Punkt vom Punkt der Mathematiker dadurch, dass jener „angezogen“ sei: „Denn der Maler“, so Cigoli, „betrachtet die

151. Cigoli, Inspiration eines Papstes, braune und blaue Tusche auf Papier, 26,5 × 46,5 cm, Paris, DAGL Inv. 889.

Dinge bekleidet und der Mathematiker nackt und bar jeder Materie und auf abstrakte Weise“ (Questo avviene perchè il Pittore considera le cose vestite, et il Matematico nude e prive d’ogni materia, et in astratto).317 Auch wenn es hier primär um die Unterscheidung zwischen dem virtuellen mathematischen und dem ausgedehnten geometrischen Punkt geht, trifft die charakteristische Umformulierung von Albertis Verwandlung des abs-

315  Cigoli 1628/2010, fol. 40v, S. 202: „… tutte le linee paralleli naturali poste in pros[pettiv]a tendono/ a qualche punto, et per questo detti di concorso …“ 316  Randnotiz: „Cigoli de Cartoni per arazzi fatti al Cardinale montalto.“ Chappells Identifikation des Papstes als Sixtus V. ist überzeugender als Viattes Deutung des Bildes als Darstellung der Vision Gregors des Großen (vgl. Chappell 1992, S. 38 und Viatte 1973, S. 117). 317  Cigoli 1628/2010, fol. 8r, S. 124.

308 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

trakten Punktes in ein sichtbares Zeichen einen Kern von Cigolis Kunst: Schon die kleinste graphische Einheit seiner Malerei ist stofflich und auch der Fluchtpunkt wird ‚angekleidet‘, indem er figürlich rückgebunden wird.318 Das gilt auch für das Gastmahl im Hause Simons, wo Cigoli den Fluchtpunkt auf die Brust Christi als das exzentrische Zentrum des Bildes legt (vgl. Abb. 9). Durch die Schrägstellung und die Verkürzung des Trikliniums gelingt es ihm, das wuchtige Möbelstück zu dynamisieren, Christus trotz der Randposition hervorzuheben und Platz für die Diener zu gewinnen. Architektur verwendet Cigoli ansonsten nur dort, wo die veritas historica es erfordert: In der Steinigung des Stephanus erinnert die Grabkirche an die christiformitas des Märtyrers, das Stadttor an den Ort der Steinigung, die Antikenfragmente an das Ende des Heidentums (vgl. Abb. 59).319 Die Wunderheilung Petri vollzieht sich vor der Pforte des Tempels, doch auch hier bleibt die architektonische Flucht von dem Geschehen weitgehend unabhängig (vgl. Abb.  48). Die Linearperspektive wird eingesetzt, um den Betrachter mittels einer angeschnittenen Treppenstufe in das Bild einzubeziehen; der Fluchtpunkt hingegen wird erneut verstellt. Das Geschehen spielt in einem schmalen Raumstreifen gleich hinter der Bildebene, die entscheidende Vermittlung findet auch hier zwischen oben und unten statt. Ausnahmen von diesem Prinzip bilden die bereits besprochene Befreiung Jerusalems, bei der die diagonale Angriffslinie orthogonal gegen die Tiefenflucht der Befestigungsanlagen prallt, und der Einzug in Jerusalem in S. Maria Novella mit einer diagonalen Stadtmauer (vgl. Abb. 27 und 152). Entgegen der Tradition reitet Christus nicht in Leserichtung, sondern diagonal nach links durch das im Gegenlicht stehende Stadttor, hinter dem sich ein heller Bildraum öffnet.320 Die abermals verstellte Tiefenachse ist so angelegt, dass Christus und der verkürzte Esel schräg von hinten gesehen werden.321 Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Figur auf den durch die Erzählachse und die Lichtführung angedeuteten Fortgang der Geschichte. In den meisten späteren Werken wird die Architektur jedoch auf wenige Versatzstücke reduziert oder ganz aufgegeben, um den Blick auf die monumentaler werdenden Figuren in 318 

Vgl. Alberti 2007, I.2, S. 66: „Dico in principio dobbiamo sapere il punto essere segno quale non si possa dividere in parte. Segno qui appello qualunque cosa stia alla superficie per modo che l’occhio possa vederla. Delle cose quali non possiamo vedere, neuno nega nulla apartenersene al pittore. Solo studia il pittore fingere quello si vede.“ 319  Carolin Behrmann etabliert eine Verbindung zwischen der Stadtmauer und der Situation des Märtyrers außerhalb des nomos (dies. 2015, S. 196–197). 320  Die meisten Maler vor Cigoli folgen dem Giotto’schen Vorbild einer bildparallelen Komposition in Leserichtung. Santi di Tito stellt den Esel schräg, aber weiterhin nach vorne rechts gerichtet (1570–1580, Florenz, Galleria dell’Accademia). 321  Der Einzug in Jerusalem wurde bereits 1604 begonnen, durch die Arbeiten in Rom jedoch mehrmals unterbrochen. Obwohl das Bild 1610 nach Rom gesandt wird, bleibt es unvollendet und wird erst von Bilivert fertiggestellt; vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 150 und die Briefe Cigolis an Buonarroti d. J. am 9.10.1609 (in: Matteoli 1965, S. 34) und an Galilei am 24.10.1610 (Carteggio 2009, Nr. 11, S. 54–55), am 13.11.1610 (Nr. 13, S. 58) und noch am 3.5.1613 (Nr. 53, S. 130).

309 4. Perspektive: Körper und Raum

152. Cigoli, Einzug in Jerusalem, 1604–1613, Öl auf Leinwand, 427 × 276 cm, Florenz, S. Croce.

einem flachen Vordergrundstreifen zu lenken. Gleichzeitig werden auch perspektivisch verkürzte Körper seltener – als genüge es, die Kenntnisse im Traktat zu beweisen, um sich in den Gemälden zurückhalten und dem Vorwurf der eitlen Kunstvorführung entziehen zu können.322

322 

Armenini z. B. hatte vor der Nachahmung der komplexen Verkürzungen in Michelangelos Jüngstem Gericht gewarnt (Armenini 1587/1823, S. 71). Vgl. auch Bocchi 1567/1989, S. 131. Auch Dolce warnt vor dem übermäßigen Gebrauch von scorti, würdigt sie aber als Beweis der Kunstfertigkeit (Dolce 1557/1970, S. 62–63).

310 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

Schon als junger Maler hatte Cigoli die Bewunderung der Medici durch seinen virtuosen Umgang mit Verkürzungen auf sich gezogen. Um 1590 waren mehrere Maler mit Entwürfen für eine Auferstehung Christi in der engen Kapelle des Palazzo Pitti beauftragt worden, keiner jedoch hatte eine befriedigende Lösung gefunden.323 Don Giovanni de’ Medici brachte seinen Mitschüler Cigoli ins Spiel, der mithilfe von scorci den Raumbedingungen gerecht zu werden verstand. In der nur ein Jahr später entstandenen Auferstehung in Arezzo entwickelte Cigoli die Verkürzung noch weiter. Charakteristisch für seine ‚Doppelstrategie‘ ist, dass er zwar durch die verkürzten Leiber der Soldaten Tiefe erzeugt, den Raum aber durch einen Lichtkegel verunklärt (vgl. Abb. 19, 21).324 Schon Hubert Schrade und Kurt Rathe haben gezeigt, dass starke Verkürzungen häufig als Angriff auf die Integrität der Personen empfunden und mithin vornehmlich für Schlafende und Tote verwendet wurden.325 Mit Ausnahme der Putti, deren Schwerelosigkeit Cigoli in unzähligen Ansichten demonstriert, trifft diese Beobachtung auch auf Cigolis Gemälde zu. Bei den sündigen Stammeltern in Cigolis Immacolata verbindet sich die Verkürzung mit der Verrenkung; die körperliche und zugleich manieristische Deformation ist Ausdruck einer moralischen (vgl. Abb. 83).326 In anderen Gemälden assoziiert Cigoli den scorto mit der Ohnmacht von Toten oder Schlafenden: den Soldaten der Auferstehung, dem von Jael ermordeten Tyrannen Sisera (1603), dem vor Venus’ Augen sterbenden Adonis (1607) und dem Leichnam in der Grablegung Pauli (nach 1607).327 Zwischen Frühjahr 1606 und Herbst 1607 erhielt Cigoli den prestigeträchtigen Auftrag für die Pala des zum Heiligen Jahr errichteten Hauptaltars von S. Paolo fuori le mura. Unter der Ägide Konstantins I. über dem Paulusgrab errichtet und am 18.11.324 unter Papst Silvester I. geweiht, war die Patriarchalbasilika schon in der Spätantike eine wichtige Pilgerstätte und seit 1300 Teil des Jubel-Itinerars. Unter Gregor I. war der Boden angehoben worden, um den Altar direkt über dem Grab errichten zu können, das 1285 mit einem Ziborium bekrönt wurde. Cigolis Gemälde erschien folglich hinter Altar, Grab und Ziborium und zeigte signifikanterweise nicht das unweit der Kirche erlittene 323 

Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 104: „… Cigoli, il quale facendo il suo disegno, e scherzando con l’attitudini, per la scarsità del luogo,/ andò in maniera disegnando e scorciando le figure, che credette venissero grandi conforme che ne era stato richiesto, e mos/tratolo affermò che sarebbono nell’opera secondo il lor desiderio …“ 324  Vgl. Chappell 1974 und Kap. II.2. Schon zu dieser Zeit arbeitete Cigoli wohl an seinem Traktat, denn er lehnte mit Verweis auf seine Studien das Angebot einer Unterbringung in den Uffizien ab (vgl. Cardi 1628/2010, fol. 3v, S. 107). 325  Schrade 1930 und Rathe 1938. 326  Die Haltung des Verdammten übernimmt Cigoli von Dantis Die Ehre besiegt die Arglist von 1560/1561. 327  Die Kupfertafel wurde am 7.7.2010 bei Sotheby’s versteigert; vgl. auch die Vorzeichnung GDSU 839 E.

311 4. Perspektive: Körper und Raum

153. Giovanni Battista Maggi nach Cigoli, Grablegung Pauli, Kupferstich.

154. Cigoli, Grablegung Pauli, braune und blaue Tusche auf Papier, Florenz, GDSU 1015 F.

Martyrium, sondern die Bestattung und Glorifikation des Heiligen. Die Ikonographie schreibt sich eng in den architektonisch-liturgischen Zusammenhang von Tod und Erlösung, Grab und Eucharistiefeier ein. Das Gemälde hatte ein turbulentes Schicksal. Mit Verzögerung begonnen, mehrmals unterbrochen und nie fertiggestellt, wurde es durch Feuchtigkeit stark beschädigt und gilt seit dem verheerenden Brand von 1823 als verloren.328 Die Tatsache, dass das Altarbild unvollendet aufgestellt wurde, zeugt von der großen Wertschätzung Cigolis und der neuen Offenheit für das nonfinito. Laut Cardi optierten die Mönche angesichts der „unvollendeten Vollendung“ des Werks gegen die Fertigstellung durch einen anderen Maler und stellten damit Cigoli in eine Reihe mit Apelles und Michelangelo (è rimasta imperfetta con tanta perfezione, che si crede che quei Rev[eren]di non vogliono farvi metter mano ad altri).329 328  Vgl. Matteoli 1959, S. 16–17 und Chappell 1979, S. 149–150. Am 23.2.1608 bittet die Großherzogin Kardinal Montalto, beim Abt eine Freistellung Cigolis zur Vorbereitung der nozze ihres Sohnes zu erwirken (vgl. ASF, Fondo Med., Reg. 6037, fol. 113v–114r). Am 9.4.1609 kündigt Cigoli Galileo seine Rückkehr nach Rom an (vgl. Carteggio 2009, Nr. 2, S. 42). Er ändert den Entwurf und beginnt die Arbeiten, die jedoch durch die Großaufträge wiederum unterbrochen werden. 329  Cardi 1628/2010, fol. 4r, S. 109. Für Baldinucci zeugt das Werk gerade in seinem unfertigen Zustand von Cigolis „großem Wissen“; vgl. ders. 1812, Bd. IX, S. 126: „… opera che nel suo non esser del tutto finita, fa mostra maggiore del suo gran sapere del Cigoli.“ Auch für Baglione zeugt noch das unvollendete Bild von Cigolis Kunstfertigkeit: „… cosi mal finito è pieno testimonio della sua virtù“ (Baglione 1642/1995, Bd. I, S. 154).

312 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

155. Cigoli, Grablegung Pauli, braune und blaue Tusche auf Papier, 47,6 × 27,4 cm, Florenz, GDSU 972 F.

Rekonstruieren lässt sich das Gemälde anhand von Studien und eines Stiches von Giovanni Maggi (Abb. 153).330 Nach Experimenten mit einem bildparallel positionierten Leichnam entwickelte Cigoli eine innovative Darstellung mit stark verkürztem Körper, der fast orthogonal zur Bildebene von vier Trägern auf einem Tuch gehalten wird (Abb. 154– 156). Während der tote Leib noch darauf wartet, in das im Vordergrund ausgehobene – 330 

Vgl. Chappell 1992, S. 287–288 und 1984b, S. 287–294. Das Bild maß etwa 740 × 410 cm.

313 4. Perspektive: Körper und Raum

156. Cigoli, Grablegung Pauli mit Papst Silvester, braune und blaue Tusche auf Papier, 69,1 × 38,1 cm, Florenz, GDSU 1698 E.

und tatsächlich vor dem Gemälde befindliche Grab – versenkt zu werden, steigt die anthropomorphe Seele zum Himmel auf. Durch die halbmondförmige Biegung vermittelt der Leichnam zwischen Himmel und Erde, Tod und ewigem Leben. Der Leib oszilliert zwischen dem Noch-nicht der Grablegung und dem Schon der Auferstehung.331 In dem quadrierten modello nimmt Cigoli die starke Verkürzung und den direkten Verweis auf die Auferstehung zurück.332 Der Leichnam wird von (an Baroccis Grablegung Christi von 1579–1582 geschulten) Trägern leicht schräg in das Grab gesenkt. Seine Füße ragen nicht mehr aus dem Bild heraus, sondern werden von einer zärtlich über die Beine gebeugten, an Maria Magdalena und damit an die christiformitas Pauli erinnernden Figur 331 

Die Zeichnung stammt aus der Sammlung von Cigolis Schüler Coccapani (vgl. Chappell 1983, S. 36). 332  Braune und blaue Tusche auf Papier, 69 × 38 cm, Florenz, GDSU 1698 E; vgl. Chappell 1992, S. 168–170.

314 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

bedeckt. Dominiert wird die Szene von Papst Silvester, der in Wahrheit nicht für die Grablegung, sondern nur für den Bau der Basilika verantwortlich war.333 In einem Lichtkegel ist statt der aufsteigenden Seele eine von Putti bereitgehaltene Märtyrerkrone zu sehen, die den ruhig entschlafenen Heiligen erwartet. Ein weiteres eindrückliches Beispiel für die Verbindung von Schlaf oder Tod und Verkürzung ist Cigolis mehrfach kopiertes Gemälde Jael und Sisera für Gregorio Paganis Freund Ascanio Pucci, das auf 1596 bzw. 1603 datiert wird (Abb. 157).334 Alessandro Cecchi hat 1992 in einer Turiner Privatsammlung das mutmaßliche Original entdeckt, das sich durch einen lockeren Pinselstrich, prachtvolle Gewandfarben, gelungenes scorto und eine neo-venezianische Landschaft auszeichnet.335 Gezeigt ist der Moment, in dem Jael den Heerführer der Kanaaniter, Sisera, in göttlichem Auftrag mit einem Hammerschlag tötet, um das Volk Israel aus seiner zwanzigjährigen Knechtschaft zu befreien (vgl. Ri 4,21). Die Figuren sind so in das Hochformat eingepasst, dass Jaels Hammer und Siseras Knie beinahe die Bildgrenzen berühren.336 Jaels erhobener Unterarm und der Nagel liegen auf einer vertikalen Achse, entlang derer sie im nächsten Moment den Schlag ausführen wird. Spannung ergibt sich aus dem Chiasmus zwischen dem friedlich schlummerndem Tyrannen und der gewalttätigen Schönen. Ihr an Veronese erinnerndes Gesicht ist leicht zur Seite geneigt, der Blick gesenkt – ein Bild ohne Augen, in dem nur die mit starken Glanzlichtern versehenen Werkzeuge zu sehen scheinen. Haltung und Verkürzung des Schlafenden nehmen seinen Tod bereits vorweg.337 333 

Zur Verehrung von Papst Silvester vgl. Chappell/Kirwin 1974, S. 119–170. Öl auf Leinwand, 170 × 140 cm, San Miniato, Cassa di Risparmio; vgl. Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 104 und Faranda 1986, S. 139, Nr. 35; eine Matteo Rosselli zugeschriebene Kopie befindet sich in der Galleria Corsini (ebd., Nr. 33), eine größere, sicher nicht autographe Leinwandversion in einer Privatsammlung in Pontedera (Nr.  34), eine dritte, qualitätvolle Version in der Sammlung der Cassa di Risparmio di San Miniato (Nr. 35). Faranda präsentiert sie als autograph; Cecchi hält sie für eine Kopie des 18. Jahrhunderts; Chappell teilt seine Bedenken (vgl. Cecchi 1992, S. 82–91 und Chappell 2009, Nr. 74, S. 352–353). Cecchi bezieht die Wahl des Themas auf die Familiengeschichte der Pucci, die wie Jael Anschläge auf ‚Tyrannen‘ verübt hatten (vgl. Cecchi 1992, S. 90–91). 335  Vgl. ebd., S. 83. 336  Ein kleiner, bei Röntgenuntersuchungen entdeckter Soldat im Landschaftsausschnitt wurde offenbar auf der Leinwand getilgt, um den Protagonisten ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Zu den Pentimenti vgl. ebd., S. 86. Die Veränderungen gelten auch im Vergleich mit der Vorzeichnung GDSU 967 F (vgl. Forlani 1959, S. 133, Nr. 68). Vgl. auch die kleinen Skizzen auf dem Blatt mit der Katharinendisputation GDSU 8851 F und das Studienblatt im Kröller-Müller Museum in Otterlo. 337  Skizzen nach dem nackten Modell belegen, wie sicher Cigoli den scorto erfassen konnte – auch ohne die Zuhilfenahme eines Perspektivapparats (vgl. GDSU 967 F und 8990 F; Faranda 1986, S. 140, Nr.  35a–b). Artemisia Gentileschi verzichtet in ihrer Fassung im Szépmüvészeti Múzeum in Budapest von 1620 auf die Verkürzung, führt aber eine neue Pointe durch die starke Verkleinerung des Heerführers ein, der wie ein Kind in Jaels Schoß schlummert, während sie zum tödlichen Schlag ausholt. Vgl. auch die Gemälde von Ottavio Vannini (Florenz, Seminario Maggiore) und Jacopo Vignali (New York, Privatsammlung). 334 

315 4. Perspektive: Körper und Raum

157. Cigoli, Jael tötet Sisera, 1596 oder 1603, Öl auf Leinwand, 162,5 × 132,5 cm, Turin, Privatsammlung.

Eine Ausnahme von Schrades ‚Scorto-Regel‘ bildet Cigolis malerische Zeichnung von Diana und Endymion, bei der es sich möglicherweise um eine Studie zu einer der Zeichnungen handelt, die Cigoli an Marino gesandt hat (Abb. 158).338 Das Bild zeigt Diana, die den ausgestreckt im Mondlicht lagernden Jüngling gleich zweifach entblößt, indem sie die Decke lüftet und ihr Licht auf seinen nackten Körper wirft. Die Verkürzung betrifft diesmal nicht den Schlafenden, sondern die Göttin, deren Körper gleichsam selbst zum Halbmond wird und mit eindrucksvoller, an der Figur Gottvaters aus Michelangelos Konversion Pauli geschulter Dynamik nach dem Jüngling greift (Abb. 159).339 Wie ein Wirbel dreht sie sich aus dem Lichtfeld, um den Schlafenden betrachten und berühren

338 

GDSU 8960 F; vgl. Marino 1675, S. 12; Leporini 1925, S. 67; Forlani 1959a, Nr. 87; Berti 1960, S. 130; Matteoli 1974, S. 189–191 und Chappell 1992, Nr. 118, S. 194. Chappell vermutet, dass Cigoli die Zeichnung nicht mit Blick auf ein Gemälde schuf. Gegen die von allen Autoren bis auf Anna Matteoli vorgenommene späte Datierung könnte sprechen, dass Cigoli keinen expliziten Zusammenhang mit Galilei herstellt, den Marino 1623 als „novello Endimion“ bezeichnet (Adone X, 43). 339  Entfernt erinnert die Figur zudem an Tintorettos Markuswunder in der Galleria dell’Accade­ mia von 1548.

316 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

158. Cigoli, Diana und Endymion, braune Tusche auf Papier, 28,5 × 21 cm, Florenz, GDSU 8960 F.

zu können. Ihr voyeuristischer Akt wird von drei Hunden beobachtet, die zwischen den beiden Figuren vermitteln. Die Verbindung von zärtlicher Ruhe und Dynamik wird jedoch nicht allein durch den disegno, sondern auch durch das dramatische, von Marino besungene Helldunkel geschaffen. Das silbrige Mondlicht bricht durch dunkle Wolken auf den entblößten Körper. Die Zeichnung ist eine Studie über die Bedingungen der Sichtbarkeit und den liebenden Blick. Der verkürzte Körper der Göttin wird ganz Auge und liebkosende Hand; ihr Licht streichelt den nackten Körper wie ihre ausgestreckte Linke. Eine ausgearbeitete Fassung ist nicht bekannt, daher bleibt auch hier offen, ob Cigoli für die Figur der Diana zu seinem Perspektivapparat gegriffen hätte. Auch im Falle des Kuppelfreskos bleibt die Frage nach dem Einsatz der Instrumente, die gerade hier ihre Tauglichkeit für große Distanzen und vor der Bildfläche positionierte Modelle hätten beweisen können, ungeklärt.340 Baldinucci stellt die Situation so dar, als sei Cigoli in S. Maria Maggiore seine Theoriegläubigkeit zum Verhängnis geworden. Das Beharren auf der rigiden Anwendung der Regeln der Perspektive und die hartnäckige Weigerung, 340 

Immerhin enthält der Perspektivtraktat auch eine Folioseite über den Gebrauch der Apparate in Kuppeln (Cigoli 1628/2010, fol. 91r, S. 302–303).

317 4. Perspektive: Körper und Raum

159. Nicolas Beatrizet (nach Michelangelo), Bekehrung Pauli, um 1545–1558, Kupferstich, 42,8 × 53,5 cm.

das Gerüst zu verlassen, um den Eindruck von unten zu überprüfen, habe dazu geführt, dass die auf die steilen Kuppelwände gemalten Figuren sich ein wenig nach vorne zu neigen scheinen und die Apostel durch das vorspringende Kranzgesims nicht optimal zur Geltung kämen.341 Dass Cigoli den Anblick von unten tatsächlich erst nach Abschluss der Arbeiten überprüfte, geht aus einem Brief hervor, in dem er Galilei von der Approbation des Freskos durch Kardinal Giacomo Serra berichtet.342 Für Cigolis angeblichen Wunsch, die Fresken abzuschlagen oder gar für einen zum frühen Tod führenden Gram,

341 

Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 135: „Ma pur fu vero che, essendo egli voluto stare in sulle regole della prospettiva, senza mai volere scendere dal palco, contro a ciò che gli persuasero gli amici, egli si trovò ad un fiero caso, cioè che quelle figure, che vedute nel luogo ove furono dipinte, come soleva attestare il Passignano, e con esso altri grandi uomini, erano veramente la maraviglia dell’arte […] osservate da basso, comparsero nel luogo ove la cupola incominciava a voltare con qualche sproporzione di lun­ ghezza fra ’l mezzo in su, e ’l mezzo in giù.“ 342  Cigoli an Galilei am 13.4.1612, Carteggio 2009, Nr. 29, S. 85: „Ci resta ora il più e ’l meglio, che è Sua Santità, et anco come nella veduta da basso tornerà.“

318 V. De’ veri precetti della pittura: Kunst und Wahrheit

wie ihn Mancini insinuiert, finden sich in seinen Schriften jedoch keine Hinweise.343 Im Gegenteil berichtet Cigoli Galilei erleichtert von der Zufriedenheit des Kardinals und erwähnt zwar Kritik an seiner Befähigung zum Malen a fresco, nicht aber an seinen Perspektivkenntnissen.344 Dabei waren die an den Maler der Paolina-Kuppel gestellten Erwartungen – gerade auch die Perspektive betreffend – hoch. Immerhin hatte sich Cigoli beim Wettbewerb unter anderen gegen Cherubino Alberti durchgesetzt, der 1596–1602 mit seiner Decke der Sala Clementina das größte Quadratura-Werk Roms geschaffen hatte.345 Mit den verkürzten Putti des Laternenrings nimmt Cigoli die Herausforderung durch die Werke der Brüder Alberti in S. Giovanni in Laterano, S. Silvestro al Quirinale und S. Maria sopra Minerva an, mit der verkürzten Immacolata den Vergleich mit dem Triumph des Heiligen Clemens und den Allegorien in der Sala Clementina. In Cigolis während der Ausmalung der Kuppel verfassten Briefen ist weniger von der Perspektive als von der Fernwirkung der Farben die Rede. Und tatsächlich gehört beides zusammen: Auch in seinem Traktat setzt Cigoli nicht allein auf den disegno, sondern auch auf die „Kraft der Farbgebung“ (la forza del colorito) und beschreibt neben der Linear- auch die von ihm in Anlehnung an Leonardo so bezeichnete „Luftperspektive“ (prospettiva detta dal Vinci aerea).346 Diese führt nicht nur zu der besonders in den Franziskusbildern, der Flucht nach Ägypten (1608) und der Stigmatisierung (1596) auffälligen Verblauung der – teilweise Paul Bril zugeschriebenen – Landschaftshintergründe, sondern ist auch für die plastische Wirkung der Gemälde verantwortlich.347

343 

Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 135–136: „Scoperta che egli ebbe finalmente l’opera, e con essa l’apparente grave difetto, restò come fuori di se: e fu il suo primo pensiero di mandarla a terra, e farla di nuovo: ma il Papa, a cui per altro era stata fatta nota la preziosità di quel lavoro visto del luogo dove egli l’aveva fatto, non volle permettergliele, onde egli forte s’accorò, e tale accoramento forse contribuì non poco alle cagioni del suo morire, che indi a non molto accadde.“ Vgl. Mancini 1625/1956, Bd. I, S. 229 und Baglione 1642/1995, Bd. I, S. 154. 344  Vgl. Cigoli an Galilei am 13.4.1612, Carteggio 2009, Nr. 29, S. 85 und am 3.11.1612, Nr. 46, S. 118. 345  Auf diese Konkurrenzen wies bereits Elisa Acanfora hin (vgl. Acanfora 2000, S. 36–37). 346  Cigoli 1628/2010, fol. 30v, S. 182: „Ci è ancora un altra sorte di pros[pettiv]a detta dal Vinci prosp[pettiv]a Aerea, e questa consiste nella distri/buzione del colore, del quale bene ordinate le sue differenze ha tanta forza, che la superficie / piana fa apparire rilevata, e la rilevata piana, e le cose vedute sotto angoli eguali ce le / fa tal volta apparire diseguali […] tutto procede dalla forza / del colorito …“ 347  Vgl. Chappell 1975.

VI. Semplicità : Figur en der R eduktion

1. „In uno sgua r do“: Das Ide a l des einen Blicks Laut Jean-Luc Nancy besteht die Eigentümlichkeit von Bildern darin, „ein Sinnoder Wahrheitsganzes“ „schlagartig“ zu offenbaren und darin selbst wahrheitsförmig zu sein: „Wenn sich Wahrheit tatsächlich selbst enthüllt oder offenbart, ist nicht nur das Bild je schon wahr, sondern auch die Wahrheit von sich aus je schon ein Bild.“1 In Nancys Definition verbindet sich der Topos, demzufolge Bilder ihren semantischen Gehalt instantan, oder, wie es oftmals heißt, „auf einen Blick“ (in uno sguardo, in una occhiata, d’un coup d’œil) darbieten, mit einer Konzeption von Wahrheit als sich selbst offenbarender aletheia. Doch erstens ist diese Definition von Wahrheit nur eine historische Option, und zweitens sind Bilder nicht per se evident. Wahrheit wurde nicht nur als das Evidente, sondern auch als Arkanum oder flüchtiges Tier aufgefasst, und Bilder konnten auch bewusst obskur, ohne Wahrheitsanspruch oder aus ästhetischen Gründen verworren sein. Instantane Erfassbarkeit ist mithin kein Charakteristikum von Bildern überhaupt, sondern zeichnet bestimmte Bilder aus. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden Klarheit und instantane Erfassbarkeit zu einem positiven Wert, der nicht nur in Paragonetexten als bildtypisch bezeichnet, sondern auch explizit von Malern eingefordert wurde: Bilder waren demnach so zu gestalten, dass man sie mit einem Blick erfassen konnte. Für sie gilt, was Hole Rößler für „epistemische Dinge“ im Allgemeinen stipuliert: „Dinge sind nicht evident, sie werden evident gemacht.“2 In der Rhetorik bezeichnet „Evidenz“ bekanntlich die Anschaulichkeit der Rede. Cicero übersetzte „enargeia“, die griechische Bezeichnung für die genaue Beschreibung, 1 

Nancy 2006, S. 26: „Das Bild ist – klar und distinkt – eine Evidenz. […] Das Wissen der Evidenz ist keine Wissenschaft, sondern das Wissen um ein Ganzes als Ganzem. Schlagartig – und darin liegt seine Schlagfertigkeit – liefert das Bild ein Sinn- oder Wahrheitsganzes“ (vgl. auch ebd., S. 129). 2  Rößler 2012, S. 20.

320 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

mit dem Begriff „evidentia“, wobei dieser in der neuzeitlichen Poetik häufig mit dem verwandten Konzept der „energeia“, der Verlebendigung der Rede, zusammenfiel.3 Die Verwechslung hat, so Jan-Dirk Müller, „einen Grund in der Sache“, da die genaue Beschreibung die Verlebendigung brauche, um die Hörer zu überzeugen. Dabei habe das ‚Vor-Augen-Stellen‘ nicht nur eine ästhetische Funktion, sondern diene auch der Wahrheitssuggestion, weil das Vorgebrachte als visuell Überprüfbares vorgestellt werde.4 Entsprechend bezeichnet auch Gilio die Wirkkraft von Bildern, welche die Geschichte „ad una occhiata“ zeigen, als „energia“.5 In Analogie zur Produktion rhetorischer Evidenz durch ausschmückende Beschreibung einerseits und anschauliche Prägnanz andererseits lassen sich auch bei Bildern zwei Arten der Wahrheitssuggestion unterscheiden. Die eine basiert auf der möglichst vollständigen, ‚naturalistischen‘ Schilderung aller Details, die andere auf Reduktion und Verdichtung. Beides kann sich verbinden, wenn – wie beispielsweise in barocken Thesenblättern – komplexe Gehalte so in einem Bild zusammengestellt werden, dass sich ihre Zusammenhänge „auf einen Blick“ erfassen lassen, auch wenn dem anfänglichen intuitus eine langwierige Auseinandersetzung mit den Einzelheiten zu folgen hat.6 Im Zuge des iconic turn ist die Bildern eigene „Evidenz“ als Wissen synthetisierende und generierende Kraft und die Funktion von Bildern als „Beweis“ oder „Argument“ herausgearbeitet, aber auch hinterfragt worden.7 „Das Evidente“, so Müller, ist „keineswegs das, was sich unvermittelt als einsichtig und wahr darbietet, sondern was einsichtig scheint. Evidenz ist etwas Gemachtes, das gerade nicht wie etwas Gemachtes aussehen darf, sondern sich als die Sache selbst präsentiert.“8 Vor allem die wissenschaftliche Illustration „verschleiert [oft] ihr Gemachtsein und tritt als Beweis auf“.9 Claus Zittel hat eine 3 

Müller 2006, S. 7. Zum Begriff der Evidenz vgl. die grundlegenden Arbeiten von Rüdiger Campe, v. a. Campe 2004. 4  Müller 2006, S. 7. Hole Rößler hat überzeugend gezeigt, inwiefern sich die „Kultur der Evidenz“ des 17. Jahrhunderts weniger durch Schlagworte wie Empirismus oder Rationalismus als durch ihre Verfahren zur Produktion von Anschaulichkeit charakterisieren lässt – etwa durch Sammlungen, Sektionen, Laboratorien oder den Einsatz von Bildern (vgl. Rößler 2012). 5  Gilio 1564/1961, S. 108: „… la quale è efficacissima et, oltre che sia communemente accettata, a le volte più s’impara ne la pittura che ne’ libri, conciossia che la pittura ad una occhiata vi dimostra l’istoria con tutti gli accidenti e particolari, e spezialmente quando è fatta da qualche eccellente maestro, et il libro successivamente a poco a poco. E chi negherà che la pittura non abbia la sua energia, come dianzi fu detto di Gregorio Nisseo, che, vedendo Isaacca su l’altare per esser sacrificato, tutto si commoveva a le lagrime?“ (Meine Hervorheb.) 6  Vgl. Bauer 2000 und Siegel 2000. Steffen Siegel charakterisiert synoptische Darstellungen als „Ikonotexte“, die Wissensordnungen „in nucleo“ präsentieren (vgl. Siegel 2006, S. 25­–27 und S. 113–114). 7  Vgl. Peters/Schäfer 2006, S. 9; Wimböck/Leonhard/Friedrich 2007 und Behrmann/Priedl 2014, bes. S. 14–15. 8  Müller 2006, S. 7. 9  Wimböck/Leonhard/Friedrich 2007, S. 18.

321 1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks

scharfe Kritik an der bild- und kulturwissenschaftlichen Rede von der Evidenz der Bilder formuliert und nicht nur für eine Historisierung der Begriffe, sondern auch für eine Differenzierung der Funktionen wissenschaftlicher Bilder plädiert.10 Doch auch wenn Zittel zuzustimmen ist, dass Bilder erst durch das Zusammenspiel mit dem Text zu „Argumenten“ oder gar „Beweisen“ werden können, ist darauf zu beharren, dass Bilder eher als Texte prima vista für wahr genommen werden, weil sie als existent präsentieren, was nicht oder zumindest nicht für alle sichtbar ist (etwa eine Vision oder eine anatomische Sektion). Trotzdem gab es bereits in der Frühen Neuzeit eine Form der ’Bildkritik’, denn Bilder – das zeigen beispielsweise die skeptischen Äußerungen William Harveys, aber auch die Debatten der Kontroverstheologen – wurden keineswegs unhinterfragt für wahr genommen.11 Auch Galilei würde Bilder niemals als „Beweis“ akzeptieren – dazu kennt er die bildlichen Persuasionsstrategien viel zu gut. Trotzdem behauptet er mit seinen akkuraten Abbildungen das von ihm Beschriebene als wahr. Und trotzdem findet auch Cigoli Wege, die von ihm dargestellten Gehalte nicht nur durch historische Recherche und künstlerische Schulung wahr sein, sondern auch wahr erscheinen zu lassen, also ihrer Botschaft Evidenz zu verleihen und Nachfragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Rede von der Evidenz der Bilder lässt sich jedoch auch von anderer Seite in Frage stellen. Denn Nancys Definition vernachlässigt unter anderem die okkulte Tradition, die Wahrheit für etwas notwendig Verborgenes hält und Bilder bevorzugt, die sich gerade in ihrer Komplexität und ihrem Rätselcharakter gefallen. Erasmus geht davon aus, dass „Gott selbst wollte, dass es eine gewisse Dunkelheit“ in der Heiligen Schrift gebe, die zwar zweifellos „die sicherste Wahrheit“ enthalte, aber „manchmal von den Vorhängen der Bilder und Rätsel verdeckt, so dass sie einer Erforschung und eines Auslegers bedarf“.12 Die Entscheidung der Gottheit, die Wahrheit zu verhüllen, kann sich Erasmus auf dreierlei Weisen erklären. Es könnte ein Versuch sein, träge Menschen zu beschäftigen und aufzuwecken, es könnte ein Neugieranreiz oder auch eine Zugangsbeschränkung zum „Schatz der Weisheit“ (thesaurus sapientiæ) sein.13 Gerade Letzteres lieferte den Ansporn 10 

Zittel 2009, bes. S. 237–241. Vgl. beispielsweise Harveys Kritik an Aquapendentes Bildern, die seines Erachtens eine wirkliche Argumentation ersetzen (vgl. ebd., S. 262). 12  Erasmus 1969, S. 488–491: „Nos igitur non fecimus eas obscuras, sed ipse Deus sic aliquam obscuritatem illis inesse voluit, ut tamen esset omnibus satis lucis ad salutem aeternam, si quis intendat oculos, nec desit adjutrix gratia. Nemo negat certissimam veritatem in sacris libris, sed ea nonnunquam figuram et aenigmatum involucris obtecta est, ut egeat scrutinio et interprete sive quod Deus sic voluerit exercere simul et excitare nostram tarditatem, quemadmodum ait Augustinus: sive quod jucundior est veritas et acrius afficit hominum, cum eruta fuerit, et per tenebras involucrorum nobis eluxerit, quam si fuisset oculis quorumlibet exposita: sive quod thesaurum illum sapientiae noluerit quibuslibet prostitutum.“ 13  Ebd. 11 

322 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

für Astrologen und Alchemisten, den Zugang zu arkanen Weisheiten so exklusiv wie möglich zu halten. Ein ähnlich intimes Verhältnis zur Wahrheit pflegte ein Kreis von Libertins der Accademia degli Incogniti, die, von der occultatio der Wahrheit überzeugt, in Kabbala, Neoplatonismus und Paracelsismus nach geheimen Wegen zur Erkenntnis suchten.14 Solches Obskuratentum lehnte Galilei ebenso ab wie die scholastische Mahnung zur epistemologischen humilitas: „Es ist lächerlich zu sagen, die Wahrheit sei so verborgen, dass es schwierig sei, sie von den Lügen zu unterscheiden. Freilich ist sie verborgen, solange sie nichts als falsche Meinungen vorbringen, unter denen die Wahrscheinlichkeit umherstreift, aber sobald die Wahrheit auf das Feld tritt, die wie die Sonne leuchtet, vertreibt sie die Schatten der Falschheit“.15 An anderer Stelle spricht Galilei von den „Labyrinthen der Falschheit“, in denen sich verirre, wer den „Faden, der auf direktem und einfachem Weg zur wahren Ursache führen würde“ nicht ergreife.16 Im Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo beteuert Simplicio nicht nur die Singularität der Wahrheit (una sola al più potrebbe esser vera), sondern auch deren Selbstevidenz: Wie könnte „das Wahre so wenig Licht besitzen“, fragt er, „dass nichts in den Schatten so vieler falscher [Meinungen] erscheinen würde?“ (gran cosa sarebbe, che ’ l vero potesse aver sì poco di luce, che nulla apparisse tra le tenebre di tanti falsi).17 Liest man diese Zeilen vor dem Hintergrund der Formulierung aus dem Saggiatore, wonach das Buch des Universums in der Sprache der Mathematik geschrieben ist, wird deutlich, dass der Forscher den Code der Natur zwar erst lernen muss, die Wahrheit ihm dann aber entgegenleuchtet. Das Korrelat zum mathematischen Alphabet des Buchs der Natur bilden die Hieroglyphen als Code der versiegelten Bücher der Mysterien. Seit der Wiederentdeckung von Horapollos Hieroglyphica im 15. Jahrhundert hielt man die Piktogramme für Kondensate des arkanen Wissens ägyptischer Priester, die zwar „auf einen Blick“ erkennbar waren, ihren geheimen Gehalt jedoch nur Eingeweihten preisgaben. Sie konnten zum Paradigma einer intuitiven Erkenntnisform werden, die in der christlichen Platonrezeption

14  Der mit diesem Milieu in Kontakt stehende Maler Pietro della Vecchia fertigte 1649 das Porträt eines jungen Mannes [Otto Tachenius?] mit einer pansophischen Tafel, die den Weg zur „veritas inaccessibilis“ weist (Provincetown, Chrysler Art Museum); vgl. Mulsow 2006, S. 11. 15  Galilei, Opere, Bd. IV, S. 24: „È cosa da ridere il dire che la verità sta tanto ascosta, che è difficile il distinguerla dalle bugie: sta bene ascosa sin che non si producono altro che pareri falsi, tra i quali spazia la probabilità; ma non sì tosto viene in campo la verità, che, illuminando a guisa del sole, scaccia le tenebre delle falsità etc.“ 16  Galilei, Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 46: „… dubito molto che ei non si sia inviluppato e smarrito in varii laberinti di falsità, per non aver preso il filo che per diritta e facile strada lo poteva condurre alla vera causa della sua questione.“ 17  Galilei, Dialogo, Opere, Bd. XII, S. 274.

323 1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks

Gott und den Engeln vorbehalten war.18 Pico della Mirandola beispielsweise beschreibt die symbolische Verdichtung als Korrelat göttlicher Erkenntnis: Gott erkenne die Dinge nicht durch lange Denkprozesse, sondern wisse um ihre einfache und unveränderliche Form. Deshalb hätten die ägyptischen Priester zur Beschreibung der Mysterien nicht Buchstaben, sondern Bilder verwendet.19 Antonio Ricciardi nennt die Hieroglyphen 1591 „kleine Erinnerungszeichen“, die der Sprache der Engel glichen, „dank derer die göttlichen Geister mit uns sprechen und welche die menschlichen Geister mit den Ohren der Seele hören.“20 Seit Platon genießt die intuitive Erkenntnis Vorrang vor der diskursiven, wobei Erstere meist mit dem Sehen, Letztere mit dem Lesen parallelisiert wird. Die höchste Stufe der Erkenntnis ist die zeitlose Schau der Ideen (noesis), ihr geht das sprachlich vermittelte Nachdenken, die temporale dianoia voraus.21 Seit der Spätantike wird das mit Bewegungsmetaphern belegte, „schrittweise“ Verstehen mit der menschlichen Erkenntnis, die universale „Schau“ hingegen mit dem göttlichen Allwissen assoziiert. Gott, so Augustinus, betrachtet das All „nicht teilweise oder nacheinander, gleich als ginge der Blick abwechselnd bald hierhin, bald dorthin und von dorther wieder hierher, und bald zu diesem, bald zu jenem […] sondern alles sieht er […] zugleich, weil es nichts gibt, was er nicht immer sähe“.22 Sein Emblem findet dieser allsehende Blick in dem isolierten, anthropomorphen Gottesauge. In Pontormos Emmausmahl aus dem Jahr 1525 beispielsweise wurde der

18  Ernst Gombrich hat gezeigt, wie sich die Vorstellung von der Intuition als der höchsten Form des Wissens mit dem Glauben an die Offenbarung durch Symbole verband: „For in the visual symbol we also contemplate the whole of a proposition in a flash. This process, therefore, pre-figures and mirrors the process of intellectual intuition“ (Gombrich 1948, S. 171). 19  Ficino 1576, S. 1768: „Sacerdotes Aegyptij ad significanda divina mysteria, non utebantur minutis literarum characteribus, sed figuris integris herbarum, arborum animalium quoniam videlicet Deus scientiam rerum habet non tamquam excogitationem de re multiplicem, sed tamquam simplicem firmamq[ue] rei formam.“ Vgl. dazu Gombrich 1948, S. 172. 20  Ricciardi 1591, Vorwort, o. S.: „Siquidem ipsa Symbolica significata sunt ipsa Angelorum lingua, per quam ipsi Angeli loquuntur mentibus hominum, tales enim & ipsae mentes humanæ habent linguas, quales & ipsi Angeli, quæ non sunt nisi signacula quædam commemorativa, quorum signaculorum ipsi Angeli cupiunt nos re cordari, quibus ipsi spiritus divini nobis loquuntur, & spiritus humani auribus mentium illis auscultant.“ Paleotti interpretiert die Hieroglyphen als Ursprung oder Sonderform des Symbols. Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 463: „… Altri dicono che le ieroglifice erano di due sorti, l’una detta simplicemente ieroglifica, l’altra simbolica; e che della simbolica vi erano parimente tre specie tra sé diverse, una come dice Clemente Alessandrino, per imitationem, altera per tropos, tertia per aenigmata.“ 21  Zur Opposition von nous und dianoia vgl. Macho 2011, S. 55. 22  Augustinus, De Trinitate, XV.14.23; 2001, S. 312: Deus „non particulatim aut singillatim, velut alternante conspectu hinc illuc, et inde huc, et rursus inde vel inde in aliud atque aliud, ut aliqua videre non possit nisi non videns alia, sed ut dixi simul omnia videt, quorum nullum est quod non semper videt.“

324 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

(1628 verbotene) Tricephalus mit einem dreieckig gerahmten Auge übermalt.23 Während die Jünger eine Weile brauchen, bis sie Christus „schlagartig“ erkennen, sieht das Gottesauge alles zugleich und vorher. Menschliches Sehen und Verstehen vollzieht sich, so Thomas von Aquin im Anschluss an Augustinus, in zweifacher Hinsicht in der Zeit: erstens, weil wir „jetzt dieses erfassen und uns dann zur Erkenntnis eines anderen wenden“ und zweitens, weil wir schlussfolgernd denken.24 „Vollkommenheit in der Erkenntnis der Wahrheit“ erlangen Menschen ihm zufolge nur „durch eine gewisse Bewegung und Fortschreiten in der geistigen Tätigkeit“, „indem sie nämlich aus dem einen Erkannten zur Erkenntnis des anderen vordringen“.25 Die Engel hingegen überschauen bei der Erkenntnis eines Denkgrundsatzes zugleich alle Schlussfolgerungen. „Denn wenn [die Menschen] die Fülle des geistigen Lichtes hätten wie die Engel, so erfassten sie im ersten Blick (in primo aspectu) auf die obersten Denkgesetze deren ganze Kraft, indem sie sofort überschauten, was immer aus ihnen erschlossen werden könnte.“26 Auf der Erde bleibt das Sehen auf einen Blick eine Verheißung: „In der Heimat [werden] unsere Gedanken nicht unbeständig sprunghaft sein […], indem sie vom einen zum anderen hin und her gehen, sondern wir werden unser ganzes Wissen zugleich in einem Blick sehen“.27 Eine optimistischere Position vertritt Galilei, der Salviati in seinem Dialogo zunächst ganz im Sinne der augustinischen Tradition eine Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt formulieren lässt: „Diese Übergänge, zu welchen unser Geist Zeit braucht, die er schrittweise (di passo in passo) vollführt, durchläuft der göttliche Intellekt dem Lichte gleich in einem Augenblick (in un instante) oder, was auf

23  Zur Übermalung des Auges vgl. Forster 1966, S. 139, Nr. 28; zu Jacopo da Empolis, ebenfalls mit einem Auge versehenen Kopie vgl. Proto Pisani 2004, Kat. Nr. 16. Oft verbindet sich das Augenemblem als Symbol der Vigilantia oder der Prudentia mit Machtsymbolen (vgl. bspw. Andrea Sacchis Divina Sapienza im Palazzo Barberini, in der gegenüber der Sapienza mit Sonnenemblem und Augenszepter eine Allegorie der Perspicacità mit einem Adler dargestellt ist; vgl. Haskell 1996, S. 85–86). 24  Thomas von Aquin, Summa, Bd. I, qu. 14, art. 7: „In scientia enim nostra duplex est discursus. Unus per successionem tantum: sicut cum, postquam intelligimus aliquid in actu, convertimus nos ad intelligendum aliud. Alius discursus est seduncum causalitatem: sicut cum per principia pervenimus in cognitionem conclusionum.“ Übers. nach Thomas von Aquin 1934, Bd. II, S. 29. 25  Ebd., I, qu. 58, art. 3: „… per quemdam motum et discursum intellectualis operationis perfectionem in cognitione veritatis adipiscuntur […] Si autem statim in ipsa cognitione principii noti inspicerent, quasi notas, omnes conclusiones consequentes, in eis discursus locum non haberet. Et hoc est in angelis …“ Übers. nach Thomas von Aquin 1936, Bd. IV, S. 250. 26  Ebd.: „Si enim haberent plenitudinem intellectualis luminis, sicut angeli, statim in primo aspectu principiorum totam virtutem eorum comprehenderent, intuendo quidquid ex eis syllogizari posset.“ Übers. 1936, Bd. IV, S. 251. 27  Ebd., I, qu. 58, art. 2: „Et ideo quantum ad talem cognitionem omnia simul cognoscunt; sicut et in patria ’non erunt volubiles nostrae cognitiones ab aliis in alia euntes atque redeuntes; sed omnem scientiam nostram simul uno conspectu videbimus’, ut Augustinus dicit [15 Trin. Cap. 16].“ Übers. 1936, Bd. IV, S. 248.

325 1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks

dasselbe hinauskommt, sie sind ihm stets alle gegenwärtig.“28 Dann aber vollzieht sich, wie Blumenberg und Bredekamp gezeigt haben, eine grundlegende Wende, die dem menschlichen Verstehen eine zumindest qualitative Gleichwertigkeit zugesteht. Denn wenn die Zahl der vom Menschen gewonnenen Einsichten im Verhältnis zur Gesamtheit des Wissens auch verschwindend gering ist und diese nur schrittweise erreicht werden, sind die wenigen Wahrheiten, die er mathematisch erkennt, doch absolut wahr.29 „Ich sage, dass die mittels mathematischer Beweise gelieferte Wahrheit dieselbe ist, welche die göttliche Weisheit einsieht, aber ich gestehe zu, dass die Art, mit der Gott die unendlichen Propositionen einsieht, von denen wir nur einige wenige erkennen, absolut vollkommener ist als die unsere, die mit Diskursen und Schritten von einem Schluss zum nächsten fortschreitet, während er mit einem einzigen Blick erkennt“ (il Suo è di un semplice intuito).30 Der Unterschied von Gott und Mensch liegt allein im Modus des Verstehens, nicht aber in der Wahrheit selbst. Grundsätzliche Skepsis, wie sie Campanella äußert, der Galilei daran erinnert, dass „über allen Dingen der Zweifel“ liegt, lehnt der Astronom deshalb kategorisch ab.31 Trotzdem neigt der Mensch zum Irrtum; denn auch wenn mathematisch bewiesene Aussagen absolut wahr sind, basieren doch viele Theorien auf empirischen Beobachtungen. Feierte Constantijn Huygens das Fernrohr noch als Instrument und Vorbote künftiger menschlicher Allsicht – „Götter möchte man sagen, werden schließlich die Sterblichen sein, wenn sie imstande sind, sowohl fern und nah,

28 

Galilei, Dialogo, Opere, Bd. VII, S. 130: „Or questi passaggi, che l’intelletto nostro fa con tempo e con moto di passo in passo, l’intelletto divino, a guisa di luce, trascorre in un instante, che è l’istesso che dire, gli ha sempre tutti presenti.“ Übers. nach Galilei/Blumenberg 2002, S. 158. 29  Vgl. ebd., S. 128–129: „… l’intendere si può pigliare in due modi, cioè intensive o vero extensive: e che extensive, cioè quanto alla moltitudine degli intelligibili, che sono infiniti, l’intender umano è come nullo, quando bene egli intendesse mille proposizioni, perchè mille rispetto all’infinità è come un zero; ma pigliando l’intendere intensive, in quanto cotal termine importa intensivamente, cioè perfettamente, alcuna propositione, dico che l’intelletto umano ne intende alcune così perfettamente, e ne ha così assoluta certezza, quanto se n’abbia l’istessa natura e tali sono le scienze matematiche pure, cioè la geometria e l’aritmetica, delle quali l’intelletto divino ne sa bene infinite propositioni di più, perchè le sa tutte, ma di quelle poche intese dall’intelletto umano credo che la cognizione agguagli la divina nella certezza obiettiva, poichè arriva a comprenderne la necessità, sopra la quale non par che possa esser sicurezza maggiore.“ Vgl. dazu Blumenberg 2002, S. 58–60. 30  Ebd., S. 129: „… dico che quanto alla verità di che ci danno cognizione le dimostrazioni matematiche, ella è l’istessa che conosce la sapienza divina, ma vi concederò bene che il modo col quale Iddio conosce le infinite proposizioni, delle quali noi conosciamo alcune poche, è sommamente più eccellente del nostro, il quale procede con discorsi e con passaggi di conclusione in conclusione, dove il Suo è di un semplice intuito …“ Übers. nach Galilei/Blumenberg 2002, S. 157. 31  Tommaso Campanella an Galilei am 8.3.1614, Opere, Bd. XII, S. 31–32: „Tutti filosofi del mondo prendono legge dalla penna di V.S., perchè in vero non si può filosofare senza uno vero accertato sistema della construttione de’ mondi, quale da lei aspettiamo: e già tutte le cose son poste in dubbio, tanto che non sapemo s’il parlare è parlare.“ Übers. nach Mudry 1987, Bd. II, S. 38.

326 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

hier und überall zu sein“32 –, glaubt Galilei zur Zeit der Abfassung des Dialogo nicht mehr uneingeschränkt an die Wahrheitsfähigkeit der Sinne: Einsicht erlangt der Mensch nicht allein durch genaue Betrachtung, sondern vor allem durch die Mathematik, auch wenn diese in der Geometrie sichtbare Formen annimmt. Eine Vorahnung der quasi-göttlichen Schau wird dem Menschen in Momenten der Ekstase gewährt. (Descartes wird wenig später im Zustand des Enthusiasmus von einer sapientia universalis träumen.) Eine zweite – wenn auch schwächere – Vorahnung solcher Schau liefern Bilder, die Gegenstände auf einer überschaubaren Fläche ordnen. Dieses Vermögen machten sich die Ikonophilen zunutze, um die Überlegenheit piktorialer Darstellungen gegenüber den Zeitkünsten zu behaupten. Eine prominente, wenn auch widersprüchliche Formulierung findet das Argument bei Leonardo, demzufolge die Malerei ihre Gegenstände „in einem Augenblick“ (immediate, con prestezza, in istanti, in un’ su­bito) zu erkennen gibt, während die Dichtung sie „verworrener und langsamer“ zeige (più confusamente e con più tardità).33 Doch auch wenn das Sehen „eine der schnellsten Handlungen“ sei, vollziehe es sich in der Zeit. Der Blick sei zwar blitzschnell, aber nicht instantan, und er könne immer nur eine Sache auf einmal erfassen. Insofern komplexe Bilder eine eingehende Auseinandersetzung erfordern, sei der Betrachter einem Leser vergleichbar, der eine beschriebene Seite zwar „mit einem Blick“ (in una occhiata) überblicken könne, den Sinn des Texts jedoch erst erfasse, wenn er ihn „Wort für Wort, Zeile für Zeile“ lese.34 Damit wendet Leonardo, wie Frank Fehrenbach gezeigt hat, Alhazens erkenntnistheoretische Unterscheidung von aspectus simplex und consideratio cum intuitione in eine rezeptionsästhetische.35 Durchgängig privilegiert Leonardo dabei das Bild gegenüber dem Buch: Während die langwierige Lektüre ermüde, erfasse der Blick ein Bild in kürzester Zeit. Instantaneität und Diskursivität sind folglich nicht an die Eigenschaften der Sinnesorgane, sondern an die unterschiedlichen Gattungen gebunden. Nur die bildenden Künste vermögen heterogene Elemente zu einer überschaubaren, harmonischen Einheit zusammenzufügen.

32 

Constantijn Huygens zit. nach Mann 1986, S. 138. Für Tesauro wird das Fernrohr zum Sinn­ bild der Metapher, die wie das Teleskop „den Geist im Flug von einem Gegenstand zum nächsten bringt“ und „in einem einzigen Wort ein Theater voller Wunder“ präsentiert (vgl. Tesauro 1655/2000, S. 267 und Rößler 2012, S. 263–265). 33  Leonardo, Cod. Vaticanus (Urbinas), zit. nach Richter 1949, S. 38, 40 und 54. 34  Leonardo, Cod. A, fol. 108, zit. nach Scarpati 2001, S. 37: „Noi conosciamo chiaramente che la vista è delle [più] veloci operazione che sia e in un punto vede infinite forme, nientedimeno non comprende se non una cosa per volta. Poniamo caso tu, lettore, guarderai in una occhiata tutta questa carta scritta, e subito giudicherai questa essere piena di varie lettere, ma non conoscerai in questo tempo che lettere si sieno, né che vollin dire; onde ti bisogna fare a parola a parola, verso per verso, a volere avere notizia d’esse lettere.“ 35  Vgl. Fehrenbach 2002.

