Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium 9783110528299, 9783110355345

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German Pages 1141 [1140] Year 2019

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Vorbemerkung: Über Künstlerbücher und Buchliteratur
Teil A. Aspekte des Buchs
Spielformen der Buchreflexion, Themen der Buch-Literatur und des Künstlerbuchs
A 1 Buchkunst im Kontext
A 2 Buch-Literatur
A 3 Buchansichten: Konzepte und Semantiken des Buchs als Impulse künstlerischliterarischer Buchgestaltung
A 4 Das Buch als physisches Objekt: Materialität und Sinnlichkeit des Buchs im Spiegel der Buchkunst
A 5 Schrift, Buch und Buch-Literatur
A 6 Verbindungslinien: Dichter des 19. Jahrhunderts und ihre Impulse für Buch-Poetiken der Moderne
Teil B. Buch-Geschichten: Funktionen und Konzepte des Buchs aus kultur- und wissensgeschichtlichen Perspektiven
Einleitung
B 1 Historische Buchtypen als Anlässe künstlerisch-literarischer Buchwerke
B 2 Buchkultur, Wissensgeschichte und die Rezeption wissensgeschichtlich bedeutsamer Buchtypen in Buchkunst und Buch-Literatur
Teil C. Anfänge und Initiationen
Abc-, Kinder-, Bilder- und Spielbücher als Buchwerke
C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben
C 2 ABC-Bücher
C 3 Alphabet und Künstlerbücher
C 4 Bilder/Buch/Literatur
C 5 Formen der Inszenierung von Geschichten durch buchgestalterische Mittel im Bilderbuch
C 6 Kinderkünstlerbuch – Künstlerkinderbuch
C 7 Buch im Buch
C 8 Spiele-Bücher: Semantiken des Spiels und der Spiele, Spiel(e)-Metaphern
Teil D. Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z
Album und Scrapbook
Teil E. Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch
Ein Katalog mit Beispielen
E 1 Buch-Literatur
E 2 Künstlerbücher
Epilog
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Verfasserverzeichnis
Sachverzeichnis
Personenverzeichnis
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Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium
 9783110528299, 9783110355345

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Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst

Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst Ein Kompendium

Herausgegeben von Monika Schmitz-Emans

ISBN 978-3-11-035534-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052829-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052647-9 Library of Congress Control Number: 2019934265 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Die Stopfnadel, 1985; Foto: © Peter Malutzki, mit freundlicher Reproduktionsgenehmigung des Künstlers. Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die Entstehung dieses Kompendiums wurde durch DFG-Mittel für Personal- und Sachkosten im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts zum Thema Literatur und Künstlerbuch in zwei Phasen gefördert. Für diese unabdingbare Unterstützung sei den Vertretern und Gutachtern der DFG nachdrücklich gedankt. Gedankt sei ebenso nachdrücklich auch anderen: Ulrich Ernst (Wuppertal) für seine Impulse zur Erschließung des Forschungsgebietes Künstlerbuch/Literatur und für viele Anregungen – sowie dem Wuppertaler Team, das sich den Beziehungen zwischen Literatur und Künstlerbüchern unter anderen Akzentuierungen widmet und für uns stets ein Gesprächspartner war (neben Ulrich Ernst: Susanne Gramatzki und Christoph Benjamin Schulz). Die Mitglieder des Bochumer Teams (Christian A. Bachmann, Viola HildebrandSchat, Pia Honikel, Maria Schubarth als wissenschaftliche Mitarbeiter sowie zur Unterstützung in verschiedenen Bereichen vor allem Rebecca Graß und Max Grothus) haben das Projekt entscheidend mitgetragen und mitgeprägt. Auch ihnen sowie den externen Beiträgerinnen zu vorliegendem Kompendium (Stephanie Heimgartner, Carola Pohlmann, Caroline Roeder, Simone Sauer-Kretschmer, Christiane Solte-Gresser, Nina Mößle) sei herzlich gedankt – und desgleichen unseren Gesprächspartnerinnen im de Gruyter Verlag für die hilfreiche Zusammenarbeit. Profitiert hat das Projekt nicht zuletzt von der großzügigen Unterstützung durch die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und das Klingspor Museum Offenbach (jeweils durch Bereitstellung von Materialien und konstruktive Beratung) sowie durch einige Künstler, die uns Bilddokumente bereitstellten: Auch hierfür sei den Genannten vielmals gedankt.  



https://doi.org/10.1515/9783110528299-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung V Siglenverzeichnis XIX Vorbemerkung: Über Künstlerbücher und Buchliteratur (Monika Schmitz-Emans) XXI

Teil A Aspekte des Buchs Spielformen der Buchreflexion, Themen der Buch-Literatur und des Künstlerbuchs (Monika Schmitz-Emans) 3 Einleitung 3 A1 A 1.1 A 1.2 A 1.3 A 1.4 A 1.5 A 1.6

Buchkunst im Kontext (Monika Schmitz-Emans) 5 Künstlerbücher, Buchwerke: ein proteischer Phänomenkomplex (Monika Schmitz-Emans) 6 Das ‚Jahrhundert des Künstlerbuchs‘ (Monika Schmitz-Emans) 7 Eine neue Buchkunst als Herausforderung etablierter Vorstellungen und Praktiken (Monika Schmitz-Emans) 12 Buchkunst als Definitionsproblem (Monika Schmitz-Emans) 14 Vorläufer, Impulsgeber: William Blake, William Morris (Monika Schmitz-Emans) 18 Ästhetische Rahmenbedingungen und diskursive Kontexte 23 im 20. Jahrhundert (Monika Schmitz-Emans) Ästhetiken des Buchs und Programmatiken moderner Buchkünstler (Viola Hildebrand-Schat) 34  

A 1.7

A2 A 2.1 A 2.2 A 2.3 A 2.4 A 2.5 A 2.6 A 2.7 A 2.8

Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 43 Buchbewusste Literatur 43 Buchgestaltung in der neueren und der Gegenwartsliteratur 48 Theoretische Annäherungen an die Buch-Literatur 50 Sichtbarkeit und Räumlichkeit des Buchs 55 Buchgestaltungsoptionen A: Textflächen und Bildflächen 62 Buchgestaltungsoptionen B: Die Auflösung des Kodex 68 Buchgestaltungsoptionen C: Die Räumlichkeit des Buchs und ihre thematische Funktionalisierung 73 Das Gattungsspektrum der Buch-Literatur 78

VIII

A3

A 3.1 A 3.2 A 3.3 A 3.4

A4 A 4.1 A 4.2 A 4.3 A 4.4 A 4.5

Inhaltsverzeichnis

Buchansichten: Konzepte und Semantiken des Buchs als Impulse künstlerisch-literarischer Buchgestaltung (Monika Schmitz-Emans) 85 Begriffe des Buchs 85 Geschichte und historische Konzepte des Buchs im Spiegel von Buchwerken 90 Metaphern des Buchs und das Buch als Metapher 92 Konzepte und Ästhetiken des Buchs bei Dichtern und Buchkünstlern 106 Das Buch als physisches Objekt: Materialität und Sinnlichkeit des Buchs im Spiegel der Buchkunst (Monika Schmitz-Emans) 119 Die Materialität des Buchs 120 Verwandlungen 126 Palimpseste 138 Das Buch und die Sinne als Thema künstlerischer Buchgestaltung 149 Buchgestaltung durch den Nutzer als sinnliche Erfahrung 155

A5 A 5.1 A 5.2 A 5.3 A 5.4

Schrift, Buch und Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 159 Grafie, Literatur und Buch 160 Buchstaben, Bilder und Bücher bei Walter Benjamin 162 Prägende Motive neuerer Schriftreflexion 164 Buchliterarische Variationen über Grafie, Schriftbildlichkeit und Schreibprozesse 171

A6

Verbindungslinien: Dichter des 19. Jahrhunderts und ihre Impulse für Buch-Poetiken der Moderne (Monika Schmitz-Emans) 177 Ein Jahrhundert der Bücher und des Papiers 177 Klecksen und Falten: Von Justinus Kerners Klecksografien zu Peter Rühmkorfs Buch-Poetik 178 Falten und Schneiden: Papier-Poetik und Buchphantasien bei Hans Christian Andersen und ihre buchästhetische Rezeption 181 Klebekunst als Buchgestaltung: Von Justinus Kerners Album zu den Collagewerken Max Ernsts, Ror Wolfs und R. D. Brinkmanns 189 Aufbrüche in andere Dimensionen: Papierinduzierte Phantasien bei Lewis Carroll und Beispiele buchgestalterischer CarrollRezeption 196 Buchvision, Entfaltungskunst und Papierbastelei bei Stéphane Mallarmé 199 Mallarmé-Rezeption im Künstlerbuch (Viola Hildebrand-Schat) 207

A 6.1 A 6.2 A 6.3 A 6.4 A 6.5

A 6.6 A 6.7

Inhaltsverzeichnis

IX

Teil B Buch-Geschichten: Funktionen und Konzepte des Buchs aus kultur- und wissensgeschichtlichen Perspektiven Einleitung B1 B 1.1 B 1.2 B 1.3 B 1.4 B 1.5

B2

B 2.1 B 2.2 B 2.3 B 2.4 B 2.5 B 2.6 B 2.7 B 2.8 B 2.9

221

Historische Buchtypen als Anlässe künstlerisch-literarischer Buchwerke (Monika Schmitz-Emans) 225 Die Bibel in Buchgestaltung und Künstlerbuch (Viola Hildebrand-Schat) 225 Buch und Tod: Ars moriendi, Totentanz und ihre moderne buchkünstlerische Rezeption (Viola Hildebrand-Schat) 240 Zeitgenössische Buchwerke in der Tradition alter Handschriften und früher Drucke (Viola Hildebrand-Schat) 253 Buch und Zeit: Ältere und neuere Stunden- und Zeitbücher (Monika Schmitz-Emans) 265 Buch-Literatur, Handschrift und Handschriftlichkeit (Monika Schmitz-Emans) 290 Buchkultur, Wissensgeschichte und die Rezeption wissensgeschichtlich bedeutsamer Buchtypen in Buchkunst und Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 303 Tierbücher und Bestiarien in der Buchkunst (Viola Hildebrand-Schat) 304 Buch-Literatur und Bestiarien (Monika Schmitz-Emans) 321 Der Atlas und seine Nutzung als buchkünstlerisches Medium (Viola Hildebrand-Schat) 330 Atlanten, Literatur, Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 346 Enzyklopädien, Lexika und Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 351 Enzyklopädie-Konzepte und ihre Aufnahme durch das Künstlerbuch (Viola Hildebrand-Schat) 363 Schriften zur Astronomie und Astrologie und ihre buchkünstlerische Rezeption (Viola Hildebrand-Schat) 375 Kosmografische Kompendien und Konzepte im Spiegel des Künstlerbuchs (Viola Hildebrand-Schat) 390 Vom Kompendium des Pflanzenwissens zum Künstlerbuch (Viola Hildebrand-Schat) 406

X

Inhaltsverzeichnis

Teil C Anfänge und Initiationen Abc-, Kinder-, Bilder- und Spielbücher als Buchwerke (Monika Schmitz-Emans) 423 C1 C 1.1 C 1.2 C 1.3 C 1.4 C2 C 2.1 C 2.2

ABC, Alphabet, Buchstaben (Monika Schmitz-Emans) 427 Lettern im Schnittfeld bildkünstlerischer und literarischer Interessen 427 Fibeln als Initiationsbücher 432 Abecedarische Romane: Michael Ende, Günter Grass 435 Das ABC als Muster 437

C 2.3 C 2.4 C 2.5 C 2.6 C 2.7 C 2.8

ABC-Bücher (Carola Pohlmann) 441 Geschichte des ABC-Buchs 442 Gestaltungskonzepte von ABC-Büchern im 20. und 444 21. Jahrhundert Das ABC als Sprachspielbuch 446 Thematische ABC-Bücher 447 Typografische ABC-Bücher 447 Das ABC als Bilderbuch 448 ABC-Bücher als Spiel- und Kunstobjekte 449 Das ABC-Buch als buchkünstlerisches Experimentierfeld

C3 C 3.1 C 3.2

Alphabet und Künstlerbücher (Viola Hildebrand-Schat) Nachbarschaften von Künstler- und Kinderbüchern Alphabet-Konzepte seit der Pop Art 455



C4 C 4.1 C 4.2 C 4.3 C 4.4 C 4.5 C 4.6 C 4.7 C 4.8 C 4.9

450

453 453

Bilder/Buch/Literatur (Stephanie Heimgartner) 459 Kinder-Bücher, Bilder-Bücher: Aspekte der Betrachtung 459 Geschichte des künstlerischen Bilderbuchs 463 Russland und die russische Exil-Avantgarde 1917–1934 465 Reformpädagogik und Innovation im französischen Bilderbuch Das Bilderbuch in der Weimarer Republik 471 Der italienische Futurismus und seine Erben 475 Entwicklung in England 478 Fotobilderbücher 478 Abstraktion und Genrehybridität: Die zweite Hälfte des 479 20. Jahrhunderts C 4.10 Crossover und Mediatisierung: Entwicklungen seit den 1990er Jahren 483 C 4.11 Spiel-, Verwandlungs- und Bewegungsbücher 487 C 4.12 Strategien der Metaisierung im Bilderbuch 488  

468

XI

Inhaltsverzeichnis

C5 C 5.1 C 5.2 C 5.3 C 5.4

C6 C 6.1 C 6.2 C 6.3 C 6.4 C 6.5 C7 C 7.1 C 7.2 C 7.3 C 7.4 C8 C 8.1 C 8.2 C 8.3

Formen der Inszenierung von Geschichten durch buchgestalterische Mittel im Bilderbuch (Christiane Solte-Gresser) 491 Erzählen – Erzählen im Bilderbuch – Buchgestalterisches Erzählen im Bilderbuch 491 Erzählen durch den Buchkörper hindurch: Buchgestalterische Erzählverfahren 492 Erzählen mittels weiterer Buchbestandteile und Paratexte 500 Erzählen über den Buchkörper hinweg: Intertextualität, Interpikturalität, Metaisierung 503 Kinderkünstlerbuch – Künstlerkinderbuch (Viola Hildebrand-Schat) „Kinderkünstlerbücher“ 511 „Künstlerkinderbücher“ 513 Primärformen und -farben als Gestaltungsleitlinie für Kinder- und Künstlerbücher 515 Falten und Pop-up-Konstruktionen 517 Rezeption einer dem Kinderbuch entlehnten Ästhetik 517

511

Buch im Buch (Caroline Roeder) 519 Motiv, Metapher, Metatext, Topografie 519 Das Buch im Buch in Kinder- und Jugendliteratur 521 Kleine Systematik des Motivs Buch im Buch in der Kinder- und Jugendliteratur 522 Metadiskurse in Bilderbuchbüchern 530 Spiele-Bücher: Semantiken des Spiels und der Spiele, Spiel(e)-Metaphern (Monika Schmitz-Emans) 533 Ästhetische Akzentuierungen des Spiels 534 Spiele-Typen 536 Erzähl-Spiele 541

Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z Album und Scrapbook (Monika Schmitz-Emans) 549 Bewegungsbücher: Wissensvermittler, Spielzeuge, Kunstwerke (Monika Schmitz-Emans) 561 Borges im Spiegel der Buchkunst (Monika Schmitz-Emans) 567 Comic und Comicbuch (Christian A. Bachmann) 574 Definitionsansätze: Bookness, Buchreflexivität, Strukturalität des Buchs (Johanna Drucker, Anne Mœglin-Delcroix, Keith A. Smith) (Viola Hildebrand-Schat) 586

XII

Inhaltsverzeichnis

Erfundene Bücher: Buchfiktionen und Buchphantasien in der Literatur (Monika Schmitz-Emans) 591 Fotografie und Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 597 Gebrauchsbücher (Monika Schmitz-Emans) 607 Hindernisse, Widerstände: Unlesbarkeit, Vieldeutigkeit und Schweigen als Thema der Buchgestaltung (Monika Schmitz-Emans) 613 Internationalität des Künstlerbuches (Viola Hildebrand-Schat) 618 Konkrete Poesie (Monika Schmitz-Emans) 622 Leporello (Monika Schmitz-Emans) 629 Materialitätsdiskurse (Monika Schmitz-Emans) 635 Neue Impulse, neue Programme: Innovationen im Umfeld des Künstlerbuchs, seine Beziehung zu den Avantgarden und sein proteisches Erscheinungsbild (Viola Hildebrand-Schat) 638 Objekte in Buchform: Oszillationen zwischen Meta- und Anti-Buch (Monika Schmitz-Emans) 646 Pop-up-Bücher und Literatur (Monika Schmitz-Emans) 650 Postkartenbücher (Simone Sauer-Kretschmer) 661 Rahmungen: Fußnotenromane und andere Paratextkonstrukte in der Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 667 Sprachen und ihre Bücher: Wörterbuch-Literatur, Wörter-Buchliteratur (Monika Schmitz-Emans) 681 Theater und Buch: Papiertheater, Buchtheater, Theater-Spiel-Bücher (Monika Schmitz-Emans) 693 Umhüllungen, Buchbehälter: Taschen, Schachteln und Boxen (Extension des Buchkörpers) (Viola Hildebrand-Schat) 698 Visuelle Poesie (Monika Schmitz-Emans) 705 Wendebücher (Monika Schmitz-Emans) 711 Zusammenstellungen: Bücher als Sammlungen, Museen, Kataloge, Listen (Monika Schmitz-Emans) 715

Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch Ein Katalog mit Beispielen (Monika Schmitz-Emans) E1 E 1.1 E 1.2 E 1.3

729

Buch-Literatur (Monika Schmitz-Emans) 735 Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767) (Monika Schmitz-Emans) 735 Jean Paul: Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel (1812) (Monika Schmitz-Emans) 739 E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen

Inhaltsverzeichnis

E 1.4 E 1.5 E 1.6

E 1.7 E 1.8 E 1.9 E 1.10 E 1.11 E 1.12

E 1.13 E 1.14 E 1.15 E 1.16 E 1.17 E 1.18 E 1.19

E 1.20 E 1.21 E 1.22 E 1.23 E 1.24

XIII

Makulaturblättern. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann (1819/1821) (Monika Schmitz-Emans) 742 Lewis Carroll: Alice in Wonderland (1865) und Through the Looking-Glass (1872) (Monika Schmitz-Emans) 744 André Breton: Nadja (1928) (Monika Schmitz-Emans) 746 Dinah Nelken/Rolf Gero: ich an Dich. Ein Roman in Briefen mit einer Geschichte und ihrer Moral für Liebende und solche, die es werden wollen (1939) (Monika Schmitz-Emans) 748 Jack Kerouac: On the Road (1957) (Monika Schmitz-Emans) 750 Max Aub: Jusep Torres Campalans (1958) (Pia Honikel) 753 Nanni Balestrini: Tristano (1966) (Monika Schmitz-Emans) 756 William Gass: Willie Master’s Lonesome Wife (1968) (Monika Schmitz-Emans) 759 Peter Handke: Deutsche Gedichte (1969) (Monika Schmitz-Emans) 761 Ferdinand Kriwet: Apollo Amerika (1969) und Stars. Lexikon in 3 Bänden Band 1: A-H, Band 2: I-Q, Band 3: R-Z (1971) (Monika Schmitz-Emans) 763 Arno Schmidt: Zettel’s Traum (1970, Entstehung 1963–1969) (Monika Schmitz-Emans) 765 Wolf Vostell/Peter Faecke: Postversandroman (1970–1973) (Monika Schmitz-Emans) 770 Jochen Gerz: Annoncenteil. Arbeiten auf/mit Papier (1971) (Monika Schmitz-Emans) 772 Raymond Federman: Double or Nothing (1971) (Monika Schmitz-Emans) 775 gerhard rühm: MANN und FRAU (1972) (Monika Schmitz-Emans) 777 Italo Calvino: Il castello dei destini incrociati (1973) (Monika Schmitz-Emans) 780 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke – Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (1979) (Monika Schmitz-Emans) 781 Italo Calvino: Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) (Monika Schmitz-Emans) 783 Umberto Eco: Il nome della rosa (1980) 784 (Monika Schmitz-Emans) Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie (1980) (Monika Schmitz-Emans) 787 Luigi Serafini: Codex Seraphinianus (1981) (Monika Schmitz-Emans) 790 Péter Esterházy: Bevezetés a szépirodalomba (1986) – Einführung in die Schöne Literatur (2006) (Monika Schmitz-Emans) 791

XIV

E 1.25

E 1.26

E 1.27 E 1.28 E 1.29

E 1.30 E 1.31 E 1.32 E 1.33 E 1.34 E 1.35 E 1.36 E 1.37 E 1.38 E 1.39 E 1.40

E 1.41 E 1.42

E 1.43

Inhaltsverzeichnis

Raymond Federman: The Voice in the Closet. Die Stimme im Schrank. La voix dans le cabinet de debarras (1989) (Monika Schmitz-Emans) 794 Milorad Pavić: Unutrašnja strana vetra, Ili roman o Heri i Leandru (1991) – Die inwendige Seite des Windes oder Der Roman von Hero und Leander (1995) (Monika Schmitz-Emans) 798 Nick Bantock: Griffin & Sabine (Serie; 1991–2016) (Monika Schmitz-Emans) 800 Nick Bantock: The Egyptian Jukebox. A Conundrum Created by Nick Bantock (1993) (Monika Schmitz-Emans) 802 Ronit Matalon: Seh im hapanim eleinu [elenu] [=„Das, was uns gegenübersteht“] (1995) – The One facing us (1998) – Was die Bilder nicht erzählen (1998) (Monika Schmitz-Emans) 803 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995); Austerlitz (2001) (Monika Schmitz-Emans) 805 Mark Z. Danielewski: House of Leaves (2000) (Monika Schmitz-Emans) 809 W. G. Sebald/Jan Peter Tripp: „Unerzählt“. 33 Texte und 33 Radierungen (2002) (Monika Schmitz-Emans) 816 Umberto Eco: La misteriosa fiamma della regina Loana. Romanzo illustrato (2004) (Monika Schmitz-Emans) 820 Aka Morchiladze: Santa Esperanza (2004) (Monika Schmitz-Emans) 823 Steve Tomasula: VAS: An Opera in Flatland (2004) (Monika Schmitz-Emans) 828 Salvador Plascencia: The People of Paper (2005) (Monika Schmitz-Emans) 830 Mark Z. Danielewski: The Fifty Year Sword (2005, 2012) (Monika Schmitz-Emans) 832 Jonathan Safran Foer: Extremely Loud and Incredibly Close (2005) (Pia Honikel) 834 Mark Z. Danielewski: Only Revolutions (2006) (Monika Schmitz-Emans) 837 Germar Grimsen: Hinter Büchern. Der Reigen/ein- und ausgeleitet von Hexametern aus der Feder Bernd Lüttgerdings, mit einem notwendigen Register ausgestattet und einem Nachwort des Verlegers versehen (2007) (Monika Schmitz-Emans) 840 Reinhard Jirgl: Die Stille (2009) (Monika Schmitz-Emans) 841 Leanne Shapton: Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry (2009) (Monika Schmitz-Emans) 845 Benjamin Stein: Die Leinwand (2010) (Monika Schmitz-Emans) 848

Inhaltsverzeichnis

E 1.44 E 1.45 E 1.46 E 1.47 E 1.48 E 1.49

E 1.50

E2 E 2.1 E 2.2 E 2.3 E 2.4 E 2.5 E 2.6 E 2.7 E 2.8 E 2.9 E 2.10 E 2.11 E 2.12 E 2.13 E 2.14 E 2.15

XV

Jonathan Safran Foer: Tree of Codes (2010) (Monika Schmitz-Emans) 850 Reif Larsen: The Selected Works of T. S. Spivet (2010) (Pia Honikel) 855 John Berger: Bento’s Sketchbook (2011) (Monika Schmitz-Emans) 859 J.[effrey] J.[acob] Abrams/Doug Dorst: S. Ship of Theseus (2013) (Monika Schmitz-Emans) 862 Nick Thurston: Of the Subcontract, Or Principles of Poetic Right (2013) (Monika Schmitz-Emans) 869 Peter Pan by J. M. Barrie, with Illustrations by MinaLima (2015); The Jungle Book by Rudyard Kipling, with Illustrations by MinaLima (2016) (Monika Schmitz-Emans) 872 Mark Z. Danielewski: The Familiar, Bd. 1–5 (2015–2017). Vol. 1: One Rainy Day in May (Mai 2015), Vol. 2: Into the Forest (Oktober 2015), Vol. 3: Honeysuckle & Pain (Juni 2016), Vol. 4: Hades (Februar 2017), Vol. 5: Redwood (Oktober 2017) (Monika Schmitz-Emans) 875 Künstlerbücher 879 Paul Verlaine/Pierre Bonnard: Parallèlement (1900) (Maria Schubarth) 879 Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben (1908) (Maria Schubarth) 881 Henri Matisse: Jazz (1947) (Pia Honikel) 885 Pierre Reverdy/Pablo Picasso: Le chant des Morts (1948) (Maria Schubarth) 887 Tristan Tzara/Joan Miró: Parler seul (1948/1950) (Pia Honikel) 890 François Rabelais/Antoni Clavé: Gargantua (1955) (Pia Honikel) 892 Hesiod/Georges Braque: Théogonie (1955) (Pia Honikel) 897 Pierre Lecuire/Étienne Hajdu: Règnes (1961) (Maria Schubarth) 900 Warja Lavater: Wilhelm Tell (1962) (Pia Honikel) 903 Thomas Bayrle/Bernhard Jäger: Kleines Welttheater (1964) (Pia Honikel) 905 Max Ernst/Ilya Zdanevič (genannt Iliazd): 65. Maximiliana. Ou l’exercice illégal de l’astronomie (1964) (Pia Honikel) 909 Walasse Ting/Sam Francis u. a.: 1 ¢ life (1964) (Maria Schubarth) 914 HAP Grieshaber: Totentanz von Basel (1966) (Pia Honikel) 918 Tom Phillips: A Humument (1966–2016) (Pia Honikel) 922 Jim Dine: The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde (1968) (Maria Schubarth) 925  

XVI

E 2.16 E 2.17 E 2.18 E 2.19 E 2.20 E 2.21 E 2.22 E 2.23 E 2.24 E 2.25 E 2.26 E 2.27 E 2.28 E 2.29 E 2.30 E 2.31 E 2.32 E 2.33 E 2.34 E 2.35 E 2.36 E 2.37 E 2.38 E 2.39 E 2.40 E 2.41

Inhaltsverzeichnis

David Hockney: Six Fairy Tales from the Brothers Grimm (1970) (Maria Schubarth) 931 Alain Robbe-Grillet/Robert Rauschenberg: Traces suspectes en surface… (1972–1978) (Maria Schubarth) 936 Helmut Heißenbüttel/Valerio Adami: Das Reich. Gelegenheitsgedicht Nr. 27. 10 Lektionen über das Reich (1974) (Pia Honikel) 939 Samuel Beckett/Jasper Johns: Foirades/Fizzles (1976) (Pia Honikel) 941 Rafael Alberti/Robert Motherwell: El negro (1983) (Pia Honikel) 945 Tom Phillips: Dante’s Inferno (1983) (Pia Honikel) 947 Paul Celan/Mischa Kuball: Todesfuge (1984) (Maria Schubarth) 951 Dieter Wagner: is da wirgli a rua oder goethes fettflecken (1985) (Pia Honikel) 955 Alberto Savinio/Francesco Clemente: The Departure of the Argonaut (1986) (Pia Honikel) 959 Roy Fisher/Ronald King: The left-handed Punch (1986) (Pia Honikel) 961 Karel Čapek/Hans Ticha: Der Krieg mit den Molchen (1987) (Pia Honikel) 963 Holly Anderson/Janet Zweig: Sheherezade. A Flip Book (1988) (Pia Honikel) 966 Peter Malutzki: Leonce und Lena. Zweiter Akt (1989) (Pia Honikel) 970 Hans Peter Willberg: Der Prozess (1990) (Nina Mößle) 973 Franz Mon/Carlfriedrich Claus: das wort auf der zunge (1991) (Pia Honikel) 975 Margaret Kaufman/Claire Van Vliet: Aunt Sallie’s Lament (1993) (Monika Schmitz-Emans) 978 Robert Schwarz: Himmelslust (1995) (Nina Mößle) 979 Anton Würth: Carnet 4, Carnet 16 und verwandte Buchwerke (1996, 2012) (Monika Schmitz-Emans) 981 Fiona Banner: The NAM (1997) & Heart of Darkness (2014/2015) (Pia Honikel) 983 Ryoko Adachi: Hier ruht Faust mit seinen Genen, seinen Erlebnissen, seiner Asche und Myrrhe (2004) (Viola Hildebrand-Schat) 987 Veronika Schäpers: Lob des Taifuns (2004) (Nina Mößle) 989 William Blake/Gunnar A. Kaldewey: The Tyger (2004–2005) (Maria Schubarth) 990 Barbara Fahrner: Diese Welt aus Tau (2007) (Pia Honikel) 993 John Gerard: Die Kunst der Gesellschaft (2007) (Nina Mößle) 998 John Gerard: Relay (2008) (Nina Mößle) 1000 Sabine Golde: Menetekel (2008) (Nina Mößle) 1001  

Inhaltsverzeichnis

E 2.42 E 2.43 E 2.44 E 2.45 E 2.46 E 2.47 E 2.48 E 2.49 E 2.50

XVII

Petra Ober: Erinna an Sappho (2008) (Pia Honikel) 1003 Burgi Kühnemann: Der Esel und das Hündchen (2009) (Pia Honikel) 1008 Till Verclas: Winterbuch. Eine Antwort (2010) (Nina Mößle) 1011 Pierre Reverdy/Johannes Strugalla: Le Chant des Morts (2010/2011) (Maria Schubarth) 1013 Anja Harms/Eberhard Müller-Fries: Feuernetze (2012) (Maria Schubarth) 1015 Hartmut Andryczuk/Valeri Scherstjanoi: Tiergarten. Ein Künstlerbuch nach einem Poem von Velimir Chlebnikov (2014) (Pia Honikel) 1019 Robert Schwarz: Grodek (2014/2015) (Nina Mößle) 1020 Frauke Otto: Palmyra (2016) (Pia Honikel) 1022 Peter Waterhouse/Nanne Meyer: Die Auswandernden (2016) (Maria Schubarth) 1027

Epilog (Monika Schmitz-Emans) Abbildungsverzeichnis 1035 Literaturverzeichnis 1041 Verfasserverzeichnis 1099 Sachverzeichnis 1101 Personenverzeichnis 1107

1033

Siglenverzeichnis CB CP CR CSG HAB KMO MSch MSE NM PH SH SSK VHS

Christian A. Bachmann, Berlin/Bochum Carola Pohlmann, Berlin Caroline Roeder, Ludwigsburg Christiane Solte-Gresser, Saarbrücken Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel Klingspor-Museum, Offenbach Maria Schubarth, Jena/Bochum Monika Schmitz-Emans, Bochum Nina Mößle, München Pia Honikel, Bochum Stephanie Heimgartner, Bochum Simone Sauer-Kretschmer, Bochum Viola Hildebrand-Schat, Frankfurt

https://doi.org/10.1515/9783110528299-204

Vorbemerkung: Über Künstlerbücher und Buchliteratur Die Auseinandersetzung mit dem Buch und seiner Buchhaftigkeit (für die sich in der anglophonen Diskussion der Terminus ‚bookness‘ etabliert hat; vgl. Teil A.1) verbindet das als eigenständige Kunstform seit den 1960er Jahren etablierte Künstlerbuch (artists’ book, livre d’artiste) mit diversen Erscheinungsformen vor allem der neueren Literatur, welche man zusammenfassend deshalb als „Buchliteratur“ charakterisieren könnte, weil Form und Materialität des Buchs hier von konstitutiver Bedeutung für das jeweilige Werk sind. So sinnvoll es auch erscheint, terminologisch zu differenzieren: Zwischen künstlerischen und literarischen Buchwerken verläuft insgesamt keine klare Grenze; oft kommt es auf die Perspektive an, ob man ein Artefakt primär als buchkünstlerisches oder als literarisches Werk wahrnimmt und in entsprechende Traditionen und Kontexte einordnet. Auch sind wichtige Wegbereiter und Pioniere des Künstlerbuchs zugleich als literarische Autoren in Erscheinung getreten; genannt seien nur Stéphane Mallarmé, Dieter Roth und Raymond Queneau. Beide Bereiche ästhetischer Gestaltung sind auch insofern eng verbunden, als buchkünstlerische Werke vielfach im Zeichen der Bezugnahme auf Literarisches stehen: auf literarische Autoren, Gattungen oder Werke, auf Aspekte der Produktion und der Rezeption von Texten. Gestalterische Auseinandersetzungen mit dem Buch verhalten sich in der Buchkunst und in der Literatur in vielem konvergent. Darin manifestiert sich hier wie dort ein ganzes Spektrum von Interessen, vor allem eines am Buch als einem prägenden Faktor von Kultur und als Medium kultureller Selbstdarstellung, an historischen Praktiken und Kommunikationsformen, die durch das Buch ermöglicht werden und durch spezifische Bücher geprägt sind. Die 1960er und 1970er Jahre haben nicht allein eine intensive, breite und vielseitige künstlerische Arbeit an und mit dem Buch hervorgebracht; sie bieten zudem reiches Anschauungsmaterial zur Plausibilisierung der These, dass die jüngere Literaturgeschichte und die des Künstlerbuchs gemeinsam und auf ihre Verflechtungen hin betrachtet werden müssen. Text- und Literaturtheoretiker sowie Dichter und Schriftsteller haben wichtige Impulse für die Geschichte des Künstlerbuchs seit den 1960er Jahren gegeben, wie umgekehrt von Praktiken buchkünstlerischer Arbeit facettenreiche Anregungen auf literarische Autoren und ihre Projekte ausgegangen sind (und bis heute ausgehen). Auf theoretisch-reflexiver wie auf gestalterisch-explorativer Ebene sind die neuere Literatur und das neuere Künstlerbuch also durch eine gemeinsame Geschichte miteinander verbunden. Das experimentier- und innovationsfreudige spätere 20. Jahrhundert ist dabei zugleich eine besonders theoriefreudige Zeit. Schriftsteller und bildende Künstler nehmen intensiv an Diskursen über Kunst teil. Und vielfach kommt es zu einer Entdifferenzierung zwischen Theorie und Praxis, zwischen abstrakten Konzepten und konkreter ästhetischer Arbeit.  

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Vorbemerkung: Über Künstlerbücher und Buchliteratur

So ergiebig es auch ist, durch Vergleiche ähnlich gestalteter Buchwerke selbst noch über konventionell gezogene Gattungsgrenzen (hier zwischen ‚Literatur‘ und ‚Kunst‘) hinaus verbindende Tendenzen, Interessen und Themen zu beobachten – das jeweils einzelne Werk sollte dabei doch stets auch als besonderes Gebilde mit besonderen Deutungsangeboten wahrgenommen werden. Dem wird im Folgenden durch den Rekurs auf zahlreiche Beispiele und ihre jeweiligen Eigenarten Rechnung getragen. MSE  

Teil A Aspekte des Buchs

Spielformen der Buchreflexion, Themen der Buch-Literatur und des Künstlerbuchs Einleitung Bücher sind stets Objekte ästhetischer Gestaltung gewesen, und zwar in engem Zusammenhang mit ihren praktischen Funktionen. Hatte das Mittelalter vielfältige Formen solcher Buchgestaltung entwickelt, so bricht mit der Ära des Buchdrucks zugleich eine Zeit neuer Gestaltungsverfahren an. An den diversen Parametern und Modi der Buchgestaltung lässt sich die Geschichte des Buchzeitalters ablesen: die der Neuzeit, der Aufklärung, der bürgerlichen Kultur, der Moderne und ihrer Lebensformen. Um 1960 ergibt sich eine besondere Situation: Die Möglichkeit eines herannahenden Endes des Buchzeitalters zeichnet sich ab. Dieses Ende wird in den Vorstellungen derer, die es antizipieren, teils negativ akzentuiert, oft in Verbindung mit dem Hinweis auf den zu erwartenden Siegeszug des Fernsehens und anderer Massenunterhaltungsmedien; in der Wende vom Buch zum Fernsehen (zum Comic, zur Illustrierten, zur billigen Print-Produktion, zur massenmedialen Bilderflut insgesamt) scheint sich ein Niedergang von Kultur und Bildung zu dokumentieren. Demgegenüber stehen aber auch positive, zunächst gleichsam futuristische Akzentuierungen: Erwartet wird der Übergang in eine neue Ära maschinell-technisch gestützter Kommunikationsprozesse und Informationsflüsse, die Ablösung des altmodischen und behäbigen Buchs durch eine datenbasierte technische Kommunikation. Doch zeitgleich zu solch abwertend oder affirmativ gefassten Prognosen über das Ende des Buchzeitalters gewinnt das Buch gerade in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt an Signifikanz: als zunächst lange Zeit noch wichtigstes Wissensmedium einer Kultur, die zunehmend mehr Mitglieder an Bildung und Wissen partizipieren lässt. Indem sich höhere Schulen und Universitäten öffnen, Bildung nachhaltiger denn je zum Allgemeingut wird, wächst der Bedarf an Büchern, wächst die Zahl der Bücherleser, auch über den praktisch-zweckorientierten Bereich hinaus. Private Bibliotheken finden sich in Haushalten häufiger als zuvor; die Ära des Taschenbuchs ist angebrochen. Die produktive Spannung zwischen Abgesängen auf das Buch und florierender Buchkultur stimuliert neue Formen der Auseinandersetzung mit dem Buch – nicht nur seitens der wissenschaftlichen Beobachter der zeitgenössischen Kultur und all derer, die sich an der Diskussion über letztere beteiligen. Das Buch wird zum Thema, dem sich vielfältige kreative Impulse abgewinnen lassen; es wird literarisch und künstlerisch gestaltet und zugleich zum Gegenstand der Reflexion. Reflexive gestalterische Auseinandersetzungen mit dem Buch setzen sehr unterschiedliche Akzente. Den Bezugsrahmen bilden erstens Interessen an Materialitäten, Formen und physisch-konkreten Gestaltungsparametern des Buchs; dazu gehören seine Architektur, seine typografische Gestalt, Layout, Textformen, paratextuelle Rahmung, Modi der Bebilderung, der Ausstattung etc. Zum Bezugsrahmen gehören zwei 



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Teil A Aspekte des Buchs

tens aber auch die vielfältigen kulturellen Funktionen, Produktions- und Nutzungskontexte des Buchs, seine Bedeutung als Medium des Wissens und der Kommunikation, der Speicherung von Inhalten und der Traditionsbegründung, der Orientierung in der Welt und ihrer Erschließung. Intensiv widmet sich literarisch-ästhetische Buchreflexion der Signifikanz spezifischer Formen und Materialien des Buchs für Prozesse der Sinnerzeugung und Sinnvermittlung (oder auch für die Kritik an entsprechenden Erwartungen). Vor allem Historiker des Lesens wie Roger Chartier haben dafür den Boden bereitet, haben die Komplexität von Leseprozessen erörtert und dabei die Bedeutung der Materialität von Büchern und Texten nachdrücklich betont. Kulturelle Welten sind „Lesewelten“ (Chartier), und zwar gerade in diesem konkreten Sinn der konstitutiven und prägenden Bindung von Lektüren an spezifisch gestaltete materielle Textträger und Informationsmedien.1 Das Projekt ästhetisch-literarischer Reflexion über das Buch gilt insofern nicht nur dem Buch als einem Objekt unter anderem. Und es gilt auch nicht nur dem Buch als einem Abstraktum mit bestimmten definierbaren Eigenschaften. Es zielt auch und vor allem auf die vielfältigen konkreten und besonderen Erscheinungsformen des Buchs in der Buchgeschichte, auf die seiner vielen Typen und Formate, auf die vielschichtigen Gestaltungsparameter von Büchern, auf die jeweils besonderen Zusammenhänge zwischen Buchgestaltung und Buchnutzung. Gestalter von Künstlerbüchern wie auch von buchliterarischen Werken knüpfen beispielweise gern an ältere Buchtypen (Pflanzenbücher, Tierbücher, Atlanten, Erbauungsbücher etc.) an, zitieren und modifizieren sie entsprechend ihren zeitspezifischen künstlerischen Interessen. Analoges gilt für Buchformate, die spezifische praktische Funktionen erfüllen (wie etwa Stundenbücher, Tagebücher, Notizbücher); auch sie gewinnen in neuen ästhetischen Kontexten neue Bedeutungsdimensionen. Buchreflexive Arbeiten verweisen oftmals auf ästhetische, semiotische, kommunikationstheoretische Kernfragen, um Konzepte des Werks, des Textes, des Schreibens und Lesens (manche Buchwerke sind Einladungen, Werke, Texte) und buchgestützter Kommunikation gleichsam von ihren Grenzen her zu reflektieren. Es geht ihnen um spezifische Semantiken von Material und Form, um ästhetisch-literarische Produktionsprozesse, um die Rolle des Rezipienten, die Identität und Erschließbarkeit von Botschaften und Bedeutungen. MSE

1 Vgl. Chartier 1990, S. 32: „[D]as Projekt, die Lektüren einer Gesellschaft oder einer Gruppe herauszuarbeiten“, werde, so Chartier, schwer belastet durch die unzutreffende Annahme, „daß die dinglichen Formen eines Textes für die Bedeutung unwichtig seien“; unzulänglich erscheint eine ältere Form der Literaturgeschichte, „die den Text als eine Art Abstraktion auffaßt, als etwas, das unabhängig von den geschriebenen, ihn erst lesbar machenden Objekten existiert, und die darüber hinaus die Lektüre als eine andere Art von Abstraktion, als universellen Prozeß ohne bedeutsame historische Variationen, betrachtet. Aber Texte werden nicht in handgeschriebene und gedruckte Bücher wie in einfache Behälter geleert. Die Leser finden sie nur in ein Objekt eingeschrieben, dessen Dispositive und Anordnungen den Vorgang der Sinnerzeugung leiten und einschränken.“  

A 1 Buchkunst im Kontext Ebenso problematisch wie jeder Ansatz einer trennscharfen Definition von ‚Künstlerbüchern‘ oder ‚bookworks‘ erscheinen Versuche zu bestimmen, wann und womit genau die Geschichte des Künstlerbuchs eigentlich beginnt. Allgemein gilt das 20. Jahrhundert als der eigentliche Beobachtungszeitraum; Johanna Drucker etwa stellt ihre Monografie zum Künstlerbuch (1995a) unter den programmatischen Titel „The Century of Artists’ Books“. Aber Übersichtsdarstellungen zum Künstlerbuch, darunter das von Drucker selbst, erinnern aus guten Gründen gern an Beispiele und Tendenzen, die in die frühe Moderne oder sogar mehrere Jahrhunderte zurückdatieren (vgl. Drucker 2004, MœglinDelcroix 1997a; anders akzentuiert Stewart 2011). Innerhalb des 20. Jahrhunderts sind es dann wiederum bestimmte Jahrzehnte, die verstärkt in den Blick rücken: die 1960er und 1970er Jahre, in denen erste Ausstellungen und Dokumentationen spezifisch dem Künstlerbuch respektive dem Buchobjekt gewidmet waren, wodurch die entsprechenden Arbeiten diskursiv und praktisch zu Beispielen für ein spezifisch profiliertes Genre wurden.2 Das verstärkte Interesse bildender Künstler am Buch, das durch ein analoges Interesse seitens literarischer Autoren flankiert wird, entfaltet sich vor einem kultur- und mediengeschichtlichen Hintergrund, der dazu wichtige Anstöße gab. In enger Wechselbeziehung zu künstlerischen und literarischen Formen innovativer und experimenteller Buchgestaltung bemühen sich Theoretiker, Künstler und Schriftsteller, oft in entsprechenden Doppelrollen, um reflexive Bestimmungen und Modellierungen der neuen ästhetischen Praktiken. Zur Erkundung ästhetischer Darstellungsformen und -medien gehört auch die ihrer Grenzen, der Bedingtheit und Beschränktheit dessen, was sie darstellen. Dem Interesse poetisch-literarischen Schreibens an Sprachverfremdung und Schweigen entspricht in der Buchkunst eine Tendenz zur Verfremdung des Buchs und zur Tilgung von Buchinhalten. MSE  



Abb. A 1: Eugen Gomringer: schweigen. In Gomringer [Hg.] 1972, S. 58.  