327 1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks

Leonardos Argumente wurden in den folgenden Jahrhunderten nicht wesentlich ergänzt. Auch Gilio preist Bilder dafür, auf einen Blick zu präsentieren, was ein Text nur nacheinander erzählen könne.36 Für Paleotti ist die Instantaneität ein wichtiges Argument im Bilderstreit, denn Bilder informieren ihre Betrachter „in allergrößter Kürze, ja in einem Moment oder vielmehr mit einem Blick, während die Gelehrten so viel Zeit und Mühe aufwenden müssen, um die Bücher zu verstehen“.37 Borghini betrachtet die Augenblicklichkeit als einen der Vorteile von Gemälden gegenüber Skulpturen, die man umschreiten müsse, um sie Stück für Stück zu erfassen, während Bilder alle Ansichten – notfalls mittels bildinterner Spiegel – auf einmal (in un solo sguardo) präsentieren.38 Der Autor des Paragonebriefes geht auf das Zeitargument erstaunlicherweise nicht ein. Cigoli selbst äußert sich ebenfalls nicht zu der Frage, betont aber in seiner Prospettiva, dass der Sehstrahl Auge und Objekt instantan (imediatam[en]te) verbinde.39 Doch auch wenn die Augenblicklichkeit ein allgemeines Merkmal von Bildlichkeit ist, sind einige Bilder übersichtlicher als andere. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird die instantane Erfassbarkeit der Komposition zusammen mit der zeitlichen Beschränkung des Dargestellten auf einen Augenblick zu einer expliziten Forderung an die Maler. Um mit einem Blick erkennbar zu sein, müssen Bilder ein angemessenes Verhältnis von Größe und Betrachterdistanz besitzen und darüber hinaus eine klare Flächengestaltung aufweisen. Cigoli erörtert diesen Zusammenhang im Kontext der Perspektivbühne, die nur „von einem einzigen Punkt“ (in un solo punto) vollständig überblickt werden könne, der folglich dem vornehmsten Zuschauer vorbehalten sein sollte.40 Dass die instantane Erfassbarkeit an die Größe des Sehfeldes gebunden ist, bekam Cigoli auch bei seinen Teleskopbeobachtungen zu spüren. 1612 klagt er, dass sein Fernrohr keine Betrachtung der Sonnenscheibe „auf einen Blick“ (in una occhiata) erlaube, wodurch 36  Gilio 1564/1961, S. 108: „… a le volte più s’impara ne la pittura che ne’ libri, conciossia che la pittura ad una occhiata vi dimostra l’istoria con tutti gli accidenti e particolari, e spezialmente quando è fatta da qualche eccellente maestro, et il libro successivamente a poco a poco.“ 37  Paleotti 1582/1961, S. 221: „… e però si lasciano intendere, quando il pittore non le voglia stroppiare, da tutte le nazioni e da tutti gli intelletti, senza altro pedagogo o interprete. Si aggiunge che, con brevità grandissima, anzi in un momento, o più tosto in uno sguardo, fanno capaci subito le persone; dove nei libri provano gli eruditi quanto tempo et oglio vi si consuma per intenderli.“ 38  Borghini 1584, S. 31: „… onde si veggono in un solo sguardo tutte le vedute senza prendersi fatica d’andare attorno …“ 39  Vgl. Cigoli 1628/2010, fol. 6r, S. 116. Dabei ist natürlich nur vom Sehen im Allgemeinen die Rede, auch Buchstaben werden auf diese Weise blitzschnell optisch erfasst. 40  Cigoli 1628/2010, fol. 60v, S. 237: „Et perche la perfetta veduta della sciena è in un solo punto ad ele/zione dell’operante, percio in esso si hà da locare il piu nobile spettatore, dal qual’ punto quanto piu / si allontana la veduta, diviene quella più imperfetta, e perche il fine non è solo tanto del veder lo spettacolo, quanto / del sentire; ò vedere ogni atto degl’Histrioni, perciò la distanza deve essere molto piu breve …“

328 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

Ungenauigkeiten in den Aufzeichnungen entstünden.41 Eine Verbesserung brachte die Fixierung des Aufzeichnungsfeldes, die jedoch noch nicht das Problem der ständigen Bewegung der Flecken zu lösen vermochte: Jeder Punkt, so Cigoli, gerate umgehend zur Linie.42 Dank der Serialisierung der Momentaufnahmen auf einem Blatt allerdings lässt sich die Bewegung der Flecken auf einen Blick erfassen.43 Um ein Bild übersichtlich zu gestalten, ist – abgesehen von der Wahl eines geeigneten Sehwinkels und Blickpunkts – eine klare Anordnung der Figuren unerlässlich. Die Komposition muss der Aufmerksamkeitsökonomie der Betrachter Rechnung tragen, indem sie die Hauptpersonen ins Zentrum rückt und die Relationen der Figuren deutlich macht. Schon Alberti und später Dolce hatten die Maler vor zu vielen Figuren gewarnt, da das Auge „durch allzu große Massen verwirrt, sich leicht verstimmen“ lasse und die gleichzeitige Präsentation vieler Dinge auf einmal widernatürlich sei.44 Bocchi rät mit Blick auf die selektive Aufmerksamkeit der Betrachter, alles Überflüssige von vornherein zu vermeiden, denn „Menschen sind es gewohnt, die Augen auf das Hauptwerk zu richten und nur dies zu betrachten, ohne sich um alles andere zu kümmern, auch wenn dies geraten wäre“.45 Paleotti warnt den Maler davor, Verwirrung zu stiften, indem er „den Figuren nicht den Ort zuweist, der […] ihrer Würde entspricht und was in der Mitte dargestellt werden sollte, marginalisiert oder das Hauptanliegen der Geschichte zurückdrängt und dafür größere Aufmerksamkeit auf das Unwichtige verwendet und damit für die Augen hervorhebt“.46 Zielscheibe der Kritik sind insbesondere die Gemälde der späten Manieristen, die ihre Bilder nicht nur mit einer großen Zahl von Figuren bevölkerten, sondern auch mit Vorliebe die Betrachtererwartung durch ungewohnte Gewichtungen brachen. Als Negativbeispiele führt Paleotti Darstellungen der Konversion Pauli an, bei denen die ganze Aufmerksamkeit auf das Pferd gelenkt werde oder Gemälde der Anbetung der Könige, in denen „ein bewundernswertes Kamel oder ein mit Geschenken beladener Mohr“ so viel 41  Cigoli an Galilei am 23.3.1612, Carteggio 2009, Nr. 28, S. 84: „Li mando queste poce osservazioni: non so se saranno bene agiustate, perché il non le vedere tutte in una ochiata mi arà fatto forse male agiustare …“ 42  Cigoli an Galilei am 31.8.1612, ebd., Nr. 40, S. 106: „… non mi pare si possino fare giustissime, per il continuo moto del sole, che non ti lascia fare un punto, ch’egli scorre avanti: pure io spingo il foglio, seguitandolo e tenendolo il meglio che io posso dentro a quella circonferenza già fatta, conforme alle sue già mandatemi.“ 43  Vgl. Bredekamp 2007, S. 226. 44  Dolce 1557/1970, S. 50. 45  Bocchi 1584/1962, S. 188: „Sono usati gli uomini accorti di affissare gli occhi nella principale opera, et in quella solamente mirare, poco curando ogni altra cosa, quantunque sia commendabile.“ 46  Paleotti 1582/1961, S. 378: „Così aviene quando il pittore non dà il luoco alle cose che figura, secondo la condizione e dignità loro, e mette dai lati quello che dovria essere posto in mezzo; overo, pretermettendo quello che è lo scopo principale dell’istoria, pone maggior diligenza in quello che non importa tanto, facendolo apparire più agli occhi …“

329 1. „In uno sguardo“: Das Ideal des einen Blicks

Raum einnähmen, dass das Kind im Gewusel untergehe.47 Auch Borghini, der zwar insofern noch durch Vasaris Kunstideal geprägt ist, als er diverse Gemälde für die Vielzahl ihrer Figuren lobt, kritisiert Bilder, bei denen die Kunstfertigkeit die Lesbarkeit behindere. Beispielsweise polemisiert er gegen Darstellungen der Geburt Christi, in denen man Ochs und Esel erst lange suchen müsse, bis man sie ganz klein im Hintergrund finde.48 Ähnliche Entwicklungen lassen sich um 1670 in der französischen Akademie beobachten: Immer wieder wird daran erinnert, dass die Kontemplation nicht durch ablenkende Details gestört werden dürfe. Für Charles Le Brun beispielsweise hat eine vollkommene Kreuzigung nur drei Figuren. Vorbildlich erscheinen ihm deshalb Guido Reni, Philippe de Champaigne, Rubens oder Velázquez, die auf jegliches Trauerpersonal verzichten und allein das Kruzifix zeigen.49 Ein Vergleich der von Federico Zeri als Inbegriff der „arte senza tempo“ beschriebenen Kreuzigung Pulzones in S. Maria in Vallicella mit Stradanos „volkreicher“ Kreuzigung in SS. Annunziata zeigt den Gegensatz deutlich (Abb. 160–161).50 Die Zahl der Figuren wird reduziert; die Akteure erhalten durch den großen Maßstab, die reinen Farben und die expressive Körpersprache neue Erdenschwere und Ausdruckskraft. Die plastischen Figuren befinden sich auf einer schmalen, dicht an die Bildebene gerückten Zone vor schwarzem Grund. Die Forderung nach der Beschränkung der Figurenzahl ist jedoch nicht nur eine Reaktion gegen die späten Manieristen, sondern kommt auch den Forderungen der Gegenreformatoren nach affektiv wirksamen Bildern entgegen. Uneindeutige Kunst ist den Bildwächtern schon deshalb suspekt, weil sie die Betrachter zu individuellen Überlegungen anregt. Gilio fürchtet, dass wenn zehn Menschen ein komplexes Bild anschauen, zehn verschiedene, inkompatible Interpretationen im Raum stünden.51 Noch ungünstiger würde die Situation, wenn sich der Disput ins Innere des Betrachters verlege und die vieldeutigen Bilder statt Frömmigkeit ein inneres Streitgespräch erzeugten, denn „ein in tausend Teile zerrissener Geist“, so Paleotti, sei zu beschäftigt, um wahrhaft andächtig zu sein.52 47  Ebd.: „… sì come nella conversione di S. Paolo si vedono molti pittori consummare tutta la sua cura in figurare un cavallo bello e gagliardo, e questo hanno per principale, né del resto si curano più che tanto; e nell’adorazione de’ Maggi si affaticheranno per fare un camello meraviglioso, o un moro carico di presenti, et a quello danno il più bel luoco nel quadro, talmente che a pena si scorge dove sia il sacro fanciullo che si ha da adorare.“ 48  Borghini 1584/2010, S. 78: „Vi mancano poi il bue e l’asino: dico vi mancano; perchè l’avergli fatti apparire lontani in uno oscuro, come in una buca, col muso solamente, che a gran pena con gli occhi molto cercandoli si veggono, è come se non vi fossero …“ 49  Vgl. Mâle 1984, S. 33 und 212. 50  Vgl. Zeri 1957, S. 91–92 und Dern 2003, S. 56–58, 137–140. Eine auf drei Personen redu­ zierte, nicht eigenhändige Variante aus dem Jahr 1599 befindet sich in S. Eligio dei Ferrari (ebd., S. 139). 51  Gilio 1563/1961, S. 98: „Che ciò sia vero, ponetivi a cura che, se diece persone vi stanno a mirarle, vi faranno su diece commenti e l’uno non si confronterà con l’altro.“ 52  Paleotti 1584/1961, S. 408: „… [le pitture] con la loro oscurità confondono per modo la mente, che la distraeno in mille parti e la tengono occupata in disputare tra sé stessa quale sia quella figura, non

330 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

160. Giovanni Stradano, Kreuzigung, 1569, Öl auf Leinwand, 468 × 291 cm, Florenz, SS. Annunziata.

161. Scipione Pulzone, Kreuzigung, 1585–1590, Öl auf Leinwand, 281 × 170 cm, Rom, S. Maria in Vallicella.

Exzellenz zeigt sich folglich nicht in der Komplexität, sondern in der Fähigkeit des Malers, sich klar und deutlich auszudrücken und den Betrachter zu bewegen. Die Wandlung der Bildsprache lässt sich folglich einerseits als innerkünstlerische Reaktion gegen die maniera erklären, andererseits als Antwort auf die Forderung der Gegenreformatoren nach Eindeutigkeit, Verständlichkeit und Überzeugungskraft, zuletzt aber auch als Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zur Einfachheit, die auch in der zeitgenössischen Literatur, Musik, Philosophie und Wissenschaftstheorie zu beobachten ist. Diese Konvergenzen werden im Folgenden eher benannt als erklärt, denn es scheint voreilig, die neue Monumentalität als Ausdruck des wiedererlangten Selbstbewusstseins der Kirche oder gar der zunehmenden Rationalisierung zu deuten, wie Boschloo dies 1974 noch tun konnte.53 Trotzdem soll ein Versuch unternommen werden, senza perdita della divozione.“ Vgl. auch ebd., S. 172: „… la medesima imagine partorirà più differenze, secondo i varii concetti che di essa piglieranno i riguardanti“ und dazu Hecht 1997, S. 60. 53  Boschloo 1974, S. 158.

331 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

strukturelle Analogien in den verschiedenen Bereichen aufzuzeigen, die ihren gemeinsamen Nenner in dem finden, was nicht erst Descartes mit dem Schlagwort des „clare et distincte“ bezeichnet hat.54 Schon in der Rhetorik galten claritas bzw. perspicuitas und brevitas als Ideale der elocutio.55 In den hier ausgewerteten Traktaten werden meist die Konzepte „semplicità“ und „brevità“ verwendet.56 Cigolis Gemälde nehmen in der Spanne zwischen Evidenzproduktion durch Reduktion und naturalistischer Detailschilderung eine Zwischenstellung ein. Mit der von Friedländer beschriebenen Generation der Reformer teilt er den „Wille[n] zum Einfachen und Sachlichen (an Stelle des Komplizierten), zur Ehrlichkeit gegenüber der – überprüfbaren – Natur“,57 mit den Empiristen die genaue Naturnachahmung im Detail.

2. „Quasi per com pendium“: R eduktion und V e r dic htung Nur wenig mehr als zwei Jahrzehnte liegen zwischen Bronzinos Laurentiusmartyrium in S. Lorenzo und dem Gemälde des jungen Cigoli in Figline Valdarno von 1590, und doch hat sich alles verändert (Abb. 162–163).58 Bei Bronzino verschwindet der Märtyrer in einem Gewirr verrenkter ignudi; Engel, Schergen, Allegorien und Zuschauer sind kaum voneinander zu unterscheiden. Trotz der fluchtenden Architektur formen die Figuren ein ornamentales, die gesamte Bildfläche überspannendes Gewebe. Bronzino verstößt damit gegen fast alles, wogegen ein Maler in den Augen der Gegenreformatoren und Kunstwächter verstoßen konnte: den Anstand, die veritas historica, in einigen Figuren gegen die Anatomie, vor allem aber gegen die Bescheidenheit, denn die Inszenierung der nackten Leiber und die Michelangelozitate fallen unter den Verdacht eitler Zurschaustellung von Kunstfertigkeit.59 Statt Mitleid will der Maler offenbar vor allem Bewunderung wecken, das Bild fördert weniger die Andacht als Lust und Staunen. Cigoli hin-

54 

Für Descartes ist die perceptio clare et distincte bekanntlich das zentrale Kriterium für Erkennt­ nis: Wahr ist, was eindeutig erkennbar, bewusst und von anderen, ihrerseits klaren Erkenntnissen unterschieden ist. 55  Vgl. Asmuth 2003. 56  Paolo Pino rät den Malern, sich ein Vorbild an den Dichtern zu nehmen, die mittels Selektion und Konzentration eine „brevità“ erzielten, die allein durch kompositorische Einheit, nicht aber durch das Abschildern „aller Einzelheiten der Welt im Bild“ (tutte le fatture del mondo in un quadro) zu erreichen sei (Pino 1548, S. 115–116; vgl. dazu Puttfarken 1991, S. 91). 57  Friedländer 1930, S. 217. 58  Zu Bronzino vgl. Stephen Campbells differenzierte Analyse von 2004. 59  Vgl. Borghini 1584/2010, S. 155. Stephan Campbell hat die Ambivalenzen des Freskos und die „ironische, ja sogar transgressive Dimension“ des Verhältnisses zu Michelangelo aufgezeigt (vgl. Campbell 2004, hier S. 105).

332 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

162.  Bronzino, Laurentiusmartyrium, 1565–1569, Fresko, Florenz, S. Lorenzo.

gegen konzentriert die Szene auf wenige Figuren. Der Märtyrer wird nah an den Betrachter gerückt und durch sein helles Inkarnat ausgezeichnet, die Transzendenz durch den Lichtkegel und die geflügelten Putti angezeigt. Statt Bronzinos marmorner Kühle scheint man das Glühen der Kohlen im Dunkel zu spüren. Zwar nutzt auch Cigoli das Nachtstück zur Vorführung seiner Meisterschaft, diese aber entspricht der veritas historica und ist zudem durch ihre Wirkung legitimiert, da das Bild nicht nur Staunen, sondern auch Rührung und Mitleid erweckt. Zahlreiche ähnliche Gegenüberstellungen ließen sich anschließen. Man vergleiche beispielsweise Vasaris inhaltlich und formal überaus komplexe Immacolata Concezione mit Cigolis Komposition in Pontorme, die der Madonna und den Stammeltern Masse und Volumen verleiht und den Bildaufbau durch die klare Zweiteilung der Fläche sowie die Einschreibung der Figuren in ein Dreieck vereinfacht. Die Palette wird dunkler; Maria erhält ein volles, raffaeleskes Gesicht und einen gewichtigen Körper; die starke Drehung wird zurückgenommen; das Kopftuch weht nicht mehr im Wind, sondern umschließt einen ovalen, statuarischen Kopf (vgl. Abb. 83/84).

333 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

163. Cigoli, Laurentiusmartyrium, 1590 (wie Abb.  61).

Doch die Abwendung vom Manierismus lässt sich auch innerhalb von Cigolis eigener Stilentwicklung beobachten. Obgleich bereits das Laurentiusmartyrium und die Immacolata frühe Manifestationen seiner neuen Bildauffassung darstellen, zeigt ein Vergleich der frühen Kreuzabnahme von ca. 1580 mit der Fassung von 1608 die zunehmende Monumentalisierung und Klärung der Komposition (vgl. Abb. 113/116).60 Die vierzehn Figuren werden auf acht reduziert, das Kolorit wird dunkler, die lose Gruppierung stärker gebunden. Zugleich gewinnen die Körper an Materialität und Kontur, die flatternden Gewänder werden gebändigt. Auch wenn die Kreuzabnahme im Palazzo Pitti zu Cigolis komplexesten Bildfindungen gehört und weit entfernt ist von den schlichten Kreuzigungen Pulzones oder Renis, sind die Figuren doch ’erdenschwerer’, die Farben satter, die drei Gruppen – Akteure, Trauernde und Zuschauer – deutlich unterschieden. Wie die verisimilitudo oder die naturalezza ist auch die chiarezza ein ästhetisches Ideal, aber kein Selbstzweck: Sie dient der Überzeugung. Bocchi zufolge erkennen die 60 

Zu der frühen Kreuzabnahme vgl. Bredekamp 2007, S. 42–43.

334 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

164. Cigoli, Rettung Ertrinkender durch Alberto Carmelitano, um 1596, Öl auf Leinwand, 216 × 128 cm, Florenz, S. Maria Maggiore, Innenfassade.

Betrachter Donatellos Hl. Georg instantan als Vorbild; er zeigt uns „mit einem Blick das ganze Leben, das man leben muss“.61 Ist eine Figur gut gestaltet, kann der „eine Blick“ sogar bis in ihr Inneres vordringen. Der Hl. Franziskus in Andrea del Sartos Harpyienmadonna von 1517 beispielsweise teile dem Betrachter „in una sola vista“ seine Gefühle mit.62 Öffentlich ausgestellte Statuen und Bilder, das glaubt auch Ammannati, können „in 61 

Bocchi 1584/1962, S. 144: „Perché, qual cosa maggiore e più mirabile […] possono le statue dimostrare, che l’animo et i pensieri, et in una vista sola quasi la vita tutta, che si dee vivere, farci vedere?“ 62  Bocchi 1591, S. 171; vgl. Natali 1999, S. 83–89.

335 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

una occhiata sola“ jeden Betrachter bewegen.63 Noch weiter geht Paleotti, wenn er Bildern das Vermögen zuschreibt, ihren Betrachtern vorbildliche Akte der Großherzigkeit oder Gerechtigkeit einzuprägen und in ihnen „in einem Augenblick sowohl den Wunsch nach Tugend als auch die Verachtung des Lasters“ zu bewirken.64

165. Ausschnitt aus Abb.  164.

Exemplarisch lässt sich diese affektive Verdichtung in der Rettung zweier Ertrinkender durch Alberto Carmelitano aus dem Jahr 1595 an der von Cigoli gestalteten Innenfassade von S. Maria Maggiore in Florenz aufzeigen, die Baldinucci treffend als „schön obgleich klein“ (bella benchè piccola) bezeichnet (Abb. 164).65 Die Wirkung verdankt sich 63 

Bartolommeo Ammannati, in: Baldinucci 1811, Bd. VII, S. 496: „Or se dichiamo, e crediamo questo degli scritti profani; che dire e credere debbiamo delle statue e delle figure, che in una occhiata sola possono muovere ogni animo, ancorchè temperato e ben composto, a disordinato e sconcio pensiero, e sono poste ne’ luoghi publichi, e da ogni gente e vedute e considerate, il che tanto non avviene de’ libri e degli scritti, i quali da tutti letti esser non possono.“ 64  Paleotti 1582/1961, S. 214: „… rappresentandoci inanzi agli occhi et insieme imprimendo nei nostri cuori atti eroici e magnanimi, or di pazienza, or di giustizia et or di castità, di mansuetudine, di dispreggio del mondo, di misericordia e d’altri simili. Talché in uno instante causa in noi e desiderio della virtù et orrore del vizio …“ 65  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 106; vgl. Chiarini 1992, Nr. 10. Laut einer Inschrift wurde der Altar 1595 von dem Arzt Alberto Rimbotti errichtet und ’Deo et D[ivo] Alberto’ geweiht. Zur Dedikation an seinen Namenspatron, den Karmeliter Alberto Vescovo di Vercelli da Gualtieri, erklärt der Auftraggeber im Vertrag: „… intendeva dedicarla al glorioso S.to Alberto co[n]fessor n[ost]ro si a devotione di d[ett]o santo, co[m]e per nome, che egli haveva simile a lui …“ (ASF Comp. rel. sop.: S. Maria

336 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

der Konzentration auf drei Figuren im dramatischen Moment: den Retter, einen Geretteten und einen Mann im Vordergrund, der noch auf Hilfe hofft. Der enge Bildausschnitt lässt die Figuren monumental erscheinen und rückt sie nah an die Bildfläche. Alle konstitutiven Elemente liegen auf einer Diagonalen: das göttliche Licht, der kräftige Zug der Arme, die vor Schreck geweiteten Augen des (schon) Geretteten, die ausgestreckten Arme des (noch) Hilfesuchenden. Während die Hand des Ertrinkenden in der Vorzeichnung noch schlaff in der des Heiligen hängt, krallt sich seine Rechte im Gemälde an den rettenden Arm, während er die furchtsamen Augen jäh nach unten wendet, so dass sich die Glanzpunkte zu Strichen verzerren (Abb. 165). Der panische Blick trifft auf den von rechts durch das Hauptportal in die Kirche eintretenden Besucher, dessen zweiter Blick sogleich auf den ausgestreckten, Rettung verheißenden Arm des Heiligen fällt. Insgesamt lässt sich in der Entwicklung von Cigolis Gesamtwerk eine zunehmende Konzentration auf dramatische Zweierkonstellationen feststellen. Beispiele bilden neben Alberto Carmelitano und Jael und Sisera auch Abraham und Isaak, Joseph und die Frau des Potiphar und, wenn auch in geringerem Maße, das Jakobusmartyrium. Wie im Falle der im vorangehenden Kapitel beschriebenen Vereinfachung von Cigolis Kolorit finden sich jedoch auch mit Blick auf die zurückgehende Figurenzahl und die häufig mit seinem Umzug nach Rom assoziierte Monumentalisierung Ausnahmen, die sich teils auf Auftraggeberwünsche, teils auf das Sujet zurückführen lassen. Die Anbetung der Könige beispielsweise verlangt ein üppiges Decorum, bei dem Cigoli seine Detailfreude ausleben kann. Im Fall der Rosenkranzmadonna für S. Domenico in Cortona berichten Cardi und Baldinucci hingegen von einem Konflikt zwischen Cigolis Wunsch nach Übersicht und den „wirren Vorstellungen“ (sconcertate fantasie) der Auftraggeberinnen, die Cigoli genötigt hätten, seinem „bellissimo concetto“ weitere Figuren hinzuzufügen, was er nur widerwillig und zu Ungunsten des Bildes getan habe (vgl. Abb. 181).66 Paradigma bildlicher Verdichtung sind die Hieroglyphen, die Cigoli als Zeichen und Behälter der höchsten Wissenschaften interpretiert. 67 Eine solche, für eingeweihte unmittelbar lesbare „Hieroglyphe“ ist Cigolis Gemälde der Trinità (Abb. 166), das als Abschluss des von Vasari entworfenen Christuszyklus in S. Croce diente, der mit Cigolis Maggiore, 114, n. 29, fol. 35v.); Carman deutet den Retter noch fälschlich als Hl. Gualbertus (1972, S. 89). 66  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 105: „… essendo stata fatta fare di limosine da certe donne di quella Compagnia, tanta fu per quanto si disse l’importunità loro verso il pittore, acciocchè, discostandosi dal bellissimo concetto, che egli a principio, s’era prefisso, obbedisse alle loro sconcertate fantasie, obbligandolo ad aggiungere in essa or quello or quell’altro Santo, che la sua pazienza si diede per vinta, e così come ella venne fatta, per togliersi da sì stucchevole fastidio, a loro la consegnò.“ 67  Cigoli 1628/2010, fol. 6v, S. 118: „… questa [la pittura] per aiuto dell’Intelletto fra gli strumenti più atti, et accomodati fu ricevuta da gl’Egizij,/ i quali con la pittura d’Animali ed’altri simili contrassegni figurando i Ieroglifici loro, significavono, e conser/vavono con quelli le ricchezze delle più alte Scienze.“

337 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

166. Cigoli, Trinità, 1592, Öl auf Holz, 350 × 250 cm, Florenz, Museo dell’Opera di Santa Croce.

postum fertiggestelltem Einzug in Jerusalem im Mittelschiff beginnt.68 1592 wurde Cigoli von Tommaso di Giovanni Risaliti beauftragt, das erst 1575 aufgestellte Dreifaltigkeitsgemälde des unlängst verstorbenen Girolamo Macchietti in seiner Familienkapelle zu ersetzen.69 Grund mag der schlechte Erhaltungszustand des Gemäldes gewesen sein, möglicherweise aber auch die Kritik Borghinis, der neben dem schlechten Kolorit auch das mangelnde Decorum des Gemäldes beanstandet hatte. Der tote Christus erschien ihm „zu lebendig“, Gottvater „zu wild“ (troppo del vivo mi pare che habbia il Christo morto

68  Vgl. Faranda 1986, S. 121, Nr. 13. Baldinucci nennt das Bild „una maravigliosa tavola“ (Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 93). 69  Die Kapelle befand sich am Kopf des linken Seitenschiffs, 1869 wurde der Altar durch das Grabmal Cherubinis ersetzt. Vgl. ASF Conv. Sopp., S. Croce, Archivio 92, filza 175, fol. 9 und IXr: „La tavola la dipinse Girolamo del Crocifisso, la quale poi fu levata via, perché non piaceva, et poi l’anno 1592 fu messa un’altra tavola dipinta da Lodovico Cardi.“ Vgl. Matteoli 1980, S. 171–173.

338 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

167. Albrecht Dürer, Dreifaltigkeit, 1511, Kupferstich, Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. 188-2.

in braccio à Dio Padre, & esso Dio Padre troppo del fiero …).70 In der Grundanlage orientiert sich Cigoli an dem Vorgängerbild, wandelt es aber nach Maßgabe von Dürers Trinitätsstich aus dem Jahr 1511 ab (Abb. 167).71 Dürers Dreifaltigkeit ist von Licht und Wolken als „Anzeichen einer verschwindenden Sichtbarkeit“ gerahmt, die der Gruppe kompositorische Einheit verleiht.72 Ausgerechnet Dürers kleinteiligen, scharfkantigen Holzschnitt verbindet Cigoli mit einer an Correggio geschulten sfumatesken Weichheit.73 Gegenüber seiner Vorzeichnung reduziert er die Zahl der Engel und schließt die drei Hypostasen durch die Verschränkung der Körper, das Leichentuch und die Lichtführung zu einer trapezförmigen Einheit zusammen. Der Arm Gottvaters rahmt den Oberkörper Christi, dessen verschattete Beine nach rechts abgewinkelt sind, so dass sich eine 70 

Borghini 1584, S. 112; vgl. auch S. 189: „… il Christo fa attitudine di vivo, & il Dio Padre mostra troppa fierezza, & i colori non son molto bene accomodati, ne molto buoni.“ Die Schwierigkeit, einen Leichnam so darzustellen, dass er tatsächlich „bis in die Fingernägel“ tot wirkt, betont schon Alberti in seinem Traktat Della Pittura I.37 (ed. 2007, S. 124/125). 71  Vgl. Petrioli Tofani 1984. 72  Stoichi{â 1997, S. 90. 73  Zwei Kopfstudien in der Galleria Corsini belegen seine Auseinandersetzung mit Correggios Pietà in Parma.

339 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

die Figurengruppe übergreifende S-Linie ergibt. Das von den Engeln gehaltene, lebendig schattierte Leichentuch bildet die Form einer Mandorla aus; nach oben ist die Gruppe von einem Wolkenbogen abgeschlossen. Der Kopf Christi ist zur Seite gelegt, der des Vaters in die Gegenrichtung geneigt. Dem Vorwurf des „troppo vivo“ kommt Cigoli durch das blutleere Inkarnat, die bläulichen Brustwarzen und die trockene Seitenwunde zuvor; trotzdem scheint der Sohn sanft entschlafen. Die Geisttaube trennt und verbindet Vater und Sohn, ihr Schnabel liegt genau auf der Mittelachse oberhalb des Bauchnabels Christi, der knapp unterhalb der Bildmitte markiert ist. Dabei meidet Cigoli alle narrativen Elemente: Dargestellt ist nicht ein Moment einer Erzählung, sondern eine metaphysische Konstellation, in der es, wie Faranda richtig bemerkt hat, weniger um die Trauer als um die Einheit der Hypostasen geht – der Architrav trägt das Motto „hic tres unus svnt“.74 Cigoli malt eine Trinità in atto di Pietà, obwohl Borghini dieses Sujet grundsätzlich als nicht schriftgemäß kritisiert hatte.75 Die meisten Theologen hielten die anthropomorphe Darstellung Gottvaters jedoch für legitim. Als Argumente wurden nicht nur alttestamentarische Stellen angeführt, in denen der Gottheit menschliche Züge verliehen werden, sondern auch die These von Dionysius Aeropagita, wonach Unähnlichkeit der beste Schutz vor falschen Vorstellungen sei.76 Zudem wurde die Verantwortung für Missverständnisse in diesem Fall nicht den Gemälden, sondern den falschen Lehren zugeschrieben: „Auch wenn eine dumme und ungelehrte Person zufällig Gott oder einen Engel in menschlicher Gestalt sehen sollte“, so Catharinus, „wird sie dies nicht so sehr wegen der Bilder solcher Figuren, sondern wegen einer vorgängigen falschen Meinung über diese Dinge tun“.77 Cigoli trägt dem Problem jedoch insofern Rechnung, als er den Erscheinungen zwar eine irdische Gestalt verleiht, die Komposition aber so verdichtet, dass die Gruppe zu einem Emblem oder einer „Hieroglyphe“ gerinnt. Die Beliebtheit der Komposition manifestiert sich in ihrer Adaption durch Giovanni Caccini und Pietro Bernini für die Kartusche über dem Portal von S. Trinità (1594–1595), die bis heute Buontalentis schlichte Fassade dominiert.78

74 

Vgl. Faranda, S. 53. Vgl. Borghini 1584, S. 105: „… è cosa disconvenevole, ancorche nella scrittura non si legga che Dio Padre giamai il [i.e. Christus] prendesse in braccio.“ Zur Debatte um die Trinitätsdarstellung vgl. Hecht 2012, S. 460–466. 76  Gerade die Darstellung des Heiligen Geistes als Taube – abgesichert durch deren Auftritt bei der Taufe Christi – galt als gute Lösung, denn je unähnlicher die Gottesbilder, desto ungefährlicher sind sie: „Quòd verò Spiritus sanctus in figura colombae dipingitur, minus praestat ad errorem occasionem. Nam, ut B. Dionysius eleganter docet, quanto sunt dissimiliores similitudines quae nobis referunt Deum, tantò minus periculosae sunt“ (Catharinus 1552, S. 125). 77  Ebd. 78  Eine Fassung in Alabaster befindet sich über einer Tür im Südwest-Flügel des ehemaligen Vallombrosaner-Klosters, in dem heute die Facoltà di Magistero dell’Università di Firenze untergebracht ist (vgl. Ostrow 2004, S. 339–341). 75 

340 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

In den Kontext der Reduktion gehört auch die zunehmende Beliebtheit von Bildern einzelner Heiliger wie Franziskus, Maria Magdalena und Hieronymus, deren fehlende Narrativität durch Attribute kompensiert wurde. „Aus diesen Zeichen und Instrumenten“, so Bellarmin, „lernen wir gleichsam in Abkürzung (quasi per compendium), was jenen, die wir verehren, widerfahren ist“.79 Cigoli malt mehr als zwanzig Bildnisse des Hl. Franziskus, dessen in die Betrachtung eines Kruzifix oder eines Totenkopfes absorbierte Gestalt zur Identifikation einlädt.80 In zwei Fällen isoliert er sogar den Kopf des Heiligen – eine Komprimierung des frommen Gehalts im Gesicht, die Cigoli auch in zwei Christusbildern in der Galleria Corsini vornahm und die besonders Carlo Dolci und Guido Reni in unzähligen Versionen variierten (vgl. Abb. 145). Doch nicht nur in statischen, emblematischen Bildern bemüht sich Cigoli um Verdichtung, auch als Erzähler strebt er nach der Kompression des Gehalts „in einem Punkt und einem Augenblick“ (in un punto ed in una occhiata).81 Inhaltlich bedeutet die Forderung nach der Erkennbarkeit „auf einen Blick“ die Beschränkung auf die drei aristotelischen Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung.82 Laut Comanini muss ein Bild wie die Fabel eine Einheit bilden, in der „eine einzelne Handlung eines Einzelnen“ dargestellt werde.83 Deshalb ermahnt er die Maler, niemals „zwei Männer unter demselben Mantel“ (due uomini sotto uno istesso mantello), also in Form eines Simultanbildes darzustellen.84 Auch Borghini spricht sich gegen solche Darstellungen aus, da eine Person schließlich nicht an zwei Orten zugleich sein könne.85 Auch wenn man in der Natur mehrere Aspekte einer Sache auf einmal beobachten könne, dürfe die Malerei immer nur eine Handlung

79 

Bellarmin 1605, S. 1280–1281: „Ex quibus signis seu instrumentis docemur quasi per compendium, quid illi quos veneramur egerint, quiduè passi sint …“ 80  Nicht alle von Chappell katalogisierten Gemälde werden eigenhändig sein, doch spricht bereits die große Zahl der Repliken für sich (vgl. Chappell 1981b, S. 79–84). 81  Bellori 2009, Bd. I, S. 55 (im Zusammenhang mit Annibales „anacronismo“). 82  Eine instruktive Zusammenstellung von Positionen zur Einheit der Handlung gibt Kappl 2006, S. 169–199. 83  Comanini 1591/1962, S. 345: „Della favola dice il vostro Aristotele che ella dee essere una e rappresentante una sola azzione d’un solo.“ 84  Ebd.: „Corrisponde a questa unità di favola poetica l’unità dell’invenzione del buon pittore, il quale non dipinge dentro una tavola diverse azzioni, ma una sola, non essendo men disdicevole che più soggetti si veggano dipinti in un quadro, che se si vedesser due uomini sotto uno istesso mantello.“ 85  Borghini 1584, S. 59: „… la pittura è imitazione di cose naturali, & artificiali, che sieno, ò che possan essere, e perciò non dee la pittura in un quadro, dove non sia notata separatione altro rappresen­ tarci à gli occhi che quelle cose, che noi in una veduta possiamo vedere, perciò il fare Apollo in aria, & in terra, che scortichi Marsia, si come non può essere che egli sia in un medesimo tempo in due luoghi, così non possiamo la medesima persona in un tempo istesso in due parti vedere.“

341 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

darstellen.86 Gelöst wurde die Forderung durch die Wahl eines „fruchtbaren Moments“, der Spuren des Vorausgegangenen trägt und das Kommende erahnen lässt.87 Aristoteles definiert die Peripetie als den „Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil […] gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit.“88 Zusammen mit der Wiedererkennung (anagnosis) bildet die Peripetie den Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, also jene Bestandteile des Mythos, „mit denen die Tragödie die Zuschauer am meisten ergreift“.89 Auch Tasso zufolge verlangt ein gutes Stück eine Wende (rivolgimento, mutatio), die den Betrachter zur Katharsis führt. Diese wird von den AristotelesKommentatoren des 16. Jahrhunderts als Reinigung des Geistes von Affekten mittels ihrer Erregung beschrieben.90 Der Bischof und Konzilsteilnehmer Antonio Minturno beispielsweise vergleicht die Tragödie 1563 mit einem heilenden Antidot. Ebenso wie ein Arzt zu giftiger Medizin greife, um die krankmachenden Gifte im Körper zu konterkarieren, reinige der Tragödiendichter die aufgewühlte Seele durch die Konfrontation mit in Verse gefassten Affekten.91 Nach dem Vorbild von Dichtung und Tragödie müssen Bocchi zufolge auch Sakralmaler darauf zielen, den Betrachter von seinen Lastern und Fehlern zu „reinigen“.92 Lomazzo empfiehlt zu diesem Zweck den Schwerpunkt auf ein Gefühl zu legen und dieses mit seinem Gegenteil zu konfrontieren, da nichts den Betrachter mehr bewege als die Gegenüberstellung divergenter Leidenschaften.93 Eine Wandlung könne jedoch, wie beim Laokoon, wo der Vater klage, ein Sohn sterbe und einer Mitleid zeige, auch auf mehrere Charaktere aufgeteilt werden.94 Exemplarisch wurde ein solches Vorgehen bereits in Cigolis Steinigung des Stephanus aufgezeigt, wo von den Schergen über den Hemdauszieher und den zögernden Steinwerfer bis hin zum Märtyrer verschiedene Stadien der Konversion präsentiert werden, die den Betrachter zur Umkehr bewe86 

Vgl. ebd., S. 45. Zu der hier anachronistisch verwendeten Formel vgl. Gombrich 1984 und Thuillier 1967. Schon Bocchi aber lobt Donatello dafür, den Hl. Georg just im Augenblick seines entschlossenen Aufbruchs gezeigt zu haben (vgl. Bocchi 1584/1962, S. 162/163). 88  Aristoteles, Poetik, § 11, 1452a, Übers. nach Aristoteles 1997, S. 35. 89  Ebd., § 6, 1450a, Übers., S. 23. 90  Vgl. LeCoat 1975, S. 41 und Kappl 2006, S. 266–311. Vgl. bspw. die Aristoteles-Kommentare von Robertello von 1548 und Castelvetro von 1570. 91  Vgl. Minturno 1563, S. 77: „Nè piû forza havrâ il Physico di spengere il fervido veleno della infermitâ, che ’l corpo afflige, con la velenosa medicina; che ’l Tragico di purgar l’animo delle impetuose perturbationi con lo empito degli affetti in versi leggiadramente espressi.“ 92  Bocchi 1592, S. 56: „La poesia, come avviene nella Tragedia, per lo mezzo della misericordia, & ancora del timore, fa la purgazione, cio è netta dell’animo quelli affetti, che del tutto alla misericordia, & al timore sono contrarij. […] Cosi il pittore di sacre imagini altresi dee sopra tutto mirare á questo, che il costume sia lodevole, che sia virtuoso, & per dir quello, che tutte le virtù abbraccia, sia santo; onde in colui, che contempla, i vizij, & gli errori mirabilmente si purghino, & si dipartano.“ 93  Vgl. Lomazzo 1584, II.6, S. 118. 94  Vgl. ebd., II.16. S. 166. 87 

342 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

168. Alessandro Allori, Opferung Isaaks, 1601, Öl auf Holz, 94 × 131 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/1553.

gen sollen. Auch in der Befreiung Jerusalems zeigt Cigoli einen Wendepunkt im Schlachtgeschehen (vgl. Abb.  27). Dargestellt ist der Moment, in dem Goffredo den Kopf zurückwendet, um nach den Ägyptern Ausschau zu halten. Gleichzeitig aber stürmt er nach vorn, um den Angriffsbefehl zu geben, den Rinaldo mit einem Speerwurf in dieselbe Richtung umgehend ausführt. Der Entschluss zum entscheidenden Schlag verdankt sich einer als göttliches Zeichen interpretierten Taube, an die möglicherweise der Bronzevogel auf dem Kommandostab erinnert, ohne einen Bruch in der zeitlichen Einheit zu riskieren.95 In seinen späteren Gemälden verdichtet Cigoli den Umschlagpunkt vorzugsweise in einem monumentalen Figurenpaar. In der Opferung Isaaks für die Villa Kardinal Arrigonis in Frascati von 1604/05 spitzt er die Erzählung auf den dramatischen Moment zu, in dem Abrahams Gehorsam mit Gnade belohnt wird (Abb.  169).96 Gerade in dem Augenblick, in dem der Vater zum tödlichen Schlag ausholt, greift ein Engel nach seinem Arm und weist auf den im Gestrüpp verfangenen Widder als Opferersatz. Anders als bei95 

Vgl. Tasso 1991, c. XVIII, st. 49, S. 693. Vgl. Contini 1991, S. 88 und die Vorzeichnung GDSU 978 F. Zum Thema vgl. Steiger/ Heinen 2006. 96 

343 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

169. Cigoli, Opferung Isaaks, 1604/05, Öl auf Leinwand, 175 × 132 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. Pal. 95.

spielsweise Allori, der die Protagonisten – um mit Comanini zu sprechen – zweimal „unter demselben Mantel“, also einmal unterwegs und einmal auf dem Berg zeigt (Abb. 168), erinnern bei Cigoli nur der Esel und die abgelegten Kleider an die Vorgeschichte, während der Widder und der rauchende Holzscheit auf das Bevorstehende verweisen. Die Zuspitzung auf den Moment der Rettung hat eine lange Tradition; neuartig aber ist die gleichzeitige Monumentalisierung der Figuren. Erzielt wird sie durch die leichte Untersicht und die Isolierung der nah an die Bildfläche gerückten Figuren.97 Die in ein rotes Wams gekleidete Gestalt Abrahams reicht beinahe vom oberen bis zum unteren Bildrand. Sein kräftiger Körper bildet eine schräge Achse, die von dem nackten Leib Isaaks überkreuzt wird. Seine Dramatik verdankt das Bild der Gegenüberstellung des ergebenen 97 

Vgl. Richeome 1601, S. 123: „… c’est seulement Abraham & Isaac, à sçavoir les esprits illustres & eslevez d’une ferme & vive foy, qui ont l’aisle forte pour se guinder là jus & contempler la hauteur, la grandeur, & la Majesté du Sacrement & sacrifice du corpus du Fils de Dieu en la cime de la saincte Sion.“

344 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

Wartens des Sohnes und der angehaltenen Bewegung in der Achse über Isaaks Kopf, vor allem aber dem Gegensatz zwischen der Dynamik von Abrahams Körper und seinem auf eine andere Realität gerichteten Blick. Das gleichsam lauschende Schauen trägt der Tatsache Rechnung, dass der Bibeltext die Erlösung allein akustisch vermittelt: Abraham sieht den Engel nicht, sondern hört nur seine Worte. Die Übersetzung der Rede in eine Geste ist nicht neu. Schon Brunelleschi ließ den Engel in der entsprechenden Szene der Baptisteriumstür handgreiflich werden, während sein Rivale Ghiberti sich an die veritas historica hielt.98 Bei Cigoli weisen drei auf das Gesicht des Vaters gerichtete Lichtstrahlen den ins Schwert greifenden Engel als bloßen Mittler aus. Das Licht zeichnet einen hellen Glanzpunkt in Abrahams feuchte Augen, während der Blick des Knaben unter delikat geröteten Lidern gesenkt ist.99 Abrahams Blick zum Himmel zeugt von seinem Gehorsam, sein Arm von Entschlossenheit, die Haltung des Sohnes von Demut. Zugleich jedoch spiegelt sich bereits Dankbarkeit im Gesicht des Alten, dessen Ohr vor Erregung gerötet ist. Die sich in Gesicht und Körper abzeichnende Gleichzeitigkeit von Entschlossenheit, Überraschung und Dankbarkeit widerlegt David Smiths Gegenüberstellung eines katholischen Interesses für das äußere und einem protestantischen Interesse für das innere Drama der Erzählung; Cigoli inszeniert gerade die psychologische Spannung des Konflikts zwischen Liebe und Gesetz.100 Mit der Einführung des Engels findet er die Pointe der Komposition, indem er die Achse vom Vater zum Sohn mit der von Isaak zum Engel bzw. die Achse des Gehorsams mit der Achse der Gnade kreuzt.101 Die komplexe Zeitlichkeit des Bildes besteht folglich nicht allein im Umschlag von Gewalt in Gnade, sondern auch in der typologischen Deutung der Erzählung. Christus ist der Widder, aber auch Isaak, der das Holz wie das Kreuz den Berg hinaufträgt. Die delikate Nackenlinie Isaaks ist die eines zur Hinrichtung bereiten Märtyrers, die Rettung verweist auf das Zeitalter sub gratiam.102

98  Vgl. z. B. die Miniatur im Psalter des Hl. Ludwig in der BNF Paris, MS lat. 10525, fol. 10. Andrea del Sarto (um 1527, Gemäldegalerie Dresden), Alessandro Allori (1553, Uffizien), Jacopo da Empoli (um 1590, Uffizien) und Ludovico Carracci (Vatikanische Museen) folgen dem Bibeltext; Tizian (1542–1544, Venedig, S. Maria della Salute), Ligozzi (um 1596, Uffizien), Domenichino (1627–1628, Prado) hingegen Brunelleschi. 99  Faranda betont die Abhängigkeit der Figur von Andrea del Sartos Isaakopfer in Dresden, wobei der Akzent deutlich von der Angst auf die Ergebung verschoben wird (vgl. Faranda 1986, S. 159, Nr. 73b). Vasari lobt den Realismus von del Sartos Figur, die man „aus Angst vor dem Tod zittern“ sehe und deren Nacken vom langen Weg gebräunt sei (vgl. Vasari 2005, S. 64). 100  Vgl. David Smiths Interpretation von Rembrandts Zeichnung der Opferung Isaaks im British Museum von 1655 als Ausdruck einer spezifisch protestantischen Ästhetik (Smith 1985, S. 292). 101  Den kompositorischen „chiasm“ beschreibt schon Faranda 1986, S. 91. 102  Ihre kanonische Deutung erfuhr die Erzählung in Augustinus’ Civitas Dei XVI.32. Ambrosius und Thomas interpretieren die Szene auch als Bild des Messopfers (vgl. Richeome 1601, S. 118 und 120). Eine ausführliche typologische Deutung liefert Richeôme, der die alttestamentarischen Typen als

345 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

170. Cigoli, Flucht Josephs aus den Armen der Frau des Potiphar, sig.dat. ‚LOD. CIGOLI F. 1610‘, Öl auf Leinwand, 270 × 152 cm, Rom, Galleria Borghese, Inv. 14.

Das zweite Beispiel narrativer Verdichtung ist Cigolis Gemälde der Flucht Josephs aus den Armen der Frau des Potiphar, das er 1610 im Auftrag von Antonio de’ Ricci, dem Verwalter von Kardinal Borghese, malte. Dieser erwarb das Bild wenig später für seine eigene Sammlung, wo es bis heute gegenüber von Giovanni Bagliones Judith und Holofernes aus dem Jahr 1608 ausgestellt ist (Abb. 170).103 Wie in den meisten Werken aus Cigolis letzter Schaffensperiode füllen auch hier die beiden überlebensgroßen Figuren die hochrechteckige Leinwand. Die blond gelockte Verführerin sitzt mit entblößter Brust im Bett und versucht den flüchtenden Joseph zurückzuhalten. Während sie ihre rechte „das wahrhafte Porträt“ (le pourtraict veritable), die neutestamentarischen Pendants als „die lebendige Wahrheit“ (la vive verité) bezeichnet (Richeome 1601, S. 15–16). 103  Aufgrund der fast identischen Abmessungen und der ähnlichen Ikonographie ist Chappells Vermutung zuzustimmen, dass Ricci das Bild als Pendant für das Gemälde Bagliones bestellte (vgl. Chappell 1971, S. 122). Vgl. auch die quadrierte Zeichnung Inv. 1830 im Magyar Szépmüvészeti Múzeum, Budapest (Thiem 1977, S. 294, Nr. 44); die invertierte Tuscheskizze BM 1963,0518.5; GDSU 8994 F (vgl. dazu Chappell 1979, S. 158–159) und die nach dem Modell gezeichnete Studie der Frau ICG F.C. 124191.

346 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

171. Cigoli, Flucht Amors, sig. ‚L.C.‘, 1609–1610, Fresko (auf Leinwand), Rom, Museo di Roma, Inv. dep MC-41.

Hand nach seiner Wange ausstreckt, hält ihre mit dem Ehering geschmückte Linke den Jüngling an seinem Mantel fest. Ihren Bewegungen begegnet Joseph mit einer Abwehrgeste, wobei die Lichtführung so angelegt ist, dass die Schattenlinie seine erhobene Hand vertikal teilt. Besonders komplex wird die Komposition im Bereich der Beine. Was zunächst als verliebte Verschlingung erscheinen mag, entpuppt sich als perfide Umklammerung. Der liederlich verrutschte Strumpf und das hochgeschlagene Kleid entblößen das weiche Knie der Verführerin, während Josephs beschuhter Fuß bereits zur Flucht aus Bett und Bild gerichtet ist. Während Potiphars Frau in Josephs Richtung schaut, sucht sein Blick den des Betrachters, als wolle er ihn als Zeugen seiner Unschuld anrufen. Gerahmt wird das Paar von dem zeltförmigen Baldachin des Prunkbettes, dessen dunkelroter Brokat ebenso wie die aufwändigen Kleider der Frau mit dem schlichten Gewand des Jünglings kontrastiert. Die Inszenierung ähnelt der Flucht Cupidos in dem etwa zeitgleich entstandenen Freskenzyklus in der Logetta Borghese, in der Psyche Cupido am Verlassen des Schlafzimmers zu hindern versucht (Abb. 171).104 Auch hier ist ein Wendepunkt dargestellt, dessen Dramatik durch die Komposition unterstrichen wird. Während Psyches Rücken 104 

Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 112–113 und Baglione 1642 /1995, S. 154. Francesco Bracciolini widmete dem Zyklus ein Gedicht (BRF, Cod. Riccardiano 2774; zit. in Matteoli 1974, S. 183). Seit dem Abriss der Loggetta befinden sich die abgenommenen Fresken im Museo di Roma im Palazzo Braschi.

347 2. „Quasi per compendium“: Reduktion und Verdichtung

das Bildfeld nach links abschließt, überschneiden ihre Arme Baldachin und Mauer, verfehlen aber trotzdem das Bein des Fliehenden, dessen Arm seinerseits vom Bildrand beschnitten wird. Das Bild ist Teil eines Zyklus, der die Geschichte Psyches von ihrer Aussetzung vor Amors Palast bis zu ihrer Aufnahme in den Olymp erzählt (vgl. Abb. 200– 203). Dargestellt sind vier Übergangsmomente, doch in Ergänzung des „fruchtbaren Augenblicks“ zeigt Cigoli im Hintergrund kleinfigurige Nebenszenen, welche die jeweilige Vor- oder Nachgeschichte erzählen.105 Statt einer Einheit von Ort, Zeit und Handlung schafft er eine Bühne mit Nebenschauplätzen. Die Debatte um die temporale und lokale Einheit von Bildern kulminierte 1667 in der Diskussion um Poussins Mannalese in der Académie Royale de Peinture et de Sculpture.106 Neben Verstößen gegen die veritas historica wurde Poussin vorgeworfen, mehrere sukzessive Ereignisse in einem Bild zusammengeführt zu haben. Verteidigt wurde er von Charles Le Brun, der in einer Rede über den Unterschied zwischen Malerei und Dichtung zwar einmal mehr die Beschränkung der Malerei auf „einen Augenblick“ (un instant) betonte, aber hinzufügte, dass dieser um der Verständlichkeit willen notfalls durch vorangegangene Ereignisse erweitert werden dürfe.107 Zur Legitimation verweist Le Brun auf die licenza der Dichter, die auf der Bühne ebenfalls mehrere Szenen zu einer Handlung zusammenfügen dürften, solange sie dem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit gehorchten. Mit seiner synthetischen Komposition erweise sich Poussin als „wahrer Dichter“, der die Peripetie durch die Kontrastierung verschiedener Gruppen sichtbar mache.108 Elisabeth Oy-Marra vermutet einen Zusammenhang dieser Diskussion mit der zehn Jahre zuvor in Rom geführten Debatte zwischen Pietro da Cortona und Andrea Sacchi. Während Ersterer für einen reichen concetto plädierte, vertrat Sacchi den Grundsatz „weniger ist mehr“. Schon die antike Tragödie verdiene umso größeres Lob, je größer die 105 

Die Hauptfiguren zeigen vier Übergangsmomente: die Ankunft Psyches im Garten Amors; seine Flucht; Psyches Erwachen und ihre Aufnahme im Olymp. Im ersten Fresko wird die Vorgeschichte durch die Felsklippe, die Zukunft durch den Palast angedeutet. Im zweiten Bild zeigt der Hintergrund die Folgen von Amors Flucht: Psyches versuchter Selbstmord und ihre Auffindung durch Pan, der ihr den weiteren Weg weist. Dieser führt sie u. a. in den Hades, der als Vorgeschichte zu Psyches Erwachen im Hintergrund des dritten Freskos dargestellt ist. Ausführlicher in Kap. VII.2. 106  Vgl. Lichtenstein/Michel 2006, Bd. I, Sitzung vom 5.11.1667, S. 156–174 und dazu Imdahl 1996 und Oy-Marra 1997, S. 201–212. 107  Lichtenstein/Michel 2006, Bd. I, S. 172: „À cela M. Le Brun répartit qu’il n’en est pas de la Peinture comme de l’histoire. Qu’un historien se fait entendre par un arrangement de paroles et une suite de discours qui forme une image des choses qu’il veut dire et représente successivement telle action qu’il lui plaît. Mais le peintre n’ayant qu’un instant dans lequel il doit prendre la chose qu’il veut figurer, pour représenter ce qui s’est passé dans ce moment-là, il est quelquefois nécessaire qu’il joigne ensemble beaucoup d’incidents qui aient précédé afin de faire comprendre le sujet qu’il expose …“ 108  Die Tuschezeichnung zur Mannalese GDSU 9024 F wird Cigoli zugeschrieben, ist jedoch nicht durch Quellen dokumentiert und stilistisch zweifelhaft. Auch hier sind im Vordergrund bereits Frauen mit der Lese beschäftigt, während das Manna noch vom Himmel fällt.

348 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

mit wenigen Schauspielern erzielte Wirkung sei. Vielfigurige Gemälde ermüden das Auge; wahres Genie bestehe dagegen in der „Einheit“ und „Einfachheit“ der Darstellung (unità, semplicità).109

3. Semplicità : Er h abene Einfachheit Schlichtheit ist jedoch nicht nur eine Frage des Stils, sondern auch des Decorums, denn zunehmend wird innere Größe nicht mehr durch Exuberanz, sondern durch äußere Bescheidenheit figuriert. Die Schönheit von Donatellos Hl. Georg beispielsweise verdankt sich für Bocchi nicht nur seinen gelungenen Proportionen, sondern auch seiner schmucklosen, „männlichen“ Einfachheit.110 Doch nicht nur die Dargestellten, sondern – dem Topos ogni pittore dipinge sè entsprechend – auch die Darstellenden dürfen nun mit Respekt „einfach“ genannt werden: Andrea del Sarto, so Bocchi, sei von ebenso „einfachem Gemüt“ (semplice condizione) gewesen wie seine Gemälde.111 Gleiches gilt für den „pittore cristiano“ par excellence, Fra Angelico, dessen karges Mönchsleben sich in seinen einfachen, aber gnadenvollen Bildern widerspiegeln soll.112 Zunehmend geraten deshalb auch die Kompositionen der alten Meister wieder in den Blick. Gilio verteidigt ihre „ehrlichen und frommen Bilder“ vor dem kritischen Urteil seiner Zeitgenossen, welche die archaische Formensprache als „schlecht, grob, plebejisch, alt, bescheiden, ohne Ingenium und Kunst“ (vile, goffo, plebeo, antico, umile, senza ingegno et arte) abqualifizierten und die Kunstfertigkeit der Ehrlichkeit vorzögen (anteponendo l’arte a l’onestà).113 Die prämichelangelesken Maler hätten dagegen noch „mehr nach Wahrheit und Frömmigkeit als nach Prunk gestrebt“ (più a la verità et a la devozione attendessero, che a la pompa).114 Ähnlich urteilt Baronio, der die frühchristliche Kunst als entscheidenden Ansporn für eine religiöse und künstlerische Reform erachtete. Die spätantiken Mosaiken und Katakombenbilder, an denen er sich für seine eigenen Dekorationsvorhaben in SS. Nereo ed Achille orientierte, dienten ihm nicht nur als Belege für die Rechtmäßigkeit von Bildern 109 

Andrea Sacchi, zit. nach Oy-Marra 1997, S. 205–206: „L’occhio stancarsi in una gran moltitudine, e trovar difficilmente quel riposo, e quella pace che solo lo accheta, e lo contenta. […] La bellezza di tutte le opere del genio essere riposta nell’unità, e semplicità.“ 110  Bocchi 1584/1962, S. 108, 168 und 189–190. 111  Bocchi 1592, S. 49. 112  Vgl. Vasari 1973, Bd. II, S. 518–519 und Paleotti 1582/1961, S. 166: „Questo fu chiamato padre veramente angelico e di singolar umiltà e simplicità cristiana. Fece molte degne pitture …“ Zum exemplum Fra Angelico vgl. Wimböck 2006, S. 26–30. 113  Gilio 1564/1961, S. 111: „Il dipingere le sacre imagini oneste e devote, con que’ segni che gli sono stati dati dagli antichi per privileggio de la santità, il che è paruto a’ moderni vile, goffo, plebeo, antico, umile, senza ingegno et arte.“ 114  Ebd., S. 55.

349 3. Simplicità: Erhabene Einfachheit

und als Garanten der veritas historica, sondern auch als stilistische Modelle der wahren Einfachheit.115 Eine ähnliche Funktion erfüllte das vielkopierte Verkündigungsbild in SS. Annunziata, das Bocchi dafür preist, trotz oder gerade wegen seiner Einfachheit das überirdische Geschehen „auf einen Blick“ (con una sola veduta) zu zeigen.116 Das Bild sei ohne Schmuck (senza fermagli), aber trotzdem sehr schmuckvoll (ornatissima); ohne Pomp, aber voller Majestät.117 Die Einfachheit zeugt von Marias Demut und Erhabenheit, belegt aber zugleich den göttlichen Ursprung des Freskos, das Bocchi zum Vorbild moderner Kunst kürt.118 Wenn sich auch in Cigolis Verkündigungsbildern keine direkten Anklänge an das Kultbild finden, entsprechen seine Madonnen dem von Bocchi promulgierten Bescheidenheitsideal.119 Trotz seiner Vorliebe für prachtvolle Stoffe hält Cigoli sich bei Maria zurück und zeigt sie meist in schlichtem Kleid und monochromem Mantel.120 Dies gilt auch für seine Verkündigung in der Kirche des Kapuzinerkonvents von Montughi in Florenz aus der Zeit um 1600, die Maria in der demütigen Haltung einer Venus pudica zeigt, während der Engel in einem ungewöhnlich reichen, anachronistischen Gewand – der tonachella eines Diakons – erscheint (Abb. 172).121 Unmittelbares Vorbild ist Jacopo da Empolis schlichte Verkündigung in der Chiesa Nuova von Pontedera aus dem Jahr 1599. Baldinucci betont den frommen Impetus Cigolis, der das Bild, unterstützt von göttlicher Gnade, „per carità“ für die Kapuziner gemalt habe.122 Die Klosterannalen sprechen hin115 

Vgl. Herz 1988a. Bocchi 1592, S. 73. Zu dem Bild und seiner Vorbildfunktion vgl. Wazbinski 1987b. 117  Bocchi 1592, S. 67: „È bellissima la disposzione di natura nella testa, nelle spalle, nelle braccia, nelle mani […] È rossa la vesta, che è sotto al mantello di cui si è detto, & si vede come è fatta da puro & semplice artefizio, ma senza dubbio tutta gentile, tutta bella, & tutta graziosa. Dolcemente panneggiata senza fermagli, & tuttavia è ornatissima: e priva di pomposa vista in ogni parte, ma piena di maestà.“ 118  Vgl. Bocchi 1567/1989, S. 134 und Paleotti 1582/1961, S. 167. Wazbinski hält die Verehrung des Annunziatabildes deshalb zu Recht für eine wesentliche Ursache der Bevorzugung des „stile semplice, rigido o arcaizzante“ in der Toskana (Wazbinski 1987b, S. 632). Megan Holmes spricht diesbezüglich gar von einer „new aesthetic of archaism“ (Holmes 2013, S. 57). 119  Vgl. Cigolis frühe Verkündigung von 1580 im Ospedale Serristori in Figline Valdarno, Öl auf Leinwand, 200 × 150 cm, Barbolani di Montauto 2008, Nr. 4.1, S. 148–150. 120  Paleotti 1582/1961, S. 373: „Dall’abito poi, quando, sendo ella la vera idea dell’umiltà e mo­destia, vien rappresentata con ricci, vestimenti et ornamenti pomposi e vani, e fino con le perle e pendenti alle orecchie, che fa stomaco a vederla.“ 121  Vgl. GDSU 8980 F nach der Mediceischen Venus, die zu Cigolis Lebzeiten noch in der Villa Medici in Rom aufgestellt war und auch als Vorbild für die Haltung Psyches im Mittelfresko der Borghesefresken diente. Eine Replik der Verkündigung befindet sich in Bologna; zwei weitere bei Cardi erwähnte Fassungen gelten als verloren (vgl. Carman 1976, S. 215; Contini 1991, S. 64 und Faranda 1986, S. 145, Nr. 47). 122  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 108: „… la Vergine Santissima Annunziata dall’Angelo fa conoscere, quanto possa un eccellente e molto devoto artefice, quale fu egli nel rappresentare con amorosa attenzione l’effigie della nostra comune Consolatrice, e quanto possa la Divina grazia operare nelle Sacre Immagini di Maria.“ 116 

350 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

172. Cigoli, Verkündigung, um 1600, Öl auf Leinwand, 296 × 186 cm, Florenz, Kapuzinerkonvent von Montughi.

gegen von einem „frommen Auftraggeber“, dem die Ausstattung der Seitenkapelle der Konventskirche ihrer liturgischen Bedeutung unwürdig erschienen sei.123 Der Hinweis auf die 1577 von Gregor XIII. gewährte und 1601 von Clemens VIII. bestätigte Indulgenz für Messfeiern in dieser Kapelle mag die ungewöhnliche Darstellung des Engels als Diakon erklären, zu dem hin das auf dem Betpult aufgeschlagene Brevier wie ein liturgisches Buch ausgerichtet ist. Ungeklärt ist die Bedeutung der kostbaren Krone, die Gabriel der demütigen Maria darbringt. Einen Vorschlag zur Deutung unternahm Carman, der einen Zusammenhang mit der Hochzeit von Maria de’ Medici und Henri IV. im Jahr 1600 vermutet, was einen doppelten Verstoß gegen die veritas historica und das decorum bedeuten würde.124 Maria würde dann im Moment der Verkündigung nicht nur bereits 123 

Vgl. Carman 1976, S. 218. Im Jahr 1601 wurde das Patrozinium der Kapelle geändert. Vgl. ebd., S. 219–224. Eine am 25.1.2007 bei Christie’s versteigerte aquarellierte Zeichnung zeigt den Engel noch ohne Krone (Sale 1795). Eine Krone mit den achtzackigen Aldobrandini-Sternen befindet sich allerdings auch schon in der Tuschezeichnung GDSU 962 F für die Verkündigung in Figline Valdarno (vgl. Chappell in Barbolani di Monauto/Chappell 2008, S. 98, Nr. 2.8). 124 

351 3. Simplicità: Erhabene Einfachheit

zur Himmelskönigin erhoben, sondern auch zur Königin Frankreichs, von der man eine Stärkung der durch das Toleranzedikt geschwächten katholischen Kirche erwartete. Die Kostbarkeit von Engelsgewand und Krone fallen im goldenen Licht des aufbrechenden Himmels umso mehr ins Auge, als sie im Kontrast zu der kargen Anmutung des Zimmers stehen. Die Kammer besitzt zwar einen mondänen Balkon und Marmorboden, ist aber ansonsten nur mit einer schlichten Betbank und einem unprätentiösen Bett ausgestattet und einzig durch die Lilienvase im Vordergrund geschmückt.