2 Rolf Dittmar nennt als wohl früheste (große) Ausstellungen dieser Art je eine in Mailand und in London, beide 1972; vgl. Pallazolli 1972 sowie Celant/Morris 1972. Vgl. Dittmar 1977a, S. 296–299.  

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Teil A Aspekte des Buchs

A 1.1 Künstlerbücher, Buchwerke: ein proteischer Phänomenkomplex In Italo Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore (Orig.: 1979), wo die Beziehungen zwischen Schriftsteller, Büchern und Lesern aus verschiedensten Perspektiven bespiegelt werden, taucht auch ein junger Mann auf, der sich für Bücher nur interessiert, um aus ihnen Objekte zu machen. Lesen mag er sie nicht. Cercavo un libro […]. Non è per leggere. È per fare. Faccio delle cose coi libri. Degli oggetti. Sí, delle opere: statue, quadri, come li vuoi chiamare. Ho fatto anche un’esposizione. Fisso i libri con delle resine, e restano lí. Chiusi, o aperti, oppure anche gli do delle forme, li scolpisco gli apro dentro dei buchi. È una bella materia il libro, per lavorarci, ci si può fare tante cose. (Calvino 1979, S. 149)  

[Ich suche ein Buch. […] Nicht zum Lesen: zum Machen. Ich mache Sachen mit Büchern. Objekte, Werke, ja, Kunstwerke: Statuen, Kompositionen, nenn’s wie du willst. Ich hatte auch schon mal ’ne Ausstellung. Ich fixiere die Bücher mit Harz, und dann bleiben sie so. Zugeklappt oder aufgeschlagen, wie sie grad sind. Aber ich forme sie auch, bearbeite sie, mache Löcher rein und so. Ist ein prima Werkstoff, das Buch, lässt sich ’ne Menge draus machen. (Calvino 1990, S. 177)]  

Irnerios Darstellung seines künstlerischen Vorhabens trifft nicht schlecht ein Charakteristikum vieler Werke bildender Künstler, wie sie seit den 1960er Jahren entstanden sind: Objekte in Buchform, ja aus Büchern hergestellte Objekte, die aber doch keine Bücher in dem Sinne (mehr) sind, dass man sie lesen könnte: Buchobjekte, die sich der zentralen Funktion des Buchs verweigern – oder wie auch immer (siehe Irnerio) man sie nennen möchte. Doch nicht alle Produkte künstlerischer Arbeit an und mit dem Buch sind so sperrig, wenn es ums Lesen geht. Im Gegenteil entstehen auch viele Beispiele, die gerade darauf zielen, Texte – insbesondere, aber nicht nur literarische – auf besondere Weise lesbar zu machen, sie im Buch sorgfältig und im Zeichen der Auseinandersetzung mit ihren Themen und Inhalten zu arrangieren, ja förmlich zu inszenieren. So kann durch buchgestalterische Mittel eine spezifische Form der Textinterpretation erfolgen, eine transformatorische, aber dem Text zugewandte, eine vielleicht betont subjektive, aber doch auf intersubjektiven Nachvollzug abzielende. Das moderne Künstlerbuch ist ein wichtiges Medium der Literaturpräsentation und -interpretation. Dies gilt etwa für diverse Bände der bibliophilen Reihe Kaldewey Edition, die hier stellvertretend für viele andere Beispiele angeführt sei (vgl. Dubansky/Strauss 1997; vgl. ferner Teil E 2.2 mit seinen Kurzporträts von Künstlerbüchern, die sich mit literarischen Werken, Themen und Autoren auseinandersetzen). Schon insofern die buchbezogene, buchgestützte Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts sich gegenüber Texten und Leseversuchen so verschieden positioniert (im breiten Spektrum zwischen Verweigerung hier, subtilen Lektüren dort), aber auch mit Blick auf die Vielfalt der Phänomene, die unter einen Gattungsbegriff wie ‚Künstlerbuch‘ (artists’ book) gefasst werden müssten, erscheinen Definitionen dieser Kunst 







A 1 Buchkunst im Kontext

7

form als schwierig. Theoretiker und Künstler haben verschiedenste Vorschläge gemacht.3 Hier nur eine kleine Auswahl: Books as art are not books about art, or books of reproductions of art, or books of visual material illustrating literary texts, but are books that make art statements in their own right, within the context of art rather than literature. (Vanderlip 1973, S. 15)  

Artists’ books or booklets are produced by the artist using mass-production methods, and in (theoretically) unlimited numbers, in which the artist documents or realizes art ideas or artworks. (Phillpot 1977, S. 355)  

Neither an art book (collected reproductions of separate art works) nor a book on art (critical exegeses and/or artist’s writing), the artists’s book is a work of art on its own, conceived specifically for the book form and often published by the artist himself/herself. It can be visual, verbal, or visual/verbal. With few exceptions, it is all of a piece, consisting of one serial work or a series of closely related ideas and/or images – a portable exhibition. (Lippard 1985, S. 45)  



Artists’ books are works designed by artists in a book format – or something vaguely resembling a book – in either multiple copies or unique one-only issues. Varied as to subject and design, these works of art explore the book in unconventional ways. (Jones/Gibson 1986, S. 151)  





Artists’ books are privately published, painted, hand-made books and book objects. They may be autobiographical, political, philosophical or narrative. They employ numerous printing techniques, as well as include original watercolors, photographs, cartoons, collage, found objects, and other form of artistic expression. […] They are produced as one-of-a-kind, limited editions or multi-copy publications. (Wassermann 1988, S. 12)  

Artists’ Book: Book made by artists that have diverse forms, varying from wholly visual to solely textual, to a combination of the two. (Sackner 1992, S. 43)  

Künstlerbücher [erscheinen] als kunstgewordenes Nachdenken über und Gestalten mit Büchern […]. (Deinert 1995, S. 2)  

Angesichts des (Über-)Angebots an Gattungsbestimmungen und der zwischen diesen teils bestehenden Spannungen hat Lucy Lippard einen ausweichenden, aber diplomatischen Vorschlag gemacht: „It’s an artist book if an artist made it, or if an artist says it is“ (Lippard 1985, S. 53). MSE  

A 1.2 Das ‚Jahrhundert des Künstlerbuchs‘ In den 1960er Jahren setzt eine Diskussion über das (angeblich) bevorstehende Ende des Buchzeitalters ein, die bis heute geführt wird (vgl. Hagner 2015). Ihr wichtigster

3 Allein Simon Ford hat in seinem Buch Artists’ books in the UK & Eire Libraries (1993) 25 unterschiedliche Definitionen von artists’ books zusammengestellt (Ford 1993, S. 23–25).  

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Teil A Aspekte des Buchs

Impulsgeber ist wohl Marshall McLuhan, der lange vor der Erfindung elektronischer bzw. digitaler Textmedien glaubte, im Fernseher den bald siegreichen Konkurrenten des Buchs ausmachen zu können und das Ende der „Gutenberg-Galaxis“ proklamierte (McLuhan 1962, 1964). Sollte, wie gelegentlich suggeriert wird, die zeitgleich aufblühende ästhetische Auseinandersetzung mit dem Buch die Reaktion auf dieses erwartete Ende sein – ein melancholischer Abgesang auf das Buch und die „Gutenberg-Galaxis“? Sollte sie am Ende dadurch motiviert sein, dass das Buch, im Begriff seine kulturellen Funktionen zu verlieren, nun aus deren Diensten freigesetzt wird, dass es gleichsam in Pension geht, um sich im Ruhestand der Selbstsorge zu widmen?  

Das Buch als Leitobjekt – oder als Auslaufmodell? Perspektiven auf die Jahrzehnte ab 1960. Aber mit dem Ende der „Gutenberg-Galaxis“ verhalten sich die Dinge komplexer, als affirmative oder (kultur-)kritische Diskurse es oft suggerieren. Gerade in den 1960er Jahren bricht in den Geisteswissenschaften eine Phase der intensiven und kulturell wirkmächtigen Buchproduktion an, die bezogen auf Frankreich als „L’âge d’or“ charakterisiert worden ist (Barluet 2004, S. 37–41; Hagner 2015, S. 138–171).4 Michael Hagner hat die prägenden Tendenzen dieser Zeit mit differenzierendem Blick auf die USA und auf einzelne europäische Länder skizziert. Bei allen nationalen bzw. nationalkulturellen Unterschieden erscheinen dabei die erhöhte Wertschätzung wie auch die verstärkte Produktion und Nutzung von Büchern als wichtiger Faktor innerhalb umfassender kultureller Tendenzen und Prozesse in den westlichen Ländern der Nachkriegszeit: Die Buchkultur profitiert erheblich – und zwar quantitativ wie qualitativ – von einem „Goldenen Zeitalter der Akademischen Bildung und des Universitätswachstums“ (ebd., S. 138). In den Jahrzehnten verstärkten Andrangs auf Bildungsinstitutionen, intensivierter Auseinandersetzung mit Philosophie, Sozial- und Geisteswissenschaften, breiter Anteilnahme an kulturellen und künstlerischen Tendenzen prägt der Umgang mit dem Buch den Lebensstil einer ganzen Generation. Das Buch gilt zumindest in den (expandierenden) bildungsaffinen Bereichen der westlichen Kulturen als „Leitobjekt“ (ebd., S. 150). Den häufig zitierten Diagnosen Marshall McLuhans und anderer Theoretiker der massen- und visual-medialen Kommunikation, die das Ende des Buchzeitalters mit der Ausbreitung des Fernsehens einsetzen lassen, stehen mit Blick auf die 1960er und 1970er Jahre ganz andere Beobachtungen gegenüber. Michael Krüger zufolge schlug gerade in diesen  













4 Hagner konstatiert mit Blick auf die buch-, bildungs- und buchmarkthistorischen Differenzen in den USA, Frankreich und Deutschland, der pauschalisierende Begriff „Goldenes Zeitalter“ sei „für eine allgemeine Beschreibung der Situation des geisteswissenschaftlichen Buches nach dem Zweiten Weltkrieg wenig tauglich“ (Hagner 2015, S. 154, Kap.: „Das ‚Goldene Zeitalter‘ des geisteswissenschaftlichen Buchs“); er benutzt ihn aber doch als heuristischen Begriff und skizziert insgesamt Tendenzen zur Aufwertung des Buchs.  

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A 1 Buchkunst im Kontext

Jahren „die intellektuelle Stunde des Buches“ (Krüger 1994, S. 25).5 Erst gegen Ende der 1980er Jahre lässt sich ein Wandel diagnostizieren. Neue Medien und Techniken schriftbasierter Kommunikation werden zunehmend wichtiger. Durch die Popularität und Wirksamkeit des „Leitobjekts“ Buch haben unter anderem auch solche Schriften eine verstärkte öffentliche Rezeption erfahren, die zuvor deutlich geringere Chancen auf Breitenwirkung gehabt hätten (vgl. ebd., S. 149). Frankreich bietet ein programmatisches Beispiel dafür, wie das Zusammenwirken derer, die ‚Bücher machen‘ (Verleger, Lektoren, Autoren), das geistige Klima und das intellektuelle Leben der Phase zwischen etwa 1960 und den 1980er Jahren prägten. Das damit verbundene Florieren des Buchmarkts und die Zirkulation neuproduzierter Bücher hielt bis in die mittleren 1990er Jahre an; dann erfolgte ein Einbruch.  



Expansionen der Buchnutzung: Das Taschenbuch. Die Signifikanz des Buchs als kulturelles Leitobjekt, als Stimulus intellektueller Auseinandersetzungen mit Ideen sowie als Medium eines breiten gesellschaftlichen Bildungsprozesses wurde nicht zuletzt durch einen spezifischen Buchtypus erhöht: durch das Taschenbuch, das, billig produziert und entsprechend preisgünstig zu erwerben, die Breitenwirkung von Schriften und die öffentliche Auseinandersetzung mit diesen ebenso förderte wie die breite Entstehung individueller Bibliotheken im Privatbesitz. Je billiger die Bücher, desto mehr Leser konnten sie finden und desto größer war auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Leser langfristig mit den Büchern beschäftigten (vgl. Mercer 2011). Hagner charakterisiert die „paperback Revolution“ als einen „Siegeszug der Taschenbücher, der zur Demokratisierung des Wissens und Entsakralisierung des gelehrten Buches als Leinenschmöker führte“ (Hagner 2015, S. 149). Verleger (die an hohen Taschenbuchauflagen allerdings auch gut verdienen konnten) sahen in der Produktion billiger Bücher einen kulturellen Auftrag.6 Ökonomisch gesehen Massenware, löste das Taschenbuch in dieser Eigenschaft freilich eine grundsätzliche Kontroverse aus. Konnte etwas als Massenware Produziertes kulturfördernd sein?7 Einflussreiche Kritiker der durch Massenproduktion und entsprechende Konsumgewohnheiten geprägten kapitalistischen Gesellschaft rechtfertigten jedoch das von anderen mit Misstrauen beobachtete Paperback mit dem Argument, es stelle einer breiten Leserschaft Wissen bereit, ohne dass dabei die vermittelten Inhalte Schaden näh 

5 Krüger weiter: „Das Buch war – zum ersten und zum letzten Mal – zu dem Kommunikationsmittel geworden, das alle anderen, und vor allem Radio und Fernsehen, in den Schatten stellte.“ (Krüger 1994, S. 28) 6 Siegfried Unseld betonte 1962 unter Berufung auf Beobachtungen in der universitären Szene, „wie richtig es ist, grundlegende philosophische Texte zu Preisen vorzulegen, die eben für den kleinen Geldbeutel erschwinglich sind“ (Unseld 2003a, S. 17). 7 Adorno verdächtigte das Taschenbuch als Medium klassischer Texte, die Halbbildung zu fördern; vgl. Hagner 2015, S. 159.  









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Teil A Aspekte des Buchs

men.8 Bezogen auf Deutschland, wo sich soziale, buch- und bildungsgeschichtliche Prozesse unter anderen Rahmenbedingungen und in anderer Weise vollzogen als in Frankreich, schätzt Hagner die Bedeutung des Taschenbuchs für die Wissenskultur besonders hoch ein: Hier habe der „Aufstieg der Geisteswissenschaften seinen Anfang […] mit ihrer Einwanderung ins Taschenbuch“ genommen – schon vor den 1960er Jahren (Hagner 2015, S. 155f.). Paperbackausgaben populärwissenschaftlicher und an eine nichtakademische Leserschaft adressierter sowie spezialwissenschaftlicher, ein Fachpublikum ansprechender Schriften fanden seit den 1950er Jahren hohe Auflagen (vgl. ebd., S. 156), programmatisch repräsentiert einerseits durch die Reihe „Bücher des Wissens“ (S. Fischer Verlag, ab 1952) und „rowohlts deutsche enzyklopädie“ (ab 1955).9 Auch literarische Texte fanden in Taschenbuchreihen eine Rezeptionsintensität, die sich auf das literarische Leben, den Diskurs über Literatur und letztlich auch deren Entstehung nachhaltig auswirkte. Das Bild der Buch-, Lese- und Schreiblandschaft wurde in der deutschen Nachkriegszeit durch die erfolgreichen und auflagenstarken Taschenbuchreihen großer Verlage (wie Suhrkamp und Fischer) maßgeblich geprägt.  







Alltagskultur und Buchkultur. Auch wenn mit Blick auf die 1960er und 1970er Jahre das Schlagwort vom „Goldenen Zeitalter des Buchs“ recht pauschal und im Detail korrekturbedürftig erscheinen mag – es bezieht sich ja vor allem auf bestimmte thematische Bereiche der Buchproduktion (auf die Geisteswissenschaften, aber auch auf die Belletristik) – eröffnet es doch wichtige Perspektiven auch und gerade auf die künstlerische Arbeit mit dem Buch – d. h. auf in buchkünstlerischen Arbeiten materialisierte Reflexionen über das Buch und auf Praktiken artistischer Buchgestaltung. Insgesamt ergeben sich aus dem grob skizzierten buchgeschichtlichen Kontext heraus gleich mehrere Impulse und Themen für die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Buch: (a) Die Frage nach den kulturellen Funktionen des Buchs musste sich in einer Zeit des sozialen und bildungskulturellen Umbruchs, der expandierenden akademischen und bildungsbürgerlichen Lese-Interessen, der stark expandierenden Produktion und Rezeption von Büchern überhaupt, mit verstärktem Nachdruck stellen. Wo Bücher das geistige Klima bestimmten, gehörte die Reflexion über das Buch – über alles, was man mit diesem Begriff verbinden konnte, und über alle die Buchkultur prägenden Faktoren – in einer neuartigen Weise zur Selbstverständigung der Kultur. Und wo, bedingt durch ein gewandeltes soziales Klima und durch preiswertere, massenhaft aufgelegte Bücher, eine zunehmend größere Zahl von Lesern ein Leben mit und zwischen eigenen Büchern führte, gehörte die Auseinandersetzung mit dem Buch  











8 Vgl. Habermas 1979, S. 201: „Der Inhalt der Taschenbücher bleibt von Gesetzen des Massenumsatzes, dem sie ihre Verbreitung verdanken, im allgemeinen unberührt.“ 9 In Deutschland als „Bestandteile eines intellektuellen Rezivilisierungsprogramms“ wirkend, trugen diese Reihen, so Hagner, zu einem „erheblichen Verbreitungs- und Ansehensschub“ der Geisteswissenschaften bei (Hagner 2015, S. 157).  



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und seinen Gebrauchsformen zur Selbstverständigung auch der einzelnen Leser (zu der der Autoren ohnehin). (b) Fragen der Materialität erwiesen sich in der angebrochenen Ära des Taschenbuchs nachdrücklich als mehr denn bloße Äußerlichkeiten. Leinen oder Paperback: mit dieser bildungssoziologisch relevanten Alternative verbanden sich unterschiedliche Lesekulturen und unterschiedliche Formen des Bücherkults. Dass mit der breiten Verfügbarkeit des Taschenbuchs buchkünstlerisch auch gespielt wurde, zeigt exemplarisch Dieter Roths Set von Hegelwürsten, die aus den Bänden der Suhrkampschen Taschenbuchausgabe von Hegels Werken entstanden. Die Arbeit ist – zweifellos absichtsvoll – vieldeutig: eine Hommage an das Taschenbuch als breit verfügbares ‚Grund-Nahrungsmittel‘, aber auch eine Anspielung auf die ‚Schwerverdaulichkeit‘ Hegelscher Schriften, an der ihre starke Verbreitung durch das Medium Taschenbuch auch nichts änderte. Auch in der von Rolf Dittmar formulierten Behauptung, ein „Buch ist nicht nur Lesegrießbrei“ (Dittmar 1977b, S. 159),10 verknüpft sich die Idee einer von Büchern bereitgestellten ‚geistigen Nahrung‘, und vielleicht besteht zudem ein Bezug zur Kontroverse um das Massenprodukt Buch und die kulturpessimistische Sorge vor allzu leicht Verdaulichem. Viele Buchwerke nehmen Bezug auf die Frage, ob das Buch eher ein Massenprodukt und Alltagsding oder ein Kultobjekt, ein Gegenstand der Verehrung sei – meist ohne dazu eindeutig Stellung zu beziehen. (c) Vor allem buchkünstlerisch inszenierte und dokumentierte Prozesse der Aneignung von Büchern und des persönlichen Gebrauchs von Büchern – von Büchern mit Gebrauchsspuren, mit ‚Lebensresten‘ gleichsam –, lassen sich zu buchsoziologischen Beobachtungen der 1960er und 1970er Jahre in Beziehung setzen. Das Buch rückt einer breiten Leserschaft näher, es wird zum Alltagsding, das man als Mitglied einer Bildungsgesellschaft tendenziell in großer Stückzahl besitzt, es wird zum Begleiter auf Reisen, zum Begleiter durchs Leserleben, in vielen Fällen auch zum Erkennungszeichen der Angehörigen bestimmter Lesergruppen untereinander. Was liegt da näher, als Bücher künstlerisch in einer Weise zu bearbeiten, die (echte oder künstlich arrangierte) Lebensspuren zur Anschauung bringt, die das Buch als ein GebrauchsDing fokussiert, das man sammelt und aussortiert, benutzt und abnutzt, liebevoll schont und aufbewahrt oder aber beschriftet, beklebt, zerfleddert? MSE  











10 Dittmar betont: „Ich glaube, dass hier (in der Buchobjektkunst, Anm. d. Verf.) Materialien geschaffen werden für ein Buch, das nicht nur gelesen wird, das vom Leser nicht nur wie ein Grießbrei verdaut wird oder nicht, ohne geistige Anstrengung abgelagert wird in seinem Hirn […].“ (Dittmar 1977b, S. 159)  

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Teil A Aspekte des Buchs

A 1.3 Eine neue Buchkunst als Herausforderung etablierter Vorstellungen und Praktiken Rolf Dittmar, Kurator einer Ausstellung zu Künstlerbüchern und Buchobjekten auf der documenta von 1977, stellt einen entsprechenden Katalogbeitrag unter den Titel Metamorphosen des Buches. Hier heißt es: Herkömmlich ist das Buch ein Instrument der Informationsvermittlung. Die Informationen, die es vermittelt, sind Fremdinformationen. Das Buch berichtet über etwas, das nicht das Buch selbst ist. Auch Kunstbücher sind (nur) Bücher über Kunst und die künstlerische Illustration nur Hilfsmittel der Informationsverdeutlichung. Daran hat auch die Buchkunstbewegung des Art Nouveau nichts geändert: Ein Buch mit Originalgrafik enthält zwar Kunst und ein bibliophiles Buch kann Kunstwerk sein. […] Doch bleibt das Buch als Kunstwerk in allen seinen Elementen der durch Titel und Thema bestimmten Fremdinformationsvermittlung verpflichtet. So schon die Andachts- und Stundenbücher des Mittelalters. So noch der moderne bibliophile Pressendruck. Mitte der 60er Jahre jedoch geschieht etwas Neues. Der Künstler beginnt das Medium Buch als Instrument der Sachinformationsvermittlung in Frage zu stellen. Er […] benutzt die technischen Möglichkeiten des Buches als Mittel künstlerischen Ausdrucks. Das sich umkehrende Verhältnis zwischen künstlerischer Gestaltung und Sachaussage reicht von deren souveräner Mißachtung bis zur bewußten Vergewaltigung. Im Extremfall ist das Buch als Kunstwerk nur noch Träger einer ästhetischen […] Eigeninformation. Es entsteht – verstärkt seit dem Beginn der siebziger Jahre – eine neue ‚Buchkunstbewegung‘, die sich deutlich von der kunstgewerblichen Bewegung der Jahrhundertwende unterscheidet. Das Buch als Kunstwerk wird zum Thema seiner selbst und damit Gegenstand von Ausstellungen. (Dittmar 1977a, S. 295)  





Programmatische Texte wie dieser operieren mit Konzepten und Begriffsoppositionen, die zumindest rückblickend kommentierungsbedürftig erscheinen. Die Charakterisierung bibliophil gestalteter Bücher älterer Provenienz über ihre Funktion als (wenngleich ästhetisch ansprechende) Medien der „Informationsvermittlung“ etwa provoziert zu kritischen Rückfragen. Offenbar geht es darum, eine als innovatorisch begriffene Kunstpraxis von ihren Vorläufern abzugrenzen, indem diese als etwas aus ästhetischer Perspektive noch Vorläufiges, Defizitäres interpretiert werden. Dittmars profilierende Unterscheidung zwischen Mittlern von „Fremdinformation“ und „Eigeninformation“ entspricht einem strukturalistisch-semiotischen Modell ästhetischer Kommunikation, das den dominanten Selbstverweis ästhetischer Botschaften zum Kriterium ihres Kunstwerkcharakters macht. Roman Jakobson spricht bezogen auf literarische Werke qua sprachliche Botschaften von der für diese prägenden „poetische[n] Funktion“, die er von anderen „Funktionen“ unterscheidet (vgl. Jakobson 1960, S. 83–119, insbes. S. 88, 92). Mit Blick auf die zentrale Gegenüberstellung von Fremd- und Selbstreferenz weist die semiotisch begründete Ästhetik übrigens Affinitäten zur Autonomieästhetik auf, für welche ja die Differenzierung zwischen fremdbestimmter Funktionalität und Selbstzweckhaftigkeit konstitutiv ist: Das Kunstwerk ist nicht über seine Funktionen und Zwecke bestimmt, seine Gestaltung drückt die  



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Idee einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ aus (Kant, Kritik der Urteilskraft § 15; Kant 1990, S. 66). Zu buchförmigen Gebilden, welche die konventionellen Funktionen von Büchern nicht – oder doch nicht primär – erfüllen, die sich solchen Funktionen womöglich gar klar verweigern, obwohl sie durch ihr Aussehen doch auch wieder an das Buch als zweckdienliches Objekt erinnern, scheint diese Formel gut zu passen. Nun spricht nichts gegen die Orientierung einer Gattungstheorie an einem autonomieästhetisch grundierten semiologischen Modell, das in den 1970er Jahren zudem besonders einflussreich war, als Strukturalismus und Semiotik in den Geisteswissenschaften führende Paradigmen darstellten und in dieser Eigenschaft übrigens nicht nur auf Theoretiker der Kunst, sondern auch auf viele Künstler und Schriftsteller prägenden Einfluss übten. Aber eine solche Orientierung sollte in ihrer Eigenschaft als Entscheidung für einen spezifischen Diskurstypus dennoch reflektiert werden, wo es um grundlegende Gattungsbestimmungen und um Abgrenzungen gegenüber früheren ästhetischen Praktiken geht – vor allem, wenn mit ihr eine Tendenz verbunden ist, zwischen ‚Kunst‘-Objekten auf der einen Seite, nicht- oder noch-nicht-künstlerischen Objekten auf der anderen Seite zu differenzieren. Aus der Perspektive einer ‚form-follows-function‘-Ästhetik beispielsweise stellen sich die Beziehungen zwischen Funktion und ästhetischer Objektgestaltung ganz anders dar (vgl. Sullivan 1896, Petroski 1992). Die für Dittmar und andere Theoretiker des Künstlerbuchs leitende Vorstellung, in der Funktionalität von Büchern als Träger von „Fremdinformationen“ liege ein Moment der Unterwerfung (unter Zwecke), in der Hinwendung zur „Eigeninformation“ hingegen ein Moment der Selbstbefreiung des Buchs, geht einher mit einem Moment suggestiver Wertung. Die Charakteristik älterer Buchwerke als Kunstgewerbe (der Ausdruck als solcher impliziert bereits eine letztlich autonomieästhetisch fundierte Abwertung) erscheint jedoch als ebenso problematisch wie die Beschreibung bibliophiler Drucke als Medien der Fremdinformationsvermittlung. Die Nutzung des Buchs als konstitutiver Bestandteil literarischer Werke bleibt in Diskursen über Künstlerbücher ohnehin ganz außer Betracht. Sie hätte wohl unlösbare Komplikationen zur Folge, was die Frage nach Information und Informationsträger angeht. Eine einseitige Orientierung an den Doppelbegriffen Fremd-/Eigeninformation bzw. Fremd-/Selbstzweck kann den Blick auf buchgestalterische Arbeiten trüben, die der Idee eines inneren Zusammenhangs zwischen Funktionalität und Schönheit, ja einer Einheit von Funktionalität (etwa: guter Lesbarkeit) und künstlerischer Qualität verpflichtet sind. Buchdesigner, Typografen, Schöpfer von Bildern für Bücher und Autoren, die eine entsprechende Buchgestaltung anstreben (ob sie sie nun selbst realisieren oder nicht), nehmen das Buch nicht in ‚fremde‘ Dienste. Wenn man hier überhaupt von Dienst sprechen möchte, so nehmen sie die materiellen und formalen Gestaltungsparameter des Buchs in den Dienst dessen, was zum Buch selbst gehört. Die Vorstellung, Praktiken ästhetischer Formgebung stünden im ‚Dienst‘ von Inhalten, entspricht letztlich einer geläufigen, aber doch perspektivischen Sichtweise, welche durch manche Beispiele ästhetischer Buchgestaltung vielleicht sogar eher unterlaufen als bestätigt wird.  







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Teil A Aspekte des Buchs

Die Behauptung eines grundlegenden buchästhetischen Aufbruchs in den 1960er Jahren, konkreter: die These eines vom Medium der „Fremdinformation“ zum „Thema seiner selbst“ avancierenden Buchs (eines sich vom Dienst an ‚fremden Funktionen‘ emanzipierenden Buchs, eines Buchs, das vor allem ‚sich selbst‘ darstellt) ist nicht das letzte, zumindest nicht das einzige Wort über die Buchkunst. Doch sie hat als Pionierbeitrag zur Diskursivierung einer sich als innovatorisch verstehenden Kunstrichtung gleichsam proklamativen Charakter – und in dieser Eigenschaft performative Effekte: Eine Kunst, die sich als experimentell deklariert oder von Kritikern mit programmatischen Wendungen als neuartig beschrieben wird, steht allein dadurch im Zeichen einer Zäsur, die sich auf die künstlerische Produktion und auf die Rezeption der entstehenden Arbeiten auswirkt. MSE  

A 1.4 Buchkunst als Definitionsproblem In verschiedenen theoretischen Reflexionen und Übersichtsdarstellungen zum Künstlerbuch finden sich, unterschiedlich akzentuiert, Hinweise auf die Undefinierbarkeit der damit gemeinten Artefakte, die Unbestimmbarkeit der durch einen solchen Begriff suggerierten Gattung. Ein definitorisches Problem, auf das Johanna Drucker mit ihrer grundlegenden Studie von 1995 (Neuauflage 2004) hinweist, ergibt sich aus dem paradoxen Umstand, dass ‚artist’s books‘ (Künstlerbücher), wenn man sie definieren möchte, offenbar über den Begriff ‚book‘ bzw. ‚Buch‘ definiert werden müssten, dass es für die entsprechenden Phänomene aber vielfach charakteristisch ist, konventionelle Vorstellungen vom Buch in Frage zu stellen. Es gibt zwar einen allgemeinen Konsens darüber, was man als ein Buch betrachtet – aber gerade hierauf bezogen wirken Künstlerbücher oft irritierend, etwa durch Abweichung von der heute geläufigen Kodexform. Die entsprechenden Aktivitäten lassen sich aufzählen, aber nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Vorliegende Versuche einer definitorischen Bestimmung des Künstlerbuchs sind laut Drucker entweder zu eng oder zu allgemein gefasst (Drucker 2004, S. 14). Eine Definition der Kunstform liefern zu wollen, erscheint ihr selbst als problematisch. Auch Anne Mœglin-Delcroix betont die Schwierigkeit einer definitorischen Bestimmung des Künstlerbuchs, die sich aus der Überschneidung des Begriffs ‚artist’s book‘ mit anderen Begriffen ergebe (illustrated book, painter’s book/livre de peintre etc.). Daher soll nicht bei der Terminologie angesetzt, sondern ein geschichtlicher Abriss gegeben werden. Dieser – und damit die Geschichte des ‚artist’s book‘ – beginnt für Mœglin-Delcroix in den frühen 1960er Jahren.11  







11 Die Dadaisten und Futuristen gehören für Mœglin-Delcroix zur Vorgeschichte des Künstlerbuchs; die frühen 1960er sind für sie ein echter Neuanfang. Vgl. Dematteis u. a. 2004, S. 27.  



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Die Schwierigkeit zu definieren, was ein Künstlerbuch ist, wird dadurch noch gesteigert, dass die Künstler ja an der Diskussion partizipieren, wobei künstlerische Produktion, Betitelung der Arbeiten und Kommunikation mit der Öffentlichkeit ineinandergreifen. Der Vorschlag, als ‚Künstlerbuch‘ zu bezeichnen, was Künstler selbst so nennen, erscheint hier naheliegend, auch wenn damit der Wunsch nach einer Definition gerade nicht erfüllt wird.12 Letztlich ist das Definitionsproblem vor allem darauf zurückzuführen, dass Künstlerbücher per se einer proteischen Gattung angehören: Sie nehmen Ausgang von der ‚Normalidee‘ des Buches, diese aber wird abgewandelt, manchmal stark verfremdet. Eine künstlerische Praxis aber, die darin besteht, ein Ausgangskonzept (wie hier den Kodex) zu verwandeln, kann ja kaum zu Resultaten führen, die einer einheitlichen Form entsprechen. Beschreiben ließe sich das Künstlerbuch demnach u. a. über die Idee der Modifikation, des Wandels, der Abweichung: eine Definition via negationis, in der als Kontrastfolie das konventionelle Buch mitgedacht ist. Abweichung, Modifikation etc. implizieren stets reflexive Distanz. Schon darum ist das Künstlerbuch als per se reflexive Kunstform beschreibbar.  

Bestimmungsansätze via negationis. Hans Dickel spricht immerhin von zwei „Definitionen des zeitgenössischen Künstlerbuchs“ (Dickel 2008a, S. IX). Das Künstlerbuch wird an neue Techniken der Buchherstellung geknüpft, und es erscheint als Produkt eines Künstlers, der für Text und grafisch-visuelle Elemente gleichermaßen zuständig ist. Ersteres Kriterium ist seinerseits recht unbestimmt; letzteres trifft nicht nur auf künstlerische Buchgestaltungen zu. Auch angesichts der grundsätzlichen Problematik einer Definition des Künstlerbuchs erscheinen solche und andere Bestimmungsansätze aber doch als sinnvoll, da in ihnen werkübergreifende Beobachtungszusammenhänge kondensiert zum Ausdruck kommen, Perspektiven für weitere Beobachtungen eröffnet und Vergleichsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Werken geschaffen werden. Dass dabei Negativbestimmungen, Hinweise auf Abweichungen von Vertrautem, auf Brüche mit Erwartungen und Gegensätze zu Geläufigem eine wichtige Rolle spielen, überrascht anlässlich der Schwierigkeit einer Definition des Künstlerbuchs nicht. Johanna Drucker plädiert dafür, das Buch als Ganzheit zu betrachten („a book should be thought of as a whole“, Drucker 2004, S. 122) und nimmt dies zum Ausgangspunkt ihrer historisch-gattungsästhetischen Studie zum artists’ book. Die Selbstreflexivität dieser Werke steht dabei im Mittelpunkt. Drucker möchte nur dann von „artists’ books“ sprechen, wenn eine Beziehung der entsprechenden Werke zur Idee des Buches („idea of the book“) besteht – „to its basic form and function as the presentation of material in relation to a fixed sequence which provides access to its contents (or ideas) through some stable arrangement“ (ebd., S. 123). Dabei können auch Spielkartenstapel oder andere unkonventionelle Buch-Formen noch in eine Beziehung zur  







12 Vgl. Purpus 2007, S. 51: „Im weitesten Sinne sind alle die Bücher Künstlerbücher und Buchobjekte, die die Künstler selbst als Künstlerbücher und Buchobjekte bezeichnen.“  

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Teil A Aspekte des Buchs

Idee des Buchs gesetzt werden (ebd., S. 123). Konkretisierungen der mit dem Stichwort ‚Künstlerbuch‘ verbundenen Vorstellungen erfolgen oft auf dem Weg der Abgrenzung gegen andere Buchtypen. So wird das Künstlerbuch gelegentlich als ein Medium ohne eigentliche Medialität (bezogen auf etwas anderes, zu Vermittelndes) aufgefasst. Eine Unterscheidung zwischen Büchern, die Kunst reproduzieren, und solchen, die selbst Kunst sind, findet sich u. a. bei Artur Brall (Brall 1986). Hans Dickel benutzt den Begriff „Medialität“ gleichwohl zur Charakteristik des selbstreflexiven Zugs von Künstlerbüchern.  



Künstlerische Inhalte haben sich der Buchform von jeher als Medium bedient, seien es Monographien, Sammlungs- oder Ausstellungskataloge, Anthologien, Editionen visueller Poesie oder Manifeste. Als Künstlerbücher im engeren Sinn sind dagegen nur solche Bücher zu bezeichnen, die nicht der Reproduktion und Verbreitung anderer künstlerischer Inhalte dienen, sondern solche erst hervorbringen, besser gesagt: sie formulieren. Auch von den traditionell so genannten Malerbüchern, livres des peintres (oder auch: livres illustrés), sind sie zu unterscheiden, denn während diese die Form des Buches benutzen, in der Regel aber nicht thematisieren, sind Künstlerbücher selbstreflexiv auch hinsichtlich der eigenen Medialität. (Dickel 2008a, S. X)  

Abgrenzungen zum Malerbuch. Wichtig ist demnach insbesondere die Abgrenzung des Künstlerbuchs gegen Malerbuch und Buchobjekt (vgl. dazu u. a. Drucker 2004). Das Malerbuch wird dabei allerdings immerhin als Wegbereiter des Künstlerbuchs erörtert, und dies aus guten Gründen. War doch mit dem Malerbuch dezidiert die Gestaltung von Büchern als solche in den Kreis der ‚Künste‘ eingetreten. Die Geschichte des livre d’artiste als eines Publikationsobjekts ist eng verknüpft mit dem Wirken der Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard und Daniel-Henry Kahnweiler. Vollard, der u. a. mit Georges Rouault zusammenarbeitete, ließ seit den mittleren 1890er Jahren entsprechende Werke erscheinen, Kahnweiler, mit Apollinaire, Picasso und anderen Vertretern des Kubismus kooperierend, seit gut einem Jahrzehnt später. Beide hatten Vorläufer, aber es waren vor allem sie, die dem livre d’artiste den Rang einer eigenständigen Kunstform gaben und eine weitere Publikationstätigkeit anregten. Luxusausgaben von Büchern, die entweder von Künstlern oder von Dichtern gestaltet worden waren, stellten die Vorläufer des livre d’artiste dar. Für sie charakteristisch sind u. a. große Formate, die Verwendung hochwertigen oder kostbaren Materials, kunstvolle Drucktechniken und Bindeverfahren, häufig Kolorierungen per Hand, sowie Bilder und Texte, die sich an einen gehobenen künstlerischen und literarischen Geschmack wandten. Wichtige Künstler, die dem livre d’artiste sein Profil gaben, waren Pierre Bonnard, Henri Matisse, Joan Miró, Max Ernst und Pablo Picasso. In vielen Fällen entstanden livres d’artiste als grafische Interpretationen kanonischer Autoren wie Ovid und Äsop, Dante und Shakespeare. Die Initiative zur Realisierung von livres d’artiste ging oft auf den Verleger zurück, der Dichter und bildende Künstler für die Projekte unter Vertrag nahm. Manchmal arbeiteten Grafiker und Dichter gar nicht wirklich oder allenfalls punktuell zusammen. Wie Drucker betont, trug der seit dem 19. Jahrhundert anwachsende Markt für Luxusartikel zum Aufkommen des livre d’ar 







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tiste als eines Luxusartikels maßgeblich bei. Die Künstler profitierten vom zunehmenden Interesse an dieser Kunstform sowohl bezogen auf die Einsetzbarkeit neuer Mittel (wie der Drucktechnik) als auch wegen der Möglichkeit, mit dieser Form neue Themen zu verbinden. Für Drucker (und andere Theoretiker) sind livres d’artiste aber noch keine Künstlerbücher, schon weil es für sie unüblich erscheint, die Form des Buchs in Frage zu stellen. Gerade in der Abgrenzung zum livre d’artiste zeichnet sich für Drucker also ein Charakteristikum ab, das man als Kriterium des Künstlerbuchs betrachten könnte: Reflexivität bezogen auf die Buchform als solche (Drucker 2004, S. 4). Dadurch verschiebt sich das Problem allerdings nur: Welche Kriterien begründen bzw. gewährleisten solche Selbst-Reflexivität? Wo beginnt die Abweichung?  

„Buchobjekte“ und „Bookworks“. Gefordert wurde ferner gelegentlich eine Unterscheidung zwischen Buchobjekt und Künstlerbuch. Anlässlich einer Freiburger Ausstellung von 1980 wird zunächst ein Definitionsvorschlag zum „Buchobjekt“ gemacht – als Basis für eine Abgrenzung zum Künstlerbuch.13 In Ausstellungen und ihren Katalogen wird aber gern auf eine trennscharfe Differenzierung zwischen Künstlerbüchern und Buchobjekten verzichtet. Auf der VI. documenta 1977 war gestalterischen Arbeiten mit dem Buch eine eigene Abteilung gewidmet. Hier wie im Katalog wurde zwischen Künstlerbuch und Buchobjekt nicht eigens differenziert; Kurator Rolf Dittmar charakterisiert die gezeigten Buchobjekte als Selbstthematisierungen des Buchs, also im Sinn der Bestimmung des Künstlerbuchs als buch-reflexive Kunst (Dittmar 1977a, S. 296). Buch-Gestaltung und ‚Sachaussage‘ erscheinen als zwei Pole eines Spektrums, innerhalb dessen sich die einzelnen Buchwerke positionieren, mal eher das eine, mal eher das andere priorisierend. Mit Abgrenzungen operiert auch Garrett Stewart, der von „bookworks“ spricht und damit einen im Prinzip neutral klingenden Terminus favorisiert. Dabei verwendet er allerdings den Namen „artist’s book“ eher für das, was man sonst wohl eher als „bibliophiles Buch“ oder auch „illustriertes Buch“ bezeichnet findet, vielleicht auch als „Malerbuch“. „Bookworks“ nach Stewart entsprechen hingegen im Wesentlichen den Bestimmungen Druckers und anderer von „artists’ books“:  





In question here is not the illustrated artist’s book, the prestige limited edition that may turn up for sale in a specialty bookshop, nor the handcrafted artisanal book, often wordless, that is more likely to be shown with works in (rather than on) paper. This study has in view, instead, the orphaned codex form – stolen from normal exchange or sculptured from the ground up: the codex as abstract or conceptual book art […]. (Stewart 2011, S. XIII)  



13 „In der bisherigen Literatur sind die Begriffe Buchobjekt und Künstlerbuch nicht eindeutig voneinander abgegrenzt worden. Grundsätzlich lassen sich die beiden Begriffe trennen, auch wenn sich an einzelnen Beispielen gelegentlich fließende Übergänge zeigen. Es erscheint daher wenig sinnvoll, […] diese Problematik durch die Aufsplitterung in weitere Kategorien zu komplizieren.“ (Kat. Ausst. 1980, R. G./T. W., hier S. 9)  





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Teil A Aspekte des Buchs

Stewarts Bestimmung von „bookworks“ impliziert eine geläufige These zu den Bedingungen, unter denen die Kunst der Buchwerke entstehen konnte: Die Ablösung des Buchs als Leitmedium verbaler Textkommunikation hat es für künstlerische Bearbeitung freigesetzt. Dem Kompositum mit „-work“ entsprechend liegt ein starker Akzent auf Produktion und Nutzung der Werke (ebd., S. XIII). Den Terminus „bookworks“ hatten schon Ulises Carrión und Clive Phillpot verwendet, um das Gemeinte von konventionellen Büchern abzugrenzen; es gehe, so Carrión, um „books in which the book form is intrinsic to the work“, so dass das Werk nur als Buch bestehen könne (Carrión 1980, S. 67). MSE  



A 1.5 Vorläufer, Impulsgeber: William Blake, William Morris Obwohl die Erfindung des Buchdrucks in der Kulturgeschichte des Buchs, der Vermittlung und der Nutzung von Texten eine tiefgreifende Zäsur darstellt, bietet sich mit Blick auf die Gestaltung von Buchraum und Buchseite ein anderes Bild: Das gedruckte Buch ähnelt dem mittelalterlichen Manuskript strukturell in manchem, und vor allem künstlerische Verfahren der Buchgestaltung knüpfen manchmal dezidiert an Praktiken mittelalterlicher Buchausstattung an. Hier wird die mittelalterliche Buchkunst einerseits zum historischen Zitat, andererseits aber zum Ausgangspunkt einer Buchkunst, die sich als innovatorisch und wegweisend versteht. Buchgestaltung als Kunst: Wegbereiter ästhetischer Buchgestaltung in der Moderne. Als bedeutende Wegbereiter des modernen Künstlerbuchs gelten William Blake und William Morris. Beide wirken als Buchgestalter (Buchdesigner, Drucker); beide schlagen mit ihren Arbeiten Brücken zwischen Literatur und Buchkunst, insofern sie nicht nur als Buchgestalter, sondern auch dichterisch tätig sind; beide gestalten Bücher mit fremden wie mit eigenen Texten und orientieren sich an Formen der Buchgestaltung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, insbesondere mit Blick auf die Verbindung oder Verschmelzung von Text und Bild. Wichtige Anregungen beziehen beide von Beispielen der mittelalterlichen Handschriften-Illumination, dies aber unter Nutzung des Buch-Drucks. Auch in wichtigen Grundtendenzen bestehen bei Blake und Morris Konvergenzen: Beide zielen auf die Zusammenführung von Text und Bild zur Einheit (analog zu Formen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Buchgestaltung) und entwickeln eigene Spielformen von Schriftbildlichkeit. Im Zentrum des Interesses steht dabei für Blake wie für Morris das Buch (als gebundene Serie von Blättern – und als ‚besonderes‘, kulturell stark semantisiertes Objekt). Beide legen besonderen Wert auf die handwerkliche Seite der Buchproduktion und sind gerade damit wichtige Vorläufer moderner Buchkünstler.

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William Blakes Illuminated printing und das Format des Buchs als Medium. Blake, ausgebildeter Druckgrafiker, verfasste eigene Texte und gestaltete Bilder; seine Dichtungen und sein bildnerisches Werk durchdringen einander wechselseitig. Blake platziert seine Texte auf figurativ gestalteten Seiten bzw. fügt sie in grafisch dargestellte Szenen ein. Zudem sind die Texte nicht gesetzt, sondern mit der Hand geschrieben, gleichsam ‚wie gemalt‘. Text und Bild treten so in eine denkbar enge Beziehung; man hat sie daher als ‚dialogisch‘ charakterisiert (Drucker 2004, S. 25). Blake schätzt das Buch als ein Medium, das ihm ein unabhängiges Publizieren möglich machte. Um seine Werke zu veröffentlichen, sucht er nach einem Publikationsverfahren, das ihn von einer Druckerei und den entsprechenden Kosten unabhängig macht. Er schafft Grafiken, die er Illuminated printing nennt und die auf einer technischen Neuerung beruhen. Er bearbeitet seine Druckplatten so, dass es ihm gelingt, selbstgeschriebene Textfelder in die Grafiken einzufügen; was eine bestimmte Ätztechnik und die Verwendung von Spiegelschrift voraussetzt. Die Druckplatten gestatten dann eine unlimitierte Zahl von Abzügen, die Blake auf Bestellung anfertigt. Die Druckbögen werden von Blake dann mit Wasserfarben koloriert; so entstehen aus gleichartigen Druckwerken Unikate, die teilweise deutlich voneinander verschieden sind. Insgesamt entwickelt Blake eine ausgeprägte Sensibilität für die Gestaltbarkeit von Buchseiten und von Büchern insgesamt. Das Buch gilt ihm, von seinem praktischen Vorzug der Vervielfältigbarkeit abgesehen, auch als Medium, in dem er seine persönlichen kosmologischen Visionen entwickeln und darstellen kann.  

Blakes Buch-Visionen. Blake zufolge wurde ihm die Idee zu seinem neuen Verfahren in einer Traumvision von seinem verstorbenen jüngeren Bruder Robert eingegeben; insofern ist sie eine visionäre Kunst (vgl. Kleinstück 1975, S. 33), abgestimmt auf die Gegenstände der Darstellung: Die Grafiken zeigen vor allem Figuren aus mythischen und quasimythischen, biblischen und Märchen-Kontexten, und auch Alltagsszenen erscheinen stark stilisiert. Blakes visionäre Text-Bild-Schöpfungen sind meist zu Zyklen arrangiert. Schon im frühen Werkzyklus The Songs of Innocence, erschienen 1789, verbinden sich dichterische und malerisch-grafische Ausdrucksmittel.14 Thematisch stehen religiöse und moralische Vorstellungen im Zentrum; in den Texten geht es um die Beziehung zwischen Unschuld und Erfahrung, Liebe, Gesetz und Gnade.15 Blake  

14 Die Songs of Innocence drücken die zeit- und gesellschaftskritisch fundierte Utopie einer neuen, ‚natürlichen‘ Unschuld aus und bilden einen Zyklus, der 1789 entstand. Die in den folgenden Jahren verfassten Songs of Experience wurden 1794 zusammen mit dem früheren Zyklus publiziert; Teile des ersten Zyklus wurden dabei in den zweiten verschoben. Blake druckt statt mit dem üblichen Schwarz lieber in Braun, Grün und Ocker. Das Illuminieren (mit Aquarellfarben) erfolgt erst, wenn der Verkauf eines Aquarells ansteht; manchmal hilft Blakes Frau. Die Art der Illumination modifiziert sich im Lauf der Jahre. 15 Spirituelle Fragen und individuelle Bildvisionen prägen u. a. auch die folgenden Bände: The Book of Thel (1789), The Gates of Paradise (1793), The Marriage of Heaven and Hell (1790–1793), The Visions of the  

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schließt (vermutlich 1788) eine dreiteilige Traktatserie ab, bei der er wohl erstmals die Verbindung von Text und Zeichnung in Form von Drucken mit Reliefätzungen erprobt. Die Traktate kritisieren die Idee einer Naturreligion, betonen deren Unzulänglichkeit und die Notwendigkeit religiöser Offenbarung. Motive der späteren Zyklen sind in der Bildsprache vorweggenommen. Nach frühen Versuchen, fremde Texte zu illustrieren, Werke von Milton und Shakespeare, wendet sich Blake nach Vollendung seiner Prophetic Books wieder der Auseinandersetzung mit bewunderten Dichtern zu. Besonders intensiv gestaltet sich die Beschäftigung mit Edward Youngs Night Thoughts und Thomas Grays Poems. Weitere Illustrationen entstehen etwa zu Mary Wollstonecrafts Original Stories from Real Life (1791). Auch klassische Autoren sowie vor allem biblische Texte werden künstlerisch interpretiert. In der letzten Lebenszeit entsteht The Book of Job (1825). Blake setzt sich in seinen Werken verbal und visuell mit religiösen und weltanschaulichen, teilweise auch mit konkret politisch-sozialen Fragen auseinander. Sein erstes Illuminated Printing, betitelt There is No Natural Religion, eine subjektive, pamphletartige Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens und der Religion, insbesondere eine kritische Distanzierung von Rousseau und von der Theorie angeborener Ideen, publiziert er 1788. Rousseau hatte die These vertreten, allen Menschen seien bestimmte Ideen eingeboren, darunter die Gottesidee. Der individualistische Blake hingegen ist überzeugt, ein jeder Mensch habe seine eigene Ansicht von der Welt und vom System der Werte, und er lehnt alle Vereinheitlichungen und Generalisierungen ab. Inhaltlich-thematisch propagiert er die Einzigartigkeit persönlich-subjektiver Visionen, die Irreduzibilität des Besonderen auf Allgemeines. Zu anarchistischen politischen Ideen tendierend, betrachtete er Imagination als befreiend. Es ist neben ästhetischen Aspekten vor allem der politisch-emanzipatorische Anspruch, den Blake mit seiner Buchgestaltung verbindet, welcher ihn zum Wegbereiter der Künstlerbuch-Bewegung macht. Insgesamt verbinden sich bei ihm verschiedene ‚rebellische‘ Tendenzen. Er ist ein Zeit- und Gesellschaftskritiker, er lässt sich vom utopischen Bild einer besseren Gesellschaft leiten (das zu seiner Lebenszeit in Europa ja zu gravierenden politischen Umstürzen führte). Er kämpft gegen bestehende Machtverhältnisse in der Gesellschaft und im religiösen Bereich, aber auch in der Kunst. Er lehnt abstrakte Regeln und Gebote ab – im Namen des Besonderen und Einzelnen und aus Protest gegen die Machtstrukturen, die sich solcher Regeln und Gebote bedienen. Dies macht ihn zum künstlerischen Rebellen und Erneuerer sowie zum politischen Anarchisten. Im künstlerischen Bereich gilt seine Abneigung dem etablierten Kunstbetrieb; mit seiner Verteidigung des Individuellen gerade in der Kunst ist er ein konsequenter Verfechter der Genieästhetik. Das künstlerisch Neue repräsentiert das Streben zum Bruch mit einengenden Konventionen und Traditionen, mit Normen und  

Daughters of Albion (1793), America: A Prophecy (1793), Europe (1794), Book of Urizen, Jerusalem (1804– 1820), Paradise Lost (1808), The Book of Job (1821).

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Autoritäten – und es repräsentiert den Willen des Einzelnen, sich gegenüber Regeln und Autoritäten zu behaupten.  

Die Bedeutung des Buchs für Blake. Das Buch erweist sich für Blake als die ideale Form, das ideale Medium. Die Kombination einer drucktechnisch ermöglichten Vervielfältigung (die das Werk zum Multiple werden lässt, das mehr als einen Leser erreicht) mit individueller Illumination (durch die das Multiple dann doch zum Unikat wird) setzt das Besondere und Individuelle mit dem „Gesellschaftlichen“ in eine Beziehung. Die einzelnen Exemplare der von Blake geschaffenen Bücher sind einerseits Individuen, andererseits an viele adressiert. Das eigentliche Werk ist das einzelne, von Blakes Hand gestaltete Buch, entstanden aus dem Zusammenwirken einer Reproduktionstechnik mit einer individualisierenden Gestaltungstechnik (Ausmalen), entstanden auf der Basis einer Medialität, die Multiples erzeugt, und einer Kunst, die Unikate schafft. Dass Blake die Blätter als Dichter, Druckgrafiker und Illuminator (Maler) gestaltet, ist u. a. schon einmal ein Schritt zurück hinter die Arbeitsteilung, wie sie für Industriegesellschaften typisch ist. Das entstehende Buch ist das Produkt von jemandem, der mehrere Fertigkeiten in sich vereint und damit als (fast schon allegorische) Verkörperung einer Einheitsidee gelten kann, die Blake gegen Zersplitterung und Entfremdung des modernen Menschen ins Feld führt. Zudem ist das Buch ein Experimentierfeld, weil an der Entstehung von Büchern normalerweise mehrere Instanzen bzw. Arbeitsprozesse Anteil haben; mit deren Relationen können neue Versuche angestellt werden: Man kann Texte druckgrafisch darstellen, statt sie zu setzen, man kann Gedrucktes per Hand ausmalen (illuminieren) etc. Die Verwendung einer druckgrafisch reproduzierten Handschrift ist ein weiterer Beitrag zur Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem. Die Handschrift suggeriert eine Einmaligkeit des Produktionsverfahrens, die hier nicht wirklich vorliegt, denn die Schriftzüge sind Bestandteil der Druckplatten und insofern als Multiples hergestellt. Aber die Geste der Handschrift lässt sich als Spur eines Individuums interpretieren – anders als es konventionelle Drucklettern zuließen. Aber auch und gerade als eine Komposition aus Einzelwerken (Gedichten) bildet das Buch eine programmatische Form. Der Gedichtzyklus (der als solcher ja schon ein Ensemble ist) findet in der Form des Buchs seine sinnfällige Konkretisierung. Als Ensemble aus Gedichten (und aus Einzelseiten oder Doppelseiten, die diese Gedichte tragen) ist das Buch als Objekt ein mögliches Sinnbild der Vermittlung zwischen Einheit und Vielheit. Das Einzelbuch ist zwar ‚Exemplar‘, Kopie einer Matrix, aber es wird individuell auf Bestellung einzelner Leser hergestellt. Und die Möglichkeit, in einem Kodex zu blättern, statt an einen bestimmten vorgegebenen Rezeptionsweg gebunden zu sein, bietet dem Leser eine Freiheit der Bewegung, die bei einem so freiheitlich denkenden Künstler wie Blake vielleicht ebenfalls mit zur Semantik des Buchs gehört. Blake versteht sich als Visionär, nicht nur des Buchs, sondern auch einer besseren Zukunft, selbst ‚illuminiert‘ wie seine Drucktechnik (vgl. Hofmann 1975, S. 107f.). Die späten Prophetic Books mit ihrer an biblische Stoffe angelehnten Mythologie lassen  





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das Buch noch aus einer weiteren Perspektive als ein für Blake maßgebliches Medium erscheinen: Sie treten gleichsam in Konkurrenz zu den Heiligen Büchern der Religion. Der Künstler – als Sachwalter der Menschheit – tritt an die Seite Gottes bzw. diesem gegenüber, indem er ein eigenes Buch, ein der Bibel zugleich nachempfundenes und mit ihr rivalisierendes Buch schafft. Der auch künstlerisch-technisch für einen neuen Anfang stehende Doppelzyklus Songs of Innocence (dessen Gestaltung dem zentralen Thema eines ersehnten Neuanfangs entspricht) drückt programmatisch in Inhalt und Form Blakes Willen zum Bruch mit Überliefertem aus, zur Rückkehr zum Einfachen, ‚Ursprünglichen‘. Von den Songs of Innocence sind 21 Exemplare erhalten, vom Doppelzyklus 27. Die Bildsprache steht im Zeichen einer eigenwilligen Interpretation sichtbarer Dinge und Formen. Vor allem entgrenzen sich Text und Bild: Buchstaben sehen oft aus wie florale, pflanzliche, ‚gewachsene‘ Formen, pflanzliche Formen sehen aus wie Buchstaben. Zwischen Text und Bild besteht keine Hierarchie. Unschuld und Erfahrung (des Unheils, der Gefahr, des Bösen, des Unmoralischen) sind die beiden aufeinander bezogenen Titel des ersten (Doppel-)Zyklus – und sie durchdringen einander wie Text und Bildebene.  





William Morris: Buchästhetik und Reminiszenzen an die Anfänge der Buch-Lese-Kultur. William Morris, Designer und Dichter, betrachtet und behandelt das Buch ähnlich wie Blake als eine künstlerische Einheit. Seine Arbeit bei der Kelmscott Press ist vor dem Hintergrund eines Industrialisierungsprozesses zu sehen, der auch die Buchproduktion und das grafische Gewerbe betrifft. Wichtige Anregungen bezieht er von mittelalterlicher Kunst, vor allem von der Verbindung der Text- und Bildelemente in mittelalterlichen Handschriften, etwa bei Bildinitialen. Anregungen erhält er durch seinen Bekannten Emery Walker, der sich für frühe Drucke interessiert und theoretisch zur Frage des Designs von Druckseiten äußert. Morris kreiert eigene neue Drucktypen auf der Basis von Renaissanceschriften und verfasst einen Essay mit dem Titel The Ideal Book. Die Produktionen der Kelmscott Press sind durch die hier erörterten Qualitäten geprägt, sowohl was das Seitenlayout, als auch, was Drucklettern und Papierqualitäten betrifft. Ein Buch, so Morris’ Überzeugung, muss als ein sich öffnendes Ensemble von Seiten betrachtet werden, nicht einfach als Addition von Einzelseiten. Zwischen seinen theoretisch proklamierten Visionen einer preiswerteren und darum für viele leichter erwerbbaren Buchkunst und dem Aufwand, mit dem er seine eigenen (teuren) Bücher herstellt, besteht allerdings eine Diskrepanz.16 Als Buchwerk bedeutend ist insbesondere Morris’ Ausgabe von The Works of Geoffrey Chaucer (Kelmscott, 1896–1898). Der Buchdesigner Morris kooperiert hier mit dem Präraffaeliten Edward Burne-Jones als Illustrator. Was Morris mit Blake verbindet, ist der gesellschaftspoli16 Während es Morris um die Ästhetisierung des Buchs ging, sieht Drucker die Tendenz vieler Künstlerbücher in die entgegengesetzte Richtung gehen – weshalb Morris‘ theoretisch entwickelte Konzeption des ‚idealen Buchs‘ auch nicht einfach als Programmschrift der späteren Künstlerbuchbewegung betrachtet werden könne (Drucker 2004, S. 29).  



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tische Anspruch, mit dem in beiden Fällen Kunst entsteht: der Anspruch, ausgehend von künstlerischer Praxis das Leben mitzugestalten und den Entfremdungserscheinungen in der modernen Industriegesellschaft entgegenzuwirken. Während Blake seine Kunst als Agitation für das Recht der Individuen gegenüber abstrakten Machtstrukturen betreibt, will Morris durch die Produktion ästhetisch ansprechender und schöner, dabei aber nicht schwülstig-überladener, sondern eleganter Formen der Verhässlichung des Lebens entgegentreten. Zumindest theoretisch optiert Morris für das Buch, weil es ein Multiple ist – und damit viele Leser erreichen kann (auch wenn die Kostbarkeit der von ihm produzierten Bücher deren wirklich breite Distribution verhindert). In seinen Gedanken zu den reich verzierten Handschriften des Mittelalters (Morris 1986, S. 1–15), einem unvollendeten und von Morris nie veröffentlichter Aufsatz, betont Morris vor allem den Respekt und die Sorgsamkeit, die man im Mittelalter dem Buch entgegengebracht habe, und kontrastiert dies mit den Nachlässigkeiten der Gegenwart. Man gehe in der gegenwärtigen Zeit des Überflusses an Büchern mit Büchern manchmal allzu grob um – rücksichtslos, wie gegenüber vertrauten Freunden. Beklagt wird auch die Arbeitsteilung, die sich seit der mittelalterlichen Buchproduktion etabliert habe; Morris idealisiert das Mittelalter und bezieht sich implizit auf einen sozialkritischen Diskurs über arbeitsteilige als ‚entfremdete‘ Arbeit. Dabei wird die Gegenüberstellung von Handarbeit und Maschinenarbeit zum ästhetischen Thema, gerade anlässlich des Buchs. MSE  





A 1.6 Ästhetische Rahmenbedingungen und diskursive Kontexte im 20. Jahrhundert  

In den 1960er und 1970er Jahren profilieren sich ästhetische Konzepte und Betrachtungsweisen, die für das Künstlerbuch und die Buch-Literatur prägend gewesen sind. Sie lassen sich in ihrer Vielfalt zwar kaum in eine Systematik integrieren oder auf einen einheitlichen begrifflichen Nenner bringen, gestatten es aber immerhin, Grundtendenzen zu beobachten und auf dieser Basis verbindende Linien zwischen diversen Spielformen der literarischen und künstlerischen Gestaltungspraxis nachzuzeichnen. Polare Tendenzen: ‚Autonomie‘ versus ‚Engagement‘. Theoretisch und praktischästhetisch folgenreich ist vor allem Spannung zwischen zwei polaren Konzepten von Kunst und Literatur – respektive: zwei entsprechend gegenläufigen Ansätzen ihrer Beschreibung. Der erste Ansatz versteht (vereinfachend gesagt) in den Spuren romantisch-autonomieästhetischer Konzepte Literatur und Kunst über ihre Differenz gegenüber anderen Bereichen menschlicher Praxis, akzentuiert den grundlegenden Unterschied zwischen ästhetischen und anderen Wertsystemen und sieht in der Unabhängigkeit der künstlerischen Praxis von externen Vorgaben welcher Art auch immer den Inbegriff einer sich letztlich allein in der Kunst manifestierenden Freiheit. Dem 

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gegenüber betont der gegenläufige Ansatz die Einbettung der Kunst und Literatur in gesellschaftlich-historische Prozesse, ihre Prägung durch kunstexterne Parameter, in Zusammenhang damit aber auch die Möglichkeit, ja die Pflicht, mit literarisch-künstlerischen Mitteln auf Gesellschaft und Geschichte einzuwirken. Viele Buchwerke können im Spannungsfeld dieser divergierenden Ansätze unterschiedlich interpretiert werden. So etwa lassen sich Kunstobjekte, die durch Übermalung, Zerschneiden oder Zerreißen, Verbrennen oder sonstige Beschädigungen, ja Zerstörungen vorgefundener Bücher entstehen, einerseits als Produkte einer ‚emanzipatorischen‘ Geste interpretieren, mit der sich das ästhetische Objekt Buch von seinen geläufigen Funktionen befreit und jenseits aller nützlichen Funktionen auf sein blankes So-Sein, seine sinnlichen Qualitäten aufmerksam macht. Die entsprechenden Bearbeitungsprozesse eines Ausgangssubstrats (also Übermalen, Zerschneiden, Verbrennen etc.) können andererseits auch als Aussagen über das bearbeitete Substrat selbst gedeutet werden – und über die gesellschaftlichen Realitäten, für welche es metonymisch steht: beispielsweise als Geste des Protestes gegen eine sklerotisierte Bildungsgesellschaft, deren Emblem das Buch ist. Ein wiederum anderer, aber ebenfalls politisch gefärbter Deutungsansatz ergibt sich dort, wo unlesbar gemachte, beschädigte, zerstörte Bücher als Verweise auf die Opfer gesellschaftlicher Gewalt betrachtet werden.  

Aktivierungen und Autorisierungen des Rezipienten. In den 1960er Jahren gewinnt die Rezeptionsästhetik Profil und wird zu einem vieldiskutierten, theoretisch wie praktisch folgenreichen ästhetischen Paradigma. Sie nimmt in Fortführung vor allem romantisch-hermeneutischer Ansätze eine Autorisierung des Interpreten von Texten und anderen Artefakten vor: Im Rezeptionsprozess, so ihr Leitgedanke, vollzieht sich die Konstitution von Bedeutung; was ein Text sagt, was ein ästhetisches Artefakt bedeutet, wird durch diesen Prozess maßgeblich mitbestimmt, und tendenziell individualisiert sich die interpretativ gewonnene Bedeutung zusammen mit den einzelnen Rezeptionsprozessen. Von hier aus geht das von Umberto Eco umrissene Konzept des „offenen Kunstwerks“ noch einen Schritt weiter: Beim „offenen Kunstwerk“ entscheidet der Rezipient auch noch über die konkrete Gestalt des Werks; er ist es, der dieses Werk realisiert (vgl. Eco 1962). Analog zu rezeptionsästhetisch orientierten Literaturwissenschaftlern akzentuiert und analysiert auch Eco vor allem die Rolle des Interpreten im Prozess ästhetischer Kommunikation. Das auch materialiter ‚offene‘ Werk macht die dem Leser, Betrachter oder musikalischen Interpreten überlassene bzw. abverlangte kreative Leistung sinnfällig. Derlei Überlegungen korrespondieren mit allgemein-gesellschaftspolitischen Autorisierungsdiskursen: Der ‚autorisierte‘ Leser passt als Konzept in eine Zeit vielfältiger Forderungen nach Mitbestimmung und Enthierarchisierung. Als theoretisch ermächtigter Rezipient ist er ein prototypischer Repräsentant eines gesellschaftlichen Subjekts, das an Macht partizipiert, ja die bisherigen Machthaber entthront. Alte ‚auktoriale‘ Deutungshoheiten gelten nicht mehr, tradierte Differenzierungen zwischen aktiv-gestaltenden und passiv-rezipierenden Instanzen werden aufgehoben. Die theoretische Instanz des autorisierten Rezipienten

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ist wie die komplementäre Proklamation vom „Tod des Autors“ (vgl. etwa Barthes 2000, S. 185–193) Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zur Infragestellung und Destabilisierung von Hierarchien – und das heißt unter anderem: die ästhetische Ausformulierung gesellschaftlichen Protests gegen etablierte Strukturen. Die Offenheit des Kunstwerks für Deutungen und Gestaltungen steht metonymisch für andere Gestaltungsspielräume.  



Ermächtigungsgesten. In verschiedenen literarischen Texten der 1960er und 1970er Jahre wird der Leser und Nutzer des Buchs explizit aufgefordert, mit dem Text zu verfahren, wie er möchte – und das heißt oft auch und gerade: mit dem Buch als Textträger. Damit einher gehen einschlägige buchgestalterische Experimente. Der Lexikonroman entsteht – als literarisch-künstlerisches Zitat eines Buchformats aus dem Bereich der Wissensvermittlung, das durch seine Struktur zu flexiblen Lektüren disponiert ist. Andreas Okopenko stellt seinem Lexikon Roman (1970) eine Gebrauchsanweisung voran. Der Leser wird hier autorisiert, kombinatorisch zu lesen; der Romantext ist typografisch entsprechend gestaltet, etwa durch Verweise, und bietet alphabetisch arrangiertes ‚Material‘, aus dem sich der Rezipient gleichsam selbst einen Roman basteln soll.  



Dieses Buch hat eine Gebrauchsanweisung, denn es wäre hübsch, wenn Sie sich aus ihm einen Roman basteln wollten. Die sentimentale Reise zum Exporteurtreffen in Druden muß erst vollzogen werden. Das Material liegt bereit, wie die Donau und die Anhäufungen von Pflanzen, Steinen und Menschen an ihren Ufern für viele Reisen und Nebenausflüge nach Wahl bereitliegen. Das Material ist alphabetisch geordnet, damit Sie es mühelos auffinden. Wie in einem Lexikon. Aus dem Lexikon sind Ihnen auch die Hinweispfeile bekannt (→) die Ihnen raten sollen, wie Sie am besten weitergehen, wie Sie sich zusätzlich informieren oder wie Sie vom Hundertsten ins Tausendste gelangen können. Wie im Lexikon haben Sie die Freiheit, jeden Hinweispfeil zu beherzigen oder zu übergehen […]. Die Hinweise, die Ihnen von Etappe zu Etappe die Fortsetzung der Reise ermöglichen sollen, sind schräg gedruckt. (Okopenko 1970, S. 5, Hervorhebungen wie im Original)  

Obwohl man diese Anweisung wörtlich nehmen kann, hat das Insistieren auf der Freiheit des Lesers zugleich einen ironischen Zug. Insgesamt ist es nur ein kurzer Schritt von der Rezipientenermächtigung bis zur Parodie des Emanzipationsdiskurses, wie ein weiteres Beispiel von Elfriede Jelinek zeigt. sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. sie sollen die untertitel auswechseln. sie sollen hergehen & sich überhaupt zu VERÄNDERUNGEN ausserhalb der legalität hinreissen lassen. ich baue ihnen keine einzige künstliche sperre die sie nicht durchbrechen könnten. ich hole sie ganz heran & zeige ihnen die noch unbemerkten hohlräume in ihrem organismus die bereit sind für völlig neue programmierungen. sie brauchen das ganze nicht erst zu lesen wenn sie glauben zu keiner gegengewalt fähig zu sein. wenn sie aber gerade daran arbeiten jene massiven offiziellen kontrollen & ihre organe zu unterminieren zu zerstören dann ist es unsinnig & verfehlt diese zeit für das lesen des buches zu verschwenden. (Jelinek 1970, Taschenbuchausgabe 1996, „gebrauchsanweisung“, unpag.)

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Die gebundene Erstausgabe von Jelineks hier zitiertem lockvögel-Buch trug auf dem vorderen Cover ein austauschbares Titelschildchen und bot im Buchinneren alternative Titel an; das Buch konnte also tatsächlich sofort verändert werden, allerdings im Zeichen von Vorgaben. Spielerisch-parodistisch wird so die Autoritätsfrage aufgeworfen, aber auch auf das Buch als Träger von Gebrauchsspuren hingewiesen. Texte und Bucharchitekturen kommen dem Nutzer, wie es scheint (aber manchmal eben nur scheint), besonders entgegen, wenn sie sich als mobil präsentieren – als Ensemble einzelner Teile, die unterschiedlich kombiniert werden können und den Rezipienten dazu einladen, Kombinationen oder Konstellationen vorzunehmen. Künstlerisch gestaltete Bücher (Kodizes) erinnern oft daran, dass sie in unterschiedlichen Richtungen gelesen, ihre Seiten in unterschiedlicher Folge wahrgenommen werden können. Ein zweiter Grund für die Affinität Buch-bewusster Kunst zur Idee des mobilen und daher offenen Artefakts ergibt sich daraus, dass man dem intakten Kodex modifizierte Spielformen des Buchs gegenüberstellen kann: die Zettel- oder Loseblattsammlung, aber auch das gebundene Buch mit gegeneinander verschiebbaren Seitenteilflächen, mit Laschen, Streifen, beweglichen Teilen. Ein programmatisches Beispiel ist Queneaus Sonettmaschine Cent mille milliards des poèmes (1961), deren Nutzer aus den bereitgestellten Versen und dem Sonettschema auf der Basis einer spezifischen Bucharchitektur ‚seine‘ Sonette generieren kann. Unkonventionelle Bücher wie die Sonettmaschine machen die geforderte Aktivität des Buchbenutzers im Sinne des „offenen Kunstwerks“ sinnfällig. Allerdings stehen – und auch dafür ist die Sonettmaschine ebenso ein Beispiel wie Jelineks zitierte Gebrauchsanweisung – Autorisierungen des Lesers und Buchbenutzers manches Mal auch schon im Zeichen ironischer Brechungen. Die Fluxus-Bewegung radikalisiert den Ansatz einer Aktivierung des Rezipienten durch mobile Artefakte und das Konzept seiner Partizipation am ästhetischen Gestaltungsprozess: Die Differenzierung zwischen Produzenten und Rezipienten entfällt hier, zumindest der Tendenz nach. Das Publikum soll aus der Rezipientenrolle heraustreten und am ästhetischen Geschehen beteiligt werden. Ein definitives Werk als Telos ästhetischer Aktivität gibt es dann meist nicht mehr, wohl allerdings Resultate der gemeinsamen Aktionen, deren Spuren diese sind. Das Programm einer Partizipation des Publikums am ästhetischen Prozess im Zeichen eines ‚fließenden‘ Austauschs zwischen ästhetischer Praxis und Lebenspraxis lässt sich im Bereich und Umfeld der Buchkunst wie in dem der Literatur unterschiedlich konkretisieren, etwa durch Projekte, bei denen nicht-kodexförmige Druckwerke eine zentrale Rolle spielen, Karten mit Handlungsanweisungen oder Aktenordner mit stets ergänzungsfähigem Material.  





Experimentelle Verfahren einer ‚Öffnung‘ des Werks. Rezeptionsästhetik und Theorie des offenen Kunstwerks unterhalten, wie viele weitere Beispiele bestätigen, enge Affinitäten zu Verfahren innovatorischer und experimenteller Text- und Buchgestaltung. Bewegungen wie Oulipo und Fluxus sowie neue Schreibverfahren wie die Cut-up-Technik demonstrieren, wie sich das Programm auslegen und konkretisieren

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lässt. In der Oulipo-Gruppe geht es maßgeblich um die Entwicklung von Textgenerierungsverfahren, auf die prinzipiell verschiedenste Nutzer zugreifen können, so dass sich die Grenze zwischen Schriftstellern und Lesern verliert. Die Fluxus-Bewegung legt es noch konsequenter auf die Entgrenzung zwischen Künstlern und Nichtkünstlern an, indem sie zur Partizipation an Projekten einlädt. Das von William S. Burroughs praktizierte und propagierte sogenannte Cut-up-Verfahren führt zu Texten, mit denen der Leser, wie es heißt, spielen soll. Eine solche Lese-Spielanleitung formuliert Burroughs in Naked Lunch (London 1964), einem Text, der aus frei auswählbaren und aneinanderreihbaren Bausteinen besteht. Dominique Moldehn wählt rückblickend zur Charakteristik des Buchobjekts einen rezeptionsästhetischen Ansatz (Moldehn 1996, S. 18). Die Aktionskunst – daran erinnert sie in diesem Zusammenhang – bediene sich der Bücher in zweierlei Hinsicht: Bücher dokumentieren Happenings und Performances, und sie werden selbst zu Requisiten von Aktionen. Eine andere Strategie der ‚Öffnung‘ des Textes ist die Anwendung textpermutativer Verfahren bzw. die Einladung an den Rezipienten, solche selbst zu praktizieren. Diverse Beispiele Konkreter Poesie stellen sich tabellenartig dar, leiten wort- oder buchstabenkombinatorische Verfahren ein, die der Leser fortsetzen soll, oder verwandeln ein Ausgangstextsubstrat durch Erprobung seiner kombinatorischen Potenziale. Permutationstexte haben in der Literaturgeschichte eine lange Tradition. Sie dienen unter anderem als Meditationsanlässe, aber auch als Spielobjekte in Textform, und präsentieren sich meist als visuell auffällige Textgebilde. Buchstaben, Einzelwörter, Wortreihen und Textabschnitte laden zu alternativen Sequenzenbildungen ein. Gedichte aus Proteusversen sowie Proteusbücher lenken die Aufmerksamkeit gleichermaßen auf die materielle Dimension von Texten, ihre Bindung ans Buchstäbliche und an physische Trägermaterien. Sie stimulieren oft zu (freilich geleiteten) Experimenten mit dem Textsubstrat und zur Reflexion über die Folgen von Buchstaben-, Wort- oder Textvertauschungen. Insgesamt sensibilisieren sie für die Wandelbarkeit von Texten – wobei diese metamorphotische Qualität auch übertragene Bedeutung besitzen und dem Inhalt oder dem Anlass des Textes entsprechen kann.  









Oulipo-Ästhetik. Ein ausgeprägtes Interesse an Zeichen, Codes und Schriftbildlichkeit sowie an Textgestaltungsverfahren der rhetorischen Tradition verbindet die Mitglieder der 1960 in Frankreich gebildeten Literatengruppe Oulipo (L’Ouvroir de littérature potentielle), zu denen insbesondere Raymond Queneau, Georges Perec, Italo Calvino, Octavio Paz und Harry Mathews gehören, respektive, der sie nahestehen. Ein zentrales Anliegen ist die Erkundung von regelgeleiteten Produktionsverfahren literarischer Texte. Relativ schlicht, wenn auch oft schwer umsetzbar, sind Regeln, die den Gebrauch oder die Vermeidung bestimmter Buchstaben betreffen (so verfasst Perec einen lipografischen Roman, dem jedes „e“ fehlt (La disparition). Komplexer gestalten sich Schreibexperimente auf mathematisch-kalkulatorischer Basis; Queneau, Harry Mathews und Georges Perec sind von der Idee einer präzisen Kombinatorik fasziniert. Permutative Texterzeugungsverfahren werden in verschiedenen Varianten erprobt.