173.  Santa Casa di Loreto, Innenansicht, Loreto, Santuario della Santa Casa.

Schon im Annunziata-Fresko ist die Schlichtheit der Kammer Marias Ausdruck der erhabenen Demut ihrer Bewohnerin – beide sind laut Bocchi „einfach, ohne jeden Schmuck“ (semplice, & senza niuno ornamento).125 Doch was Bocchi als erhabene Schlichtheit preist, erschien dem Italienreisenden Michel de Montaigne offenbar ein wenig mager. Aus seiner Beschreibung der Casa di Loreto spricht eine gewisse Enttäuschung: „Der Ort der Anbetung ist ein kleines, sehr altes, baufälliges Ziegelsteinhäuschen […] das alles ist plump, alt und ohne jeden Schmuck“ (Abb. 173).126 Die Kapelle „weist keinen Schmuck, keine Bank, keine Lehne zum Stützen, kein Bild, keinen Teppich an der Wand auf; so wie sie ist, ist sie ein Reliquienschrein“.127 – Ein Schrein, dem als Ort

125 

Bocchi 1592, S. 50. Montaigne am 25.4.1581; 1992, S. 139: „Le lieu de la devotion, c’est une petite maisonnette fort vieille et chetifve, bastie de briques […] tout cela grossier, vieil et sans aucun appareil de richesse.“ Übers. nach 1580/1963, S. 233. 127  Ebd., S. 140: „En cette chapelle, il n’y a nul ornement, ny banc, ny accoudoir, ny peinture ou tapisserie au mur; car de soy mesme il sert de reliquaire.“ Übers. nach 1580/1963, S. 235. 126 

352 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

174. Andrea Sansovino, Raniero Nerucci, Antonio da Sangallo d. J. und Giovan Battista della Porta, Mantel der Santa Casa di Loreto, 1513–1534, Marmor.

der Verkündigung selbst Wunderkräfte zugeschrieben wurden, was die Kleriker zu Maßnahmen gegen die frühneuzeitlichen Mauerspechte greifen ließ: „Es ist dem Volk verboten, etwas von der Mauer abzukratzen, denn wenn es erlaubt würde, wäre in drei Tagen nichts mehr von ihr übrig.“128 Von außen jedoch ist der Raum von einem prächtigen Umbau gefasst (Abb. 174), der Montaignes Geschmack eher zu treffen scheint: „Über und um das Häuschen ruht als Mantel der reichste, geschmückteste und schönste Marmorbau; man kann wenig Dinge sehen, die kostbarer und prächtiger sind.“129 Alexander Nagel und Christopher Wood haben die Verbindung von Kult und Kunst, authentischem Leib und kunstvollem Mantel als Verbindung von „spoliation and citation“ beschrieben: Die Hülle spiele auf die Möglichkeit einer Substitution nur an und unterstreiche so die Authentizität des darunter versteckten Hauses: „The sheath brings the house to you, forward in time. But once you are inside, the sheath’s substitutional mechanism is forgotten; the house becomes a relic again in the fullest sense and you yourself

128  Ebd.: „Il est defendu au peuple de rien esgratigner de ce mur; et s’il estoit permis d’en emporter, il n’y en auroit pas pour trois jours.“ Übers. nach 1580/1963, S. 235. 129  Ebd.: „Cette casette est recouverte et appuyée par le dehors en quarré du plus riche bastiment, le plus labouré et du plus beau marbre qui se peut voir, et se voit peu de pieces plus rares et excellentes.“ Übers. nach 1580/1963, S. 235–236.

353 3. Simplicità: Erhabene Einfachheit

perform the mystical time travel.“130 Tatsächlich wird in kaum einem anderen Werk des 16. Jahrhunderts die wahrheitsverleihende Funktion des authentischen, einfachen Überrests für eine narrative Kunst deutlicher als in der Casa di Loreto. Der schlichte Backstein legitimiert den Marmor, die Bildlosigkeit die Bilder; umgekehrt aber wird die Schlichtheit als authentische aufgewertet durch die Kontrastierung mit der prunkvollen Hülle. Die Verbindung von Schmucklosigkeit und Authentizität kommt in einem gänzlich anderen Kontext erneut zum Tragen, wenn Galilei Belisario Vinta den Sidereus Nuncius zusammen mit seinem eigenen Fernrohr schickt: „Ich sende es so schmucklos und ungereinigt, wie ich es mir für meinen Gebrauch gemacht habe; da es aber das Instrument einer so großen Entdeckung gewesen ist, wünsche ich, dass es in seinem ursprünglichen Zustand belassen werde.“131 Das Instrument wird zu einer Reliquie, der Einfachheit und Gebrauchsspuren jene Aura des Wahren verleihen, die den beigefügten Schriften zusätzlichen Kredit geben soll. In Florenz hatte das Lob der Einfachheit neben der kunstinternen und der theologischen auch eine patriotische Komponente. Die archaische Schlichtheit wurde zum Signum des Toskanischen. Meister Bartolomeo, der vermeintliche Maler des Verkündigungsbildes, avancierte zum „Pionier der modernen toskanischen Kunst“, dessen würdige semplicità ihn in Bocchis Augen mit Donatellos Georg und Brunelleschis ebenso schlichter wie grandioser Domkuppel verbindet.132 Zeitgenössische Quellen berichten vom Unbehagen der Bevölkerung nach der Ausmalung der Kuppel, wobei neben dem beklagten Verlust von Schlichtheit und Höhenwirkung sicher auch Vorbehalte gegen den Römer Federico Zuccari eine Rolle spielten. Der scharfzüngige Dichter Antonio Francesco Grazzini, gen. Il Lasca, attackiert jedoch schon Vasari als „Verhunzer“ der Kuppel und suggeriert mit einem Wortspiel, die Florentiner wünschten sich ihre weiße Kuppel zurück.133 Eine ähnliche Mischung aus Regionalstolz und ästhetischen Motiven be­stimmt auch Cigolis Kritik an Palladios Abwertung der toskanischen Säulenordnung, die ihm

130 

Nagel/Wood 2010, S. 214–215. Galilei an Belisario Vinta am 19.3.1609, Opere, Bd. X, S. 297: „… insieme con quello stesso occhiale col quale ho ritrovati i pianeti et fatte tutte le altre osservazioni, et lo mando così inornato et mal pulito quale me l’havevo fatto per mio uso; ma da poi che è stato strumento a sì grande scoperimento, desidero che sia lasciato nel suo primo stato.“ Vgl. dazu Bredekamp 2006, S. 176. 132  Wazbinski 1987b, S. 634. Laut Bocchi ist die Domkuppel schön, nützlich und stabil zugleich: „… forte in sua natura, leggiadro in vista, bello in ogni parte verso di sé, dovea essere utile all’uomo che dentro ci dovea dimorare, e per li divini uffizii opportunamente ordinato […] Di questa natura è il San Giorgio, che, semplice in suo sembiante, ristretto in sua bellezza, tutto vivo, tutto leggiadro e tutto bello, per volere operare con ardire, che ad ora ad ora si muova pare che prometta.“ (1584/1962, S. 189–190) 133  Grazzini 1882, S. 327–328: „Giorgin d’Arezzo metterebbe in croce / oggi universalmente / odiato dalla gente / quasi pubblico ladro od assassino / e ’l popol Fiorentino / non sarà mai di lamentarsi stanco/ se forse un dì non se le dà di bianco.“ Zu der Debatte vgl. Wazbinski 1987b, S. 644. 131 

354 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

erhabener und dem großherzoglichen Palast angemessener erscheint als die antike.134 Das Toskanische verband sich mit Begriffen wie „rozzezza“, „grandezza“ und „maiestà“ und wurde mit den etruskischen Ursprüngen der Stadt Florenz assoziiert.135 Ein Pendant findet diese Debatte in der Diskussion um das Toskanische als Nationalsprache, das für seine volksnahe Einfachheit gepriesen und von der Accademia della Crusca zusätzlich „gereinigt“ wurde. Als Cigoli 1603 zu ihrem Mitglied berufen wurde, entwarf er eine neue Imprese, bei der es sich möglicherweise um die in der ersten Edition des Vocabolario della Crusca abgebildete Weizenmühle mit 175. Cigoli (?), Imprese der Accademia della dem Motto „il più bel fior ne coglie“ han­delt: Crusca, hier: Vocabolario della Crusca, Florenz Die Spreu wird vom Weizen getrennt, übrig 1612, Titelseite (Ausschnitt). bleibt das reine, toskanische Idiom (Abb. 175).136 Der Vergleich von Kunst und Rhetorik ist in der Kunsttheorie omnipräsent. Mit Rückbezug auf Cicero wird empfohlen, die Stilebene – genus humile, medium oder grande – in Abhängigkeit vom behandelten Gegenstand zu wählen. Vorbild der Reformmalerei war vor allem das Ideal des sermo simplex bzw. die schlichte Sprache des Evangeliums (pauperum Christianorum eloquentia).137 Das prägende rhetorische Modell aber war die christliche Predigt, die ihrerseits in der Gegenreformation eine Aufwertung erfahren hatte.138 Das Konzil hatte eine Predigtpflicht eingeführt und eine verbesserte rhetorische Ausbildung der Priester gefordert. Im Vordergrund stand nun weniger der Wunsch nach der Belehrung der Gemeinde als die durch Klarheit und Verständlichkeit gesteigerte 134 

Cigoli 1628/2010, fol. 97r, S. 318: „De questi cinque ordini il Toscano è il più semplice,/ e perciò dal Palladio quasi come più rozzo reputato per ornamento da villa, nel che quanto sia lontano dal vero,/ per molte fabbriche in fiorenza si fa manifesto, et in particolare per il Palazzo regio de Pitti, la gran=/dezza, e maestà del quale, non nella gentilezza de membri consiste, ma nell’aggiunta rozzezza de Bozzi, de quali / è composto, come quelli la qual composizione oggi è a tale, che è molto più propria di questo ordine Toscano,/ che del Dorico, Ionico, e Corinto, come usavano gl’Antichi.“ Schon Serlio hatte die toskanische Ordnung mit Festungsarchitektur assoziiert (vgl. Serlio 1537, Buch IV, Proemio). 135  Zur Bedeutung des „Etruskischen“ für die Selbstdefinition der Toskana vgl. Morolli 1985. 136  Vgl. Matteoli 1973, S. 226 und Maraschio 2014. 137  Vgl. dazu Giombi 2003, S. 159–187 und Göttler 1990, S. 287–291. 138  Paleotti bezeichnet Künstler explizit als „taciti predicatori del popolo“ (Paleotti 1582/1961, S. 52 und 497).

355 3. Simplicità: Erhabene Einfachheit

Überzeugungskraft.139 An der zeitgenössischen Predigt bemängelt Federico Borromeo Rückstände der Scholastik ebenso wie barocke Übertreibungen. Eine ideale Predigt, wie sie sein Bruder Carlo vorbildlich praktiziert habe, zerlege die Glaubensgeheimnisse nicht in subtile Argumente, sondern präsentiere sie allgemeinverständlich, geordnet und klar (con buon ordine e con chiarezza).140 Paradigma ist folglich nicht der Philosoph, sondern der Menschenfischer (non aristotelico sed piscatorio), dessen Rede nicht feinsinnig oder verschnörkelt, sondern einfach, nicht ehrgeizig, sondern nützlich sei.141 Auch in seiner Abhandlung über die beste Form des Gebets lobt Borromeo die „Eloquenz der frühen Christen“ (pauperum Christianorum eloquentia) und zieht die einfache Sprache der Fischer derjenigen der Redner vor.142 Es galt folglich nicht nur den sinnlichen Überschwang, sondern auch den Intellekt zu beschneiden.143 Der christliche Redner vermeide Prätention, Übertreibung und ostentative Frömmigkeit; aus ihm spreche die „nackte Wahrheit“ (veritas nuda).144 Auch der Jesuit Ludovico Carbone formuliert in seinem 1595 erschienen Divino orator einen Gegensatz zwischen der „schlichten Würde“ der Worte Gottes und den Sophismen der Philosophen.145 Francesco Borgia fordert eine „keusche Predigt“ (sermo castus), welche „die hochtrabenden und schwülstigen Redens-Arten“ ebenso meide wie die pöbelhaften.146 Der Kapuzinerprediger Prokop von Templin wird dafür später den Begriff stylus simplicitatis verwenden und erklären, Predigten sollten „so einfaltig in Worten, aber so wol gegründet, so voller Weißheit“ sein, dass sie den Zuhörern „recht auff das innerste hinein greiffen“.147 Es war wohl diese Art von Predigt, die Paleotti im Sinn hatte, als er die Redner als Vorbild der Maler propagierte, die dasselbe Ziel verfolgten, nämlich ihr Publikum durch Vergnügen und Belehrung zu bewegen und zu überzeugen

139 

Zur Predigtreform vgl. Baumgarten 2004, S. 104–117. Borromeo 1632, S. 402: „… non dovete troppo disputare, muovendo dubbi e questioni e formando sottili argomenti intorno a’ più alti misteri della nostra fede, ma più tosto con buon ordine e con chiarezza […] sì che tutti coloro i quali vi ascoltano intendere possano ciò che voi dite.“ Zu Carlo vgl. ebd., S. 134–137. 141  Vgl. die von Gregor von Nazianz abgeleitete Formulierung in: ebd., S. 125: „Atque haec nobis ad vos breviter, non disputandi sed docendi modo, non aristotelico sed piscatorio, non improbe ac venatorie sed simpliciter, non circumforanee sed concionatorie et ecclesiastice, non ambitiose sed utiliter dicta sunt.“ 142  Ebd., S. 12 und 7: „… simplici lingua piscatores omnem humanae facundiae potentiam superarunt.“ 143  Borromeo 1633, S. 240: „Doversi ancora circoncidere il nostro intelletto.“ 144  Borromeo 1632, S. 122–123: „… si pietatem ostentare maiorem velit quam alat intus; si anhelet frustra, si languentem se et defessum esse simulet; si alte ducat suspiria; si gemetecunda dicat voce, siccis tamen oculis. […] Haec omnia vitabit oratur christianus, quem veritas nuda, quem severi mores decent.“ Wie die Predigt sei auch das Gebet idealerweise „voller Wahrheit, ohne Färbung oder Kunstfertigkeit“ (Plenam esse veritatis orationem, absque fuco vel artificio) (ebd., S. 123). 145  Vgl. Giombi 2003, S. 177. 146  Zit. nach Herzog 1991, S. 253. 147  Zit. nach ebd., S. 120. 140 

356 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

(dilettare–insegnare–commovere–persuadere).148 Gerade hier verlaufen katholische und protestantische Entwicklungen parallel, denn schon Luther lobte Predigten, die „fein einfältig einher gingen, da einer verstehen könne, was man predigte“ und nahm sich dabei – genau umgekehrt – Dürers Lob von Bildern zum Vorbild, „die da aufs Einfältigste und fein schlecht gemacht wären“.149 Das Ideal der Einfachheit erklärt sich nicht allein durch den Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit, sondern auch mit der sich zunehmend durchsetzenden Überzeugung, dass nicht das Obskure und Komplizierte, sondern das intuitiv Einleuchtende das Wahre sei. Der Theatertheoretiker Angelo Ingegnieri beispielsweise ist stolz, dass seine „Erfindungen ebenso einfach wie wahr sind, was bedeutet, dass sie überaus einfach sind, denn weil sie überaus wahr sind, wird jeder sie verstehen“.150 Auch für Cigoli sind Klarheit und Verständlichkeit die höchsten Maximen. Nichts kann folglich diffamierender sein als seine polemische Bemerkung, dass die für Lodovico delle Colombe wohl passendste Imprese einen verstopften Kamin zeigen müsste. Gegen die Vernebelung setzt Cigoli Öffentlichkeit, gegen Konfusion und Schwulst eine allgemeinverständliche Sprache. In diesem Sinne lobt er auch die Klarheit von Galileis erstem Brief über die Sonnenflecken (aperta e chiara) und klagt über den „aufgeblasenen Ton“ (stile gonfio) von Alessandro dei Linceis Vorwort.151 Am deutlichsten aber wurde der Kampf der Einfachheit gegen den Schwulst im Streit um den Vorrang von Tasso oder Ariost, in dem Ersterer als Paradigma epischer Ausschweifung, Letzterer als Modell der Schlichtheit galt.152 Galilei beanstandet an Tasso demnach nicht nur die bereits erörterten Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit, sondern auch seine sprachliche Opulenz, die letztlich nur einen Mangel an Einbildungskraft zu überdecken suche.153 Tassos gekünstelter Stil macht ihn in Galileis Augen zu einem eitlen, aber „armseligen Maler“ (un pittore poverino bzw. un cattivo pittore), dessen Figuren hölzern und unnatürlich wie Intarsien erschienen, während Ariost seinen Figuren wie ein 148  Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 148: „Resta la terza parte, che è dei mezzi ch’usano i libri al persuadere. Intorno a che dicemo che, solendosi nell’arte oratoria assignare tre principali, che sono il dilettare, l’insegnare et il commovere, non è dubbio che i medesimi cadono ancor notabilmente nella pittura.“ Und ebd., Kap. 21, S. 214–216: Dell’officio e fine del pittore cristiano, a similitudine degli oratori. 149  Luther, Tischrede Nr. 7036 (WA, Bd. VI, S. 350); vgl. Campenhausen 1957, S. 157 und Gött­ ler 1990, S. 289–291. 150  Ingegnieri 1598/1989, S. 6: „… che le mie imaginazioni sono tanto facili quanto vere, il che vuol dire ch’elle sieno facilissime, poiché verissime ognuno le comprenderà.“ 151  Cigoli an Galilei am 6.10.1612, Carteggio 2009, Nr. 42, S. 110 und am 24.2.1613, Nr. 51, S. 125. 152  Vgl. dazu die grundlegende Darstellung von Weinberg 1961, Bd. II, S. 954–1073. 153  Galilei, Tasso, Opere, Bd. IX, S. 63: „Uno tra gli altri difetti è molto familiare al Tasso, nato da una grande stretteza di vena e povertà di concetti; ed è, che mancandogli ben spesso la materia, è constretto andar rappezando insieme concetti spezati e senza dependenza e connessione tra loro, onde la sua narrazione ne riesce più presto una pittura intarsiata, che colorita a olio …“ Vgl. Kap. II.4. und Bredekamp 2007, S. 47.

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begabter Ölmaler Relief zu verleihen wisse.154 Harsch polemisiert Galilei gegen Tassos unverhältnismäßige Ausführlichkeit: „Das also wäre die so geschätzte Kürze unseres Dichters!“, ruft er aus.155 Obwohl sich der Heerführer um die Verpflegung der Truppe und den Schlachtplan sorge, sei „doch im Interesse der Kürze von Vorräten, Flotten und Arabern im Folgenden nicht mehr die Rede“; statt dessen seien „hundert Stanzen und mehr gerade genug, um vier Dirnenstreiche der Armida zu erzählen und um die Schuftigkeit von fünfzig Recken zu beschreiben, die ihr Heer und ihre Ehre aufgaben, um hinter ihr herzulaufen – was alles in sechs Stanzen hätte abgetan werden können“.156 1614 drängt Gualdo Galilei zur Veröffentlichung seiner Anmerkungen zur Gerusalemme Liberata, denn es galt Paolo Beni zuvorzukommen, der Tasso als Vorreiter einer neuen opulenten Dichtung feierte, die sich gerade nicht durch Klarheit und Deutlichkeit auszeichnete, sondern mittels ihrer reichen Sprache von der Alltagssprache absetzte.157 Die Tatsache, dass Tasso schließlich eine etwas schlichtere Neufassung seines Epos unter dem Titel Conquistata vorlegte, zeugt Dante della Terza zufolge von einer allgemeinen klassizisierenden Tendenz.158 Inwiefern dieser Trend Literatur und Malerei gleichermaßen umfasste, zeigt auch Belloris Anekdote, derzufolge Annibale auf die Frage nach dem Vorrang von Tasso oder Ariost geantwortet haben soll, er halte Raffael für den besten Dichter aller Zeiten, womit er nicht nur ein Statement gegen literarische Schattenkämpfe, sondern auch für die Rückwendung zur Spätrenaissance abgab.159 Neben Ariost wurde vor allem der von Scipione Ammirato wiederentdeckte Tacitus zur Stilikone der Partisanen der Einfachheit. Sein Übersetzer, Bernardo Davanzati, bewundert den kaiserzeitlichen Historiker 1583 als „den kürzesten Autor aller Zeiten“. Die Akademiker diskutierten die neuen Übersetzungen seiner Werke als Heilmittel gegen die Wucherungen der toskanischen Prosa, die 1562 ihr Paradigma in Lionardo Salviatis dreistündiger Grabrede für Don Garcia de’ Medici gefunden hatte. „Je kürzer 154  Vgl. ebd., S. 129, 142, 146 und 63: „Sfuma e tondeggia l’Ariosto, come quelli che abbondantissimo di parole, frasi, locuzioni e concetti; rottamente, seccamente e crudamente conduce le sue opere il Tasso, per la povertà di tutti i requisiti al ben oprare.“ Vgl. dazu Panofsky 1956, S. 9 und Bredekamp 2007, S. 47–50. 155  Galilei, Tasso, Opere, Bd. IX, S. 108: „Ecco qua la brevità tanto stimata di questo poeta!“ Vgl. auch ebd., S. 125. 156  Ebd., S. 109: „… basta consumar 100 stanze e più in raccontar quattro tiri puttaneschi di Armida, e in descrivere la vigliaccheria di 50 campioni in abbandonar l’esercito e l’onor loro per correrle dietro, che tutto poteva in 6 stanze essere spedito …“ An Ariosts Helden liebt Galilei ihre Wortkargheit (vgl. ders, Ariosto, Opere, Bd. IX, S. 193). 157  Gualdo an Galilei am 5.7. und am 13.12.1614, Opere, Bd. XII, S. 81–82 und 118–119. Ausformuliert findet sich Benis Ästhetik in seinem 1613 in Padua erschienenen Kommentar zur aristotelischen Poetik und seinem Goffredo von 1616. Zuvor war Beni durch die Publikation seiner Anticrusca in Konflikt mit der Akademie geraten. 158  Vgl. della Terza 1965, S. 82. 159  Bellori 1672/2009, S. 84; vgl. auch Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 254–255.

358 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

und einfacher unsere Sprache“, so Davanzati, „desto besser und schneller wird sie verstanden und desto mehr bewegt sie“.160 Mit seinem Lebenswerk vermochte der von Cristofano Allori eindrücklich porträtierte Philologe sein Vorbild Tacitus noch zu übertrumpfen, denn die im Vocabolario della Crusca verzeichnete toskanische Sprache könne mit äußerster Präzision jeden seiner Begriffe übersetzen – und zwar mit 37.000 weniger Wörtern als das Französische und sogar 5.000 weniger als im Original.161 Ausgerechnet in seinem Tacitus-Kommentar lobt Davanzati Cigolis Eifer bei der Nachahmung der harten Arbeit der großen Meister und stellt ihn damit auf die Seite Tacitus’, der vor der Zeit der römischen Ausschweifungen schrieb und deshalb nicht nur als Stil- sondern auch als Tugendvorbild fungierte.162 Tatsächlich gehört zu Cigolis Grundsatz der Reduktion und Konzentration auch eine zurückgezogene Lebensweise und „Sehhygiene“, die zugleich von seinem Glauben an die Affizierbarkeit durch die Sinne zeugt. Baldinucci zufolge mied er die von Votiv-Läden gesäumte Via de’ Servi, weil er davon überzeugt war, dass der bloße Anblick des Durcheinanders ungestalter Körperteile seine Vorstellung zu sehr verwirrte.163

4. Monodie: Die Musiktheorie der Camer ata Fiorentina und die ersten Opern Tassos Pathos-Epik steht im Zusammenhang mit der Entstehung eines neuen musikalischen Stils, der gerne mit der Formel von der Musik als Dienerin des Texts beschrieben wird.164 Schon Savonarola hatte – in Reaktion gegen die Förderung der poly160 

Davanzati, zit. nach Cochrane 1973, S. 120. Im Gegenzug konnte eine allzu knappe Sprache den Sachverhalt auch verdunkeln. Dem Ideal der Verständlichkeit entsprechend lehnte schon Quintilian extreme Verkürzungen ebenso ab wie Weitschweifigkeit (vgl. Fuhrmann 1966, S. 57–58). 161  Vgl. Cochrane 1973, S. 121. Die bewusste Beschränkung konnte jedoch auch in bravura umschlagen, bspw. wenn Marino im Adone die Geschichte von Venus und Adonis zu einem Epos mit 40.264 Versen ausbaute, sich aber dafür brüstete, mit einem Minimum an Wörtern auszukommen. 162  Vgl. Rilli-Orsini 1700, S. 300–301: „La Scrittura, che si tiene in mano, e si esamina sottilmente dagli Scienziati, riesce volgare, e non vive, se non vi ha dottrina squisita; è fatta, quasi oro brunito, risplendere dalla diligenza, e fatica. Queste trovo essere state grandi ne’ grandi Scrittori, e artisti Nobili, avidi, e non mai sazzi dell’eccellenza, e gloria. Lodovico Cardi, detto il Cigoli, Giovane innamoratissimo della Pittura, mi pare che gli vada molto bene imitando.“ 163  Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 147: „… nell’andare, che e’ faceva alla Santissima Nunziata di Firenze, non passava mai per la Via de’ Servi, ma voltava al canto detto del Castellaccio, solamente per non vedere la quantità de’ boti di cartone, che in essa via stanno esposti in su le botteghe alla vendita, perchè diceva, che il solo vedere quelle goffe e sconcertate parti del corpo umano, come teste, braccia, gambe, ed altre simili, gli alteravano l’idee e confondevagli la fantasia.“ Freedberg deutet Cigolis Distanzierung als statusbewusste Abgrenzung von der niedrigen Volkskunst der ex voti (Freedberg 1991, S. 228). 164  Vgl. Hanning 1984, S. 6.

359 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

176. Cigoli, Lautentabulatur, Tusche auf Papier, 39 × 27 cm, Florenz, GDSU 8918 F.

phonen Chormusik durch die Medici – für die „ursprüngliche Einfachheit“ (quella prima simplicità) des traditionellen Gesangs plädiert.165 Im 16. Jahrhundert kam die Debatte um die Vorzüge des canto fermo im Vergleich mit dem polyphonen canto figurato unter anderen Vorzeichen erneut auf. Wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, diese Debatte hinsichtlich der Betonung von Einfachheit, Verständlichkeit und Emotion mit den Entwicklungen in den bildenden Künsten zu parallelisieren, geschieht dies vor dem Hintergrund von Cigolis musikalischen Interessen. Wie Galilei war er ein leidenschaftlicher Lautenist und verprellte als junger Mann die Auftraggeber des Laurentiusmartyriums gar mit der Bemerkung, er zöge das Musizieren der Fertigstellung ihres Gemäldes vor.166 Auf der Rückseite eines wohl im Zusammenhang mit der Kreuztragung des Heraklius von 1594 entstandenen Skizzenblatts notierte er eine kurze Lautentabulatur mit dem Text: „non di morte sei tu non di morte sei tu ma di vivaci ceneri albergo ove n[asc] osto amore“ (Abb. 176).167 Die Zeile ist der Beginn von Canto XII.97 der Gerusalemme Liberata, in der Tancredi den von ihm selbst unwissentlich verursachten Tod seiner Geliebten Clorinda beklagt:

165 

Vgl. Pietschmann 2013 passim und S. 280, Anm. 18. Cardi 1628/2010, fol. 1r–2v, S. 103: „… havendo l’animo più di virtù, che di danari; avido, tralasciava alcuna volta / il dipignere, et ad altri studi attendeva, e perciò non l’havea tirata a fine quando interrogato il Pittor che faceva / l’altra (il qual finita l’havea) a che termine fosse il Cigoli della sua, rispose che li piaceva più sonare il suo leuto, che finir/li la lor tavola …“ 167  GDSU 8918 Fv; vgl. Chappell 1992, S. 44–46 und ders. 2010. 166 

360 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion „Giunto a la Tomba, ove al suo spirito vivo „Als er zum Grabe kam allda sein Geist und Seel’ dolorosa prigione il Ciel prescrisse, Im Kercker voller Pein gefangen gleichsam lagen di color, di calor, di moto privo Must er bleich kalt und Stum hin nach deß Marmels Stell già freddo marmo al marmo il volto affisse. Erstarret und betrübt sein’ Elend’ Augen tragen. Al fin sgorgando un lagrimoso rivo, Als ihm die Backen nab nun lieff der Thränen Quell in un languido oime proruppe, e disse: Brach er: mit Ach weh! Rauß sehr schmertzlich so zusagen: O sasso amato tanto, amaro tanto, O allerliebster Felß anhöre meinen Prast che dentro hai le mie fiamme, e fuori il pianto. Der drinnen du mein Feuer die Thränen raussen hast.

Non di morte sei tu, ma di vivaci Ceneri albergo, ov’è nascosto Amore;

Du bist die Wohnung du der heissen Lebens Asch’ (Und nicht deß Tods) drein man die Lieb’ hat wollen hegen. sento dal freddo tuo le usate faci, Schau’ ihre Flammen fühl’ ich noch so heiß und rasch; men dolci si, ma non men calde al core. Nur mit der Süße kann mein Herz sie nicht bewegen. Deh prendi i miei sospiri, e questi baci Nim meine Seuffzen auff die ich mit Thränen wasch’ prendi, ch’io bagno di doglioso humore; Und meine Küsse da ich dich mit will belegen e dalli tu, poi ch’io non posso, almeno Und gib sie (weil ich nicht kan leider dieser Frist) a l’amate reliquie c’hai nel seno.“ Der Liebsten Leiche die in deinem Busen ist.“168

Am Marmorgrab seiner Geliebten wird Tancredi selbst zu einem colore und calore beraubten bewegungslosen Stein (di color, di calor, di moto privo / già freddo marmo al marmo il volto affisse), bis er in ein Lamento ausbricht und das Grab als „Herberge nicht toter, sondern lebendiger Asche“ adressiert, in dessen Kühle er weiterhin Liebesflammen spürt.169 Virtuos vertauscht Tasso die Zuordnung von Tod und Leben, Stein und Körper, Kälte und Wärme: Clorindas Asche verdankt ihr Weiterleben Tancredis Liebe, aber auch der von ihm auf ihren Wunsch vor dem Tod vollzogenen Taufe.170 Gerade diese tragischen Strophen des poema eroico wurden vielfach vertont. Die erste Fassung komponierte der flämische Madrigalist Giaches de Wert bereits vier Monate vor dem Erscheinen der ersten autorisierten Ausgabe der Gerusalemme Liberata im Jahr 1581.171 Tasso erwartete von de Wert eine Reform der „verweichlichten und verweiblichten“ manieristischen Kompositionstechnik seiner Zeit, welche die Musik zu ihrer alten gravità zurückführen

168 

Tasso 1991, c. XII, st. 96–97, S. 493. Übers. von Diederich von dem Werder (Tasso 1651,

S. 307). 169 

Meine Übers. Zur Parallele zwischen Farbe und Wärme vgl. Fehrenbach 2003. Vgl. Tasso 1991, c. XII, st. 66–67, S. 481. 171  Vgl. Giaches de Wert, Settimo libro de’ madrigali a cinque voci, 1581. Zu Giaches de Wert vgl. Einstein 1949, S. 511–519. Weitere Vertonungen von Luca Marenzio (1584), Giulio Belli (1586), Giovanni Piero Manenti (1586), Cesarina Ricci (1597), Scipione Dentice (1598), Antonio Cifra (1605), Giovanni Battista Bartoli (1617) u. a.; Angaben nach Vassalli 1988, S. 62–63 und Einstein 1951, S. 629. 170 

361 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

sollte.172 Modernen Einschätzungen zufolge wurde der Komponist dieser Hoffnung gerecht. Der Musikhistoriker Alfred Einstein bezeichnet die Vertonung als „a step towards pathos“, den er jedoch in Ablehnung gegenreformatorischer Frömmigkeit negativ wertet: „In Ariosto, no phrasemonger, but rather a humane, imaginative, and humorous poet, there is still genuine passion and true feeling. In Tasso, the bigoted, gloomy, humourless pseudo-classic there is pathos, that is exaggeration.“173 Besonders deutlich zeigt sich de Werts Innovation im Vergleich mit der drei Jahre später entstandenen Vertonung von Luca Marenzio, den Einstein als den (neben Gesualdo und Monteverdi) größten virtuoso seiner Zeit bezeichnet, der Musik als „art for art’s sake“ betrieben und sich weniger für Gefühle als für die Demonstration seiner Kunstfertigkeit interessiert habe.174 Jessie Ann Owens hat die Unterschiede der beiden Vertonungen überzeugend herausgearbeitet: Obwohl beide in Entsprechung mit der traditionellen Figurenlehre den Inhalt durch Klänge zu übersetzen suchten und beispielsweise den Himmel mit hohen, den Abstieg zum Grab mit einer absteigenden Tonfolge begleiten, „übersetze“ Giaches de Wert das Stück nicht Wort für Wort, sondern lege den Akzent (wie ein guter Maler nach Lomazzo) auf ein Gefühl – die Trauer. Tiefe Akkorde erzeugen eine düstere Stimmung, Melismen imitieren den Tränenfluss.175 De Werts Madrigal ist, so Howard Mayer Brown, „a stylized dramatization of Tancredi’s emotional state“, Marenzios, so Owens, „a virtual catalogue of musical responses to pictorial words […] Marenzio reads the words, Wert the poem“.176 Bislang konnte Cigolis Tabulatur keiner bekannten Vertonung zugeordnet werden.177 Dies und die Dissonanz auf „ma“ könnte dafür sprechen, dass Cigoli den musikalischen Gedanken selbst komponiert hat. Wie de Wert und Marenzio wählt auch er tiefe Töne für den Tod, höhere für das Leben. Aufgrund der Kürze des Notats und der abgeschnittenen Rhythmuszeichen ist seine Intention leider nur bedingt rekonstruierbar und somit keiner der beiden Parteien eindeutig zuzuschlagen. Trotzdem ist es bezeichnend, dass Cigoli ausgerechnet diesen Vers wählte, um ihn mit Lautenbegleitung zu singen, denn damit folgte er dem neuen Trend, Musik primär als Untermalung der Stimme zu

172 

Tasso 1587, fol. 38v: „Dunque lasciarem da parte tutta quella musica, la qual, degenerando, è divenuta molle ed effeminata; e pregheremo lo Striggio, e Iacches e ’l Lucciasco, e alcuno altro eccellente maestro di musica Eccellente, che voglia richiamarla à quella gravità, dalla quale traviando, è spesso traboccata in parte …“ Zit. nach Freedman 1995, S. 353. 173  Einstein 1949, S. 568. 174  Vgl. Marenzio 1584/1967, Buch IV und dazu Einstein 1949, S. 608 und 638. 175  Vgl. Owens 1999, S. 563–569. 176  Vgl. Brown 1993, S. 200 und Owens 1999, S. 569. 177  Colin Slim hat nicht nur dankenswerterweise die Tabulatur transkribiert, sondern durch Überprüfung der Partituren von Benedetti (1613), Cifra (1605), Dentice (1598), Manenti (1586), Marenzio (1584) und de Wert (1581) auch ausgeschlossen, dass Cigoli eine der bekannten Vertonungen kopiert hat. Für dieses großartige Engagement danke ich ihm und Jessie Ann Owens sehr herzlich, für die Unterstützung bei der Lektüre der Tabulatur danke ich Angela Carone und Thomas Macho.

362 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

verstehen. Der Vorrang von Text und Affekt war das wichtigste Anliegen des als „Camerata Fiorentina“ bekannten Kreises um Giovanni de’ Bardi, der in Auseinandersetzung mit der antiken Musik eine Kritik an der zunehmenden Komplexität der Polyphonie entwickelte.178 In seinem Discorso sopra la musica antica, e ’ l cantar bene plädierte Bardi gegen die Mehrstimmigkeit und die Abkopplung der Musik vom Rhythmus der Worte, die seines Erachtens nicht nur die Verständlichkeit, sondern auch die affektive Wirkung schmälerten. Idealerweise müsse sich der Kontrapunkt nach dem Text richten wie der Körper nach der Seele.179 Vorbilder sind ihm Natur und Antike; moderne Komponisten hingegen verdürben die Natur durch die Kunst (tanto guasta la natura con l’arte).180 Neben Bardi gehörte auch Galileos Vater, Vincenzo Galilei, zur Camerata, deren Debatten er in seinem 1581 publizierten Dialogo della musica antica e della moderna zusammenfasste.181 Vincenzo hatte den Kontrapunkt bei dem berühmten venezianischen Kantor Gioseffe Zarlino erlernt, der die Musik zwar selbst explizit in den Dienst der oratione stellte, seine Energie jedoch auf die Ausarbeitung des Kontrapunkts (und die Bestimmung des „wahren Jahrs und des wahren Tags“ der Kreuzigung Christi) verwandte.182 Von Zarlino distanzierte Galilei sich unter dem Einfluss des bereits im Zusammenhang mit dem ‚Historikerstreit‘ um die Gründung der Stadt Florenz erwähnten Girolamo Mei, der die Monophonie der antiken Musik durch ihre starke emotionale Wirkung zu ‚belegen‘ suchte. Nur einstimmige Musik könne die von den antiken Autoren beschriebenen Effekte hervorbringen.183 Die moderne Praxis, „alle Stimmen zu mischen“ (pju arie mescolatamente insieme) hingegen, so schreibt er 1572 an Galilei, ver-

178  Vgl. Palisca 1972. Dem Veroneser Reformbischof Luigi Lippomano erscheint polyphonische Musik in der Kirche ebenso unangebracht wie laszive Bilder, unangemessene Kleidung oder eine liederliche Liturgie (1553, fol. 183r). 179  de’ Bardi um 1578/1985, S. 25, 242.4: „… come il corpo dall’anima regolato esser deve, così il contrappunto dalle parole deve prender norma.“ 180  Ebd., S. 32, 246.1. Tatsächlich war es auch Bardi, der 1583 mit dem Argument, die Verse Ariosts ließen sich leichter singen, die langjährige Debatte über den relativen Vorzug Ariosts oder Tassos angestoßen hatte (vgl. Canguilhem 1992, S. 39). 181  Vgl. Galilei 1581. 182  Vgl. Zarlino 1579. 183  Vgl. Mei an Vincenzo Galilei am 8.5.1572, in: Bib.Vat. Regina lat. 2021, ediert von Palisca 1960a, fol. 15r–24v; bes. 15v, S. 90–91: „Hammi mosso et fatto venir in questa credenza che tutto il coro cantasse una aria medesima massimamente l’osservare che la musica de gli antichi era tenuta valoroso mezo à commovere gli affetti, come si riscontra per molti accidenti raccontatici da gli scrittori“ und fol. 16r, S. 91–92: „… sarebbe stato senza dubbio impossibile che ella havesse mai potuto si gagliardamente movere gli affetti che ella voleva nel uditore …“ Vgl. dazu Palisca 1954, S. 1–20. Die effetti maravigliosi der antiken Musik waren seit Johannes Tinctoris’ Complexus effectum musices von 1473 vielfach beschrieben worden. Mei war offenbar kein aktives Mitglied der Camerata, sondern wirkte seit 1560 in Rom, wo er 1574 sein Hauptwerk De modis musicis antiquorum publizierte, in dem er die These vertrat, dass die großen griechischen Tragödien vollständig gesungen worden seien (vgl. Palisca 1954, S. 7–8).

363 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

möge die Hörer kaum zu affizieren, sondern reduziere die Kraft der Stimme wie die Mischung von kochendem mit kaltem Wasser.184 Analog dazu vergleicht Vincenzo Galilei den gleichzeitig mit verschiedenen Stimmen und Melodien konfrontierten Geist mit einer Säule, an der von mehreren Seiten gezogen wird, so dass sich die Kräfte gegenseitig aufheben.185 ‚Bewegend‘ nennt Mei dagegen Stücke, in denen alle dieselben Worte und dieselbe Melodie, im selben Tempo und Rhythmus sängen, denn Affekt und costume wollten „einfach und natürlich (semplice et naturale) sein oder zumindest so scheinen“.186 Seine Forderung nach einer Reform der Musik untermauert Mei mit Plutarchs Lob der dreisaitigen Lyra, deren Einfachheit die komplizierten Kompositionen für mehrsaitige Instrumente überträfe.187 Wie die Kunstkritiker verbindet auch Vincenzo Galilei das Lob der antiken semplicità mit einer Klage über die eitle Vorführung der Virtuosität (artefici per propria ambizione), die Rührung gar nicht erst aufkommen lasse.188 Die zeitgenössische Musik erscheint Mei deshalb „weit von der Wahrheit entfernt“ (tutta lontana de la verità), dabei wäre es ihre Aufgabe, dem Verstand „das Bild und die Wahrheit der nachgeahmten Dinge“ (l’ imagine e la verità stessa de le cose imitate) vorzustellen.189 Galileis zweite Neuerung besteht in der Kritik der bis dahin dominanten pythagoreischen Auffassung von der Harmonie als Ergebnis ganzzahliger Brüche, die noch Zarlino mit der Legende von Pythagoras in der Schmiede illustriert hatte und die lange auch als Ordnung des Himmels betrachtet wurde. Seit dem Mittelalter war die Musik bekanntlich Teil des Quadriviums, zählte also zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie zu den Zahlenkünsten. Nun aber wurde sie, wie die Malerei, stärker mit Poetik

184 

Mei an Vincenzo Galilei am 8.5.1572, fol. 15v–16r, Palisca 1960a, S. 91 und fol. 16v, S. 93: „… si ridurebbero tutte due à una mezzana disposizione, non atta per sua natura, ne à rifreddare, ne à riscaldare …“ 185  Ebd., fol. 17r, S. 97, fol. 18r, S. 97 und Vincenzo Galileis Paraphrase (Galilei 1581, S. 82). 186  Ebd., fol. 16v, S. 93–94: „E adunque necessario percio che tutti i cantanti insieme cantassero non solamente le medesime parole, ma il medesimo tuono, et la medesima aria, con la medesima quantità di tempo et con la medesima qualità di numero et ritmo, le quali tutte cose insieme fussero per propria natura atte à produr l’effetto che l’artefice suo s’ingegnava et si proponeva in animo di condurre.“ Ebd., fol. 17v, S. 97–98: „Perche l’affetto et il costume vuol essere cosa semplice et naturale ò almeno apparir cosi fatto …“ Vgl. auch fol. 21v, S. 110: „erano sempli e naturali …“ 187  Ebd., fol. 21v, S. 110. 188  Galilei 1581, S. 79–80: „… imperoche tutte le regole et osservationi che eglio hanno in uso, sono di diretto contrarie à bene esprimere gli affetti & i concetti di quale si voglia poema.“ Mei bevorzugt „kunstlose“ Musik: Palisca 1960a, fol. 22v, S. 114 und 23v, S. 117: „À me dilettan vie pjù i piaceri quando essi sono con manco artifizio e pju naturali …“ Vgl. dazu Palisca 1960b; Perni 2009 und Haar 1970. 189  Mei/Palisca 1960a, fol. 23r, S. 114 und 23v, S. 116: „A qual fine cosi fatto necessariamente è dimestieri che seguitasse per queste cose acconciamente condotte nel rappresentarsene con la loro imita­ zione al senso del udito, et per mezzo di lui à lo intelletto quasi l’imagine e la verità stessa de le cose imitate, il contento de l’uno e del’altro.“

364 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

und Rhetorik assoziiert.190 Die Qualität der Musik ist für Galilei nicht mehr von der Konformität mit der mathematischen ratio abhängig, sondern von ihrer Wirkung.191 Statt der metaphysischen tritt dementsprechend die angewandte Mathematik in den Vordergrund. Auf Anregung Meis unternimmt Vincenzo Galilei Experimente mit schwingenden Saiten, von denen er die ersten mathematischen Gesetze für Sinnesphänomene außerhalb der Optik ableitete: „The origins of the experimental aspect of modern science“, so Drake, „are to be sought in sixteenth-century music“.192 Die Tatsache, dass Cigoli seinem Freund noch im Mai 1613 zwanzig Dutzend Saiten schickt, lässt vermuten, dass auch Galilei junior akustische Experimente anstellte.193 Im Februar hatte Cigoli ihm von der Erfindung eines Instruments berichtet, welches „das Gehör beträchtlich verstärkt“, einem akustischen Pendant zum Fernrohr also.194 In seinem ersten Brief über die Sonnenflecken vergleicht Galilei seine Korrektur der bisherigen Phänomendeutung mit dem „Stimmen“ eines Instruments. Sein Ziel sei es, „einige Pfeifen an der großen misstönenden Orgel unserer Philosophie zu stimmen“, während sich viele Organisten „vergeblich mühen, ihr die perfekte Temperierung wiederzugeben, und das, weil sie drei oder vier der wichtigsten Orgelpfeifen misstönend belassen, so dass diese den anderen unmöglich in vollkommener Harmonie antworten können“.195 Solche Metaphern mussten Galilei nahe liegen, der von seinem Vater im Cembalo- und Lautenspiel unterrichtet worden war und sein erstes Fernrohr offenbar ausgerechnet aus einer Orgelpfeife gebaut hatte.196 Philippe Canguilhem hat zu Recht hervorgehoben, dass Galileo 190 

Vgl. Hanning 1984, S. 2 und Drake 1970, S. 487. Niccolò Tartaglia zeigt die Musik im Frontispiz der Nuova Scientia 1537 noch als eine der Künste des Quadriviums innerhalb des Gartens der Wissenschaften, zu dem einzig die Geometrie Einlass gewährt. 191  Vgl. Canguilhem 1992, S. 41. 192  Vgl. Drake 1970, S. 483–500, hier S. 483 und Palisca 1961, S. 91–137. Schon Mei riet Galilei zu Experimenten mit verschiedenen Stimmungen der Laute (vgl. Palisca 1972, S. 219). 193  Vgl. Cigoli an Galilei am 3.5.1613, Carteggio 2009, Nr. 53, S. 128: „Mando a V.S. le venti dozzine di corde, conforme a quello ch’ella chiede; et per averle buone ho usato cor uno amico quella diligenza che io ho saputo, perch’ella venga servita.“ Am Ende des ersten Tages der Discorsi berichtet Galilei von Experimenten mit gespannten Saiten und seinen Erkenntnissen über Konsonanz und Dissonanz (vgl. Galilei 2000, S. 87–93). 194  Cigoli an Galilei am 24.2.1613, Carteggio 2009, Nr. 51, S. 126: „M’ero scordato dire che qua ci era aviso che a Padova uno aveva trovato uno strumento che multiplicava l’udito grandemente.“ 195  Galilei an Marcus Welser am 4.5.1612, Galilei 1613/1967, S. 28: „Anzi voglio sperar che queste novità mi habbino mirabilme[n]te à servire per accordar qualche canna di questo grand’organo discordato della nostra filosofia, nel qual mi par vedere molti organisti affaticarsi in vano per ridurlo al perfetto temperamento, e questo perche vanno lasciando, e mantenendo discordare tre, ò quattro delle canne principali, alle quali è impossibile cosa, che l’altre rispondino con perfetta armonia.“ 196  Galilei 1581/1934, S. 80: „Aristotile istesso, Filosofo sopranaturale, comanda espressamente, ne libri della Republica, che i fanciulli, acciò non l’habbiano ad imparare fatti che siano huomini, debbino con grande studio la musica apprendere; ma non quella del Teatro fatta per saddisfattione della plebe che è quasi l’istessa della nostra, ma quella che a’ nati nobili conviene; che è la vera & non la finta.“ Von

365 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

wie sein Vater das Ziel der Musik in der Bewegung der Zuhörer sah und ebenfalls der Stimme mehr Potential zur Weckung verborgener Affekte zutraute als „leblosen Saiten“.197 Eine Wendung ergibt sich jedoch aus der „Ästhetik der Unähnlichkeit“ des Paragonebriefes, dem ja diejenige Kunst als die höhere gilt, deren Mittel am weitesten vom Nachzuahmenden entfernt sind, so dass ein Musiker, der Schmerz mit Instrumenten auszudrücken verstehe, dem Sänger ebenso vorzuziehen sei wie dieser dem Schluchzenden.198 Canguilhem erkennt in den Positionen von Vater und Sohn deshalb „radikal konträre Meinungen in einer ähnlichen Formulierung über ein und dasselbe Sujet“: „Um den Zuhörer zu bewegen, sagt uns der eine, muss die Musik vokal sein, und der Gesang sich, so weit es geht, der gesprochenen Sprache annähern, während der andere in der Instrumentalmusik den Gipfel der Ausdruckskraft sieht.“199 Gemein ist beiden die Ablehnung des Manierismus: Vincenzo verabscheut die Komplexitäten des Kontrapunkts wie Galileo Anamorphosen und bizarre Allegorien. Vincenzo Galilei komponierte die ersten Werke im sogenannten stile rapprasentativo, den Claudio Monteverdi später als „seconda pratica“ bezeichnete. In der von Palisca rekonstruierten Auseinandersetzung Monteverdis mit dem älteren Komponisten Giovanni Maria Artusi kulminierte der Streit um die Autorität der musikalischen Tradition.200 In Delle imperfettioni della moderna musica hatte Artusi harsche Kritik an Monteverdis Verstößen gegen Zarlinos Harmonielehre geäußert, die mit einer Gegenschrift gekontert wurde.201 Artusi formulierte daraufhin ein emphatisches Plädoyer für eine „wahre Musik“, die nicht, wie die modernen Kompositionen, Ohr und Verstand mit „falschen Hypothesen über die Natur der Sache, falschen Täuschungen, falschen Blumen, falschen Kunstfertigkeiten, falschen Akzenten“ umschmeichle, sondern „wahre Dinge und wahre

Galileis Musikunterricht berichtet auch Viviani, Opere Bd. XIX, S. 602. Die Vermutung, dass Galilei seinen Prototyp aus einer Orgelpfeife baute, beruht auf der gleichzeitigen Bestellung von Linsen und einer zinnenen Orgelpfeife bei Ottavio Brenzoni in Verona am 24.11.1609, woraufhin dieser sich für die Ehre bedankt, zu einer „così rara, dilettevole et utile invencione“ beitragen zu können (Opere Bd. X, S. 269–270). In der 1611 am Medicihof uraufgeführten Komödie Tancia vergleicht ein Landjunge das Teleskop scherzhaft mit einer Orgelpfeife (vgl. Reeves 2009, S. 196). 197  Vgl. Canguilhem 1992, S. 35. Galilei[?] an Cigoli am 26.6.1612, Carteggio 2009, Nr. 34, S. 93–94: „Non ammireremmo noi un musico, il quale cantando e rappresentandoci le querele e le passioni d’un amante ci muovesse a compassionarlo, molto più che se piangendo ciò facesse? E questo, per essere il canto un mezzo non solo diverso, ma contrario ad esprimere i dolori, e le lagrime et il pianto similissimo. E molto più l’ammireremmo, se tacendo, col solo strumento, con crudezze et accenti patetici musicali, ciò facesse, per esser le inanimate corde meno atte a risvegliare gli affetti occulti dell’anima nostra, che la voce raccontandole.“ 198  Vgl. dazu Kap. V.2. 199  Canguilhem 1992, S. 37. 200  Palisca 1968, S. 133–165. 201  Vgl. Artusi 1600 und dazu Palisca 1968, S. 146–157.

366 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

Hypothesen“ vorstelle.202 Monteverdi promulgiert dagegen eine Kompositionsform im Einklang mit Vernunft und Sinnen, versichert seinen Lesern jedoch, dass der „moderne Komponist“ „auf die Fundamente der Wahrheit“ baue (il moderno compositore fabrica sopra alli fondamenti della verità).203 Zwei Jahre später springt ihm sein Bruder, Giulio Cesare Monteverdi, zur Seite – „aus Liebe zu [ihm], aber mehr noch zur Wahrheit“ (spinto si dall’amore che porto a mio fratello, ma molto più dalla verità) und zur „Wahrheit der Kunst“ (la verità del arte).204 Mit Berufung auf Platon fordert er eine „Verbindung von der Rede als Kommandant des Rhythmus und der Harmonie als ihren Dienern“, die allein „die Affekte des Geistes“ zu bewegen vermöchten.205 Diese von der Stimme „kommandierte“ Musik fand ihren Ausdruck im recitar cantando, einem von wenigen Grundakkorden begleiteten Sprechgesang, der erstmals in den von Buontalenti gestalteten intermezzi Giovanni de’ Bardis für die Hochzeit von Ferdinando de’ Medici und Cristina di Lorena im Jahr 1589 erprobt wurde. Schon Aby Warburg erkannte Bardis Neuerung primär in dessen Versuch, „eine seelische Einwirkung auch durch die antiquarischen [?] klassischen Beispiele der Wirkung antiker Musik“ zu erzielen.206 Nach Bardi war es vor allem Jacopo Peri, der mit seiner 1589 uraufgeführten „favola drammatica“ La Dafne die Forderung nach der Verbindung antiker Stoffe mit der Monodie einlöste. Um Cigolis Involviertheit in diese Debatte zu zeigen, muss man nicht auf seine marginale Lautenzeile verweisen. Denn tatsächlich war er nicht nur als Schüler Buontalentis an der Vorbereitung der intermezzi von 1589 beteiligt, sondern auch der Ausstatter der ersten erhaltenen Oper, Jacopo Peris Euridice, die anlässlich der Hochzeit von Maria de’ Medici und Henri IV. am 6.10.1600 uraufgeführt wurde.207 Die von dem späteren Galileo-Verehrer Ottavio Rinuccini szenisch umgesetzte Ovid’sche Erzählung präsentierte sich selbst als Erbin der gesungenen antiken Tragödien. Das Orchester bestand 202 

Artusi, Seconda parte dell’Artusi, S. 47, zit. nach Palisca 1968, S. 157–159. Monteverdi 1605/1998, S. 7. 204  Giulio Cesare Monteverdi in: Monteverdi 1998, o. S. [1 und 2]. 205  Ebd. [3]: „il composto di oratione comandante di Rithmo & armonia servienti a lei […] movono le affetioni del animo …“ 206  Warburg 2010, S. 164 . Vgl. Borsook 1965 und 1967 sowie Newman 1986. 207  Vgl. Testaverde 2003; Molinari 1961, S. 62–67 und den Bericht Cardis 1628/2010, fol. 3r, S. 106: „Sopraggiungendo le Nozze della Regina di Francia fece la scena / la qual fu così stimata, che ancora oggi in q[ues]ti tempi fu conservata […] nella qual’ occasione inventò tutti li Habiti, e / Maschere de personaggi che nella Commedia si rappresentavano, i quali ancor’che molti, tutti diligentem[en]te disegnati,/ e coloriti con acquarelli, si per la vaghezza loro, come per la varietà delle capricciose inventioni piacquero a chiunque / li vedde.“ Baldinucci lobt vor allem die eindrucksvollen Perspektiven (1812, Bd. IX, S. 115). Anlässlich der Nozze wurden neben der Euridice auch Vincenzo Panciatichis L’Amicizia costante, Peris Dafne und Caccinis Il Rapimento di Cefalo mit Kulissen und Maschinen Buontalentis aufgeführt. Rinuccini eröffnet seine Widmung an Maria de’ Medici mit der These, dass die antiken Tragödien komplett gesungen worden seien und die moderne Musik ihnen ebenbürtig sei (vgl. Rinuccini 1600, o. S.). 203 

367 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

177. Cigoli, Entwurf für das Bühnenbild der Uraufführung von Jacopo Peris „Euridice“, 1600, schwarze und braune Tusche auf Papier, Florenz GDSU 60 P.

allein aus einem Cembalo, einer Lyra, zwei Lauten und drei Flöten; Orpheus wurde (mit Peri selbst) als Tenor, Pluto als Bass besetzt.208 Der die Tiere zum Tanzen und die Eumeniden zum Weinen bringende Gesang des Orpheus war seit der Antike ein Paradigma für die Macht der Musik.209 Nicht umsonst wurde der Sänger deshalb – zusammen mit Amphion, der mit seiner Musik sogar Steine zu bewegen vermochte – zum Protagonisten von gleich drei der ersten Opern.210 Cigolis Prospekte zur Euridice sind verloren, lassen sich aber aus Zeichnungen und Beschreibungen rekonstruieren.211 Zwei eigenhändige Zeichnungen zeigen Charon bei der Überfahrt in die Unterwelt (Abb. 177). In einer anonymen Skizze des Bühnenbildes

208 

1611 verfasst Rinuccini ein Sonett auf Galilei (vgl. Cigolis an Galilei am 11.11.1611, Carteggio 2009, Nr. 23, S. 74). Das recitar cantando wird Monteverdi in seinem Orfeo von 1607 zur Arie weiterentwickeln. 209  Vgl. Ovid, Metamorphosen, X, 45–46: „Tränen benetzen die Augen der Eumeniden zum ersten Mal, so erzählt man: es rührt sie das Lied.“ 210  In den beiden Versionen der Euridice von Peri und Caccini sowie in Monteverdis Orfeo. 1585 wurde die Oper Orpheus und Amphion anlässlich der „Jülicher Hochzeit“ in Düsseldorf aufgeführt – wahrscheinlich komponiert von Andrea Gabrieli. 211  GDSU 59 und 60 P; zu Cigolis Zeichnungen vgl. Chappell 1992, S, 90–92, Nr. 53. Anna Maria Testaverde erklärt die Existenz einer hoch- und einer querformatigen Vorzeichnung durch einen kurzfristig vom Großherzog angeordneten Ortswechsel (Testaverde 2004, o. S.). Annamaria Petrioli Tofani vermutet, dass die Zeichnungen nachträglich, möglicherweise mit Blick auf eine Publikation angefertigt wurden (1992, S. 58).

368 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

sind zwei über dem Hadestor angebrachte Spiegel zu erkennen, mithilfe derer wohl die Lichteffekte erzeugt wurden, die Michelangelo Buonarroti d. J. stark beeindruckten.212 Am Bühnenrand zeigte Cigoli nicht etwa die Allegorien von Dichtung und Musik, sondern Poesia, Pittura und Perspettiva.213 Damit scheint er gleichsam Eigenwerbung zu betreiben, denn Cigoli hält „den wahren Regeln“ konforme, den Bühnenraum optisch erweiternde Kulissen für eines der kunstvollsten und erfreulichsten Anwendungsfelder der Perspektive.214 Das erste Bühnenbild zeigte laut Buonarroti „wunderschöne Wälder in Relief und gemalt“ (selve vaghissime, e rilevate e dipinte), deren Bäume offenbar beweglich waren.215 In das Stück führt ein Chor aus Hirten und Nymphen ein, die von der bevorstehenden Hochzeit von Orpheus und Eurydike berichten. Die Stimmung ist heiter, es gibt Tanz und Gesang. Die Wendung kommt mit der Nachricht vom plötzlichen Tod Daphnes, die von einer Schlange gebissen wurde. Nach der dritten Szene „tritt der Chor ab, die Bühne verwandelt sich“ (Qui il Choro parte, e la scena si tramuta), aus dem locus amoenus wird – dank eines ausgeklügelten Rollensystems – das wohl Buontalentis Höllen-Prospekt nachempfundene Inferno.216 Buonarotti ist begeistert von den „schauderhaften und erschreckenden Felsen, die wahr scheinen und auf denen entlaubtes Geäst und blasse Kräuter“ wachsen.217 Der Gesandte des Herzogs von Parma allerdings hatte offenbar noch mehr Bühnenzauber erwartet und nennt die Aufführung „eine wunderschöne Sache, wenn auch einfach, was die Maschinen betrifft“.218 Dabei zeigt sich Cigoli in seinem Perspektivtraktat durchaus als Liebhaber von Effekten und Verwandlungen, etwa von Gärten in

212  Vgl. Buonarroti d. J. 1600, o. S. [22]. Die von Petrioli Tofani publizierte anonyme Zeichnung gelangte 1987 auf den Kunstmarkt (vgl. Petrioli Tofani 1992, Abb. 15). 213  Vgl. Cigolis Rechnung, ASF, Guard. Med. 1152, ins. 5., fol. 445v, zit. nach Testaverde 2004 (o. S.): „Et sotto i duoi pilastri con due femmine, l’una rapresentando la Poesia e nel altra la Pittura e Perspettiva et sotto a ciascuna un bassorilievo …“ 214  Cigoli 1628/2010, fol. 60r, S. 235: „Tra le cose piu artifiziose, e che piu dilettano nella pros[pettiv]a è il vedere una beliss[im]a Scena, la / quale quando è fatta con buon’ disegno, e buone vere regole di pros[pettiv]a apparisce cosa mirabile, considerato / che in cosi angusto e breve spazio rappresentar’ si possino strade lunghiss[im]e con varij casamenti / palazzi regali, maravigliosi palazzi teatri, piramidi, e colossi superbiss[im]i …“ 215  ASF, Guard. Med. 1152, fol. 164 r–v: „Alberi di cartapesta dipinti a frutti e foglie lunghi braccia 7 (m.3,5) […] i quali si movano di sul palcho …“ Zit. nach Testaverde 2004, o. S. 216  Rinuccini 1600/2000, fol. 7v; vgl. ASF, Guard. Med. 1152, fol. 464 r–v: „quattrodici tele dipinte a massi che fanno la muta dell’ inferno sopra le case e boscaglia […] un foro per la muta dello Inferno in tela.“ Zit. nach Testaverde 2004, o. S. Vgl. Warburg 2010, S. 124–165; Molinari 1961, S. 65 und Nageler 1964, S. 72. 217  Buonarroti 1600, o. S. : „Ma dovendosi poscia veder lo ’nferno, quelle mutatesi, orridi massi si scorsero, e spaventevoli, che parean veri, sovra de’ quali sfrondati li sterpi, e livide l’erbe apparivano. E là più ad entro per la rottura d’una gran rupe, la Città di Dite ardere vi si conobbe, vibrando lingue di fiamme per le aperture delle sue torri, l’aere d’intorno avvampandovi d’un colore come di rame.“ 218  Ebd., S. 63: „… cosa bellissima, seben semplice in quanto alle macchine.“

369 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

Wälder, von Bergen in Meere und von Tagen in Nächte.219 Seine Beschreibung des eindrücklichen Effekts, der sich einstellt, wenn die Bühne wieder hell wird und der Himmel alles mit Wolken bedeckt, die sich öffnen und den Blick auf Götter freigeben, erinnert nicht von ungefähr an die Epiphanien in Cigolis Gemälden. Gleichzeitig aber mahnt er, all dies dürfe keinesfalls künstlich oder lächerlich erscheinen, weshalb die Alten wohl auf solche Inszenierungen verzichtet und sich allein auf die Erzählung konzentriert hätten.220 Peri dagegen nutzt Orpheus’ Bitte um die Rückgabe seiner Braut als Gelegenheit, die der Musik eigene Wirksamkeit zu feiern. Der „schöne Gesang“ erweicht Plutos Herz, und Orpheus darf im Unterschied zum Mythos ohne Auflagen ziehen.221 Der Anlass zu der Aufführung erfordert offensichtlich ein Happy End.222 Das Brautpaar wird mithin wieder vereint und kehrt – möglicherweise vor dem Prospekt mit Orpheus auf der Barke – in die Oberwelt zurück. Nicht das orphische Blickverbot also ist das Thema des Stücks, sondern die Wirkmacht des einfachen, von der Lyra begleiteten Gesangs, der in der letzten Szene explizit für Daphnes Auferstehung verantwortlich gemacht wird.223 Die emotionale Musik hatte jedoch nicht nur Freunde. In seinem Discorso sopra la musica, non seconda l’arte di quella, ma seconda la ragione alla politica pertinente geht Bocchi 1581 noch über Platons Kritik an der Musik hinaus. Hatte dieser zumindest den Nutzen heroischer Kompositionen anerkannt, sah Bocchi in der Musik grundsätzlich eine Gefahr für das Gemeinwohl.224 Sogar die Motivation zum Kampf traute Bocchi eher Kanonendonner und Waffenklirren als Kriegsliedern zu.225 Statt Kampfeslust zu schüren oder die Affekte zu reinigen, verführe sie zur Vernachlässigung der bürgerlichen Pflichten, 219  Cigoli 1628/2010, fol. 60r, S. 235: „… alla qual maraviglia / sopragiugnendo le diverse e repentine mutazioni come sarebbe hor’ di giardino in Selva, hor di luogo montuoso / e deserto in Mare, e tal’ hora del giorno in oscursiss[im]a Notte nella qual’ si vegghino spaventevoli incendi, dopo restante poi veder i quali rallu=/minata la Scena, e rasserenatosi il Celo, coprasi si copra tutto di bianchiss[im]e nuvole […] le quali apertesi mostrino favolosam[en]te gli Dei, e quali mossi su per varij carri scorrino per l’Aria et diversi motj, rettj et obbliqui, et ad occhi ve/ggenti variamente trasformati in un tratto sparischino …“ 220  Ebd.: „… le quali dico sopragiugnendo fatte / con perfetto disegno non artifiziali, ma cose sopranaturali appariscono, e perche le piu volte avviene, che/ da temerarj et ignoranti Artisti sien’ fatte, se bene alle persone idiote dilettano, non dimeno a i periti / cose ridicule divengono; per ciò forse conosciuta da gl’Antichi la difficoltà dell’incontro prudentem[en]te la fuggivano, servendosi della narrazione solam[en]te …“ 221  Rinuccini 1600/2000, fol. 11r: „Trionfi oggi pietà ne’ campi Inferni,/ e sia la gloria, e ’l vanto / delle lagrime tue del tuo bel canto …“ und fol. 9v: „Sì dolci note, e se soavi accenti / non spargeresti invan, se nel mio regno / impetrasser mercè pianti, o lamenti …“ 222  Vgl. Rinuccinis Widmung an Maria de’ Medici: „Potrà parere ad alcuno, che troppo ardire sia stato il mio in alterare il fine della favola d’Orfeo, ma così mi è parso convenevole in tempo di tanta allegrezza …“ (ebd., o. S.). 223  Ebd., fol. 14v: „Dunque mortal valor cotanto impetra?/ Orfeo: Dell’alto don fu degno / mio dolce canto, e ’l suon di questa cetra […] così l’alma beltate / fú mercè, fú trofeo del canto mio …“ 224  Vgl. Bocchi 1581 und dazu Luppi 1990 sowie Gerbino 2007. 225  Vgl. ebd., S. 15 und 18.