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Die oulipistische Ästhetik hat einen mindestens zweifachen Bezug zum Spielerischen: Zum einen erkunden die Oulipo-Autoren Verfahren einer Textproduktion, die gesetzten Spielregeln folgt (zu solchen Regeln kann es gehören, einem Strukturmuster zu folgen, einen Buchstaben zu vermeiden, alle permutativen Möglichkeiten eines Wortbestandes durchzuspielen etc.). Zum anderen versteht sich oulipistisches Schreiben vielfach aber auch als Bereitstellung von Spielmaterial für den Leser: Dieser ist es, dem Regeln vorgegeben werden, wenn auch manchmal auf (selbst-)parodistische Weise. Zur Rezeptionsästhetik und zur Konzeption des ‚offenen Kunstwerks‘ unterhält die oulipistische Ästhetik enge Affinitäten, sie wird allerdings weder in einer bestimmten Theorie erschöpfend abgebildet, noch sind alle oulipistischen Arbeiten ‚offen‘ im Sinne Umberto Ecos. Das Modell des ‚mobilen‘ Spieltextes wird jedenfalls produktions- wie auch rezeptionsästhetisch fruchtbar gemacht. Dies findet ein Echo auch in der Buchkunst, der Buch-Literatur und ästhetischen Buchreflexionen. Raymond Queneaus Sonettmaschine Cent mille millards de poèmes ist ein programmatisches Werk; nicht minder programmatisch sind die von Georges Perec entwickelten Formen der Buchstrukturierung. Lebensbegleiter, Lebensspuren. Das individuell genutzte und gestaltete Buch. Eine weitere Dimension der gedachten und buchgestalterisch suggerierten Interaktion zwischen Buchwerken und buchförmig präsentierten Texten hier, Rezipienten dort eröffnet sich anlässlich solcher Bücher, die auf ein alltägliches, lebensbegleitendes Miteinander von Buch und Nutzer oder einen anderweitigen biografischen Bezug zum Buch verweisen. Diaristische Bücher, Notizbücher, Scrapbooks, lauter alltagsbegleitende Formate, stimulieren Autoren wie auch Buchkünstler. Manchmal wird der Nutzer selbst (ernsthaft oder spielerisch) zur Mitgestaltung eingeladen; in anderen Fällen wird durch ein Buch mit (scheinbaren) Lebens-Spuren an entsprechende Praktiken der Buchgestaltung erinnert. Auch die diaristischen Kollektaneen und Erinnerungsbücher vieler Künstler und Schriftsteller verweisen auf die Rolle des Buchs als Alltagsbegleiter. Das (und sei es scheinbar) ‚persönliche‘ und subjektive Verhältnis zum Buch, zum Tage- und Notizbuch, zum Scrapbook und zum Familienalbum überlebt die diskursiven Wechsel von einer ‚Autor-Werk-Ästhetik‘ über den ‚Tod-des-Autors‘-Diskurs und zurück zum ‚wiederkehrenden Autor‘ mit bemerkenswerter Beharrlichkeit. Beispiele für intime diaristische Bücher, für Arbeits-und Notizbücher finden sich im Feld der Künstlerbücher in erheblicher Variationsbreite (vgl. Hildebrand-Schat 2013a, sowie Schulz 2015a). In der Literatur wird an ähnliche Formate angeknüpft, oft unter Einbeziehung grafischer Darstellungen, Zeichnungen, Fotos, faksimilierter Textobjekte und anderer visueller Bauelemente. Verfremdungen, Provokationen, Irritationen. Die für Kunst und Literatur des 20. Jahrhundert so prägende Ästhetik der Verfremdung konkretisiert sich auch in der Buchkunst. Der dritte Band des Katalogs der documenta 6 zeigt verschiedene unlesbar  

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gemachte Bücher, so etwa Gerhard Rühms Objekt Ein Geschlecht,17 Konrad Balder Schäuffelens Abend mit Goldrand,18 sein Kettenbuch,19 Martin Schwarz’ Objekt Nichts,20 Klaus Staecks die kunst der 60er jahre,21 Timm Ulrichs’ Arbeit Herta Wescher: Die Geschichte der Collage. Bearbeitung (Décollage)22 und Erwin Wortelkamps Objekt „Ich möchte Paul Scheerbart sprechen“.23 Wo ein Buch auf unvertraute Weise gestaltet ist oder ein Objekt auf stark verfremdende Weise die Gestalt des Buchs imitiert, irritiert es Sinne und Intellekt schon durch seinen Abweichungscharakter – entsprechend der Leitidee der Verfremdungsästhetik. Dieser Effekt ist besonders stark, wo mit solch ungewöhnlicher Gestaltung drastische Verstöße gegen Gestaltungskonventionen verbunden sind, respektive wenn inhaltlich und formal-gestalterisch Tabubrüche stattfinden. Manches gestalterische Experiment mit der Buchform wirkt durch seine Nachbarschaft zum Vandalismus provozierend. Da werden Bücher gewaltsam zerstückelt und verbrannt, eingewickelt und verschlossen, mit Eisenketten umgeben und einbetoniert; zuvor lesbare Texte werden partiell oder ganz eingeschwärzt, übermalt, getilgt; Buchseiten werden zerrissen, Einbände entkernt. Übelriechende Substanzen ergießen sich über Bücher und machen sie unbenutzbar, Wachs verklebt die Seiten, Sägen, Messer, Äxte, Scheren machen sich an den Buchkörpern zu schaffen.  

Radikale Transformationen des Buchs. Hubertus Gojowzcyk etwa hat in einer Ausstellung mit Werken aus den Jahren 1968 bis 1975 allerlei seltsame Buch-Dinge prä-

17 Gerhard Rühms Ein Geschlecht, 1961, ist „[e]ntstanden aus: Fritz von Unruh, Ein Geschlecht, Leipzig 1918 […]“, und zwar durch „Übermalung des Satzspiegels mit schwarzer Tusche unter Aussparung einzelner Worte“. Ähnlich sein Übermaltes Buch, 1962: „Entstanden aus: Hans Reich, Lyrik aus Ungarn. Schwarz eingefärbter Leinenband, die Seiten bis auf einige wenige freigelassene Textstellen schwarz übermalt“. Kat. Ausst. 1977, S. 340 f. 18 Vgl. Konrad Balder Schäuffelns Abend mit Goldrand, 1976, Objektbuch in zwei Teilen: „[…] die kartonierte Ausgabe von Arno Schmid(t)s ‚Abend mit Goldrand‘ […] (1975): im goldenen Schnitt (a=19,8 cm/ b=12,2 cm) in zwei Bände zerlegt, in Schuber“. Ebd. 19 Konrad Balder Schäuffelens Conradi Balderi Paliculae Liber Catenatus Tomus secundus, 1970; verwendet wurden alte Pergamentbände, mit Eisenketten umgeben und verschlossen. Vgl. ebd. 20 Martin Schwarz’ Nichts, 1972–1976: „Mit grauem Acryl eingefärbter Band von Heidegger, Was ist Metaphysik?, 10. Aufl., Frankfurt/Main 1972.“ Ebd., S. 344f. 21 Klaus Staecks die kunst der 60er jahre, 1970: „4. Auflage des Katalogs der Sammlung Ludwig im Wallraf-Richartz-Museum/Köln mit 4 Bolzen durchschlagen und einer gravierten ‚Grabplatte‘ aus Messing mittels Flügelschrauben verschlossen.“ Ebd. 22 Timm Ulrichs’ Arbeit Herta Wescher: Die Geschichte der Collage. Bearbeitung (Décollage), 1977: Weschers Buch Die Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart aus der Reihe der Du Mont Dokumente, Köln 1974, wurde durch einen ‚Reißwolf‘ (Aktenvernichter) geschickt; anschließend erfolgte die „Sammlung der Papier-‚Wolle‘ in einem geschlossenen Acrylglaskasten in Buchform mit graviertem Titel.“ Ebd., S. 346. 23 Erwin Wortelkamps „Ich möchte Paul Scheerbarth sprechen“, 1974, ist ein „Buchobjekt aus 2 Betonblöcken, Glasscherben und einem Buch […]. Zwischen 2 Betonblöcken und Glasscherben das Buch ‚Glasarchitektur‘ von Scheerbarth […].“ Ebd., S. 351.  













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sentiert.24 Die Einstellung des Künstlers zum Buch als Objekt und Institution erscheint ambivalent: Die Objekte lassen einerseits ahnen, dass kulturelle Erbschaften ein Ballast sind, gegen den man sich mit Werkzeug aller Art zur Wehr setzen möchte; andererseits sprechen manche Arbeiten von einer affirmativen persönlich-intimen Beziehung zum Buch, sie wirken wie Versuche der Verlebendigung einer ansonsten zum bloßen Informationsträger degradierten Materie. Der Künstler macht Bücher zu Mikro-Landschaften und zitiert damit zumindest den Topos vom Buch der Welt, wenn auch in ironischer Brechung.25 Er legt das Buch auf einen Teller, so, als lebe er nicht nur mit, sondern von Büchern. Ähnlich ‚sprechend‘, ja vielfach an geläufige Metaphern anknüpfend, präsentieren sich die Bucharbeiten von Martin Schwarz. Auch er legt eine besondere Vorliebe für den Topos des Buchs als Nahrungsmittel an den Tag, wobei das Changieren zwischen Genuss und Ekel auch hier eine Ambivalenz der Einstellung zum Buch sinnfällig macht. Störungen als Denkanstöße. Der ‚Störfaktor‘ Buch wird in der Literatur wie in der buchgestaltenden Kunst zu einem eigenwilligen und daher besonders signifikanten Gegenüber des Rezipienten – zu einem Fremdkörper, der Widerstand leistet, intellektuell, manchmal auch physisch. Werden durch nutzungsoffene Buchartefakte wie die Sonettmaschine Konventionen wie die des linearen Lesens und der Orientierung an einem ‚feststehenden‘ Text (oder sonstigen Interpretationssubstrats) unterlaufen, so stehen buchgestalterische Praktiken der Zerlegung und Verfremdung des Buchs für noch ganz andere und weitergehende Konventionsbrüche: Sie erscheinen als materialisierter Protest gegen ästhetische Erwartungen, gegen den sogenannten guten Geschmack, aber auch gegen Normen funktionsorientierter buchgestützter Kommunikation. Manche Beispiele brechen ostentativ mit Konventionen des ehrfürchtigen Umgangs mit der Institution Buch und mit dem, wofür diese metonymisch steht (Bildung, Geschmack, Kultur, Wissen); andere legen es gar darauf an, leisen (oder auch  

24 Der Katalog Hubertus Gojowczyk. Bücher, Zeichnungen und Objekte, Kunsthalle Kiel 1975, Kiel 1975, zeigt auf dem Umschlag ein rätselhaftes Objekt: In einem vorne offenen Holzkasten, dessen Inneres von der Vorderseite mit kreuzförmig gespanntem Stacheldraht unzugänglich gemacht wurde, sehen wir ein aufgeschlagenes Buch, das dem Betrachter seine Außenseite, die beiden Buchdeckel, zukehrt: Zu lesen ist der Name Milton. Handelt es sich um ein Exemplar von Paradise lost? Das Objekt – es heißt Buch hinter Stacheldraht I, Kat. Nr. 15 – lässt jedenfalls einen mehrfachen Entzug des Paradieses assoziieren, eine Bannung des Paradieses ins Buch, dann ein Unsichtbarwerden der Schrift und schließlich eine Versperrung des Zugangs durch Stacheldraht. Was aber wirklich in dem aufgeklappten Buch steht und ob die Buchdeckel überhaupt noch einen Text umschließen, ist das Geheimnis des Objekts. 25 Jens Christian Jensen betont in der Einleitung zum Ausstellungskatalog Gojowczyks die Ambivalenz der Einstellung des Künstlers zum Buch. „[…] Seinen Haß und seine Liebe lädt er in seinen Buchobjekten ab […]. Hinter sich weiß er fast fünfhundert Jahre gedruckter Bücher, neben sich die unmäßigen, notwendigen und doch erdrückenden Magazine der Büchereien, vor sich einen unübersehbaren Berg von Gedrucktem./Vielleicht befreit er sich in seinen Objekten von dieser lastenden Macht?“ Jensen: Einleitung. In: Kat. Ausst. 1975, S. X.  







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stärkeren) Ekel zu erzeugen. Wie die genannten Beispiele illustrieren, kann das durch seine äußere Gestalt ebenso wie durch seine Botschaften irritierende, unordentliche, das deformiert wirkende Buch vielfach und widersprüchlich semantisiert sein: es kann als Opfer (etwa von Zensur und Verstümmelung) erscheinen, aber auch als Vehikel der Täter, als materialisierte Macht. Und es kann als Protest gegen das funktionale oder schöne Buch interpretiert werden.26 Sprache und Schweigen, Lesbares und Unlesbares als literarisch-künstlerisches Thema. In einer Freiburger Ausstellung von 1980 präsentierte Jochen Gerz ein Objekt mit dem Titel Das Buch war weich und flexibel (French Wall 2), bestehend aus Karton, PVC-Folie und einem maschinenschriftlichen Manuskript (40 x 50 cm, 1969; Kat. Ausst. 1980, S. 23f., Exponat 23). Dieses Objekt hat zwar die Form eines Buches, oder besser: es zitiert sie, aber es unterscheidet sich von konventionellen Büchern in entscheidender Hinsicht: Es will nicht gelesen werden. Denn beim Versuch, ihn zu lesen, käme es zur Zerstörung des in die schwarze Plastikfolie eingepackten Textes. Auf unbelichtetes Fotopapier geschrieben, würde er vom einfallenden Licht vernichtet, sobald man ihn aus der Folie holte.27 Das Interesse an Sprache, Wörtern und sprachlichen Codes, an Vokabularien, Grammatiken, sprachlichen Regeln und Regelverstößen, an sprachlichen Performanzen und sprachgebundenen Praktiken, an der sozialen, kulturellen und diskursiven Ausdifferenzierung von Sprachlichem und insbesondere an den Wechselwirkungen zwischen Sprache und Gesellschaft sowie an der wechselseitig prägenden Beziehung zwischen Sprechen und Sprachbenutzern prägt die 1960er wie die 1970er Jahre. Unter dem Schlagwort linguistic turn zusammengefasst, erstreckt sich dieses Interesse auch auf die sprachliche Dimension künstlerischer Gestaltungspraktiken und Kommunikationsformen, ganz besonders auf die Sprachlichkeit der Literatur. Literarisches Schreiben steht unter diesen diskursgeschichtlichen Vorzeichen verstärkt im Zeichen der Sprachreflexion, die sich textgestalterisch auf ganz unterschiedliche Weise und auf verschiedenen Ebenen manifestiert. Auch viele Künstlerbücher sind von diesem die eigene Medialität betreffenden Thema geprägt. Als Komplementärthema zur Sprache zieht das Schweigen Aufmerksamkeit auf sich – vieldeutig, wie es ist. In lyrischen, dramatischen und Prosatexten wird es durch Aussparungen, Abbrüche und Zwischenräume sinnfällig gemacht; darauf verweisen unter anderem Theoretiker und Praktiker der experimentellen Dichtung. Eugen Gomringers Gedicht schweigen, in dem Wiederholungen der Vokabel „schweigen“ ein lee 









26 Vgl. Dittmar 1977a, S. 298: „Die ‚ANTIBÜCHER‘ von Herbert Zangs sind Protesthandlungen […] gegen das ‚schöne‘ Buch, […] gegen das Buch als Statussymbol, Protesthandlungen gegen die Banalität von Buchinhalten, gegen Informationskonsum und die Flüchtigkeit des Lesens.“ 27 „Das vorliegende Buchobjekt spielt die Neugierde gegen die Gewißheit aus, dass ein Lesen des verschlossenen Textes dessen Vernichtung bewirkt. So bleibt die ‚Geilheit der Wörter gelesen zu werden‘ den Wörtern selbst verweigert.“ Kat. Ausst. 1975, S. 61.  



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res Feld umrahmen, ist eines der bekanntesten Konkreten Gedichte (in: Gomringer 1972a, S. 58). Es ist vieldeutig, ja spannungsvoll, insofern es das Schweigen einerseits zeigt, andererseits durch Benennung im Ansatz aufhebt; es erinnert, als Grundriss gelesen, an die Redensart von der Mauer aus Schweigen, wirkt aber zugleich verheißungsvoll. Das in diesem Sinne sichtbare Schweigen beschäftigt etwa Franz Mon, der sich unter anderem auf Mallarmé beruft, wenn er von „Texte[n] in den Zwischenräumen“ spricht (Mon 1970, S. 40–43). Mit der bei Mon erörterten und vollzogenen Einbeziehung der Fläche in die Textgestaltung ergibt sich insgesamt ein wichtiges Bindeglied zwischen poetischer Textproduktion und Buchgestaltung und damit ein weiterer Brückenschlag zwischen Literatur und Künstlerbuch. Mit partiell getilgten oder unlesbar gemachten Texten zumindest vergleichbar (und hinsichtlich ihrer Effekte manchmal analog) sind Lücken, Leerstellen, Aussparungen im Buch.  



Selbstverweigerungen des Buchs. Die Idee ästhetischer Verfremdung als ein Basiskonzept des künstlerischen Umgangs mit dem Buch impliziert, dass gerade jene Dinge Aufmerksamkeit beanspruchen und Reflexion auslösen, welche sich dem deutenden Zugriff zunächst entziehen, gegen Konventionen der Wahrnehmung und Kommunikation verstoßen. Das Zum-Schweigen-Bringen von Büchern, auf den ersten Blick vandalistisch, kann via negationis zur Werbung um Aufmerksamkeit für das Buch und zur Hommage an ein Ding werden, das in der ästhetischen Verfremdung vom Gebrauchsobjekt zum provozierenden Rätsel wird. Leere Bücher sind unterschiedlich deutbar: als Metonymien der Kommunikationsverweigerung, aber auch als Verheißung verborgener Botschaften. In literarischen Texten, auch, aber nicht nur in Visueller Dichtung, erscheint das Weiß der Buchseite als polyvalentes Kompositionselement – als Visualisierung von Möglichkeitsspielräumen, aber auch als Nicht-Botschaft, als Ausdruck der Sinnfreiheit wie der Sinnfülle, als Bedingungsgrund des erscheinenden Textes, aber auch als dessen Negation oder Widerpart. Das leere Buch kann als Multiplikation der ‚leeren Seite‘ wahrgenommen werden; wiederum ergeben sich differente Deutungsoptionen. Ein Beispiel bietet Jes Petersen mit seiner Arbeit Piero Manzoni von 1963. Manzoni (1933–1963), ein avantgardistischer Künstler und neodadaistischer Experimentator, bekannt mit Yves Klein, Mitglied der Gruppe Zero, hat selbst u. a. ‚Achromes‘ geschaffen: weiße Leinwände, die mit Kaolin oder Gips getränkt wurden (er erfand auch ‚Aphonien‘ für Orchester und Publikum). Petersens Buch über Manzoni ist ein leeres Buch: Die Blätter sind unbedruckte farblose Plastikfolien; sie produzieren Spiegeleffekte (vgl. Kat. Ausst. 1977, S. 328). Das Buch scheint inhaltsleer – aber ist es deshalb nichtssagend oder nicht vielmehr eine ideale Projektionsfläche für Vorstellungen des Betrachters? Ähnliches gilt für ein anderes Objekt Luis Camnitzers mit dem vielsagenden, bedeutungsoffenen Titel Buch der Öffnungen.28  







28 Vgl. Camnitzer, Luis: Das Buch der Öffnungen, Messingdraht, 1979. „Das Buchobjekt besteht aus Draht in der Kontur eines geöffneten Buches, die an der rechten oberen Ecke nicht geschlossen ist. Durch

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Verschlossene Bücher haben als ebenfalls unlesbare Bücher einen ähnlichen Effekt wie leere Bücher, unterscheiden sich von diesen aber doch insofern, als sie eine (freilich unzugängliche) sprachlich-textliche Botschaft enthalten könnten. Je ambitionierter diese Botschaft, suggeriert durch Werktitel oder Buchäußeres, erscheint, desto größer der (suggerierte) Verlust. Bei Maurizio Nannucci wird das Universum unentzifferbar: Das gleichnamige Doppelbuch hat zwei Buchrücken und lässt sich daher nicht öffnen.29 Und László Lakner, der Bücher einwickelt und aufhängt, macht damit wichtige Werke der abendländischen Philosophie demonstrativ unzugänglich – wobei offenbleibt, ob hier bildungsbürgerliche Ballaststücke weggeräumt, Grundtexte dem Blick entzogen oder Dinge schlicht ‚in die Schwebe gebracht‘ werden sollen.30 Da das Buch zu den redseligsten, vielstimmigsten und vielsagendsten Objekten gehört, welche die abendländische Kultur hervorgebracht hat, liegt es nahe, in genannten Manipulationen und Transformationen von Büchern Indizien für eine Auseinandersetzung mit einer alexandrinischen Wörter- und Text-Welt zu sehen, die das Leben jedes Einzelnen nachhaltig bestimmt. Dabei können diese Auseinandersetzungen sehr unterschiedlich akzentuiert sein. Die Idee, die Bücher zum Schweigen zu bringen, kann eine kritische Distanz gegenüber all dem signalisieren, was auf Büchern beruht, an Büchern hängt, zu Büchern führt, was Bücher produziert und durch diese produziert wird – nicht zuletzt gegenüber der eigenen Identität als von Büchern sozialisiertes und geprägtes Wesen. Aber das ist nur eine Lesart unter anderen. MSE  



direkte Beleuchtung entsteht ein Schatten des Objektes an der Wand. Im Gegensatz zum geöffneten Umriß der Drahtkonstruktion ist der Schatten mit einem Bleistiftstrich geschlossen, die Innenfläche ist dunkel schraffiert.“ Kat. Ausst. 1980, S. 40, 42. 29 Nannucci, Maurizio: Universum, 1969: Buchobjekt, 17,8 x 12,0 x 2,3 cm, im Schuber, „durch 2 Buchrücken geschlossener blauer Lederband, die Buchrücken tragen kopfständig gegeneinander versetzt die Bandbezeichnungen ‚Universum Volume I‘ bzw. II.“ Kat. Ausst. 1977, S. 330. 30 Lakner, László: „Platon: ‚Symposion‘, L. B. Alberti: ‚De re aedificatoria‘, G. W. F. Hegel: ‚Ästhetik‘, M. Heidegger: ‚Der Ursprung des Kunstwerks‘. Aus der Serie ‚Ästhetische Schriften‘, Bücher, Schnur.“ „Das einzelne Buch ist wie ein Paket verschnürt und aufgehängt. Am Anfang dieser Serie von über zwanzig verschnürten und aufgehängten Büchern steht ‚Esztétika‘ von Georg Lukács […]. Die Serie umfaßt kunsttheoretische Werke von Platon bis zur Gegenwart. Das Verschnüren kann einmal für Bewahren und Konservieren stehen und damit auf eine positive Bewertung des Buchinhalts hindeuten. Andererseits erschwert es den Zugang zur Aussage des Buches. Darin kann eine Kritik des Künstlers am Inhalt gesehen werden. Oder aber die Verschnürung kann als äußeres Zeichen eines Verbots auf Zensur hindeuten.“ Kat. Ausst. 1980, S. 53f., 73f.  





















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A 1.7 Ästhetiken des Buchs und Programmatiken moderner Buchkünstler Das Buch als Ausdrucks- und Reflexionsmedium rückt u. a. im Kontext der Konzeptkunst nachdrücklich in den Blick, also innerhalb einer Bewegung, die den Werkbegriff in Frage stellt bzw. modifiziert und sich von tradierten Mustern ästhetischer Kommunikation löst. Die hier besonders fokussierte Möglichkeit, das Buch nicht als bloße Vermittlung eines Werks, sondern selbst als Werk zu konzipieren, stimuliert spezifische ästhetische Diskurse. Grundlegende und für die Theorie des artifiziellen Buchs wegweisende Überlegungen stammen von solchen Vertretern der Avantgarde, die selbst künstlerisch tätig sind und die von ihnen repräsentierten Tendenzen durch ihre Tätigkeit als Verleger oder Kritiker unterstützen, wie etwa Ulises Carrión, Eugen Gomringer, Dick Higgins oder Richard Kostelanetz. Ihr gemeinsamer Ansatzpunkt ist das Buch als Konzept und Medium, das nicht nur ein Zusammenspiel von Text- und Bildelementen ermöglicht, sondern vielmehr in seiner gesamten Gestalt signifikant für die künstlerische Aussage ist. Leitend sind vor allem Abgrenzungsversuche gegen herkömmliche Vorstellungen über Buch, Text und Autorschaft, die im Buch lediglich einen Text- und Informationsträger sehen, es aber nicht in seiner Materialität und seinen funktionalen Besonderheiten wahrnehmen. Die Diskussionen zu diesem Thema sind so facettenreich wie das Spektrum der Beteiligten mit ihren jeweils spezifischen Sichtweisen. Einmal sensibilisiert für das Thema ‚Buch als Kunstwerk‘, bezieht man retrospektiv zurückliegende Entwicklungen in die Betrachtung ein; die Bemühungen von Druckern, Schriftsetzern, Gestaltern und nicht zuletzt französischen Kunsthändlern und Verlegern um das Buch als einen umfassenden Gestaltungsraum werden als Wegbereiter anerkannt, als die sie auch heute noch gelten. Der französische Verleger Tériade entwickelt die Vision eines Buchs, in dem Bild und Text zweckfrei in vollkommener Harmonie zur Einheit verschmelzen, ganz so wie er sie im mittelalterlichen Manuskript realisiert sah. Auch William Morris hatte diese Idee bereits verfolgt, und Maurice Denis hatte an mittelalterliche Buchmalerei gedacht, als er von Randzeichnungen sprach, die als expressives Pendant zu den Zeilen eines Textes dienen sollten (Louis 1912 [1890], S. 1). Auf Anregung von Tériade, der eine Wiederbelebung des mittelalterlichen Illuminationsgedankens für die zeitgenössische Produktion beabsichtigte, erstellte Henri Matisse das Malerbuch Jazz (vgl. Watts 2001, S. 10). Die von Tériade auf das Buch bezogene Idee einer gestalterischen Einheit bildet ein Vorspiel zur Beschäftigung mit dem Buch als Gestaltungsraum; für den späteren buchkünstlerischen Diskurs wurde diese Idee nicht zentral.  





Mallarmés Buchvision. Wegweisend für spätere Konzeptualisierungen des Buchs als ästhetisches Objekt ist insbesondere Stéphane Mallarmé mit der Inszenierung des Gedichtes Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Der Publikation dieses Werks gingen Überlegungen zur Medialität des Buchs voran, die nach dem Tode Mallarmés von

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Jacques Scherer publiziert wurden (vgl. Scherer 1957). Le livre sollte, wie es scheint, nicht nur einen, sondern fünf oder mehrere Bände umfassen. An anderer Stelle spricht Mallarmé von seinem Buch auch als einem „bloc“, verwendet also eine Bezeichnung, die auch die Zusammenstellung mehrerer Bände meinen kann. Geht man davon aus, dass die Höhe eines Bandes einem Sechstel seines Umfangs entspricht, so würden sechs übereinander gelegte Bände tatsächlich einen würfelförmigen Block ergeben (vgl. Blatt 39 und 40 von Le Livre, zit. in: Scherer 1957, S. 53). Der enge Zusammenhang zwischen Mallarmés Buch-Vision und der geplanten typografischen Form von Un coup de dés wird auch aus den Überlegungen ersichtlich, die Maurice Blanchot zwei Jahre nach dem Erscheinen von Scherers Publikation zu Mallarmés totalem Buch vorgelegt hat. Blanchot sieht in dem berühmten Gedicht selbst bereits Mallarmés Vorstellungen vom Buch realisiert: „Un coup de dés est le livre à venir“ (Blanchot 1959, S. 291). Die in Un coup de dés vollzogene Aufhebung jeder stringenten Handlung und jeder festgelegten Zeilenabfolge entspricht nach Blanchots Überzeugung der offenen Form des „livre“. Für ihn konzentriert sich der gesamte in das Gedicht gelegte Ausdruck auf Raum und Bewegung, widergespiegelt in der eigenartigen Typografie. Vorzustellen als Ensemble von in ständiger Bewegung befindlichen Formen, schließe diese Typografie als eine weitere Dimension neben dem Raum auch die Zeit ein, die ihrerseits auf keinen Augenblick fixiert sei. Laut Blanchot erschließt sich Mallarmé durch seine Handhabung des Raumes, vor allem des Freiraumes, den Zugang zu einem anderen Raum, den Blanchot mit Blick auf einige Gedichte Mallarmés als den kosmischen Raum interpretiert. Die Idee einer kosmischen Dimension sowie die der Überwindung von Zeit und Raum durch Un coup de dés bilden für den philosophischen Interpreten Blanchot Parallelen zu den von Mallarmé in seinen Notizen zusammengetragenen Vorstellungen über das „livre“. Dabei dienen Mallarmés Ansätze Blanchot aber auch als Projektionsfläche seiner eigenen Philosophie, die im Zeichen einer unauflösbaren Dualität von Äußerung und Nichtäußerung steht. Die Sprache gilt Blanchot als Zeichen dieser Anwesenheit der Abwesenheit und stellt einen Raum des ‚Zwischen‘ dar, in dem es weder ein Subjekt noch einen Gegenstand gibt (Collin 1986).  



Gomringer. Die bei Mallarmé vorgeprägte, von Blanchot ausgeführte Idee einer wechselseitigen Bedingtheit von innerer und äußerer Form wird im Kontext der Konkreten Poesie aufgegriffen, welche mit den 1950er Jahren international an Bedeutung gewinnt. Ein Beleg ist der 1966 publizierte, dem gedanklichen Ansatz nach aber in die 1950er Jahre zurückweisende Text vom gedicht zum gedichtbuch von Eugen Gomringer. Gomringer erörtert hier die medialen Gestaltungsoptionen des Buchs am Unterschied zwischen einem „Gedicht in Buchform“ und einer zum Buch zusammengestellten Gedichtsammlung. Da ein Gedicht, das sich über mehrere Seiten erstreckt, sich nicht simultan auf einer Fläche erschließe, sondern erst in der sukzessiven Abfolge des Blätterns, sei, so Gomringer, die Seitenabfolge für die Rezeption bedeutsam. Jedes Umblättern sei eine Zäsur, die einen Blickwechsel bedinge. Sie könne gezielt und mit

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Blick auf die jeweilige textliche Aussage eingesetzt werden: „inhaltlichen zäsuren entsprechen reale objekthafte – der inneren zeit eines gedichtes entspricht ein gewisser zeitablauf körperlicher bewegung.“ (Gomringer 1997, S. 59) Ein Gedicht kann demnach buchstäblich aufgefächert werden, so dass sich Bedeutungsschichten eröffnen, die beim normalen Lesen nicht wahrgenommen werden; der zeitliche Verlauf der Lektüre beeinflusst die wahrgenommenen Inhalte. Ein bewusster Umgang mit der Buchform und den ihr eigenen Möglichkeiten erscheint aus Gomringers Sicht umso dringender, als sich mit der Visuellen und Konkreten Poesie nicht nur die Form des Gedichtes grundlegend geändert hat, sondern weil zudem Techniken der Kommunikation und der Fortbewegung eine allgemeine Beschleunigung bewirkt haben, die zu einem gerafften, konzentrierten Wahrnehmen führt. Gomringer fordert eine Dichtung, die dem Rechnung trägt: „das aufzeigen von sprachstruktur, ihrer magie, aber auch der transparenz von gehalt und bild – alles errungenschaften der konstellationen, ideogramme, und texte,– verlangt gebieterisch nach ebenso konsequenter ausbildung der objekthaften form des buches“ (ebd.).  





Richard Kostelanetz. Beim Werkcharakter des Buchs setzt auch Richard Kostelanetz an: Der Buchkünstler schöpfe die dem Medium innewohnenden Möglichkeiten aus und nutze sie für seine Gestaltungs- und Ausdrucksabsichten (Kostelanetz 1987, S. 27–30).  

The principal difference between the book hack and the book artist is that the former succumbs to the conventions of the medium, while the latter envisions what else the book might become. Whereas the hack writes prose that ‚reads easily‘ or designs pages that resemble one another and do not call attention to themselves, the book artist transcends those conventions. The book hack is a housepainter, so to speak, filling the available walls in a familiar uniform fashion; the other is an artist, imagining unprecedented possibilities for bookish materials. The first aspires to coverage and acceptability; the second to invention and quality. (Ebd., S. 27)  

Kostelanetz setzt zwar noch beim rechteckigen Format des Buchs an, nutzt aber die Abfolge der Seiten für sequenzielle Abläufe ebenso wie die Körperlichkeit des Buchblocks. Theoretisch gibt es für ihn und andere Theoretiker des Buchs keine Beschränkungen dessen, was und in welcher Form etwas zwischen die beiden Buchdeckel gefügt wird. In theory, there are no limits upon the kinds of materials that can be put between two covers, or how those materials can be arranged. This essential distinction separates imaginative books from conventional books. In the latter, syntactically familiar sentences are set in rectangular blocks of uniform type (resembling soldiers in a parade), and these are then ‚designed‘ into pages that look like one another (and like pages we have previously seen). (Ebd., S. 28)  

Die typische Buchform kann auch aufgehoben werden, gestaltet werden können ebenso Leporellos, Loseblattfolgen, Audio- und Filmbänder. Das vom Künstler geschaffene Buch ist aus dieser Perspektive gleichermaßen ein Kunstwerk und ein Buch. Nicht verwechselt werden sollte es mit dem Kunstbuch, das

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ein künstlerisches Werk nur präsentiert. Als Kunstwerk ist das Künstlerbuch an die Buchgestalt, an ein dadurch bedingtes Format wie auch an entsprechende Funktionen und Handhabungsformen gebunden, in seinem Umfang und seiner Auflage aber ist es in keiner Weise festgelegt. Werde, so Kostelanetz’ Leitidee, zum Erfassen eines normalen Textes Lesefähigkeit vorausgesetzt, so erfordere das Künstlerbuch vor allem ein visuelles Verstehen, das die unterschiedlichen Elemente synthetisch und in ihrem wechselseitigen Bezug erfasse. Konventionelles Lesen allein genüge nicht, um dem ‚imaginativen‘ Buch gerecht zu werden. An imaginative book, by definition, attempts to realize something else with syntax, with format, with pages, with covers, with, size, with shapes, with sequence, with structure, with binding – with any or all of these elements, the decisions informing each of them ideally reflecting the needs and suggestions of the materials particular to this book. (Ebd.)  

Ein klares Kriterium dafür, was ein Künstlerbuch ausmacht, ist damit noch nicht geliefert. Ulises Carrión. Carrión verwendet die Begriffe „artists’ book“, „artist’s book“ oder deren Äquivalente nicht, sondern spricht allgemein von einer neuen Form des Büchermachens. Er differenziert in einem zunächst 1975 erschienen Aufsatz, The New Art of Making Books, zwischen Büchern und Texten (zuerst span. in der Zeitschrift Kontext/Plural, Mexiko City).31 Der Titel ist eine Anspielung auf das Stück El arte nuevo de hacer comedias en este tiempo von Lope de Vega und verweist zugleich auf das Programm, das Carrión der Auseinandersetzung mit der neuen Buchform unterlegt. Carrión geht davon aus, dass die Lösung von Regeln und Konventionen neue Möglichkeiten eröffnet, die in Verbindung mit Improvisation und Beherrschung der Technik das Künstlerbuch als Terrain innovativen Ausdrucks erschließen. Indem er es als eine Abfolge von Räumen denkt, die nacheinander wahrgenommen werden, rückt er sowohl die räumliche wie auch die zeitliche Dimension ins Bewusstsein, die bei der Auseinandersetzung mit dem Buch eine Rolle spielen. Sprache gewinne, so Carrión, in künstlerischer Buchgestaltung einen neuen Stellenwert. Gelte sie normalerweise vor allem als Trägermedium von Absichten, so löse sie sich nun von jeglicher Intentionalität, um zusammen mit anderen Zeichen an der raum-zeitlichen Sequenz des Buchs teilzuhaben und zu einem wesentlichen Element der Struktur zu werden. Dick Higgins. Wie Carrión geht auch Dick Higgins seinem 1982 in New Wilderness Letter publizierten Aufsatz A Book von der Frage nach dem Wesen eines Textes aus.

31 Carrión in Kontext No. 6–7, 1975; Wiederabdruck in: Lyons 1987; erneut in Schraenen 1992. 1982 erscheint der Text in deutscher Sprache in der Zeitschrift Wolkenkratzer Okt./Nov., Nr. 3/82.  



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Allerdings fasst er den Begriff ‚Text‘ weiter, indem er ihn nicht nur auf Gebilde aus Wörtern bezieht, sondern auf jegliche Art von visuellen Elementen, die auf einer Seite stehen. Before one can consider a book, one must consider what it is to have a text. A text is an array of words on paper. Or, if not words, other things that are to be read. One can have a text with no words at all – music or visual entities or symbols. (Higgins 1982, S. 46)  



Als Gegenstand der Kunst sei, so Higgins, ein Text nicht bloßer Informationsträger. Vielmehr bringe er sich selbst als ein komplexes Gebilde aus Erfahrung und Wissen zur Sprache. Erfahrungen im Umgang mit Kunst bilden den Horizont eines Kunstverstehens, das flexibel bleiben müsse, weil es keinen festen Orientierungshorizont gibt. Wie Carrión sieht auch Higgins im Text eine unabhängige Einheit, die ihre Bedeutung durch den Rezipienten erhält, auch wenn hinter dem Text ein Autor steht. Der Text erschließe sich ganz aus der Erfahrung, die sein Rezipient an ihn herantrage. The author is supremely unimportant while we are studying a text. If we want to know about apples, if we want to study why apples are as they are, then we must study about appletrees. But when we are hungry, we do not study about apples. We eat them. So it is with texts and authors. When we are hungry to experience our horizons in motion, the author is beside the point; here it is the text which the author has made that is important. For us it is our experience of the text which we are living with, not the text which the author thought he made. (Ebd.)

Ein Text ist, so Higgins’ Ausgangsthese, noch kein Buch, zumal viele Texte von ihren Autoren als Schreibexperimente aufgefasst werden und deshalb nicht als abgeschlossene Gebilde zu betrachten sind. Im Gegensatz hierzu sei ein Buch ein jeweils spezifischer Raum. Jede Seite biete eine eigene Welt und jedes Umblättern bedeute einen Schritt in der Zeit. A book, in its purest form, is a phenomenon of space and time and dimensionality that is unique unto itself. Every time we turn the page, the previous page passes into our past and we are confronted by a new world. (Ebd., S. 47)  

Das Buch inszeniere den Text und sei in dieser Hinsicht mit einem Musikstück zu vergleichen, das sich im zeitlichen Ablauf vollziehe und als Ganzes erinnert werde. Nirgends erörtert Higgins spezifisch den Begriff des Künstlerbuchs. Kostelanetz, Carrión und Higgins legen ihre theoretischen Texte zum Buch Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre vor, zu einem Zeitpunkt, als bereits die ersten aus der Konzeptkunst hervorgegangenen Künstlerbücher Verbreitung gefunden haben. Ihre Formulierungen verstehen sich folglich nicht als Entwurf einer neuen Buchkunst, sondern als Analyse vorliegender Arbeiten oder als Form der Erklärung, mit der sie um Verständnis für die neuen Phänomene werben. Ohne dass einer der drei Autoren den Begriff Künstlerbuch aufgriffe, bildet dieser doch die Voraussetzung ihrer Texte. Alle drei legen den Akzent auf eine neue Umgangsweise mit dem Text, der

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weniger gelesen als visuell erfahren werden soll. Um dies plausibel zu machen, stellen sie ihren Überlegungen die Beschreibung einer als konventionell aufgefassten Texterfahrung voran, welche sie dann der umfassenden, raum-zeitlichen Erfahrung mit dem Buch gegenüberstellen. Im Unterschied zu Tériade, der vor allem den Zusammenklang von Text und Gestaltung im Blick hatte, für die das Medium Buch den Raum bieten sollte, spielt das Verhältnis von Text und Bild bei Kostelanetz, Carrión und Higgins keine Rolle mehr, weil ihr Textbegriff von vornherein jede Art von Zeichen beinhaltet. Ihr Interesse gilt vielmehr raumzeitlichen und sequenziellen Abfolgen im Buch. Robert Filliou. Eigene Vorstellungen zum Buch und seiner Bedeutung innerhalb des künstlerischen Arbeitens entwickelt in seiner Schrift Teaching und Learning as Performance Arts auch Robert Filliou, der als Pionier des Künstlerbuchs gilt (Filliou 1970; vgl. Mœglin-Delcroix 2012). Die zwischen 1967 und 1970 niedergeschriebenen, 1970 erstmals publizierten und 2006 erneut im Verlag der Gebrüder König erschienenen Überlegungen bilden nach Festlegung ihres Autors ein „langes kurzes Buch zum zuhause weiterschreiben“ (Filliou 1970, S. 12). Auch als „Multibuch“ bezeichnet, enthält es Freiraum, der ausdrücklich vom Leser zu füllen ist; dieser ist als potenzieller Koautor zum Mit- und Weiterschreiben eingeladen. Einfache Fragen sollen ihn dazu anregen. Filliou will damit beweisen, dass Lehren und Lernen durch Partizipation erleichtert werden können. Insbesondere verweist er auf Techniken des Happenings, des Events, der Aktionspoesie, des Environments und der Straßenaufführung, aber auch an Performanzen von nichtinstrumenteller Musik, von Spielen und Korrespondenzen, wie sie von Künstlern der vorangegangenen Jahre entwickelt wurden (vgl. ebd.). Fillious Buch soll als ‚Schreibspiel‘ zur Aufführung gelangen. Es enthält eine Reihe von Beispielen zur Aktionspoesie, Spielbeschreibungen, die von den Lesern umgesetzt werden können, sowie verschiedene Skizzen zu Straßenaufführungen. Das Buch weist eine Spiralbindung auf, nachdem Filliou zunächst an eine Sammlung von Karten gedacht hatte, die wiederum dem Konzept der im Buch vorgestellten Spiele entsprochen hätte. Obwohl das Buch keine explizite Theorie des Buchs enthält, setzt es sich doch permanent mit diesem auseinander – mit seiner Form, den Adressaten, seinen Zwecken. Geboten wird ein Überblick über die jüngere Kunstgeschichte, durchflochten von biografischen Skizzen des Autors und Bemerkungen zu den Anteilen von Autor- und Leserinstanz an partizipativer Kunst. Alles in allem zielt das Buch vor allem auf eine Einführung in seine eigene Handhabung ab, insofern der Leser permanent aufgefordert wird, an einem kreativen Prozess teilzunehmen. Dieser Gedanke ist bereits in der Fluxus-Bewegung angelegt. Die Lektüre Filliouscher Arbeiten wird zur Performance. Durch Stimulation der Kreativität und Anleitung zur Aktion greift das Buch über seinen eigenen Raum hinaus (Mœglin-Delcroix 2012, S. 118–120). Entscheidend ist für Filliou eine Aktivierung des kreativen Potenzials, zu der das Buch beitragen will, auch wenn es selbst diesen Prozess als fertiges Artefakt nicht unmittelbar vor Augen stellen kann. Aufgeworfen wird aber auch die Frage nach den Bedingungen,  





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unter denen Bücher entstehen. Umso wichtiger erscheint Filliou eine neue Form der Lektüre, und indem er auf diese hinweist, liefert sein Buch die Bedingungen seiner Entstehung mit. Differente Buchkonzepte und Buchvisionen. Die im engeren und weiteren Kontext der Künstlerbuchbewegung entwickelten Theorien des Büchermachens sind so vielfältig wie die in ihrem Umfeld entstehenden Bücher. Im Grunde folgt jeder Künstler seiner eigenen spezifischen Auffassung. Neben den Künstlern, die sich explizit über ihre Vorstellungen vom Künstlerbuch äußern, stehen andere, die sie indirekt, durch ihr künstlerisches Werk, zum Ausdruck bringen – ein Umstand, auf den auch Joan Lyons hinweist:  

At a traditional press a manuscript, when selected for publication, is fed into an organisation of editors, marketers, designers, and various bottom liners before the production is handed off to printers, copywriters and distributors. Artists’ books are different in intent and are seldom preceded by manuscripts. They are artworks as much as books; and in most cases, the artist is the entire production company. (Lyons 2009, S. 11)  

Das sich hier eröffnende Spektrum veranlasst Dick Higgins im Vorwort zu der von Lyons herausgegebenen Anthologie kritischer Texte zum Künstlerbuch zu der Bemerkung, das Künstlerbuch lasse sich leichter über einen Ausschluss all dessen bestimmen, was es nicht sei, als durch eine positive Erfassung seiner Charakteristik (Higgins 1985, S. 11). Higgins’ Auffassung gemäß verfolgt das Künstlerbuch keine primär inhaltsbezogene Vermittlungsabsicht; vielmehr liege seine Essenz im Werkcharakter des Buchs, der sich aus dem Zusammenspiel von Inhalt, Form und gestalterischer Aufbereitung ergebe und aus dem sich jede Aussage ableite. Fundamentale Unterschiede zeichnen sich allerdings hinsichtlich der Produktion von Künstlerbüchern ab, insbesondere mit Blick darauf, ob diese als Unikat- oder als Auflagenbuch konzipiert sind. Bei in Auflagen gedruckten Büchern ist für manche Künstler die Nutzung von Bleisatz, handbetriebenen Druckpressen und Originalgrafik essenziell, für andere wiederum spielt die Art der technischen Umsetzung keine Rolle, da für sie allein das auf den Seiten des Buchs sichtbare Ergebnis der Arbeit zählt. Die Unterscheidung berührt den schon in den vorangegangenen Jahrzehnten als signifikant betrachteten Unterschied zwischen Pressendrucken und Künstlerbüchern. Dieser steht genau zu dem Zeitpunkt zur Disposition, als die Konzeptkunst die Bezeichnung ‚Künstlerbuch‘ für sich vereinnahmt und als Künstlerbuch nur gelten lässt, was den Forderungen konzeptioneller Kunst genügt. Dass die Diskrepanz der Standpunkte nicht überwunden wird, wohl auch nicht überwindbar ist, zeigt sich am zeitgleichen Wirken von so unterschiedlichen Einrichtungen wie der 1984 von Gunnar Kaldewey gegründeten Kaldewey Press in Poestenkill und dem Visual Studies Workshop, an dem seit 1974 Keith A. Smith mitwirkt. Kaldeweys Ansatz geht auf den Pressendruck zurück. Für die von ihm realisierten Bücher, die eigenen wie auch die von Künstlerkollegen, verwendet er hochwertige Materialien und ausgefeilte Techniken. Deren innovative Handha 

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bung soll eine Ablösung von tradierten Formen der Produktion und Rezeption des Buchs bewirken.32 Keith Smith. Während nun Kaldewey seine Vorstellungen vom artifiziellen Buch unmittelbar über die aus seiner Presse hervorgehenden Bücher zum Ausdruck bringt, integriert Keith Smith in seine umfängliche Buchproduktion dezidierte Anweisungen zum Erstellen von Büchern (vgl. Smith, Keith 1984). Bei seinen rund 300 publizierten Büchern unterscheidet er nicht zwischen theoretischen und nicht-theoretischen Publikationen; vielmehr unterliegt seine gesamte Produktion einer durchlaufenden Nummerierung, die sich aus der Chronologie ihres Erscheinens ergibt. Das 200. Buch Smiths ist als Bibliografie angelegt und führt alle bis dahin vom Künstler erstellten Bücher auf (vgl. Smith, Keith 2000a). So reflektiert nicht nur der Künstler sein Tun als Buchkünstler explizit, sondern zudem werden auch seine Bücher als solche zum Reflexionsmedium seines Schaffens. In Structure of the Visual Book, seinem 95. Buch, wendet sich Smith dem Buch in all seinen physikalischen Eigenschaften zu und beschreibt seine sukzessive Annäherung an das Buch über die Beschäftigung mit den einzelnen buchrelevanten Faktoren. Er untersucht das Verhältnis der visuellen Gestaltungselemente zueinander wie auch die kinetischen Möglichkeiten, die unter anderem durch die Seiten freigesetzt werden können.33 Wichtig beim Büchermachen erscheint die Erfahrung sowohl im Umgang mit dem Material als auch beim genauen Sehen. One way of learning is to carry over what is learned from one process to another. Residual concepts are one way to hasten new knowledge, by understanding relationships in a new area by employing familiar concepts. Throughout this text, I will refer to the other arts when talking about book ideas. Structures in music, poetry, story-telling, and cinema can be translated to the book format. (Smith, Keith 1984, S. 3)  

Im Augenblick des Schaffens müsse sich, so Smith, die technische Handhabung soweit verselbständigt haben, dass sie keine Konzentration absorbiere, sondern diese sich vielmehr ganz auf die Umsetzung der Idee richten könne. In other words, I become saturated with the object, its suggested activities, the connotations, the mood or feelings I pick up from it before I even think of using it in my work. I don’t want to just have some sensitivity about what I am doing, I want to become one with it. (Ebd., S. 5)  

32 „Making artists’ books today is a form of liberation from tradition. […] The new book must leave tradition behind and destroy received habits of seeing. It must shock and provoke and encourage curiosity about a new text that inspires me to find a new form.“ (Kaldewey, Book as Art (1990) nach Strauss, in: Dubansky/Strauss 1997, S. 7) 33 Vgl. Smith, Keith 1984. 2003 erscheint mit The New Structure of the Visual Book eine auf 432 Seiten erweiterte Neuauflage, in der Smith die von ihm beschriebenen Bücher auch abbildet.  

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Im Prozess der Buchherstellung nehme die Buchbindung einen herausragenden Stellenwert ein, da durch sie Handhabung, Blättern, Wahrnehmung und somit der gesamte Vermittlungsprozess bestimmt werde; die Bindung sei wie das Rückgrat des Buches (ebd., S. 6). Die Buchseiten entsprächen einer Ausstellungsfläche, sie präsentierten die Inhalte wie die Wände in einem Museum die Werke. Smiths Buch beschreibt nicht nur die Produktion von Büchern, es demonstriert auch, was es theoretisch vermittelt. Die Wirkung von Freiräumen, die Schweigen oder Stille signalisieren sollen, wird mittels unbedruckter Seiten vorgeführt, die Wirkkraft reduzierter Darstellung durch Seiten, auf denen ein einziger Begriff wiedergegeben ist usf.  

Zenon Fajfer. Stellt Smith die physikalische Substanz des Buchs als ausdrucksbestimmend in den Vordergrund seiner Betrachtung, so nimmt Zenon Fajfer eine gegensätzliche Perspektive ein, indem er das Buch von den Inhalten her in den Blick nimmt, aber genau diese inhaltliche Ausrichtung für den stagnierenden Innovationsgeist innerhalb der Buchproduktion verantwortlich macht (Fajfer 2010a). Fajfers Ansicht nach wird der physischen Substanz und den Strukturen eines Buchs zu wenig Beachtung geschenkt; die Struktur des Textes einerseits, des Buchs andererseits werden meist getrennt wahrgenommen. Um Begriffe wie ‚Form‘, ‚Zeit‘, ‚Raum‘, ‚literarisches Werk‘ und ‚Buch‘ unter einem neuen Blickwinkel zu erfassen, wäre an erster Stelle das Wesen von Literatur zu erörtern. Zu fragen wäre vor allem, ob diese tatsächlich nur in und durch Sprache bestehe, durch Laute und die Bedeutung der Worte begründet werde, oder ob nicht gerade diese durch die Typografie ausdifferenziert würden. Word is the substance of literature. When we say the word, we stress its sound and sense, when we write the word, we (sometimes) also mean its appearance. Space is hardly ever taken into consideration, if at all. However, in order to come into existence in time the word needs space. Space belongs to it as much as its shape, sound and meaning. The word such conceived is the substance of liberature. (Fajfer 2010b, S. 43)  

Bereits bei der Niederschrift, so Fajfer, habe der Schreibende sich das Schriftbild in einer Weise zu vergegenwärtigen wie der Komponist beim Komponieren die Klänge und Tonfolgen. Ebenso wie auf räumliche Komponenten weist Fajfer auf zeitliche hin. Er unterscheidet dabei zwischen der Zeit innerhalb des literarischen Werkes, der Handlungs- und Erzählzeit, und der Lektürezeit; auf letzterer Ebene entscheide sich, ob linear oder quer gelesen, von hinten oder von vorne begonnen werde. Seine theoretischen Überlegungen visualisiert Fajfer jeweils durch Formen typografischer Ausgestaltung und die Verwendung kleiner Icons und Schaubilder. Für die unauflösbare Einheit von Text und Buchraum hat Fajfer den Begriff ‚Liberatura‘ (polnisch) bzw. ‚Liberature‘ (engl.) geprägt. ‚Liberature‘ wird u. a. bestimmt als „total literature in which the text and the space of a book constitute an inseparable whole.“ (Ebd.) VHS  

A 2 Buch-Literatur Literatur und Buch stehen in einer engen metonymischen Beziehung; Literaturgeschichte und Buchgeschichte sind aufs engste verknüpft. Seit dem Mittelalter und bis in die jüngere Vergangenheit, konkreter: bis zum Anbruch der Ära des digital-elektronischen Textes ist Literatur im Wesentlichen „Buch-Literatur“: meist verfasst mit Blick auf die Option, in ein Buch aufgenommen bzw. als Buch publiziert zu werden. Und selbst wenn es dazu nicht kommt, wirkt sich die Formatierung des gedachten Buchs oft auf die Textgestalt aus. Wenn im Folgenden von Buch-Literatur die Rede ist, ist aber etwas Spezifischeres gemeint: Literarische Werke, die durch ihre Buchförmigkeit (oft durch eine eigene Akzentuierung oder auch durch eine Modifikation des vertrauten Kodexformats) maßgeblich geprägt sind, die dieses Format also in spezifischer Weise zur Schau stellen – Werke also, die sich als besondere und in ihrer Besonderheit dezidiert selbstreferenzielle, gleichsam selbstbewusste Bücher präsentieren. Ob buchliterarische Werke von buchgestalterischen Konventionen abweichen oder aber auf diese durch Überbetonung einzelner Gestaltungsaspekte besonders aufmerksam machen: Buch-Literatur zieht Form- und Strukturaspekte des Buchs ins ästhetische Kalkül. Dies geschieht allerdings auf so viele und divergente Weisen, mit Blick auf so viele Formaspekte und Verfremdungsmöglichkeiten, dass Buch-Literatur ebenso wenig trennscharf ein- bzw. abzugrenzen ist wie die Buchkunst bzw. das Künstlerbuch, sondern sich als ein ähnlich proteischer Phänomenbereich darstellt. Ausgehend von den Anregungen älterer literarischer Texte erkundet vor allem die neuere und Gegenwartsliteratur Gestaltungsdimensionen und Modifikationsmöglichkeiten des Kodex. Sie akzentuiert dabei die schon seit dem Mittelalter signifikanten Dimensionen seiner Sichtbarkeit und seiner Räumlichkeit. MSE  

A 2.1 Buchbewusste Literatur Walt, der Protagonist in Jean Pauls Roman Flegeljahre (1804/1805), dichtet sogenannte „Streckverse“: metrisierte und dadurch lyrisierte, aber reimlose Gedichte, die aus jeweils einem einzigen Vers bestehen. Kein konventionelles Buch vermöge, so überlegt der Erzähler des Romans, die „Streck- und Einverse Walts“ angemessen darzustellen. Und er überlegt, wie ein zu solchen Einzeilengedichten mit großer Zeilenlänge passendes neuartiges Buch aussehen könnte: Man müsste den Text auf „arm-lange Papierwickel wie Flughäute“ setzen, die „aus dem Werke“ (also aus dem Buch, das den Streckvers enthält) flatterten und die „herausgeschlagen dem Kinde […] wie ein Segelwerk von Wickelbändern säßen“ – was allerdings vielleicht beim Publikum wenig Beifall fände, wäre ein solches Buch mit herausflatternden langen Papierstreifen doch recht unhandlich (Jean Paul 2000a [1804/05], S. 680f.). Jean Paul selbst hat die  



https://doi.org/10.1515/9783110528299-003

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Teil A Aspekte des Buchs

„Streckverse“ verfasst, die er seiner Romanfigur Walt dann in den Flegeljahren zuschreibt.34 Die Bemerkungen des Romanerzählers über die modifizierte Buchform, welche solch langen Einzeilen-Gedichten allein gerecht werden könnte, illustrieren exemplarisch, wie das Erfinden neuer literarischer Schreibweisen mit Visionen neuartig gestalteter Bücher einhergehen kann. Eine neue Spielform der Literatur verbindet sich hier mit der Konzeption eines neuen Buchformats – auch wenn die Buchausgaben der Jean Paulschen Flegeljahre die Waltschen Streckverse dann doch nur auf konventionelle Weise, auf normalen rechteckigen Buchseiten, präsentieren und zumindest für Jean Paul niemals Bücher mit langen Papierstreifen gedruckt wurden. Aber immerhin wird der Roman zum Anlass, den neuen Buchtypus zu imaginieren und zu beschreiben. Diese Beschreibung fällt, so knapp wie sie ist, bedingt durch Jean Pauls Vergleiche und Sprachbilder höchst suggestiv aus: Werden die „Papierwickel“ mit „Flughäute[n]“ verglichen, so konstruiert der Erzähler sprachspielerisch einen Zusammenhang zwischen der physischen Gestalt des erdachten seltsamen Buchs und dem poetischen (Höhen-)Flug, knüpft also implizit an eine traditionsreiche poetologische Flugmetaphorik an. Analoges gilt für die metaphorische Charakterisierung der langen Papierstreifen als „Segelwerk“; auch die Seefahrt hat seit der Antike als Bildspender zur metaphorischen Umschreibung poetischer Arbeit gedient (vgl. Curtius 1973, S. 138–141). Die „Wickelbänder“ schließlich lassen das auf ihnen gedruckte Gedicht als das poetische „Kind“ ihres Verfassers erscheinen. Jean Paul malt sich also nicht nur eine neue und auffällige Variante des vertrauten Kodexformats aus, um damit die Besonderheit der innovatorischen „Streckverse“ zu betonen, und er belässt es auch nicht bei der impliziten These, dass die konkrete Buchgestalt konstitutiver Bestandteil poetischer Gebilde sein kann. Er akzentuiert darüber hinaus die Bedeutungspotenziale der (vorgestellten) Materialität des Buchs, welche in Metaphern ihren Ausdruck findet. Flatternde lange Papierstreifen sind eben nicht nur beliebige Textträger, sondern „Flügel“, „Segel“ und „Wickelbänder“. Darin, dass sie aus dem Buchkörper herausragen, ja herausflattern können, konkretisieren sich die Ideen der Reise, des Flugs als Erhebung über die Erde und des Aufbruchs in ein neues Leben. Die Geschichte der Literatur bietet viele Beispiele für eine Haltung, die man ‚Buchbewusstsein‘ nennen könnte – und zwar bei literarischen Autoren sowie bei anderen Instanzen, die direkt oder indirekt an der Produktion der gedruckten Bücher beteiligt sind, in denen sich die neuzeitliche Literatur in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, materialisiert. Auch die Leser dieser Bücher können, insofern sie am Prozess literarischer Kommunikation in verschiedenen Funktionen partizipieren, zu diesen Instanzen gerechnet werden, bei denen sich verbunden mit dem Interesse an Literatur ein Bewusstsein für das Buch als deren Materialisierung ausprägt – und dies mit Rückwirkungen auf die literarische Produktion selbst.  







34 Zu den dichterischen Arbeiten Walts, insbesondere zu den „Streckversen“ (auch „Polymeter“ genannt), vgl. Schmitz-Emans 2012a.

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Buchgestaltung als eine Dimension literarischer Kommunikation. Bezogen auf Prozesse der Literaturproduktion wie der durch sie ermöglichten literarischen Kommunikation bedeutet Buchbewusstsein allgemein und zuerst einmal, dass nicht nur Texte gestaltet werden, sondern in engem Zusammenhang damit eben auch Bücher. Dabei bezeichnet die Vokabel ‚Buch‘ durchaus mehrerlei, hebt an den gemeinten Objekten Unterschiedliches hervor, dient als Metonymie für Verschiedenes – unter anderem für den Text. Die jeweils konkrete Gestalt des Buches als eines materiellen, sinnlich perzipierten Gegenstandes lässt dabei unter anderem Rückschlüsse darauf zu, an welche Form der Nutzung hauptsächlich gedacht ist. Ist das Buch in erster Linie für eine breite Zirkulation oder als Schmuckobjekt für eine möglichst repräsentative Bibliothek gedacht? Soll es als Taschenbuch billig und in hoher Auflage oder als bibliophiles Buch in eher geringer Stückzahl, wenn nicht gar als Unikat produziert werden? Literarische Autoren können sich an der Auseinandersetzung mit solchen Fragen beteiligen, auch wenn dies normalerweise keineswegs als essenziell für den literarischen Arbeitsprozess gilt. Erst, wenn Schriftsteller die Buchausstattung der Nachwelt überlassen müssen, endet die Chance auf kreative Mitwirkung. Strategien der Text- und Buchgestaltung können das Lesen erleichtern, aber auch erschweren. Sie können die Entzifferung wie auch die Interpretation des Geschriebenen katalysieren, sie aber auch behindern. Hier liegt ein besonders wichtiger Ansatzpunkt für buchbewusste Schriftsteller (wenn auch keineswegs der einzige). Literarische Werke unterhalten Affinitäten zu vielen Formen der Verschlüsselung, können sich unter verschiedenen Akzentuierungen als widerständig präsentieren. Dies betrifft nicht nur die Ebene der dargestellten Inhalte und der sprachlich-stilistischen Form, sondern auch die der Disposition über Schriftzeichen, der Typografie, der Seitengestaltung und der Buchgestaltung. Wer dem Leser leere oder schwarz überdruckte Seiten präsentiert, leere oder geschwärzte Flächen in den Text integriert, schafft solche Widerstände. Komplementär dazu gibt es Erleichterungen des Lesens, etwa deutungsrelevante Verfahren der Textgliederung, der Text- und der Seitenaufteilung, ferner der Einsatz spezifischer typografischer Mittel, die Verwendung unterschiedlicher Schriftfonts und Schriftgrößen, wie sie teilweise durch die Autoren selbst gesteuert werden.  

Pioniere der Buch-Literatur: Sterne, Jean Paul, Hoffmann, Mallarmé. Ein prominentes Beispiel für das Buchbewusstsein der Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bietet der Tristram Shandy (1759–1767) Laurence Sternes, ein Roman, der zugleich ein gestaltetes Buch ist: eines, in dem man sich vorwärts und rückwärts bewegen kann, wobei Unterbrechungen und Sprünge im Textfluss vielfach die Suggestion von Unstetigkeit erzeugen (vgl. Teil E 1.1). Der Einsatz einer Fülle typografischer Zeichen und eine absichtsvoll diskontinuierlich wirkende Textpräsentation verbinden sich mit einem digressiven Erzählen, das eine linear-konsekutive Textrezeption ebenfalls be- oder verhindert. Sternes text- und buchgestalterische Maßnahmen wirken zwar chaotisch, sind aber genau kalkuliert und basieren auf einem professionellen Sinn für die Effekte von Typografie, Seitenlayout und Bucharchitektur. Sie entsprechen  

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Teil A Aspekte des Buchs

dem Kernthema des Romans: der verwirrenden Komplexität, Vielfalt und Widersprüchlichkeit all jener Ideen, die sich die Menschen über die Welt machen, sowie der die Verwirrung noch steigernden Fülle an Repräsentationen, deren sie sich bedienen, um ihre Ideen darzustellen. Angeregt durch Sterne haben auch Jean Paul und E. T. A. Hoffmann Beispiele dafür geschaffen, wie eine buchbewusste Literatur die Gestaltungsparameter des Kodex in ihren Dienst nehmen kann. Mehrere Werke Jean Pauls, insbesondere das Leben Fibels (1812; vgl. E 1.2), und Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/1821; vgl. E 1.3) präsentieren Texte, die diskontinuierlich erscheinen, vermeintlich planlos gereihte Sequenzen von ihrerseits fragmentarisch wirkenden Textabschnitten. Damit verbindet sich jeweils die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Darstellungsprozess, mit dessen Ergebnissen, nicht zuletzt auch mit der Materialität von Büchern. Erzähler und fingierte Herausgeber liefern fingierte Erklärungen für die Unstetigkeit des jeweils präsentierten Textes, und sie verweisen auf Formen des Umgangs mit dem Buch als einem materiell-konkreten Ding. Sternes Tristram Shandy interpretiert das Buch nicht nur als dreidimensionales Ding, sondern auch als einen vom Leser zu durchmessenden Raum; Erzählerdiskurs und Buchseitengestaltung wirken hier zusammen. Jean Paul akzentuiert stärker die konkrete Materialität des Buches. Vor allem das Papier als Trägermaterial rückt im Leben Fibels in den Blick – nicht zuletzt als ein Material, das verschiedene praktische Nutzungsmöglichkeiten bietet, die mit dem Dienst ‚im Buch‘ konkurrieren, als Altpapier, das aus ehemaligen Büchern allerlei Alltagsdinge werden lässt. Auch in Hoffmanns Kater-MurrRoman spielt recyceltes Papier eine tragende Rolle, gibt sich doch der Roman als Hybrid aus einem als bloßes Material gebrauchten Manuskript und einem auf dem makulierten Papier geschriebenen neuen Text aus. Die Beispiele Sternes, Jean Pauls und Hoffmanns illustrieren auf jeweils besondere Weise das hohe Semantisierungspotenzial des physischen Objekts Buch – sei es als etwas, das sich im Raum erstreckt, sei es als etwas Wandelbares, Zerstörbares, sei es als etwas, das physisch zirkuliert. Semantiken der Störung sind in besonderem Maße prägend: Das wie auch immer scheinbar nicht intakte, unvollendete oder ruinierte Buch bietet sich als Gleichnis von Störungen immaterieller Art an: für Kommunikationsprobleme zwischen Autoren und Lesern, für unvollständige Überlieferungen, für nur teilweise realisierte Projekte. Die Störung aller Störungen – der Tod – ist bei Sterne, Jean Paul und Hoffmann ein zentrales Thema, das innerhalb der fraglichen Romane buchgestalterisch inszeniert und zum (vorgeblich) defekten oder devianten Buch in eine Spiegelungsbeziehung gesetzt wird. Das Buch qua materielles Objekt erweist sich insgesamt als flexibel nutzbarer Metaphernspender. Schon bei der Rede vom ‚Buch-Körper‘ beginnt im Ansatz die Metaphorisierung, insofern sie einen Vergleich oder sogar eine Analogisierung mit anderen ‚Körpern‘ nahezulegen scheint. Die dichotomische Denkfigur von ‚Körper und Seele‘ ist gerade bei buchbewussten Autoren wie Jean Paul beliebt. Stéphane Mallarmés Un coup de dés (1897) gilt als wichtiges Pionierwerk moderner Buch-Literatur, wird hier doch der „Würfelwurf“ als Text-Geschehen durch die  











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Buchkonstruktion regelrecht inszeniert (vgl. Teil A 1.6 und 1.7 zu Mallarmé). Dazu trägt nicht allein die typografische Gestaltung der Einzelseiten bei, sondern auch die Sequenzialität dieser Seiten. Da die sich auf ihnen sukzessive zeigende typografische Inszenierung des Textes den Kerngegenstand der Lektüre bildet, erscheint der Text selbst dynamisiert, und seine Rezeption wird in neuartiger Weise zum Durchgang. Literarisches Buchbewusstsein als Wissen um die kulturelle Rolle des Buches. Buchbewusstsein artikuliert sich in der Literatur nicht nur auf gestalterisch-kompositorischer Ebene, sondern auch durch explizite inhaltliche Reflexionen. Ein prominentes Beispiel bietet Victor Hugo, der in seinen historischen Roman Nôtre-Dame de Paris. 1482 weitläufige und aspektreiche Reflexionen integriert, die dem Vergleich zwischen dem gedruckten Buch und der Kathedrale gewidmet sind. Beide erscheinen als Medien des Ausdrucks menschlicher Ideen, als Kommunikationsmittel, ja als materialisierte Texte. Für Hugo macht der Übergang vom ortsfesten und einmaligen Text der Kathedrale zum mobilen, als Multiple produzierten Buch eine tiefe historische Zäsur aus. Die Nutzungsoptionen, die das Buch der Kathedrale voraushat, bedingt seinen Siegeszug – den der bürgerlichen Kultur, der zirkulierenden Informationen (des Pressewesens), der in Frage gestellten Autoritäten (der allgemeinen Bildung, der von Buch und Presse getragenen und gestützten Kritik), des dynamisierten Gedankenaustauschs. Im Zeitalter des Buchs denke man anders als im Zeitalter der Kathedrale, denke sich also auch die Beschaffenheit der Welt und das eigene Verhältnis zu dieser Welt anders – so Hugo in Antizipation der im 20. Jahrhundert dann so oft wiederholten These vom Medium selbst als der Botschaft. Der Roman Nôtre-Dame de Paris. 1482 (1831; Hugo 1975) weist buchgestalterisch keine Auffälligkeiten auf, die sich mit denen des Tristram Shandy oder des Kater Murr vergleichen ließen. Aber er deutet doch an prägnanter Stelle auf seine eigene Medialität hin, in einer Vorrede, die die gesamte Narration rahmt: Der Erzähler gibt hier vor, durch einen in eine Wand der Kathedrale Nôtre-Dame eingeritzten Schriftzug zum Erzählen seiner Geschichte stimuliert worden zu sein – getrieben vom Bedürfnis, der Bedeutung der geheimnisvollen Inschrift („ANAГKE“, Zwang/Schicksal) nachzuspüren (ebd., S. 3). Beschaffenheit und Aussehen des Schriftzugs werden genau beschrieben; im Romantext selbst wird er typografisch re-präsentiert, in illustrierten Ausgaben gelegentlich auch abgebildet. Der mittelalterliche Originalschriftzug sei inzwischen verschwunden, so der Erzähler, und zwar repräsentativ für die bei aller Dauerhaftigkeit doch letztlich der Zeit und dem Wandel überantworteten Kathedralen selbst (vgl. ebd.). Doch im Buch überlebt dieses Stück Vergangenheit (das Schlüsselwort „ANAГKE“ und das Geheimnis, auf das es verweist) in transkribierter und multiplizierter Form. Das Interesse an der Materialität und Dauerhaftigkeit buchgestützter Kommunikation, aber auch an potenziellen Störfaktoren von Überlieferung, verbindet Hugos Roman mit Beispielen einer ostentativ buchgestaltenden Literatur. MSE  









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Teil A Aspekte des Buchs

A 2.2 Buchgestaltung in der neueren und der Gegenwartsliteratur In der jüngeren Literatur, vor allem in der Gegenwartsliteratur, lässt sich eine Tendenz beobachten, Gestalt und Materialität des Kodex zum integralen Bestandteil des Werks selbst zu machen. Die materielle Dimension des Buchs und seine konkret-physischen Gestaltungsparameter werden dabei jeweils in den Blick gerückt – gestützt durch Strukturen und Inhalte der jeweils dargebotenen Texte. Illustrative Beispiele bieten die Publikationen von Mark Z. Danielewski, in denen sich die Gestaltung literarischer Texte mit buchgestalterisch ungewöhnlichen Präsentationsformen verbindet, die vom jeweiligen Text nicht zu lösen sind (vgl. Danielewski 2000; Danielewski 2006; Danielewski 2012; Danielewski 2015ff.). Flächig in vielfältigen Formenspielen über die Buchseiten und im Buch-Raum verteilt, lassen sich diese Texte nicht auf ein lineares Gebilde reduzieren, ohne sich dabei tiefgreifend zu verändern. Das Druckbild, die Positionierung der Zeichen auf den Seiten und im Buch-Raum sowie die grafischen Elemente und Strukturen innerhalb der Bücher gehören als konstitutive Elemente zum jeweiligen Roman, wobei Danielewski sich um Abwechslung bemüht. Dass hier jeweils ein Buch (und nicht einfach nur ein Text) gelesen wird, wird nicht zuletzt durch unkonventionelle Buchstrukturen betont: Man muss anders lesen als gewohnt, muss das Buch drehen und wenden, es gegen den Strich lesen. Danielewski ist nicht der einzige Vertreter der Gegenwartsliteratur, der die Gestaltungsoptionen von Büchern erprobt und mit der Produktion literarischer Texte so eng verbindet, dass literarisches Schreiben und Buchgestaltung von Anfang an ineinandergreifen. Diverse Variationen über das Buch hat auch Leanne Shapton geschaffen. In Important artifacts and Personal Properties from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris (2009, dt. 2010; vgl. E 1.42) wird die Geschichte einer Liebesbeziehung von ihrem Anfang bis zum Ende in Form eines illustrierten Versteigerungskatalogs erzählt. In Was she pretty? (2006) wechseln Textabschnitte und Zeichnungen ab, um die erzählte Geschichte zu vermitteln. Shaptons weitere Bücher (The Native Trees of Canada, 2010; Swimming Studies, 2012) dokumentieren wie die Danielewskis nicht zuletzt ein Interesse am abwechslungs- und variantenreichen Einsatz buchgestalterischer Mittel. Im deutschen Sprachraum bieten die Bücher Judith Schalanskys ein ähnliches Spektrum buchgestalterischer Beispiele. In den Roman Der Hals der Giraffe sind verschiedene grafische Elemente integriert. Die autobiografisch grundierte Erzählung Blau steht dir nicht. Ein Matrosenroman (2008) ist als literarischer Fototext konzipiert; in den Text integriert sind ältere Fotos verschiedener Provenienz. Und der Atlas der abgelegenen Inseln enthält neben kurzen historiografisch-topografischen Prosaskizzen vor allem Kartenmaterial (vgl. Schalansky 2009; Schalansky 2011; dazu auch Teil B 2.4). Diverse andere, darunter auch inzwischen kanonisierte Autoren, tragen mit einzelnen Werken zur Ausdifferenzierung innovativer Erscheinungsformen von Buch-Literatur bei, so etwa Georges Perec in der (u. a. oulipistisch inspirierten) Frühphase des neueren Buchromans, Steven Hall und Reinhard Jirgl in jüngerer Zeit. In vielen autorenpoetologischen Texten werden die buchliterarisch genutzten Gestaltungsmodi erörtert und  





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kommentiert – mit Blick auf die Schriftsteller als Gestalter, auf die Leser als Adressaten – oder auf beide, wie etwa bei Raymond Federman:  



Der bloße Akt des Lesens, auf der ersten Seite oben anzufangen und von links nach rechts fortzufahren, von oben nach unten, Seite für Seite bis zum Ende, in einer aufeinanderfolgenden vorgefertigten Weise ist restriktiv und langweilig geworden. […] Deshalb muß die ganze traditionelle, konventionelle, fixierte und langweilige Art des Lesens in Frage gestellt, angegriffen und demoliert werden. Und der Schriftsteller selbst (nicht die moderne Drucktechnik) muß durch Innovationen im Schreiben selbst – in Typographie und Topologie des Textes – unser Lesesystem erneuern. (Federman 1991, S. 66)  





[…] Schreiben heißt, einen Raum füllen (Seiten schwärzen); und in den Räumen, in denen es nichts zu schreiben gibt, kann der Schriftsteller jederzeit Material einfügen (Zitate, Bilder, Diagramme, Karten, Entwürfe, Stücke aus anderen Diskursen, Kritzeleien, usw.), die absolut nichts mit der Geschichte zu tun haben, die er gerade schreibt. Oder er kann einfach diese Räume weiß lassen, denn Literatur besteht zu einem ebenso großen Teil aus dem Gesagten wie aus dem Nichtgesagten, denn das Gesagte muß nicht notwendig wahr sein, da das Gesagte stets auch anders ausgedrückt werden kann. (Ebd., S. 71)  

Eine Art Programm- und Pionierwerk der neueren Buch-Literatur ist Italo Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore (vgl. auch Teil E 1.18); hier geht es inhaltlich durchgehend um Texte und Bücher. Vom fokussierten Interesse am Buch betroffen sind aber auch die Form dieses Buchs selbst – sowie mittelbar (als deren Folge) seine Nutzung durch den Leser.35 MSE  

35 Calvino 1979 (dt. 1990). Der Roman präsentiert sich als Panorama rezeptionsästhetischer Modelle, verbunden mit kritischer Reflexion über die Rolle des Lesers als Protagonist – ein Roman, der über längere Passagen hinweg in der zweiten Person Singular verfasst ist. Held des Romans ist ein Leser, der „lettore“ (also „Leser“) genannt wird und den der Erzähler bzw. die Stimme des Textes als „Du“ anredet. Zu Beginn des Romans zieht sich dieser „lettore“ in sein Lesezimmer zurück, um einen soeben gekauften neuen Roman (angeblich von Italo Calvino) zu lesen, und wir bekommen dabei unter anderem erzählt, was er liest. Allerdings währt die Freude des Lesers nicht lange. Der bereits gelesene Text beginnt sich zu wiederholen, ebenso die Seitenzahlen, und als er in der Buchhandlung reklamiert, stellt sich heraus, dass der „lettore“ ein defektes Buch gekauft hat. Er nimmt aus der Buchhandlung als Ersatz ein anderes Buch mit, vertieft sich auch in dieses, doch auch dieses Buch erweist sich als defekt; es bricht unversehens ab. Der „lettore“ wird noch diverse andere Bücher zu lesen anfangen, aber keine Lektüre kommt zu einem Ende. Calvino macht den Leser zwar konsequent zum Helden, aber zunächst und vor allem einmal, um ihm seine Abhängigkeit von den verschiedensten Instanzen und Kontingenzen vor Augen zu führen: von der Intaktheit des Buchs, das er liest, von Schriftstellern, Literaturagenten, Verlagslektoren, vom Literaturbetrieb und von den vielen Zufälligkeiten, die auf die Produktion von Texten und Büchern Einfluss nehmen.  