370 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

denn sie schleiche sich in die Seele „wie süßes Gift“ (un dolce veleno sottentra nell’anima). Heilungen durch die Kraft der Musik hält er für Scharlatanerie und die Rede von der Sphärenmusik für unsinnig.226 Der einzige Bereich, in dem er den Nutzen der Musik anerkennt, ist der geistliche, da die Rührung hier einem höheren Zweck dienen soll.227 Obwohl die Musiktheoretiker ihr Augenmerk vornehmlich auf säkulare Musik richteten, lassen sich auch in der Sakralmusik Tendenzen zur Vereinfachung beobachten.228 Das Konzil von Trient hatte 1562 ausdrücklich gefordert, dass der gesungene Text auch bei mehrstimmigen Kompositionen verständlich bleiben müsse. Außerdem sollte sich die Musik auf den Text beziehen. Profane bzw. „allzu weiche“ (troppo molle), „anzügliche oder unreine Musik“ (lascivum aut impurum) wurde aus dem Kirchenraum verbannt.229 Ein Modell zur Verbindung von Textverständlichkeit und Polyphonie lieferte die Missa Papae Marcelli von Giovanni Pierluigi Sante da Palestrina, der deshalb oft – nach Einschätzung Marianne Danckwarts übertriebenerweise – als „Retter der Kirchenmusik“ bezeichnet wird.230 Doch weder die Einstimmigkeit noch die Trennung der traditionell besonders im Madrigal eng verbundenen weltlichen und sakralen Musik vermochte sich durchzusetzen. Im Gegenteil konnte noch Orlando di Lasso im Titel auf seine weltlichen Vorlagen verweisen und Monteverdi das Lamento einer Geliebten durch geringfügige Änderungen in ein Klagelied Marias verwandeln oder eine Toccata aus dem Orfeo in den Eröffnungssatz einer Paul V. gewidmeten Marienvesper integrieren.231 Die Prinzipien protestantischer und katholischer Musik sind dabei weniger scharf unterschieden als oft angenommen: Beide orientieren sich an denselben Satztechniken, demselben Liedgut und beeinflussen sich gegenseitig, obgleich im lutherischen Gottesdienst der Gemeindegesang eine größere Rolle spielte.232 Die Oper fand ihr Äquivalent in geistlichen Singspielen, die in Florenz und Rom mit Begeisterung aufgenommen wurden. Bekannt wurde vor allem die Rappresentazione di anima e di corpo von Alessandro Guidotti, die im Februar 1600 in der Vallicella mit großem Erfolg uraufgeführt wurde.233 Der Streit zwischen der himmelwärts strebenden Seele und dem erdverhafteten Körper sollte einen Streit der Gefühle erregen – was Augenund Ohrenzeugenberichten zufolge auch gelang. Der Cavaliere Giulio Cesare Bottifango beispielsweise soll nach der Aufführung starke Reue gespürt, viele Tränen vergossen und

226 

Vgl. Bocchi 1581, S. 17 und 12. Ebd., S. 36: „Peroche ella ne’ sacri tempij molto puote per destare l’animo nostro à divozione, & nell’udire sollieva gli affetti dalle cose terrene alle divine …“ 228  Vgl. Weimann 1919, S. 7–19 und Lockwood 1957, S. 342–371. 229  Vgl. Danckwardt 1995, S. 372–383. 230  Vgl. ebd., S. 375. 231  Vgl. ebd., S. 379–382. 232  Vgl. ebd., S. 378. 233  Das Libretto von Agostino Manni ist abgedruckt in: Solerti 1903, S. 1–40. 227 

371 4. Monodie: Die Musiktheorie der Camerata Fiorentina und die ersten Opern

daraufhin Lobeshymnen auf die Macht der Musik angestimmt haben.234 Im Vorwort des Librettos wird das Publikum jedoch davor gewarnt, sich von den „neuen und seltsamen Bildern“ (nuove et strane imagini) gefangen nehmen zu lassen. Die Aufführung sollte zwar erfreuen, aber man durfte nicht bei den äußeren, durch die Musik intensivierten Bildern stehen bleiben, sondern war aufgerufen, „ein Bild im Herzen“ (un ritratto nel c[u]ore) zu formen, um darauf die Eitelkeit der Welt zu betrachten.235 Dass geistliche Singspiele solch eine bleibende Wirkung haben konnten, behauptet zumindest Giovan Domenico Ottonelli, demzufolge nach der Aufführung des von dem Jesuiten Stefano Tucci komponierten Christus iudex im Jahr 1573 viele Zuhörer beschlossen, den „goldenen Äpfeln des weltlichen Gartens“ den Rücken zu kehren und in „die qualvolle Wüste der heiligen Buße“ einzutreten.236 Noch stärker aber konnten solche Stücke auf die Schauspieler selbst wirken. Die Aufführung von Bernardino Stefonios Crispus in Neapel im Jahr 1603 soll nicht nur „Bewunderung, Stille, Applaus, Seufzen und wahrste Tränen“ (ammirazione, silenzio e poscia plauso […] gemiti, suspiri e verissime lacrime) im Publikum hervorgerufen, sondern auch drei der jungen Akteure bewogen haben, eine geistliche Laufbahn einzuschlagen.237 Solche Wirkungen wünschten sich selbstverständlich auch Bildtheologen und Kunstschriftsteller. Lomazzo bezieht sich explizit auf die Wirksamkeit der antiken Musik, um die zentrale Rolle der moti auch in der Malerei zu begründen: Die Wunder der Malerei seien „nicht weniger verwunderlich und erstaunlich, als es die Wunder der antiken Musiker waren, die […] die Menschen zu Wut und Zorn entzündeten, zur Liebe, zu den Waffen, zu ehrenvollen Unternehmungen“ bewegten.238 Vincenzo Galilei kontrastiert die regeltreuen Komponisten (gli osservatori) mit autonomen Geistern wie Cipriano de Rore. Wie Michelangelo oder Raffael sei der Begründer der seconda pratica seinem eigenen, von 234 

Vgl. Imorde 2000b, S. 159 und Morelli 1991, S. 179, Dok. 389: Bib. Vall. ms. 0.57/ II. (60), fol. 496 r–v. 235  Solerti 1903, S. 16–17: „… mentre con le nuove et strane imagini dilettaranno, nell’istesso tempo serviranno per una Idea, dove ciascuno mirando puotrà formarsene un ritratto nel core, nel quale riconosca chiaramente, che questa Vita, questo Mondo, queste terrene Grandezze sono veramente polvere, fumo, et ombra. E finalmente poi che non ci è altro di fermo, nè di grande, che la virtù, la gratia di Dio, e ’l Regno eterno del Cielo.“ Vgl. auch Imorde 2000b, S. 159. 236  Ottonelli 1649, Censura, nota sesta, S. 120: „… molti si compunsero di modo, che risolsero d’abbandonare i belli, e gratiosi pomi d’oro del mondano Giardino, e d’entrare nel penoso deserto della santa penitenza, abbracciando la Croce di Christo per mezzo della vita mortificata, e della Religiosa Professione.“ Auch eine 1584 aufgeführte Version des Stücks – Antonio Puteos Historia del Giudizio universale – soll viele Sünder zur Umkehr bewogen haben (vgl. Majorana 1994, S. 454). 237  Brief von Stanonio, zit. nach Fumaroli 1990, S. 219–220. 238  Lomazzo 1584, II.1, S. 105–106: „I quali [effetti] veramente non sono di minor meraviglia, & stupore al mondo, che si siano quelle maraviglie degl’ antichi musici che suona[n]do à sua voglia solevano incitar gl’ huomini à furore, & à sdegno, incitare à gl’amori, all’armi, all’honorate imprese, & à cotali altri affetti …“

372 VI. Semplicità: Figuren der Reduktion

Vernunft und Sinnen geleiteten Geschmack gefolgt; seine Madrigale hätten durch „große Kunstfertigkeit ohne Affektiertheit“ (tanto artifizio senz’alcuna affettatione) geglänzt und entsprechende Wirkungen erzielt.239 Einen Versuch zur Parallelisierung von Kunst und Musik hat schon der durch sein späteres nationalsozialistisches Engagement in Verruf geratene Kunsthistoriker Hermann Voss unternommen, der in der Wende zur harmonischen Musik „das vollkommenste Analogon“ zur „malerischen Gestaltung“ in der Barockkunst sah.240 Für seinen Vergleich von Kolorit und Harmonie beruft er sich auf Armenini, demzufolge eine „schöne, abgestimmte Farbenvielfalt auf die Augen wirkt wie eine abgestimmte Musik auf die Ohren“.241 Für Voss ist die analoge Entwicklung von Malerei- und Musikgeschichte eine „physiologische Selbstverständlichkeit“, weil Auge und Ohr notwendig dieselben Fortschritte machen würden und die Veränderungen in Kunst und Musik nur „verschiedenartige Ausstrahlungen desselben entwicklungsgeschichtlichen Phänomens“ seien.242 Die Florentiner Experimente mit dem stile recitativo identifiziert Voss neben denen der venezianischen und der römischen Schule als dritte Quelle des musikalischen Seicentismo, dessen Durchbruch zum Barock jedoch erst Monteverdi zu verdanken sei.243 Die Parallelität der Entwicklungen in Kunst und Musik ‚erklärt‘ Voss mit einem „historischen, geistigen Fluidum“, das Michelangelos St. Peter und Palestrinas Missa Papae Marcelli gleichermaßen durchströme. Konkrete Ereignisse, wie das Konzil von Trient, hält er dabei für nebensächlich.244 Auch wenn Voss’ nationalistische, mit einem vagen Konzept von ‚Zeitgeist‘ agierende Analyse unbefriedigend bleiben muss, enthält sie doch Ansätze zu einer ganzheitlichen Betrachtung, die die Verschränkung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen mit kulturellen und ideengeschichtlichen Entwicklungen zumindest erahnen lässt. Statt Kunst als Folge oder Spiegel der Gesellschaft zu beschreiben, hält Voss es für „weit eher möglich, von einer Rückwirkung der Kunst auf die Form der Religiosität des Cinquecento zu sprechen“.245 Diese Religiosität und die Rolle der bildenden Künste darin genauer zu fassen, ist Ziel des folgenden Kapitels. 239 

Vincenzo Galilei, Discorso intorno all’uso delle dissonanze (1589), MSS Gal., Anteriori a Galilei, Bd. I, fol. 190–191 und 142. 240  Voss 1920, S. 16: „… das Charakteristikum des Malerischen ist ebenfalls die harmonische Vereinheitlichung der einzelnen Farbtöne zu einem einheitlichen Akkord und die Zusammenfassung des Linearen zu einer in tonigen Übergängen abgestuften Helldunkeleinheit.“ 241  Armenini 1587/1823, S. 118: „… una bella varietà di colori accordata, rende agli occhi quello, che alle orecchie suol fare una accordata musica, quando le voci gravi corrispondono alle acute, e le mezzane accordate risuonano; sicchè di tale diversità si fa una sonora e quasi una maravigliosa unione di misure …“ Außerdem zitiert Voss Barocci, der laut Bellori die Abstimmung der Farben als musikalische Komposition auffasste (Voss 1920, S. 17, Anm. 1). 242  Voss 1920, S. 17. 243  Ebd., S. 19. 244  Ebd. 245  Ebd.

VII. V er itas a ffectiva : Bi ld und Betr achter

1. Muov er e : Er heben und Bew egen Auf einen Stein und sein Bündel gestützt, schläft Jakob unter einem Baum (Abb. 178). Es ist Nacht, aber sein Körper ist hell beleuchtet. Sein Kopf ist zurückgesunken, der atmende Mund geöffnet. Die geröteten Wangen verweisen auf einen aufregenden Traum. Wie in Cigolis Visionsbildern sieht auch hier der Betrachter, was Jakob vor seinem geistigen Auge schaut: „… eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte“ (Gen 28,12). Tatsächlich steigen die Engel nicht „auf und nieder“, sondern nur treppauf, dem von der anthropomorphen Gottheit ausgehenden Licht entgegen, das eine helle Schneise durch die dunklen Wolken schlägt. Die einzige herabsteigende Figur ist durch ihr weißes Gewand und die fehlenden Flügel von den Engeln unterschieden. Möglicherweise handelt es sich um die träumende Seele, die zum Himmel gewiesen wird, während sie selbst auf den Schlafenden zeigt. Die schmale Treppe ist – anders als beispielsweise bei Raffael oder Ludovico Carracci – nicht frontal zum Betrachter, sondern schräg auf Jakob ausgerichtet. In Cigolis Gemälde für Cosimo Ridolfi bildet Jakobs Körper, der das untere Drittel des Bildes einnimmt, eine Schwelle vor der Himmelstreppe und zugleich eine Schwelle ins Bild.1 In ihn kann sich versetzen, wer das durch den kleineren Maßstab, das hellere Kolorit und die zierlichen Formen irrealisierte Traumbild anschauen will.2 Die scala coelestis realisiert den Traum einer direkten Verbindung von Himmel und Erde. Die Mystikerin Maria Maddalena de’ Pazzi sah ständig Engel die Jakobsleiter

1 

Vgl. die Aktstudie GDSU 8987 F; den Engel GDSU 964 F und die definitiven Vorzeichnungen GNSR 110625 und GDSU 8906. Eine wohl eigenhändige Kopie des Bildes findet sich in Burghley House, Lincolnshire (vgl. Faranda 1986, Nr. 29–30, S. 136–138). Insofern der in der Vulgata verwendete Begriff „scala“ uneindeutig ist, erscheinen Cigolis schmale Stufen wie ein Kompromiss zwischen einer Treppe und der traditionell häufiger dargestellten Himmelsleiter. 2  Vgl. Bogen 2001. Ausführlicher zu Cristoforo Sortes Hinweisen zur Irrealisierung von Visionen in Kap. III.4.

374 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

hinabsteigen; der „engelsgleiche“ Franz von Assisi soll Bonaventura zufolge „auf der Jakobsleiter entweder zu Gott empor oder zum Nächsten hernieder“ gestiegen sein.3 Der Jesuit Georg Scherer bezeichnet Gebet und Predigt als „die rechte Leiter Jacobs, daran die Engel auff unnd absteigen. Durchs Gebet steiget der Engel der Prediger hinauff zu GOtt, durch die Prediger steiget er herab zu dem Volck.“4 Bevorzugter Ort von Predigt und Gebet ist das Gotteshaus, auf dessen bevorstehenden Bau ein Detail von Cigolis Gemälde vorausweist: Der hart unter Jakobs Haar hervorkragende Stein ist wohl derjenige, auf dem er am Morgen ein Opfer darbringen und später seinen Tempel errichten wird.5 Paleotti interpretiert Jakobs Steinmal als Hinweis auf den mosaischen Tabernakel, den er seinerseits als Indiz für den alttestamentarischen Bildgebrauch anführt.6 Trotz seiner Anikonizität legitimiert das Monument die Produktion von Bildern, die selbst als ‚Jakobsleitern‘ fungieren. Denn Bilder – so heißt es beispielsweise in René Benoîts Traktat über ihren „rechten Gebrauch“ (vray usage) – sind „wie Stufen und Werkzeuge, die uns zu himmlischen Dingen erheben“.7 Für Paleotti ist es Aufgabe des Malers, „den Menschen Leitern zu bauen, um die ewigen [Gefilde] zu durchdringen und in ihnen den Wunsch nach den himmlischen Gütern zu wecken“ (fare scala agli uomini per penetrare le eterne et eccitarli desiderio dei beni celesti).8 In Bildern kann die Verbindung von Himmel und Erde durch formale Mittel oder auch allein durch den Betrachter hergestellt werden. Letzteres erwartet Scipione Pulzone, der sich bei der Komposition seines Himmelfahrtsgemäldes für S. Silvestro al Quirinale an Vorbildern des frühen Cinquecento orientiert, die himmlische und irdische Sphäre klar voneinander trennen (vgl. Abb. 22). Generell aber konstatiert Friedländer für die Zeit um 1580 eine zunehmende formale Verknüpfung von oben und unten. Tizians Assunta und mehr noch Annibales „in einer Art Gleitflug dicht über den Häuptern der Apostel“ schwebende Maria in Dresden beispielsweise lassen sich von den Untenstehenden

3  Vgl. Mâle 1984, S. 261 und Bonaventura 1941, Bd. XIII.1, S. 615: „Mos erat angelico viro Francisco numquam otiari a bono, quin potius instar spirituum supernorum in scala Iacob aut ascendebat in Deum, aut descendebat ad proximum.“ Übers. nach Bonaventura 1956, S. 79. 4  Scherer 1610, o. S., 7. Regel. 5  Vgl. Gen 28,18–19; vgl. auch Jakobs Gelübde zur Errichtung eines Steinmals in Gen 28,20–22 und 31,44–54. 6  Paleotti 1582/1961, S. 203–204: „… il patriarca Giacob, veduta quella scala che da terra arrivava fino al cielo, tulit lapidem, quem supposuerat capiti suo, et erexit in titulum, fundens oleum super summitatem eius, et appellavit nomen loci Bethel, idest domum Dei; le quali parole, quando dice ‚erexit lapidem in titulum‘, vogliono gli Ebrei che s’intenda che fosse eretta in statua; […] e perché si conosca che fu cosa sacra, dice che vi fu aggiunta la unzione santa et il nome religioso, chiamandola domus Dei […] peroché fu figura del tabernacolo di Moisè, come è stato scritto.“ 7  Benoît 1564, fol. 23v. Auch Harpsfeld vergleicht Gemälde mit der Jakobsleiter (Harpsfeld 1566, S. 603–604 und 622–623; vgl. dazu Scavizzi 1992, S. 86). 8  Paleotti 1582/1961, S. 218.

375 1. Muovere: Erheben und Bewegen

178. Cigoli, Traum Jakobs von der Himmelsleiter, sig.dat. ‚L.C. 1593‘, Öl auf Leinwand, 173 × 134 cm, Nancy, Musée des Beaux-Arts, Inv. 16.

376 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

beinahe anfassen; auch die Wolken hängen so tief, dass sie ihre Köpfe verschatten.9 Weisbach erkennt im „himmelnden Blick“ einen Ausdruck des typisch gegenreformatorischen Strebens nach der Vereinigung von Himmel und Erde: „Es ist bezeichnend für den Gegensatz in der Auffassung zwischen Mittelalter und Barock, daß jenes das Heilige gleichwie etwas objektiv Gegebenes, in sich Abgeschlossenes, etwas, dessen Besitz man sicher ist, ausdeutet, während für den Barock das Motiv der Sehnsucht, des Strebens, des Sich-Vereinigenwollens in den Vordergrund rückt.“10 In Cigolis Werk sind Irdisches und Himmlisches zwar meist deutlich geschieden; Komposition, Farbe und Gesten aber zielen auf die Vermittlung der beiden Sphären. Nicht nur die Jakobsleiter, sondern auch die Blicke der Märtyrer und Betenden führen himmelwärts; Putti pendeln zwischen den Welten; Licht bricht in die irdische Sphäre ein wie Blitze. Damit enthält Cigoli sich der Tendenz zur „Verweltlichung des Transzendenten“, die Friedländer unter anderem an der Verinnerlichung von Visionen festmacht, wie sie sich etwa in Ludovico Carraccis und Caravaggios Gemälden der Bekehrung Pauli von 1584/89 bzw. 1600 finden, die auf die Darstellung der Vision verzichten und diese ganz ins Innere der Bildfigur verlegen.11 Friedländer erklärt die veränderte Darstellungsform mit einem „Wandel des religiösen Gefühls“: „Wunder wie Visionen wurden nun in nächste und überprüfbare Umgebung des Menschen […] oder noch weiter in sein eigenes Herz“ verlegt, um eine „neue religiöse Gefühlswärme“ zu erzeugen, „die, weil unmittelbar verständlich, auch unmittelbar überzeugend wirkte“.12 Dies gilt auch für Cigoli, der zwar auf der Sichtbarmachung der Visionen besteht, dabei aber auf ein empathisches Verhältnis von Betrachter/in und Bildfigur zielt. Victor Tapié wertete Kunst als „Ausdruck eines spirituellen Klimas“, das er quantitativ zu erfassen suchte, indem er 3.975 Karteikarten zu Altarretabeln des 17. Jahrhunderts anlegte, anhand derer er unter anderem konstatierte, dass im Untersuchungszeitraum 743 göttliche Personen und 679 Marien dargestellt wurden …13 Eine „histoire de la sensibilité“, wie sie die Historiker der Annales-Schule forderten, bleibt jedoch bis heute eine große Herausforderung.14 Denn auch wenn Kunst als „Thermometer […] der religiösen Inbrunst“ fungieren mag und viele Quellen über den Umgang mit Bildern berich9  Friedänder 1930, S. 226; vgl. auch Weisbach 1920, S. 222: „Innerhalb der bildenden Künste wird mehr und mehr die Distanz zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen verringert, das Göttliche dem Menschlichen mit allerhand naturalistischen und illusionistischen Mitteln, Kunstgriffen und Kniffen nahegerückt, um dem Durchschnittsindividuum die Einfühlungsmöglichkeit in das Heilige so leicht und bequem als möglich zu machen.“ 10  Weisbach 1920, S. 218. 11  Vgl. Friedländer 1930, S. 233. 12  Ebd., S. 239. 13  Vgl. Tapié 1972, S. 7, 30 und 162. 14  Vgl. Febvre 1941 und Mandrou 1959. Einen Überblick über die Frömmigkeitsforschung gibt Vocelka 2009.

377 1. Muovere: Erheben und Bewegen

ten, lässt sich das individuelle Empfinden der Betrachter selten rekonstruieren.15 Das Anliegen, Empfindungen zu wecken, lässt sich jedoch den Traktaten und den Gemälden selbst entnehmen, die, um „die Herzen […] zum Himmel zu erheben“, nicht nur innerbildliche Verbindungen von Himmel und Erde herstellen, sondern auch verschiedene Möglichkeiten erproben, um Bild- und Realraum zu verknüpfen: Der Weg von unten nach oben führt über ein Außen.16 In Cigolis Traum Jakobs geschieht die Vermittlung durch die Identifikation des Betrachters mit dem Träumenden. In anderen Gemälden laden Augenzeugen, insbesondere Rückenfiguren zum Mit-Sehen ein (vgl. Abb. 49, 152). Neben solchen Identifika­ tionsfiguren fungieren „Imitationsfiguren“ als Medien der Interaktion von Bild und Betrachter/in. Gestalten wie die staunende Mutter mit Kind in der Kreuztragung des Heraklius erscheinen als Vorbilder, die idealiter von den Betrachter/innen nachgeahmt werden (vgl. Abb. 127).17 Denn, so Albertis berühmte, Horaz entlehnte Formel: „Wir weinen mit dem Weinenden, lachen mit dem Lachenden und leiden mit dem Leidenden“.18 Zu diesem Zweck empfiehlt Alberti bekanntlich eine Mittlerfigur (admonitore), die „uns mit der Hand zum Hinschauen herbeiwinkt oder mit zornigem Gesicht und strengen Augen derart droht, dass niemand sich zu nähern wagt, oder auf eine Gefahr oder etwas Wunderbares hinweist oder dich einlädt, mitzuweinen oder mitzulachen“.19 Entsprechend fordert noch Dolce eine Figur, die „den Betrachter weinend anschaut, als ob sie ihm den Grund ihres Schmerzes mitteilen und ihn dazu bewegen wolle, an seinem Leid teilzunehmen, während die Sache, wegen der man weint und leidet, von den anderen

15 

Burke 1987, S. 55. Peter Burke verwendet den Begriff, um Sozialhistoriker daran zu erinnern, dass Visitationsakten, Inquisitionsprotokolle u.  Ä. keine objektiven Messungen der Frömmigkeit der Laien erlauben. 16  Paleotti 1582/1961, S. 233: „… col mezzo di quella [pittura] potrà imprimere nel popolo il vero culto di Dio e la grandezza delle cose eterne, e convertire come ministro celeste i cuori delle nazioni intiere, e cangiarli in altra forma, e seco rapirli in cielo …“ Zur Öffnung des Bildraums zum Betrachter vgl. Busse 1911, S. 30. 17  Zur „Mutter-Kind-Gruppe als bildinterne Betrachterfiguren“ vgl. Thürlemann 1986, S. 144– 149. 18  Alberti 1436/2007, II.41, S. 130/131: „Poi moverà l’istoria l’animo quando gli uomini ivi dipinti molto porgeranno suo proprio movimento d’animo. Interviene da natura, quale nulla più che lei si truova rapace di cose ad sé simile, che piagniamo con chi piange et ridiamo con chi ride, e doglianci con chi si duole.“ Vgl. Horaz, Ars poetica, § 102; 1972, S. 10: „… si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi.“ 19  Alberti 1436/2007, II.42, S. 132/133: „E piacemi sia nella storia chi ammonisca e insegni a noi quello che ivi si facci, o chiami con la mano a vedere, o con viso cruccioso e con gli occhi turbati minacci che niuno verso loro vada, o dimostri qualche pericolo o cosa ivi maravigliosa, o te inviti ad piagnere con loro insieme o a ridere.“ Paleotti erwähnt die Figur nicht, betont aber die Einbeziehung des Betrachters, vgl. 1582/1961, S. 125–127. Zum Gestus des Zeigers vgl. Gandelman 1992.

378 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

mit ganz traurigen und ihrer Aufgabe entsprechenden Gesten betrachtet wird“.20 Solche Figuren findet Annibale bei Correggio, dessen Figuren „atmen, leben und lachen mit einer Grazie und Wahrheit, dass man mit ihnen lachen und sich freuen muss“ (spirano, vivono e ridono con una gratia e verità, che bisogna con essi ridere e rallegrarsi).21 Die ‚ansteckende‘ Wirkung der Bilder wird gerne mit Feuermetaphern beschrieben: Schon Johannes vom Kreuz spricht vom Vermögen der Bilder, Gottesliebe zu „entzünden“.22 Bocchi zufolge vermag die Kunst, Wut oder Zorn zu „entfachen“ und Gottesliebe zu „entflammen“.23 Molanus fordert, Bilder so zu gestalten, „dass sie gleichsam wie Funken die Herzen der Menschen entflammen“.24 Andersherum verdienen obszöne Bilder Ottonelli zufolge verbrannt zu werden, weil die von ihnen ausgehenden Blitze die Herzen vieler Betrachter verbrennen.25 Die Wahrheit, um die es im Folgenden geht, ist weder die Wahrheit der Geschichte noch die der Naturforschung noch die strenge Wahrheit der Theologie, sondern die des „Gefühls“ oder der Frömmigkeit. Albertus Magnus unterscheidet die veritas intellectiva der Wissenschaften von der veritas affectiva des Glaubens, der die Vernunft auf Gott ausrichtet. Dementsprechend versteht er die Theologie als eine scientia affectiva, in der die Wahrheit und die Frage nach dem Guten nicht getrennt seien.26 Thomas von Aquin verortet den Glauben, der die Verbindung zu Gott als prima veritas herstellt, im intellectus speculativus, welcher der Herrschaft des Willens unterworfen sei, „nur mittels der Liebe“ wirke und allein zum verum increatum vorzudringen vermöge.27 Trotz seines weniger gefühlsbetonten Ansatzes erkennt Thomas die Bedeutung des Affekts für die Wahrheitssuche. Erst das Gemüt dränge zur Betrachtung der Wahrheit und wecke Freude an der

20 

Dolce 1557/1970, S. 69–70: „… alcuno in atto che ti guardi piangendo, come che ti voglia dire la causa del suo dolore e moverti a particilar della doglia sua, mentre che alla cosa per cui si piange e si addolora gli altri guardano in atti tutti mesti e convenienti all’offizio loro.“ 21  Annibale an Ludovico Carracci am 18.4.1580, in Teilen abgedruckt bei Malvasia 1678/1971, S. 236–237; Vollabdruck in Perini 1990, S. 150–151. 22  Vgl. Cousinié 2000, S. 173, Anm. 186: „[les commençants] ont besoin de ces considérations pour enflammer peu à peu leur amour et donner à l’âme un aliment par le moyen des sens …“ 23  Vgl. Bocchi 1584/1962, S. 142: „… perocché non deono nelle loro figure esprimere costumi solamente di quelli che sono migliori, o degli eroi, ma pensieri sopraumani e divini, onde si sollevi l’animo a divozione e nell’amore di Dio si infiammi.“ 24  Molanus 1570, Kap. 29, fol. 61r (s. o., Kap. VI.2). 25  Vgl. Ottonelli/da Cortona 1652/1973, S. 333: „… le Pitture oscene sono degne d’esser collocate in mezzo d’una gran luce di fuoco, ove non siano vagheggiate, mà restino abbruciate; come esse con la vista loro lanciano saette di fuoco, & abbruciano i cuori di molti Spettatori poco virtuosi. Merita l’incendio contro di se, chi cagiona la rovina ad altri con l’incendio.“ Paleotti warnt, der Nektar ein und derselben Blume könne von Bienen in Honig und von Spinnen in Gift verwandelt werden (vgl. Paleotti 1582/1961, S. 172). 26  Vgl. Senner 2008. 27  Thomas von Aquin, De Veritate, qu. 14, art. 4 (ders. 2008, S. 398).

379 1. Muovere: Erheben und Bewegen

Betätigung des spekulativen Verstandes.28 In der Summa unterscheidet er die cognitio speculativa, welche die Erkenntnis Gott verdanke, von der cognitio veritatis affectiva, die von der Liebe zur erkannten Wahrheit begleitet sei.29 Beide kollidieren mit der superbia. Im ersten Fall, weil der Hochmütige seinen Verstand nicht Gott unterwerfe, im zweiten, weil die Hochmütigen zwar „gewisse Geheimnisse mit dem Verstand erfassen, aber deren Süße nicht erfahren“ könnten; sie vermöchten sie zwar zu verstehen, nicht aber zu „schmecken“.30 Bilder leisten einen Beitrag zur Schulung und Stärkung der cognitio affectiva, indem sie – so der Jesuitengeneral Francesco Borgia – wie Gewürze die spirituellen Geschmacksnerven anregen.31 Auch im 17. Jahrhundert wird immer wieder die Bedeutung des Willens bzw. der Affekte für das Fürwahrhalten betont. Der in Florenz, Parma und Liège tätige Jesuit und Probabilist Antonius Terillus beispielsweise begründet seine These von der Vormacht der voluntas gegenüber dem Intellekt mit der Hartnäckigkeit der Ketzer, die sich trotz der besseren Argumente der Katholiken willentlich für einen anderen Glauben entschieden. Außerdem erinnert er an die vorschnellen Urteile, die allein auf Basis von Affekten wie Eifersucht gefällt würden.32 Die Konsequenzen dieser Einsicht für die Bildkünste hat besonders eindrücklich der römische Kardinal Sforza Pallavicino gezogen. Nicht zuletzt weil er der fantasia neben dem Intellekt entscheidenden Anteil an der Urteilsbildung zusprach, schätzte er die epistemologische Relevanz von Kunst und Predigt besonders hoch. Im besten Fall schaffen diese „Evidenz“ – definiert als Erscheinung, die es dem Intellekt nicht erlaubt, an ihrer Wahrheit zu zweifeln.33 Einige Glaubenswahrheiten lassen sich nicht mit dem Verstand erfassen, sondern allein schauen: „The object of this seeing“, so Delbeke, „is not considered to be true or false, it is simply there, in its actuality, or evidenza“.34 Ein Objekt berührt uns demnach weniger, weil wir es für wahr halten, sondern weil es unsere Affekte anspricht und die Rührung dabei hilft, die im Herzen verborgenen Wahrheiten zu entdecken. Wie aber lässt sich dies erreichen?

28 

Ebd., S. 399. Vgl. ders., Summa II.2, qu. 162, art. 3; 1993, Bd. XXII, S. 244. 30  Ebd. mit Bezug auf Gregor d. Gr.: „… superbi et secreta quaedam intelligendo percipiunt, et eorum dulcedinem experiri non possunt: et si noverint quomodo sunt, ignorant quomodo sapiunt.“ Übers. nach 1993, Bd. XXII, S. 244; angepasst. 31  Vgl. Bailey 2003, S. 9–10. 32  Vgl. Schüssler 2009. Schon Cicero hatte erkannt, dass Entscheidungen häufiger von Gefühlen wie Hass, Zorn oder Freude als nach Maßgabe von Wahrheit oder Gesetzen getroffen würden (vgl. De Oratore, II.178). 33  Vgl. Delbeke 2012, S. 70 und Pallavicino 1644, II.1.24, S. 208: „Evidenza è una tale appa­ renza, che non lascia mai dubitar l’intelletto della sua verità. Nè di questa apparenza convien sempre di chiedere la ragione; no[n] pote[n]dosi nelle ragioni procedere in infinito …“ 34  Delbeke 2012, S. 73. 29 

380 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

179. Cigoli, Auferstehung Christi, sig.dat. ‚LODOVICUS CARDUS. F. 1591‘, Öl auf Holz, 270 × 170 cm, Arezzo, Museo Statale d’Arte Medievale e Moderna.

Eine überzeugende Affektdarstellung, so eine verbreitete Meinung, könne einem Maler wie einem Schauspieler nur gelingen, wenn er die entsprechenden Gefühle am eigenen Leib erfahren habe.35 Nur derjenige vermöge andere zum Weinen zu bringen, der den Schmerz selbst kenne: „Si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi.“36 Antonio Tantillo, Mitglied der Accademia degli Agghiacciati, rekurriert auf Ciceros Metapher vom rhetorischen Feuer, das nur von Feuer entfacht werden kann: „Will der Schauspieler 35  Vgl. Quintilian, Institutio Oratoria, VI.2.29 und Cicero, De Oratore, II.189, S. 324. Auch Domenichino forderte, dass man die dargestellten Emotionen selbst fühlen müsse und versetzte sich angeblich wie ein Schauspieler in seine Figuren hinein (vgl. Bellori 1672/2009, S. 359 und Mahon 1947, S. 150 und 271–272). 36  Horaz, Ars poetica, § 100–111. Zur Rezeption der Sentenz vgl. Stenzel 1974.

381 1. Muovere: Erheben und Bewegen

das Publikum entflammen, bewegen und überzeugen, muss er zunächst selbst entflammt, bewegt und überzeugt sein. Denn ganz gleich, wie trocken das Holz im Publikum ist, ließe es sich nicht entzünden oder in Feuer verwandeln ohne Feuer.“37 Doch nicht nur die Affekte mussten selbst erlebt worden sein, zunehmend verlangte man von einem Maler sakraler Bilder auch ein katholisches Leben. Possevino geht so weit zu fordern, vor dem Malen stets zu beichten und den Katechismus zu lesen.38 Mehr als Rhetorik, sind diese Bemerkungen Ausdruck der mimetischen Logik einer Kunst, die nicht die Realität abspiegeln, sondern eine neue Welt herbeispiegeln sollte. Solche ‚vorbildlichen Spiegel‘ konnten nur unbefleckte Maler oder Gott selbst schaffen. Paradigma ist auch hier das Madonnenbild von SS. Annunziata, in dem der Betrachter Bocchi zufolge „wie in einem leuchtenden Spiegel“ seine Sündhaftigkeit erkennen, Buße tun und sich dem Bild schließlich „demütig angleichen“ (conformarsi humilmente) sollte.39 Das Verkündigungsbild besitze die Kraft, die Seelen aller Betrachter zu verwandeln. Schon Aristoteles habe junge Menschen ermuntert, vorbildliche Kunstwerke zu betrachten, und wenn die Bilder schon in der Antike solche Achtung genossen hätten – also zu einer Zeit, in der die himmlische Wahrheit noch verdunkelt gewesen sei (quando la verità de’ celesti avvisi era occulta) –, wie sehr müsse dies dann erst in der von Gott erleuchteten Gegenwart gelten, wo Menschen auf dem „Weg des wahren Heils“ zum Himmel geleitet würden.40 Eine zentrale Rolle in Cigolis Spiegel-Kommunikation spielt der „Blick aus dem 41 Bild“. Innovativ ist vor allem jener Blick, den Cigolis auferstehender Christus in Arezzo auf den Betrachter wirft (Abb.  179). Im Gegensatz zu den geschlossenen oder abgewandten Augen der Soldaten sind seine mit strahlenden Glanzpunkten belebten Augen weit offen. Im Vordergrund flieht ein vornübergebeugter Soldat mit wehendem Rock vor 37 

Antonio Tantillo, Oratione, Ms. von 1622, zit. nach Majorana 1994, S. 468: „… se l’histrione vuole accendere, movere e persuadere gli spettatori, è di necessità che sia egli prima acceso, mosso, e persuaso. Poiché per molto […] secco che sia il legno, non si accende né si converte in foco senza foco.“ Vgl. Cicero, De Oratore, II.190, S. 326. Ähnlich auch bei Borromeo 1624/2010, I.11, S. 46 und Dolce 1557/1970, S. 70. 38  Vgl. Possevino 1594, S. 300–302. 39  Bocchi 1592, S. 60: „… ma per lo sembiante santißimo di questo miracoloso volto, come in lucente specchio, conosce tosto l’huomo la sua viltà, & punto di vergogna per sua bruttezza, da lume divino illuminato prende il vero sentiero, che havea smarrito, & purgati i difetti, & gli errori, humilmente co’ pensieri divini, & santi si conforma.“ Eine solche „herbeispiegelnde“ Wirkung schreibt Bocchi auch Donatellos Georg zu, dessen gütiges Gesicht den Geist mit Gedanken fülle, die jenen des Angeschauten ähneln. Vgl. Bocchi 1584, S. 43: „Perche affissata la vista ne’ volti, che spirano bontà, si empie l’animo di quei pensieri, che sono simili al Costume, che è veduto.“ Zur Verwandlungskraft des Bildes vgl. ebd., S. 43–44. 40  Bocchi 1592, S. 43; vgl. Aristoteles, Politik, 1340a. 41  Vgl. Neumeyer 1964, S. 45: „Das Blickespiel innnerhalb des Bildes selbst überspringt an einer Stelle die Bildgrenze, zieht als dynamisches Element durch den Raum unsichtbare Bahnen, greift aus und verknüpft. Die Personen im Bilde werden gewahr, dass eine Außenwelt auch für sie existiert …“

382 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

dem Licht, Ellbogen und Knie ragen bereits über die „ästhetische Grenze“. Dieser ‚Sturz aus dem Bild‘ ist freilich nicht Cigolis Erfindung: Beispiele finden sich schon in Giuliano Bugiardinis Martyrium der Hl. Katharina in S. Maria Novella, in Taddeo Zuccaris Konversion Pauli in S. Marcello al Corso oder in Ludovico Carraccis Konversion Pauli aus den Jahren 1587–1589 (Abb. 180).42 Bei Cigoli erhält das Motiv zusätzliche Dramatik, weil der gesenkte Blick des Soldaten mit den offenen Augen Christi kontrastiert und der Bildraum so sehr verengt wurde, dass dem Soldaten gleichsam nichts anderes übrig bleibt, als nach vorn aus dem Bild zu fliehen. In den meisten Gemälden Cigolis ist es jedoch nicht die Hauptperson, sondern eine Figur im rechten Vordergrund, die den Blick des Betrachters sucht. Wie Alfred Neumeyer in seiner klassischen Studie zum „Blick aus dem Bild“ bemerkt hat, wird die Kontaktaufnahme mit dem Publikum oftmals Kindern und Dienern übertragen.43 So erlaubt es auch Cigoli vor allem den Jungen und Rangniedrigen, den Blick vom Geschehen abund dem Betrachter zuzuwenden. In der Kreuztragung des Heraklius sind es unter anderem ein Page und ein kleines Kind (vgl. Abb. 127), im Gastmahl im Hause des Pharisäers ist es ein Diener, dessen Mittlerfunktion zusätzlich durch sein zeitgenössisches Gewand unterstrichen wird (vgl. Abb. 9). In Cigolis Sacra Conversazione von 1601, die sich heute in Nôtre-Dame-de-Bonne-Nouvelle in Paris befindet, übernimmt der in ein prunkvolles Piviale gekleidete Papst Pius V. die Rolle des Vermittlers,44 in den Rosenkranzmadonnen von Cortona und Pontedera jeweils ein reich gewandeter Kirchenvater (Abb. 181–182).45 Hier sind die Brückenfiguren nicht Teil der istoria, sondern anachronistische Zeugen der Vision des Domenikus, die zur Stiftung des Rosenkranzes führte. Der Kult des Rosenkranzes wurde durch den ihm zugeschriebenen Sieg von Lepanto im Jahr 1571 deutlich befördert.46 Seine Beliebtheit verdankte sich darüber hinaus der Macht der Wiederholung und der Materialisierung des Gebets in Perlen, deren taktile Handhabung mnemotechnisch wirksam war. Teresa von Ávila verehrte den Rosenkranz als „Kette zwischen Himmel und Erde“ und als solche erscheint er bereits in Michelangelos Jüngstem Gericht, wo zwei Menschen an einem Rosenkranz ins Reich der Seligen gezogen werden.47 Bei Cigoli stiftet die Gebetskette nicht nur eine Beziehung zwischen Himmel und Erde, sondern auch zwischen dem Bild und den davor Betenden. 42 

In Cigolis Vorbild, Santi di Titos Auferstehung in S. Croce, ist der Soldat noch zu Christus

gerichtet. 43 

Neumeyer 1964, S. 44. Öl auf Leinwand, 250 × 175 cm, sig.dat. 1601; vgl. Faranda 1986, S. 148, Nr. 52. Cardi erwähnt eine Madonna mit vier Heiligen in Cesena, Scannelli verortet das Bild 1657 in der Pfarrkirche S. Domenico. 45  Vgl. Faranda 1986, S. 134, Nr. 26 und S. 126, Nr. 18. Die heute im Chor der Kathedrale von Cortona befindliche Version entstand im Auftrag der Confraternità del Santissimo Rosario. 46  Vgl. Mâle 1984, S. 384–410. 47  Ebd., S. 384. 44 

383 1. Muovere: Erheben und Bewegen 180. Taddeo Zuccari, Konversion Pauli, um 1560–1565, Öl auf Schiefer, Rom, S. Marcello al Corso, Cappella Frangipani. 181. Cigoli, Madonna del Rosario, 1597–1598, Öl auf Leinwand, 289 × 210 cm, Cortona, Kathedrale. 182. Cigoli, Madonna del Rosario, sig.dat. ‚L.C. 1595‘, Öl auf Holz, 263 × 168 cm, Pontedera, SS. Jacopo e Filippo.

384 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

183. Giuseppe Cesari d’Arpino, Stiftung des Rosenkranzes, um 1590, Öl auf Leinwand, Cesena, S. Domenico.

184. Giorgio Vasari, Madonna del Rosario, 1570, Öl auf Holz, Florenz, S. Maria Novella, Cappella Capponi.

Während Giuseppe Cesari in seiner Stiftung des Rosenkranzes in Cesena die Himmelssphäre noch durch eine horizontale Wolkenbank von den erwartungsvoll nach oben blickenden Gläubigen separiert (Abb.  183), verunklären Cigolis Rosenkranzbilder die Trennung zwischen Vision und Realität.48 In der frühesten Fassung in SS. Jacopo e Filippo in Pontedera von 1595 thront Maria vor einem goldleuchtenden Himmel, gerahmt von einem aus Medaillons zusammengesetzten Rosenkranz, den zwei Putti wie eine Girlande halten (vgl. Abb. 182).49 Als „Bilder im Bild“ stehen die Medaillons für die jeweils fünf Mysterien der Inkarnation, der Passion und der Glorie.50 Anders als in Vasaris vom 48 

Sogar Barocci trennt in seiner Madonna del Rosario (Senigallia, Pinacoteca Diocesana d’Arte Sacra, 1589–1593) die beiden Welten, verbindet sie jedoch durch das Band des Rosenkranzes. 49  Für das Gemälde existieren zahlreiche Vorzeichnungen: eine Modellstudie für Maria im zeitgenössischen Gewand (GDSU 8890 F); ein kniender Knabe und Maria (8937 Fr/v); eine quadrierte Gesamtstudie (1010 F) und eine weitere Gesamtskizze (10828 F). Mina Gregori betont den venezianischen Einfluss (Gregori 1983, S. 49). 50  Die Mysterien des Rosenkranzes bilden auch die Grundlage für das Bildprogramm der Chiesa Nuova.

385 1. Muovere: Erheben und Bewegen

185. Cigoli, Weitergabe des Rosenkranzes, Ausschnitt aus Abb. 182: Madonna del Rosario, 1595.

186. Caravaggio, Madonna del Rosario, um 1601, Öl auf Leinwand, 365,5 × 249,5 cm, Wien, KHM, Inv. GG 147.

horror vacui bestimmten Rosenkranzgemälde in S. Maria Novella aus dem Jahr 1570 (Abb. 184) betont Cigolis Dreieckskomposition die Logik der Verbreitung der Gnade von oben nach unten und zu den Seiten: Maria lässt einen Rosenkranz in die Hand einer älteren Frau gleiten; auf der anderen Seite reicht das Kind Domenikus eine Gebetskette, während dieser Rosenkränze an die mit ausgestreckten Händen wartenden Gläubigen weitergibt (Abb. 185). Die visuelle Kohärenz des Bildes lässt leicht übersehen, dass sich darin verschiedene Wirklichkeitsebenen überlagern. Dargestellt ist eine Vision, die Medaillons erinnern an die christlichen Mysterien, der Kardinal und die mondäne Frau im Vordergrund fordern die Betrachter auf, diese im Gebet zu vergegenwärtigen. Noch deutlicher wird die Volksnähe in Caravaggios Verteilung des Rosenkranzes an plebejische Gläubige mit notorisch schmutzigen Fußsohlen (Abb. 186). Die Szene erinnert an das Geben von Almosen und scheint den mystischen Gehalt zu reduzieren. Gleichzeitig aber animieren die knienden Bildfiguren die Betrachter dazu, es ihnen gleichzutun. Pascal wird später eindringlich daran erinnern, dass äußere Glaubensformen wie das Niederknien und das Bewegen der Lippen allein zwar nicht ausreichen, aber unbedingt mit den inneren verknüpft sind. Zwar wäre es abergläubisch, den Gesten allein zu vertrauen, sie

386 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

zu verachten aber hochmütig.51 Vielleicht noch deutlicher formulierte schon Augustinus die konstitutive Bedeutung von Gesten, wenn er sich fragt, wie es kommt, „dass die äußerlich sichtbaren Bewegungen des Körpers, die doch nur möglich sind, wenn eine Gemütsbewegung ihnen vorhergeht, umgekehrt diese innere und unsichtbare Bewegung steigern können“.52 Obgleich auch Gesten täuschen könnten, lasse sich in ihnen, so Giovanni Bonifacio 1616, „die Wahrheit leichter entdecken“.53 Sichtbarer Beleg authentischen Fühlens und göttlicher Begnadung ist der dono lachrimorum, der Sündern angeblich versagt war.54 Tränen, so Joseph Imorde, waren deshalb „der objektivierende Beleg innerlich empfundener Wahrheiten“ und sichtbares Zeichen einer „auf das Herz wirken­ de[n] Gnadentätigkeit Gottes“.55 Die häufige Rede von den „wahren“ oder gar „wahrsten Tränen“ jedoch zeigt, dass auch im 16. Jahrhundert Krokodilstränen geweint wurden.56 Zudem warnte Filippo Neri davor, Tränen allein als Beleg für den Besitz von Gnade zu interpretieren, obwohl er laut Kanonisierungsakten selbst zu den großen Weinenden gehörte.57 Auch Teresa von Ávila betont in ihren Schriften, dass Gott nicht eigentlich „in Vergießung von Tränen, nicht in jenen Süßigkeiten und zärtlichen Andachtsgefühlen“ erfahrbar werde, sondern im demütigen Gottesdienst.58 „Für schwache Weiblein“ allerdings hält sie es trotzdem für angemessen, „wenn sie der Herr mit Wonnegenüssen unterstützt“.59 Vorbilder der Tränenseligkeit waren die Heiligen Franziskus und Dominikus, vor allem aber Ignatius von Loyola, in dessen Geistlichem Tagebuch Imorde bereits in den ersten vierzig Tagen 175 Tränenflüsse gezählt hat.60 Dementsprechend wussten die nach51 

Vgl. Pascal 2000, Bd. II, Nr. 732, S. 866: „Il faut que l’extérieur soit joint à l’intérieur pour obtenir de Dieu; c’est‑à‑dire que l’on se mette à genoux, prie des lèvres, etc., afin que l’homme orgueilleux qui n’a voulu se soumettre à Dieu soit maintenant soumis à la créature. Attendre de cet extérieur le secours est être idolâtre superstitieux; ne vouloir pas le joindre à l’intérieur est être superbe.“ Althusser überspitzt diesen Gedanken, wenn er 1969 Pascal die Worte in den Mund legt: „Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben“ (Althusser 1977, S. 138). 52  Augustinus, De cura pro mortuis gerenda, zit. nach Stoichi{â 1997, S. 179. 53  Bonifacio 1616, S. 7–8: „È vero che anco con cenni, e con gesti si può simulare, e finger quello che non si ha nell’animo […] Nondimeno più facilmente da i cenni, che dalle parole la verità si scopre, per esser queste più dall’animo separate, che i gesti non sono: e perciò con maggior difficoltà questi atti, e questi moti naturali si possono adulterare.“ Vgl. dazu Steinemann 2006, S. 198–199. 54  Vgl. Barasch 1987, S. 29 und Elkins 2001. 55  Imorde 2003, S. 190 und ders. 2000a, S. 5–6. 56  Die Aufführung von Bernardino Stefonios Crispus in Neapel im Jahr 1603 soll Bewunderung, Seufzen und „wahrste Tränen“ (verissime lacrime) hervorgerufen haben, deren Wahrhaftigkeit dadurch ‚belegt‘ wurde, dass drei der Schauspieler sich für ein Noviziat entschieden (vgl. Fumaroli 1990, S. 219– 220). Auf eine gewisse Skepsis deutet auch die Bezeichnung der Savonarola-Anhänger als „piagnoni“ (vgl. Burke 1986, S. 16). 57  Vgl. Imorde 2000a, S. 6, Anm. 2 und ders. 2003, S. 185. 58  Vgl. ders. 2000a, S. 13–14. 59  Zit. nach ebd., S. 14. 60  Voragine 1963, S. 595 und 837; vgl. Imorde 2003, S. 182 und Plattig 1992.

387 1. Muovere: Erheben und Bewegen

folgenden Päpste die Tränengabe als Beweis ihrer Empfindsamkeit und Begnadung einzusetzen. Clemens VIII. beispielsweise zerfloss bei der Fronleichnamsprozession des Jahres 1592 geradezu in Tränen, 1593 widmet Tasso ihm die Lagrime della beata Vergine, im Folgejahr Orlando di Lasso die Lagrime di San Pietro.61 „Trockenheit“ war dagegen besonders für Prediger ein Problem, da Tränen maßgeblich dazu beitrugen, die Herzen der Zuhörer zu erweichen.62 Wie die Trias docere – delectare – permovere übernahm die Malerei auch die Tränen als Indikatoren der Rührung von der Rhetorik.63 Das „muovere“ wurde von den drei Begriffen zunehmend am stärksten gewichtet, denn, so Paleotti im Rückgriff auf Cicero: „Das Erfreuen ist eine Sache der Annehmlichkeit, das Belehren eine Frage der Notwendigkeit, das Beugen [der Seele] aber bedeutet den Sieg“ (delectare est suavitatis, docere necessitatis, flectere victoriae).64 Die Rührung diene der Überzeugung, Verwandlung und Aktivierung der Betrachter.65 In den Grenzen des Wahrscheinlichen erlaubte Paleotti zum Zwecke der Rührung sogar Szenen, die in der Bibel nicht beschrieben werden, wie die Beweinung oder die Verspottung Christi „und andere Dinge, die sie erzählen, um den Affekt mehr zu bewegen und das Herz zu erweichen“.66 Bilder allerdings, die nur dazu gemacht seien, die Betrachter zum Weinen zu bringen (per far piangere e destare fervore di devozione), lehnt Paleotti ab.67 Auch François de Sales warnt vor rein äußerlichen Frömmigkeitsbekundungen, die bloß momentane Befriedigung und Trost verschaffen würden.68 Im 17. Jahrhundert droht die ostentative Emotionalität zu kippen, Tränenausbrüche erscheinen den Zuschauern zunehmend als bloßes Spektakel.69

61 

Vgl. Imorde 2000a, S. 12. Vgl. z. B. die besorgte Anfrage des „trockenen“ Jesuiten Nicolaas Goudanus an Ignatius (s. Imorde 2003, S. 186). 63  Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 123 und 227; Imorde 2000a, S. 1 und Stenzel 1974. 64  Paleotti 1582/1961, S. 216; vgl. Cicero, Orator, 21.69, S. 64: „Erit igitur eloquens […] is qui in foro causisque civilibus ita dicet, ut probet, ut delectet, ut flectat. Probare necessitatis est, delectare suavitatis, flectere victoriae …“ 65  Ebd., S. 214: „… vi è un altro effetto che deriva dalle cristiane pitture […] il qual a guisa degli oratori è dirizzato a persuadere il popolo e tirarlo col mezzo della pittura ad abbracciare alcuna cosa pertinente alla religione …“ 66  Ebd., S. 272: „Le quali narrazioni o pitture [che raccontano per muovere più l’affetto et intenerire il cuore], se saranno congionte con giudicio e verisimilitudine, scuseranno il predicatore o pittore dalla temerità; ma se saranno cose solamente imaginate per far piangere e destare fervore di devozione, non avendosi riguardo alcuno al decoro della persona o alla probabilità e verisimilitudine del fatto, certo che ciò non difenderà l’autore dalla temerità.“ 67  Ebd. 68  Vgl. de Sales 1959, S. 230. 69  Vgl. Sickel 2003, S. 158. 62 

388 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

2. Muove r e troppo : Nacktheit und Decorum Die erwünschte Rührung der Betrachter konnte jedoch auch fehlgehen. Paradigmatisch ist eine von Giovanni Battista Cardi überlieferte Begebenheit vor Cigolis Opferung Isaaks in einem Hinterzimmer des Palastes von Kardinal Arrigoni, bei der das muovere in ein muovere troppo umschlug (vgl. Abb. 169). Ein künstlerisch ungebildeter Besucher habe die Schönheit von Cigolis Gemälde gelobt, gleichzeitig aber beanstandet, dass es „zu sehr bewege“ (disse […] che il quadro era bello, ma che li pareva che movessi troppo).70 Mit der Formulierung „movessi troppo“ spielt Cardi zunächst auf die Tränen an, die Gregor von Nyssa ausgerechnet vor einer Darstellung der Opferung des Isaak vergossen haben soll.71 Die Anekdote war in den zeitgenössischen Traktaten omnipräsent. Gilio erzählt sie als Beweis für die Bildern eigene Kraft (energia) und Wirksamkeit (efficacia), und auch Paleotti und Comanini griffen die Episode auf.72 Roger de Piles erklärt den Effekt der Isaakszene mit dem Vergegenwärtigungsvermögen der Malerei, die Dinge so darzustellen, als fänden sie tatsächlich statt.73 Kardinal Arrigoni und Cigolis Biograph verbinden die efficacia des Bildes mit der Kunstfertigkeit des Malers: Arrigoni verweist auf „Cigolis Exzellenz“, Cardi lobt das frische Kolorit.74 Letztlich aber geht es offenbar vor allem um Isaaks gekonnt gemalte Nacktheit. Der Kardinal versteht die Bemerkung seines Gasts bezüglich des „movessi troppo“ sicher richtig, wenn er sie als Hinweis auf die erotische Attraktivität der Figur deutet. Doch schiebt er den schwarzen Peter umgehend zurück. Die Bewegung, so belehrt er den Gast, verdanke sich wohl der Meisterschaft des Malers, das Bewegtwerden 70 

Cardi 1628/2010, fol. 4v, S. 110: „… fece a olio un Abramo, dove l’ignudo del fanciullo Isach: appariva così frescam[en]te tinto, che messo / in una retrocamera, e visto da un’ che forse miglior huom[o] di quel che era voleva apparire, disse, non havendo intelligenza / della pittura, che il quadro era bello, ma che li pareva che movessi troppo, il che sentito il Card: le con seria prudenza li / rispose, che il muovere procedeva dall’eccell[enz]a del Cigoli, si come l’esser mosso da[l] defetto del riguardante…“ 71  Vgl. Paleotti 1582/1961, S. 231. 72  Gilio 1564/1961, S. 108: „Eccovi dunque la ragione per la quale furono le pitture permesse; la quale è efficacissima et, oltre che sia communemente accettata, a le volte più s’impara ne la pittura che ne’ libri, conciossia che la pittura ad una occhiata vi dimostra l’istoria con tutti gli accidenti e particolari, e spezialmente quando è fatta da qualche eccellente maestro, et il libro successivamente a poco a poco. E chi negherà che la pittura non abbia la sua energia, come dianzi fu detto di Gregorio Nisseo, che, vedendo Isaacca su l’altare per esser sacrificato, tutto si commoveva a le lagrime?“ (Meine Hervorheb.) Vgl. ebd., S. 41; Paleotti 1582/1961, S. 231 und Comanini 1591/1962, S. 310. 73  Roger de Piles 1993, S. 45: „J’ai souvent jetté les yeux sur un Tableau qui représente ce spectacle digne de pitié, & je ne les ai jamais retirès sans larmes [zit. Gregor von Nyssa], tant la peinture sait représenter les choses, comme si elles se passoient effectivement.“ 74  Cardi 1628/2010, fol. 4v, S. 110: „… così frescam[en]te tinto …“ Sogar Gilio gibt dem ‚Kunstwert‘ Mitverantwortung für die Rührung: „se moveva la ben fatta figura d’Isaac …“ (Gilio 1564/1961, S. 41).