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Teil A Aspekte des Buchs

A 2.3 Theoretische Annäherungen an die Buch-Literatur Den Weg für die neue und neueste Buch-Literatur haben Autoren bereitet, die teilweise in Personalunion als Ästhetiker und Kulturtheoretiker, Schriftsteller und Buchgestalter in Erscheinung traten. Dies gilt etwa für Theoretiker des Intermedia-Konzepts (wie Dick Higgins), der Konkreten Poesie (wie Eugen Gomringer) und des Offenen Kunstwerks (wie Umberto Eco). Eco – ein wichtiger Vertreter der Rezeptionsästhetik der 1960er und 1970er Jahre, ist erst mit Il nome della rosa (Eco 1980) als Schriftsteller in Erscheinung getreten, hat mit diesem und späteren Romanen aber zur jüngeren Geschichte einer ‚Literatur des Buches‘ beigetragen, in der neben Texten auch grafische Elemente kompositorisch genutzt werden. Im Rosenroman handelt es sich um nur wenige Grafiken zur Darstellung von Raumstrukturen; in La misteriosa fiamma della Regina Loana (Eco 2004) hingegen sind größere Bestände, teils ganze Serien reproduzierter Bilder integriert, die den Roman nicht als bloße Zutat begleiten, sondern einen integralen Bestandteil des Werks bilden. Eugen Gomringer hat explizit angeregt, die Ansätze der visuell-experimentellen und ‚konkreten‘ Poesie in die Buchgestaltung hinein fortzusetzen, die poetische Kunst also vom Gedicht zum Gedichtbuch weiterzuentwickeln. Gomringers stundenbuch (1965) knüpft an einen traditionsreichen älteren Buchtypus an, der zumindest oft auch Anlass künstlerischer Buchgestaltung war. Dick Higgins, Schriftsteller, Ästhetiker und Produzent von Buchwerken, verbindet Reflexionen über das Buch als ästhetisches Gestaltungsobjekt mit Enthierarchisierungsdiskursen. Er akzentuiert die spezifische Medialität von Künstlerbüchern, ihre mediale Hybridität und ihre Situierung zwischen den konventionellerweise voneinander unterschiedenen Darstellungsformen und Künsten. Indem er das Buch als ‚Intermedium‘ versteht (Higgins/Higgins 2001, S. 49–54), konstruiert er eine Parallele zwischen ganz unterschiedlichen Formen und Ebenen der Entdifferenzierung und analogisiert Gattungshybridisierungen mit gesellschaftlichen Prozessen. Mischung, Grenzüberschreitung und Dialog werden metaphorisiert und affirmiert.  



bookness: ein heuristisch fruchtbarer Begriff aus dem Künstlerbuchdiskurs. Quer durch Wissensdisziplinen und künstlerische Gattungen gelten dem Buch in jüngerer Zeit zunehmend ausführlichere Reflexionen: Überlegungen von Buch-, Kulturund Medienhistorikern, von Ästhetikern und Kommunikationstheoretikern, von Buchdesignern und buchgestalterisch erfahrenen Philologen. Symptomatisch erscheint hier etwa die von Klaus Detjen herausgegebene Reihe zur Ästhetik des Buches. In den paratextuellen Erläuterungen zur Reihe wird die formale Dimension des Buchs als verbindendes Thema charakterisiert. Autoren aus verschiedenen Disziplinen widmen sich in der Reihe Ästhetik des Buches den einzigartigen ästhetischen, kulturellen und wahrnehmungspsychologischen Qualitäten des gedruckten Buches. In Essays, Porträts und Kommentaren wird [sic] das Buch, seine Optik, Haptik und Formgebung, seine Funktionen und Wirkungen, aber auch die Tradition der Typografie und der Buch-

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gestaltung diskutiert. Dieser Diskurs zur Buchform und zum Buch als Form konzentriert sich auf die sinnlichen und lesetechnischen Vorteile dieses Mediums und vermittelt Einblicke in die Arbeit daran. (Paratext des Verlags, hinten in: Reuß 2014, unpaginiert [S. 86] [Hervorhebung wie im Original])  

Um Eigenarten und Effekte buchliterarischer Werke zu erfassen und zu beschreiben, bietet es sich an, einen Blick auf theoretische Modellierungen des Künstlerbuchs zu werfen. Diesem sind vielfältige Studien gewidmet worden; ein homogener und definitorisch eindeutiger Begriff davon, was ein Künstlerbuch ist, ergab sich dabei allerdings nicht, wohl allerdings wichtige Konvergenzen (vgl. dazu u. a. Brall 1986; Bury 1995; Celant/Morris 1972; Celant 1974; Dittmar 1980; Dittmar 1977a, S. 296–299; Downsbrough 1993; Drucker 1995a/2004; Kat. Ausst. 1975; Kat. Ausst. 1978; Kat. Ausst. 1980; Kat. Ausst. 1989; Mœglin-Delcroix 1997; Moldehn 1996; Stewart 2011 sowie genauer Teil A 1). Insbesondere die Auseinandersetzung mit bookness – und damit eine thematische Dimension der fraglichen Werke – ist im Diskurs über Künstlerbücher als verbindendes Charakteristikum künstlerischer Buchwerke bestimmt worden. Johanna Drucker, die in ihrer panoramatischen und grundlegenden Studie zu Buchwerken oder ‚Artists’ Books‘ (The Century of Artists’ Books, zuerst 1995) die Problematik einer Definition dieses Bereichs künstlerischer Produktivität betont hat, macht gleichwohl den (durchaus produktiven) Vorschlag, das sich in den verschiedensten Arbeiten manifestierende Interesse an der Buchhaftigkeit (bookness) des Buchs als Leit- und Orientierungskonzept zu betrachten. Es gebe, so Drucker, viele Strategien, dem Buch Aufmerksamkeit zuzuwenden; die Optionen, die sie aufzählt, betreffen dabei Architektur, Materialität und Produktionsprozess des Buchs.36 Holland Cotter betont in seiner Einführung zu Druckers Monografie den Unterschied zwischen konventionellen, dabei aber als Objekte kaum beachteten Büchern und ‚Artists’ Books‘ (vgl. Cotter, Holland: Introduction, in: Drucker 2004, S. xi–xv). Die in der Monografie vorgestellten Beispiele „transform the condition of bookness, and complicate it“ (ebd., S. xi); das Buch werde zum Primärobjekt. Signifikant sei in fast allen Fällen „the book’s visual presence – its objectness“, unter Einsatz von malerischen Mitteln, von Skulptur-, Collageund Filmtechniken (ebd.). Manche ‚Artist’s Books‘ seien dabei zum Lesen gemacht, andere zum Anschauen oder zum Betasten; inhaltlich reiche das Spektrum von der politischen Botschaft über Meditationen zu persönlichen Phantasien (ebd.). Als entscheidend gilt, unabhängig von konkreteren Funktionen, die Ostension der Buchhaftigkeit. Diese und ähnliche Versuche, den Phänomenkomplex künstlerischer Buch 















36 „The book can be examined according to the conventions of the page – and the page in turn be examined according to literary and/or visual traditions of form, layout, and illusion. Secondly, the book can be examined as a whole, as an entity, and an object. A book can call attention to the external factors which determine its structure or the book can become an object whose structural features are its subject matter. Finally, a book can be about the process of its own making – either its conception or its production, or both.“ Drucker 2004, S. 162.  





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Teil A Aspekte des Buchs

werke überblickend zu profilieren, bieten Ansatzpunkte auch für die vergleichende Beschreibung buchliterarischer Phänomene. ‚Liberatura‘. Für Werke, die zugleich eine literarische und eine buchgestalterischbuchästhetische Dimension haben, hat der polnische Dichter und Buchkünstler Zenon Fajfer den Sammelbegriff ‚Liberatura‘ (engl. ‚Liberature‘, dt. Äquivalent wäre ‚Liberatur‘) vorgeschlagen.37 Ihm geht es vor allem um die integrative Gestaltung von sprachlichen und bildlich-visuellen Gestaltungselementen innerhalb des Buchs (Kalaga 2010). ‚Liberarische‘ Bücher sind, so wie Fajfer sie versteht, keine bloßen Äußerlichkeiten gegenüber einem als ‚eigentlich‘ zu betrachtenden Inhalt, keine bloßen ‚Verpackungen‘, keine bloßen ‚Träger‘. Im Bereich der ‚Liberature‘, so Fajfer, the notion of the ‚carrier‘ does not make much sense. The book (from Latin ‚liber‘) is a part of the work; its physical shape and structure constitute its integral part. So it is not easy to take out the text and place it in the virtual space, since in the liberatic work the space in which words are contained is not neutral. The author creates it with text (which is not transparent) as well as with the structure of the book itself, which in accordance with another meaning of the Latin root of the name ‚liberature‘, can assume any shape whatsoever. (Fajfer 2010c, S. -8)  

In Fajfers Erörterungen wird die enge Beziehung des individuellen Künstlers zu seinem Buchwerk betont, und „Liberatura“ versteht sich explizit als ein literatur-bezogenes Konzept, wie der Neologismus mit seinem Anklang an das Wort „Literatur(a)“ selbst ja schon andeutet. Pointierend sprechen Fajfer und seine Interpretin Katarzyna Bazarnik auch von „writer’s books“ (Bazarnik 2007 online). Auch die Idee einer Befreiung (zunächst und zuerst einmal von buchgestalterischen Konventionen) klingt im Begriff „Liberatura“ mit an (vgl. Kalaga 2010). Verweist der Neologismus doch nicht nur auf den lateinischen Namen des ‚Buchs‘ (liber), sondern auch auf das Adjektiv ‚frei‘ (liber). Von ‚protoliberarischen‘ Büchern in einer konventionellen Kodexform spricht Fajfer bezogen auf eine Reihe von Beispielen aus ganz verschiedenen Epochen, ohne dabei genau zu spezifizieren, was diese gemeinsam haben. Teils bedingen offenbar Textstrukturen den ‚protoliberarischen‘ Charakter, teils die Kombination von Texten und Bildern.38 Konvergent verhalten sich beide Strategien durch Akzentuie-

37 Fajfer hat den Ausdruck ‚Liberatura‘ 1999 in einem Artikel in der Dekada Literacka eingeführt; vgl. Fajfer, Zenon: Liberatura. Aneks do slownika terminow literackich. In: Dekada Literacka 153–154 (1999), S. 8–9. Englische Fassung Fajfer 2010a. Vgl. Teil A 1, S. 42. 38 „There are several liberatic or protoliberatic books in the traditional form of the codex“ (Fajfer 2010c S. -7); Fajfer nennt Dantes Divina Comedia (1321), George Herberts The Temple (1633), Sternes Tristram Shandy (1759ff.) Blakes illuminierte Dichtungen, Carrolls Alice-Bücher (1865, 1872); Mallarmés Un coup de dés (1897), Apollinaires Calligrammes (1918), Joyces Ulysses (1922) und Finnegans Wake (1939), Durrells Alexandria Quartet (1957–59), Nabokovs Pale Fire (1962), Cortázars Rayuela/Hopscotch (1963), Gass’ Willie Master’s Lonesome Wife (1968), ferner Werke von B. S. Johnson, Perec, Pavić, Danielewski etc.  







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A 2 Buch-Literatur

rung der Räumlichkeit des Buchs.39 „Liberatur(a)“, so eine Leitdee Fajfers, ist „spatiotemporal literature“ (Fajfer 2010d, S. 61). Sie gibt der Literatur einen Raum.  

[…] what is the space of the literary work? […] the first, elementary space one deals with, even before one starts reading a work, is … an actual book – a material object. The outward appearance of the book, the number and arrangement of its pages (if there need to be pages), the kind of cover (if there need to be a cover) – this is the space of the literary work that includes all its other spaces. And, unlike those other spaces, this space is very real. (Fajfer 2010a, S. 26)  





Gemeint ist allerdings ein Raum, der mit zum Werk gehört, gleichsam als dessen eigene Räumlichkeit, nicht etwa ein Behälter, der auch gewechselt oder ersetzt werden könnte. […] [T]he material book, which can be of any shape and structure, ceases to be a neutral container for a text, but becomes an integral component of the literary work. It becomes its spatial-temporal foundation shaped by authors just as they shape the fictional world represented through language. (Bazarnik 2010, S. 7)  

Mediale und kulturelle Rahmenbedingungen. Woher rührt die für buchliterarische (‚liberarische‘) Werke konstitutive Hinwendung zum Buch? Als einseitig und insofern irreführend erscheint hier die These, das Interesse am Buch resultiere aus dem schon vor Jahrzehnten proklamierten Ende des Buchzeitalters, sei stimuliert durch eine antiquarisch-nostalgische Haltung, welche dem Buch am Ende seiner Erfolgsgeschichte als kulturell dominantes Speicher- und Zirkulationsmedium des Wissens noch einmal ihre Reverenz erweise. Die hierbei (in unzulässiger Vereinfachung konstatierte) Lösung des Buchs von seinen bisherigen praktischen Zwecken mache (so eine entsprechend einseitige Anschlussthese) den Weg frei für künstlerisch-autonome Gestaltungen des Kodex. Dem wäre erstens entgegenzuhalten, dass es unbeschadet der rasanten Entwicklung digitaler Medien und der Übernahme vieler Funktionen des Buchs durch diese noch keineswegs ausgemacht erscheint, dass das Buch wirklich anachronistisch geworden ist oder bald wird (vgl. Reuß 2014, insbes. S. 6). Zweitens überzeugt es wenig, die qualitativ und quantitativ expandierende Auseinandersetzung literarischer Autoren mit Buchgestaltungsoptionen ausgerechnet damit zu erklären, dass das zu Gestaltende selbst kultur- und medienhistorisch überholt erscheint. Sehr viel näher liegt es demgegenüber, zumindest einen bedingenden Faktor buchgestalterischer literarischer Arbeit in den technisch erleichterten Produktionsbedingungen solcher Bücher zu sehen. Bücher, die von ihren Autoren am Computer nicht nur geschrieben, sondern auch gesetzt und grafisch gestaltet werden, laden zu  

39 „Their [gemeint sind die genannten Werke] liberatic character is evident in the deep bond between the text and its spatial arrangement: the format, the number of volumes, their size, etc. as well as all graphic elements; and within the text itself the bond between the sound, rhythm and meaning, and its material inscription: typeface, layout, colour, the number of words and lines.“ Fajfer 2010c, S. -7.  

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Teil A Aspekte des Buchs

gestalterischen Experimenten verstärkt ein. Dies gilt nicht nur für die Verwendung eines auch für nicht-professionelle Nutzer leicht verfügbaren Spektrums an Schriftfonts, Textformaten, Bildern und Grafiken – es gilt auch für die erleichterte Praxis des Arbeitens an und des Überarbeitens von Texten. Chronikalische, diaristische, zitierende und montierende Schreibweisen, die Arbeit an Langzeitprojekten, die Produktion sequenzieller und serieller Texte – sie alle unterliegen dem Einfluss der dabei eingesetzten technischen Medien, die dann direkt oder indirekt ihre Spur im Text und im Buch hinterlassen. Den zeitgenössischen Produzenten von Literatur steht ein unerschöpfliches Reservoir an Formen, Materialien, Organisationsmustern und Bearbeitungsstrategien zur Verfügung, für deren Nutzung sie die Hilfe professioneller Buchgestalter tendenziell immer weniger in Anspruch nehmen müssen. Bücher werden am eigenen PC entworfen und gestaltet, unter ständig möglichem Zugriff auf ein Universum der Daten und Codes. Und wer noch mit der Hand schreibt, kann mittels der inzwischen verfügbaren Reproduktionsverfahren auch seine Handschrift ins Buch eingehen lassen. Zu den buchgestalterisch vielseitig genutzten Strategien neuerer BuchLiteratur gehört die Reproduktion von faksimilierten Handschriften oder Pseudo-Manuskripten im gedruckten Buch.  



Anstöße, Tendenzen, Konvergenzen. Die neuere Buch-Literatur hat insgesamt Anstöße verschiedener Art erfahren: aus der Geschichte der Literatur und der bildenden Kunst, des Kodex, der Buchkultur und der Wissensgeschichte. Spezifisch zu nennen sind Impulse aus den Bereichen der artifiziellen Typografie, der Visualpoesie und einer durch visuelle Elemente geprägten Literatur; ferner solche aus der Künstlerbuchbewegung (zu der neben im engeren Sinn lesbaren Büchern auch Buchplastiken und Buchobjekte gehören) und ihrer Vorgeschichte, insbesondere im Bereich des Malerbuchs. Einflüsse gingen sowohl von der Geschichte des Spielbuchs, des Schulbuchs und des Kinderbuchs aus, als auch vom Buch als einem in vielen Bereichen genutzten Vermittler sachbezogenen theoretischen oder praxisrelevanten Wissens. Nicht auszublenden ist die Geschichte des vom Nutzer selbst gestalteten Buchs: des persönlichen Notizbuchs, des regelmäßig geführten Rechnungsbuchs, des Tagebuchs und der Reisechronik, des Familienalbums, des Poesiealbums, des Klebe- und Sammelbuchs etc. Wichtige Anstöße liefern aber auch solche Bücher, die nur in der literarischen Imagination Gestalt annehmen, von fiktionalen Buch-Beschreibungen und BuchPhantasien. Vor allem die Texte von Jorge Luis Borges werden zu wichtigen Anstößen, die aus der Literatur selbst kommen – aus einer mit phantastischen Elementen durchsetzten, teils die Grenzen des Vorstellbaren selbst sprengenden Beschreibung von Büchern, von Buchwelten und von funktionalen Äquivalenten des Buchs. Borges beschreibt Bücher, wie es sie nicht gibt, nicht geben kann (in Das Sandbuch, in Der Garten der Pfade, die sich verzweigen); er beschreibt Bücher, die es zwar geben kann, die aber abstrus und widersinnig wirken (in Die Bibliothek von Babel); er schildert, wie eine vielbändige Enzyklopädie die Welt selbst verändert (in Tlön, Uqbar, Orbis tertius). Und all dies setzt bei Buchkünstlern und Schriftstellern Buchphantasien frei, die im  

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Ansatz sogar manchmal realisiert, in jedem Fall aber oft zitiert werden (vgl. dazu den Teil D, Art. „Borges und die Buchkunst“). MSE

A 2.4 Sichtbarkeit und Räumlichkeit des Buchs In seiner Monografie Im Weinberg des Textes beschreibt Ivan Illich die prägenden Charakteristika dessen, was seit dem 12. Jahrhundert ein ‚Buch‘ ist (Illich 2010, zuerst 1991). Anlass dafür sind historische Studien zur Lesekultur. Erörtert wird insbesondere die visuelle Dimension von Texten und Büchern. Die sich seit dem Mittelalter profilierende spezifische Sichtbarkeit des Buchs, ihre Implikationen und Nutzungsoptionen erscheinen als entscheidend für die Buchkulturgeschichte, auch wenn es Kodizes schon vorher gegeben hat. Ein Hauptakzent liegt bei Illich auf buchspezifischen Gliederungsverfahren von Texten, Thesen, Wissensinhalten. Die von ihm beschriebenen Spezifika des Buchs im Buchlesezeitalter (das für ihn vom 12. Jahrhundert bis zum Eintritt ins Zeitalter der digitalen Lese-Gegenstände seit den 1980er Jahren reicht) bestimmen Form und Aussehen von Büchern bis heute; sie gehören als konstitutiv zum ‚Buch‘. Insofern sind sie auch entscheidend für den reflexiven gestalterischen Umgang von Buchkünstlern und Schriftstellern mit dem Kodex. Sie in besonderer Weise ästhetisch zu nutzen (und dabei besonders auf sie aufmerksam zu machen) ist also ein Beitrag zur ästhetischen Auseinandersetzung mit bookness. Insgesamt spielen, anknüpfend an die facettenreiche Geschichte visueller Buchgestaltung, visuelle Gestaltungsmodi und -parameter in der neueren Literatur eine besonders wichtige Rolle. Und im Zeichen des Interesses an buchspezifischen Gliederungsverfahren sowie an wissensgeschichtlichen Implikationen der Buchgestaltung finden sich gerade in der neueren und der Gegenwartsliteratur viele Beispiele für literarische Spiele mit Formen, Strukturen, Ordnungsmustern des Buchs – mit orientierenden (und desorientierenden) Strukturierungsverfahren. Hier zeigt sich exemplarisch das Ineinandergreifen von theoretischen, historischen und ästhetisch-gestalterischen Interessen am Buch.  





Buch- und Lesegeschichte als Seh-Geschichte. Manuskripte des 12. Jahrhunderts werden oft aufwendig gestaltet, und dies ist keine bloße Verschönerungsmaßnahme (De Hamel 1994, S. 98), es korrespondiert mit einer neuartigen Lesekultur, die ihrerseits einer neuen Konzeptualisierung von Wissen und Wissensvermittlung entspricht.40 An verschiedenen Gestaltungsmaßnahmen wird sichtbar, welche Bedeutung dabei Strukturierungsmaßnahmen zukommt: Hervorgehobene Initialen  



40 Das 12. Jahrhundert interessierte sich nachhaltig für Klassifikationen und Ordnungen des Wissens. Beliebt sind enzyklopädische Werke. Gelehrte wie Petrus Lombardus und Gratian schaffen Darstellungssysteme des Wissens, das dieses überschaubar und verfügbar macht. Auf diese Verfügbarkeit und Anwendbarkeit der Wissensbestände legte man großen Wert, und als nützlich werden in Bibliothekska 

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erleichtern die Lektüre, indem sie Sinnabschnitte unterscheidbar machen; der Gebrauch von roter Tinte für Überschriften stützt die Orientierung im Text, ebenso wie die Kolumnenbildung und die Verwendung von Buchstaben unterschiedlicher Größe. Durch Überschriften oder ähnliche Gliederungselemente (etwa Marginalien) werden auch Inhaltsverzeichnisse möglich, welche die fraglichen Zeilen oder Stichworte nutzen und in Übersicht darbieten. Initialenmalerei ist keine bloße Dekoration: Auch sie setzt sinnbildende Zäsuren, und der bildliche Anteil an Initialen kann einen ersten prägnanten Hinweis auf Inhalt und thematische Ausrichtung des beginnenden Abschnitts oder Kapitels geben. Sie verbinden die jeweilige Darstellung mit bereits geläufigen Symbolen, Bildtypen und Bildprogrammen und helfen dem Leser bei der Navigation durch das Buch. Zudem können sie unterhaltsam und reizvoll sein.41 Bilder bieten zusätzliche Erklärungen; sie zeigen, was so konkret oder detailliert nicht durch den Text dargestellt wird; sie können knappe Erzählungen ausspinnen, umrisshafte Beschreibungen konkretisieren. Grafische und diagrammatische Elemente stiften vor allem Ordnung im Manuskript. Illich charakterisiert in Im Weinberg des Textes ein ans Buch eng gebundenes „Kulturverhalten“, mit welchem die Kultur einsetzt, die George Steiner „bookish“ genannt hat42 und das nicht allein Einrichtung und Nutzung westlicher Bildungsinstitutionen 800 Jahre lang geprägt hat, sondern dabei auch das Kernstück der „westlichen säkularen Religion“ wurde.43 Illichs Studie steht programmatisch für die Schärfung der Aufmerksamkeit für den „Zusammenhang von Tradition und Zweck, Materialien, Werkzeugen sowie den formalen Regeln ihres Gebrauchs“ (Illich 2010, S. 100), konkret: für den Zusammenhang zwischen den Funktionen und Semantiken der Schriftträger (insbesondere des Buchs), ihrer Gestaltung und ihrer Nutzung – einer Nutzung nicht allein unter äußerlich-physischen Aspekten, sondern im Sinn einer Prägung von Wahrnehmungs-, Deutungs-, Interpretations- und intellektuellen (Ver-)Arbeitungsprozessen des Gelesenen. Unabhängig von ihrem konkreten Gegenstand verweisen die Analysen grundsätzlich (und in übertragbarer Weise) auf die Verknüpfung zwischen sichtbar-konkreten Formen des Textes, dadurch suggerier 



talogen entsprechende Zusammenfassungen, Kompilationen und Kondensierungen von Wissenskompendien genannt (dazu De Hamel 1994, S. 98). 41 Ebd., S. 100. Das Lesen des Textes selbst sollte Vergnügen bereiten, die Lektüre der Predigten des Heiligen Augustinus etwa schon beim Öffnen des Buchs „a pleasure […] instead of a burden“ sein (ebd., S. 101). 42 Illich 2010, S. 7; vgl. Steiner, George: The End of Bookishness. In: The London Times Literary Supplement (8–16.7.1988), S. 754; Angabe nach Illich 2010, S. 210. Bookishness ist etwas anderes als bookness; letzteres Wort bezieht sich auf Eigenschaften des Buchs, ersteres auf Eigenschaften von Buchnutzern. 43 Illich 2010, S. 7. Illich geht beim Schreiben des 1991 zuerst erschienen Buchs davon aus, diese Epoche werde bald beendet sein. So unsicher solche Prognosen sind, haben sie doch auf jeden Fall performative Effekte. Ob dem „Bildschirm“ heute der Status einer „Grundmetapher unseres Zeitalters“ zukommt wie einst dem Buch, wie Illich (ebd., S. 9) meint, könnte man diskutieren; ein anderer Kandidat wäre die „Festplatte“.  















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ten bzw. ermöglichten Leseweisen, Schreibweisen – und Denkweisen, d. h. also auch der jeweils zeitspezifischen Wissenskultur und dem von ihr verwalteten und konstituierten Wissen. Illichs Kommentar zu Hugos Didascalicon steht im Zeichen eines spezifischen Blicks auf das Buch als „Bildfläche“. Eine solche Betrachtungsweise ist in mehrfacher Weise anschlussfähig: für eine Kulturgeschichte des Lesens, für eine Analyse des Bedingungszusammenhangs zwischen Lektüreobjekten und Lektüreprozessen, die medientheoretisch, psychologisch oder semiologisch grundiert sein kann – aber auch für Formen der literarischen und künstlerischen Reflexion über die BildFläche des Textes und über das Buch als Raum gestapelter Flächen.  





Älteres und neueres Lesen. Als entscheidende Zäsur in der Geschichte des Lesens mit umfassenden kulturellen Konsequenzen betrachtet Illich den Übergang von einer älteren ‚monastischen‘ zu einer neueren ‚scholastischen‘ Praxis des Lesens: den Wechsel vom weitgehend lauten Artikulieren zu einem stillen Lesen, der epochale Implikationen und Konsequenzen hatte. Wurde doch (laut Illich) zugleich mit der Ablösung der „Partitur für fromme Murmler“ durch den „optisch planmäßig gebaute[n] Text für logisch Denkende“ (ebd., S. 7) aus dem Text selbst etwas anderes: ein Artefakt, dessen Aufbau als solcher von entscheidender Bedeutung war – und zwar auf mehreren Ebenen: auf der der Sichtbarkeit wie auf der der Argumentation. ‚Scholastisches‘ Lesen ist strukturorientiert und analytisch.44 Insofern ändert sich mit seinem Aufkommen auch die Beziehung zum Alphabet. Der ‚scholastische‘ Leser (zu dem auch der heute lebende Repräsentant der Buch-Lese-Kultur noch gehört) vermag Wörter als Kombinationen aus ‚Buchstaben‘ (Elementen) wahrzunehmen. Eben diese Auffassung der Buchstaben als Bausteine gestattet es, mit ihnen auch bisher nicht Gesagtes zu sagen. Im späten 13. Jahrhundert ist dann „die scholastische Argumentation […] so durchgliedert und differenziert, daß man visuelle Hilfen braucht, um ihr folgen zu können“ (ebd., S. 96). Der Wechsel zum ‚scholastischen‘, an Aufbau und visuellen Strukturen orientierten und auf diese konzentrierten Lesen markiert nicht nur eine Zäsur in der Geschichte der Lesepraktiken. Vielmehr greift er in die Geschichte des Denkens, des Wissenserwerbs und der Bildung insgesamt massiv ein. Er ist grundlegend für die Profilierung eines bis heute nachwirkenden Konzepts von „Wissen“.45  







44 Der Unterschied zwischen ‚monastischem‘, erkundendem Lesen und ‚scholastischem‘, gezielt suchendem Lesen ähnelt (laut Illich) dem zwischen der japanischen Praxis, sich durch exploratives Umherstreifen im Stadtlabyrinth von Tokio zurechtzufinden, und der westlichen Orientierung mittels eines Plans, der eine abstrakte Sicht von oben repräsentiert. (Ebd., S. 40) 45 Illich charakterisiert die Wende vom ‚monastischen‘ zum ‚scholastischen‘ Lesen als „Verschiebung von der Aufzeichnung des Sprechens zur Aufzeichnung von Gedanken, von der Aufzeichnung von Weisheit zur Aufzeichnung von Wissen, von aus der Vergangenheit überlieferten Autoritäten zu Speicherung von schnell zugänglichem, klar geordneten ‚Wissen‘“ (ebd., S. 103). „Aufzeichnungstechnologie[n]“ sind neue Techniken, die dazu beitragen, die „Wirklichkeit“ unter neuen ökonomischen und sozialen Bedingungen auf neue Weisen zu sehen (ebd.). Ein Beispiel bietet die Geschichte des Rechtswesens:  



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Teil A Aspekte des Buchs

Die „neue Form des buchgebundenen Lesens“ wird entsprechend zur „Metapher für die höchste Form sozialen Handelns“ (ebd., S. 8).  

Visuelle Strukturierungen. Für Illich markiert das Didascalicon Hugos von Sankt Victor die entscheidende Zäsur: Vorher war das Buch „eine Aufzeichnung dessen, was ein Autor geredet oder diktiert hat“, repräsentierte und fixierte also eine mündliche Äußerung, durch die es damit geprägt war und der es diente. Danach nimmt es, so Illich, sukzessive eine andere Identität an: Es wird zum „Repertorium der [nun nicht mehr mit Mündlichkeit verbundenen] Gedanken eines Autors, zu einer Bildfläche, auf die er seine noch unausgesprochenen Intentionen projizieren kann“ (ebd., S. 101). Die gestaltete Bildfläche, Darstellungsform von „Intentionen“, tritt damit an die Seite der verbalen Darstellung.46 Der monastische Leser „nimmt die Zeilen auf, indem er sich nach ihrem Takt bewegt“; der scholastische Leser hingegen sieht vor sich eine Fläche (ebd., S. 57). Entsprechend wird das Gelesene anders wahrgenommen: Geschriebenes wird von einer „aufgezeichneten Äußerung zum Spiegel der Vorstellung“ (ebd., S. 101, 103). Prägend für die neue, bis heute nachwirkende Lesekultur sind daher vor allem Strukturierungsmaßnahmen der Buchseite, welche die Wahrnehmung stützen und steuern. Das hohe Mittelalter entwickelt wichtige Verfahren, um Seiten visuell zu gliedern. Nachhaltige „Erfindung westlicher Schreibstuben“ ist eine neuartige Gestaltung der Buchseite, die das leise Aufnehmen des Geschrieben erleichterte“ (ebd., S. 100). Petrus Lombardus zielt auf eine Beschleunigung des Lesens durch Erleichterung. Dazu dienen Kapitelüberschriften, die ein langes Herumblättern unnötig machen sollen.  







Das Buch als Raum. Nicht nur die Struktur der Buchfläche ist konstitutiv für die neue Buchkultur, sondern zugleich die des Buchs als Raum. Das Buch wird (nach Illich: seit Hugos Zeit) zum bewusst gestalteten Raum, der bedingt durch seine Gestaltung eine räumliche Orientierung gestattet, wie sie vorher nicht möglich war. Dazu gehören u. a. „[d]as Ordnen von Schlüsselwörtern nach dem Alphabet“47 und das Sachregister (ebd.). Die Erschließung von Inhalten am Leitfaden der alphabetischen Ordnung ist  

„Beschriebene Wirklichkeit wurde in der Rechtsprechung wichtiger als das Wort des Zeugen; Urkunden hatten vor Gericht das letzte Wort.“ (Ebd.) 46 Hugo, der für Illich den Übergang repräsentiert, „schrieb ein Traktat über die Kunst des Lesens für Leute, die dem Klang der Zeilen lauschen würden. Aber er verfaßte sein Buch am Ende einer Epoche; diejenigen, die das ‚Didascalicon‘ während der nachfolgenden vier Jahrhunderte tatsächlich benutzten, lasen nicht mehr mit Zunge und Ohr. Sie waren ausgebildet, auf neue Art zu lesen. Die Formen und die Ordnung der Zeichen auf den Seiten waren für sie weniger Auslöser von Klangmustern als sichtbare Symbole für Ideen.“ (Ebd., S. 101) 47 Mit der Zunahme von Kommentaren zu den tradierten Texten wuchs der Orientierungsbedarf der Leser, die zu bestimmten Themen etwas finden wollten. Seit dem späten 12. Jahrhundert verbreiten sich „Techniken zum ‚Suchen‘ in der Bibel“ (ebd., S. 108). Revolutionär ist hier, so Illich, die Alphabetisierung.  





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für Illich ähnlich epochal wie die Erfindung des Alphabets selbst.48 Im mittleren 12. Jahrhundert kommt es zu mehreren revolutionären neuen Erfindungen: neben dem Register sind dies auch das Bibliotheksinventar sowie Konkordanzen, mit deren Hilfe man sich in Büchern leichter zurechtfinden soll. Maßgeblich dabei ist das Alphabet, das es gestattet, Themengruppen nach Stichworten und Titeln zu bilden und so „eine neue Art der Ordnung zu erkennen und zu erschaffen“ (ebd., S. 110). Schritten frühere Leser das Buch linear ab wie einen „Korridor“ mit festgelegtem Anfang und Ende, so lernen die neuen Leser, unterstützt durch Strukturierungsmittel, das Buch als einen in verschiedene Richtungen begehbaren Raum zu betrachten (ebd., S. 102). Das Lesen kann überall in diesem Raum einsetzen,49 wobei die Lektüre nicht mehr darauf abzielen muss, linear von vorn bis hinten zu verlaufen und so einen vollständigen Weg abzuschreiten.  





Ordnungsaspekte, Ordnungsverfahren. Der Bedarf an Büchern, welche eine (von linearer und integraler Lektüre unabhängig machende) Orientierung ermöglichen, geht einher mit neuen Arbeits- qua Schreibverfahren, welche eben dann möglich und nachvollziehbar sind, wenn entsprechende Orientierungshilfen geboten werden: Es entstehen diverse Formen von ‚Metatexten‘, also Texte, welche sich auslegend und erklärend auf den ihnen zugrundeliegenden Text beziehen. Da aber Interpretationen unterschiedlich ausfallen können und Kommentare im Lauf der Zeit mehr und mehr werden (zumal, wenn es sich um die Rezeptionsgeschichte der Bibel handelt), muss die Fülle an interpretierenden Texten gebändigt werden. Innerhalb des Buchs übernimmt der Metatext hier eine wichtige Orientierungsfunktion. Visuelle Präsentationsformen von Texten auf der „Bildfläche“ der Seite dienen der Organisation von Vielfalt, der Markierung von Hierarchien (zwischen Primär- und Sekundär-Texten) und von Alternativ-Meinungen in Textform.50 Zur Jugendzeit Hugos folgen die Auslegungen dem Text („Ordo glossarum sequitur ordinem narrationis“); die Glosse wird der narratio „einverleibt“ (ebd., S. 104), genutzt werden aber auch Marginalien und Zeilenzwischenräume. Die Texte der Leser entstehen „aus Tangenten zu älteren Texten, die  

48 Die „Anordnung von Namen oder Themen in der Reihenfolge dieser Buchstaben [des Alphabets]“ sei „ein vergleichbarer technischer Durchbruch“ wie die Einführung der Alphabetschrift selbst. So wie eine Art „Wasserscheide“ die präalphabetische Kultur von der alphabetischen trenne (und zwar seit etwa 770 v. Chr. in Griechenland), so gebe es ein „Prä- und Post-Index-Mittelalter“ (vgl. ebd., S. 108f.). 49 Für die ‚monastischen‘ Leser im Kloster „war das Buch […] ein Diskurs, dem man folgen konnte, in den man aber nicht an einer beliebigen Stelle mit einem Blick einsteigen konnte. Erst nach Hugo wird der direkte Zugang zu einer speziellen Stelle zur Norm“ (ebd., S. 102; vgl. Quain 1945). 50 „Vor Hugo wurden alte Bücher allein durch Zusätze erweitert. Zu Lebzeiten Hugos beginnt man damit, Bücher zu redigieren und zu edieren; juristische Entscheidungen werden nun geordnet und gesammelt; alle bekannten Bibelkommentare der Kirchenväter werden Vers für Vers zusammengestellt; Abelard trägt gegensätzliche Meinungen zur gleichen theologischen Frage zusammen. Die Überlieferung wird nach Gutdünken der neuen Herausgeber ausgeschlachtet und kompiliert.“ (Illich 2010, S. 102).  







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Teil A Aspekte des Buchs

dann langsam von den neuen absorbiert wurden“ (ebd., S. 104), wobei die Gedanken der Leser grundsätzlich als würdig erscheinen, als Kommentare zu den Texten fixiert zu werden. Im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts dann bildet sich auf der Manuskriptseite eine neue Ordnung heraus; die Interlinearglosse tritt zurück; es kommt zur Schaffung jeweils eigener Räume für den Haupttext und die Glosse, die nun als untergeordnet verstanden und – durch kleinere Schrift – auch markiert wird. Das Arrangement der Seite soll dem Verstehen dienen; dazu müssen u. a. die für Haupt- und Nebentexte benötigten Räume berechnet werden. In der Mitte des 12. Jahrhunderts bürgert sich ein spezifisches Kalkül der Buchstabengröße ein. Mittels entsprechender Differenzierungen der Letternformate gelingt es, „geistig geordnete und quantifizierte ‚Wissensmuster‘ auf die Seite zu projizieren“ (ebd., S. 105). Nach Erfindung des Buchdrucks übernehmen die Buchdrucker nach Möglichkeit dieses Verfahren und damit seine Vorteile. Petrus Lombardus, den Illich als Beispiel anführt, unterstreicht Schlüsselwörter hellrot, führt Anführungszeichen zur Markierung von Zitaten ein und gibt in Marginalien Hinweise auf die gerade zitierte Quelle. Das Ausmaß des strukturierenden Eingriffs in kommentierte Texte hängt dabei vom Text ab. Tendenziell tritt die Textgestaltung vor allem in den Dienst der Visualisierung eigener Gedankengänge; sichtbare Strukturierungen entsprechen hier mentalen Strukturen. Sie nehmen Einfluss auf deren Entwicklung und Profilierung, also auf Denken (und Wissen) selbst – und auf die Vorstellung vom Subjekt dieses Denkens. Die Geschichte der Buchgestaltung zeigt insgesamt exemplarisch, wie sich Materialität und Denken verschränken, wo es um die Produktion, Vermittlung und Rezeption von Wissen, im Zusammenhang damit aber auch um epistemisch prägende Ordnungsvorstellungen geht.  















Das neue Seitenbild, die Kapiteleinteilung, Distinktionen, das konsequente Durchnummerieren von Kapitel und Vers, die neue Inhaltsangabe für das ganze Buch, die Übersichten zu Beginn eines Kapitels, die dessen Untertitel benennen, die Einführungen, in denen der Autor erklärt, wie er seine Darlegung aufbauen wird, sie sind alle Ausdruck eines neuen Ordnungswillens. (Ebd., S. 110)  

Fläche und Raum als ästhetisch nutzbare Gestaltungsparameter des Buchs. Ausgehend von Befunden zu Buchgestalt, Schreib-, Lese- und Wissenskultur seit Anbruch des eigentlichen Buchzeitalters im 12. Jahrhundert lassen sich die wesentlichen Gestaltungsparameter des Buchs bestimmen, welche dieses bis heute prägen. Da ist erstens die Nutzung der Seite als Fläche, welche spezifische gestalterische Möglichkeiten bietet, die auf sinnstiftende Weise zum Einsatz kommen. Auf Flächen bzw. auf Ensembles aus Flächen werden Inhalte disponibel gemacht; durch ihr flächiges Arrangement unterliegen sie einer Vor-Interpretation, welche ihre Rezeption steuert. Entscheidend ist zunächst, was das Buch zu sehen gibt und wie: Die Buch(doppel)seite präsentiert sich dem Blick des Nutzers als eine sichtbare Fläche, die Inhalte in geordneter und gegliederter Form darbietet. In dieser Eigenschaft ist sie ein Bild, das durch seinen Rahmen (die Ränder der Seite bzw. des Buchs) konstituiert wird und zunächst einmal an den Sehsinn appelliert, wobei sich Sehen, Auffassen und Inter 

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pretieren aber aufs engste verschränken. Zu den Gestaltungsoptionen dieses Bildes, das die Fläche der Buchseite bietet, gehören erstens textbezogene Strukturierungsmaßnahmen: Untergliederungen nach Absätzen, Unterscheidungen zwischen Überschriften und Textblöcken, zwischen Haupt- und Nebentexten, Marginalien, Fußnoten etc. Auch die Gestaltungsoptionen der Buchstaben, aus denen der Text besteht, konstituieren seine Textbildlichkeit mit: Größen, Formen und Farben der Buchstaben, Schriftarten und (im Druckzeitalter) Drucktypen – sowie neben den Buchstaben des Alphabets auch die vielfältig einsetzbaren sonstigen geschriebenen oder gedruckten Zeichen (Interpunktionszeichen, Sonderzeichen, auch Spatien etc.). Zweitens werden die Seitenflächen von Büchern auch durch die Einbeziehung von Elementen gestaltet, die keine (Buchstaben-)Texte sind, so von Bildern, Grafiken, Diagrammen, Tafeln etc., aber auch von leeren oder ornamental gestalteten Flächen. Eine zweite Gestaltungsebene bietet das Buch als Raum. Es bietet sich dazu an, Inhalte spatial zu organisieren. Wichtige Hilfsmittel der Orientierung in einem als Raum genutzten Buch sind insbesondere diejenigen Textgestaltungspraktiken, die sich im Mittelalter, in der Ära des ‚scholastischen‘ Lesens als Buch-Strukturierungshilfen etablieren: Überschriften und die durch diese ermöglichten separaten Inhaltsverzeichnisse, die Anordnung von Inhalten nach dem Alphabet, Register etc. Als Räume haben Bücher eine Architektur, für welche mehrerlei maßgeblich ist: erstens die Differenzierung unterschiedlich hierarchisierter Textanteile (Haupttext, Anmerkungs- bzw. Fußnotenteil, Paratext, Nebentexte etc.) sowie zweitens der Aufbau der Text-Teile. Diese kann entweder einer bestimmten Argumentationsstruktur folgen (welche dann in der Regel durch das Inhaltsverzeichnis abgebildet oder verdeutlicht wird); oder sie kann die Inhalte blockweise und in beliebig konsultierbarer Reihenfolge darbieten (etwa in Form einer alphabetisierter Artikelfolge), wodurch der Leser nicht auf den Faden einer Argumentation angewiesen ist, sondern sich selbst zusammenstellen kann, was er lesen will. Zwischen Flächen- und Raumgestaltung kann nicht trennscharf differenziert werden. Beide greifen ineinander; beide beruhen teils auf dem Einsatz analoger Mittel. Nicht klar abgrenzbar, aber von heuristischen Zwecken von Flächen- und Raumgestaltung unterscheidbar ist eine dritte Ebene: die der Relationen zwischen Text und Bildlichkeit.  