389 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

187. Andrea del Sarto, Opferung Isaaks, um 1527, Öl auf Holz, 213 × 159 cm, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister.

hingegen der Lasterhaftigkeit des Betrachters (il muovere procedeva dall’eccell[enz]a del Cigoli, si come l’esser mosso da[l] defetto del riguardante).75 Ähnlich hatte zuvor schon Vasari argumentiert, demzufolge Beschwerden über lizenziöse Bilder in erster Linie von der Korrumpiertheit der eigenen Vorstellung zeugten.76 Die Erotik macht die Betrachtung von Cigolis Gemälde zur Keuschheitsprobe. Ausgerechnet die Darstellung von Abrahams Gehorsam wird zur Versuchung. Dass es sich bei der betreffenden Figur um einen Knaben handelt, verleiht der Episode zusätzliche Brisanz, denn „Sodomie“ wurde besonders unter Clemens VIII. hart verfolgt und teilweise sogar mit dem Galgen 75 

S. Anm. 71. Chappell 1971, S. 112 und Carman 1972, S. 92 übergehen die erotische Kompo-

nente. 76 

Vasari 1973, Bd. II, S. 518. In der Ausgabe von 1568 beeilt Vasari sich allerdings hinzuzufügen, dass dieses Argument selbstverständlich nicht von der Beachtung der Angemessenheit gegenüber dem Ort entbinde (vgl. S. 519).

390 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

188.  Jacopo Ligozzi, Opferung Isaaks, um 1596, Öl auf Holz, 51 × 37, 50 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/1337.

bestraft.77 Ghiberti und Brunelleschi hatten Isaak auf ihren Bronzereliefs von 1401 noch vollständig nackt gezeigt. Vasari bewundert Andrea del Sartos Figur des „wunderschönen und zarten Knaben Isaak, der ganz nackt ist“, noch ohne Vorbehalte und führt die Rührung des Betrachters auf Isaaks gleichermaßen körperliche und seelische „Bewegtheit“ zurück (Abb. 187).78 Die Sinnlichkeit von Isaaks Körpers war legitimiert durch Kommentare wie Chrysostomos’ Genesis-Homilien, in denen von der „äußeren Eleganz und inneren Schönheit des Knaben, seinem Gehorsam, seiner Grazie und der Blüte seiner Jugend“ die Rede ist.79 Ligozzi zeigt Isaak mit einem auffällig verrutschten Lendentuch; trotzdem erscheint der sehnige Knabe weniger sinnlich als Cigolis goldlockige Figur, deren weiße Haut durch das sfumato besonders weich wirkt (Abb. 188).80 Optische Kon-

77 

Vgl. Zapperi 1994, S. 57. Vasari 2005, S. 63. 79  Chrysostomos, Homiliae in Genesin 47, 2, PG 54, S. 431: „Pueri elegantiam externam, internamque pulchritudinem, obedientiam, gratiam, aetatis florem …“ 80  Conrad Rudolph und Steven Ostrow haben 2001 den Versuch unternommen, Caravaggios nackten Knaben von 1602 als den gerade erlösten und darum lachenden Isaak zu interpretieren. Wahr78 

391 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

kupiszenz war dabei kein allein männliches Problem. Bekannt ist Vasaris Skandalgeschichte um einen Hl. Sebastian von Fra Bartolomeo, der (wie man im Beichtstuhl erfahren haben wollte) gleich mehrere Frauen zu anzüglichen Gedanken verführt haben soll und deshalb aus dem Kirchenraum entfernt worden sei. 81 Borghini erwähnt einen Hl. Sebastian von Baccio della Porta, den man aus ähnlichen Gründen aus der Chiesa de’ Padri gebracht habe.82 Die Zensur von Aktdarstellungen ist die Kehrseite des Lobs der affektiven Kraft von Bildern. Gerade weil sie stärker bewegen, müssen sie strenger kontrolliert werden als Bücher. Aus demselben Grund freut sich, so Ottonelli/da Cortona, der Teufel über obszöne Bilder ebenso wie Gott über religiöse.83 Auch das sonst zum Lob der Bildkunst herangezogene Horazzitat wird gegen sinnliche Gemälde in Stellung gebracht, denn „was der Geist durch die Ohren aufnimmt, stimuliert ihn weniger, als was ihm durch die Augen präsentiert wird“.84 Bilder aber bewegen nicht nur stärker, sondern pervertieren die Seele auch „mit einem Blick“ (Ammannati) bzw. „in einem Augenblick“ (Ottonelli).85 Molanus beruft sich für seine Ausführungen über laszive Bilder auf das Konzil von Konstantinopel, das 680 die Herstellung aller Bilder verbot, „welche die Augen verletzen, den Geist korrumpieren und niedrige Lüste schüren“.86 Abschließend zitiert er Clemens von Alexandria, der nicht nur die Betrachtung, sondern sogar die Erinnerung oder Beschreibung erotischer Bilder verbot, denn „der Blick begeht Ehebruch noch vor Deiner Umarmung“.87 scheinlicher scheint jedoch seine traditionelle Deutung als Johannes der Täufer (vgl. dies. 2001 und Freedberg 1983, S. 54). 81  Vgl. Vasari 1973, Bd. IV, S. 188. 82  Vgl. Loh 2013, S. 102. Zwei Probleme auf einmal hätte die Befolgung von Baronios Empfehlung gelöst, den Heiligen der veritas historica entsprechend wie auf dem Mosaik in S. Pietro in Vincoli als Greis zu zeigen – der Rat wurde jedoch ebenso wenig befolgt wie Sigonios Vorschlag, Maria bei der Assumptio als Siebzigjährige zu porträtieren. Vgl. Baronio 1589, 20. Januar, S. 38; vgl. dazu Herklotz 1985, S. 69–72. 83  Vgl. Ottonelli/da Cortona 1652/1973, S. 35: „… spiace al Demonio lo scancellamento dell’immagini poco modeste, e nocive all’anime, così piace alla Maestà di Dio la formation delle modeste, e giovevoli, massimamente quando s’esprimono miracolose historie, e santi Personaggi.“ 84  Horaz, Ars Poetica II.180–182. Molanus bezieht sich auf Erasmus’ Christiani Matrimonii Institutio, der sich seinerseits auf Aristoteles beruft (Politik VII.17); vgl. Molanus/Freedberg 1971, S. 234–235. 85  Ammannati, in: Baldinucci 1811, Bd. VII, S. 496: „in una occhiata sola“; Ottonelli/da Cortona 1652/1973, S. 36: „Sono più l’immagini nocive, che i libri; per ciòche l’immagini sono domestici inimici, che a tutte l’hore, & in un batter d’occhio assediano la rocca della castità d’ogni sorte di persone …“ 86  Molanus/Freedberg 1971, S. 242. Erneuert wurden diese Vorschriften in den Dekreten von Malines 1570 und Mailand 1573, die konkreter als die von Trient waren. 87  Clemens von Alexandrien, zit. nach Molanus/Freedberg 1971, S. 244: „Horum non solum usus sed etiam aspectus & auditus depinendam esse meoriam vobis annunciamus. Scortatae sunt aures vestrae, fornicati sunt oculi […] ante complexum vestri adulterium admiserunt aspectus.“

392 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Vorschriften zur onestà finden sich nicht nur in der Kontroversliteratur, sondern auch in fast allen nachtridentinischen Bildtraktaten.88 Paleotti plante ein ganzes Buch allein zum Thema, seine Polemik gegen die Darstellung der Madonna mit „rosigem, glattem, rundem und geradezu sinnlichem Gesicht“ deutet seine unnachgiebige Haltung an.89 Immer wieder verweisen die Autoren auf Wilhelm Durandus, der die Ikonenmaler dafür lobte, die Heiligen „alaine von dem nabel uber sich und nicht under sich“ darzustellen, um „alles torleichen gedankches ursach“ zu vermeiden.90 Die Gesprächspartner von Borghinis Risposo disputieren über die „disonestà grandissima“ von Pontormos Sintflutopfern in S. Lorenzo, die Laszivität von Alessandro Alloris Samaritana in S. Maria Novella und vor allem die attraktiven Frauen in Bronzinos Cristo in Limbo.91 Die offene Form des Dialogs, das hat Stuart Lingo gezeigt, wird dabei durchaus zur Präsentation unterschiedlicher Standpunkte genutzt; sogar Gilio präsentiert Gegenmeinungen, die allerdings eindeutig abgekanzelt werden.92 Den ständigen Bezugspunkt der Debatte bilden die ignudi in Michelangelos Jüngstem Gericht, das bereits vor seiner Enthüllung im Jahr 1541 für Entrüstung gesorgt hatte.93 Sogar Galilei empörte sich über die „äußerst obszönen Posen“ (attitudine oscenissima) der Heiligen Katharina und Biagio, auch wenn er dem Maler keine bösen Absichten unterstellte.94 Schon Paul III. und Marcellus II. hatten das Fresko zerstören wollen; Paul IV. bat Michelangelo um eine Überarbeitung, worauf dieser spitz geantwortet haben soll, dies sei keine große Sache, denn Bilder umzugestalten sei leichter als die Welt zu reformieren, der Papst solle damit nur schon beginnen.95 Auf das Ergebnis wurde nicht gewartet, trotzdem wurden Übermalungen erst unter Pius IV. angeordnet. Am 21. Januar 1564 beschloss eine Kommission unter dem Vorsitz Giovanni Morones die Bekleidung einiger Figuren durch Daniele da Volterra. Damit war das Problem jedoch nicht behoben: Noch 1573 konnte sich Veronese vor dem

88  Vgl. z. B. Catharinus 1552, col. 144 und Molanus, der Nacktheit auch in profanen Bildern verbietet (Molanus 1570, Kap. 33/1594, Kap. 42); vgl. Molanus/Freedberg 1971, S. 233. 89  Paleotti 1582/1961, S. 504–506 und S. 373: „… chiamano inetta ogni pittura di essa [Madonna] che sia formata con faccia colorita, liscia, grassa e quasi lasciva, che è errore insopportabile.“ 90  Durandus, Rationale divinorum officiorum, zit. nach Göttler 1990, S. 281–282. Vgl. z.  B. Borghini 1584, S. 83: „dal bellico in su.“ 91  Vgl. Borghini 1584, S. 78–79 (Pontormo), S. 74 und 97 (Allori) und S. 109–110 (Bronzino). 92  Vgl. Lingo 2013, bes. S. 127–131. 93  Zu der langen Debatte vgl. de Maio 1978 und Nagel 2000. 94  Galilei, Tasso, Opere, Bd. IX, S. 94: „Fra le considerazioni che si devono avere intorno al de­coro della pittura, una è di grandissimo momento, la quale richiede che le attitudini e le disposizioni delle figure non vengano, contro a quello che ricerca l’istoria, a rappresentare atti osceni e disonesti: nel qual errore incorse Michelagnolo Bonarroti nell’accomodare, nel suo Giudizio, S. Caterina nuda con S. Biagio dietro, disposti in attitudine oscenissima.“ 95  Vasari/Barocchi 1960, S. 90: „Dite al Papa che questa è piccola faccenda e che facilmente si può acconciare, che acconci egli il mondo, ché le pitture si acconciano presto.“

393 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

Inquisitor auf die ignudi in der Sixtina berufen, um die licenza der Kunst einzuklagen.96 Folglich beauftragte Gregor XIII. Lorenzo Sabbatini mit weiteren Übermalungen, Sixtus V. schließlich noch Cesare Nebbia.97 Auch die Visitatoren stießen sich wesentlich häufiger an lasziven Figuren als an ikonographischen „Fehlern“.98 Konkrete Maßnahmen sind vor allem aus den Visitationsakten Clemens’ VIII. bekannt, der sich bei der Durchsetzung der Konzilsbeschlüsse an Carlo Borromeo orientierte und zwischen 1592 und 1598 28 Kirchen visitierte.99 In S. Marcello al Corso ließ er eine als zu sinnlich befundene Eva von Perino del Vaga, in der Sakramentskapelle des Petersdoms eine Maria Magdalena mit Haar bedecken.100 Anstößig erschienen ihm auch die Holzengel auf dem Ziborium der Ikone von S. Maria Maggiore und die Erzenengel in Pulzones Altargemälde in der Cappella degli Angeli in Il Gesù – letztere allerdings offenbar weniger wegen ihrer leichten Bekleidung, sondern weil sie lebende Personen porträtierten und vier der dargestellten sieben Erzengel für apokryph erachtet wurden.101 Pulzones Beweinung in der Passionskapelle wurde dagegen bei der Visitation beanstandet, weil sich die (obschon bekleidete) Maria Magdalena Christus unangemessen zärtlich zuwende.102 Galilei erinnert sich in den 1590er Jahren, „wie man aus einer der Hauptkirchen Pisas ein Gemälde entfernte, auf dem der Hl. Michael über dem Teufel in einer äußerst unschicklichen Haltung gemalt war“.103 Oft sind die Entscheidungen der Visitatoren orts- und publikumsabhängig. In einem Fall wurde beispielsweise empfohlen, ein Kruzifix entweder zu bedecken oder aber in die Sakristei zu überführen; in einem anderen Fall riet man dem Priester, eine in der Kirche aufgestellte Maria Magdalena zu verkaufen.104 Wie Opher Mansour gezeigt hat, wurden die Beanstandungen jedoch weder ungefragt hingenommen noch vollständig durchgesetzt.105 Einen pikanten Höhepunkt erreichte die Akt-Zensur mit der von Innozenz XI. angeordneten Bekleidung von Berninis Nuda Veritas in S. Isidoro und am Grab96 

Vgl. Fehl 1961. Vgl. de Maio 1978, S. 42. 98  Vgl. Zapperi 1994, S. 64. 99  Vgl. Mansour 2013. 100  Vgl. ASV Misc. Arm. VII. vol. 3, fol. 27v. Im Fall einer Venus mit Cupido im Hause Giovanni Paolo Sanfelices in Neapel kommt die Bekleidung mit Haar und die Ergänzung von Totenschädel und Seil einer spirituellen Transformation gleich (vgl. Ottonelli/da Cortona 1652, S. 326–327 und Loh 2013, S. 104). 101  Vgl. ASV Misc. Arm. VII. vol. 3, fol. 21r; dazu Mansour 2013, S. 142; Bailey 1999, S. 157 und Zuccari 1990, S. 614. 102  Vgl. Mansour 2013, S. 146–147. 103  Galilei, Considerazioni, Opere, Bd. IX, S. 94: „… e io mi ricordo veder rimuover in Pisa, da una chiesa principale, una tavola, entrovi dipinto S. Michele col demonio sotto, pur in un atto disonestissimo …“ 104  Vgl. Bailey 2003, S. 211–214 und 242–247; Dern 2003, S. 68–71 und 162–163. 105  Vgl. Mansour 2013, bes. S. 139, 144 und 155–156. 97 

394 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

189. Giovanni Lorenzo Bernini, Veritas am Grabmal Alexanders VII., 1673–1674, Marmor.

190. Giovanni Lorenzo Bernini (Werkstatt), Nuda Veritas (Ausschnitt aus dem Entwurf für das Grabmal Alexanders VII.), Windsor, Royal Library.

mal Alexanders VII. im Petersdom (Abb. 189–190).106 Die Affäre zeigt paradigmatisch, was bereits durch die Debatte über das Jüngste Gericht augenfällig geworden war: Hinsichtlich der Nacktheit siegen decorum und onestà über die Tradition und sogar über die veritas historica. So muss beispielsweise auch Borghini zugeben, dass die Leiber der Auferstehenden nackt sein würden, trotzdem habe Federico Zuccari gut daran getan, die Seligen in Gewänder zu hüllen, um der onestà, riverenza und divozione zu genügen.107 106 

Vgl. Wittkower 1955, S. 227–228 und 240; Fehl 1966, S. 404–405; Marchi 2005, S. 127– 132 und allgemein zur Nuda Veritas: Konersmann 2008. Zuvor war die Justitia am Grabmal Pauls III., deren Nacktheit sich ikonographisch weniger gut rechtfertigen ließ, mit einem Metallgewand bekleidet worden. Grund waren jedoch nicht allein moralische Erwägungen, die Aktion war zugleich ein Seitenhieb gegen die Farnese (vgl. Mansour 2013, S. 142–144). 107  Borghini 1584, S. 84: „… è stato molto ben fatto il dipignere gli eletti nel suo Giudicio vestiti, prima per osservar quella honestà, che sopra ogn’altra cosa nella Chiesa di Dio servar si dee; e poi perche gli habiti diversi dimonstrano i diversi gradi delle persone; i quali nelli ignudi oltre à che mostrerebbono poca riverenza, e poca divozione, difficilmente si potrebbon conoscere …“

395 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

Auch Gilios Dialogfigur Ruggiero gibt zu, dass es am Jüngsten Tag keine Scham mehr geben werde, trotzdem hält er den Anblick von ignudi in der unerlösten Gegenwart für inakzeptabel. Es gebe folglich „einige Lügen im Dienste der Keuschheit, die lobenswert“ seien (alcune finzioni per cagione de l’onestà, le quali sono lodevoli); „das Angemessene“ sei in diesem Fall „der Wahrheit vorzuziehen“ (il fitto si proponga al vero).108 Das Argument, dass Michelangelos Figuren „nur gemalt“ seien, wird abgewiesen – nicht zuletzt, weil an diesem Punkt die gesamte Wirktheorie der Bilder hing. Könnten nur echte ignudi Anstoß erregen, könnten auch nur echte Heilige zur Andacht bewegen. Stattdessen verweist Gilio auf die Venus des Praxiteles, die zeige, dass „Bilder erbauen oder schockieren“ (le pitture edificano e scandalezzano).109 Noch gewagter wird die Verzahnung beider Argumente bei Aldrovandi, der Paleottis Forderung nach affektiven religiösen Bildern ausgerechnet mit dem Hinweis auf den Liebeswahn bekräftigt, den die knidische Venus in einem jungen Mann entfachte.110 Körperliche Schönheit als Zeichen geistiger Vollkommenheit oder wie Vasari als Schöpferlob zu deuten, hält Borghinis Michelozzo für fragwürdig, da der durchschnittliche Betrachter schließlich kein selbstbeherrschter Platoniker, sondern ein Sinnenwesen sei.111 Der Verführung durch den Blick galt es auf der Straße ebenso vorzubeugen wie in Bildern: Gleich am ersten Tag seines Pontifikats, am 1. Februar 1592, hatte Clemens VIII. ein Edikt gegen den Aufenthalt von Prostituierten in der Nähe des Vatikanpalastes erlassen, das kurz darauf auf die gesamte Stadt ausgeweitet wurde.112 Übertretungen wurden – für beide Geschlechter – mit Peitschenhieben und symbolischen Schändungen bestraft.113 Bei der Durchsetzung der Repressalien halfen die Pfarrregister und ein soziales Kontrollsystem, das jedoch nie lückenlos funktionierte. Ähnliches gilt für die Kleiderverordnungen. Schon Sixtus V. hatte 1586 allen Frauen das Tragen von durchsichtigen Gewändern, Federhauben und extravagantem Schuhwerk verboten; Clemens VIII. plante verschärfte Vorschriften auch für Adelige.114 Am 7. Juni 1599 wurde unter Androhung von Rutenhieben und Haftstrafen das Nacktbaden im Tiber untersagt – was Passignano jedoch offensichtlich nicht von seiner (homo)erotischen Darstellung badender Männer abhalten 108 

Gilio 1564/1961, S. 78 und 81. Ebd., S. 78–79. 110  Vgl. Aldrovandi 1961, S. 515 und dazu Lingo 2013, S. 115–116. 111  Vgl. Borghini 1584, S. 187 und 109–110, jeweils in Bezug auf Bronzinos Cristo in Limbo in S. Croce. Vgl. dazu Lingo 2013, S. 122–123. 112  Aufenthaltsrecht hatten die Frauen allein im sog. Ortaccio zwischen Arco di Portogallo und Piazza del Popolo. Als Kennzeichen hatten sie gelbe, bodenlange Ärmel zu tragen (vgl. Zapperi 1994, S. 52–53, 58 und Storey 2008). Zu den Florentiner Gesetzen gegen Luxus und Sodomie (1546/1562/1568) und zur Kleiderordnung für Prostituierte vgl. Reimann 2007, S. 59 sowie Lascas Polemik (Grazzini 1882, S. 442–445). 113  Vgl. Zapperi 1994, S. 52 und 54. 114  Vgl. ebd., S. 58. 109 

396 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

konnte.115 Akte blieben Ausweis der Kunstfertigkeit, auch wenn Paleotti behauptete, dass sich „die Kunst des Malers ebenso gut – wenn nicht besser, wie einige meinen – in den bekleideten Figuren zeigen kann wie in den nackten“.116 Die wohl einflussreichste Stellungnahme eines Künstlers gegen Aktdarstellungen stammt von dem Bildhauer Bartolomeo Ammannati, der sich am 22. August 1582 in einem offenen Brief an die Accademia del Disegno selbst der Unkeuschheit anklagte, um die jungen Künstler vor unzüchtigen Darstellungen zu warnen.117 Auftraggeberwünsche böten keine Entschuldigung, denn die letzte Verantwortung trage immer der Autor – eine ambivalente Aussage, die den Künstlern einerseits moralische Fesseln anlegte, ihnen aber andererseits eine gewisse Unabhängigkeit zusprach.118 Eine ähnliche Konversion wie Ammannati vollführte der heute vor allem für seine lasziven Frauengestalten bekannte Florentiner Maler Francesco Furini, der seine Freunde sogar aufforderte, seine Gemälde zu verbrennen, als er sich im Alter von 40 Jahren für das Priesteramt entschied.119 Durante Alberti eröffnete seinen Vorsitz in der Accademia di San Luca 1598 in Begleitung eines Jesuiten, der zur Vermeidung lasziver Bilder aufrief.120 Auch wenn sich die Auswirkungen der (Selbst-)Zensur deutlich spüren lassen – etwa wenn Ottavio Vannini, Francesco Curradi oder Artemisia Gentileschi sogar Batsheba oder Susanna im Bade bekleidet zeigen –, betont Maria Loh auch die Freiräume, die sich die Künstler erlaubten, und erklärt das disziplinarische Projekt der „custodia degli occhi“ für gescheitert.121 Ähnliche Ambivalenzen lassen sich auch in Cigolis Werk beobachten. Baldinucci rühmt ihn für sein Bemühen, „die Keuschheit seines Pinsels zu wahren“ und berichtet von der Erziehung seiner Schüler zu einem zurückgezogenen, untadeligen Lebenswandel und zur Zügelung ihres skopischen Begehrens.122 Der Meister habe sie stets angehalten, 115 

Vgl. ebd., mit Bezug auf ASV, Arm. IV, Bd. LI, fol. 167. Paleotti 1582/1961, S. 504–506. Dieselbe Position vertritt auch Possevino 1594, S. 307. 117  Vgl. Ammannati 1582/1962 und Chappell 1971, S. 194. Raffaello Borghini führt den Brief zwei Jahre später als Beleg für seine Kritik an lasziven Bildern in öffentlichen Räumen an (vgl. Borghini 1584, S. 110). 118  Um 1590 bittet Ammannati Ferdinando de’ Medici, keine Akte mehr in Auftrag zu geben (vgl. Wimböck 2006, S. 23). Als der Großherzog Cigoli und sieben weitere Künstler 1607 mit einem Marienzyklus für die spanische Königin beauftragt, werden sie explizit ermahnt, mit Ausnahme von Putti keine nackten Figuren darzustellen (vgl. ASF, Guard. Med. 6.8.1607 und dazu Chappell 1975, S. 12). 119  Vgl. Loh 2013, S. 105. 120  Vgl. Blunt 1984, S. 82 und Zuccaro/Heikamp 1961, Bd. I, S. 68 und 79. 121  Vgl. Loh 2013, S. 106–109. In den Gemälden Orazio Gentileschis beispielsweise sind die Figuren von Danaë, Kleopatra und Magdalena beinahe austauschbar. 122  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 149: „… egli s’ingegnò al possibile di mantenere casto suo pennello, così esortò sempre i suoi scolari a far lo stesso, dicendo doversi amare la bellezza de’ corpi per trarne il più bello a benefizio e perfezione dell’arte, non per imbrattarne l’animo e farli fare effetti in su le tele, che colla modestia e col decoro poco si confacciano.“ 116 

397 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

191. Cigoli, Auffindung des Adonis, Öl auf Kupfer, 28,5 × 39,5 cm, New York, Metropolitan Museum.

„die menschlichen Schönheiten nur für den Nutzen der Kunst zu lieben“ und „laszive oder unanständige Gedanken“ zu vermeiden, um die Imagination nicht zu verderben.123 Tatsächlich finden sich in Cigolis Werk nur wenige Akte; nackte Figuren sind vor allem in Zeichnungen und in kleinformatigen mythologischen Bildern für den privaten Raum präsent. Ein Beispiel ist die kleine starkfarbige Kupfertafel der Auffindung des Adonis, die ihren Reiz aus dem Kontrast zwischen Venus’ verführerischem Körper und ihrem entsetzten Gesicht bezieht (Abb. 191).124 Gezeigt ist der Moment, in dem die Göttin das Gewand des Geliebten anhebt und die Wunde an seiner Beininnenseite erblickt. Ihr Körper wirft dabei einen spektakulären Schatten auf Adonis’ Gesicht, aus dem im nächsten 123 

Cardi 1628/2010, fol. 5v, S. 115: „… e però consigliava i sua giovani […] a starsene ritirati, dicendoli che per / venir valent’ / huomo era necessario innamorarsi della professione, la quale in qualunq[ue] ricerca tutto l’huomo, e non bisognava svagarsi, e / riempier l’immaginativa di diversi fantasmi […] e che si doveva solo amare le/ bellezze humane per l’immitazione utilità dell’Arte, acciò scelto il bello dal bello s’immitasse nel più perfetto la Natura, lasciando da parte / ogni pensier’ lascivo e dis­ onesto, si come mostrò al Mondo il viver suo, il quale fù tale che da ogni parte esemplare lodabile si rende …“ 124  Vgl. Gregori 2001, S. 12–13. Vgl. auch Cigolis, von Contini publizierte Venus mit möglicherweise porträthaften Zügen (Privatsammlung; vgl. Contini 1995, S. 173).

398 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Moment – mit dem letzten Lichtstreifen – das Leben entweichen wird. Dem Schatten galt Cigolis Aufmerksamkeit bereits in seiner gleichformatigen Studie für den kunstvoll verkürzten Sterbenden, der möglicherweise nach einem männlichen Modell gezeichnet wurde.125 In sakralen Sujets ist die Nacktheit meist Zeichen sublimierter Erniedrigung.126 Christus und Laurentius beispielsweise werden die Kleider vom Leib gerissen; trotzdem stellt Cigoli beide nicht, wie von Gilio gefordert, geschunden, sondern verklärt dar (vgl. Abb. 61).127 Besonders die Nacktheit Christi war jedoch nicht allein eine Frage der veritas historica und des Decorums, sondern, wie Leo Steinberg in The Sexuality of Christ gezeigt hat, auch theologisch relevant, weil sie zur vollwertigen Menschlichkeit Christi gehörte.128 Brunelleschi und Michelangelo verzichteten bekanntlich auf das Lendentuch, Allori legte mit anatomischem Blick Muskeln und Knochen des Gekreuzigten frei (vgl. Abb. 133). Cigoli zeigt ihn stets mit Schamtuch, vor allem in der Trinità jedoch mit muskulösem, makellosem Oberkörper (vgl. Abb. 166). Vergleichsweise freizügig zeigt Cigoli sich beim Jesuskind, an dessen Nacktheit Molanus ebenfalls „nichts Erbauliches“ finden konnte.129 In der Rosenkranzmadonna von Pontedera präsentiert Cigoli ungeniert das nackte Genital des Knaben, eine licenza, die er in der 1597/98 entstandenen Version für Cortona zurücknahm, wo er auch die spielenden Putti so positionierte, dass ihre Geschlechtsteile verdeckt sind (vgl. Abb. 181–182). Hans Belting hat gegen Steinberg auf die Einschränkungen der dem Decorum entsprechenden Nacktheit Christi verwiesen; Genitalien waren nur am Kleinkind und der Leiche legitim; die Bilder spielten mit einem Tabu, ohne es zu verletzen: „Sie zeigen in der Analogie zwischen dem Körper Jesu und gewöhnlichen Körpern die vollständige Differenz, die sich hier zur übrigen Körperwelt auftut.“130 Eine Ausnahme bildet Caravaggio, der es in seiner Darstellung des Ungläubigen Thomas wagt, die Leiblichkeit Christi nicht nur durch den bohrenden Finger des Apos125 

Braune Tusche auf Papier, 28,7 × 40,2 cm, GDSU 839 E; vgl. Chappell 1992, Nr. 117, S. 192–193. Die Entblößung als öffentliche Erniedrigung und Strafe blieb auch im Alltag präsent: Beim römischen Karneval wurden Juden trotz der prosemitischen Edikte alljährlich nackt zu einem Wettlauf gezwungen und dabei mit Abfall beworfen (vgl. Zapperi 1994, S. 73). Prospero Farinucci verbindet 1605 die verbreitete Seilstrafe mit der Entkleidung des Schuldigen (vgl. Farinacci 1605, S. 45). 127  Vgl. Gilio 1564/1961, S. 41: „… se moveva la ben fatta figura d’Isaac, posto su l’altare per esser sacrificato, il gran dotto Gregorio Nisseo a lagrimare, quanto maggiormente moverebbe a compunzione i riguardanti l’imagine e figura del Salvator nostro su la croce trafitto, addolorato, tormentato, appassionato, sanguinoso, difformato […] Oh vanità de l’uomo, in far vano quello che è vero e proprio e principale, per dar luogo a le finzioni che non pesano una paglia.“ 128  Steinberg 1996. 129  Molanus 1594, II.42, fol. 65v: „Notum est Pictores saepe Infantem IESUM nudu[m] sculpere, aut pingere: sed ob hoc malë audiunt à multis non exiguae pietatis & prudentiae viris. Quid enim in hac nuditate esse potest aedificationis? Atque utinam nulla hinc oriretur in parvulis destructio, nullum in pusillis scandalum.“ 130  Belting 2005, S. 111. 126 

399 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

192. Caravaggio, Madonna dei Palafrenieri, 1605–1606, Öl auf Leinwand, 292 × 211 cm, Rom, Galleria Borghese, Inv. 110.

tels, sondern auch durch das angedeutete nackte Gesäß des Auferstandenen zu unterstreichen.131 Auch wenn die Entfernung von Caravaggios Madonna dei Palafrenieri von 1605/06 inzwischen nicht mehr mit der anstößigen Nacktheit des halbwüchsigen Jesusknaben und Marias gewagtem Decolleté, sondern schlicht mit der Aberkennung des Patronatsrechts der Auftraggeber erklärt wird, zeigt Bagliones missgünstige Skandalgeschichte, dass solche Decorumsverstöße wahrgenommen und diskutiert wurden (Abb. 192).132 Die Tatsache, dass Caravaggios Bild umgehend von Kardinal Borghese (zu einem über dem Anschaffungspreis liegenden Betrag) für seine Privatsammlung angekauft wurde, spricht für sich, denn grundsätzlich war Nacktheit auch in sakralen Sujets im privaten Raum eher geduldet.133 Mancini empfiehlt, freizügige Bilder zu verhüllen und vor allem in Loggien und schwer zugänglichen Erdgeschossräumen aufzubewahren,

131  132  133 

Öl auf Leinwand, 107 x 146 cm, 1601–1602, Potsdam, Sanssouci, Gemäldegalerie. Vgl. schon Spazzaferro 1974 und Sickel 2003, S. 8. Vgl. Dolce 1557/1970, S. 75.

400 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

wo sie nur selten und allein ausgewählten Gästen oder der Ehefrau vorzuführen seien.134 Dass die Einschätzung der Freizügigkeit der Besucher offenbar schwierig war, zeigt nicht nur die eingangs beschriebene Isaak-Episode, sondern auch eine Begebenheit in der Villa Giovanni Michele Paravicinos, wo der als Hauslehrer angestellte Baronio selbst zum Zensurpinsel gegriffen haben soll.135 Im Jahr 1600 ging sogar das Gerücht, der Papst plane – wie zuvor Savonarola – die Verbrennung aller lasziven Bilder.136 Doch die Purgierung reichte noch weiter: Hausherren sollten ihre Paläste nicht nur von allen Bildern befreien, die Gottes Auge beleidigen könnten, sondern auch von „Zeichnungen auf den Wedeln, Buchumschlägen, Verzierungen an Spiegeln, Dekorationen auf Truhen oder Schränken und vielen anderen Gegenständen“.137 Schon die Aufzählung lässt vermuten, dass das Unternehmen zum Scheitern verurteilt war. Trotzdem beförderte es die Verlegung der Schaulust auf sakrale Sujets, die unter dem Vorwand der Disziplinierung Erotik erlaubten. Gregorio Comanini hatte in seinem Dialog über den Zweck der Malerei 1591 be­ stimmte Gemälde für bestimmte Sünder empfohlen. Das Exempel des Zöllners Matthäus beispielsweise sollte Habgierige dazu bewegen, allen weltlichen Gütern zu entsagen, das des Zacharias Betrüger zur Buße anregen. Demjenigen aber, „der sich in den Fängen der Huren und im Schlamm der körperlichen Scheußlichkeiten verfangen“ habe, empfiehlt er ein Bild des „keuschen Joseph, der seinen Mantel in den ehebrecherischen Händen der ägyptischen Frau lässt und vor ihr flieht wie vor einer schrecklichen, wütenden Bestie“.138 Cigolis bereits besprochene Interpretation dieses Sujets in der Villa Borghese feiert Josephs Keuschheit, dient aber zugleich dazu, die des Betrachters auf die Probe zu stellen (vgl. Abb. 170). Anders als Orazio Gentileschi oder später Guercino zeigt Cigoli die Verführerin zwar nicht barbusig oder nackt, kokettiert aber mit ihrem tiefen Décolleté und gelöstem Strumpfband. Für Busse scheint Joseph sogar zwischen Zuneigung und Abwehr zu

134 

Vgl. Mancini 1625/1956, S. 142–143. Vgl. Zapperi 1994, S. 65–66. 136  Vgl. ebd., S. 66. Die Wirksamkeit von Savonarolas „Scheiterhaufen der Eitelkeiten“ zeigt das Beispiel Fra Bartolomeos, der seine Aktzeichnungen verbrannt und nach der Verhaftung des Predigers ein Mönchsgelübde abgelegt haben soll – nachdem sein „wahr und lebendig“ (vera e viva) erscheinender Sebastian in S. Marco einige Frauen sinnlich erregt haben soll (vgl. Vasari 1973, Bd. IV, S. 188–189 und Bohde 2002, S. 232–234). 137  Paleotti 1582/1961, S. 354–355: „… così doveria ciascuno rivedere minutamente la casa sua, dentro nella città e fuori, e levar via ogni pittura che potesse offendere gli occhi timorati d’Iddio […] sì come avviene in alcuni dissegni fatti nelle ventarole, coperte di libri, ornamenti di specchi, acconci di casse, di armarii e di molt’altre cose …“ 138  Comanini 1591/1962, S. 313–314: „A chi ne’ vischi delle meretrici si ritrova impaniato e nel fango delle carnali bruttezze convolto dipinge il casto Giuseppe, che, lasciando il manto tra le mani adultere delle donna egizzia, fugge da lei come da fiera spaventevole et arrabbiata.“ Vgl. dazu Steinemann 2006, S. 308 und Zapperi 1994, S. 70–71. 135 

401 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

193. Cigoli, Maria Magdalena, 1598, Öl auf Leinwand, 173 × 124 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. Pal. 98.

194. Tizian, Maria Magdalena, 1533–1535, Öl auf Holz, 84 × 69 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. Pal. 67.

schwanken, eine Ambivalenz, in der sich Cigoli als „Psycholog des Barockzeitalters“ erweise.139 Ambivalent ist Cigolis in mehreren Versionen erhaltene ganzfigurige Aktdarstellung der büßenden Maria Magdalena, deren Körper, wie schon Baldinucci bemerkt, allein mit ihren braunblonden Locken bekleidet ist (Abb. 193).140 Der lange Bogen des auf den Schenkeln ruhenden Arms nimmt die fließende Bewegung ihres langen Haares auf und bedeckt die Brüste nur teilweise. Das sfumato und das helle Inkarnat geben dem dal naturale gestalteten Frauenkörper, dessen Jugend der veritas historica widerspricht, eine verführerische Blöße.141 Vorbild war Tizians Halbfigurenbildnis im Palazzo Pitti 139 

Busse 1911, S. 31: „Das nur ungerne Sichentwinden, die Abwehr und ein gleichzeitiges Sichzuneigen auf der einen Seite, – die unschuldig lächelnde Überredung und eine sanfte Berührung mit dem entblößten Fuße, (kein leibliches Festhalten) auf der anderen Seite, ist das Thema des großen Dramatikers.“ 140  Vgl. Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 102: „… ignuda se non quanto viene da proprj capelli ricoperta …“ – über die Version von 1605. Eine weitere Fassung für Carlo Guidacci identifiziert Faranda mit dem ehemals im Paul Getty Museum aufbewahrten Gemälde (1986, S. 136, Nr. 28). Eine vierte Kopie für Maffeo Barberini gilt als verloren (vgl. Chiarini/Padovani/Tartufferi 1992, S. 206). 141  Vgl. die Aktstudie eines Modells mit hochgesteckten Haaren GDSU 1937 S (Faranda 1986, S. 155, Nr. 65a).

402 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

195. Cigoli, Maria Magdalena, sig.dat. 1605, Öl auf Leinwand 114 × 87 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/2173.

196. Tizian (Werkstatt), Maria Magdalena, um 1565, Öl auf Leinwand, 118 × 97 cm, St. Petersburg, Eremitage.

(Abb.  194), demgegenüber Cigolis, von der Bildebene distanzierte, himmelnde Magdalena fast keusch erscheint. Gerade durch ihre Versenkung aber ist sie dem Blick des Betrachters preisgegeben. In der wohl eigenhändigen Kopie von 1605 ist der Zusammenstoß des hart auf den Stein gesetzten Totenschädels durch ein Stück dunkelroten Samt gedämpft und Magdalenas Gesicht noch sanfter und verführerischer geworden (Abb. 195). Vor allem das pikante Detail des zwischen ihre nackten Oberschenkel geklemmten hebräischen Gebetbuchs stellt die Integrität des Betrachters auf die Probe. Vor Cigolis Magdalena ist der Betrachter in einer ähnlichen Situation wie der Seidenweber vor der Kreuztragung des Heraklius: Sein Auge, sein Begehren, auch seine Kennerschaft werden gereizt, um sie gleich darauf zu bremsen und zu Demut und Buße zu ermahnen, ohne dass das ästhetische Vergnügen dadurch geschmälert würde. Der Typus der nackten Büßerin wurde im 16. Jahrhundert sehr populär, ihre Aktdarstellung jedoch in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend seltener. Schon die späteren Fassungen bzw. Werkstattkopien von Tizians Prototyp zeigen Magdalena im Hemd, Allori hüllt sie 1601 sogar vollständig ein (Abb. 196–197).142 Auch Cigolis halbfigurige 142 

Vgl. Tizians Gemälde in der Eremitage, im Museo di Capodimonte in Neapel und in der Staatsgalerie Stuttgart sowie Alloris Magdalena im Museo Stibbert in Florenz. Allgemein zur Darstellung Maria Magdalenas vgl. Mosco 1986.

403 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

197. Alessandro Allori, Maria Magdalena, 1601, Öl auf Leinwand, 193 × 155 cm, Florenz, Museo Stibbert, Inv. 4091.

198. Cigoli, Maria Magdalena in Betrachtung eines Totenkopfes, um 1610, Öl auf Leinwand, 70 × 52 cm, San Miniato, Cassa di Risparmio.

Maria Magdalena in San Miniato ist bekleidet, allerdings mit tiefem Décolleté (Abb. 198). Trotzdem ist schon in Cigolis Aktdarstellungen eine Verschiebung gegenüber Tizians frühem Bild zu bemerken. Zwar hatte Vasari auch bezüglich der venezianischen Magdalena darauf bestanden, dass sie den Betrachter nicht zu lasziven Gedanken, sondern allein zur Empathie bewege (und damit zumindest die Möglichkeit eines Auseinanderklaffens konzediert), doch trifft die von Baccio Valori überlieferte Antwort Tizians auf den Einwand, die taubenetzte Figur „gefalle zu sehr“ (da piacer troppo), wohl eher den Kern:143 „Er erkannte, dass ich sagen wollte, sie müsse durch ihr Fasten abgemagert sein […] und wies mich grinsend darauf hin, dass sie am ersten Tag ihrer Einkehr porträtiert sei, bevor sie angefangen habe zu fasten, um das Gemälde zwar reuevoll darzustellen, aber so angenehm wie er konnte, und dies“, so Valori, „war es gewiss“.144

143  Vasari 1973, Bd. VII, S. 454: „… mentre ella, alzando la testa con gli occhi fissi al cielo, mostra compunzione nel rossore degli occhi, e nelle lacrime dogliezza de’ peccati: onde muove questa pittura, chiunche la guarda, estremamente; e, che è più, ancorchè sia bellissima, non muove a lascivia, ma a comiserazione.“ 144  Baccio Valori, Ricordo aus den Jahren 1559–1561, zit. nach von Rosen 2009, S. 153: „… anche mi ricordo hora che dicendoli che era da piacer troppo, come fresca e rugiadosa in quella penitenza.

404 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Während Tizian das Spiel der verisimilitudo mitspielt, um sich eine licenza zu erlauben, ist es durchaus möglich, dass der Junggeselle Cigoli die Keuschheitsmahnung an seine Schüler ernst meinte. Als eine Art „Gegengift“ gegen die Attraktion der nackten Schenkel setzt er Maria Magdalenas feuchte, zum Himmel gewandte Augen, aus denen eine Träne bereits auf die glatte Wange gerollt ist, die den Betrachter oder die Betrachterin zum Mitweinen veranlassen soll (Abb. 199).145 Denn kein Körperteil transportiert Cigoli zufolge mehr Gefühle als die Augen: „… in ihnen erkennt man deutlich Zorn, Milde, Mitleid, Hass, Liebe, Traurigkeit und letztlich jedes Gefühl, das unsere Seele verwandelt: Sie brennen, glänzen, flackern, lachen und werden traurig, aus ihnen treten die Tränen des Mitleids und der Frömmigkeit.“146 Laut Moshe Barasch figuriert Tizian durch die Verbindung von nacktem Leib und tränenvollem Blick Magdalenas Konversion: „In diesem Moment ist Maria Magdalena noch Kurtisane, worauf ihr verführerischer Körper hindeutet, und schon die künftige Heilige, wie es ihr Blick ausdrückt.“147 Cigoli mag die Nacktheit ähnlich entschuldigt haben – als Relikt von Magdalenas altem Leben oder als Zeichen der wiedergewonnenen Unschuld. Doch nicht nur mit Tüchern, Haaren oder Tränen ließ sich Nacktheit bemänteln. Oftmals genügte auch eine allegorische Deutung, die darüber hinaus die Darstellung mythologischer Sujets überhaupt legitimieren konnte.148 Besonders deutlich wird dies in Giovan Battista Cardis ausführlichem Kommentar zur Erzählung von Amor und Psyche, die Cigoli 1609 im Auftrag Kardinal Borgheses in seiner Loggetta auf dem Monte Cavallo gemalt hat.149 Die den Metamorphosen des Lucius Apuleius entnommene Erzählung war in Rom bereits an prominenter Stelle präsent. Die Herausforderung bestand

Conosciuto che io voleo dire che dovesse con scarna del digiuno, mi rispose ghignando avvertisce che l’è ritratta pel primo dì che rientra, innanzi che cominciasse a digiunare, per rappresentar la pittura penitente sì, ma piacevole quanto poteva, e per certo era tale …“ Allgemein zum Problem der Nacktheit vgl. von Rosen 2009, Kap. II.4. 145  Vgl. Henning/Weber 1998. Malerisch wird der Eindruck des Tränenvollen durch die Vervielfachung der über die Linse verteilten Ganzpunkte erreicht. Moshe Barash schreibt die Erfindung der gemalten Träne Rogier van der Weyden zu und korreliert sie mit der neuen Innerlichkeit der devotio moderna. Bevor die Träne selbst auftaucht, wird Weinen durch verzerrte Gesichtszüge oder die Geste des Wischens oder Verdeckens der Augen dargestellt (vgl. Barasch 1987, S. 21–33). 146  Cigoli 1628/2010, fol. 6r, S. 117: „… non si potessin’ cavare da altra parte maggiori ne più certi indizi / delle passioni dell’Animo quanto da gl’occhi, da quali evidentem[en]te si conosce l’Ira, la Clemenza, la Misericordia,/ l’Odio, l’Amore, la Tristezza, e finalm[en]te e ogn’altro affetto dell’ quale l’animo possa venir alterato: animo nostro: questi ardono,/ splendono, tremoleggiano, ridono e si attristano, da quelli escono le lacrime della compassione, e della pietà …“ 147  Ebd., S. 40 und 42. 148  Zur Legitimierung der Metamorphosen durch moralisierende Deutungen vgl. Thimann 2002, S. 33–42; zu deren Ablehnung durch das Konzil und den Maler Jacopo Zucchi vgl. ebd., S. 89–90. 149  Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 112–113. Baglione nennt den Zyklus „molto vaga, e bella“ (ders. 1642/1995, S. 154).

405 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

199. Cigoli, Maria Magdalena, Ausschnitt aus Abb. 193.

folglich darin, sich einerseits mit den Psychefresken Raffaels in der Farnesina (1517–1518) und Perino del Vagas in der Engelsburg (1545) zu messen, andererseits aber den neuen Maßstäben der onestà zu folgen.150 Die Verschiebungen zeigen sich in der Wahl der dargestellten Episoden und im Umgang mit Aktfiguren, vor allem aber in Cardis Sehanleitung, die Cigolis erotische Fresken allegorisch bändigt. Auf die schöne Psyche eifersüchtig geworden, beauftragt Venus ihren Sohn Amor, das Mädchen mit der Liebe zu einem erbärmlichen Mann zu bestrafen. Doch ihr Plan 150 

Einen Überblick über die Ikonographie gibt Bernardini 2012. Erstmals findet sich das Motiv auf Cassone-Tafeln aus der Mitte des 15. Jahrhunderts im Berliner Bodemuseum. 1526–1528 entstehen Giulio Romanos Fresken in der Sala di Psiche im Palazzo del in Mantua. 1565 inszenieren Vasari und Federico Zuccari die Intermedia di Psyche als Fabel auf die Hochzeit von Francesco de’ Medici und Johanna von Österreich. Zu dem aus der klassischen Rhetorik übernommenen, scholastisch überformten Begriff „(in)honestum“ vgl. Gaston 2013, S. 85. Der auf einer griechischen Vorlage basierende lateinische Text war über Manuskripte des 11. Jahrhunderts bekannt, die durch eine Kopie Boccaccios Verbreitung gefunden hatten. 1469 erschien die Erzählung erstmals im Druck, 1478 fertigte Matteo Boiardo eine Übersetzung an, die erst 1518, in einer illustrierten Ausgabe, in Venedig erschien.

406 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

200. Cigoli, Schlafende Psyche, 1609–1610, Fresko (auf Leinwand), Rom, Museo di Roma, Inv. dep MC-52.

geht nicht auf, denn Amor verliebt sich in Psyche. Als ihr Vater sie auf Weisung eines Orakels von einem Felsen stürzt, wird sie auf Amors Bitten von Zephir gerettet. Hier setzt Cigolis Erzählung ein: Die Kopflunette zeigt Psyche im Moment des Übergangs von der irdischen Welt in das Reich des Göttlichen (Abb. 200).151 Ihr Gewand ist noch gebläht von Zephirs Hauch, der sie „mit flatternden Gewändern und geblähtem Bausch“ über den Abgrund getragen und vor Amors Schloss abgelegt hat.152 Auf ihren kräftigen Arm gestützt, zeigt die schlafende Psyche dem Betrachter ihre entblößte Brust, die Rechte

201. Cigoli, Flucht Amors mit allegorischer Rahmung, 1609–1610, Fresko (auf Leinwand), Rom, Museo di Roma, Inv. dep MC-41.

151 

Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 112: „Psiche addormentata sopr’una Nuvola da Zefiro  / lievem[en]te spinta, è portata verso il delizioso palazzo, che nel lontano è finto in mezzo d’un Bosco riccam[en]te ornato …“ 152  Apuleius 1963, IV.35, S. 167.

407 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

202. Cigoli, Psyche erwacht aus dem Zauberschlaf, Fresko, Rom, Museo di Roma, Inv. dep MC-56.

bändigt wie zufällig das (dem Wortlaut des Textes entsprechend) hochgewehte Gewand. Schulter und Schenkel werden von einer Wolke liebkost – gleichsam in Vorwegnahme der Berührung durch Amor, der in den folgenden Nächten unsichtbar zu ihr schlüpft, ihr aber verbietet, ihn zu sehen. Von ihren Schwestern überredet, spioniert Psyche ihren Liebhaber mit einer Öllampe aus. Für diesen Tabubruch wird sie umgehend mit Cupidos Flucht bestraft (Abb. 201).153 Apuleius erzählt die Geschichte eines Blickverbots – „non videbis, si videris“ –, Cardi legt den Akzent auf Psyches bestrafte Neugier.154 Anders als Giulio Romano, Jacopo Zucchi oder Perino del Vaga, die das erotische Potential der Szene auskosten, zeigt Cigoli nicht den Moment der Enthüllung, sondern den Augenblick unmittelbar danach, in dem Psyche den fliehenden Amor zurückzuhalten versucht. Sein vorwurfsvoller Blick trifft den Betrachter in dem Moment, in dem dieser selbst das Blickverbot bricht, indem er auf Amors Po und die raffaeleske Psyche schaut. Was wir nicht sehen, ist Psyches Rache an ihren Schwestern und ihre Züchtigung durch Venus, die Psyche vier Aufgaben stellt, deren letzte darin besteht, die Göttin der Hölle um ein Schönheitselixier zu bitten.155 Alles verläuft glimpflich, bis Psyche erneut ihrer Neugier erliegt und die Zaubervase öffnet, aus der ihr nicht Schönheit, sondern ein Todesschlaf

153 

Ebd., V.21–24, S. 193–197. Ebd., V.11, S. 180/182. Vgl. Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 112: „… la troppo curiosa Psiche soprappresa dal’inaspettata bellezza d’Amore, et uscita fuori di se, mentre rimirava il già vietato oggetto,/ restò di tanto bene spogliata, poi che svegliato Cupido se ne vola al Celo, et ella levatasi sù con ambi le mani per una gamba lo / piglia, il quale dopo il contrasto scappatoli se ne fugge …“ 155  Vgl. Apuleius 1963, VI.16, S. 228/229. 154 

408 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

203. Cigoli, Einführung Psyches in den Olymp, Fresko (auf Leinwand), Rom, Museo di Roma, Inv. dep MC-59.

entgegenschlägt.156 Cigolis drittes Fresko zeigt Cupido, wie er die halbentblößte Psyche weckt und rügt, bevor er ihr den weiteren Weg weist (Abb. 202).157 Das Mittelfeld schließlich feiert das Happy End, die Aufnahme der nun züchtig in ein blaues Tuch gehüllten Psyche in den Olymp der Unsterblichen (Abb. 203).158 Innerhalb von Apuleius’ Metamorphosen fungiert die Psycheerzählung als Spiegel der Rahmenhandlung über den für seine Neugier mit der Verwandlung in einen Esel bestraften Lukian, der erst nach vielen Irrwegen wieder zu seiner menschlichen Gestalt zurückfindet. Das Pendant zu Psyches Aufnahme in den Olymp bildet deshalb das Zwickelfresko mit der Darstellung des Esels, der durch Rosen in einen Menschen zurückverwandelt wird (Abb. 204). Anders als in der Textvorlage, wo dem Esel die Rosen am Ende einer öffentlichen Sodomie-Vorführung überreicht werden, geben ihm hier Putti die Rosen zum Fraß. Laut Cardi ist der Esel „nicht ohne eine verborgene Bedeutung“ (non senza qualche nascosto suo significato), die er jedoch nicht weiter ausführt – naheliegend wäre eine Interpretation als Initiationsfigur, die nach verschiedenen rites de passage zu ihrer wahren Bestimmung findet.159 Auf eine solche „verborgene Bedeutung“ verweisen auch die anderen Zwickelfresken, in denen fröhliche Putti versuchen, Löwen und Wölfe zu zähmen, die wohl die menschlichen Leidenschaften figurieren. Zusätzlich werden die Lunetten nach dem Vorbild der Farnesinafresken von Grisaille-Allegorien gerahmt, in

156 

Vgl. ebd., VI.21, S. 234: „… et iacebat immobilis et nihil aliud quam dormiens cadaver.“ Vgl. ebd., VI.21, S. 234/235. Wegen der stilistischen Differenzen wurde das Fresko einer anderen Hand, evtl. Coccapani zugeschrieben. 158  Ebd., VI.23–24, S. 236–239. 159  Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 113. 157 

409 2. Muovere troppo: Nacktheit und Decorum

204. Cigoli, Rosen fressender Esel, Fresko (auf Leinwand), Rom, Museo di Roma, Inv. dep MC-55.

denen sich ratio und passio (Minerva und Temperantia bzw. bocksbeinige Satyrn) gegenüberstehen (vgl. Abb. 201).160 Cardi zufolge schien Cigoli die Geschichte zu lasziv, weshalb er sie mit einem allegorischen Sinn „umhüllt“ habe. Psyche erscheine als Bild „unserer Seele, die vom Wind der Versuchungen getrieben, in den mit scheinbaren Genüssen geschmückten Palast der Sünde geführt wird und dort, weil sie uneinsichtig dem verbotenen Verlangen nachgibt, von der göttlichen Gnade verlassen wird. Dadurch wird sie sich ihres erbärmlichen Zustands bewusst und macht sich voller Reue auf, um den Schmuck der Buße wiederzufinden. Nachdem sie Buße getan hat, wird sie vor Gott geführt, in dessen Anwesenheit sie den Nektar seiner Gnade trinkt und von Neuem würdig wird, jenes ewige Gut zu genießen“.161 Diese Deutung war offenbar angeregt von Fulgentius’ Kommentar aus dem 160 

Die Figur Pans erklärt sich evtl. durch ein Gedicht Niccolò da Correggios von 1491, der ihm die Deutung der Fabel als Gleichnis für die Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit irdischer Liebe in den Mund legt. 161  Cardi 1628/2010, fol. 5r, S. 112: „… e parendoli haver presa favola un po lasciva l’andava ricoprendo / con q[ues]ta allegoria: intendendo per Psiche l’Anima nostra, la quale spinta dal vento delle tentazioni fosse condotta nel Palazzo del / peccato, ornato d’apparenti delizie, nel quale ostinatam[en]te acconsentendo alli vietati appetiti, se ne vola da lei la grazia Di/vina, mediante la qual perdita riconoscendo il misero stato nel qual si trovava, se ne và con pentimento a ritrovare il belletto / della penitenza,

410 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

6. Jahrhundert, der schon der ersten italienischen Ausgabe beigegeben war. Fulgentius setzt den Bruch des Blicktabus mit dem Sündenfall gleich, durch den Psyche, Tochter von Gott und Materie sowie Schwester von Fleisch und Freiheit, „der nackten Begierde und des mächtigen Glücks beraubt und aus dem königlichen Hause geworfen wird“.162 Ähnliche Deutungen waren gerade auch im 16. und frühen 17. Jahrhundert verbreitet. Die erste deutsche Übersetzung von 1538 liefert die allegorische Deutung bereits im Titel: Ain schön lieblich auch kurzweylig gedichte Lutij Apiuleij von ainem gulden Esel dainn geleret wie menschliche Natur so gar blöd schwach und verderbet das sy beweilen gar vihisch unverstendig und fleischlich on verstand dahin lebet gleich wie die Pferdt und Maul wie David sagt auch herwiderumb sich möge auß Gottes beystand erholen un auß ainem Esel ein Mensch werden Gott gefellig auffrecht und verstendig. In der Inschrift in Hendrik Goltzius’ Stich zur Hochzeit von Amor und Psyche aus dem Jahr 1587 heißt es: „Wenn es erlaubt ist, in den Fabeln irgendeine Wahrheit zu suchen, […] ist diese Psyche die Seele, die der göttlichen Schönheit gleicht. Venus rät das Böse, Psyches Schwester, der Geist, hat die Hölle geheiratet, die andere die Verführung des Fleisches. Amor, der heilige und göttliche Cupido, bittet seinen Vater um Hilfe und erhält für seine Geliebte das Ambrosia des glücklichen Lebens.“163 Ob die allegorische Verbrämung von Cigolis Fresken in der Kardinalslogetta aus Verlegenheit oder Überzeugung, auf Wunsch des Auftraggebers oder des Malers geschah, lässt sich kaum entscheiden. Ganz offensichtlich jedoch sah Cardi eine gewisse Notwendigkeit, die lasziven Figuren einzukleiden, da auch sie – wie Cigolis Isaak im Hinterzimmer – die Gefahr bargen, „zu viel zu bewegen“.

3. Kontempl ation: A ndacht und Dinge Cardi feiert Cigolis Kreuzabnahme von 1607 als Meisterwerk bewegender Malerei: „Die Geschichte ist mit solcher Kunst ausgeführt, dass man über die Komposition und das Kolorit hinaus in den Figuren einen solchen Affekt sieht, dass sie gleichzeitig sowohl Aktivität als auch Schmerz zeigen, während sie den Körper Christi bewegen, der in einer solch schönen Haltung dargestellt und mit einer solchen Mattheit gemalt ist, dass er das Innere eines jeden bewegt, der ihn betrachtet“ (muove l’ interno di chiunque lo mira) (vgl. Abb. 113).164 Eileen Reeves’ Vermutung, wonach Cardi mit der „redundanten“ Formuliedel quale servitasi vien ricondotta d’avanti a Dio, alla presenza del quale bevendo il nettare della sua / grazia, vien di nuovo degna di godere quell’ eterno bene, del quale era restata priva.“ 162  Fulgentius 1521, III.6. 163  Vgl. Gély 2006, S. 179. 164  Cardi 1628/2010, fol. 3r, S. 106: „… la quale storia é condotta con / tant’ Arte, che oltr’ alla composizione e colorito si vede nelle figure tal’affetto, che mostrono in un medesimo tempo / e prontezza e dolore insieme maneggiando il corpo di Cristo, il quale essendo ricevuto in bell’attitudine, con tal / languidezza è dipinto, che muove l’interno di chiunque lo mira …“

411 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

rung der „Bewegung des Inneren“ einen versteckten Hinweis auf eine äußere Bewegung – die Erdrotation – gegeben habe, erscheint kaum haltbar.165 Tatsächlich erklärt sich die vermeintliche Redundanz wohl aus Cardis Wunsch, die Tiefe der Rührung zu betonen. Trotzdem oszilliert seine Beschreibung zwischen Kunst und Kult: Einerseits ist es der Anblick des toten, von den Schergen bewegten Körpers Christi, der „das Innere eines jeden bewegt“, andererseits die künstlerische Qualität – Komposition, Kolorit, Anatomie und Ausdruck der Affekte. Die Universalität der Rührung (muove chiunque) entspricht dem schon von Alberti beschriebenen Ideal eines Gemäldes, das „Gelehrte wie Ungelehrte durch Vergnügen und Gemütsbewegung“ ergreift.166 Und tatsächlich berichtet ein Chronist davon, dass das Altarbild nach übermäßig langer Herstellungsdauer am 27. Januar 1608 unter Glockengeläut aufgestellt und von allen begeistert gefeiert worden sei.167 Neben dem Leichnam zieht vor allem die Mariengruppe im linken Vordergrund die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Anders als in Cigolis früher Kreuzabnahme in den Uffizien (vgl. Abb. 116) und anders als noch in den Vorzeichnungen zeigt die Endfassung nicht die umstrittene Ohnmacht Mariens, sondern ihre stille Trauer. Der sogenannte „spasimo della Vergine“ war in Kritik geraten, weil er dem Wortlaut von Bibel und Dichtung (stabat mater) widersprach und einer Gottesmutter unangemessen schien.168 Ob Cigoli mit dem Konzeptwechsel auf diese Einwände reagierte, ist ungewiss; sicher jedoch zielt seine Alternative auf eine intensivierte Adressierung des Betrachters. Seine Neuprägung besteht nicht nur in Marias Blick aus dem Bild, sondern auch in der Darbietung von Nägeln und Dornenkrone auf ihrem ausgebreiteten Schleier (Abb. 205). Die von der Gesamtkomposition ausgehende Einladung zum visuellen Nachvollzug der fließenden Bewegung der Kreuzabnahme wird ergänzt durch den Aufruf, mit dem Auge 165 

Vgl. Reeves 1997, S. 136–137: „Cardi’s choice of words to describe the observer’s emotion – the somewhat redundant phrase ‚muove l’ interno di chiunque lo mira‘ […] may veil his concern with that other and external motion that all men are said to undergo in a Copernican universe …“ Ausführlicher dazu: Kap. V.1. 166  Alberti 1436/2007, II.40, S. 128/129: „Sarà la storia, qual tu possa lodare e maravigliare, tale che con sue piacevolezze si porgerà sì ornata e grata, che ella terrà con diletto e movimento d’animo qualunque dotto o indotto la miri.“ Vgl. dazu Barasch 1967, S. 37. 167  ASF, Corporazioni religiose soppresse, C LXXIX, Bd. V, zit. nach Poggi 1905, S. 52–53: „… nostri fratelli […] dettono principio con l’egregio e famoso pittore il m. messer Cardi da Civoli quale durò molto tempo a farsi e di tempo in tempo di mano in mane li ufitiali che erano tutti facievano ogni sorte di diligentia […] tale che dato fine al tutto fu condotta di Firenze a Empoli per navicello con somma laude non solo de’ fratelli ma di tutta la terra [d’Empoli] con suono di campane e altre alegrezze da farsi in simile occasione, quale fu sotto dì 27 di Gennaio 1607 …“ 1690 wurde die Tafel in die großherzog­ liche Sammlung verbracht und durch eine Kopie von Anton Domenico Gabbiani ersetzt. 168  Vgl. Hamburgh 1981 und exemplarisch Molanus 1594, IV.8, fol. 175v–176v. Federico Borromeo unterstellt den Malern gar, die Ohnmacht nur deshalb zu malen, weil sie nicht in der Lage seien, die Seelenqualen der Gottesmutter darzustellen (1624/2010, I.10, S. 38).

412 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

205. Cigoli, Maria mit Dornenkrone, Ausschnitt aus Abb. 113: Kreuzabnahme, 1604–1608.

auf den isolierten Objekten zu verweilen.169 Die Inszenierung der Dornenkrone entspricht Cigolis Neigung zur Komprimierung einerseits und zur Kontemplation andererseits. Denn dass seine Bilder oft auf einen Blick zu erfassen sind, bedeutet nicht, dass dieser Blick notwendig kurz wäre, sondern im Gegenteil, dass er unabgelenkt auf den Hauptfiguren oder einem Bildgegenstand ruhen kann. Oft besetzen diese Objekte die ästhetische Grenze, rücken in greifbare Nähe zum Betrachter und übernehmen so eine Funktion, die Alberti dem admonitore zugeschrieben hatte. Beispiele für die Inszenierung der Leidenswerkzeuge finden sich sonst eher in Andachtsbildern oder Darstellungen der Beweinung Christi, etwa in Veroneses Pietà von 1581 in der Eremitage, Annibales Pietà von 1602–1607 im Louvre oder Baroccis Grablegung Christi von 1579–1582 in Senigallia. Cigoli dagegen sucht sogar in einem dynamischen Sujet wie der Kreuzabnahme den affektiven Gehalt in einem Detail zu verdichten. Die Dornenkrone wird dabei nicht nur als zeichenhaftes Andachtsobjekt in der Tradition der arma Christi präsentiert, sondern darüber hinaus auch als realer Gegenstand, als Indiz oder Zeuge der Passion. Die Dornenkrone wird bereits seit dem frühen 5. Jahrhundert verehrt. 1063 gelangte sie nach Konstantinopel, 1238 nutzte Ludwig IX. die Finanznöte des byzanti169 

Vgl. Piatti 1607, S. 185 und Mâle 1984, S. 211. Die Frage, ob Christus die Dornenkrone am Kreuz noch getragen hatte, wurde von den Kontroverstheologen meist positiv beantwortet (vgl. z. B. Molanus 1594, IV.7, fol. 174–175v).

413 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

nischen Kaisers Balduin, um die Krone zu erwerben, die fortan in der Sainte Chapelle in Paris präsentiert wurde.170 Einen Dorn ließ Ludwig in seine Krone einarbeiten; einen anderen machte er dem Bischof von Vicenza zum Geschenk; ein weiterer gelangte in die Cappella della Spina in Pisa. Die alle Bereiche der Passion betreffende Akribie, die schon im Spätmittelalter zur Berechnung der Zahl der Schächer, der Geißelhiebe und der Schritte Christi beim Kreuzweg animiert hatte, veranlasste Paul de Barry noch 1637 zur Angabe der genauen Anzahl der peinigenden Dornen.171 Als Pascals Nichte im Jahr 1656 nach der Berührung der Dornenkrone von einer Fistel geheilt wurde, anerkannten selbst zahlreiche Gegner der Jansenisten das Wunder, andere hielten es für Teufelswerk.172 Eine ähnliche Karriere machten die von Helena aufgefundenen Kreuzesnägel, die ihr Sohn Konstantin in seinen Helm, seine Krone und die Trense seines Pferdes einarbeiten ließ. Letztere soll mit Ambrosius nach Mailand gelangt sein, wo die Verehrung des Santo Chiodo mit Carlo Borromeo einen Höhepunkt erreichte. 1576 trug er den in ein Holzkreuz gefügten Nagel barfuß und mit einem Strick um den Hals in Bußprozessionen durch die von der Pest heimgesuchte Stadt. Im Folgejahr ließ er die Reliquie zum Dank für das Ende der Seuche im Gewölbe des Doms anbringen, von wo sie jeweils am 3. Mai mittels eines Aufzugs zu den Gläubigen hinuntergebracht wurde. Ein weiterer Nagel wird neben anderen Christusreliquien in S. Croce in Gerusalemme in Rom aufbewahrt, ein weiterer in der Pieve dei SS. Ippolito e Cassiano a Conèo in Colle Val d’Elsa. Die örtliche Verehrung des Kreuzesnagels war sicher ein Grund für die Hervorhebung der Leidenswerkzeuge in Cigolis Pietà für die Kirche S. Agostino in Colle Val d’Elsa, wo Krone, Nägel und Schwamm so zu Füßen des theatral beleuchteten Leibes Christi angeordnet sind, dass die Wundmale sich in die Reihe der verehrungswürdigen Gegenstände einreihen (Abb. 206).173 Ein spektakuläres Vorbild hat dieses Vorgehen in Annibale Carraccis Cristo in scorto aus der Zeit um 1582, dessen Körper durch die starke Verkürzung selbst zum Objekt gerinnt (Abb. 207). Die primäre Aufmerksamkeit gilt den durchbohrten Füßen, deren blutende Wunden zwischen Zange, Nägeln, Hand und Dornenkrone im Vordergrund präsentiert werden. Barasch hat auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass dem Detail in den kunsttheoretischen Schriften der Renaissance noch keine Aufmerksamkeit gewidmet wird. 170 

Joh 19,2–5 und Berliner 1955, S. 37; vgl. Hesemann 2000, S. 87–89. Vgl. Paul de Barry, La sainte faveur auprès de Jésus …, Lyon 1637, kommentiert von Berliner 1955, S. 93. 172  Vgl. Pascal 1998, Bd. I, S. 3–6 und dazu Daston 2003, S. 44. 173  Ursprünglich befand sich das Bild auf dem Altar der Presbyteriumskapelle rechts des Chors. Die Seitenflügel werden Giuliano Biagi zugeschrieben; ihre Ähnlichkeit mit Cigolis Entwurf im GDSU lässt jedoch eine Gesamtplanung Cigolis vermuten. Vgl. die Zeichnung GDSU 192385, die Contini mit Chelazzi Dini wohl zu Recht einem Schüler Cigolis zuschreibt (Contini 1986, S. 144, Nr. 43a). Die von Contini Cigoli zugeschriebene Pietà in einer Privatsammlung scheint mir wie Faranda kein eigenhändiges Gemälde Cigolis zu sein (vgl. Contini 1991, S. 28 und Faranda 1986, S. 174, Nr. 90). 171 

414 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Erst Baldinucci verwende den Begriff der „minuzzia“ zur Bezeichnung eines „kleinen Teils und einer Sache von wenig Bedeutung“ (Parte minuta, e cosa di poca importanza).174 Ob aus diesem Befund allerdings abzuleiten ist, dass es im Kunstdenken der Renaissance „keinen Platz für jene begrenzte Autonomie des Teils“ gab, ist angesichts der langen Tradition der um Objekte zentrierten Mnemotechniken und Andachtsbilder fraglich.175 Besonders durch Thomas von Kempens weitverbreiteten Traktat De imitatione Christi, den Einfluss von Ignatius’ Geistlichen Übungen und Nadals Evangelicae historiae imaginis, adnotationes et meditationes von 1593–1594 war die meditative Versenkung besonders in Details, welche die einzelnen Stationen der Passion repräsentierten, zu einer auch unter Laien verbreiteten Praxis geworden.176 Cigoli überträgt die primär für den privaten Bereich und kleine Formate entwickelte Form in Altarbilder, die vor allem an Seitenaltären auch dem individuellen Gebet zugänglich waren. Der Franziskus in Cigolis Pietà von Colle Val d’Elsa führt eine solch kontemplative Schau vor (vgl. Abb. 206). Seine Augen sind nicht auf Christus, sondern in die Ferne gerichtet, während seine Stigmata von der gelungenen imitatio Christi zeugen. Ihm gegenüber blickt Hieronymus mit einem Messbuch und einem Stein in der Hand zum Betrachter und fordert ihn so zu compassio und imitatio auf. Johannes vom Kreuz hatte Bildmeditationen vor allem Anfängern empfohlen, aber davor gewarnt, beim Sinnlichen stehenzubleiben.177 Trotz der ständigen Aufrufe, Gemälde als hinter sich zu lassendes Werkzeug zu benutzen, wird der Blick jedoch gerade auch durch die Objekte immer wieder auf das Bild zurückgelenkt und die Imagination durch die einprägsamen Details beeinflusst. Auch das geistige Auge von Cigolis Franziskus „sieht“; ihm wird der dramatisch beleuchtete Körper Christi so greifbar wie die vor ihm liegenden Leidenswerkzeuge. In seiner Trinità für S. Croce stilisiert Cigoli die arma Christi zu heraldisch anmutenden Bündeln, die das Pendant zu den Putti in den oberen Ecken bilden (vgl. Abb. 166).178 Indem er das Gemälde auf dem Griff des Hammers signiert, schreibt sich der Maler selbst in das Bild und die Erinnerung der Passion ein (Abb. 208). Ähnlich verfährt er 1599 in einer Vorzeichnung für die Wiener Pietà, in der er seinen Namen auf einen Steinquader unter der Dornenkrone setzt (Abb. 209).179 In der Fassung in Neapel sind vorne rechts ein Nagel, ein Stück Dornenkrone und die ihrerseits zum Kultgegenstand geronnene durchbohrte Hand ausgestellt – gleichsam in Kusshöhe des knienden Betrachters (Abb. 210). Anders als in der Kreuzabnahme hat Cigoli hier einen spasimo 174 

Vocabolario Toscano dell’Arte del Disegno, Florenz 1681, S. 98; vgl. Barasch 2003, S. 23. Ebd., S. 21; vgl. Arasse 1996, S. 80–107. 176  Buser 1976, S. 424–433. 177  Vgl. Cousinié 2000, S. 173, Anm. 186. 178  Vgl. Kap. VI.2. In der Vorzeichnung GDSU 17296 F ist die Trinität in allen vier Ecken von Putti gerahmt. Zu der seit dem Spätmittelalter nachweisbaren heraldischen Anordnung der Leidenswerkzeuge vgl. Berliner 1955, S. 95–102. 179  Vgl. DAGL 880. 175 

415 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

206. Cigoli, Pietà mit Heiligen, 1599, Öl auf Leinwand, 285 × 185 cm, Colle Val d’Elsa, S. Agostino, Cappella Bertini.

207. Annibale Carracci, Cristo in scorto, um 1582, Öl auf Leinwand, 70,7 × 88,8 cm Stuttgart, Staatsgalerie, Inv. 2785.

416 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

208. Cigoli, Trinità (Detail: Signatur), 1592, vgl. Abb. 166.

209. Cigoli, Pietà (Detail: Signatur), dat. 1599, braune Tusche auf Papier, Paris, DAGL Inv. 880.

della vergine dargestellt: Die Körper von Mutter und Sohn sind ostentativ parallel geführt, Maria wirkt mit ihrem grünlichen Inkarnat beinahe lebloser als ihr Sohn. Über ihren geschlossenen Lidern blicken aus je einem wachen Auge Magdalena und Joseph von Arimatäa eher anklagend als Mitleid heischend aus dem Bild. Der Betrachter wird weniger als Zeuge denn als potentieller Täter angesprochen. Die spektakuläre Nähe der Gestalten zur Bildebene lässt trotz Josephs cigoleskem Charakterkopf Zweifel an dessen Autorschaft aufkommen. Eine Erklärung böte eine nachträgliche Beschneidung, der auch die arma Christi zum Opfer gefallen sein könnten. Auch in Cigolis Wiener Pietà ruht die Dornenkrone im Vordergrund neben der durchbohrten Hand, während zwei Engel in der gegenüberliegenden Ecke mit Blick zum Betrachter Schwamm, Hammer und Nägel präsentieren (Abb. 211).180 Joseph von Arimatäa stützt den muskulösen, nach dem Vorbild von Michelangelos Pietà gebildeten Oberkörper des Leichnams.181 Der in Bronzinos Pietà in der Cappella di Eleonora di Toledo im Palazzo Vecchio noch gestützte Kopf ist leblos zurückgesunken. Gegenüber den Vor-

180 

Gemalt im Auftrag von Alberto de’ Bardi, später in der Sammlung von Kardinal Carlo de’ Medici, seit dem Kunsttausch 1792 in Wien (vgl. Contini 1991, S. 62 und Faranda 1986, S. 143). Vom Erfolg der Komposition zeugen mehrere Kopien (eine offenbar eigenhändige befindet sich heute in einer Florentiner Privatsammlung) und ein Wandteppich von 1661 im Palazzo Pitti (vgl. Bellesi/Luzzetti 2012). Jacopo da Empoli verfährt in seiner Beweinung im Palais Fesch in Ajaccio ganz ähnlich. 181  Cigoli kannte Michelangelos Pietà in St. Peter vermutlich aus Zeichnungen oder Stichen (vgl. Cantelli 2012).

417 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

210. Cigoli, Pietà, um 1600, Öl auf Holz, 105 × 96,5 cm, Neapel, Museo e Gallerie Nazionali di Capodimonte.

211. Cigoli, Pietà (Detail), 1599, Öl auf Leinwand, 193,5 × 144,5 cm, Wien, KHM, Inv. GG 204.

zeichnungen findet erneut eine Komprimierung statt; das narrative Moment weicht der kontemplativen Andacht. Die Figuren werden zu einer geschlossenen Gruppe zusammengerückt, die trauernde Magdalena und die dritte Maria weichen zugunsten der Engel mit Leidenswerkzeugen.182 Das weiße Leichentuch und Marias blauer Umhang schließen das Oval der Gruppe ab.183 Die Kreuzesnägel sind nach dem Vorbild des in S. Croce in Gerusalemme aufbewahrten Vierkantnagels mit Rundkopf gestaltet.184 Die arma Christi fungieren als visuelles Andachtsobjekt, zugleich aber verleihen besonders in der Wiener Pietà die unterschiedlichen Texturen der verschiedenen Stoffe und die vom Licht weich

182 

In den Zeichnungen DAGL 880 und 881 sind im Hintergrund noch die drei Kreuze auf dem Berg Golgatha zu sehen. In DAGL 881 weist Maria auf den Leib ihres Sohnes, der von Magdalena und einer weiteren Maria betrauert wird. 183  Clemens VIII. und Borromeo hatten die Authentizität des Leichentuchs bestätigt und Pellegrino Tibaldi mit seiner Inszenierung beauftragt (vgl. Prodi 1967, S. 34). François I. verehrte das Tuch seit dem Sieg in der Schlacht von Melegnano im Jahr 1515, vor der er in Turin einen Eid geschworen hatte (vgl. Maioli 1585, S. 15–17). 184  Rohault de Fleury findet 1870 in Europa 33 heilige Nägel (vgl. Hesemann 2000, S. 67).

418 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

modellierte Haut Christi dem Bild eine bemerkenswerte Taktilität.185 Diese findet ihre Entsprechung in der Inszenierung der Hände im Zentrum des Bildes, wo Maria ihre Rechte ans Herz legt, während ihre Linke Unterarm und Hand Christi stützt. Trotz der Nähe gibt es jedoch kaum Hautkontakt. Der Arm ruht auf Marias Ärmel bzw. weißem Tuch und auch die Hand Josephs, die den Leichnam kurz vor der Seitenwunde berührt, ist ehrfurchtsvoll umhüllt. Die Blutspuren auf Hammer und Nägeln zeugen von ihrem Kontakt mit dem Körper, die Hand des Engels deutet taktile Nähe an, stellt sie aber demonstrativ nicht her. Sogar die tote Hand Christi ist nicht, wie bei Michelangelo, ausgestreckt, sondern scheint die Dornenkrone beinahe zu greifen. Die Gleichzeitigkeit von Greifbarkeit und Entzug prägt auch die Regie der Hände in der Anbetung der Könige (vgl. Abb.  105), einem Sujet, das Frank Büttner als Modellszene für die angemessene Verehrung des Heiligen beschrieben hat.186 In Cigolis Bild, das mittels Fellen und Stoffen auch den Tastsinn des Betrachters anspricht, wird der Wunsch des greisen Königs, das Kind selbst zu berühren, durch die Liebkosung der Windel kompensiert. Auch in anderen gegenständlichen Details verbinden sich Betrachtung und Berührung. Neben dem Rosenkranz entwickelten sich vor allem Totenkopf und Kruzifix zu konkreten Gebetshilfen, die schon Ignatius seinen Lesern als Meditationsstütze empfiehlt.187 Ende des 16. Jahrhunderts verbreitet sich unter Katholiken wie Protestanten eine regelrechte Craniomanie: Papst Alexander VII. soll nicht nur mit einem Sarg unter seinem Bett geschlafen, sondern auch Tongeschirr mit Totenköpfen benutzt und sein Empfangszimmer damit dekoriert haben.188 Für Cigoli bieten die Schädel darüber hinaus eine Gelegenheit, sein anatomisches Wissen unter Beweis zu stellen. Vor allem das Exemplar, das die hübsche Maria Magdalena in San Miniato in der Hand hält, ist eindeutig dal vero gemalt (vgl. Abb. 198). Die Suturen kontrastieren mit dem makellosen Teint der jungen Frau und erinnern an die knöcherne Wahrheit unter ihrer glatten Haut. Als Vorbild angemessener Bildandacht fungiert bei Cigoli vor allem Franziskus, der mithilfe eines Kruzifixes oder Totenkopfes in der Einöde meditiert.189 Sein Nachfolger François de Sales hatte Meditierenden geraten, ein Bild Christi zu küssen, um „die Trockenheiten, die beim Meditieren auftreten“ (les seicheresses qui arrivent en la meditation), 185  Eine Chiaroscuro-Studie des Leichnams findet sich im Berliner Kupferstichkabinett, KdZ 8539. Zur Farb- und Oberflächengestaltung vgl. Hall 1999, S. 256: „If the maniera artist baited the viewer with ornaments executed with surreal precision, Cigoli entices with his colors and textures, and his viewer is hooked into sharing the emotion of the event.“ 186  Vgl. Büttner 1983, S. 19–33. 187  Vgl. Cousinié 2000, S. 83. In einem Kommentar zu den Exerzitien aus dem Jahr 1687 wird den Anfängern empfohlen, im Dunkeln zu meditieren und dabei einen Totenschädel zu betrachten (vgl. Mâle 1984, S. 187). 188  Vgl. Mâle 1984, S. 187. 189  Zu dem mit den Leidenswerkzeugen und Büchern geschmückten Rahmen der Fassung in den Uffizien vgl. Mosco 2004, S. 42–46.

419 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

212. Cigoli, Meditierender Franziskus, sig., um 1602, Öl auf Leinwand, 140 × 114 cm, Galleria Palatina, Inv. Pal. 46.

zu überwinden.190 Zusätzlich empfahl er nicht nur lautes Sprechen, sondern auch, sich mittels äußerer Frömmigkeitsbezeugungen gleichsam „einen Stich ins Herz zu geben“ (se piquer [le coeur] par quelque contenance & mouvement de devotion exterieure) – sei es durch Niederknien, Händefalten oder das Umarmen eines Kreuzes.191 Damit dieses Prozedere nicht ungewollt theatralisch geriet, sollten sich die Meditierenden – wiederum nach dem Vorbild des Franziskus – an einen einsamen Ort zurückziehen.192 Cigolis vielkopiertes Franziskusbild in der Galleria Palatina zeigt den Eremiten in einer groben braunen Kutte einsam vor einem Kruzifix kniend (Abb. 212).193 Entsprechend Gilios Mahnung, den

190 

Zit. nach Cousinié 2000, S. 85. Ebd. 192  Ebd.: „… par quelque contenance, & mouvement de devotion exterieure, vous prosternant en terre, croisant les mains sur l’estomach, embrassant un Crucifix, cela s’entend, si vous estes en quelque lieu retiré.“ 193  Gemalt im Auftrag von Alessandro Giusti; vgl. Faranda 1986, S. 150–151, Nr. 56. Cardi erwähnt drei weitere Fassungen für Carlo Giudacci, Cosimo Ridolfi und den Arzt Giovanni di Niccolò 191 

420 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Heiligen nicht „rosig, fett und gepflegt“, sondern als „Spiegel der Buße“ (specchio di penitenza) zu zeigen, ist sein Gesicht ausgemergelt; die ausdruckslosen Augen scheinen durch das auf dem rohen Stein liegende Kruzifix hindurchzusehen.194 Die von metaphysischem Licht beleuchtete Figur füllt beinahe das gesamte Bildfeld, hinter Franziskus erscheint eine Gebirgslandschaft, die als Resonanzraum seiner Gefühle fungiert.195 Der meditierende Heilige ist ein vollkommenes Beispiel für den von Michael Fried in Bildern des 18. Jahrhunderts beobachteten Zustand der „Absorption“.196 In die eigene (mentale) Betrachtung versunken, ist der Betrachter vor dem Bild vergessen. Dadurch jedoch kann er sich umso mehr in den Meditierenden hineinversetzen und zu einem wahren „Spiegel“ machen, indem er sich ihm anähnelt. Der Bildstatus wird dabei ausgeblendet – ganz anders als bei jenen lebenden Bildern des Hl. Franziskus, die Montaigne um 1580 bei einer Prozession in Florenz beobachtete und sich ungerührt fragte, ob es sich bei dem Heiligen, der „wie auf den Bildern“ seine Hände kreuzte, um einen wirklichen Mönch oder einen verkleideten Mann mit falschem Bart handelte.197 Die isolierte Darstellung von Heiligen wird im frühen 17. Jahrhundert zu einer regelrechten Mode. Neben Franziskus als Inbegriff meditativer Versenkung steht der betende Hieronymus als Paradigma der Buße. Das Motiv des Hieronymus in der Einöde war um 1400 in der Toskana entstanden und hatte mit der volkssprachlichen Edition seiner Briefe im Jahr 1542 weiter an Popularität gewonnen.198 Während der Stein in der Hand des Heiligen in Cigolis Pietà von Colle Val d’Elsa nurmehr zeichenhaft an seine asketischen Übungen erinnert, zeigt Cigoli Hieronymus in seinem Gemälde für Niccolò Ronconi 1603 bei einer Bußübung in einer Grotte (Abb. 213).199 Den Stein in der ausgestreckten Rechten, entblößt der hagere, aber muskulöse Greis mit der Linken seine Ronconi, die als verloren gelten. Faranda führt vier weitere eigenhändige Versionen auf (vgl. ebd., Nr. 38, 39, 49 und 50). 194  Gilio 1564/1962, S. 33: „Dipingono ancora San Francesco rosso, grasso, attillato, coi mostacchi de la barba pettinati, profumati, attorcolati, con una cappa di finissimo panno tutta falduta, col cordone di seta, e più tosto pare un generale et un provinziale, che uno specchio di penitenza come egli fu: non considerando che una sola tonica grossa e rozza portava.“ 195  Vgl. Boschloos Beobachtungen zur Landschaft in Annibales Büßendem Hieronymus (1974, S. 29). In der Petersburger Fassung des Franziskus ist die Landschaft sehr scharf und detailreich, was auf einen flämischen Kopisten oder Mitarbeiter schließen lässt. 196  Vgl. Fried 1988. 197  Montaigne 1580–1581/1963, S. 296. 198  Vgl. Rice 1985, S. 75–76. 199  Vgl. Faranda 1986, S. 155, Nr. 64. Zur Identifizierung des 1980 auf dem Kunstmarkt angebotenen Gemäldes als Pendant zu einem Franziskus für Niccolò Ronconi vgl. Contini 1986, S. 155, Nr. 64 und Chappell, in: Tomasi/Tosi, 2009, S. 352, Nr. 73. Der große Erfolg des Gemäldes zeigt sich in der Stichfassung (Christie’s, 7.12.1993, Nr. 181) und Carlo Dolcis Hieronymus aus dem Jahr 1647 (vgl. Baldassari 1995, S. 102–103, Nr. 72). Der auffällige ellipsoide Kardinalshut ist ein Verstoß gegen die veritas historica (vgl. Gilio 1564/1961, S. 33 und 51 sowie Kap. II.1).

421 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

blutig geschlagene Brust. Vor seinem Knie liegt zusätzlich eine Geißel griffbereit. Seine Augen sind über das aufgeschlagene Buch und das Kruzifix hinweg zum Himmel gerichtet. Der ausgerenkte Unterkiefer des Totenschädels im Vordergrund scheint stellvertretend einen Schrei auszustoßen, während der Heilige offenbar keine Schmerzen verspürt. Baldinucci lobt Cigolis ganzfigurige Darstellungen von Hieronymus und Franziskus als Beispiele seiner besten maniera.200 Bewunderung findet besonders der ausgezehrte Körper des Hieronymus, der dem Vorbild Tizians am nächsten steht.201 Von Tizian sind drei Fassungen des Hieronymus in der Brera (um 1560), der Sammlung Thyssen-Bornemizza (1570–1575) und im Escorial (um 1575) überliefert. In dem Spätwerk unterstreicht Tizian die visionäre Komponente der Buße (Abb. 214). Ein Lichtstrahl trifft durch einen bewachsenen Felsbogen auf das Kruzifix, zu dem der Heilige mit zum Schlag ausholender Rechter aufblickt. Das weit aufgerissene Maul und das glänzende Auge des Löwen demonstrieren die Objektivität der Lichterscheinung: Sogar das Tier scheint zu sehen, wie die Gottheit auf Hieronymus’ Gebet reagiert. Stärker gekrümmt und verzweifelt zeigt Barocci 1598 den in ein fleischrotes Gewand gehüllten Eremiten, der flehentlich auf ein Kruzifix schaut, das er während seiner Selbstkasteiung in der Hand hält (Abb. 215). Die in den Gemälden Tizians und Baroccis manifeste affektive Erneuerung tritt besonders im Vergleich mit Vasaris um 1540 entstandenem Hieronymus für Ottaviano de’ Medici hervor, der von Allegorien der Versuchungen umgeben ist (Abb. 216). Das asketische Sujet wird zum Vorwand einer erotischen Darstellung, welche die zu vertreibenden Vorstellungen potentiell erst im Betrachter aufruft.202 Bei Tizian, Barocci und Cigoli hingegen erwächst die Erregung aus der Peinigung selbst. Die Imagination ihres Anlasses bleibt dem Betrachter überlassen; der Heilige wird zur Projektionsfläche eigener Verfehlungen. In seiner Social History of Confession konstatiert John Bossy im 16. Jahrhundert eine zunehmende Verinnerlichung der Buße.203 Hatte die Beichte in der mittelalterlichen Gesellschaft primär der Regulierung und Lösung sozialer Konflikte gedient und in Form eines öffentlichen Rituals zur Rekonziliation mit der Gemeinde beigetragen, sei die Sünde nun als etwas Individuelles und vornehmlich Geistiges verstanden worden.204 200 

Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 113: „… l’una e l’altra sono figure intere e quanto al naturale, condotte del più perfetto gusto e della più brava maniera che mai usasse il Cigoli.“ 201  Vgl. ebd.: „… ella si rende più ammirabile per lo disegno e colorita del bel rosso, e dell’altre parti scoperte di quel corpo.“ 202  Es ist unklar, bei welcher der vier existierenden Fassungen des Themas (im Palazzo Pitti, in Vincigliata, in Leeds und in Chicago) es sich um das Gemälde für Ottaviano de’ Medici handelt (vgl. Vasari 2005, S. 34). 203  Vgl. Bossy 1975; Prosperi 1995 und 2001 sowie Prodi 1994. 204  Vgl. das am 25.11.1551 verabschiedete Dekret zum Sakrament der Buße (Wohlmuth 2002, S. 703–707), das die geheime Beichte verteidigt und die Absolution mit einem „richterlichen Akt“ (actus iudicialis) vergleicht, bei dem der Priester seinen Urteilsspruch spricht (ebd., S. 707; vgl. Prosperi 2001, S. 186).

422 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

213. Cigoli, Büßender Hieronymus, sig.dat. ,Lod. Card. Cigol. F. 1603‘, Öl auf Leinwand, 162,5 × 119 cm, Pisa, Fondazione Cassa di Risparmio.

423 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

214. Tizian, Büßender Hieronymus, um 1575, Öl auf Leinwand, 184 × 177 cm, Escorial, Nuevos Museos.

215.  Federico Barocci, Büßender Hieronymus, um 1598, Öl auf Leinwand, 97 × 67 cm, Rom, Galleria Borghese.

216. Giorgio Vasari, Büßender Hieronymus, Öl auf Holz, 165 × 117 cm, Vincigliata (Florenz), Collezione Graetz.

424 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Zugleich traten sexuelle Verfehlungen in den Vordergrund, die mithilfe der Sündenkasuistik benannt und entsprechend sanktioniert wurden. Ein erster Schritt zur Verinnerlichung hatte sich bereits mit der Einführung der privaten Beichte durch das Laterankonzil von 1215 vollzogen, das die jährliche Beichte auch für Laien vorschrieb.205 Foucault beschreibt die Beichte als eines der wichtigsten Rituale, „von denen man sich die Produktion der Wahrheit verspricht“.206 Das Christentum fordere „von der psychagogisierten und geführten Seele, dass sie eine Wahrheit sagt, die nur sie sagen kann, die nur sie besitzt und die zwar nicht das einzige, aber eines der fundamentalen Elemente jener Operation ist, durch die seine Seinsweise verändert werden wird; und genau darin besteht dann das christliche Geständnis“.207 Vor allem Sexualität habe in christlichen Gesellschaften zunehmend die Form eines Geständnisses angenommen, das Entlastung durch Diskursivierung verschaffen sollte. Die Verpflichtung dazu ist katholisch geprägten Gesellschaften Foucault zufolge „so tief in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen ‚Anspruch‘ hegte als den, an den Tag zu treten“.208 Wieder also wird die Wahrheit – wie die nuda veritas der Impresen – aus dem Dunkel ans Licht gezogen, diesmal jedoch ist die Höhle das eigene Ich, das als Befreiung empfindet, was laut Foucault ein Effekt von Machtverhältnissen ist.209 Schon Heinrich Lützeler beschreibt den Barock „als Kunst der Macht auch auf religiösem Gebiet“, die „in vorher nicht gekanntem Ausmaß [danach gestrebt habe], die Macht über die Seelen zu erreichen“.210 Als wichtigster „Ort der Seelenbemächtigung“ gilt ihm neben der Kanzel der Beichtstuhl, der durch den Einfluss von Borromeos Instructiones und das Rituale Romanum weite Verbreitung fand.211 Für Foucault ist der Beichtstuhl das Dispositiv der sogenannten Pastoralmacht schlechthin, also jener auf der Metapher von Herde und Hirt beruhenden Machttechnik der Seelenführung, wie sie die tridentinischen Bestimmungen zur Verantwortung der Bischöfe restauriert hatte.212 Borromeo gibt eine detaillierte Bauanweisung für die von ihm als „confessionali“ bezeichneten Doppelkabinen, die eine effektive Beichte erlauben sollten (Abb. 217).213 Wietse de Boer 205 

Vgl. Poschmann 1964, S. 7, 34, 96–102 und 208–210. Foucault 1983, S. 62. 207  Ders. 1985, S. 60; vgl. dazu Dahlmann 2008, S. 126–127. 208  Foucault 1983, S. 63. 209  Vgl. ebd., S. 62. 210  Lützeler 1993, S. 569. 211  Ebd. 212  Ebd., S. 69. Zum Beichtstuhl als „Bekenntnisarchitektur“ vgl. van der Meulen 2009 und Schlombs 1965. 213  Vgl. Borromeo 1577/1962, S. 63–68. Neu sind vor allem die genauen Bestimmungen zum opaken Beicht-Fenster und die Anweisung, die Kabine des Büßers mit einer Kreuzigung, die Kabine des 206 

425 3. Kontemplation: Andacht und Dinge

217. G. C. Stich, Die Buß, Kupferstich, 8,8 × 6,1 cm, in: Petrus Canisius, Catechismus, Köln 1679, S. 59.

hat Bossys These zur Privatisierung der Beichte zurückgewiesen. Im Gegenteil sei die Intimität der Situation durch die Aufstellung der offenen Beichtstühle im einsehbaren Kirchenraum eher reduziert als verstärkt worden, und zwar primär aus Angst vor libidinösen Verstrickungen. Der Beichtstuhl habe so einen „fragile compromise between publicity and privacy“ erlaubt.214 Schon im Mittelalter sei man bestrebt gewesen, Blickkontakt zwischen Beichtvater und Pönitent zu vermeiden. Neu sei vielmehr die Entkörperlichung der Beichte, die keinerlei physischen Kontakt – also weder Handhalten noch eine Absolutionsgeste – vorsieht.215

Beichtvaters mit einem Christus- oder Marienbild zu schmücken. Dazu kamen Tafeln mit dem Vorbereitungsgebet für den Priester, der Absolutionsformel, eine Tabelle mit den Poenitentialkanones und eine Liste der Reservatfälle (vgl. ebd., S. 66–67). 214  De Boer 2001, S. 106; vgl. S. 93–97. Die Türen seien primär zum Ausschluss von Bettlern eingeführt worden. 215  Ebd., S. 103.

426 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Dessen ungeachtet und auch ohne das Schlagwort von der Konstituierung des modernen Subjekts durch die Beichte zu bemühen, lassen sich in Carlo Borromeos Avvertimenti per li confessori Hinweise auf eine stärkere Psychologisierung und Systematisierung der Beichte erkennen. Vor dem Sakrament empfiehlt Borromeo den Beichtvätern, von Gott „Licht und Gnade“ zu erbitten, um die Seele der Sünder von ihren „Flecken“ (macchie) reinigen und zur „Erkenntnis der Wahrheit“ (ad agnitionem veritatis) bzw. zur „wahren Konversion“ (vera conversione) führen zu können.216 Die „Wahrheit“ wurde im Inneren gesucht, aus dem sie durch intensive Gewissensbefragung ans Licht zu befördern war. Auf Seiten der Pönitenten bestand die Vorbereitung zur Beichte in einer „sorgfältigen Prüfung ihrer Sünden“, dem Leiden an der eigenen Schuld und dem festen Vorsatz zur Besserung.217 Um wahre von falschen Büßern unterscheiden zu können, unterrichtet Borromeo die Beichtväter in psychologischen Techniken, mithilfe derer die Kandidaten eingehend befragt werden sollten (essame della conscienza). Während der Beichte war der Priester gehalten, mittels eines Fragenkatalogs (quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?) „geregelt“ (con ordine) nach der Wahrheit zu forschen. Zugleich aber wird davor gewarnt, die Beichtenden zu sehr zu bedrängen, damit diese nicht womöglich einen Teil ihrer Sünden verschwiegen.218 Die Beichte hat die Form eines Geständnisses, das laut Foucault „neben den Ritualen der Probe, neben der Bürgschaft durch Autorität der Überlieferung, neben den Zeugenaussagen, aber auch neben den gelehrten Verfahren der Beobachtung und Beweisführung im Abendland zu einer der höchstbewerteten Techniken der Wahrheitsproduktion geworden“ sei.219 Neben der Beichte gibt es, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, weitere körperliche Formen der Buße und der Selbstkasteiung, die gelegentlich für effektiver gehalten wurden als die mündliche Beichte.

216  Borromeo 1700, S. 20: „… dimandi lume, e gratia al Signore di non commettere alcun’ errore, e di lavar talmente le macchie dell’anime d’altri, che non imbratti la sua. Insieme preghi per la vera conversione di quelli, de quali e perudire la confessione.“ Im Gebet heißt es: „Ideoque dominator Dominus, qui omnes vis salvos fieri, & ad agnitionem veritatis venire, qui non vis mortem peccatorum; sed ut convertantur, & vivant, suscipe orationem meam“ (ebd., S. 21). 217  Ebd., S. 23: „… la qual preparatione constiste in aver fatta buona, e diligente essaminatione de’ suoi peccati, e procurato d’aver quel dolore, che giustamente si deve con fermo, e risoluto proposito di sodisfare al passato, & emendarsi per l’avvenire.“ 218  Ebd., S. 32. 219  Foucault 1983, S. 62.

427 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

4. W ir kbilder: Stigmati si erung und Geis selung Seit Bonaventuras Vita von 1263 wird die Stigmatisierung des Hl. Franziskus als Verwandlung seines Körpers in ein lebendiges Bild beschrieben.220 In Anspielung auf den 2. Korintherbrief heißt es: „Dann stieg er vom Berge herab, das Bild des Gekreuzigten mit sich tragend, nicht auf steinerner oder hölzerner Tafel von Künstlerhand, sondern seinen Gliedern eingeprägt von der Hand des lebendigen Gottes.“221 Vorbereitet wurde diese Bildwerdung durch Franziskus’ Vision eines lebendigen Bildes des Gekreuzigten in Assisi, die ihn zur Konversion und darüber hinaus zur imitatio Christi veranlasste – ein Vorhaben, das schließlich durch die vollständige Assimilation an sein Vorbild belohnt wurde. Darstellungen der Stigmatisierung gerieten folglich zu Paradigmen der transformativen Kraft, welche die Kontroverstheologen den Bildwerken zutrauten. Cigolis Stigmatisierung des Franziskus für das Franziskanerinnenkloster S. Onofrio in Florenz aus dem Jahr 1596 zeigt den auf kargem Felsboden knienden Franziskus, der von einem kleinen Seraphen die Wundmale empfängt (Abb. 218).222 Die Schultern leicht nach vorn gebeugt, den Kopf zurückgelegt, bildet sein Körper eine flache, von den Gewandfalten nachgezeichnete S-Linie, welche die innere Bewegung des Heiligen nach außen trägt. Mit ausgebreiteten Armen macht Franziskus seinen Körper zur Auffangfläche der dünnen roten Strahlen, die auf Handteller, Füße und Herz treffen und blutende Wunden erzeugen. Aus Franziskus’ Mimik und Haltung spricht eine schmerzvolle Verzückung mit durchaus erotischen Zügen, die schon in Bonaventuras Vita des Heiligen aus dem Jahr 1263 hervortreten, die davon berichtet, wie Franziskus „durch innere 220 

Vgl. dazu Belting 2010, S. 14: „… the iconization of his body, much as the incorporation of an image is the same transformation in reverse direction.“ 221  Bonaventura 1941, XIII.4, S. 617: „… descendit angelicus vir Franciscus de monte, secum ferens C r u c i f i x i e f f i g i e m , non in tabulis lapideis vel ligneis manu figuratam artificis, sed in carneis membris descriptam digito Dei vivi.“ Vgl. auch XIII.3, S. 616: „…  et in carne non minus mirabilem signorum impressit effigiem.“ Übers. nach Bonaventura 1956, S. 81. Die Metapher der eingeprägten Stigmata als „Siegelbilder“ steht in der Tradition der Vergleiche des Menschen mit Wachs oder einer Münze: Bernhard von Clairvaux vergleicht die mentale „Einprägung“ der Passion mit der Prägung eines Bildes in ein Siegel; der Zisterzienser Balduin von Canterbury spricht von Christus als dem, „der das Siegel trägt und der siegelt“ (Christus enim et signat et signatus est). Petrus Lombardus unterscheidet den Bildcharakter Christi und der Menschen, indem er von Christus als dem gottgleichen Sohn, vom Menschen jedoch als Münze spricht: „Nos sumus nummus, quibus imago Dei est; Christus est Filius, qui hoc est quod Pater.“ Vgl. Berliner 1955, S. 41. 222  Gemalt im Auftrag der Witwe Elisabetta Botti für einen Seitenaltar in der zum Franziskanerinnenkonvent von S. Onofrio gehörenden Chiesa dell’Immacolata Concezione, die erst 1594 fertiggestellt und 1601 geweiht worden war (vgl. Contini 1991, S. 48). Zur Stigmatisierung vgl. die frühe Vita von Thomas von Celano 1246/1955, II.3, S. 169; zur Identifikation des Seraphen mit Christus vgl. Frugoni 2004, S. 77–93.

428 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

218. Cigoli, Stigmatisierung des Franziskus, sig.dat. ‚L.C. 1596‘, Öl auf Holz, 250 × 176 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/3496.

429 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

219. Cigoli, Franziskus, Ausschnitt aus Abb. 218.

220. Meister des Kruzifix Nr. 434, Kruzifix (Detail), um 1225/1250, Tempera auf Holz, 250 × 200 cm, Florenz, Uffizien, Inv. 1890/434.

221.  Laokoon, 60–40 v. Chr., Marmor, Rom, Musei Vaticani, Inv. 1064.

Liebesglut gänzlich in das Bild des gekreuzigten Heilands umgestaltet“ wurde.223 Zusätzlich zu der dem Körper eingeschriebenen Bewegung bezieht das Bild seine Dynamik aus der zweifach diagonalen Anlage: auf der Fläche ist es die Verbindung von Seraph und Franziskus, im Raum die schräge Positionierung des Heiligen, dessen ausgebreitete Arme links aus dem Gemälde herausragen und rechts in die Tiefe weisen, wo sein Begleiter auf ihn wartet. Dieser wird, anders als in vielen älteren Darstellungen, ausdrücklich nicht als 223 

Bonaventura 1941, XIII.3, S. 616: „… per incendium mentis totum in Christi crucifixi simi­ litudinem transformandum.“ Übers. nach Bonaventura 1956, S. 80.

430 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Augenzeuge präsentiert, wodurch diese Rolle allein dem Betrachter zufällt. Die geschwungenen Formen der Bäume nehmen die Bewegung des Körpers auf, der in auffälligem Gegensatz zu dem fein gezeichneten Gesicht steht. Der halboffene Mund, die geschwungenen Brauen und die halbgeschlossenen Augen mit nach innen gerichtetem Blick verleihen dem Gesicht eine Ausdruckskraft, die an die expressive Linearität gotischer Kruzifixe oder auch an den von Gilio als exemplum doloris empfohlenen Kopf des Laokoon erinnert (Abb. 219–221).224 Baldinucci schildert die Anstrengungen Cigolis, dem Gesicht des Heiligen „einen sehr frommen und dem Wahren ähnelnden Ausdruck“ (un aria devotissima e […] somigliante al vero) zu verleihen.225 Gerade im entscheidenden Augenblick habe es an der Werkstatttür geklopft und ein Bettler sei hereingetreten, in dem Cigoli sofort das gesuchte Gesicht „wiedererkannte“ (riconoscesse).226 Nach einem gemeinsamen Mahl habe er den Greis porträtiert, der danach ebenso schnell verschwunden sei, wie er gekommen war. Auch wenn hier anders als in der Entstehungslegende des Marienbildes in SS. Annunziata kein Engel als Maler auftritt, geben das mysteriöse Auftauchen des Bettlers und das „Wiedererkennen“ der Episode einen Anstrich des Wunderbaren. Baldinucci erinnert seine Leser daran, dass das Erscheinen des ‚Mendikanten‘ zwar ein Zufall gewesen sein könnte, die göttliche Vorsehung (la Divina Provvidenza) aber bekanntlich schon oft in die Herstellung sakraler Bilder eingegriffen habe.227 Zweifellos wahr (verissimo) sei jedenfalls, dass der Kopf des Heiligen keine Erfindung Cigolis, sondern „dal naturale“ gemalt sei und die Vorsehung – ganz gleich „ob durch ein Wunder oder ohne“ – dafür gesorgt habe, dass Cigoli ein Gesicht gefunden habe, das niemand ohne Devotion und Rührung (compunzione) betrachten könne.228 Erneut also ist die Wirkung Indiz der Wahrheit des Bildes. Der Betrachter wird „punziert“ wie Franziskus durch die Stigmastrahlen, und 224 

Chappell nennt das Gesicht treffend „a sculptural mask of ecstasy“ (Chappell 1971, S. 188). Interessanterweise betete Franziskus selbst nicht vor einem solchen Leidensbild, sondern vor dem heute in S. Chiara befindlichen Christus Triumphans mit weit offenen Augen (vgl. Frugoni 2004, S. 97, Anm. 85). Zu Laokoon vgl. Gilio 1564/1961, S. 42 und dazu Ettlinger 1961, S. 121–126. 225  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 107. 226  Ebd.: „… il Cigoli fissandogli ben gli occhi addosso riconoscesse quel volto, accomodato appunto quanto abbisognava per lo suo quadro […] soggiungono che il Pellegrino, dopo aver servito al bisogno l’ospite suo, con buon modo si partisse da quella casa, e che non più nè dal Cigoli, nè da altri si rivedesse.“ 227  Ebd.: „Può esser, che fusse questo successo cosa meramente naturale, ma pure noi sappiamo non solo esser possibile a Dio l’onorare i suoi Santi con modi miracolosi, ma quando ciò fusse seguito per opera soprannaturale, sappiamo ancora, che questa non sarebbe stata la prima volta, che alle formazioni delle Sacre Immagini, fusse concorsa la divina Provvidenza con modi prodigiosi.“ 228  Ebd.: „… la devota immagine, che vede ognuno con istupore“ und S. 108: „… onde convien dire, che o con miracolo o senza miracolo, concorse particolarmente la Divina Provvidenza a fare che potesse il Cigoli trovare un volto, in cui concorressero qualitadi da non poter esser mirato senza devozione e compunzione.“

431 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

ähnlich wie im Falle von Cigolis inspiriertem Hieronymus in S. Giovanni dei Fiorentini, der von einem seinerseits inspirierten Maler geschaffen und auf beinahe wunderbare Weise vor einem Wasserschaden gerettet wurde, werden Kunstfertigkeit und Naturbeobachtung auch in der Stigmatisierung mit göttlichem Beistand belohnt. Noch stärker als bei Cigoli ist die Franziskus-Devotion bei seinem Schüler Bilivert ausgeprägt, der einer von Anna Matteoli aufgefundenen Vita zufolge während seiner Arbeit an einer Stigmatisierung für die Pisaner Kapuziner an einem Tumor erkrankte und dem Heiligen gelobte, sein Bild im Falle einer Heilung mit allergrößter squisitezza auszuführen.229 Der Handel gelang: Nach der erfolgreichen Operation löste Bilivert sein Versprechen ein, trug bis zu seinem Lebensende graue Kleider und malte das Altarbild mit einer solchen Affektion, dass es als eines seiner besten Bilder galt, weil es – so sein Biograph – den Schmerz des Stigmatisierten aufgrund der eigenen Erfahrung zum Ausdruck brachte.230 Die von Baldinucci mit Blick auf Cigolis Stigmatisierung des Franziskus beschriebene Verbindung von Wunder, künstlerischer Qualität und universeller Rührung gipfelt in der scheinbaren Lebendigkeit des Heiligen, wofür Baldinucci den Topos bemüht, dass Franziskus „zum Lebendigsein nichts als das Atmen“ fehle (a cui, per esser vivo, altro non manca che il respirare).231 Cigoli, so heißt es weiter, habe den Heiligen in süßer Ekstase lebendig, aber bewusst nicht sprechend zeigen wollen, und doch habe er letztlich ein lebendiges und zugleich „sprechendes Bild“ geschaffen, denn aus Franziskus’ Gesicht „spreche“ sein Herz, glühend von göttlichem Feuer.232 Damit invertiert Baldinucci Petrarcas Ekphrase des Bildnisses der Laura, das zwar zu atmen schien, dabei aber fatalerweise stumm blieb.233 Vor allem aber unterscheidet sich Baldinuccis Lob insofern signifikant von dem Concettismo Marinos, als er dessen Dialektik von scheinbarer Lebendigkeit und tatsächlicher Stummheit auf eine bewusste Entscheidung des Künstlers zurückführt, die Dialektik aber schließlich aufhebt, indem er dem Bild eine eigene Spra-

229 

Vgl. Matteoli 1970, S. 326–366. Das Manuskript ist Teil des Cod. Naz. II, II, 110, fol. 73r– 83v, BNCF. Vgl. hier fol. 80v–81r: „Il quale fu accettato dal Bilivert con grand.mo gusto, perché ne era devoto. E mentre lavorava, fu assalito da un male crudeliss.mo, il quale lo tormentava atrocemente. […] Di poi, raccomandatosi a Dio, fece voto a S. Francesco di finir quel’opera de’ Padri Cappucini con la maggior squisitezza che mai avessi operato: sì come fece di poi che fu guarito.“ 230  Ebd., fol. 81v: „… e mentre che visse, da quel tempo sino alla morte, andò vestito di bigio. E finì il S. Francesco de’ Cappucini di Pisa con tanto affetto, che è tenuto delle più belle opere ch’ egli abbia fatto, perché esprime tanto bene il dolore che sente le Stimate che riceve, che non si può esprimer meglio.“ 231  Baldinucci 1812, Bd. IX, S. 106. 232  Ebd.: „Giacché vede ogn’uomo, che ha ingegno, che avendolo figurato l’artefice rapito in un dolcissimo estasi d’amor divino, volle farlo vivo sì, ma non parlante, e veramente lo fece vivo e parlante pur troppo, mentre seppe far apparire in quel volto effetti chiarissimi delle grandi voci del suo cuore, arso da divin fuoco.“ 233  Vgl. Fehrenbach 2003, S. 151.

432 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

che zuerkennt, deren Buchstaben Physiognomie und Gestik seien.234 Der Betrachter wird folglich zum ‚Hörer‘ der im erleuchteten Antlitz des Heiligen sichtbar werdenden Stimme seines Herzens. Die Tatsache, dass sich die Bettler-Anekdote wie auch das Lob der Lebendigkeit ausgerechnet auf eines der stilisiertesten Gesichter Cigolis beziehen, zeigt beispielhaft, dass Lebendigkeit nur bedingt an mimetische Ähnlichkeit gebunden ist.235 Mehr als das Gesicht scheint das Gewand „dal naturale“ gemalt zu sein. So einfach der Stoff ist, nutzt Cigoli doch jede Faser für raffinierte Lichtspiele. Sie werden von dem Seraphen verursacht, dessen gelb-rosa Flügel wie Flammen leuchten. Überhaupt ist das Bild ein Beispiel von Cigolis freiem Umgang mit Farbe: Die Skala der Atmosphäre reicht von Goldgelb über Rosa und Braun bis zu sattem Blau und grellem Azur und kontrastiert mit den gedeckten Naturtönen des Vordergrundes, wo genau beobachtete Flechten den Stein überziehen.236 Betrachtet man das Gemälde genauer, stellt man fest, dass die Farbund Lichtschneise erst von zwei Putti geöffnet wird, die die Äste der seitlichen Bäume zurückbiegen, um den Stigmastrahlen freie Bahn zu verschaffen. Eine Irritation stellt sich ein: Von göttlichem Licht wäre zu erwarten, dass es jedes Hindernis durchdringt. Natürlich lässt sich das (von Fabrizio Boschi für seine Stigmatisierung übernommene) Zurückbiegen der Äste als Variation des traditionellen Vorhangmotivs interpretieren, das den Offenbarungscharakter der Szene unterstreicht.237 Trotzdem geht es Cigoli offenbar auch um die Materialität der Strahlen, die wie dünne Fäden die Wundmale mit den Stigmata verbinden: Was sich hier abspielt, ist ein Projektionsvorgang, wie Cigoli ihn in seinem Perspektivtraktat erläutert. Anders als Barocci, der die Stigmatisierung 1579 als diffuse Lichterscheinung darstellt, greift Cigoli auf die 1325 von Giotto in S. Croce geprägte Bildformel zurück, die den Abbildcharakter unterstreicht, indem sie das „Begründungsszenario“ – um mit Wolfgang Schäffner zu sprechen – „in eine geometrische Operation verwandelt“ (Abb. 222).238 Wie bei Giotto verlaufen die Strahlen auch bei Cigoli nicht wie in einem Spiegelbild parallel, von der rechten Hand des Seraphen zur linken Hand des Heiligen, sondern kreuzen sich, so dass die Wundmale auf die jeweils entsprechende Seite übertragen werden. Die dadurch entstehende Konfusion nehmen beide Maler zugunsten der erhöhten Indexikalität in Kauf. Schon im ersten schriftlichen Zeugnis der Stigmatisierung, 234 

Zu Marinos Dialektik vgl. Fehrenbach 2011. Vgl. Fehrenbach 2003, S. 155. 236  Mit solchen Farbspektren experimentiert auch Jacopo da Empoli, insbesondere in seiner Verkündigung in S. Trinita von 1609 (vgl. Proto Pisani 20014, Kat. Nr. 34). 237  Versteigert bei Christie’s am 10.12.2007. Das Motiv des Himmelöffnens findet ein Vorbild in Raffaels Karton zu einem Stephanusmartyrium, in dem Engel die Wolken beiseiteschieben, um den Blick auf die Vision freizugeben (vgl. Henning 2000, S. 209). In seiner von Cigoli inspirierten Stigmatisierung in SS. Francesco e Chiara in Montughi übernimmt Jacopo da Empoli 1602 weder das Motiv des Bäumebiegens noch die Stigmastrahlen (vgl. Proto Pisani 2004, Kat. Nr. 28). 238  Schäffner 2004, S. 186. 235 

433 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

222. Giotto, Stigmatisierung des Franziskus, 1325, Fresko, Florenz, S. Croce.

einem Brief des Franziskaners Elias von Cortona aus dem 13. Jahrhundert, werden die Wundmale als die „wahrhaften“ Stigmata Christi bezeichnet.239 Christus macht Franziskus zu seinem Bild, und dies nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern durch ein Verfahren der Bildherstellung, bei dem Punkte mittels Fäden oder Sehstrahlen auf eine Bildfläche projiziert werden. Hatte Bonaventura noch darauf bestanden, dass Franziskus „nicht durch die Marterung des Fleisches, sondern durch den Brand des Geistes“ dem Gekreuzigten angeähnelt wurde,240 betont Cigoli zwar die Innerlichkeit des Geschehens, leitet es aber aus dem äußeren Projektionsvorgang ab und richtet sich damit möglicherweise gegen die am Ende des 16. Jahrhunderts aufkommenden Theorien von der Entstehung der Stigmata durch die Kraft der Imagination, wie sie beispielsweise Michel de Montaigne und Pietro Pomponazzi vertraten.241 Interessanterweise stützen beide Autoren ihre Argumentation auf die Lehre von der Wirkung der Imagination von Müttern auf ihre ungeborenen Kin-

239 

Elias von Cortona, zit. nach Vinken 2007, S. 15. Bonaventura 1941, XIII.3, S. 616: „… non per martyrium carnis, sed per incendium mentis totum in Christi crucifixi similitudinem transformandum.“ (Meine Übers.) 241  Vgl. Pomponazzi 1520/1567, III.30–32, V.67, VI.83–84 und Montaigne 1572–1580/1965, I.21, S. 99. 240 

434 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

der.242 Pomponazzi geht sogar so weit, die Stigmata mit Muttermalen zu vergleichen, deren Form durch die Vorstellungsbilder der Schwangeren bestimmt werde: denke die werdende Mutter an Granatäpfel, werde ihr Kind später granatapfelförmige „Stigmata“ aufweisen.243 In den Bildertraktaten werden dieselben Theorien, die gleichsam nebenbei die Stigmatisierung naturalisieren, als Beleg für die Wirkkraft von Bildern und die Legitimierung ihres Gebrauchs eingesetzt. Paleotti beispielsweise unterstreicht seine Behauptung, wonach Bilder „Veränderungen und sichtbare Zeichen auf Körpern“ bewirken können, nicht nur mit Verweis auf die Geburt dunkelhäutiger Babys durch hellhäutige Mütter, die entsprechende Vorstellungen während der Empfängnis hatten, sondern auch auf die Stigmatisierung, die durch Franziskus’ flammende Betrachtung der Wunden Christi verursacht worden sei.244 Cigoli nimmt den Trend zur Darstellung der Verzückung zwar auf, besteht aber auf der optischen Nachvollziehbarkeit des Vorgangs, statt das Zustandekommen der Wundmale malerisch zu verunklären oder anstelle der Stigmatisierung die neuerdings beliebteren Szenen von Franziskus’ Ekstase oder seiner Pflege durch Engel darzustellen. Sechs Jahre nach der Fertigstellung dieses Gemäldes entwirft Cigoli für die Collegiata di S. Giovanni Battista in Fucecchio ein heute in Pistoia befindliches Altarbild, das die Abbildungslogik noch weiter treibt, insofern es die Stigmatisierung als „Bild im Bild“ präsentiert (Abb. 223).245 Es ist, als sei der Besucher ein Stück zurückgetreten und erfasse nun auch das Umfeld des Gemäldes samt seiner Betrachter. Das Bildzitat erscheint frontal, so dass sich seine Materialität auf ein Minimum reduziert und der Eindruck entsteht, als träten die Figuren aus dem Bild heraus. Die Franziskusdarstellung selbst erscheint weniger malerisch als im Original; die Konturen sind schärfer, die Farben zurückgenommen. Bemerkenswert ist auch die Stilisierung der Stigmata, die wie angeheftet wirken

242 

Einen sehr guten Überblick über diese Vorstellung geben Doniger/Spinner 1998. Pomponazzi 1520/1567, S. 67–68: „Et consequenter secundum istum modum dici posset beatum Franciscum ex miraculo non habuisse (si modò habuit) stigmata Salvatoris nostri: quoniam si ex fixa mulieris imaginatione coeuntis, fœtus secundum stigmata possit assimilari realiter rei imaginate, et ex muliere prægna[n]te imaginante, exempli gratia, malum granatum, fœtus habet stigmata mali granati …“ (Meine Hervorheb.) 244  Paleotti 1582/1961, S. 230: „… potressimo cominciare da quello che viene affirmato da’ filosofi e medici, dicendo che, secondo i varii concetti che apprende la nostra fantasia dalle forme delle cose, si fanno in essa così salde impressioni, che da quelle ne derivano alterazioni e segni notabili nei corpi …“ und S. 233: „Di S. Francesco parimente si legge che, guardando con forte ammirazione le sacre piaghe del Salvatore, ne ritrasse egli le sante stigmate nel corpo suo …“ 245  Vgl. Contini 1991, S. 72, Faranda 1986, S. 148–149, Nr. 53–53a und Angeli Tartuferi 1992, S. 100. Cardi spricht lapidar von einer Stigmatisierung (Cardi 1628/2010, fol. 2v, S. 105). Zu den Auftraggebern vgl. Chappell 1981b, S. 80–81. Eine schlechte Kopie des Gemäldes findet sich über dem Altar des Dritten Ordens in der Cappella Cardini in S. Francesco in Pescia. 243 

435 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

223. Cigoli, Stigmatisierung des Franziskus mit Heiligen, sig.dat. ‚L.C. 1602‘ [oder 1603], Öl auf Schiefer, 297 × 230 cm, Pistoia, Collezione della Cassa di Risparmio.