Textbildlichkeit. Mit Blick auf die Relationen zwischen dem Text und der Bildlichkeit der Buchseiten sind auf der Ebene der Textbildlichkeit verschiedene Bereiche gestaltungsrelevant: Erstens das stark variationsfähige Gebiet der Kombination von Textanteilen und Bildelementen, zu welchem Zweck und in welchem Umfang auch immer Bildelemente neben dem Text auf den Seiten platziert werden, sowie zweitens der Phänomenbereich, den man summarisch als „Textbildlichkeit“ bezeichnen kann. Denn wie gerade die Geschichte der Buchgestaltung zeigt, sind auch auch Texte ‚Bilder‘, und Bilder lassen sich umgekehrt als ‚Texte‘ decodieren und lesen. In vielen Gestaltungseinheiten durchdringen sich auch Bildliches (im engeren Sinn) und Textliches (im engeren Sinn). Texte selbst werden immer auch gesehen und als visuelle

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Erscheinungen rezipiert. Die visuelle Dimension von Schriftzeichen bietet mit Blick auf die Einzelzeichen wie auch auf deren Arrangements zu Texten eine Fülle von Gestaltungsoptionen (vgl. dazu Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012). Mittelalterliche Buchkultur und ihr Echo im Künstlerbuch. Die Gestaltung von Buchseiten als Flächen, von Büchern als Räumen sowie von Texten als sichtbaren und ggf. mit Bildern verbundenen Phänomenen, bestimmt in der Ära des Buchs (deren Anfang Illich ins 12. Jahrhundert datiert), die Buchkultur und damit die Kultur insgesamt. Künstlerische Arbeiten und literarische Texte, die im Zeichen der Reflexion über das Buch und seine bookness stehen, setzen folgerichtig gerade bei diesen drei Gestaltungsdimensionen an, wenden ihnen Aufmerksamkeit zu und lösen Reflexionen über ihre Funktionen aus. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen, etwa durch eine ostentative, durch spezifische Mittel besonders akzentuierte Flächen- oder Raumgestaltung respektive durch eine markante Nutzung von textbildlichen Gestaltungsformen. Oder durch eine zitathafte Nutzung geläufiger Flächengestaltungs-, Raumgestaltungs- und Visualisierungsstrategien, die dazu angetan ist, auf die Gestaltung als solche ein besonderes Augenmerk zu lenken. Ein Beispiel solch zitathafter, dabei buchreflexiv grundierter Nutzung eines historischen Musters der Buchflächen-Gestaltung bietet Peter Malutzkis Stundenbuch (2010). Ein historisches Stundenbuch (das Herzog Augusts des Jüngeren, aufbewahrt in der HAB) wurde hier in modifizierter Form zum Gerüst des Künstlerbuchs; die Seitenflächengestaltung lehnte sich in Struktur und Farbigkeit an die des Musters (und anderer Stundenbücher) an (vgl. Malutzki 2017, S. 112–115). MSE  



A 2.5 Buchgestaltungsoptionen A: Textflächen und Bildflächen Bebilderungsverfahren wirken sich auf Buchflächen und Buchräume prägend aus und haben an der Strukturierung von Büchern maßgeblichen Anteil. (Entsprechend zeigt Illich 2010, anlässlich mittelalterlicher Beispiele, wie Illuminationen die Textund die Buchstruktur mitkonstituieren.) Bilder, die durch ihre Platzierung im Buch in eine flächig-räumliche Beziehung zu den dort ebenfalls enthaltenen Texten treten, können hinsichtlich ihrer Funktion und Bedeutung in unterschiedlichen Relationen zu diesen Texten stehen, wobei deren Erfassung bereits ein Akt der Interpretation ist. Sie können bestätigen und bekräftigen, was der Text aussagt; sie können ihn ergänzen, können ausschmückend wirken. Sie können aber auch in Spannungsbeziehungen zum Text stehen, sei es, weil ihre Funktion bezogen auf diesen unklar ist, sei es, weil sie (sei es absichtsvoll, sei es unabsichtlich) nicht ‚passen‘. Solche Spannungsbeziehungen werden in der literarischen Moderne anlässlich von Text-Bild-Arrangements in Büchern erkundet; gebräuchlicher sind Text-Bild-Bezüge, die auf wechselseitige Stützung abzielen. Angesichts der Problematik einer prinzipiellen und

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eindeutigen Unterscheidung zwischen Textuellem und Bildhaftem kann von ‚Text‘ und ‚Bild‘ nur im Sinn einer (heuristisch praktikablen) Unterscheidung die Rede sein,51 welche allerdings einer konventionellen und verbreiteten Wahrnehmungsweise entspricht: Die Umspielung und Subvertierung der Grenze zwischen dem Textlichen und dem Bildlichen ist ein Großprojekt insbesondere der Avantgarden des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu Faust 1977). Wichtige Impulse beziehen hieraus unter anderem die visuelle Konkrete Dichtung und andere Formen der Visualpoesie, die ihrerseits die Geschichte des Künstlerbuchs mitprägen. Texte und Bilder stehen nicht immer klar abgegrenzt nebeneinander. Die (unter anderem bei Illich, Butor und Drucker prägende) Betrachtung von Bebilderungen unter dem Aspekt ihres Beitrags zur Strukturierung des Buchs, zur Gestaltung von Buchseiten und Buchräumen, eröffnet mehrere Perspektiven auf das Buch (und auf Phänomene selbstreflexiver Buchkunst): Text-Bild-Relationen (Kombinationen, Hybridisierungen etc.) dienen der Flächengestaltung und der Blockbildung im Kodex (es kann eigene Bild-Teile geben); durch den Wechsel von Textflächen und Bildflächen wird der Buchkörper segmentiert; unter Umständen kann dies zu einer regelrechten Rhythmisierung des Buchs führen. BildSequenzen bilden eigene Ordnungsmuster, welche sich den Ordnungen des Textanteils überlagern und eigene semantische Netze begründen. Vielfältige (Buch-)Gestaltungsoptionen eröffnen sich vor allem über Rahmungsbezüge zwischen Text- und Bildteilen: So kann Bildliches, etwa in Form von Ornamenten, Textflächen rahmen und dadurch zur Konstitution eines Text-‚Raumes‘ beitragen. Aber Texte fungieren auch als Rahmen für Bilder und konstituieren insofern Bildräume mit, etwa, wenn sie als benennende und interpretierende Bildlegenden festlegen, welche Bedeutung das Bild gleichsam zusammenhält.  

Bildflächen im Buch (a): Reminiszenzen an mittelalterliche Buchmalerei. Mittelalterliche Buchilluminationen haben komplexe Funktionen (vgl. Illich 2010, S. 114– 116). Als Verzierungen unterstreichen sie die Bedeutung des dargestellten Gegenstandes; als Begleiter religiöser oder theologischer Texte partizipieren sie an deren Offenbarungscharakter. Sie informieren und belehren, gemeinsam mit dem Text, helfen beim Textverstehen, eröffnen Interpretationsperspektiven und stützen die Erinnerung des Lesers ans Gelesene. Mit diesen inhaltsbezogenen Funktionen verbinden sich strukturell-gestalterische, die für den Leseprozess und damit für das (Selbst-)Verständnis des Buchs prägend sind: Illuminierte Manuskripte beanspruchen für sich eine mediale Autonomie, die den geschriebenen und sichtbaren Text als mehr denn nur ein Derivat und einen Ersatz oder Platzhalter des gesprochenen Wortes erscheinen lässt. Im Zeichen einer insgesamt buchreflexiven Einstellung haben Beispiele der neueren Literatur an die mittelalterliche Buchmalerei erinnert, teils von ihr erzählt,  

51 Vgl. Rajewsky 2002. Rajewsky spricht wiederholt von differenten „Medien“ im Sinn konventionell als different wahrgenommener Medien.

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teils ihre Formen nachgeahmt – und damit unter Akzentuierung von Text-Bild-Relationen an die Frühzeit der Buch-Lese-Kultur angeknüpft. Die Buchausgabe von Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte (1979) weist zu Beginn jedes Kapitels Bildinitialen auf, wie sie im Mittelalter als Schmuck und zur Strukturierung von Kodizes eingesetzt wurden. Über die schmückende Funktion hinaus haben diese ‚Buchstabenbilder‘ eine Orientierungsfunktion und spielen zugleich buch-reflexiv auf Strukturierungs- und Orientierungspraktiken an: Die Sequenz der gemalten Initialen entspricht dem kompletten Alphabet und verweist insofern darauf, dass die Romanwelt aus dem Alphabet entstanden ist. Die buchgestalterische Entscheidung für die Initialen lässt diese als mise en abyme einer Buchwelt erscheinen, wie sie im Roman als Kehrseite der Alltagswelt geschildert (und reflektiert) wird. In Umberto Ecos Roman Il nome della rosa (1980) werden Praktiken und Spielformen der Buchillumination dargestellt und zwischen diversen Romanfiguren erörtert. Die Art und Weise, wie der Mönch Adelmo Manuskripte mit originellen, monströsen und subversiven RandFiguren verziert, bespiegelt die zentrale Thematik des Romans, den Konflikt zwischen Autorität und Subversion, die karnevalistisch-spielerische Dimension der Kunst und ihr Potenzial, scheinbar verbindliche Ordnungen und Hierarchien in Frage zu stellen.  

Bildflächen im Buch (b): Illustrationen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt das illustrierte Buch einen bemerkenswerten Aufschwung. Dazu tragen u. a. drucktechnische Entwicklungen bei, welche die Produktion illustrierter Bücher erleichtern und die Qualität der Bilder vergrößern. Unter anderem entstehen bebilderte Ausgaben dichterischer Werke, die zunächst ohne Bebilderung publiziert worden waren; ganze Klassiker-Werkausgaben werden auf eine Weise bebildert, die ihre auch äußerliche Kohärenz bekräftigt und eine Hommage an das jeweilige Œuvre darstellt.52 Um 1840 bürgert sich der Ausdruck ‚Illustration‘ in Deutschland ein; Illustrationen gewinnen zunehmend an Beliebtheit. Dies gilt sowohl für belletristische Texte, für Werke der Literatur, als auch für Sachtexte (und natürlich für Kunstbände). In diesem buchgeschichtlichen Kontext, der symptomatisch für umfassende bildungs- und lesekulturelle Tendenzen des mittleren 19. Jahrhunderts ist, entstehen die Klassikerillustrationen von Gustave Doré, der über 200 Buchausgaben grafisch gestaltete und damit unter anderem einen Bestand illustrierter weltliterarischer Klassiker in Buchform schuf. Seine Illustrationen zu Dantes Divina Commedia, Rabelais’ Geschichten über Gargantua und Pantagruel sowie Cervantes’ Don Quijote gehören zu den berühmtesten Beispielen.  





Walter Moers und Gustave Doré. Walter Moers knüpft als zeitgenössischer Vertreter der Buch-Literatur an die Buchillustrationskunst Dorés an, indem er sie zitierend als 52 Bebilderte Ausgaben passen zu einem Bürgertum, das Bücher verstärkt liest, aber auch sammelt und im heimischen Umfeld für sich und für Besucher als Sammelstücke ausstellt, weil solche Bücher, zumal Klassikerausgaben, auch Indikatoren für Bildungsgrad und sozialen Status sind. Illustrierte Prachtausgaben sind Dichter-‚Denkmäler‘, für den privaten Salon.

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Bild-Bausteine für eine eigene Geschichte verwendet. In seinem Roman Wilde Reise durch die Nacht (2001) erzählt er die Geschichte des zwölfjährigen Jungen Gustave, der ein künftiger großer Zeichner und als ein literarisches Alter Ego Dorés konzipiert ist. Gustave erlebt auf weiten Reisen viele Abenteuer und Kämpfe an phantastischen Orten, trifft sagenhafte, teils monströse, teils verführerische Wesen, durchquert das ganze Universum und gelangt bis zum Mond, angetrieben unter anderem von einer Wette mit dem Tod, bei der es um seine Seele geht. Erkennbar bewegt sich Moers’ Protagonist in den Spuren bekannter literarischer Figuren, darunter denen Don Quijotes, des rasenden Rolands und des Ancient Mariner von Coleridge. Integriert in die Romanerzählung finden sich zahlreiche Literaturillustrationen von Gustave Doré. Diese entstammen verschiedenen Illustrationszyklen, und zwar zu Werken, aus denen auch die Handlungs-Versatzstücke stammen: Moers’ Buch zitiert Dorés Bilder zu Coleridges The Rime of the Ancient Mariner, zu Ariosts Orlando Furioso, zu Poes The Raven, zu Cervantes Don Quijote, zu Ernest l’Épines Legend of Croquemitaine, zu Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, zu Miltons Paradise Lost sowie zur Bibel. Der Untertitel von Moers’ Roman, Nach einundzwanzig Bildern von Gustave Doré, verdeutlicht, dass hier nicht von einer nachträglichen Bebilderung der geschriebenen Geschichte auszugehen ist, sondern dass diese Geschichte ‚nach‘ Bildern entstand, von ihnen stimuliert wurde, an ihnen entlang erzählt. Das titelgebende Vorstellungsbild einer Wilden Reise durch die Nacht erscheint (wie der Text auch bestätigt) als Metapher einer ‚Reise‘ der Imagination in unvertraute Welten der Phantasie. Die Erlebnisse des Jungen Gustave mit märchen- und fabelhaften Wesen, mit Drachen, Gespenstern, Prinzessinnen sowie mit sich selbst haben Traumcharakter; die literarische Erzählung bespiegelt sich (einem vertrauten, vor allem in der Romantik ausgestalteten Topos zufolge) in der nächtlichen Traum-Reise, die ‚wild‘ verläuft, weil sie die Grenzen hinter sich lässt, die der Vernunft und der Alltagserfahrung gezogen sind. Dorés Bilder passen zum Bildfeld um Nacht und Traum: Typisch für Doré sieht man vor allem Szenen in Dämmerung und Dunkel, geheimnisvolle Landschaften, durchzogen von eher kleinen Figuren, sowie manch fabelhaftes Wesen. Wenn Moers, dem Untertitel seines Romans zufolge, die Geschichte seines Helden ‚nach‘ einer Serie von Doréschen Bildern verlaufen lässt (was der abenteuerliche und abwechslungsreiche Episodenverlauf mit seiner Figuren- und Schauplatzwechseln auch bestätigt, denn so, wie die Doréschen Bildvorlagen aus verschiedenen Werken stammen, so auch die Versatzstücke der Romanhandlung), dann stehen die Bildszenen Dorés metonymisch für die durchreiste Traumwelt. Die Doréschen Illustrationen selbst also eröffnen Blicke in eine ‚Welt‘ der Nacht und des Traums, die identisch mit der ‚Welt‘ der Literatur ist – und die sich in den von Doré illustrierten Buchausgaben durch das Fenster der Illustrationen erblicken lässt. Die reproduzierten 21 Doré-Xylografien nehmen jeweils eine ganze Buchseite ein. Die daneben beschriebene jeweilige Romanepisode ist darauf inhaltlich zwar abgestimmt, aber der Leser des Buchs weiß doch, dass die Bilder ursprünglich etwas anderes zeigten; der Paratext in Moers’ Buch listet die verwendeten Titel unter Ausweis der Seitenzahl (und bietet zudem andere Informationen über  

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Doré). Damit gewinnen (oder behalten) die Bilder gegenüber dem sie rahmenden Text eine gewisse Autonomie. In jedem Fall erscheinen sie (und nicht die Texte, die sie zunächst illustrierten) als die entscheidenden Reisevehikel in und durch die Nacht. Insofern ist Moers’ Buch eine Hommage an die Kunst der Buchillustration, die im 19. Jahrhundert, zumal bei Doré, eine Blütezeit erlebte und bewirkte, dass sich im Ausgang von literarischen Texten in ganz konkretem Sinn Durchblicke ins Unbekannte eröffneten.  

Ror Wolfs Materialien. Eine andere Art von Anknüpfung an die Buch-Illustrationsverfahren des 19. Jahrhunderts nimmt Ror Wolf mit seinen Ratgeberbüchern vor. Inhaltlich und stilistisch am Format des Ratgeberbuchs und des Lexikons orientiert, wenngleich auf parodistische Weise, verwendet Wolf neben Bildmaterialien aus illustrierten sachkundlichen Texten auch Illustrationen belletristischer Werke. Aber anders als Moers zerschneidet er sein Bildmaterial und stellt daraus Collagen her. Auch diese zeigen traumhafte Welten mit rätselhaften Szenerien, Wesen und Objekten. Aber der Effekt des Durchblicks wird konterkariert durch die Collagestruktur, die die Bilder als Arrangements aus Papier-Oberflächen ausweist. Gerade in dieser Eigenschaft passen die Collagen Wolfs zu der gleichfalls ‚collagiert‘ wirkenden Textwelt der Ratgeberbücher. Als implizite Auseinandersetzung mit einem spezifischen Buchtypus (und insofern auch mit einer spezifischen Facette von bookness) nimmt Wolf alias Tranchirer eine andere Art von Literatur in den Blick als Moers – und eine andere Sorte von Text-Illustration: Parodiert, ausgeweidet und kreativ genutzt wird die Buchkultur des 19. Jahrhunderts, insofern sie eine bürgerliche Wissenskultur ist. Auch deren Bildprogramme führen in fremde Welten, aber beim Leseweg durch diese Welten dominiert nicht der Eindruck einer traumhaften Kohärenz, sondern vielmehr der der Fragmentierung und des Zerschnittenseins.  





Bildflächen im Buch (c): Doppelseiten-Effekte. Doppelseiten lassen sich buchgestalterisch effizient nutzen. Implizit macht dabei stets die Kodexstruktur selbst auf sich aufmerksam, weil die Mittellinie die Zone markiert, die den Zusammenhalt des Kodex und seinen Aufbau bedingt. An den Mittellinien von Doppelseiten lassen sich Spiegeleffekte erzeugen. Stehen einander an den beiden Seiten dieser Mittellinie Text und Bild gegenüber, so drückt sich in diesem Arrangement implizit die Idee aus, dass hier eines das andere spiegelt, bekräftigt, ergänzt. Mittellinien im Buchfalz können aber auch als Trennlinien zwischen Text- und Bildseiten akzentuiert werden. Wenn diese einander ohne (zunächst) erkennbare Vermittlung gegenüberstehen, dann wird damit das Prinzip der Illustration als solches in Frage gestellt. Gerade an der Mittellinie als Grenzlinie lässt sich programmatisch inszenieren, was eine Gefährdung für ein wichtiges buchkulturelles Organisationsprinzip darstellt: die Paarbildung von Bild und Text. In zumindest rätselhaft-vieldeutigen Relationen zueinander stehen Textabschnitte und Bildseiten in Wolfgang Helds Buch 79 – ein Brief des jüngeren Plinius (Frankfurt a. M. 1979). Der Text spielt an auf den Vesuvausbruch in Neapel im Jahr 79, bei dem Pompeji  



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unterging, und auf den Tod des Naturforschers Plinius Secundus. Aus historischen Reminiszenzen montiert, hat dieser Text die Form eines Briefs, den der jüngere Plinius verfasst, um einem Freund zu berichten, wie sein Onkel zu Tode kam (analog zum historischen Bericht des jüngeren Plinius über das Ende seines gelehrten Onkels). Berichtet wird von einer seltsamen Hausgemeinschaft des Onkels in Neapel, der Obdachlose bei sich aufnimmt, von der strengen Überwachung der Stadt Neapel, aus der man kaum entkommen kann, vom mühseligen und alptraumhaften Weg nach Misenum; der Briefschreiber kommt beim Vulkanausbruch ebenso zu Tode wie sein Onkel. Den Textabschnitten, die nicht immer ganze Buchseiten füllen und wie Fragmente wirken, die sich nicht zu einer kontinuierlichen Geschichte, sondern eher zu einer Art Textcollage fügen, stehen Collagebilder Helds gegenüber, die das Erzählte nicht im eigentlichen Sinn illustrieren. Zusammengestellt wurden Bildmotive aus der römisch-pompejanischen Antike und zeitgenössische Motive; die Fremdheit zwischen Bild und Text auf beiden Seiten der Buchmitte wiederholt sich in der Fremdheit der Bildelemente untereinander. Gelegentliche Bildsequenzen ohne nebenstehenden Text vertiefen den Eindruck einer Alptraumszenerie noch. Die Nutzung eines in seiner Fragmentierung rätselhaften Bildarsenals wirkt wie die Bergung isolierter Fundstücke aus einer verschütteten Welt; die auf Schwarzweißfotos basierenden Bildensembles werden, passend dazu, auf aschegrauen Untergründen montiert; vereinzelte rot eingefärbte Bildflächen setzen dramatische Akzente. Held nutzt das Buch, um ein museales und verfremdetes historisches Theater zu inszenieren: Blicke in eine Totenwelt erstarrter Exponate, ein historisches Museum, an dessen Schau-Plätzen nichts mehr lebt. Bildflächen im Buch (d): Anteile der Bilder an der Narration. Dass Bilder narrative Potenziale besitzen, ist weitgehender Konsens, sei es, dass sie selbst als Träger der Erzählung, sei es auch, dass sie als Begleiter und Illustrationen einer verbalen Erzählung in den Blick rücken. Als ein typisches buchgestalterisches Verfahren der Kombination von Bild und Text erscheint es, Bilder in den Dienst verbaler Narration zu nehmen, respektive Text- und Bildanteile gemeinsam eine Geschichte erzählen zu lassen. In modifizierender Verfremdung präsentiert sich dieses Verfahren dann, wenn das, was der Text zu einer ihn begleitenden Bilderserie erzählt, dabei erkennbar seinen Eigensinn entfaltet und die Bilder als scheinbare Substrate der Interpretation gleichsam gegen den Strich interpretiert. Diese Grundidee liegt Jean Pauls literarisch-narrativen Kommentaren zu den Holzschnitten eines populären Katechismus zugrunde: Die (für den Autor und seine Leser) an sich transparente Bedeutung der Bildszenen wird ignoriert, eine andere Bedeutung auf sie projiziert, der zufolge es sich um die Stationen einer Künstlerbiografie handelt (in: Jean Paul: Das Kampaner Tal, 1797). Alain Robbe-Grillets bebildertes Buch La belle Captive (1975; dt.: Die schöne Gefangene. Ein Roman in 77 Bildern von René Magritte) erzählt eine Geschichte zu Bildern von René Magritte. Der metafiktionale Text Robbe-Grillets nennt zwar Motive, wie sie auch auf den ihn begleitenden Bildern vorkommen, doch er hat nicht den Charakter einer Beschreibung und übergeht auch auffällige Details. Die Rätselhaftigkeit und Fremdheit

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der Bilder, die wie verschlüsselte Botschaften ohne rekonstruierbaren Code wirken, bleibt auch in der Nachbarschaft des Textes bestehen, wird sogar noch betont. Motivlich und thematisch bestehen dabei dichte Verweisungsbeziehungen, Symmetrien und Korrespondenzen, aber während Bilder neben Erzählungen normalerweise kohärenzstiftend und erklärend wirken (oder doch wirken sollen), fällt die ohnehin bereits mysteriös-inkohärente Geschichte Robbe-Grillets bedingt durch die Bilder noch mehr auseinander. Dies liegt schon daran, dass die vom Text suggerierten Kontinuitäten von Personen und Schauplätzen von den Bildern konterkariert werden. Verbindend zwischen Text- und Bildbereich wirken noch am ehesten Anspielungen auf einen Kriminalfall, die Suggestion von Spuren und Indizien, von Tätern und Opfern. (Aber dieser Zusammenhang ist ostentativ konstruiert; sind Magrittes Bilder doch als eigenständige Werke bekannt.) Insgesamt erscheint das Buch mit seinen Texten und Bildern als ein Raum, der einem unlösbaren Kriminalfalls an Intransparenz nicht nachsteht. MSE

A 2.6 Buchgestaltungsoptionen B: Die Auflösung des Kodex Bücher sind, einer geläufigen, wenn auch mehrdeutigen Metapher zufolge, Maschinen, die zur Benutzung anregen, die im Vorstellungsvermögen des Benutzers oft auch in seiner konkreten Lebenswelt manches auslösen, katalysieren, in Bewegung setzen; was dabei geschieht, kann einer planvollen Benutzung der Maschine Buch entsprechen, es kann aber auch neu, unvorhergesehen und insgesamt inkalkulabel sein. Auf die Spannung zwischen dem Buch als kontrolliert und zweckgerichtet handhabbarem Instrument hier, als Medium der Entdeckung von Überraschendem und als etwas selbst Überraschendes dort weisen direkt oder indirekt viele Künstlerbücher und Buchobjekte hin. Für den Umgang mit Büchern ist dieses Spannungsverhältnis insgesamt konstitutiv. Die vor allem in rezeptionsästhetischen Kontexten prägende Vorstellung vom Leser als bedeutungskonstitutiver Instanz konkretisiert sich in Vorstellungen ‚mobiler‘ Werke, deren Gestalt im jeweils individuellen Rezeptionsvorgang immer neu geschaffen wird. In Anknüpfung an Formen kombinatorischer Poesie, bei welchen aus einem Fundus an Textteilen – Textabschnitten, Sätzen, Wörtern, Silben, Einzelbuchstaben – kombinatorisch Texte generiert werden, erscheint das ‚mobile‘ Buch als Textkonstitutionsapparat, der den Leser zum Autor oder doch zum Ko-Autor werden lässt. Dies bewirkt, dass er, beispielsweise indem er lose Textteile eigenständig aneinanderreiht oder sich kreuz und quer durch separate und mobile Text- und Bildträger bewegt, das Werk überhaupt erst hervorbringt. In literarischen Texten, die sich als ‚mobile Texte‘ präsentieren, erscheint die damit assoziierte ‚Autorisierung‘ des Autors allerdings ironisch gebrochen (vgl. „Mode d’emploi“ in Queneau: Cent mille milliards de poèmes [1961], Paris 1985, unpag).  



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Raymond Queneaus Cent mille milliards de poèmes. Raymond Queneaus Sonettmaschine (1961) kommt unter den buchkünstlerisch-literarischen Arbeiten der frühen 1960er Jahre dem Konzept des offenen Kunstwerks zweifellos denkbar nahe. Das buchähnliche Objekt enthält 10 Sonette Queneaus, verteilt auf 10 Seiten. Die Blätter, auf welche die Gedichte gedruckt sind, wurden so eingeschnitten, dass die Einzelzeilen der Sonette jeweils auf Papierlaschen stehen, die alle einzeln umgeblättert werden können. So lässt sich jede der zehn Anfangszeilen mit jeder der zehn ‚zweiten‘, diese beiden dann mit jeder der zehn ‚dritten‘ verknüpfen und so fort. Der Kodex ist zum kombinatorischen Apparat geworden. Die Zahl der überhaupt erzeugbaren Sonette ist, bedingt durch die Kombinationsregel endlich und berechenbar, wenn auch so hoch, dass sie sich letztlich jeder Vorstellung entzieht. In einem Hinweis für die Leser heißt es: Dieses kleine Werk […], das jedermann erlaubt, nach Belieben hunderttausend Milliarden Sonette zu bilden […], ist alles in allem so etwas wie eine Maschine zur Herstellung von Gedichten. […] Mit jedem Vers (zehn an der Zahl) kann man zehn verschiedene Verse in Übereinstimmung bringen; es gibt also hundert verschiedene Kombinationen der beiden Verse; wenn man einen dritten hinzufügt, wird es tausend geben, und für die zehn vollständigen Sonette aus vierzehn Versen hat man also das oben genannte Ergebnis. […] Wie Lautréamont so schön gesagt hat, die Poesie soll von allen gemacht werden, nicht von einem. (Queneau 1984, unpag.)

Was der Leser mit dem durch eingeschnittene Seiten modifizierten Kodex machen darf, wird noch präzisiert. Wenn man 45 Sekunden zum Lesen eines Sonettes und 15 Sekunden zum Umblättern der Lamellen rechnet, 8 Stunden pro Tag, 200 Tage pro Jahr, hat man für mehr als eine Million Jahrtausende zu lesen, und wenn man 359 Tage im Jahr den ganzen Tag über liest, für 190 258 751 Jahre, ohne die Gequetschten, die Schaltjahre und andere Kleinigkeiten in Betracht zu ziehen. (Ebd.)

Die Sonettmaschine, so scheint es, eröffnet dem Leser einen immensen Gestaltungsraum. Aber man stelle sich das mal vor, und schon erweist sich die Gebrauchsanweisung als nicht umsetzbar – denn niemand kann die Freiheit zur Herstellung von 1014 Sonetten wirklich wahrnehmen. Und wer hätte auch Lust dazu? Die Gebrauchsanweisung scheint uns zu Dichtern zu machen – und erinnert uns doch vor allem an unsere Zeitlichkeit.  



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Abb. A 2: Raymond Queneau: 100.000 Milliarden Gedichte. Frankfurt a. M. 1984 (orig.: Cent mille milliards des poèmes. Paris 1961).  



Marc Saporta: Composition No. 1 (1962). Queneau hatte den Kodex stark verfremdet; Saportas wenig später entstandene Composition ist dann gar kein Kodex mehr: In einer wie ein Buch gestalteten Schachtel liegen 150 unpaginierte mit Textbausteinen bedeckte Karten und eine Gebrauchsanweisung, welche festlegt, dass der Leser selbst die Karten in eine Reihenfolge bringen muss. Allerdings wird auch ihm keine Autorität zugestanden, da – neben einer von der materiellen Gestalt des Textes bestimmten Spielregel – der Zufall Regie führt. Die Textbausteine sind unendlich untereinander kombinierbar, wie die Spielanleitung (in ihrer Eigenschaft als Paratext) festlegt.  



Der Leser wird gebeten, diese Seiten wie ein Kartenspiel zu mischen. Abheben darf er, falls er es wünscht, mit der linken Hand, wie bei einer Kartenschlägerin. Die Reihenfolge, in der die Blätter liegen, entscheidet über das Los des Mannes X. […] Von der Verkettung der Umstände hängt es ab, ob das Geschehen gut oder schlecht endet. Ein Leben setzt sich aus vielerlei Teilen zusammen. Aber die Zahl der möglichen Zusammensetzungen – compositions – ist unendlich. (Marc Saporta, zitiert nach Idensen 1996, S. 176)  





Auf den Einzelkarten finden sich Kurzprosa-Texte von fragmentarisch wirkender Gestalt, welche offene Anschlussstellen für Fortsetzungen bieten. Dialoge, erzählerische Elemente sowie Reflexionen sind im Präsens gehalten, um die Zusammensetzbarkeit der Textelemente zu sichern. Wiederum stellt sich die Frage, wie wir mit solch einer Einladung umgehen wollen. Dass der Ausgang einer angefangenen Geschichte kontingent ist, nimmt der konkret zustande kommenden Geschichte einen Gutteil ihrer Signifikanz. Bedeutsam hingegen ist die Kontingenz als solche. Wer eine Geschichte baut, weiß um deren Beliebigkeit und fragt sich, welchen bestimmenden Faktoren

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seine Entscheidungen unterlagen. In der Neuauflage weist der Verfasser der Einführung, Tom Uglow, auf eine weitere Abhängigkeit des Lesers, eine weitere Kontingenz hin: Was wir zu lesen bekommen, ist bestimmt durch die Anordnung, die der vorige Buchbenutzer hinterlassen hat. Konrad Balder Schäuffelen: deus ex skatola (1964). Konrad Balder Schäuffelen hat mehrere seltsame Objekte geschaffen, die nur noch entfernt an Bücher erinnern. Auf den ‚deus ex machina‘ als die nicht-motivierte, schicksalhafte Instanz, die Dramen unerwartete, aber auch unkontrollierte Wendungen gibt, erinnert durch seinen Titel das Objekt deus ex skatola – entwicklungsroman (1964, 2. durchgesehene und vermehrte Auflage 1975). Dem Leser präsentiert wird (in der zweiten Auflage) eine Sammlung von 365 Losröllchen in einer Schachtel (vgl. Adler/Ernst 1988, S. 295). Auf die Zettelchen sind Textabschnitte gedruckt; mittels einer Pinzette kann man sie herausholen und beliebig kombinieren. Ironisch wie der Obertitel ist auch der Untertitel. Verweist er doch nicht allein auf die Notwendigkeit, die kleinen Textträger zu entrollen – wodurch das Objekt sich unter anderem in die Nachfolge von Buchrollen-Sammlungen stellt –, sondern auch auf ein Romangenre, das normalerweise mit der Idee einer folgerichtigen Handlung, einer teleologischen ‚Entwicklung‘ assoziiert ist: auf den Entwicklungsroman als Genre der bürgerlichen Kultur. Mit der Einladung zu einem Aus-Lese-Verfahren wird zum einen an die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚lesen‘ erinnert, zum anderen aber an die Kontingenz alles Er-lesenen. Der Leser, einerseits Autor, ja Gott, ist andererseits ein bloßes Ausführungsorgan in einer Spielanordnung. Die Pinzette hat, neben dem Titel des Schachtelobjekts, paratextuellen Status, ja den Charakter einer Spielanleitung, wobei diese doppeldeutig ist, weil sie die Suggestion, der Leser möge sich hier zum Produzenten seines je besonderen Textes ‚entwickeln‘, ebenso wie eine andere Deutung nahelegt: Ein Roman entsteht (vielleicht), wenn man die Lose auseinanderwickelt.53  









Bryan Stanley Johnson: The Unfortunates (1969). Die Idee des Romans aus physisch losen oder doch in beliebiger Reihenfolge zu lesenden Teilen findet sich seit den 1960er Jahren in verschiedenen Varianten umgesetzt. Bryan Stanley Johnson hat einen Roman in Form einer ‚black box‘ realisiert: The Unfortunates (1969, dt. Die Unglücksraben, 1993). In einer Schachtel befinden sich 28 lose Kapitel, die zwar schichtweise gelesen, aber durchaus auch anders gemischt und gelesen werden können. Nur das erste und das letzte Kapitel sind als solche markiert. Die losen Kapitel stehen untereinander als Bestandteile einer Geschichte in Zusammenhang. Der Text handelt von einem Freund des Erzählers, der als junger Mann an Krebs gestorben ist. Zwi53 Analog konstruiert ist Schäuffelens Haus der Bienenkönigin (abgebildet und betitelt in: Adler/Ernst 1987, S. 304f.): Das Objekt von 1973 besteht aus einem Kasten der Seitenmaße 17,5 x 20 x 27,5 cm. In diesem Kasten, der einem Bienenzüchterkasten nachempfunden (oder aus einem solchen hergestellt worden) ist, befindet sich in zerschnittener Form Jean-Paul Sartres autobiografischer Roman Les mots (1964).  











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schen den wuchernden Tumoren und der Romanstruktur besteht ein gewolltes Korrespondenzverhältnis: der Roman ‚wuchert‘ selbst (vgl. Maack 1984, S. 62). Die Struktur des Textes als Loseblattsammlung ist hier allerdings sehr viel weniger als Hommage an die Freiheit des Lesers gedacht – obwohl dieser Zusammenhang erwähnt wird – denn als Versuch, dem Thema des Romans und dem Motiv der willkürlichen Wucherung zu entsprechen. Der Leser wird zwar autorisiert, die Kapitel in fast beliebiger Folge zu lesen. Aber wer stellt angesichts der nicht-nummerierten Romanteile sicher, dass ihm nicht etwas entgeht? Sicher ist: Ist der Roman erst einmal umgeordnet, so wird man kaum je wieder zur ursprünglichen Folge zurückfinden. In einem Roman aus losen Teilen orientiert man sich als Leser viel schwieriger als in einem gebundenen Kodex; und was eigentlich haben wir von der Freiheit, die Kapitel beliebig anzuordnen? Ein Zusatzproblem stellt sich, wenn man auf eine bereits gelesene Stelle zurückkommen will. Und zitieren lässt sich aus unpaginierten Seiten nur unzulänglich. Das Gelesene wird letztlich durch das Fehlen einer Bindung ähnlich un(be)greifbar wie die dargestellte Geschichte.  





Abb. A 3: Bryan Stanley Johnson: Die Unglücksraben. München 1993 (orig.: The Unfortunates. London 1969).  

Anlässlich der genannten Beispiele versagen konventionelle Lesestrategien. Die Gestalt dieser durch Negation der Kodexform buchliterarischen Werke kann als Autorisierung des Lesers zu freiem Verfügen über die Textelemente verstanden werden, aber auch als eine Verminderung seiner Chancen, sich einen Überblick zu verschaffen. Indirekt weisen die Experimente mit aufgelösten Kodexformen auf eine wichtige Differenzierung hin: Die Autorisierung eines Lesers dazu, einen Text in beliebiger Folge zu lesen, ist nicht gleichbedeutend mit seiner Bemächtigung über die Sinnoptionen eines Werks. Er kann zwar durch Kombinationsspiele Texte erzeugen, die etwas besagen, aber gerade dabei wird deutlich, wie wenig der Horizont der Möglichkeiten ausge-

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schöpft wird. Und was, wenn ihm Beziehungen einzelner Teile des Textes entgingen? Zerlegungen des Kodex in Teile führen auch in der Romanliteratur des 21. Jahrhunderts zu originellen Verknüpfungen zwischen Textträgern und erzählten Geschichten. Aka Morchiladzes in eine Filztasche verpackten Kapitel-Hefte des Romans Santa Esperanza müssen ausgepackt werden wie die Inhalte einer Reisetasche, passend zum Inhalt der fingierten Geschichte einer Reise (Morchiladze 2004, dt. 2006, vgl. Teil E 1.34).  

A 2.7 Buchgestaltungsoptionen C: Die Räumlichkeit des Buchs und ihre thematische Funktionalisierung Für die in der neueren Buch-Literatur genutzte Idee, den Raum des Buchs in eine Analogiebeziehung zu inhaltlich-thematisch signifikanten Räumen zu setzen, ist eine ganze Reihe verschiedenartiger Beispiele anführbar. Ein breites Spektrum der Möglichkeiten wurde genutzt. Das Buch als Modell des Weltraums. Rühms textall. ein utopischer roman (1993). Rühms Buch textall schlägt – über diverse Schreibweisen hinweg – eine weitgespannte Brücke zwischen typografisch-konkreter Poesie und Formen des dokumentarischen Textes. Es weist sich durch seinen Untertitel selbst als „roman“ aus, bietet aber inhaltlich und visuell-formal ein von konventionellen Romanen abweichendes Bild. Der wie eine Variation auf das Stichwort ‚Weltall‘ wirkende Haupttitel verknüpft den ‚Text‘ implizit mit der ‚Welt‘ (vgl. den thematisch affinen Text von Rühm: Lehrsätze über das Weltall). Der Buch-Roman basiert auf schon in anderen Werken Rühms angewandten Textverfahren (vgl. Rühm: reisefieber). Das Buch wird schon darum zum ‚Textall‘, weil es verschiedenste Schreibweisen und Textsorten zusammenführt; so enthält jedes Kapitel einleitend einen dokumentarischen Text, dem ein literarischer Prosateil folgt. Die Kapitel weisen in wiederum systematischer Weise angelegte Untergliederungen auf; lexikalische Stichwörter fungieren als Zwischentitel und steuern die Lektüre (so im ersten Kapitel die Vokabeln „Abenteuer, Ahnungen, Anarchie“ etc.). Die Kapitelzahl 22 entspricht dem Durchgang durch das (japanische) Alphabet. Für den Romantext verwendet wurden sämtliche Vokabeln eines japanisch-deutschen Wörterbuchs. In die Textteile einmontiert sind Zitate aus Tageszeitungen, die vom 1. bis 22. Januar 1992 stammen und durch ihre Datierung ein zeitliches Muster ergeben; Stichwörter bilden Verbindungen zwischen diesen Zitaten und dem jeweiligen Romankapitel. Am Ende des Romans wird aus der Stichwörterreihe eine Art Zusammenfassung formuliert. Das textall macht eine Vielzahl von Textformen und Buchgestaltungsmodi sinnfällig. Es enthält Buchstabenkonstellationen, die an Konkrete Poesie erinnern, visualpoetisch gestaltete Textflächen mit teils mimetisch, teils abstrakt erscheinenden Formen; ferner gliedernde Überschriften, Fußnoten sowie diverse gerahmte leere Felder. Unter diesen stehen Texte, die als Bildlegenden lesbar wären, wenn denn hier überhaupt ein Bild gezeigt würde. Einerseits ein aus Buchstaben und Formen gebilde 





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tes Universum aus Texten, nimmt textall durch Zitate und Anspielungen andererseits auch Bezug auf wissenschaftliche Weltbeschreibungen; so gibt es Referenzen auf die Quantenphysik und die Chaostheorie als wissenschaftliche Modellierungen des Universums. Verkehrswege im Buchraum. Geoffrey Ryman: 253 (1998). Geoffrey Rymans 1996 entstandener, 1998 in Buchform publizierter Text 253 (dt.: 253. Der U-Bahn-Roman, 2000) repräsentiert die historische Wende zum netzbasierten Hypertext. Der Text wurde sowohl als interaktiver Netzroman wie auch in Buchform publiziert. Dabei repräsentiert der Buchraum einen realen Raum in London, genauer: eine Verkehrsstrecke, was in seiner grafischen Gestaltung auch zum Ausdruck kommt: Schauplatz ist eine Londoner Untergrundbahn-Linie (die Bakerloo Line), die 252 Sitzplätze und einen Fahrersitz, also 253 Plätze, bietet. Die Handlung spielt am 11. Januar 1995. Der Basiskonstruktion entsprechend spricht der Text, jeweils auf einer eigenen Seite, von 253 Personen, die an diesem Tag während einer bestimmten Zeit im Streckenabschnitt unterwegs sind. Auf diesen Seiten findet sich unterhalb eines grafischen Symbols der befahrenen U-Bahnstrecke zunächst der Name des Passagiers, dann nach gleichbleibendem Schema Angaben zur „Outward appearance“, eine „Inside information“ sowie ein Abschnitt über das Innenleben der Figur, ihr Verhalten, ihre Emotionen und Gedanken, ihre Einstellung gegenüber den Mitreisenden etc.: „What she/he is doing or thinking“. Jede dieser Passagier-Seiten wirkt wie der Aufriss zu einem eigenen Roman, der aber eben nur umrissen wird; manche Figuren sind alltäglich, andere exzentrisch, manche eher komisch, andere tragisch. Das Buch gliedert sich grob in sieben Teile. Am Anfang jedes Teils findet sich auf einer Doppelseite eine „Passenger Map“ mit der grafischen Skizze des im folgenden Kapitel dann durchlaufenen U-Bahn-Abteils, seinen durchnummerierten Sitzen und den danebenstehenden Namen der Passagiere, verbunden jeweils mit knappen charakterisierenden Stichwörtern zu diesen Personen. Im Durchgang durch die folgenden Personenbeschreibungen soll der Leser in Gedanken die siebeneinhalb Minuten Fahrzeit durchleben, die zwischen zwei bestimmten Stationen der U-Bahn-Linie liegen. Dass die Lektüre länger dauert, merkt die Vorrede an – und setzt damit Buchraum und Reiseraum in eine vergleichende Beziehung (Ryman 2000, S. 4). Der Vergleich zwischen Netzversion und Buchroman ergibt bezogen auf Zeitstrukturen weitere Ausdifferenzierungen. Die Unterschiedlichkeit der Figuren rückt in der Netzversion deutlicher in den Vordergrund. Ein Anhangsteil in der Buchversion erleichtert durch ein alphabetisches Register der Figuren und andere Informationen dem Leser die Orientierung. Zugleich versucht Ryman, den Leser selbst ins Buch hineinzuziehen, indem er ihn darum bittet, ein Formular auszufüllen.  