436 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

und den Bildcharakter des eingefügten Gemäldes betonen.246 Zusätzlich verändern sich einige Details: Der Totenkopf wechselt seine Position und schaut, nun hell beleuchtet, die Betrachter an, der Seraph hat Beine bekommen, und der Begleiter ist eingeschlafen, gleichsam als sollte die Zeugenrolle noch eindeutiger den Betrachtern zugewiesen werden. Durch die auffällig niedrige Hängung des internen Bildes entsteht ein intimer Kontakt zwischen Franziskus und den herandrängenden Gläubigen, die eher von dem himmlischen Schein als von dem schwachen Kerzenlicht beleuchtet werden. Der Zug wird angeführt durch Ludwig IX., der vor dem Gemälde niederkniet und damit die auf dem Boden abgestellte Kerze zum Flackern bringt. Dabei schaut er nicht auf den Heiligen, sondern aus dem Bild zum Betrachter, als wolle er ihn auffordern, es ihm nachzutun. Hinter dem König treten Elisabeth von Ungarn, ein bärtiger Alter und eine Mutter mit Kind heran.247 Sowohl Ludwig als auch Elisabeth hatten Franziskus zu ihrem Vorbild erklärt und wurden als Patrone des Dritten Franziskanerordens verehrt.248 Auch Elisabeths Augen sind nicht auf das Bild, sondern aus dem fahlen Gesicht nach oben gerichtet, während eine Träne von ihrer innigen Meditation zeugt. Ihr braunes Gewand dient als Kontrastfolie für den prächtigen Mantel des Königs neben ihr. Just an der ästhetischen Grenze jedoch lugt Ludwigs nackter Fuß unter den kostbaren Stoffen hervor, daneben auch eine grobe Gürtelkordel, die auf diejenige des Franziskus zu antworten scheint. Zugleich aber korrespondiert die Kordel mit den Geißeln, die vor dem bildinternen Bild auf einer blutroten Raute des Marmorbodens bereitliegen. In einem ersten Schritt können diese flagella als Attribute der dargestellten Heiligen gedeutet werden, die beide für ihre Selbstkasteiungen berühmt waren.249 Die Komposition des Gemäldes, vor allem aber die Vielzahl250 und das auffällige Arrangement der blutbefleckten Peitschen lassen jedoch keinen Zweifel, dass sie hier nicht nur als Attribute, sondern auch als Aufforderungen zum meditativen Nachvollzug der Passion in der Tradition der arma Christi fungieren. Dabei verwandeln sich die abstrakten Bildzeichen 246  Die Darstellung der Stigmata in Form von Nagelköpfen orientierte sich an alten Viten (vgl. Acta Sanctorum, Bd. II, S. 650). Wie bei Katharina von Pisa verwandeln sich die Blutströme von Franziskus’ Wunden in Goldstrahlen. 247  Beim Verkauf 1883 wurde die Heilige als Rosa da Viterbo gedeutet (vgl. Matteoli 1983, S. 193, Nr. 64); Faranda und Contini halten sie für die Hl. Klara (Contini 1991, S. 72 und Faranda 1986, S. 148–149, Nr. 53). Die Krone aber spricht für Chappells Identifikation der Figur als Elisabeth von Ungarn, der auch Angeli Tartuferi gefolgt ist (vgl. Chappell 1981, S. 80 und Chiarini/Padovani/Tartuferi 1992, S. 100). 248  Der Dritte Orden wurde allerdings erst nach ihrem Tod 1284/89 gegründet (vgl. Meersseman 1977, S. 389). 249  Das in der Schatzkammer von Nôtre-Dame aufbewahrte Reliquiar Ludwigs IX. soll neben seinem Kopf auch sein Büßerhemd und seine Geißel enthalten. Elisabeths Bußpraktiken werden in der Legenda Aurea beschrieben (Voragine 1998, S. 1160). 250  Gegenüber der Vorzeichnung GDSU 1011 F (vgl. Chappell 1981, S. 80–81) hat sich die Zahl der Geißeln erhöht.

437 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

in konkrete Marterwerkzeuge, die darauf warten, vom Betrachter bzw. den Auftraggebern aufgehoben zu werden. Ein Vertrag für das Bild ist bislang nicht bekannt, die Darstellung der Heiligen aber verweist auf den Dritten Orden oder eine mit ihm verbundene Bruderschaft – möglicherweise die 1585 in Fucecchio gegründete Confraternità del Cordone.251 Die Akten einer Visitation der toskanischen Gemeinde aus dem Jahr 1588 nennen zwei Geißelungsbruderschaften: die Compagnia di S. Giovanni Battista, gen. dei Frustati Neri und die Compagni dei Frustati, gen. dei Bianchi, die wie die auf dem Gemälde dargestellte Hl. Elisabeth neben der Kirche San Salvatore ein Armenhospital betrieb.252 Die nächtliche Szene könnte auch auf eine der Nachtbruderschaften deuten, die regelmäßig Bußwachen durchführten. Die flackernde Kerze könnte dann an das TenebraeRitual des Lichtlöschens erinnern, das als Signal für den Beginn der Geißelung fungierte, die in manchen Gemeinden im Dunkeln praktiziert wurde, um theatrale Selbstdarstellungen zu vermeiden.253 Erste schriftliche Zeugnisse über die Selbstgeißelung als christliche Bußübung datieren aus dem 8. Jahrhundert. Mitte des 13. Jahrhunderts verwandelte sich die individuelle Praxis unter dem Einfluss des Apokalyptikers Raniero Fasani in eine Massenbewegung, die von der Kirche nur bedingt geduldet wurde.254 Öffentliche Geißelungen wurden 1349 von Clemens VI. verboten und 1417 in Johannes Gersons Tractatus contra sectam Flagellantium wegen der Selbstjustiz und Vernachlässigung des Sakraments der Buße kritisiert.255 Trotzdem hielt sich der Ritus vor allem in Klöstern und Laienbruderschaften bis in die Neuzeit; viele Ordensregeln schrieben individuelle oder kollektive Geißelungen an Freitagen und während der Karwoche vor. Der Servitengeneral Antonio Montusi und der Rhetorikprofessor des Collegio Romano, Famiano Strada, waren berühmt für ihre Geißelungen.256 Auch die Viten nachtridentinischer Heiliger berichten von leiblicher Kasteiung: Ignatius von Loyola soll sich häufig gegeißelt haben, ebenso wie Franz Xaver, Teresa von Ávila, Hyacinthus und Carlo Borromeo, der die Scala Santa täglich mit blutigen Knien bestieg.257 Dem Italienreisenden Gregory Martin zufolge war die Selbstkasteiung des Kardinals „verie famous in word and writing, and a very representation of the Primitive and Apostolical perfection“.258 251  Vgl. Indice di Libri e Carte dell’Archivio de Frati minori Conv[entua]li di S. Francesco di Fucecchio compliato in quest’Anno 1776. Eine Kopie befindet sich im Besitz von Alberto Malvolti. Ihm sei für seine Unterstützung und Gastfreundschaft herzlich gedankt. 252  Vgl. ACL, Visitazioni Pastorali, 33, 14.5.1588, fol. 21v. Vgl. Malvolti 2000, S. 33 und Waldman, S. 460, Anm. 23. 253  Vgl. Henderson 1997, S. 123 und 129–132 und Black 1989, S. 101–103. 254  Vgl. von der Hardt 1697, Bd. I, S. 86 und 126; ders. 1698, Bd. III, S. 98–105 und Erbstösser 1970. 255  Vgl. Gerson 1973, S. 46–51. 256  Vgl. Spini 1970, S. 125. 257  Vgl. Accolti 1594, S. 3 und Burzer 2011, S. 20. 258  Martin 1581/1969, S. 93; vgl. dazu Wisch 1990, S. 86.

438 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Die Laien hatten sich nach dem Verbot der öffentlichen Selbstgeißelung durch das Konzil von Konstanz (1414–1418) in private Zirkel zurückgezogen und Bruderschaften gegründet, die sich flagellanti, battuti, disciplinati oder bianchi nannten.259 Vor allem in Rom nahm die Mitgliedschaft in solchen Bruderschaften in der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts zu.260 Besondere Sichtbarkeit erhielten sie in der Karwoche und bei Geißlerzügen, die Gregor XIII. zusammen mit den Quarant’ore als Ersatz für den 1575 verbotenen Karneval eingeführt hatte. Nach einer festgelegten Prozessionsordnung zogen die Geißler den anderen Bruderschaften, dem Klerus, den städtischen Würdenträgern, Bürgern und Frauen voraus. Die Chronisten überbieten sich in sicher übertriebenen, aber nichtsdestoweniger sprechenden Beschreibungen der vom Blut „gefärbten und gebadeten Stadt“ (tutta la Città ne fu tinta, & bagnata), wo der Anblick derer, die sich in Erinnerung an Christus geißelten, die anderen zum Mitleid bewegt habe (eccitando in questo modo gli altri à compuntione, & penitenza).261 Dass dies jedoch nur für einen Teil der Bevölkerung galt, zeigen die Aufzeichnungen des Jesuiten Rafaele Riera, der entrüstet von der römischen Jugend berichtet, die während der Prozessionen mit Geißeln durch die Straßen rannte und die Büßer nachäffte.262 Noch deutlicher wird die Ambivalenz der neuzeitlichen Flagellantenzüge in dem Reisetagebuch Montaignes, der sein Befremden angesichts der Theatralität und vermeintlichen Kommerzialisierung der Geißelung zum Ausdruck bringt.263 Nach einem Besuch in S. Giovanni in Laterano notiert er, ein Kardinal habe dort „mit einer langen Gerte, die er in der Hand hielt, den Vorbeigehenden einen Schlag auf den Kopf [gegeben], auch den Damen, aber mit lächelndem Gesicht, das umso höflicher wurde, je vornehmer und schöner die Dame“ gewesen sei.264 Besonders eindrücklich aber beschreibt Montaigne eine Karfreitagsprozession mit mehr als 500 Geißlern, deren Gebaren ihm überaus merkwürdig erscheint:

259  Vgl. Largier 2001, S. 132–133. John Bossy betont das kirchliche Misstrauen gegen traditionelle Bruderschaften, insofern sie „artifical kin-groups“ und alternative Modelle der Frömmigkeit darstellten. Carlo Borromeo habe sich daher bemüht, die einzelnen Solidargemeinschaften bischöflicher Kontrolle zu unterstellen und zu einer hierarchisch organisierten Erzbruderschaft zusammenzufassen (vgl. Bossy 1970, S. 58–59). 260  Vgl. Wisch 1990, S. 89 und Wisch/Cole Ahl 2000, S. 9. 261  Riera 1580, S. 76 und 28; vgl. Wisch 1990, S. 97. 262  Vgl. Wisch 1990, S. 86. Im Juni 1657 wird ein Bürger der unweit von Fucecchio gelegenen Gemeinde Montecarlo beim Inquisitor angezeigt, weil er gegen die ortsansässige Compagnia di S. Antonio und deren Aufruf zur Selbstgeißelung polemisiert hatte (vgl. Prosperi 1984, S. 288). 263  Vgl. Burke 1986, S. 24–25. 264  Montaigne am 22.3.1581; 1992, S. 120: „… Monsigneur le Cardinal Saint Sixte estoit assis à un coin et donnoit sur la teste d’une baguette longue qu’il avoit en la main aux passans, et aux dames aussi, mais d’un visage souriant et plus courtois, selon leur grandeur et beauté.“ Übers. nach Montaigne 1963, S. 205.

439 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

„Es ist ein Rätsel, das ich noch nicht richtig begreife; aber sie sind alle blutig geschlagen und furchtbar verwundet, und sie martern und geißeln sich unaufhörlich. Dabei wäre man angesichts ihrer Haltung, ihres festen Schritts […], des Ausdrucks ihrer Gesichter (Verschiedene zogen unverhüllt durch die Straßen) nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie sich einer ernstlichen Beschäftigung hingaben, geschweige denn einer so schmerzhaften.“265 Vor allem eine Episode erregt Montaignes Skepsis: „Dicht an mir schritt so ein ganz junger Mensch mit angenehmem Gesicht vorüber, und eine junge Frau hielt mit ihrem Mitleid über seine Wunden nicht zurück. Er wandte sich zu uns um und rief der Frau lachend zu […] Höre auf zu weinen! Bedenke, dass ich das für deine Sünden und nicht für meine tue!]. Nicht nur, dass sie keine Traurigkeit zeigen oder sich zwingen müssten: Sie tun es sogar voll Freudigkeit oder im äußersten Fall noch immer mit solcher Gleichgültigkeit, dass sie sich von anderen Dingen unterhalten, lachen, schreien, laufen …“266 Die Kleidung vieler Flagellanten lässt Montaigne auf ihre niedere Herkunft schließen und vermuten, dass sie für die Bußübung angeheuert wurden. Trotzdem habe er selbst gesehen, „wie stark ihre Wunden waren und wie lang die Kasteiung dauerte“.267 Auch wenn schmerzlindernde Salben im Spiel gewesen sein mochten, sei doch wohl keine stark genug, um die Schmerzen gänzlich zu unterdrücken, zumal die Auftraggeber sicher kein Geld für ein bloßes Schauspiel investieren würden: „Wozu sollten andere diese Leute mieten, wenn es nur eine Äfferei wäre?“268 Die Wirksamkeit delegierter Buße stellt Montaigne offenbar nicht in Frage, die Wirksamkeit bloß gespielten Schmerzes hingegen schon. 265  Montaigne am 24.3.1581; 1992, S. 123: „C’est une enigme que je n’entens pas bien encore; mais ils sont tous meurtris et cruellement blessés, et se tourmentent et battent incessament. Si est ce qu’à voir leur contenance, l’assurance de leur pas, la fermeté de leurs paroles […] et leur visage (car plusieurs estoient descouverts par la rue) il ne paroissoit pas seulement qu’ils fussent en action penible, voire ny serieuse …“ Übers. nach Montaigne 1963, S. 210–211. 266  Ebd., S. 123–124: „Tout contre moy, il y en avoit un fort jeune et qui avoit le visage agreable; une jeune femme plaingnoit de le voir ainsi blesser. Il se tourna vers nous et luy dit en riant: Basta, disse, che fo questo per li lui peccati, non per li miei. Non seulement ils ne monstrent nulle destresse ou force à cette action, mais ils le font avec allegresse, ou pour le moins avec telle nonchalance, que vous les voyez s’entretenir d’autres choses, rire, criailler en la rue, courir, sauter …“ Übers. nach Montaigne 1963, S. 210–211. 267  Ebd., S. 124: „On me dit bien qu’on graissoit leurs espaules de quelque chose; mais j’y ay veu la playe si vifve, et l’offense si longue, qu’il n’y a nul medicament qui en seust oster le sentiment …“ Übers. nach Montaigne 1963, S. 211–212. 268  Ebd., S. 124: „… et puis ceux qui les louent, à quoy faire si ce n’estoit qu’une singerie?“ Übers. nach Montaigne 1963, S. 212.

440 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Dass der skeptische Franzose nicht unbedingt repräsentativ für das zeitgenössische Publikum war, zeigt die Tatsache, dass Gregor XIII. 1574 die in der Karwoche aufgeführten sacre rappresentazioni verbot, weil es dabei immer wieder zu Angriffen auf die Darsteller der Juden und zu pogromähnlichen Verfolgungen gekommen war.269 Nur zwei Jahre nach Montaignes Reise sollte die italienische Praxis auch in Frankreich Einzug halten: 1583 gründete der jesuitisch geprägte Henri III. die Congrégation des Pénitents de l’Annonciation-de-Nôtre-Dame, in der er als pares inter pares auftrat und an öffentlichen Geißelungen teilnahm, wofür der sonst prunksüchtige König jedoch nicht nur Bewunderung, sondern auch Spott erntete.270 Im Jubeljahr 1600 nahmen auch die Bruderschaften aus Fucecchio an der Wallfahrt nach Rom teil, wo sie die Hauptkirchen und die Passionsreliquien in St. Peter besuchten.271 Es ist folglich durchaus denkbar, dass die disciplinati das 1602 fertiggestellte Gemälde in Erinnerung an diese Erfahrung in Auftrag gaben oder aber davon zur regelmäßigen Wiederholung der körperlichen Buße anregen lassen wollten – möglicherweise sogar vor dem Gemälde selbst. Denn dass es kollektive Bußübungen vor Bildern – insbesondere vor gonfaloni mit Darstellungen der Geißelung Christi – gegeben hat, hat Andreas Dehmer eindrucksvoll gezeigt.272 Er wertet Inschriften, Andachtsfiguren und musizierende Engel als Hinweise auf die Adressierung der gonfaloni als „Rezipienten des bruderschaftlichen Lobpreises“ und „Leitbild“ ihrer Geißelungen.273 Die Statuten der Sieneser Disciplinati di S. Maria della Scala zeigen das Banner überhaupt nur bei Zusammenkünften mit kollektiver Flagellation.274 In der Florentiner Geißlervereinigung der Disciplinati di Gesù Pellegrino diente das Banner mit der Geißelung Christi als Velum des Altarbilds für kollektive Bußübungen.275 In den 1415 verfassten Statuten der toskanischen Disciplinati di S. Michele Arcangelo aus S. Godenzo wird explizit die regelmäßige Geißelung vor einer Christusdarstellung gefordert, die bei öffentlichen Auftritten durch ein tragbares Banner ersetzt wurde.276 Dass diese Praxis bis ins 16. Jahrhundert fortbestand, zeigen die Statuten der Compagnia di S. Maria dell’ Misercordia (gen. dei Neri) aus Montepulciano, welche die Geißelung hinter einem Kruzifix oder Gonfalone stipulieren.277 269 

Vgl. Largier 2001, S. 145. Vgl. ebd.. 271  Vgl. APF, Sez. VI.V: Comp. S. Gio. Battista, 8: Libro dei Partiti 1590–1621, fol. 87v. 272  Dehmer 2009 und 2004, S. 181–182. Die Statuten von Florentiner Bruderschaften sehen seit dem 13. Jahrhundert Devotionsübungen vor dem Prozessionsbanner vor (vgl. ebd., S. 110). 273  Ebd., S. 112. 274  Vgl. ebd., S. 114. 275  Ebd., S. 114. 276  Ebd.; Anhang IVb und Dehmer 2002, S. 203. 277  Dehmer 2003, S. 501: „… siano obligati venire alla Compagnia & vestirsi le cappe & accompagnare el gonfalone o vero il crocifixo sicondo parra al priore & debbino andare scalzi & in disciplina cioe innudi verso la schena dove batte la disciplina.“ 270 

441 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

224. Guido Reni, Stigmatisierung des Franziskus, 1612, Gonfalone, Öl auf Leinwand, 217 × 152 cm, Rom, Museo di Roma, Inv. MR 1831.

225. Verso von Abb. 224: Franziskus mit Geißlern der Confraternità delle Stimmate.

1562 wird dort ein neues Banner mit einer Kreuzabnahme und einer Geißelung Christi eingeweiht, dessen Entwurf Dehmer keinem anderen als Vasari zuschreibt.278 Auch einige Lauden präsentieren das Banner als „Leitbild“ der kollektiven Geißelung. In dem 1560 verfassten Gesang der Compagnia di S. Maria dei Battuti aus Castelbaldo beispielsweise heißt es: „Diese Schläge mögen Euch nicht schmerzen, / da Ihr offen finden werdet die Tore / des Eingangs zum Paradies. […] / Wohlan Brüder, von Schar zu Schar, / schlagt Euch hart und unverdrossen, / Das heilige Kreuz ist unser Banner / und unser aufgerichteter Gonfalone.“279 Der Nexus von Stigmatisierung und Geißelung wird in einer Guido Reni zugeschriebenen Standarte der Confraternità delle Stimmate aus dem Jahr 1612 deutlich, 278 

Öl auf Leinwand, 196 × 130 cm; vgl. Dehmer 2003. Belegt ist Vasaris Autorschaft für das Banner der Compagnia di S. Stefano von Montepulciano aus dem Jahr 1557 (ebd., S. 502–503). 279  „Madre de Dio – Horsu fratelli battevi forte / Ne non ve do[gl]ia queste botte / Che voi troverete aperte le porte / Dello entrare al paradiso./ Madre de Dio – Horsu fratelli di schiera in schiera / Battevi forte e volentiera / La santa Croce e nostra bandiera / E nostro dritto confalone.“ BMCV, Cl. IV, 168, fol. 37r., zit. nach Dehmer 2004, S. 183, Anm. 207. Als den Urtext der verschiedenen Fassungen vermutet Dehmer ein Responsorium der Disciplinati di S. Maria Maddalena von Bergamo aus dem Jahr 1336 (vgl. ebd., S. 183 und 267, Anhang IVa).

442 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

deren Vorderseite die Stigmatisierung des Hl. Franziskus zeigt, während die Rückseite den Heiligen zwischen Flagellanten darstellt, die ihn anzubeten scheinen, während Franziskus mit festem Blick aus dem Bild, also auf die wohl hinter dem gonfalone versammelten Geißler schaut (Abb. 224–225). Einen weiteren Beleg für die Geißelung vor Bildern liefert das 1609 in Auftrag gegebene Altarbild der Confraternita dei Disciplinati di San Giovanni Battista der kleinen Gemeinde Cravegna im Piemont, die sich laut den Visita­ tionsakten von 1627 an festgelegten Tagen zur Geißelung vor dem in ihrem Oratorium aufgestellten Gemälde versammelte (Abb.  226).280 Es zeigt vier disciplinati in weißen Kapuzenkutten mit Geißelungsemblemen, Rosenkränzen und flagella vor der Jungfrau mit Kind und Johannesknaben zwischen den Heiligen Julius und Franziskus.281 Das Kind wendet sich lebhaft den Betenden zu, die seine künftige (durch das eingefügte Kreuzigungsbild und das Kruzifix bereits angekündigte) Passion am eigenen Körper nachzeichnen – eine imitatio, die Franziskus, wie seine Stigmata zeigen, bereits vollzogen hat. Anders als in Cravegna ist der ursprüngliche Standort von Cigolis Altarbild nicht gesichert. In die Sammlung der Cassa di Risparmio gelangte das Bild aus der Privatsammlung von Giuseppe Toscanelli, in der Giuseppe Cantelli es als Werk Cigolis identifizierte.282 Erstmals erwähnt wird das Bild in Alessandro Masinis Relazione delle pitture della Diocesi aus dem Jahr 1785/87.283 Ihm zufolge war das Bild ursprünglich in S. Salvatore aufgestellt, einer Kirche, die im Cinquecento gewöhnlich als Chiesa di S. Francesco bezeichnet wurde.284 Auf Basis von Dokumenten, die einen „altare di S. Francesco“ in S. Salvatore erwähnen, vermutet Roberta Roani Villani, dass das Gemälde für die Konterfassade der einschiffigen Kirche geschaffen wurde, die 1854 im Zuge des Durchbruchs von Seitenportalen stark verändert wurde.285 Diese Hypothese ließe sich durch die Komposition des Gemäldes stützen, insofern die schräge Position des Heiligen sich gut für die seitliche Betrachtung beim Ein- oder Austreten aus der Kirche eignet, während-

280 

Vgl. Bertamini o. J. Für die freundliche Anfertigung von Fotografien danke ich Savoia Ottorino. Die Inschrift lautet: „Sub tuum presidium confugimus / S. Dei genetrix, nostra depreca/tiones ne despicias in necessitatib./ inter natos mulierum non surexit / maior Joanne Baptista 1609.“ 282  Vgl. Cantelli 1985. 283  Alessandro Masini, Relazione delle pitture della Diocesi, 1785–1787 (ASF, Comp. Rel. Sopp., San Miniato, A CCLXIX, n. 20, fasc. G), ediert in: Roani Villani 1988, S. 64. 284  Vgl. ebd., S. 70. Zur Geschichte der Kirche vgl. Mavolti 2000, S. 25–29 und Bartolesi/Chiari 1987. Die Tatsache, dass das Bild zwei Jahre später in der Sakristei der nahegelegenen Collegiata di S. Giovanni Battista inventarisiert wurde, hat zu der Vermutung geführt, dass das Bild für diese Kirche geschaffen wurde. Das Inventar von 1709 erwähnt das Bild jedoch nicht. Vgl. ASF, Cap. di Finanza 91, Galleria e Debito Pubblico, filza 1856–1857: Quadro della Collegiata di Fucecchio, zit. in Chappell 1981, S. 80–81; vgl. Antonio Tondoli: Inventario della chiesa di San Giovanni Battita di Fucecchio, 1709 (Archivio Vescovile di San Miniato, Inv. 1708–1709). Zur Collegiata vgl. Roani Villani 1990, S. 42–56, Anm. 5. 285  Vgl. ASP, Corp. Rel. Sopp., fol. 540, 545, 592 und dazu Roani Villani 1988, S. 70. 281 

443 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

226. Anonym, Madonna mit Kind und Heiligen und Geißlern, um 1609, Cravegna, Oratorio di S. Giovanni Battista.

dessen die Gläubigen auch die Geißeln passiert hätten, die sie an ihre Bußpflichten erinnerten. Dass solch eine Mahnung notwendig gewesen sein könnte, wird nicht nur von der 1642 in Fucecchio belegten Kritik des Priors an der Vernachlässigung der Osterpflichten nahegelegt, sondern auch durch Hinweise zum Rückgang der Geißelungspraktiken im Florenz des späten 16. Jahrhunderts.286 Angeregt von skeptischen Beobachtern wie Montaigne und Riera, hat Ronald Weissman Zweifel an der Rhetorik vor allem der Florentiner Bruderschaften geäußert. Obwohl sich viele Verbände als battuti beschreiben und die Vokabel „disciplina“ inflationär gebrauchen, geht Weissman von einer Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Praxis aus: „Only rarely does one find mention of flagellant practices in the late sixteenth century, but everywhere one reads of flagellant garb symbolic of discipline and piety.“287 Traditionelle Bußpraktiken erschienen offenbar nicht nur zunehmend anachronistisch, sondern rückten ihre Protagonisten auch in gefährliche

286 

Vgl. APF, Sez. VI.V: Comp. S. Gio. Battista, 11: Libro delle Ragioni, 1626–1653, 2.4.1642, fol. 92. Weissmann 1982, S. 206. Die bianchi von S. Spirito und die 1581 wiedergegründete, der Gefangenenfürsorge gewidmete Compagnia di S. Bonaventura hätten zwar Flagellantenkutten getragen, aber keine rituelle Geißelung vollzogen. Die 1541 gegründete Sakramentsbruderschaft von S. Trinità nannte sich zwar Compagnia di disciplina, pflegte aber primär die Devotion des Sakraments (vgl. ebd., Anm. 45). 287 

444 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

Nähe zu den Anhängern Savonarolas, die weiterhin strikt verfolgt wurden.288 Unter Cosimo I. hatte sich die Struktur der Konfraternitäten zudem von egalitären, die Stadtviertel übergreifenden Verbänden zu einem hierarchisch strukturierten, an Pfarreien oder Berufsstände gebundenen System unter Kontrolle des Großherzogs verändert.289 Während die Zahl der Sakraments- und Kreuzbruderschaften im 16. Jahrhundert zunahm, gab es in dieser Zeit kaum Neugründungen von Geißelungsbruderschaften.290 Die Florentiner Provinzialsynode von 1573 ging in der Betonung der Sakramentsverehrung und der Regulierung der Bruderschaften noch über Trient hinaus.291 Mit Blick auf die Transformation der traditionellen bruderschaftlichen Fußwaschung geht Weissman sogar so weit zu sagen: „The major rituals of Florentine confraternities – collective feasts and symbolic inversions producing equality through ritual degradation – were transformed into theater. […] Baroque pomp replaced medieval penance.“292 Wurde Maria Maddalena de’ Pazzi möglicherweise gerade deshalb so sehr dafür bewundert, dass sie heißes Wachs über ihre Arme goss und sich geißelte (Abb. 227), weil sie damit in Florenz zu einer Ausnahmeerscheinung wurde? Eric Cochrane jedenfalls warnt ebenfalls vor der Illusion einer erzreligiösen Stadt: „genuine religious experience“ habe es in Florenz nur noch in Klöstern gegeben.293 Bis zum Auffinden einschlägiger Quellen besteht folglich auch die Möglichkeit, Cigolis Geißeln als eine Art Alibi zu betrachten. Die Betrachter würden sich von dem Gemälde dann nicht zur Selbstkasteiung anregen lassen, sondern im Gegenteil die Flagellation an das Bildpersonal delegieren. Das Altargemälde hätte dann das übernommen, was die Betrachter selbst nicht mehr unbedingt tun wollten und gliche so den angemieteten Büßern, über die Montaigne sich so sehr mokierte. Gegen diese Hypothese könnte vorgebracht werden, dass das Bild nicht für Florenz, sondern für die kleine seuchengeplagte Gemeinde Fucecchio, 40 Kilometer westlich der Arnometropole gemalt wurde, wo die leibliche Buße vermutlich länger praktiziert wurde. Die Nähe Fucecchios zu Cigolis Geburtsort und die prominente Rolle seines Namenspatrons S. Lodovico lassen sogar die Hypothese zu, dass Cigoli den Auftrag (zu einer Zeit, in der er nicht mehr für Provinzkirchen arbeitete) aufgrund einer persönlichen Devotion für den Heiligen angenom-

288 

Ebd., S. 207. Weissman 1982, S. 198–205. Vor allem während der Hungersnot 1588 trat Ferdinando I. im Verbund mit den Bruderschaften als Retter des Volkes auf. 290  Vgl. Richter 2009, S. 4 und 168–169. 291  Während das Konzil nur bischöfliche Visitationen stipulierte, ermutigte die Synode die Gründung von Sakraments- und Doktrinsbruderschaften und verpflichtete jede Pfarrei zu CorpusChristi-Prozessionen. Traditionellen Bruderschaften wurde das Feiern von Sonn- und Feiertagsgottesdiensten und die Veranstaltung von Banketten untersagt (vgl. Weissman 1982, S. 223). 292  Ebd., S. 228. 293  Cochrane 1973, S. 135–138. 289 

445 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

227.  Francesco Curradi, Selbst­ kasteiung der Maria Magdalena de’ Pazzi, 1610, Rötel auf Papier, Florenz, Archiv des Karmeliterklosters in Careggi.

men haben könnte. – Eine Vermutung, die sich durch die Platzierung seiner Signatur auf dem Schemel mit den Geißeln stützen ließe. In seiner seminalen Studie In Praise of the Whip beschreibt Niklaus Largier die Geißelung nicht allein als Buß-, sondern auch als Bild- und Affekttechnik, die auf eine Empfindungssteigerung zielte.294 Schon Petrus Damiani habe die Flagellation im 11. Jahrhundert nicht allein als Bußübung, sondern als „mimetische Praxis par excellence“ verstanden.295 Damianis Beschreibung des Körpers von Domenico Loricatus weist starke Parallelen zwischen Geißelung und Stigmatisierung auf. Der Mönch ist nicht nur von Geißelungsspuren gezeichnet, sondern gab sich selbst auch oft die Gestalt des Kreuzes, indem er seine Arme ausgestreckt hielt, bis sie schmerzten.296 Vergleichbare mimetische Praktiken werden auch von Franziskus berichtet, der Christus nicht nur in Form seiner kreuzförmigen Kutte „anzog“, sondern sich ihm auch durch Geißelungen und schließlich

294  295  296 

Vgl. Largier 2001. Ders. 2007, S. 83. Vgl. Trexler 2002, bes. S. 472–475.

446 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

durch die Stigmatisierung anähnelte.297 „Mehr als eine erinnernde Geste der Imitation“ ist die Geißelung also „die Teilhabe an der heilsstiftenden Passion in Form der Verkörperung einer rettenden Gewalt, welche die Märtyrer der frühen Kirche bezeugt und exemplarisch vor Augen geführt hatten“.298 Ähnliches gilt für die Stigmatisierung: Franziskus selbst versteht den menschlichen Leib als Bild Christi,299 und in seiner Genesispredigt aus den Jahren 1234/44 beschreibt Jean de la Rochelle die Stigmatisierung als Erneuerung des göttlichen Ebenbildes in Franziskus: „Der Herr hat vor allem Adam, den ersten Menschen, nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen. Dieser hat sündigend das Bild und das Gleichnis, die er in sich trug, ausgelöscht. Im seligen Franziskus jedoch wird diese Gottesebenbildlichkeit erneuert“ (Sed per beatum Franciscum imago et similitudo Dei reparantur).300 Diese Interpretation war bis ins 17. Jahrhundert verbreitet – vor allem auch dank Paul de Barrys 1590 neu aufgelegtem Traktat Conformité de Saint François et du Christ aus dem frühen 14. Jahrhundert.301 In einer ganz ähnlichen Logik inszeniert Cigoli mithilfe der Technik des „Bilds im Bild“ eine Kette der Nachahmung: Christus, das Ebenbild Gottes (imago Patris), macht Franziskus durch die Stigmatisierung zu seinem Bild (imago Christi).302 Franziskus fungiert seinerseits als Vorbild der Heiligen Ludwig und Elisabeth, die sich mit den Geißeln selbst Wundmale zufügen.303 Das Exempel der bildinternen Betrachter wiederum soll den Betrachter vor dem Bild anregen, die imitatio am eigenen Leib zu vollziehen – sei es im Geiste oder realiter. Der Dominikaner Tommaso Caffarini hatte schon Anfang des 15. Jahrhunderts in seiner Vita der Hl. Katherina von Siena einen weiten Begriff des Stigmas entworfen, der ganz verschiedene Wunden – einschließlich solcher durch Geißelungshiebe – bezeichnen

297 

Vgl. Celano 1955, S. 9 und II.129, S. 358; vgl. Kapustka 2009, S. 35, 37 und 42. Zum Streit um den „wahren Habit“ zwischen den Zweigen des Franziskanerordens vgl. Hecht 2012, S. 324. 298  Largier 2007, S. 82. 299  „Deus […] creavit et formavit te ad imaginem dilecti Filii sui secundum corpus et similitudinem secundum spiritum“ (Franziskus, Admonitiones, zit. nach Frugoni 2004, S. 94, Anm. 66). 300  Jean de la Rochelle, zit. nach Frugoni 1993, S. 47, Anm. 136: „Creavit Dominus hominem primum Adam, scilicet, in principio ad imaginem et similitudinem suam [vgl. Gen 1,26–27]. Sed ipse per peccatum delevit imaginem et similitudinem Dei in sei. Sed per beatum Franciscum imago et simi­ litudo Dei reparantur.“ 301  Vgl. de Barry 1590. Der um 1417 entstandene Gonfalone einer den Minoriten nahestehenden Kongregation aus Convignano inszeniert Franziskus als „Alter Christus“, der die Wundmale unmittelbar von dem Gekreuzigten empfängt (vgl. Dehmer 2004, S. 185). 302  Bellarmin 1870, S. 213. Zu Christus als Bild Gottes vgl. Frugoni 2004, S. 84. 303  Schon vor Bocchi lobt Paleotti die Fähigkeit von Bildern, als Vorbilder zu wirken: „… così la pittura, rappresentandoci avanti gli occhi quelli che in alcuna virtù sono stati eccellenti, conseguentemente viene ad ammaestrare et eccitare gli uomini ad imitarli.“ (Paleotti 1582/1961, S. 156–157); vgl. Schröder 2003, S. 216 und Macho 2011.

447 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

konnte.304 Als Beispiele für solche durch Selbstkasteiung „Stigmatisierten“ nennt er neben dem Hl. Dominikus auch Brigitta von Schweden und die bei Cigoli dargestellte Elisabeth von Ungarn.305 Gleichzeitig mahnt Caffarini dazu, sich bei der Darstellung von Stigmatisierten strikt an die Quellen zu halten, die weder die sichtbare Stigmatisierung Katharinas noch die auf Franziskus’ Körper treffenden Blutstrahlen erwähnten.306 Der Wahrheit widersprechende Darstellungen müssten berichtigt werden, auch wenn dies Empörung hervorrufe, denn – so bemüht er den bekannten Topos – „veritas super omnia vincit“.307 Barbara Vinken erkennt in der 1266 als alleingültig erklärten Vita Bonaventuras einen „theologischen Paradigmawechsel“ in der imitatio Christi, der die Stigmatisierung als Überbietung des körperlichen Martyriums etablierte.308 Tatsächlich erzählen die frühen Viten, dass Franziskus nach seiner Konversion eigentlich als Märtyrer sterben wollte, davon jedoch verschont blieb und die Stigmata als eine Art Kompensation für den nicht erfolgten Märtyrertod empfing.309 In der kanonisierten Fassung jedoch wird den nun vor allem als spirituelle Zeichen interpretierten Stigmata ein höherer Wert beigemessen als der körperlichen Marter. Cigoli scheint seinem Franziskus beides zuschreiben zu wollen: eine Zeichnung durch spirituell-projektive Übertragung und leibliche Kasteiung. Cigolis Gemälde wird von Widersprüchen beherrscht – einer Spannung zwischen innerer Vision und leiblicher Erfahrung, Glück und Schmerz, Flammenschrift und Buchstabe, metaphysischem und materiellem Licht. Er entwickelt eine Bildlogik der reparatio similitudo Dei und zeigt in der zweiten Version in Fucecchio zugleich, wie man sich Bildern gegenüber angemessen zu verhalten hatte. Bemerkenswert allerdings ist, dass keine/r der bildinternen Betrachter/innen das Gemälde wirklich anschaut: Cigoli glaubt an die Wirkmacht der Bilder und suggeriert trotzdem, dass die eigentliche Vision vor dem (durch 304 

Vgl. Caffarini 1974, S. 122/dt. 2005, S. 138: „Man muss wissen, daß ein Stigma, allgemein gesagt, in zweifacher Weise verstanden werden kann: einerseits gemeinhin für jedes Leiden, jede Drangsal und jeden Schmerz […]; im besonderen aber rede ich von jeder Narbe und jedem Mal [qualibet cicatrice vel signo], das, sichtbar oder unsichtbar, außen oder innen im menschlichen Körper zurückgeblieben ist, sei es aus einer Wunde, einer Verbrennung, einem Druck oder Schlag oder durch irgendeine andere Art, die imstande war, dem Körper eine Verletzung zuzufügen, oder auch nur einen Abdruck als Folge dessen, was ihm auf irgendeine Weise zugefügt oder angetan wurde …“ 305  Vgl. Caffarini 1974, S. 123–125, 140 und 185; vgl. dazu Warr 2011, S. 234–235. 306  Caffarini 1974, S. 156 und Warr 2011, S. 237. 307  Ebd., S. 156. Gregorio Lombardelli verteidigt solche Darstellungen 1601 nicht nur in Bezug auf Konrad Brauns Regel, wonach ein auf Wahrheit, Geschichte und Tradition gegründetes, allgemein gebräuchliches Bild zu respektieren sei, sondern auch mit dem optimistischen Hinweis auf die Bildkompetenz der Betrachter: Niemand würde die dargestellten Stigmata als Beweis für deren Sichtbarkeit halten, ebenso wie niemand allein von dem Bild der Dreifaltigkeit darauf schließen würde, dass Gottvater ein alter Mann oder der Hl. Geist eine Taube sei (Lombardelli 1601, S. 32–33; vgl. Warr 2011, S. 242–245). 308  Vinken 2004, S. 16. 309  Vgl. ebd., S. 17–18.

448 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

228. Santi di Tito, Vision des Thomas von Aquin, 1593, Öl auf Holz, 362 × 233 cm, Florenz, S. Marco.

Bilder geschulten) inneren Auge stattfinden muss. Die Interiorisierung wird jedoch durch die körperliche Einschreibung ergänzt. Zum wahren Bild Christi macht sich, wer mit Hilfe der Geißeln auch seinen Körper zeichnet. Das wohl spektakulärste Beispiel eines „Bilds im Bild“, bei dem das interne Gemälde seinen Bildstatus beinahe verliert, indem seine Figuren lebendig werden, ist Santi di Titos Visione di San Tommaso in S. Marco aus dem Jahr 1593 (Abb. 228).310 Das Personal der Kreuzigung – Maria, Johannes, Maria Magdalena und Katharina – tritt aus dem schräg positionierten Bild hervor wie Schauspieler einer sacra rappresentazione. Vor der Gruppe kniet Thomas von Aquin, der sich weder im Maßstab noch farblich von den Bildfiguren unterscheidet. Direkt hinter ihm blickt ein Geistlicher auf die Betrachter, die zu Zeugen der Vision werden und ihrerseits das Bildpersonal verlebendigen. Während Santi di Tito trotz aller Leiblichkeit den visionären Charakter der Szene deutlich macht, geht Caravaggio in 310 

Vgl. dazu Spalding 1982, S. 423–426. Allgemein zum „Bild im Bild“: Horsthemke 1996.

449 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

229. Caravaggio, Madonna dei Pellegrini/Madonna di Loreto, 1604–1606, Öl auf Leinwand, 260 × 150 cm, Rom, Sant’ Agostino, Cappella Cavalletti.

seiner Madonna dei Pellegrini bezüglich der Verunklärung der „levels of unreality“ 1603/05 noch einen Schritt weiter (Abb. 229). Die Madonna di Loreto, die hier im Türstatt im Bilderrahmen erscheint, substituiert nicht die kultisch verehrte schwarze Madonnenstatue, sondern tritt wie eine Mutter in Fleisch und Blut auf, die von den bildinternen Betrachtern angebetet wird. Cigolis Betrachter hingegen beten Franziskus nicht an. Der Maler nutzt den Kunstgriff des „Bilds im Bild“ für einen Kommentar über das richtige Verhalten gegenüber Bildern, die vor allem zur imitatio der dargestellten Heiligen anregen sollen.311 Interessant ist diesbezüglich der Vergleich mit Ligozzis Darstellung der zu einer Kapelle umfunktionierten Zelle des Franziskus auf dem Monte della Vernia, in der

311 

Gabriele Wimböck unterscheidet zwei Typen von Bild-im-Bild-Darstellungen: die Rahmung eines Gnadenbildes und die Integration eines Gemäldes in den narrativen Kontext (vgl. Wimböck 2006, S. 138–139).

450 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

230.  Jacopo Ligozzi, Kapelle im Sanktuarium von La Verna, um 1600, Paris, DAGL RF 77.

die Stigmatisierung ebenfalls als „Bild im Bild“ erscheint (Abb. 230).312 Im Unterschied zu Cigolis Gemälde ist hier ein reales Ambiente gemeint, doch auch hier sind beide Welten insofern verbunden, als der Fluchtpunkt des gerasterten Fußbodens ausgerechnet auf dem rechten Wundmal liegt – eine Koinzidenz, welche die Analogie von Perspektive und Stigmatisierung erneut verdeutlicht. Und auch hier geht es beispielhaft um unterschiedliche Verhaltensweisen vor Bildern: Ein Pilger zieht beim Eintreten ehrfurchtsvoll den Hut, mehrere haben die Hände gefaltet. Angebetet wird jedoch nicht das Gemälde, sondern der dargestellte Heilige, dessen Vorbild den Pilger im Vordergrund dazu animiert, einem Bettler Almosen zu geben. Während die vor Cigolis Gemälde für Fucecchio praktizierten Übungen nur vermutet werden können, liegen für sein im Auftrag Massimo de’ Massimis gemaltes Ecce Homo aus dem Jahr 1607 dank eingehender Archivrecherchen Lothar Sickels aussagekäf312  Die Zeichnung erscheint in veränderter Form im Ligozzis Descrizione del Sacro Monte della Vernia von 1612, wo das Altarbild der penibel mit Buchstaben indizierten Kapelle Franziskus im Orantengestus zeigt und der Fluchtpunkt entsprechend verschoben ist. Die Stigmatisierung ist der letzten Tafel vorbehalten und trotz des didaktischen Anspruchs der Publikation ohne Linien dargestellt (vgl. Ligozzi 1612/1999, Tafel 11 und 21).

451 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

231. Cigoli, Ecce Homo, 1607, Öl auf Leinwand, 175 × 135,5 cm, Florenz, Galleria Palatina, Inv. Pal. 90.

452 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

232. Cigoli, Ecce Homo, Tusche auf Papier, Paris, DAGL Inv. 915.

tigere Quellen vor (Abb.  231).313 Anders als von Cardi behauptet, malte Cigoli das Gemälde nicht im Wettstreit mit Caravaggio und Passignano, sondern erhielt den Auftrag zu einem Zeitpunkt, als Massimi bereits zwei Gemälde Caravaggios, eine Dornenkrönung und ein Ecce Homo, besaß.314 Obgleich Sickel ein profanes Interesse des Auftraggebers an einem Künstlerwettstreit nicht ausschließt, rückt er Massimos religiöse Motivation in den Vordergrund, der sich als Patron zweier Kapellen und Mitglied zweier Laienbruderschaften engagierte.315 Spätestens 1609 trat er der Archiconfraternità von SS. 313 

Das Gemälde befand sich schon 1630 in der Sammlung von Don Lorenzo de’ Medici, wo es wohl von Francesco Furini studiert wurde, der Mitte der 1630er Jahre Cigolis Bildanordnung mit Balustrade übernimmt. 314  Sickel weist die Identifikation mit dem Ecce Homo in Genua zurück und vermutet, dass es sich bei der Dornenkrönung um das heute in Prato befindliche, als eigenhändig anerkannte Gemälde aus der Zeit um 1602 handelt, das annähernd gleiche Maße wie Cigolis Ecce Homo aufweist (vgl. Sickel 2003, S. 173–174). 315  Ebd., S. 178–183.

453 4. Wirkbilder: Stigmatisierung und Geißelung

Pietro e Paolo del Gonfalone bei, die in ihrem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufwändig freskierten Oratorium Exerzitien und Geißelungen durchführte.316 In Cigolis Gemälde fungiert Pilatus als admonitore, der das Schicksal Christi in die Hände der Israeliten bzw. der Betrachter legt, die er mit ausgestrecktem Zeigefinger und eindringlichem Blick adressiert: „Seht, da ist der Mensch!“ (Joh 19,5). Die Geste der Enthüllung des leuchtenden, von der Geißelung gezeichneten Oberkörpers, auf den der Scherge einen Schatten wirft, erinnert an den kurz zuvor von Jesus Pilatus gegenüber geäußerten Ausspruch: „Ich bin […] in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37). Die ästhetische Grenze wird von einer bildparallelen Balustrade markiert, die den Betrachter unmittelbar vor dem Fenster positioniert und durch den überhängenden Zipfel des roten Spottmantels eine Verbindung der beiden Welten schafft. Auf der Balustrade liegt eine blutbefleckte Geißel. Der Betrachter ist folglich als Mittäter angesprochen und aufgerufen zu wählen zwischen der metaphorischen Geißelung Christi durch die eigenen Sünden und der Selbstkasteiung, welche die Wunden Christi am eigenen Leib nachzeichnet. Die Tatsache, dass die Geißel in Cigolis Vorzeichnung im Louvre noch fehlt (Abb.  232), lässt auf eine nachträgliche Hinzufügung auf Wunsch des Auftraggebers schließen.317 Sickel hält es deshalb für möglich, dass die Geißel nicht nur als „Requisit“, sondern als Anzeichen einer konkreten „Devotionspraxis“ fungierte.318 Dafür spricht auch die Aufhängung des Gemäldes im Schlafzimmer des Auftraggebers, in dem ein Inventar aus dem Jahr 1644 (nach dem Transfer von Cigolis Gemälde nach Florenz) neben einem Betstuhl und einem Weihwasserbehälter auch die beiden, alltags mit rotem Stoff verhüllten Gemälde Caravaggios und eine Supraporte mit der Geißelung Christi verzeichnet, die wohl das Ambiente für Passionsmeditationen bildeten.319 Insofern als sich hier, wie Sickel betont, ästhetische, devotionale und repräsentative Interessen eng verschränkten, bleibt offen, ob Cigolis Geißel allein zum mentalen Nachvollzug der Passion animieren, die Erinnerung an kollektive Flagellationen wachrufen oder als Appell zur Selbstkasteiung dienen sollte. Dabei muss das eine nicht schmerzhafter und folgenreicher sein als das andere. Den Kontroverstheologen zufolge vermögen auch bloße Bilder „Veränderungen und merkliche Zeichen in den Körpern“ (alterazioni e

316 

Barbara Wisch konnte zeigen, dass es sich bei der in die Wanddekoration integrierten Madonna della Misericordia um den im Heiligen Jahr 1575 eingesetzten Gonfalone von Cesare Renzi handelte. Die Fresken stammen von Federico Zuccari, Cesare Nebbia, Raffaellino da Reggio und Marco Pina da Siena (vgl. Wisch 1990, S. 89–91). Sickel erkennt in Nebbias Ostentatio Christi aus dem Jahr 1576 das für ein Betrachterkollektiv gedachte Gegenstück zu Cigolis – für die private Andacht gefertigten – Ecce Homo (Sickel 2003, S. 183). 317  Vgl. Sickel 2003, S. 174 und Chappell 1989, S. 202. 318  Sickel 2003, S. 184–185. 319  Ebd., S. 198.

454 VII. Veritas affectiva: Bild und Betrachter

segni notabili nei corpi) herbeizuführen.320 Es bestehe kein Zweifel, dass nach dem lebenden Modell angefertigte Bilder (imagini fatte al vivo) „die unvorbereiteten Sinne gleichsam verletzen“ (quasi violentano i sensi incauti).321 Ein Beleg für die Wirkkraft der bloßen Betrachtung sind Paleotti zufolge auch die Stigmata, die sich bei der intensiven Betrachtung der Wundmale auf seinem Körper abgebildet hätten.322 Bilder, darin sind sich die Kontroverstheologen einig, lehren schneller und hinterlassen einen stärkeren und bleibenderen Eindruck als Texte. Der Betrachter wird durchbohrt, entflammt, geprägt wie mit einem Siegel.323 Im Umkehrschluss wird der Betrachter, der sich nicht zur lebendigen imago macht, selbst zu einem toten Bild: Die Betrachtung des mit „lebendigen Farben“ gemalten Bildes des ans Kreuz genagelten Christus steigere die Hingabe und „steche“ die Eingeweide; wer das nie erlebt habe, so Paleotti, sei „aus Holz oder Marmor“ (di legno o di marmo).324

320 

Paloetti 1582/1961, S. 230: „Per dimostrar questo, potressimo cominciare da quello che viene affirmato da’ filosofi e medici, dicendo che, secondo i varii concetti che apprende la nostra fantasia dalle forme delle cose, si fanno in essa così salde impressioni, che da quelle ne derivano alterazioni e segni notabili nei corpi …“ 321  Ebd.: „Essendo donque la imagininativa nostra così atta a ricevere tali impressioni, non è dubbio non ci essere istrumento più forte o più efficace a ciò delle imagini fatte al vivo, che quasi violentano i sensi incauti.“ 322  Ebd., S. 233: „Di s. Francesco parimente si legge che, guardando con forte ammirazione le sacre piaghe del Salvatore, ne ritrasse egli le sante stigmate nel corpo suo …“ 323  Vgl. ebd.: „… imprimere nel popolo il vero culto di Dio.“ (Meine Hervorheb.) 324  Ebd., S. 228: „Il sentire narrare il martirio d’un santo, il zelo e costanza d’una vergine, la passione dello stesso Cristo, sono cose che toccano dentro di vero: ma l’esserci con vivi colori qua posto sotto gli occhi il santo martirizzato, colà la vergine combattuta e nell’altro lato Cristo inchiodato, egli è pur vero che tanto accresce la divozione e compunge le viscere, che chi non lo conosce è di legno o di marmo.“ Eine solche Invertierung nimmt auch Jakob Gretser vor, der die von den Geißlern unberührten Zuschauer gefühllose Holzblöcke schilt (vgl. Largier 2001, S. 152). Unter jesuitischem Einfluss waren im 16. Jahrhundert auch in Deutschland Geißlerzüge wieder aufgekommen, die von protestantischer Seite stark kritisiert wurden. Besonders die Augsburger Karfreitagsprozession von 1605 wurde zu einem Feldzug gegen die Lutheraner.

VIII. Zusa m m enfassung : Wa s wa r Wahr heit?

Was ist Wahrheit? Cigoli würde vermutlich geantwortet haben: Das, was man mit eigenen Augen sehen und theoretisch erklären kann. Und das, was man nicht sehen, aber nach sorgfältiger Prüfung klar und überzeugend sichtbar machen kann. Dies, so hätte Galilei vielleicht hinzugefügt, ist kein Widerspruch, denn zwei Wahrheiten können einander nie widersprechen. Seine berühmte Aussage aus den Briefen an Benedetto Castelli und Cristina di Lorena kommt jedoch keinem Relativismus gleich: Es kann auch für Galilei nur eine Wahrheit geben. Die Wahrheit der Heiligen Schrift ist nur durch (fehlbare) Deutungen zugänglich. Die der Natur hingegen steht vor aller Augen, nicht jeder aber ist bereit, sie zu sehen oder ihre Sprache zu erlernen. Cigoli wettert gegen alle, die vor der Wahrheit die Augen verschließen, weniger von Erkenntnisinteresse als von Eitelkeit oder Sturheit getrieben sind oder nur für wahr halten, was aus der Feder einer Autoritätsperson stammt. Trotzdem ist er überzeugt, dass sogar falsche Theorien und Verfolgung der Wahrheit förderlich sind, denn ihr sei „es eigen, sich umso mehr zu enthüllen, je mehr man an sie rührt“.1 An sie gerührt aber wurde von vielen Seiten. Um 1600 konkurrierten nicht nur zwei, sondern viele Instanzen darum, die Wahrheit zu enthüllen. Cigolis Gemälde antworten auf diese Konkurrenz: In einigen Fällen gehorchen sie demonstrativ der von den Kontroverstheologen geforderten veritas historica oder der empirischen Wahrheit, in anderen Fällen folgen sie der ikonographischen Konvention oder den akademischen Regeln für „richtige“ Bilder. Die Abwendung von der komplexen Ästhetik des Spätmanierismus ist eine kunstinterne Entwicklung, die jedoch zugleich den Forderungen der Gegenreformatoren nach Allgemeinverständlichkeit und Überzeugungskraft entspricht und mit der philosophischen Vorstellung von der Wahrheit als etwas Einfachem korreliert. So unterschiedlich die Wahrheit, nach der jeweils gesucht wurde, so unterschiedlich und doch oft konvergent sind die Kriterien, nach denen die Richtigkeit von Aussagen oder Bildern 1 

Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, S. 66: „Imperò, Sig.r Galileo, la verità à per suo proprio, quanto più si rimesta, più presto si squopre. Sì che rallegratevi delle perseguzioni …“

456 VIII. Zusammenfassung: Was war Wahrheit?

bewertet wurde und die abschließend mit anachronistischen Begriffen gefasst werden sollen: Texttreue, Anschaulichkeit, Intersubjektivität bzw. Objektivität,2 Konsensfähigkeit, Klarheit, Schlichtheit und – Risikofreude.

Texttreue Für die Kontroverstheologen bestand ein Aspekt wahrhaftiger Kunst in ihrem Gehorsam gegenüber der veritas historica. Ein Bild war demnach wahr, wenn es einen Text getreu in eine visuelle Sprache „übersetzte“. Formale Lücken sollten nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit und des Decorums, aber auch in Entsprechung mit dem aktuellen Forschungsstand ausgefüllt werden. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei die Philologie und die Archäologie, die beispielsweise im Falle der Repräsentation des Gastmahls im Hause des Pharisäers Aufschlüsse über jüdische Speisegepflogenheiten lieferte, die nach Einschätzung Mercuriales zentral für das Verständnis der Wahrheit des Evangeliums waren (exigui ad percipiendam Evangelii veritatem).3 Den Zusammenhang der antiquarischen Forschung mit den normativen Bildtheorien des 16. Jahrhunderts erkannte schon Julius von Schlosser: Gilios „Wahrheitsforderung, die zunächst aus theologischen, kirchlichen Interessen heraus erhoben wird, berührt sich aufs engste mit der archäologischen eines immer stärker rückschauend und zu historischer Gewissenserforschung gestimmten Zeitalters“.4 Andererseits birgt die Bindung der Ikonographie an den Erkenntnisfortschritt die Gefahr der Relativierung christlicher Bildtraditionen und wurde darum nur selten konsequent durchgeführt.5 Auch Cigoli hält sich nicht in allen Fällen an die veritas historica. Entgegen Molanus’ Forderung, Josef als jungen custos zu zeigen, zeigt er ihn stets als Greis; in die Grablegung Pauli fügt er den im 4. Jahrhundert amtierenden Papst Silvester ein; in der Verkündigung von Montughi bringt der Engel Maria (de’ Medici) die Herrscherkrone; in vielen Gemälden aktualisiert er das Evangelium mittels modern gekleideter Figuren, in anderen hält er sich an die ikonographische Tradition, indem er beispielsweise Hieronymus im anachronistischen Kardinalshabit oder Maria bei der Himmelfahrt als junge Frau zeigt. Besonders die Debatte um Aktdarstellungen zeigt, dass Decorum und Wahrheitsansprüche kollidieren konnten, doch laut Gilio gibt es „einige Lügen im Dienste der Keuschheit, die lobenswert sind“.6 Einen Kompromiss findet Cigoli (zumindest Cardi zufolge) in der allegorischen Deutung seiner Psychefresken, mittels derer er seine unkeuschen Figuren in

2  Dieser Begriff wird hier anachronistisch gebraucht; zur Entwicklung des Ideals der Objektivität auch wissenschaftlicher Abbildungen vgl. Daston/Galison 2007 und Daston 2003. 3  Mercuriale 1601/2007, S. 136. 4  Schlosser 1924/1985, S. 381. 5  Vgl. Hecht 2012, S. 385. 6  Gilio 1564/1961, S. 78 und 81.

457 VIII. Zusammenfassung: Was war Wahrheit?

den Mantel einer anderen Wahrheit hüllt, die von den Prüfungen der menschlichen Seele handelt. Jene forschende Neugier, für die Psyche bestraft wird, fordert Cigoli jedoch in astronomischen Fragen ein und erwartet von den Astronomen, vor dem Neuen nicht die Augen zu verschließen. Das Neue war vor allem denjenigen Peripatetikern suspekt, für die Wahrheit allein in der Treue zu den aristotelischen Schriften bestand. Doch trotz aller Polemik gegen das Irren im Labyrinth der Texte gilt auch in der „neuen Wissenschaft“ das Autoritätsprinzip: Obwohl Galilei gegen das elitäre Bildungssystem wettert, sucht er sich selbst durch eine Anstellung als Hofmathematiker Anerkennung zu verschaffen, manipuliert Beobachtungsdaten, um seine Priorität zu sichern und wird von vielen wegen „seines Ansehens“ geschätzt, während sich Cigoli als „huomo di poco autorità“ in Diskussionen oftmals nicht durchzusetzen vermag.7

A nschaulichkeit Gegen die „Vergleichung der Texte“ und die „Papierwelt“ der Philosophen setzten Cigoli und der frühe Galilei ein entschiedenes Bekenntnis zur Möglichkeit visueller Erkenntnis.8 „Es reicht, dass ihr das Auge habt“ – schreibt Cigoli 1611 an seinen Freund, ohne damit die Notwendigkeit von Theorie in Frage zu stellen.9 Auch wenn Hans Blumenberg gerade „die Bindung an die Anschaulichkeit, an die Analogien des Optischen, die Voreiligkeit des Evidenzbewusstseins“ als Hindernis auf Galileis wissenschaftlichem Weg bezeichnet, besteht doch vor allem darin seine Revolution.10 Denn obgleich erst „die Ohnmacht der sichtbaren Wahrheit“ (und nicht zuletzt sein Erblinden) Galilei zu einer Konzeption von Wissenschaft geführt haben mag, „die ihre Wahrheit aus der Anschaulichkeit in die Abstraktion hinüberrettet“, verdankt sich das Umdenken in der Astronomie der Emphase der Sichtbarkeit.11 Dabei korreliert das Beharren auf der Notwendigkeit von Naturbeobachtung mit der Forderung der Kunstakademien zum Studium „dal naturale“: Ebenso wie das bloße Textstudium keine großen Philosophen hervorbringe, vermöge sich durch das Kopieren vorbildlicher Werke allein kein vollkommener Maler auszubilden.12 Galilei weiß, wovon er spricht, denn er verdankt seine bahnbrechenden Beobachtungen und Zeichnungen zu

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Cigoli an Galilei am 23.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 19, S. 67. Galilei an Kepler am 19.8.1610, Opere, Bd. X, S. 423 und Kepler an Galilei am 28.3.1611, Opere, Bd. XI, S. 77: „… ratiunculis puerilibus spaciatur Peripateticus in mundo chartaceo.“ 9  Cigoli an Galilei am 11.8.1611, Carteggio 2009, Nr. 18, S. 66: „… basta che abbiate l’ochio che non vi impedischino il corso dei vostri studi, il che vi si[a] sopra tutte le cose a quore, poi che la vita è breve.“ 10  Blumenberg 2002, S. 47. 11  Ebd., S. 22. 12  Vgl. Galilei, In orbe lunae, Opere, Bd. III.1, S. 395–396. 8 

458 VIII. Zusammenfassung: Was war Wahrheit?

einem nicht unerheblichen Teil seiner gemeinsam mit Cigoli erhaltenen Schulung in der künstlerischen Perspektive und seiner Zusammenarbeit mit Malern und Malerinnen. Nicht nur in der Astronomie, sondern auch in der von den Zeitgenossen häufig mit ihr verglichenen Anatomie gilt, dass man letztlich nur sieht, was man weiß oder zu sehen gelernt hat. Nur das durch Beschreibungen und Illustrationen gebildete Auge vermag die Disposition der Organe zu erkennen. Dass Cigoli sich für seinen scorticato möglicherweise mehr an Leonardos Zeichnungen als an den eigenen Sektionen orientierte, zeigt zwar die begrenzte Reichweite der Autopsie, zugleich aber belegt es die Prägnanz bildlicher Form, welche die Grundlage der gegenreformatorischen Bildtheorie bildet. In seinen Gemälden gibt er nicht nur empirisch Sichtbares wieder, sondern versucht darüber hinaus, auch Unsichtbares sichtbar zu machen. Anschaulich werden Visionen, Träume und Gefühle, aber auch mystische Entitäten wie die Dreifaltigkeit.

Objektivität Die Subjektivität visueller Erfahrung stellt Galilei und Cigoli, aber auch Visionäre wie Maria Maddalena de’ Pazzi vor das Problem der Authentifizierung des Geschauten. Teleskopbeobachtungen sind ebenso wie Visionen subjektiv und müssen von Experten anerkannt werden. Bilder machen die individuelle Erfahrung publik, scheinbar evident und nachprüfbar. Galilei sucht Intersubjektivität durch die Versendung von Fernrohren und die Verbreitung von Zeichnungen und Beschreibungen herzustellen, Maddalena durch die Beteuerung ihrer Wahrhaftigkeit und die Anrufung klerikaler Autoritäten, Scheiner und Cigoli durch die Hinzuziehung weiterer Zeugen und – bei den Sonnenflecken wie bei Visionen – durch die Objektivierung des Gesehenen mittels der Darstellung: Repräsentation ermöglicht eine intersubjektive Betrachtung und zielt hier wie dort auf Überzeugung. Galilei selbst verwendet religiöses Vokabular, wenn er in einem Brief an Paolo Gualdo triumphiert, durch sein Beispiel viele „Ungläubige“ – einschließlich des Jesuitenastronomen Clavius – „bekehrt“ zu haben.13 Die Glaubwürdigkeit von Aussagen war dabei umso größer, je weniger sie von persönlichen Interessen geleitet zu sein schienen: So erklärt sich Maria Maddalena de’ Pazzis wiederholte Beteuerung, nur „Instrument“ oder „Mund der Wahrheit“ (bocca della verità) zu sein und so erklärt sich auch die Bedeutung des Esels, den Cigoli in Cortona als Zeugen der Transsubstantiation inszeniert. Am „wahrsten“ waren deshalb auch Bilder, die nicht von menschlicher Hand gefertigt waren. Mit der Erfindung des Helioskops 13  Galilei an Paolo Gualdo am 16.6.1612, Opere, Bd. XI, S. 326: „… continuamente si vien convertendo qualche incredulo …“ Vgl. auch Piero Dini an Cosimo Sassetti am 7.5.1611, in: Opere, Bd. XI, S. 102 und Marcus Welser an Galilei am 5.10.1612, in: Galilei 1613/1967, S. 99: „… la […] lettura mi convertì in modo, & non mi vergogno di confesserlo, che ciò, che da principio mi parve paradosso, hora mi riesce indubitato …“

459 VIII. Zusammenfassung: Was war Wahrheit?

stand ein Instrument zur Verfügung, mittels dessen die Sonne gleichsam ihr Selbstporträt malen konnte. Diese verae effigies der Sonnenflecken entsprechen dem von Cigoli am Modell der Camera obscura erörterten Mythos vom Ursprung der Malerei aus der Projektion, die von vornherein richtige, vollständige und farbige Bilder produziert.14 Den Vorzug ‚automatisch‘ generierter Bilder gegenüber dem Augenmaß unterstreicht Cigoli auch in seinem Perspektivtraktat, in dem er zwei Apparate vorstellt, mittels derer sich Zeichnungen „mit größerer Genauigkeit“ (con maggior giustezza) anfertigen lassen.15 Die Tatsache, dass Cigolis Zeichnungen kaum Hinweise auf den Gebrauch der Geräte geben, lässt sie jedoch eher als Ausdruck seines Wahrheitsanspruchs denn als Arbeitsmittel erscheinen. Mit den Geräten legt Cigoli den Schwerpunkt seines Traktats anders als Alberti nicht auf die Herstellung von Bühnen, sondern auf die Verkürzung von Körpern und Objekten, denen in seinen Gemälden eine eigene, taktile Wahrhaftigkeit zukommt. Ansonsten gibt es in Cigolis malerischem Werk mannigfaltige Abstufungen „wahrer Bilder“: von Gemälden, die durch die Anwendung der „vere regole“ der Perspektive16 , der Anatomie oder der Farb- und Schattengebung richtig sind, über Figuren „dal vero“ bis hin zu dem „durch ein Wunder oder ohne“ entstandenen Kopf des Hl. Franziskus und der Kopie nach der vera effigies von Francesco di Paola. Dass man dabei auf der aufwändigen Versendung des Originals bestand, erklärt sich nicht nur durch die potentielle Ungenauigkeit von Stichen, sondern auch durch die Aufladung des Prototyps, dessen Aura auf die Kopie abstrahlen und sie zum authentischen (und indulgenzfähigen) Bild machen sollte.

Konsensfähigkeit Noch stärker wird die Beweiskraft von Aussagen und Bildern, wenn sie auf Blindproben beruhen, also unabhängige Beobachtungen durchgeführt und durch ein standardisiertes Verfahren aufgezeichnet werden. Auf die Überzeugungskraft des consensus omnium setzt schon Kepler, wenn er Galilei 1610 empfiehlt, Briefe von verschiedenen Mathematikern zu erwirken, die dem Publikum den Eindruck vermitteln, „alle seien allenthalben eines Sinnes“.17 Scheiner zieht 1611 „die Augen verschiedenster Leute hinzu, die alle ohne Zweifel dasselbe in derselben Lage, Anordnung und Zahl sahen“.18 Galilei 14  Vgl. Galileo 1613/1967, S. 53–54 und Cigoli 1628/2010, fol. 6v, S. 118–119. Dass bei der zunehmend standardisierten Fixierung der Sonnenflecken trotzdem der individuelle (Denk-)Stil der Beobachter zum Ausdruck kam, wurde erst von der späteren Forschung aufgezeigt (vgl. Biagioli 2002 und Bredekamp 2007, S. 236). 15  Cardi 1628/2010, fol. 83v, S. 288. 16  Cigoli 2010, fol. 60r, S. 235. 17  Kepler an Galilei am 13.10.1597, Opere, Bd. X, S. 70. 18  Scheiner an Welser am 12.11.1611, veröffentlicht 1612 in Augsburg als Tres Epistolae de Maculis Solaribus, fol. 1r–v.: „… Itaque adhibuimus diversissimorum oculos, qui omnes nullo dempto, eadem, eodemq; situ & ordine & numero viderunt.“

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ist stolz auf die „haargenaue“ Übereinstimmung der „in entferntesten Regionen angefertigten Zeichnungen“ der Sonnenflecken.19 1612 berichtet sogar Scheiner dem ‚Doppelkorrespondenten‘ Welser begeistert von der Kongruenz der Beobachtungen der rivalisierenden Astronomen: „Du wirst staunen, vergleichen, dich wundern und erfreuen, sobald du siehst, dass bei der so großen Distanz zwischen unseren Orten der eine mit dem anderen hinsichtlich Zahl, Ordnung, Größe und Gestalt der Flecken so angenehm in Einklang steht“.20 Noch bei der Ausschreibung eines Mond-Malwettbewerbs durch Ferdinando II. im Jahr 1642 galt die unabhängige Beobachtung durch die talentiertesten Maler von Florenz als Wahrheitsbeweis.21 Dasselbe Prinzip ist auch in der Geschichtsschreibung wirksam: Als Mercuriale nach Abschluss seiner Schrift über das Triklinium auf eine Abhandlung stößt, in der ebenfalls für eine Übernahme der römischen Speisegewohnheiten durch die Juden argumentiert wird, scheint ihm die unabhängige Formulierung derselben These für deren Richtigkeit zu bürgen: „Angesichts der großen Macht der Wahrheit ist anzunehmen, dass beide von demselben Geist getrieben wurden; alles Gesagte muss folglich als wahr und unablehnbar angesehen werden“.22 Ein frühes Paradigma findet die blinde Übereinstimmung unabhängiger Experten bei der Abfassung der Septuaginta, deren Legitimität auf der Konvergenz von siebzig Übersetzungen beruht, die der Einwirkung des Heiligen Geistes zugeschrieben wurde. Dieser Geist soll auch die Eintracht der katholischen Kirche begründen, die Dissens per se mit Misstrauen betrachtete und beim Konzil interne Dissonanzen so weit wie möglich auszuklammern suchte. Schon die innerkonfessionellen Divergenzen der Reformatoren, die den Urvater – wie in der „Anatomia Lutheri“ gezeigt – zerfleischen, scheinen ihre Lehren daher zu diskreditieren. Übereinstimmung legitimiert aber auch das ästhetische Urteil.23 Bocchi sieht seine Einschätzungen nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass sie von allen geteilt würden. Cardi behauptet, Cigolis Bilder hätten „einstimmige Zustimmung“ gefunden und das Innere „aller“ bewegt. Im Falle der Kreuzabnahme wie auch der Stigmatisierung bürgt die Uni-

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Vgl. Galilei 1613/1967, S. 56: „E chi non è capace di più, procuri di aver Disegni fatti in regioni remotissime, e gli conferisca con i fatti da se negli stessi giorni, che assolutamente gli ritroverà aggiustati con i suoi; ed io pur ora ne ho ricevuti alcuni fatti in Brusselles dal Sig. Daniello Antonioni ne’ Giorni 11.12.13.14.20.21. di Luglio, i quali si adattano a capello con i miei, e con altri mandatimi di Roma dal Sig. Lodovico Cigoli famosissimo Pittore, ed Architetto …“ 20  Scheiner an Welser, zit. in dessen Brief an Giovanni Faber vom 9.11.1612, Opere, Bd. XI, S. 428. 21  Baldinucci 1812, Bd. XII, S. 407: „… per maggiore illustrazione e conferma delle veritadi, scoperte per mezzo di quel nobile strumento.“ 22  Mercuriale 1601/2008, S. 183: „Unde quae solet esse veritas ingens vis, puto eodem spiritu ambos nos ad ea scribenda fuisse impulsos et propterea quicquid ea de re dictum fuit pro vero et irreffutabili habendum esse.“ 23  Zur Genese des Ideals der „aperspektivischen Objektivität“ aus der Kunstkritik vgl. Daston 2003, S. 135–137.

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versalität der Rührung für die Wahrheit des Bildes. Dabei schließt Konsensfähigkeit Differenzierung nicht aus: Gerade der universalistische Anspruch Paleottis, eine „ars una“ für alle gesellschaftlichen Gruppen zu schaffen, verlangt Bilder, die jedem Betrachter das ihm Angemessene bieten. Gänzlich erfüllt sich dieser Anspruch, sobald das Bild seine Betrachter zur mentalen oder körperlichen imitatio anregt. Dass solche Wirkungen jedoch publikumsabhängig sind, zeigt insbesondere das Beispiel des Ecce Homo, das seinen Auftraggeber möglicherweise zur Geißelung animierte, Kunstkenner wie Commodi und Bilivert aber zum Lob der freien Pinselführung bewegte.

K larheit Der Anspruch auf Objektivität setzt Öffentlichkeit, der Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit Klarheit voraus. Cigoli drängt Galilei mehrfach zur Publikation seiner Thesen auf Italienisch und Latein, um einen möglichst breiten Leserkreis zu erreichen. Er lobt die chiarezza des ersten Briefes über die Sonnenflecken und beklagt sich über den „aufgeblasenen Ton“ (stile gonfio) des Vorworts von Alessandro dei Lincei.24 Zuwider sind ihm nebulöse Ausführungen wie die von Lodovico delle Colombe, dessen Imprese Cigoli zufolge ein verstopfter Kamin sein müsste.25 Galilei wählt meist eine dialogische Struktur, um die Wahrheit im Austausch verschiedener Positionen aufscheinen zu lassen. Eine dialogische Struktur wählt auch Cigoli, der durch Blicke aus dem Bild, Identifikationsfiguren und an die ästhetische Grenze gesetzte Akteure den virtuellen Raum zum Betrachter öffnet. Wie wissenschaftliche Schriften, so sollen auch Bilder nach Gilio keines „Dolmetschers“ bedürfen.26 Es gelte zu vermeiden, dass zehn Betrachter zehn unterschiedliche Interpretationen diskutierten oder, schlimmer noch, ein einzelner Betrachter innerlich „in tausend Teile zerrissen“ werde und über das Nachdenken die Andacht vergesse.27 In Cigolis Gemälden verbindet sich die Liebe zum Detail mit dem Wunsch nach Vereinfachung und emotionaler Prägnanz. Sowohl im Vergleich mit seinen Vorgängern als auch in der Entwicklung des Gesamtwerks lässt sich eine Tendenz zur Reduktion und Komprimierung feststellen, die Parallelen in Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung besitzt. Das Wahrheitskriterium der Schlichtheit erhält eine moralische Komponente, wo Ornament und Allegorie mit Falschheit und Verstellung assoziiert werden, semplicità aber mit onestà. Schlicht ist die Behausung Marias; schlicht ist Galileis, von ihm selbst zur Reliquie stilisiertes Fernrohr; schlicht sind das Verkündigungsbild von SS. Annunziata und die Florentiner Domkuppel bis zu ihrer Ausmalung. Schlicht ist auch die Sprache des Evan24  Cigoli an Galilei am 6.10.1612, Carteggio 2009, Nr. 42, S. 110 und am 24.02.1613, ebd., Nr. 51, S. 125. 25  Vgl. Cigoli an Galilei am 1.2.1613, ebd., Nr. 50, S. 124. 26  Vgl. Gilio 1563/1961, S. 98. 27  Paleotti 1584/1961, S. 408.

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geliums, der stile pescatorio, an dem sich die Maler ein Vorbild nehmen sollten. Schlicht sind deshalb die Bilder der Reformmaler im Vergleich mit den konvulsivischen Gemälden der Manieristen. Schlicht ist die von Cigoli verteidigte toskanische Säulenordnung und schlicht ist auch der einstimmige Gesang, der den Komplexitäten des Kontrapunkts vorzuziehen war, wenn es galt, ehrliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen und zu wecken.

R isiko Überzeugender wird eine Wahrheit, wenn der parrhesiastes eine Gefahr auf sich nimmt, weil er seine Überzeugung gegen die Mehrheit oder Höhergestellte vertritt.28 Dieses Risiko haben die auf Cigolis Gemälden stets den Tyrannen gegenübergestellten Märtyrer übernommen. Ihre Leidensfähigkeit dient als Beweis der Wahrheit ihres Bekenntnisses. Mit Blick auf Cigolis anatomische Forschungen erklären Cardi und Baldinucci den Künstler zum Märtyrer der Forschung, da er wiederholt seine Gesundheit massiv gefährdet habe, um seinem Erkenntnisdrang und seinen Ansprüchen an einen vollkommenen Maler Genüge zu tun. Galilei hat den Einsatz gewagt, indem er lange darauf beharrte, nicht nur Hypothesen zu vertreten, sondern im Modus der Behauptung zu sprechen. Drei Jahre nach Cigolis Tod erhält er deshalb eine Verwarnung, 1633 entschied er sich gegen das Märtyrertum und schwor seinen Wahrheitsansprüchen ab. Trotzdem verlangt der Einsatz für die Wahrheit stets den ganzen Menschen – für Valerio verdient nur dasjenige Nachdenken den Namen Philosophie, das bei der Suche nach Wahrheit „an den Nägeln nagt“ und nicht praktiziert werde, um beim Plaudern gelehrt zu erscheinen.29 1610 vergleicht Galilei die Peripatetiker, die weder die Sterne noch überhaupt das Fernrohr ansehen wollen und ihre Augen vor der lux veritatis verschließen, mit Odysseus, der seine Ohren dem Gesang der Sirenen verschlossen habe.30 Tatsächlich stellte Odysseus nur seine Gefährten mit Wachs taub, während er sich selbst an den Mast seines Schiffes binden ließ, um der seduktiven Musik gefahrlos lauschen zu können.31 Trotz dieser Ver-

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Vgl. Foucault 1983/1996, besonders S. 9–19. Luca Valerio an Galilei am 23.8.1612, Carteggio 2009, Nr. 38, S. 103: „… però filosofia se dee chiamare quella che per lo più hoggi dì s’usa per tedio di starsi a roder l’unghie in contemplando con vero disidèro di saper la verità, et non per acquistar cicalando apparenza d’huomo dotto.“ 30  Galilei an Kepler am 19.8.1610, Opere, Bd. X, S. 423: „Quid dices de primariis huius Gimnasii philosophis, qui, aspidis pertinacia repleti, nunquam, licet me ultro dedita opera millies offerente, nec Planetas, nec [Luna], nec perspicillum, videre voluerunt? Verum ut ille aures, sic isti oculos, contra veritatis lucem obturarunt. Magna sunt haec, nullam tamen mihi inferunt admirationem. Putat enim hoc hominum genus, philosophiam esse librum quendam velut Eneida et Odissea; vera autem non in mundo aut in natura, sed in confrontatione textuum (utor illorum verbis), esse quaerenda.“ 31  Diesen Hinweis verdanke ich Wenzel Steinig. Ihm und den anderen Teilnehmern und Teilnehmerinnen an meinem Seminar „Was war Wahrheit?“ an der HU Berlin im Sommer 2011 sei an dieser Stelle für zahlreiche Anregungen gedankt. 29 

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wechslung, die dazu einlädt, Clavius als Odysseus zu interpretieren, der die Musik der neuen Wissenschaften hört, ohne sich von ihr beirren zu lassen, ist bemerkenswert, dass Galilei die Wahrheit durch den Vergleich mit dem Gesang der Sirenen als etwas zugleich Gefährliches und Verführerisches beschreibt. Es ist die Erotik der Wahrheit, die Pietro della Vecchia seiner Allegorie der veritas verleiht, in deren Arme sich die Philosophen flüchten und die Cigoli auch der Tugend unterstellt, die aus Dornen emporwächst und den Anfeindungen des Neides widersteht (vgl. Abb. 92). Ob für den umstrittenen Marino, den „nackt, nur mit dem Schild der Wahrheit“ kämpfenden Galilei oder für sich selbst entworfen, zeigt die Zeichnung die Ubiquität von Gegenspielern.32 Zu einem Kämpfer für die Wahrheit macht sich Cigoli auch mit der Präsentation von Galileis Mond in der Cappella Paolina. Insofern jedoch auch mit Klarheitsanspruch gemalte Bilder nie eindeutig sein können, ließen sich seine Flecken auch als Folge der Dichteunterschiede innerhalb der Mondmaterie deuten. Zudem konnten die macchie sowohl die Korrumpiertheit wie auch die Schönheit des Mondes anzeigen; er konnte folglich sowohl Symbol der besiegten Häresien als auch Zeichen der Himmelskönigin sein. Cigoli selbst allerdings wird die veränderlichen Flecken wie Galilei positiv gesehen haben, der die versteinernden Augen der Medusa mehr fürchtete als die corrutibilità der Himmelskörper.33 Auch wenn er keinen Skandal produzieren sollte, war Cigolis Mond ein Manifest – nicht nur für seine Freundschaft mit Galilei, sondern auch für die Sichtbarkeit – in astronomischer wie auch in eschatologischer Hinsicht. Denn sein virtuelles Fernrohr überbrückt nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit. Es macht nicht nur die Mondflecken für das bloße Auge sichtbar, sondern lässt auch in eine Zukunft blicken, in der die Kirche über die Schlange der Häresien triumphiert. In der Kapelle verbinden sich alle erläuterten Wahrheitsansprüche: Die philologischen Debatten finden ihren Niederschlag in der Diskussion um die von der Übersetzung des Personalpronomens der Genesisepisode mit ipse oder ipsa abhängigen Beteiligung der Gottesmutter am Erlösungswerk. Dieses wird in den Wandfresken durch die Vielzahl der durch Maria und ihre Bilder gewirkten Wunder und Visionen ‚belegt‘. Ihre Unbeflecktheit präsentiert sich als Erfüllung der Weissagungen der Propheten. Das Fresko macht zweierlei Visionen ‚objektiv‘ sichtbar: die der Johannesapokalypse und die durch das Fernrohr, wobei die Perspektivkonstruktion der Kuppel auf denselben „euklidischen Gesetzen“ beruht wie das Teleskop.34 Der ‚dal naturale‘ gemalte Mond entsprach in letzter Instanz durchaus den Forderungen der Bildtheoretiker: War eine Wahrheit erkannt, musste sie dargestellt werden. 32  Galilei, Fragmenti, Opere, Bd. IV, S. 51: „Ma io, che non sono Orlando, nè ho altro d’impenetrabile che lo scudo della verità, disarmato e nudo nel resto, ricorro alla protezione dell’A.V.…“ 33  Vgl. Galilei 1613/1967, S. 147. 34  Vgl. Galilei an Benedetto Castelli am 25.7.1638, Opere, Bd. XVII, S. 360: „… il mio artifizio depende da una proposizione di Euclide.“ Vgl. dazu Bredekamp 2007, S. 336.

464 VIII. Zusammenfassung: Was war Wahrheit?

233. Cigoli, Zähmung des Windes, braune Tusche auf Papier, 39,7 × 25,7 cm, Florenz, GDSU 993 F.

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234. Verso von Abb. 233: Erscheinung Christi am See Tiberias.

235. Cigoli, Erscheinung Christi am See Tiberias, 1607, Florenz, Galleria Palatina, Inv. Pal. 27.

Coda : Die Zähmung der Winde In seinen letzten Lebensjahren war Cigoli häufig Anfeindungen ausgesetzt, die ihn wie den gebrochenen Ast aus Dantes Inferno seufzen ließen: „Cigola quel vento che và via.“35 Doch gerade als Zeichner des Windes zeigt Cigoli eine in seinen Gemälden wenig manifeste und darum vernachlässigte spielerische Seite. Eine Zeichnung der Zähmung des Windes zeigt, was geschah, wenn Cigoli seiner Feder freien Lauf ließ (Abb. 233).36 Ein großzügiger Schwung über das Blatt markiert die Reling des auf dem aufgewühlten See tanzenden Bootes, ein zweiter das vom Wind geblähte Segel. Ein nackter Ruderer ver-

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Cardi 1628/2010, fol. 4r, S. 109. Dante, Inferno, xiii.2. Zur komplexen Auftragslage vgl. Chappell 1992, S. 150–153. Ein Brief Niccolò Carduccis an den Sekretär des Großherzogs, Lorenzo Usimbardi, vom 24.9.1604 kommentiert zwei Zeichnungen für eine Zähmung des Windes und eine Berufung Petri, die Chappell mit Recto und Verso von GDSU 993 F identifiziert (ASF Fondo Mediceo, filza 1288, fol. 8r–v). Tatsächlich spricht aber vieles dafür, dass es sich dabei um eine erste Studie handelte und Cigoli die Motive dann der besseren Vergleichbarkeit wegen auf zwei Blätter übertragen hat – möglicherweise die beiden blau-braunen Aquarellstudien in Rom. 36 

466 VIII. Zusammenfassung: Was war Wahrheit?

sucht es unter Kontrolle zu bringen, während die anderen Passagiere sich furchtsam gebärden. Ein Apostel starrt mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund aus dem Bild, ein anderer hält sich die Augen zu. Dem Chaos gebietet Christus mit einer machtvollen Geste Einhalt. Dabei wird er selbst von einer Böe aus der Gegenrichtung erfasst, die Haare und Gewand nach vorne bläst. Der Wind presst den Stoff gegen Rücken und Beine, der wirbelnde Gewandsaum antwortet auf die aufgepeitschten Wellen. Signifikanterweise hat Cigoli die Zeichnung zwar kopiert, nicht aber seinem Auftraggeber vorgelegt, der ihm offenbar in einem ersten Durchgang Freiräume bei der Motivwahl gelassen hatte.37 Stattdessen präsentierte er eine Berufung Petri und eine Erscheinung des Auferstandenen am See Tiberias, deren ersten Entwurf er auf dem Recto der Zähmung skizziert hatte (Abb. 234).38 Hier ist der Windebändiger selbst gebändigt: Aus der zerzausten, schmalgliedrigen Sturmfigur ist ein statuarischer, in schwere Gewänder gehüllter Christus geworden, der auf ein prall gefülltes Fischernetz weist.39 Die aufsteigende Diagonale und die gegenläufige Haltung Christi, der sich beim Vorwärtsgehen zu Petrus zurückwendet, betont den Weg der Heilsgeschichte. Im fertigen Gemälde ist der weisende Arm zurückgenommen, die Dynamik der Seeleute und der dramatische Moment des Erkennens werden aufgefangen durch die rhythmische Flächengestaltung und die monochromen Gewänder (Abb. 235). Es würde das Bild Cigolis verzerren, wollte man behaupten, allein die Vorderseite des Blattes zeige seine ‚wahre‘ Persönlichkeit. Vielmehr liegt sie in dieser Spannung, die Cigoli wie seine Epoche durchzieht, und ihn zu einer „Gestalt des Überganges“ oder gar zu einem der „Begründer des Barockstils in der Malerei“ macht.40

37 

Vgl. ICG 125614, braune und blaue Tusche auf Papier, 41,2 × 26,1 cm und DAGL RF 11985. Bzgl. des Sujets gibt es einige Unklarheiten. Es scheint, als habe Cigoli mit kleinen Veränderungen eine Terza Apparizione in eine Vocazione di S. Pietro verwandelt, von der auch Cardi spricht. 39  Dem heute im Palazzo Pitti aufbewahrten Gemälde der Berufung Petri kommt GDSU 8803 F am nächsten. 40  Blumenberg 2002, S. 27 und Busse 1911, S. 63; vgl. Hall 2010, S. 255. 38 

Abkür zungen

APF ASF ASR AST AT BAV BMLF BNCF BRF BVR Carteggio DAGL GDSU ICG KdZ Opere WA

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Wo nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen von der Autorin. Heute ungebräuchliche Orthographie und Fehler (insbesondere in Cigolis Briefen) wurden nicht eigens markiert. Im Falle des Perspektivtraktats wurde die von Filippo Camerota eingeführte Zitierweise übernommen. Für die Unterstützung bei den Übersetzungen danke ich Angela Carone.

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R egister

Accolti, Pietro di Fabrizio 303, 304 Acquapendente, Girolamo Fabrici d’ 285 Adriani, Marcello di Giovanni Battista 146 Agrate, Marco d’ 292 Agucchi, Giovanni Battista 244, 245, 255, 269 Alberti, Cherubino 318 Alberti, Durante 396 Alberti, Leon Battista 15, 253, 254, 256, 278, 279, 281, 300, 307, 308, 328, 338, 377, 411, 412, 459 Albertus Magnus 378 Aldrovandi, Ulisse 15, 58, 227, 285, 288, 292, 395 Alexander VII. (Fabio Chigi) 394, 418 Alhazen (Ibn al-Haytham) 163, 326 Allori, Alessandro 18, 19, 63, 82, 83, 115, 116, 134, 225, 233, 234, 252, 264, 266, 267, 282, 284, 342–344, 392, 398, 402, 403 Allori, Cristofano 116, 272, 273, 296, 358 Ammannati, Bartolomeo 334, 335, 391, 396 Andreae, Johann Valentin 189, 286 Angelis, Paolo de 179, 181 Anjou, Charles d’ 83, 84 Anselm von Canterbury 175 Antoniano, Silvio 16, 36, 72, 74 Apuleius 26, 404–408 Archimedes 203 Aresi, Paolo 184, 185 Aretino, Pietro 9, 216 Aretusi, Cesare 226 Ariosto, Ludovico 30, 90, 221, 356, 357, 361, 362 Aristoteles 39, 59, 88, 89, 104, 108, 161, 198, 199, 206–211, 256, 260, 341, 381, 391

Armenini, Giovanni Battista 131, 238, 239, 255, 256, 285, 298, 309, 372 Arnold, Gottfried 80, 127 Arrigoni, Pompeo 342, 388 Artusi, Giovanni Maria 365, 366 Augustinus 44, 52, 88, 105, 133, 141, 150, 151, 152, 175, 194, 195, 241, 272, 286, 297, 321, 323, 324, 344, 386 Averroës 162 Bacon, Francis 196, 211 Baglione, Giovanni 46, 75, 118, 172, 219, 231, 311, 345, 399, 404 Baldassare, Duccio di 33 Baldinucci, Filippo 20, 24, 66, 246, 247, 267, 269, 270, 280–285, 316, 349, 358, 396, 401, 414, 421, 430, 431, 462 und passim Bandinelli, Baccio 281, 282, 293, 294 Bandini, Pierantonio 73 Barbaro, Daniele 57, 161 Barberini, Maffeo 22, 184, 185, 200, 207, 401 Bardi, Giovanni Maria de’ 362, 366 Bargagli, Girolamo 97 Barocci, Federico 102, 115, 116, 177, 246, 261, 262, 268, 269, 313, 372, 384, 412, 421, 423, 432 Baronio, Cesare 76–80, 128, 130, 141, 172, 189, 229, 230, 348, 391, 400 Barry, Paul de 413, 446 Bellarmino, Roberto 39, 45, 76, 77, 98, 106, 113, 122, 127, 190, 191, 192, 199, 212, 340 Bellori, Giovanni Pietro 27, 28, 40, 174, 239, 243, 249, 357, 372

516 Register Beni, Paolo 89, 159, 357 Benivieni, Girolamo 92 Benoît, René 374 Bernini, Gian Lorenzo 17, 224, 269, 393, 394 Bernini, Pietro 339 Bilivert, Giovanni 270, 272, 273, 308, 431, 461 Bizzelli, Giovanni 83 Bloemaert, Abraham 64, 65 Bocchi, Francesco 34, 110, 232, 233, 240, 241, 258, 295, 328, 333, 341, 348, 349, 351, 353, 369, 378, 381, 446, 460 Bollandus, Johannes 76, 77 Bolswerth, Boëtius à 184, 185 Bonasone, Giulio 112, 290 Bonaventura (Giovanni di Fidanza) 196, 374, 427, 433, 447 Bonifacio, Giovanni 386 Borgarucci, Prospero 214, 286, 294 Borghese, Scipione 21, 179, 187, 345, 399, 404 Borghini, Raffaello 29, 37, 41, 43, 47, 74, 88, 180, 238, 253, 327, 329, 337, 339, 340, 391–396 Borghini, Vincenzo 82, 83 Borgia, Francesco 172, 355, 379 Borromeo, Carlo 15, 235, 247, 292, 393, 413, 417, 424, 426, 437, 438 Borromeo, Federico 36, 42, 62, 67, 75, 111, 228, 234, 246, 247, 293, 355, 411 Borromini, Francesco 17 Boscaglia, Cosimo 190 Boschi, Andrea 85 Boschi, Fabrizio 432 Boscoli, Andrea 240, 293 Bosio, Antonio 63 Botti, Elisabetta 427 Botticelli, Sandro 97, 99, 224 Bourdichon, Jean 235, 236, 237 Bouzonnet-Stella, Antoine 68 Boyle, Robert 9, 209 Bozio, Francesco 170, 172, 184 Bozio, Tommaso 170, 172, 184 Brambilla, Giovanni Ambrogio 236 Braun, Konrad 14, 447 Breu, Jörg d.Ä. 266 Bril, Paul 318 Bronzino, Agnolo 44, 272, 292, 293, 331, 332, 392, 395, 416 Brunelleschi, Filippo 92, 344, 353, 390, 398

Brusasorci, Domenico 237, 267 Bugiardini, Giuliano 382 Buonarroti, Francesco 23 Buonarroti, Michelangelo 17, 23, 24, 26, 34, 54, 232, 238, 243, 245, 246, 267, 270, 280, 281, 287, 292, 293, 295, 309, 311, 315, 317, 331, 371, 372, 382, 392, 395, 398, 416, 418 Buonarroti, Michelangelo d.J. 24, 159, 188, 368 Buontalenti, Bernardo 19, 85, 110, 125, 235, 300, 301, 303, 339, 366, 368 Caccini, Giovanni 339 Caccini, Giulio 366, 367 Caffarini, Tommaso 446, 447 Callot, Jacques 118, 220, 285 Calvin, Johannes 212 Campana, Cesare 81 Campanella, Tommaso 76, 89, 90, 91, 189, 191, 286, 325 Cano, Alonso 237 Cano, Melchior 127, 191 Cappello, Bianca 234, 235 Capponi, Luigi 21 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 17, 40, 126, 134, 179, 184, 219, 241, 242, 252, 258, 265, 296, 376, 385, 390, 398, 399, 448, 452, 453 Carbone, Ludovico 355 Cardi, Giovan Battista 19–22, 50, 220, 231, 232, 282, 302, 404, 410 und passim Cardi, Sebastiano 305 Carducci, Niccolò 465 Carducho, Vicente 146 Carena, Cesare 133 Carracci, Agostino 267, 283 Carracci, Annibale 28, 72, 134, 177, 228, 239, 241, 243, 244, 269, 270, 340, 357, 374, 378, 412, 413, 420 Carracci, Ludovico 135, 244, 344, 373, 376, 382 Castelli, Benedetto 165, 190, 191, 194, 196, 200, 208, 209, 214, 455 Castello, Bernardo 118 Catharinus (Ambrosius Catharinus Politus) 14, 339 Cati, Pasquale 107, 108, 212 Cellini, Benvenuto 252, 255 Cesari, Giuseppe (Cavaliere d’Arpino) 172, 183, 219, 231, 384

517 Register Cesariano, Cesare 95, 96 Cesi, Federico 22, 26, 162, 180, 187, 191, 199, 217, 218 Chacón, Pedro 56, 61, 62, 67, 69, 195 Champaigne, Jean-Baptiste de 68 Champaigne, Philippe de 68, 329 Chantelou, Paul Fréart de 68 Charron, Pierre 112 Cherso, Francesco Patrizi da 57, 81 Ciampelli, Agostino 240 Ciampoli, Giovanni Battista 159, 191 Cicero, Marcus Tullius 64, 83, 213, 319, 354, 379, 380, 387 Cigoli (Lodovico Cardi) passim Circignani, Niccolò, gen. Pomarancio 130, 131, 134 Clavius, Christophorus 7, 160, 162, 163, 188, 190, 195, 196, 204, 458, 463 Clemens VIII. (Ippolito Aldobrandini) 10, 12, 45, 77, 118, 171, 219, 350, 387, 389, 393, 395, 417 Coccapani, Sigismondo 19, 23, 166, 179, 313, 408 Coccoli, Sebastiano, gen. Morellone 115 Cochläus, Johannes 10, 14 Colombe, Lodovico delle 165, 204, 206, 208, 356, 461 Comanini, Gregorio 340, 343, 388, 400 Commandino, Federico 203 Commodi, Andrea 245, 270, 301, 461 Conti d’Elci, Arturo Pannocchieschi de’ 207 Conti, Carlo 199 Coresio, Giorgio 104, 204, 215 Correggio, Antonio da 24, 110, 174, 182, 239, 240, 250, 258, 267–270, 338, 378 Corsini, Bartolomeo 101 Cortona, Pietro da 17, 24, 139, 174, 347, 391 Cranach, Lucas d.Ä. 135, 228, 266 Creede, Thomas 7, 216 Cremonini, Cesare 160 Crespin, Jean 127 Cristina di Lorena 81, 84, 85, 102, 117, 189, 190, 194, 276, 366, 455 Croce, Baldassare 172 Crocino (Tommaso di Andrea della Croce) 234, 235, 237 Curradi, Francesco 66, 396, 445

Damiani, Petrus 445 Dandini, Cesare 234 Dante Alighieri 29, 90–99, 215, 220, 221, 260, 465 Danti, Ignazio 195, 300–303 Danti, Vincenzo 245, 310 Davanzati, Bernardo 21, 357, 358 Della Porta, Baccio 391 Della Porta, Giambattista 187 Demokrit 161 Descartes, René 213, 214, 326, 331 Diacceto, Francesco Cattani da 152 Diepenbeeck, Abraham 77 Dini, Piero 116, 190, 191 Dolce, Ludovico 225, 238, 256, 258, 278, 309, 328, 377 Dolci, Carlo 24, 66, 67, 234, 274, 340, 420 Domenichino (Domenico Zampieri) 22, 46, 72, 344, 380 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi) 334, 341, 348, 353, 381 Dorigny, Nicolas 118, 119, 220 Durandus, Wilhelm 392 Dürer, Albrecht 42, 43, 45, 47, 70, 72, 95, 255, 300, 301, 338, 356 Eck, Johannes 14 Elsheimer, Adam 186, 187 Empoli, Jacopo da 18, 101, 116, 117, 125, 242, 324, 344, 349, 416, 432 Emser, Hieronymus 14, 15, 38 Erasmus (Desiderius Erasmus von Rotterdam) 44, 45, 255, 321, 391 Farnese, Alessandro 57, 160 Fedeli, Vincenzo 12 Ferrante, Carlo 76 Ferro, Giovanni 185 Ferrucci, Nicodemo 23 Fiammeri, Giovanni Battista 17 Ficino, Marsilio 106, 323 Fiorentino, Rosso 177 Fischart, Johann 105 Flacius, Matthias Illyricus 78, 127, 128 Fontana, Lavinia 57 Fontana, Prospero 15 Foscarini, Paolo Antonio 191, 199 Fra Angelico 348

518 Register Fra Bartolomeo 138, 240, 391, 400 Francavilla, Pietro 293, 294, 295 Francesco di Paola 19, 30, 233–237, 305, 459 Francesca, Piero della 147, 149 Fulgentius, Fabius Claudius Gordianus 409, 410 Furini, Francesco 396, 452

Gualdo, Paolo 117, 196, 214, 357, 458 Gualterotti, Raffaello 81–85, 221 Guercino (Giovanni Francesco Barbieri) 400 Guidocci, Carlo 24 Guidotti, Alessandro 370 Guise, Charles de 13

Gabbiani, Antonio Domencio 72, 411 Gaddi, Niccolò 81, 82 Galen 59, 285, 287, 288 Galilei, Galileo passim Galilei, Vincenzo 116, 362–365, 371 Galle, Cornelius 56, 66, 97, 98 Galle, Theodor 64 Gallonio, Antonio 128, 129, 130 Gamberucci, Cosimo 234 Gandinus, Albertus 133 Gentileschi, Artemisia 134, 285, 314, 396 Gentileschi, Orazio 219, 396, 400 Gerini, Francesco 234 Gerson, Johannes 152, 437 Ghetaldi, Marino 203 Ghiberti, Lorenzo 281, 344, 390 Ghirlandaio, Domenico 126, 127 Giambologna 18, 292 Gilio (Fabriano, Andrea Gilio da) 34, 37, 41, 42, 51, 52, 136, 144, 188, 320, 327, 329, 348, 388, 392, 395, 456 und passim Giotto di Bondone 117, 135, 308, 432 Giovanni, Bartolomeo di 147, 149 Giusti, Alessandro 419 Godefroy de Bouillon (Gottfried von Bouillon) 85 Goltzius, Hendrik 410 Gonzaga, Fabio 134 Gonzaga, Ferdinando 233 Grassi, Horazio 91 Grazia, Vincenzio di 204, 209 Grazzini, Antonio Francesco, gen. Il Lasca 85, 238, 353, 395 Gregor der Große 14, 51, 172, 180, 183, 226, 231, 307, 310, 379 Gregor von Nyssa 320, 388, 398 Gregor XIII. (Ugo Boncompagni) 12, 62, 195, 226, 350, 393, 438, 440 Gregor XIV. (Niccolò Sfondrati) 12, 45 Gretser, Jakob 454 Grienberger, Christoph 157, 162, 197

Harriot, Thomas 161 Harvey, William 286, 321 Heck, Jan van 162 Henri III. 440 Henri IV. 86, 350, 366 Henschenius, Godefridus 76, 77 Hieronymus, Sophronius Eusebius 33–35, 41–53, 218, 340, 414, 420–423, 431, 456 Holstenius, Lucas (Lukas Holste) 80 Hooke, Robert 209 Horaz 59, 222, 377, 391 Hugo, Herman 184, 185 Humasco, Juan Valverde de 290, 291 Huygens, Constantijn 325 Illyricus, Flacius 78, 127 Inchofer, Melchior 193 Ingegnieri, Angelo 356 Innozenz III. (Lotario dei Conti di Segni) 42 Innozenz IX. (Giovanni Antonio Facchinetti) 12 Innozenz XI. (Benedetto Odescalchi) 393 Institoris, Henricus 133 Insulis, Alanus ab 196 Jamnitzer, Wenzel 161, 301 Johanna von Österreich (Giovanna d’Austria) 82, 405 Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz) 152, 378, 414 Johannes von Damaskus 14, 231 Jouvenet, Jean 68 Karlstadt, Andreas 14, 51 Kepler, Johannes 166, 195, 198, 210, 211, 459 Khunrath, Heinrich 102 Kopernikus, Nikolaus 190, 191, 193, 195, 196, 199, 200, 213 La Galla, Giulio Cesare 198, 201, 240 Landino, Cristoforo 92 Lanfranco, Giovanni 76, 174, 179

519 Register Lasso, Orlando di 370, 387 Lauretano, Michele 130, 131 Le Brun, Charles 68, 329, 347 Lefèvre d’Etaples, Jacques 44 Leonardo da Vinci 67, 95, 96, 161, 257, 258, 281, 288–290, 293, 294, 302, 318, 326, 327, 458 Leoni, Ottavio 116 Libri, Giulio 160, 188 Ligorio, Pirro 15, 57–61, 240 Ligozzi, Jacopo 86, 228, 242, 270, 344, 390, 449, 450 Lincei, Alessandro die 356, 461 Lipponi, Luigi 76 Lomazzo, Giovanni Paolo 110, 298, 341, 361, 371 Lorini, Niccolò 204 Loyola, Ignatius von 189, 235, 236, 386, 437 Ludwig IX. 412, 413, 436, 446 Ludwig XIV. 179 Lupida, Simonzio 66 Luther, Martin 45, 106, 123, 195, 212, 274, 356, 460 Macchietti, Girolamo 245, 270, 271, 337 Machiavelli, Niccolò 213 Maderno, Stefano 235, 236 Maggi, Giovanni Battista 311, 312 Magini, Giovanni Antonio 160 Maignan, Emmanuel 304 Mallery, Charles de 68 Mancini, Francesco 118 Mancini, Gerolamo 33 Mancini, Giulio 21, 179, 318, 399 Manetti, Antonio 92, 93, 96, 184 Manso, Giovan Battista 159 Mantegna, Andrea 237, 270 Maratta, Carlo 72 Marcolini, Francesco 9 Marenzio, Luca 360, 361 Mariani, Valerio 66 Marino, Giovan Battista 223, 249, 315, 316, 358, 431, 432, 463 Martinelli, Giovanni 119 Maselli, Ludovico 16, 109 Maso da San Friano 72 Massimi, Massimo de’ 242, 450, 452 Mayerne, Theodore 284, 288

Medici, Alessandro de’ 18, 123, 151 Medici, Carlo de’ 416 Medici, Cosimo I. de’ 18, 44, 82, 85, 238, 272, 292, 444 Medici, Cosimo II. de’ 12, 86, 159, 190, 205, 214, 221, 262, 304 Medici, Don Giovanni de’ 19, 204, 303, 310, Medici, Ferdinando I. de’ 12, 19, 58, 72, 81, 82, 83, 85, 87, 132, 134, 219, 246, 276, 297, 366, 396, 444 Medici, Ferdinando II. de’ 304, 305, 411, 460 Medici, Francesco I. de’ 12, 82, 132, 234, 405 Medici, Leopoldo de’ 305 Medici, Maria de’ 86, 155, 233, 350, 366, 369 Medici, Ottaviano de’ 421 Medici, Vitale 62 Mei, Girolamo 82, 362, 363, 364 Meier, Melchior 293 Melanchton, Philipp 106, 212, 286 Menchi, Alessandro 282 Menghi, Girolamo 153 Menocchio (Domenico Scandella) 106 Mercuriale, Girolamo 56–69, 81, 82, 153, 267, 456, 460 Micanzio, Fulgenzio 216 Middelburg, Paul von 44 Mielich, Hans 102 Minerbetti, Bernadetto 75, 76 Minga, Andrea del 18 Minturno, Antonio 341 Mirandola, Pico della 81, 323 Molanus, Johannes (Jan van Meulen) 14, 15, 36, 41, 67, 69, 111, 144, 274, 378, 391, 392, 398, 411, 456, Montaigne, Michel de 40, 351, 352, 420, 433, 438, 439, 440, 443, 444 Montalto, Alessandro Damasceni Peretti di 21, 307, 311 Monte, Francesco Maria del 40, 159 Monte, Guidobaldo del 161, 260, 303, 306 Monte, Orazio del 239 Montenay, Georgette de 104 Monteverdi, Claudio 361, 365–367, 370, 372 Monteverdi, Giulio Cesare 366 Montusi, Antonio 437 Morandi, Orazio 210 Morus, Thomas 30 Musso, Cornelio 72

520 Register Nadal, Jerónimo 67, 130, 414 Naldini, Giovanni Battista 18, 110 Nebbia, Cesare 276, 393, 453 Neri, Filippo 18, 22, 45, 77, 235, 292, 386 Netter, Thomas 14 Niceron, Jean-François 304 Nori, Francesco 208 Orsini, Corradino 242 Orsini, Fulvio 57, 62, 69 Orsini, Virginio 21, 164, 191 Ottonelli, Giovan Domenico 371, 378, 391 Ovid 59, 222, 252, 366 Pagani, Domenico 66 Pagani, Gregorio 19, 85, 161, 240, 245, 261, 314 Paleotti, Alfonso 227 Paleotti, Gabriele 15, 16, 36–44, 52, 53, 73–75, 189, 327–329, 355, 387, 392, 434, 454, 461 und passim Palestrina (Giovanni Pierluigi Sante da Palestrina) 370, 372 Pallavicino, Sforza 80, 81, 287, 304, 379 Panvinio, Onofrio 57, 63 Papazzoni, Flaminio 207, 244 Pascal, Blaise 113, 114, 385, 386, 413 Passignano (Domenico Cresti) 7, 18, 21, 23, 25, 42, 49, 50, 69, 72, 75, 100, 118, 165, 166, 172, 226, 242, 259, 262, 270, 317, 395, 452 Patrizi da Cherso, Francesco 57, 81 Paul III. (Alessandro Farnese) 392, 394 Paul IV. (Gian Pietro Carafa) 392 Paul V. (Camillo Borghese) 10, 12, 19, 159, 170–175, 191, 219, 370 Pazzi, Maria Maddalena de’ 151, 154, 157, 166, 174, 373, 444, 445, 458 Pereira, Benito 193 Peri, Jacopo 366, 367, 369 Perino del Vaga 393, 405, 407 Perugino, Pietro 266 Philandrier, Guillaume 57, 67 Philipp II. 297 Piles, Roger de 256, 388 Pisanello, Antonio 147, 148 Pius IV. (Giovanni Angelo Medici) 127, 195, 392 Pius V. (Antonio Michele Ghislieri) 18, 382 Pius IX. (Giovanni Maria Mastai-Ferretti) 175

Platon 211, 287, 323, 366, 369 Plinius 54, 64, 222, 256 Plutarch 59, 161, 363 Poccetti, Bernardino 134, 174 Pomponazzi, Pietro 102, 433, 434 Pontormo, Jacopo da 34, 41, 289, 323, 392 Ponzio, Flaminio 171 Possevino, Alessandro 285, 286, 381, 396 Possevino, Antonio 81 Poussin, Nicolas 68, 347 Pozzo, Andrea 17 Prado, Jerónimo 64, 65 Prokop von Templin 355 Pucci, Ascanio 314 Pulzone, Scipione 73, 75, 264, 329, 330, 333, 374, 393 Quintilian 358, 380 Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino) 22, 40, 50, 57, 63, 145, 174, 229, 238, 240, 266, 270, 281, 298, 357, 371, 373, 405, 432 Ramnusio, Paolo 59, 100 Reni, Guido 22, 24, 46, 48, 172, 179, 231, 298, 329, 333, 340, 441 Reuchlin, Johannes 44 Ricasoli, Pandolfo 249 Ricci, Antonio de’ 345 Ricci, Caterina de’ 154, 155 Ricci, Ostilio 19, 301, 303 Ricciardi, Antonio 323 Ridolfi, Cosimo 373, 419 Riera, Rafaele 438, 443 Rilli-Orsini, Jacopo 19 Rinuccini, Ottavio 90, 366, 367 Ripa, Cesare 46, 140, 222 Risaliti, Tommaso di Giovanni 337 Romano, Giulio 139, 140, 150, 270, 405, 407 Roncalli, Cristoforo, gen. Pomarancio 118, 219 Ronconi, Giovanni di Niccolò 420 Rore, Cipriano de 371 Rosa, Salvator 21 Rosselli, Matteo 314 Rowlands, Richard (Richard Verstegan) 127 Rubens, Peter Paul 46, 48, 59, 67, 72, 102, 118, 164, 228, 230, 237, 264, 267, 280, 285, 298, 299, 329

521 Register Sabbatini, Lorenzo 393 Sacchi, Andrea 22, 324, 347 Sachsen, Albert von 163 Sagredo, Giovanfrancesco 213, 218 Sales, François de 387, 418 Salmerón, Alfonso 62 Salviati, Filippo 198, 202, 204, 217, 218, 324 Salviati, Lionardo 85, 357 Sansovino, Jacopo 295 Sarpi, Paolo 80 Sarrocchi, Margherita 210 Sarto, Andrea del 147, 149, 240, 278, 334, 344, 348, 389, 390 Savonarola, Girolamo 18, 155, 276, 358, 386, 400, 444 Scaliger, Joseph Justus 44, 78 Scheiner, Christoph 158, 165, 167, 211, 212, 458, 459, 460 Scherer, Georg 374 Sebastiano del Piombo 134, 238 Serra, Giacomo 170, 179, 228, 317 Sigonio, Carlo 15, 73, 74, 391 Silvester I. 310, 313, 314, 456 Sirleto, Guglielmo 78, 195 Sixtus IV. (Francesco della Rovere) 175, 178 Sixtus V. (Felice Peretti di Montalto) 12, 45, 307, 393, 395 Sizzi, Francesco 198 Sorte, Cristoforo 145, 146, 373 Southwell, Robert 140 Spee, Friedrich 133 Stefonio, Bernardino 371, 386 Stevin, Simon 203 Stobaeus, Adam Ignatius 10, 212 Strada, Famiano 437 Stradano, Giovanni (Jan van der Straet) 66, 97, 99, 281, 282, 293, 329, 330 Strozzi, Giovan Battista 304 Stuber, Wolfgang 45 Subleyras, Pierre 68 Tacca, Pietro 246 Tacitus 357, 358 Tanner, Mathias 127 Tantillo, Antonio 380 Tartaglia, Niccolò 203, 364 Tasso, Torquato 30, 81, 86–91, 153, 341, 356– 362, 387

Tempesta, Antonio 129, 130, 134, 240 Teresa von Ávila 382, 386, 437 Terillus, Antonius 379 Thomas von Aquin 38, 108, 118, 121, 175, 223, 324, 378, 448 Tibaldi, Domenico 15 Tibaldi, Pellegrino 417 Tintoretto, Jacopo 66, 72, 270, 315 Tito, Santi di 18, 19, 24, 28, 49, 50, 69, 70, 85, 87, 139, 177, 229, 240, 242, 245, 261, 308, 382, 448 Tito, Tiberio di 66, 67 Tizian (Tiziano Vecellio) 24, 75, 112, 126, 128, 144, 146, 225, 238, 239, 247, 270, 271, 306, 344, 374, 401–404, 421 Tondelli, Zaccaria 147 Torri, Bartolomeo 283 Tucci, Stefano 371 Urban IV. (Jacques Pantaléon) 84 Urban VII. (Giambattista Castagna) 12 Urban VIII. (Maffeo Barberini) 21, 200, 210 Usimbardi, Lorenzo 116, 465 Valdès, Lucas 236 Valdivia, Pérez de 153 Valeriano, Giuseppe 17 Valerio, Luca 22, 164, 206, 210, 217, 221, 462 Valla, Lorenzo 44, 80, 81 Valori, Baccio 403 Vanni, Francesco 118, 219 Vannini, Ottavio 314, 396 Varchi, Benedetto 253, 254 Vasari, Giorgio 18, 23, 29, 52, 110, 177, 178, 238, 257, 259, 278, 332, 384, 389, 421, 423, 441 und passim Vecchia, Pietro della 322, 463 Veen, Otto van 64 Velázquez, Diego 329 Vellutello, Alessandro 93, 97 Veronese, Paolo 68, 112, 274, 314, 392, 412 Vesalius, Andreas 285, 288, 290, 291, 293 Vignali, Jacopo 314 Vignola, Giacomo Barozzi da 300, 302 Villalpando, Juan Bautista 64 Vitruv 26, 57, 59, 95, 96 Vittorelli, Andrea 180, 193 Viviani, Vincenzo 22, 26, 90, 116, 202, 305

522 Register Volterra, Daniele da 224, 225, 238, 392 Volterrano (Baldessare Franceschini) 85 Vulponio, Jacopo 21, 22 Welser, Markus 158, 165, 167, 194, 198, 199, 207, 214, 460 Wert, Giaches de 360, 361 Weyden, Rogier van der 266, 404 Wignacourt, Alof de 179

Zarlino, Gioseffe 362, 363, 365 Zuccari, Federico 28, 172, 174, 224–226, 241, 259, 270, 281, 283, 293, 353, 394, 405, 453 Zuccari, Taddeo 382, 383 Zucchi, Jacopo 127, 404, 407 Zwingli, Huldrych 15, 45, 212

Abbildungsnachw eis

1 Saxl 1963, Abb. 2 / 2 Florenz, Galleria delle Statue e delle Pitture degli Uffizi – mit freundlicher Genehmigung des Ministero dei beni delle attività culturali e turismo (MiBACT) / 3 Florenz, Casa Buonarroti / 4 Rom, Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut / 5 Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin / 6 Florenz, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe degli Uffizi (GDSU) – MiBACT / 7–8 Bibliotheca Hertziana / 9 Contini 1991, S. 46 / 10–11 Mercuriale 1569, fol. 55r und 56r / 12 Chacon 1588, S. 51 / 13 Herbert Stützer: Die Kunst der römischen Katakomben, Köln 1983, Tafel 12 / 14 Karl Felmy: Das Buch der Christus-Ikonen, Freiburg 2004, S. 104 / 15 Prado/Villalpando 1596, S. 296/297 / 16 Spalding 1982, Abb. 100 / 17 Francesca Baldassari: Carlo Dolci, Turin 1995, Tafel 23 / 18 Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin / 19 Florenz, Galleria Palatina di Palazzo Pitti MiBACT / 20 Hall 1999, S. 246 / 21 Polo museale regionale della Toscana – MiBACT / 22 Bibliotheca Hertziana / 23 GDSU / 24 Johannes Bollandus/Godefridus Henschenius: Acta Sanctorum, Antwerpen 1643, Frontispiz / 25 Cesare Baronio: Annales Ecclesiastici, Rom 1588, Frontispiz / 26 Gualterotti 1589, S. 28 / 27 Photograph courtesy of the National Gallery of Ireland / 28 GDSU/ 29–30 Corrado Gizzi (Hg.): Giovanni Stradano e Dante, Mailand 1994, S. 150 und 149 / 31 Domenico Laurenza: Leonardo. L’anatomia, Florenz 2009, S. 62 / 32 Stiftung Bibliothek Werner Oechslin / 33 GDSU/ 34 Amsterdam, Rijksmuseum/ 35 GDSU/ 36 Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin / 37 Contini 1991, S. 77 / 38–39 Georgette de Montenay: Emblemata Christiana, Zürich 1584, S. 93 und 55 / 40 Johann Fischart: Binenkorb des Heyl, [Straßburg] 1579, S. 246 /41 Foto: Jasmin Mersmann / 42 Contini 1991, S. 75 / 43 München, Staatliche Graphische Sammlung / 44 bpk | The Metropolitan Museum of Art / 45 Galleria Palatina / 46 Uffizi / 47 Tongiorgi Tomasi/Tosi 2009, S. 244, Nr. 117 / 48 Museum Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf (NRW) / 49 Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max PlanckInstitut / 50 Faranda 1986, S. 135, Abb. 27 / 51 Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden / 52–53 GDSU / 54 Antonio Gallonio: Trattato de gli instrumenti di martirio, Rom 1591, fol. 159r / 55 Behrmann 2015, S. 199 / 56 Contini 1991, S. 87 / 57–58 The Trustees of the British Museum / 59 Galleria Palatina / 60 Fritz 1996, Farbtafel / 61 Contini 1991, S. 37 / 62 Hall 2010, S. 166 / 63 Galleria Palatina / 64 Degenhart/Schmitt 2004, S. 444 / 65 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/ 66 Hall 2010, S. 218 / 67 Florenz, Museo dell’Ospedale degli Innocenti / 68 Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max Planck-Institut / 69– 70 GDSU / 71 Bibliotheca Nazionale Centrale di Firenze (BNCF) – MiBACT / 72 Bredekamp 2007, S. 127, Abb. 101 / 73–75 BNCF / 76 Bredekamp 2007, S. 257 / 77–78 Contini 1991, S. 111 und 113 / 79–81 Carlo Pietrangeli (Hg.): Santa Maria Maggiore a Roma, Florenz 1988, S. 125, 260 und 270 / 82 Laurence B. Kanter/Tom Henry: Luca Signorelli, München 2002, Nr. 139 / 83 Contini 1991, S. 39 / 84 Uffizi / 85 Bibliotheca Hertziana / 86 GDSU / 87 Foto: JM / 88 Paolo Aresi: Imprese sacre, Tortona 1630, S. 453 / 89 Herman Hugo: Pia Desideria,

524 Abbildungsnachweis Antwerpen 1624 / 90 Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München / 91 Tongiorgi Tomasi/Tosi 2009, S. 219 / 92 GDSU / 93 Kupferstichkabinett. Staatliche Museen  zu  Berlin / 94 Oxford, Christ Church College / 95–96 Bibliotheca Hertziana / 97 Faranda 1986, S. 180 / 98 Istituto d’arte del Restauro, Palazzo Spinelli, Florenz, Foto: Martina Previatello / 99–100 Fiot 1961, Abb. 11 und 29 / 101 GDSU / 102 Rom, Istituto Centrale per la Grafica–MiBACT / 103 Bjurström 2002, S. 99/ 104–105 Contini 1991, S. 109 und 81 / 106–107 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / 108 GDSU / 109 BNCF / 110 GDSU / 111 Uffizi / 112 Giannotti/Pizzorusso 2009, S. 267 / 113 Galleria Palatina / 114 Jaffé 1977, Abb. 191 / 115 Bibliotheca Hertziana / 116 Uffizi / 117 Lecchini Giovannoni 1991, Abb. 13 / 118 Maddalena Spagnolo: Correggio. Geografia e storia della fortuna, Cinisello Balsamo 2005, S. 190 / 119 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / 120 Aldo Torquini: Santa Maria Novella, Florenz 2000, S. 20 / 121 Uffizi / 122 wie 56 / 123 Contini 1991, S. 43 / 124–125 Galleria Palatina / 126–127 Contini 1991, S. 45 und 43 / 128–129 GDSU / 130 Florenz, Museo del Bargello / 131 Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin / 132 The Trustees of the British Museum / 133 GDSU / 134–135 Laurenza 2009, S. 138 und 145 / 136 Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica, Basel 1555, S. 214 / 137 Olmi 2004, S. 272 / 138 Falciani/Natali 2010, S. 313 / 139 École Régionale des Beaux-Arts Rouen (Hg.): L’Écorché, Rouen 1977, S. 139 / 140 Wazbinski 1987, Tafel 68 / 141–142 Joachim Poeschke: Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 2, München 1992, Tafel 19 und 136 / 143 Wazbinski 1987, Tafel 72 / 144 Jens Daehner und Kenneth Lapatin (Hg.): Power and pathos, Florenz 2015, S. 256 / 145 Chiarini 1992, Abb. 3 / 146–148 GDSU / 149 The Trustees of the British Museum / 150 GDSU / 151 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / 152 Contini 1991, S. 106 / 153 Chappell 1984b, S. 288 / 154–158 GDSU / 159 Bernadine Barnes: Michelangelo in Print, Farnham 2010, S. 114 / 160 Eugenio Casalini: La Santissima Annunziata di Firenze, Genova 2008, S. 57 / 161 Bibliotheca Hertziana / 162 Falciani/Natali 2010, S. 291 / 163 Contini 1991, S. 37 / 164 Chiarini 1992, Abb. 10 / 165 Foto: JM / 166 Foto: Fondazione Federico Zeri / 167 Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin / 168 Galleria Palatina / 169 Lecchini Giovannoni 1991, Abb. 378 / 170 Chappell 1991, S. 97 / 171–172 Contini 1991, S. 103–104 und 65 / 173–174 Giuseppe Santarelli: Loreto, Bologna ca. 1980, S. 5 und 27 / 175 Vocabolario della Crusca, Florenz 1612, Frontispiz / 176–177 GDSU / 178 Nancy, Musée des Beaux-Arts, Foto: G. Mangin / 179 wie 21 / 180 Giorgio Vasari: Das Leben des Daniele da Volterra und des Taddeo Zuccaro, Berlin 2009, S. 70 / 181 Foto: Fondazione Federico Zeri / 182 Contini 1991, S. 45 / 183 Herwarth Röttgen: Il Cavalier Giuseppe Cesari d’Arpino, Rom 2002, S. 101 / 184 Aldo Torquini: Santa Maria Novella, Florenz 2000, S. 34 / 185 wie 182 / 186 KHM-Museumsverband / 187 Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, SKD, Foto: Elke Estel/Hans-Peter Klut / 188 Uffizi / 189 Bibliotheca Hertziana / 190 Heinrich Brauer/Rudolf Wittkower: Die Zeichnungen des Gianlorenzo Bernini, Tafelbd., Leipzig 1931, S. 183 / 191 Metropolitan Museum / 192 Rom, Galleria Borghese – MiBACT / 193–194 Galleria Palatina / 195 Uffizi / 196 Hall 2010, S. 251 / 197 Falciani/Natali 2010, S. 335 / 198 Faranda 1986, Tafel 1 / 199 Galleria Palatina / 200–204 Museo di Roma / 205 Galleria Palatina / 206 Faranda 1986, Tafel 36 / 207 Olmi 2004, S. 139 / 208 Foto: Fondazione Federico Zeri / 209 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / 210 Contini 1991, S. 71 / 211 KHM-Museumsverband / 212 Galleria Palatina / 213 Tomasi 2009, S. 158 / 214 Giovanni Villa (Hg.): Tiziano, Mailand 2013, S. 214 / 215 Galleria Borghese / 216 Laura Corti: Vasari. Catalogo completo, Florenz 1989, S. 39 / 217 Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung / 218–220 Uffizi / 221 Foto: JM / 222 Umberto Baldini: Il complesso monumentale di Santa Croce, Florenz 1983, S. 90 / 223 Contini 1991, S. 73 / 224–225 Museo di Roma / 226 Foto: Savoia Ottorino / 227 Pacini 1984, S. 306 / 228 Contini, S. 25 / 229 Ebert-Schifferer 2010, S. 178 / 230 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / 231 Galleria Palatina / 232 bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / 233–234 GDSU / 235 Galleria Palatina