Ein Buch aus sichtbaren und unsichtbaren Teilen: Steven Hall: The Raw Shark Texts. Halls Romantitel (Raw Shark) enthält ein Wortspiel mit dem Wort ‚Rorschach‘, das hier selbst analog zum Rorschach-Test einer akustischen Interpretation unterzogen wird: So wie beim Rorschach-Test Tintenkleckse als Figuren interpretiert werden,

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so deutet der Romantitel das Wort ‚Rorschach‘ als Hinweis auf einen Hai. Schon dadurch wird die Produktivität der Imagination als Thema exponiert. Der Roman, der unter einem Motto aus Borges’ Erzählung über Tlön, Uqbar, Orbis tertius steht, setzt punktuelle, aber prägnante visuelle Elemente ein, insbesondere visualpoetische. So wird zu Beginn von Kapitel 2 das Aufwirbeln von Sedimenten auf dem Meeresgrund durch ein Buchstabenarrangement visualisiert, das fast nur aus einzelnen Buchstaben oder Buchstabenpaaren besteht und sich unlesbar auf der Buchseite verteilt. Ein Rechteck mit abgerundeten Ecken bildet den Fernseher ab, in den der Erzähler starrt, in dessen Tiefe er sich gezogen fühlt und aus dem ihm schließlich ein Auge entgegen zu starren scheint (Hall 2007 [dt.], S. 61f.). Einzeller werden durch auf der weißen Buchseite isolierte Einzelbuchstaben dargestellt (ebd., S. 95). Bilder dissoziierter Texte (u. a. ebd., S. 421) unterbrechen die Erzählung, an deren Ende man die beiden Seiten einer Postkarte reproduziert findet. Auf der Textseite verabschiedet sich der Protagonist Eric Sanderson von einem Ort aus, von dem er nicht zurückkommen will; auf der Vorderseite ist eine Filmszene aus Casablanca (mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman) zu sehen (ebd., S. 428). Eine Inselpostkarte (ebd., S. 99) und durch Buchstabenbilder repräsentierte Seetiere (ebd., S. 150), u. a. fossile Fische (ebd., S. 97), tragen zur Darstellung der (Meeres-)Szenerien bei. Vor allem der titelgebende Hai wird in Gestalt von Umrissgedichten in diversen Varianten visualisiert (ebd., S. 158). Einen Daumenkino-Auftritt hat er auf einer längeren Seitensequenz: Aus der zunächst durch weiße Seiten repräsentierten Leere taucht der aus Buchstaben zum Umrisstext gefügte Hai auf, zunächst klein, sich dann nähernd, zuletzt mit aufgerissenem Maul (ebd., S. 330–375). Die Romanhandlung ist kompliziert und verwirrend, insbesondere weil sie in mehr als einer Wirklichkeit spielt. Der Protagonist Eric Sanderson hat infolge eines Traumas sein Gedächtnis eingebüßt, was auf das Wirken eines ‚Gedankenhais‘ („conceptual shark“) zurückgeführt wird, der sich von menschlichen Erinnerungen nährt und damit sukzessive deren Ich auffrisst. Erics Selbst hat sich verloren; er ist ein anderer, zweiter Sanderson geworden, der sich vom Original unterscheidet. Geheimnisvolle Figuren teils anderweltlicher Provenienz kreuzen Erics Weg; schließlich kommt es zu einer Jagd auf den Gedankenhai, einem „conceptual shark hunting“. Es gelingt, den Gedankenhai mithilfe eines Laptops zu vernichten; Eric und seine neue Gefährtin Scout, die ebenfalls einer Identitätstransformation unterzogen wurde und in mysteriöser Analogiebeziehung zu Erics früherer Partnerin Clio steht, verbleiben aber in der Gedankenwelt (im „conceptual universe“); nur Erics Leichnam wird in der wirklichen Welt gefunden. Spielerisch und unter Einsatz typografisch wie stilistisch differenter Textebenen inszeniert das Buch einen Durchgang durch verschiedene Welten, geprägt vor allem durch die Differenzierung zwischen realer Welt und medial simuliertem Universum. Die Vieldeutigkeit des erzählten Geschehens findet ihr Gleichnis im Klecksbild des Rorschach-Tests, in dem ja jeder sieht, was ihm selbst dazu einfällt, und das u. a. dazu dient, Unterbewusstes, Verdrängtes ans Licht zu holen. Dem insgesamt kryptischen Charakter der Romanhandlung korrespondiert das Motiv der Kryptografie. Verfahren des Codierens von Botschaften werden durch Verschlüsselungsta 























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bellen mit Buchstabenreihen erläutert (ebd., S. 77–79). Die Idee einer der Realität gegenüberstehenden anderen (und diese aufhebenden, negierenden, konterkarierten) Welt wird nicht allein durch Romaninhalt und Textbilder vermittelt, sondern auch durch Halls Konzept der Negativ-Kapitel, welche den normalen, zunächst zum Roman gehörigen Kapiteln gegenüberstehen. Der Roman besteht aus 36 Kapiteln, enthalten im Buch The Raw Shark Texts, sowie aus 36 weiteren ‚verlorenen‘ Teilen, die vom Autor als „negatives“ oder „un-chapters“ konzipiert und geschrieben wurden und sich an anderen Orten als im Buch finden, nach dessen Erscheinen sie in regelmäßigen Abständen sukzessiv aufgetaucht sind – sei es materialiter in der realen Welt oder versteckt im Internet. Auch in diversen Übersetzungen des Romans, die nach der englischen Originalausgabe von 2007 erschienen, finden sich gelegentlich „Negativkapitel“. Hall zufolge ist jedem der ‚positiven‘ Kapitel des Romans ein solches ‚Negativ‘ zugeordnet, das in einer Beziehung zu ihm steht; manche der „un-chapters“ bestehen dabei nur aus einer Seite oder wenigen Zeilen, andere sind viel länger als die ‚positiven‘ Romankapitel. Die britische Sonderausgabe enthält, entsprechend Halls Disposition, Negativ 6/36, die kanadische enthält Negativ 36/36.  



Das Buch als Büroraum. Erzählen mit Stempeln: Matias Celedon: La filial (2012) (engl. The Subsidiary, 2016). Celedons Buch entzieht sich der Zuordnung zu einer Gattung und basiert auf einer sehr ungewöhnlichen Gestaltungsweise der Buchseiten und des Buchraums unter Einsatz einer ganz spezifischen Erscheinungsform von Schrift: Fast alle Buchseiten sehen aus wie Blätter mit knappen Stempelaufdrucken. Als Sequenz gelesen, ergeben diese den Umriss einer Geschichte über mysteriöse Ereignisse. Der Rahmenfiktion nach, die sich aber nicht im Buchinnern, sondern nur auf dem hinteren Buchcover findet (Celedon 2016), entstand die Stempelsequenz in einer rätselhaften und bedrohlichen Situation: Ein verschreckter Büroangestellter hat anlässlich eines langen Stromausfalls, der ihn und seine Kollegen im dunklen Büro festhielt, Stempel sowie schwarze und rote und Stempelfarbe behelfsweise zur Protokollierung seiner Wahrnehmungen und Eindrücke benutzt.54 Diese fiktionale Begründungskonstruktion des Textes motiviert eine Lakonik der Textelemente, die an sich schon Spannung erzeugt, da sie stets nur andeutet, skizziert, komprimiert, was da zu sagen wäre.55 Der Angestellte thematisiert auch seine eigene Schreibsituation: Ihm ist genug Licht geblieben, um zu protokollieren, allerdings scheinen die Lichtverhältnisse und damit die Orientierungsmöglichkeiten zu changieren. Gelegentlich werden un-

54 Vgl. Covertext hinten: „In the cavernous offices of the subsidiary, the power suddenly cuts out; the lights switch off; the doors lock; the phone lines go dead. […] For one frightened employee, the only way to tell the terrible tale of what happens next is with the rubber stamps he uses to mark corporate documents […].“ (Celedon 2016) 55 Vgl. die ersten Einträge in Celedon 2016: „To all personnel.“ (S. 3)/„Power supply will be interrupted between 08:30 and 20:00.“ (S. 5) […] „The power is out“ (S. 10)/„They have closed off the exits.“ (S. 11) […] „Shouts can be heard outside.“ (S. 13) „They have left us alone.“ (Ebd.)  









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gewöhnliche Papiere bestempelt, gelegentlich Papierobjekte wie Visitenkarten; im Buch ist dies drucktechnisch so wiedergegeben. Gerahmt wird die Serie von knapp 200 Seiten mit (faksimilierten) Stempelaufdrucken von zwei Seiten am Bucheingang und -ausgang, die nur eine schwarze Fläche als Darstellung des ausgebrochenen Dunkels zeigen. Dass dieses Dunkel auch noch am Ende herrscht, lässt den Fortgang der angedeuteten Geschichte besonders rätselhaft erscheinen, insofern es suggeriert, dass dieser auch metaphorisch ‚im Dunkeln‘ liegt. Celedons Buchkonstruktion steht im Zeichen konsequenter Text-Reduktion, verbunden mit einem ungewöhnlichen Stil; beides wird durch die Rahmenfiktion der verwendeten Stempel begründet: Der Stempelbenutzer ist nicht nur zu Knappheit gezwungen, sondern erkennbar auch durch das ihm verfügbare Reservoir an Wörtern, Phrasen und Zeichen determiniert – ‚eingesperrt‘ also auch im übertragenen Sinn der Bindung an eine vorgegebene Zeichensprache. Die Optik der Stempeleien weckt tendenziell beklemmende Assoziationen an eintönige Büroarbeit und an Verwaltungsapparate; der skizzenhafte Rahmenplot betont die Idee der Gefangenschaft zusätzlich. Die Isolation und Desorientierung des Textverfassers spiegelt sich in der Vereinzelung seiner knappen, oft schief sitzenden Botschaften (an wen?) auf den Papieren. Zudem suggeriert das Stempel-Textbild eine gewisse Signifikanz, ja Dringlichkeit des Mitgeteilten, vor allem dort, wo rote Stempelfarbe zum Einsatz kommt.  

Ein Buch als Kombinationsraum: Alejandro Zambra: Facsímil (2014, engl. Multiple Choice, 2016). Spielerisch und in einer Weise, die an kombinatorische Textkonstitutionsverfahren, etwa durch Queneaus Sonettmaschine, erinnert, lädt Alejandro Zambras Buch den Leser zur Beteiligung an der Textgestaltung ein. Der rund 100-seitige Band Multiple Choice enthält ausschließlich Sequenzen von Multiple-Choice-Fragen, die durch ihr als solches vertrautes Druckbild suggerieren, es gelte, die richtigen Antworten zu finden und anzukreuzen. Das Inhaltsverzeichnis präsentiert die Fragenserie gegliedert nach Gruppen, die dann auch das Buch strukturieren: In Teil I geht es scheinbar darum, unter den angebotenen (und anzukreuzenden) Formulierungen eine nicht zu den anderen passende zu finden („Excluded term“); in Teil II sollen Sätze in die angemessene Ordnung gebracht werden („Sentence Order“); In Teil III sind Sätze mit alternativ angebotenen Wörtern zu vervollständigen („Sentence completion“); Teil IV suggeriert, von fünf angebotenen Textpassagen gehöre eine nicht in den Zusammenhang („Sentence elimination“); Teil VI konfrontiert den Leser mit drei Texten, zu dem ihm anschließend diverse Fragen gestellt sowie richtige und falsche Antworten auf diese angeboten werden („Reading comprehension“). Der Leser, der eingeladen ist, jeweils eine Lösung anzukreuzen, scheint demnach in zunehmend komplexer Weise an der Konstitution von Texten beteiligt und insofern zum Ko-Autor gemacht zu werden. Allerdings stellt sich schon auf der rudimentären ersten Stufe des Entscheidens über ‚passende‘ oder ‚unpassende‘ Vokabeln die Aufgabe als doppelbödig heraus: Der Weg durchs Buch ist ein Weg des Zweifels darüber, ob es richtige Lösungen gibt. So mag sich bei den Multiple-Choice-Fragen des I. Teils der Leser  

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noch entscheiden können, welche der fünf Vokabeln entsprechend einem zu findenden Kriterium nicht in die Reihe passt; bei der letzten Frage aber, die schlichtweg fünf Mal das Wort „silence“ anbietet, ist eine Differenzierung zwischen ‚passend‘ und ‚unpassend‘ evidenterweise unmöglich. Sowohl das Textverständnis als auch die Textergänzungsaufgaben changieren in einem Spektrum zwischen begründbaren Lösungen hier, Unentscheidbarkeiten dort. Die Textverständnisfragen samt dazu angebotenen Antwortoptionen führen aber erkennbar tief in den Bereich der (individuellen) Interpretation hinein. Und so bietet Zambras Buch Anlass, über Texte als solche, ihre Sprache, ihre Struktur, ihre Bedeutungsspektren und ihre Verständlichkeit zu reflektieren. Zugleich stimuliert es eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Lesers, die sich materiell-konkret und modellhaft im Ankreuzen ‚richtiger‘ Wörter bzw. im ‚richtigen‘ Ordnen von Textteilen manifestiert – wobei oft die ‚Richtigkeit‘ der geforderten Lösung als solche in Frage gestellt wird. Gefordert wird diese Lösung von der Aufmachung des Buchs als Multiple-Choice-Test, die das Seitenlayout und die Gesamtstruktur bestimmt. Diese sichtbare Seite des Buchs (nebst ihrer Suggestion einer Differenz zwischen ‚Richtigem‘ und ‚Falschem‘) steht in einer paradoxalen Spannung zu dem Textmaterial, das dem Leser geboten wird. MSE  

A 2.8 Das Gattungsspektrum der Buch-Literatur In der Romanliteratur, die bedingt durch ihre Geschichte eine besonders enge Affinität zu Formexperimenten hat, werden buchgestalterische Strategien in entsprechender Variationsbreite und Häufigkeit eingesetzt. Unter den Verfassern von Buch-Literatur sind Romanciers besonders gut vertreten – von Laurence Sterne, Jean Paul und Hoffmann über die Vertreter mittlerweile schon kanonisierter Avantgarden bis in die Gegenwart. Genannt seien, stellvertretend für andere, neben Michel Butor (vgl. Zeltner 1974, S. 10–114; Thiele 1975) und Bryan Stanley Johnson56 in den 1960er Jahren für  



56 Bryan Stanley Johnson setzt buchgestalterische Mittel auf grafisch-typografischer und struktureller Ebene in verschiedenen Werken verschieden ein. Travelling People (1963) enthält leere weiße, graue und schwarze Seiten. In Albert Angelo (1964) wird das Seitenlayout variiert. So repräsentieren Abschnitte in zweispaltigem Druck simultane, aber miteinander kontrastierende Reden bzw. Gedanken verschiedener Romanfiguren. House Mother Normal – A Geriatric Comedy (1971) stellt mit typografischen Mitteln die unterschiedlichen Grade und Stadien von Demenz und Aphasie bei den Bewohnern eines Altenheims visualliterarisch dar; der Text enthält freie Räume zwischen Wörtern und Buchstaben sowie leere Seiten, um Unterbrechungen bzw. Ausfälle sprachlicher Artikulation sinnfällig zu machen, und ist insofern eher ein visualliterarisches Werk als ein Drama. Christie Malry’s Own Double Entry (1973) handelt von einem exzentrischen Buchführungsprojekt, das sowohl in tabellarischen Übersichten als auch in Kapitelüberschriften sinnfällig wird. Johnsons auffälligstes buchliterarisches Werk ist The Unfortunates (s. o.).  



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die folgenden Jahrzehnte Milorad Pavić57 und Peter Esterházy und als Vertreterinnen einer jüngeren Generation die als Buchdesignerin ausgebildete Leanne Shapton58 und ihre Kollegin Judith Schalansky. Jonathan Safran Foer, Mark Z. Danielewski und andere international erfolgreiche Buchliteraten sind teils ausschließlich, teils vorwiegend als Romanciers bekannt. Buchlyrik. Da Gedichte – nicht nur, aber besonders evident, visualpoetische Texte – durch ihr Erscheinungsbild besonders auf sich aufmerksam machen, stimuliert Lyrik auch Buchgestalter zu besonderen Phantasien. ‚Buchlyrik‘ ist ans Buch gebunden, bezieht dessen Struktur in die poetische Komposition ein. Neben lyrischen Texten, die von ihren Autoren selbst in spezifischer Buchform konzipiert und produziert wurden, stehen aber auch solche Gedichte, die von Buchdesignern nachträglich in eine Buchgestalt gebracht wurden, die ihnen besonders zu entsprechen scheint. Mit Blick auf die Vorgeschichte moderner Buch-Literatur und Buchkunst ist es bemerkenswert, dass hier gerade Lyriker eine prägende Rolle gespielt haben: Blake, der in seinen Buchwerken unter anderem eigene Gedichte und Gedichtzyklen inszenierte, Morris, ebenfalls (auch) als Lyriker produktiv, und Mallarmé als Galionsfigur der modernen Lyrik, bei der Buchgestaltung und Dichtung zwei Seiten eines einzigen kreativen Prozesses sind. Auch Kerners auf die Buch-Literatur vorausdeutende Gestaltungspraktiken entstehen im Zusammenhang mit Gedichten; Rühmkorf entdeckt und akzentuiert den Zusammenhang (vgl. Teil A 6.2). Im Bereich der Konkreten Poesie entwirft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eugen Gomringer mit seiner Formel „vom Gedicht zum Gedichtbuch“ eine Art buch-lyrisches Programm (vgl. Teil A 2.3) und Raymond Queneau, nicht primär als Lyriker bekannt, konstruiert doch mit seiner Sonettmaschine ein Pionierwerk moderner Buch-Literatur (vgl. Teil A 1.6). In der neueren BuchLiteratur findet sich ein erhebliches Spektrum von Beispielen einer die Buchform auf besondere Weise nutzenden, sie teils auch modifizierenden Buch-Lyrik, die von ihren Verfassern direkt als Buch-Lyrik konzipiert worden ist – aber auch nachträgliche Buch-Arrangements lyrischer Texte. Dazu gehört etwa Danielewskis Wende-Buch Only Revolutions, dessen Textanteil zu weiten Teilen den Charakter eines epischen Gedichts besitzt (vgl. Teil E 1.39).  







Lyrik, meterweise: Carlos Oquendo de Amat: 5 metros de poemas (1923–1925/ 2010). Jean Pauls Phantasie über ein Buch, aus dem auf langen Papierstreifen die Prosagedichte seines Romanprotagonisten Walt herausflattern (Jean Paul 2000a

57 Vgl. Pavić, Milorad: Hazarski Rečnik (1984, dt. Das chasarische Wörterbuch, 1988), Poslednja ljubav u Carigradu (1994, dt. Last love in Constantinople: a tarot novel for divination, 1998), Predei slikan cajem (1988, dt. Landschaft in Tee gemalt, 1991). 58 Leanne Shapton hat neben ihrem Katalog-Fotoroman Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris (2009) eine Reihe von Bilderbüchern gestaltet, die unterschiedliche Buch-Welten konstituieren; vgl. Shapton 2006, 2010, 2012, 2013, 2016.

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[1804/1805], S. 680f.; s. o.), wurde zu Lebzeiten des Autors nicht realisiert. Aber schon die knappe metaphorische Beschreibung eines solchen erdachten Buchs lässt erkennen, welches metaphorische Potenzial es selbst als Materialisierung solcher Sprachbilder besäße: Die langen Papierstreifen setzen sich (in Jean Pauls Beschreibung: flatternd wie „Flughäute“, wie ein „Segelwerk“) über ihre Bindung an den Buchblock hinweg, befreien sich aus der Begrenzung durch den Einband, dehnen sich in den Raum aus, lassen vertraute Buchformate ebenso wie eingespielte Rezeptionserwartungen hinter sich. Ein Moment solch konkret-physischer und zugleich metaphorischer Entgrenzung prägt ein Gedichtbuch des Peruaners Carlos Oquendo de Amat (1905–1936), das viele Jahrzehnte nach seinem Tod in ungewöhnlicher Form präsentiert worden ist: 5 metros de poemas, in der englischen Übersetzung durch Alejandro de Acosta und Joshua Beckman: 5 Meters of Poems (Oquendo de Amat 2010). Die Texte entstanden zwischen 1923 und 1925. Ihre posthume Ausgabe von 2010 bietet die Serie 5 metros de poemas ihrem Titel entsprechend auf einem mehrere Meter langen Papierstreifen, der zu einem beidseitig bedruckten Leporello von quadratischem Format gefaltet ist, das bei der Lektüre entfaltet wird.59 „Abra el livro como quien pela una fruta“ („open the book like peeling a fruit“), so lautet eine einleitende Handlungsanweisung. Als beidseitig lesbares Leporello besitzt das 5-Meter-Buch keinen Anfang und kein Ende; es weist auch zwei gleichartige Frontcovers auf. Nahe liegt die Idee, es so aufzustellen, dass sich Ausgangs- und Endseite berühren. Oquendos Gedichte sind (wie die Dedikation an die Mutter des Dichters es ausdrückt) „inseguros come mi primer hablar“ („uncertain as my first words“). Ihr hohes Maß an Selbstreflexivität signalisieren schon Titel wie poema del manicomio (madhouse poem), poema del mar y de ella (poem of the sea and of her), poemaobsequio (poemgift) und poema al lado del sueño (poem beside sleep). Und so entfaltet sich das lange Leporello raumgreifend als eine poetische cuarto de los espejos (hall of mirrors, so ein weiterer Gedichttitel, 1923). Beeinflusst durch Mallarmé und durch frühavantgardistische Experimentaltexte (und im Vorgriff auf die Konkrete Poesie der Jahrhundertmitte) verteilen sich die Wörter und Buchstaben, aus denen Oquendo de Amats Gedichte bestehen, über die Seiten; sie enthalten visualpoetisch-ideogrammatische Elemente, konfigurieren sich teilweise zum Text-Bild. So bilden die Bestandteile der Passage 10 minutos intermedio (10 minutes intermission) ein diagonales Kreuz, das als konkrete ‚Unterbrechung‘ die ganze Buchseite durchkreuzt. Das Leporello ist in einen Schutzumschlag aus gleichartigem Papier wie das Buch selbst eingeschlagen. (Beide Seiten des Umschlags zeigen dieselbe Grafik, die auf einer Zeichnung des Dichters selbst basiert.) Auf dessen Innenseite finden sich auf Spanisch und in englischer Übersetzung vier weitere Gedichte Oquendo de Amats, so dass das Buch alle überlieferten Texte des jung verstorbenen  



59 Als Quelle der spanischen Texte sowie der Coverillustration der Ausgabe von 2010 diente eine Faksimile-Ausgabe der Gedichte von 1980 (erschienen bei Editorial Ausonia Talleres Gráficos, Lima, Peru); diese basierte auf der Erstausgabe der Gedichte von 1927. Designerin des Leporellos von 2010 war Megan Mangum.

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Dichters enthält. Von der einen Seite gelesen ein spanisches Buch, von der anderen ein englisches, zum einen ein quantifizierbares (fünf Meter langes) Objekt, zum anderen als Endlosschleife lesbar, evoziert das Leporello durch seine Form wie durch seine Texte die Idee der Grenzüberschreitung. Ein Buch in Sonettform: Oskar Pastior: sonetburger (Berlin 1983). Oskar Pastiors Gedichtband sonetburger überträgt die für das Sonett konstitutive Struktur auf das Buch insgesamt und verbindet innerhalb dieses Buchs zudem Texte mit grafischen Teilen. Das Bändchen besteht aus sieben Teilabschnitten (I-VII); dies entspricht der Hälfte der Zeilen eines Sonetts; von diesen Abschnitten sind drei aus Serien von Zeichnungen, die anderen aus Serien von Sonetten gebildet. Jede Serie besteht aus 14 Teilen. Nun besitzt Pastior eine in diversen Werken dokumentierte Affinität zum Palindrom, also zu Texten, die sich (sei es auf Buchstaben-, sei es auf Silbenebene) gleichermaßen von hinten wie von vorn lesen lassen – und da auch die sonetburgerTextsammlung Palindromisches enthält, liegt es nahe, auch das Buch in beide Richtungen zu lesen. Dann ergeben sich 14 Teile, jeder bestehend aus 14 Teilen (Gedichten oder Zeichnungen), von denen die Gedichte dann wiederum aus 14 Teilen (Versen) bestehen. Das Buch, tektonisch geprägt durch die 3, die 4 und die 14, ist eine Art ‚Sonett‘, das Sonett, variationsfähig, wie es ist, präsentiert sich als Buch. Neben den sieben Gruppen von Texten in Sonettform sind die drei Gruppen von Zeichnungen kompositorische Bestandteile des Buchwerks und keineswegs bloße Ornamente; der Untertitel des Bändchens verspricht 3 x 14 zeichnungen des autors. Man könnte die auf je 14 aufeinander folgenden Seiten platzierten Zeichnungen als Äquivalente dreier Sonette betrachten. Wenn also gleichsam schichtweise abwechselnd Sonett-Texte und Sonett-Bilder zu sehen sind, hätte das Buch insofern eine ‚Burger‘-Struktur: es wäre selbst der sonetburger.  

Herta Müllers Collagebücher. Gedichte enthalten auch Herta Müllers Collagebücher Die blassen Herren mit den Mokkatassen (München 2005) und Vater telefoniert mit den Fliegen (München 2012, Frankfurt a. M. 2014). Beide sind durch das unkonventionelle Erscheinungsbild der Texte geprägt: Diese wurden collageartig aus einzelnen Wörtern zusammengesetzt, welche allesamt aus verschiedenen Druckwerken ausgeschnitten sind. Knappheit und Dichte der Texte erinnern an Gedichte, ebenso die relative Geschlossenheit der Kompositionen auf den einzelnen Seiten. Neben den Text-Schnipseln, die zu Texten zusammengeklebt wurden, enthalten die Collagen auch Bildelemente: Bildmotive und Strukturmuster aus Druckwerken wie Zeitungen, Zeitschriften, Katalogen, Prospekten, die teils Alltägliches, teils auch Ausschnitte aus Gemälden und Zeichnungen zeigen. Das Erscheinungsbild der aus Einzelworten zusammengesetzten Texte zitiert das von Erpresserbotschaften oder anderen Mitteilungen, deren Verfasser nicht identifiziert werden wollen: Unpersönliche Druckwerke geben als unpersönlich gehandhabte Wortbestände her, die dabei aber doch durchaus einen sehr spezifischen Zweck verfolgen, hinter denen sich der Urheber eben nur verbirgt. Über  

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dieses Sich-Verbergen hinter dem Text lassen die Texte Formen der Mimikry assoziieren, wie sie in totalitären Gesellschaftssystemen an der Tagesordnung sind. Nicht nur viele Wendungen innerhalb der Texte, sondern auch Motive aus den Bildcollagen scheinen oft einen finsteren Hintersinn zu besitzen, so das ausgeschnittene Bild einer aus drei Fingern gebildeten Hand mit einem Ring an einem der Finger im Mokkatassen-Band (unpag.): Über dem Ring erhebt sich eine an einen Frosch erinnernde Papierform, was zum Froschmotiv im darüberstehenden Text passt; zugleich lässt das Bildmotiv ‚Hand mit Ring‘ einen Schlagring assoziieren. Oft zeigen die Bildmotive in Teile zerlegte Menschengestalten, ostentativ aus Kontexten ausgeschnittene und isolierte Figuren. Ein lyrisches Leporello: Correspondences von Michaels und Eisenstein. Als Kooperation einer Buchdesignerin und einer Lyrikerin präsentiert sich ein ungewöhnliches Buchobjekt, das den beziehungsreichen Titel Correspondences trägt (Michaels/ Eisenstein 2013). Der Text der Lyrikerin Anne Michaels verteilt sich über die Rückseite einer Sequenz von Dichterporträts, die die Grafikerin und Buchgestalterin Eisenstein geschaffen hat. Bildersequenz und Textablauf bilden also Vorder- und Rückseite eines und desselben Konstrukts; an welcher Seite man zu lesen anfängt, legt das Buch nicht fest. Es signalisiert durch seine Leporello-Form, dass die abgebildeten Personen eine Reihe bilden, dass etwas sie zusammenhält. Tatsächlich sind die meisten von ihnen Juden und die Lebensgeschichten der meisten von ihnen (aber nicht aller) mit dem Holocaust verknüpft, und das Buch erscheint als Medium der Erinnerung, aber auch als Hinweis auf positiv nicht Darstellbares. Die Porträtierten, darunter Franz Kafka, Anna Achmatova, Paul Celan, Nelly Sachs, Primo Levi und Bruno Schulz, evozieren vor allem die Erinnerung an literarische Werke und an deren Zeugenschaft. Unter ihnen ist auch Isaiah Michaels, der Vater der Lyrikerin Anne Michaels. Den Porträts sind jeweils knappe Textpassagen beigegeben, meist Worte der dargestellten Figuren selbst, manchmal auch fremde Worte; die Differenz wird verwischt. Im Paratext ist von der Entfaltung des Buches die Rede, die auf Entfaltungen im übertragenen Sinn verweist: vor allem auf die von Erinnerungen. Das Buch erscheint als Echoraum von Stimmen, die hier und nur hier in zu einer polyphonen Artikulation finden. The pages unfold in a myriad of arrangements, and voices speak not only from the singularity of their souls but one to another, embracing all that has been placed beneath and inside. A layered kinship is formed, a touch across the ages. (Ebd., unpag. Paratext am Buchende)

Papier-Dramatik: Anne Carsons Antigo nick. Wie sich buchgestalterische Mittel zur Präsentation dramatischer Texte nutzen lassen, demonstriert der von der Lyrikerin Anne Carson, der Illustratorin Bianca Stone und dem Buchdesigner Robert Currie gestaltete Band Antigo nick. (Sophokles) (2012), der auf die sophokleische Tragödie Antigone gleich mehrfachen Bezug nimmt – direkten auf der Textebene, indirekten auf der der Bilder und des Buchdesigns (Carson/Stone/Currie 2012). Das Buch enthält den  

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Text einer von Carson angefertigten Übersetzung des griechischen Dramas, aber auch andere, sich wie Notizen der Übersetzerin ausnehmende Vokabeln und Wendungen. Der Text ist auf den Seiten auffällig und in der Handschrift Carsons inszeniert worden, fast ohne Interpunktionszeichen. Er wird immer wieder durch Seiten mit gezeichneten Illustrationen unterbrochen, die zum Textinhalt in Beziehungen stehen, ohne im strikten Sinn Illustrationen zu sein. Neben Landschaftsmotiven werden kleine, in diesem Kontext rätselhafte Objekte gezeigt, Garnspulen etwa, die den Schicksalsfaden assoziieren lassen. Schemenhafte Figuren durchziehen den Band; sollen sie Figuren des Stücks darstellen? Diese Bilder sind auf transparentem Papier gedruckt und geben insofern von zwei Seiten den Blick auf die ihnen vorangehenden und die ihnen folgenden Textseiten frei. Diese erscheinen ihrerseits durch die semitransparenten Papiere wie mit einer Art Nebel überzogen. Ebenso wenig, wie die Bilder den Text ‚illuminieren‘ (im Sinne von: fasslicher und verständlicher machen), erhellt der Text, was die Bilder zeigen, und doch durchdringen sie einander. Der Durchgang durchs Buch gleicht dem durch ein Theaterstück mit ständigen Szenenwechseln. MSE

A 3 Buchansichten: Konzepte und Semantiken des Buchs als Impulse künstlerischliterarischer Buchgestaltung Was ist ein Buch? Ist es nur ein Behälter, eine Verpackung, eine auf der Basis arbiträrer Codes produzierte und insofern beliebige Materialisierung von Inhalten, die sich grundsätzlich auch in anderer Gestalt präsentieren könnten? Oder ist es ein von seinen Inhalten, Informationen, Anleitungen sowie den daraus folgenden Verhaltensweisen nicht ablösbares Medium, das nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Handeln ganzer Gesellschaften seine Form gibt? Ist es gar die Matrix ganzer Kulturen, für die sich Wissen, Tradition, Kultur nicht anders als buchförmig gestalten können? Ist es ein bloßer Träger von Schrift, die allenfalls von dienenden Illustrationen begleitet wird, und ist die in ihm befindliche Schrift ihrerseits nichts anderes als eine untergeordnete Repräsentation von gesprochener bzw. als gesprochen zu denkender Sprache? Oder bietet es der Schrift einen für deren Funktionen und Effekte konstitutiven Raum visueller Entfaltung, einer Schrift zudem, die mehr als bloße Repräsentation von Rede ist? Im Spektrum dieser und anderer kontroverser Konzepte finden in der Moderne und verstärkt in jüngerer Zeit Verhandlungen über das Buch statt, die sich auch in buchkünstlerischen und buchliterarischen Arbeiten niederschlagen. Ein damit eng verzahntes Thema ästhetisch konkretisierter Verhandlungen über das Buch ist der Zusammenhang von Buchgebrauch und dem breiten Feld kultureller Praktiken, zu denen nicht nur das bloße Lesen gehört, sondern auch vielfältige Formen der praktischen Reaktion auf Lektüren und nicht zuletzt das Schreiben von Büchern, die Produktion neuer Bücher oder die Bearbeitung, Beschriftung, Bemalung, Füllung bereits vorgefundener Exemplare. MSE

A 3.1 Begriffe des Buchs Ist ein Buch nichts als die Repräsentation einer an die Öffentlichkeit adressierten Rede, wie Immanuel Kant meint, der damit auch den Bereich relevanter Buch-Inhalte auf sprachliche Mitteilungen reduziert?60 Nicht nur für die aktuell vorgenommene Definition dessen, was ein Buch ist, erscheint Kant die konkrete Beschaffenheit von Büchern „gleichgültig“; gleichgültig ist sie ihm auch prinzipiell, da die physische Gestalt von Büchern ihm als bedeutungsindifferent gilt.

60 Anlass der Ausführung Kants ist der Büchernachdruck bzw. die Frage nach dem geistigen Eigentum. Vgl. Wirth 2010, S. 107.  

https://doi.org/10.1515/9783110528299-004

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Teil A Aspekte des Buchs

Ein Buch ist eine Schrift (ob mit der Feder oder durch Typen, auf wenig oder viel Blättern verzeichnet, ist hier gleichgültig), welche eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das Publikum hält. (Die Metaphysik der Sitten, 1797. In: Kant 1978, S. 404)  

Ist ein Buch nur eine äußere Hülle von (für Kant selbstverständlich in sprachlicher Form gefasster) Gedanken? Für eine solche Einschätzung lassen sich allerlei Beispiele anführen; sie entspricht einer historisch verbreiteten und bis heute nachwirkenden Haltung zum Buch. Ähnlich wie Kant differenziert Fichte (in Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, 1793) zwischen dem „bedruckten Papier“ und der Aussage eines Buchs, zwischen der „Ideenverbindung in der [die Gedanken], und die Zeichen, mit denen sie vorgetragen werden“ (nach Wirth 2010, S. 108). Das Eigentum am Buch als einem materiellen Objekt ist dem Urheberschaftsdiskurs zufolge, der hier geführt wird, veräußerbar; davon zu unterscheiden ist das geistige Eigentum am Inhalt. Allerdings erwirbt ein Bücherkäufer laut Fichte das Recht, sich die Gedanken und Ideen des Autors anzueignen (ebd., S. 109). Allerdings „ohne, dass wir ein Eigentumsrecht im juristischen Sinne an ihnen erwerben“ (dazu Wirth 2010, S. 108). Erwerbbar sind Bücher als materielle Objekte, Ideen hingegen sind keine Handelsware; in dieser Gegenüberstellung erscheint das Buch als etwas dem Geist, den Ideen und ihrer Zirkulation zwar Dienendes, aber doch ihnen gegenüber Inferiores. Gerade im Horizont des Diskurses über geistiges Eigentum gilt es als bloßes Vehikel, dessen Gestalt allenfalls mit Blick auf seine Funktionalität interessieren mag. Doch diese Differenzierung zwischen Buch und Geist ist keineswegs selbstverständlich; andere Bewertungen des Buchs stehen ihnen gegenüber. Jorge Luis Borges, dessen Konzept des Buchs gleichsam am anderen Ende des Spektrums angesiedelt ist, hat das Buch emphatisch als ein Instrument charakterisiert, das gleichsam eine Extension des genuin Menschlichen darstellt – und zwar nicht nur des menschlichen Körpers, sondern auch und primär des Geistes.  







Unter den verschiedenen Werkzeugen des Menschen ist das erstaunlichste zweifellos das Buch. Die anderen sind Erweiterungen seines Körpers. Mikroskop und Teleskop sind Erweiterungen des Sehens; das Telefon ist eine Erweiterung der Stimme […]. Aber das Buch ist etwas anderes: es ist eine Erweiterung des Gedächtnisses und der Phantasie. (Borges 1981a, S. 227)  

Sympathisch ist Borges die Vorstellung, die Welt sei um der Bücher willen da und existiere letztlich, um in diesen beschrieben zu werden (Borges 1981b, S. 117). Als kulturelles Leitobjekt strahlt das Buch in den Augen vieler Nutzer (und auch vieler Nichtnutzer!) Autorität aus. Es besitzt eine Aura, nicht nur als Heiliges Buch, als Gesetzbuch oder als Kultbuch. Es zieht Sympathien auf sich, wird zur Projektionsfläche persönlicher Bewertungen. Aleida Assmann erinnert daran, dass Bücher nicht nur zu praktischen Zwecken genutzt werden, sondern uns auch über ihren Nutzwert hinaus etwas bedeuten (Assmann 2010, S. 156). Darum falle es uns normalerweise auch schwer, Bücher wegzuwerfen (ebd., S. 161). Viele Buchwerke und buchliterarische Texte erinnern an das breite Spektrum der Konzeptualisierungen und Semantisierun 





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A 3 Buchansichten: Konzepte und Semantiken des Buchs als Impulse

gen des Buchs, teils unter Anspielung auf dessen auratisch-kultische Dimension, teils unter selbstironisch-spielerischer Inszenierung buchkritischer Topoi, zu denen dann auch das Konzept des bloßen Behälters gehören kann. Auch in solchen Referenzen auf kontroverse Evaluationen des Buchs dokumentiert sich die produktive Auseinandersetzung mit Buchhaftigkeit. Definitionsansätze des Buchs. Definitionsversuche des Buchs sind niemals frei von Implikationen, Akzentuierungen, Vorentscheidungen. Dies gilt auch für Ansätze bei der Etymologie, insofern diese über die Wortgeschichte eine historische Dimension eröffnen, die das Buch in eine Beziehung zu älteren Kommunikationsmedien und -praktiken treten lässt.61 Es gilt aber auch für definitorische Setzungen: Im Vorwort zu einem Buch über ‚das Buch‘ (vgl. Eder/Kobenter/Plener 2010) wird aus einer Standardisierungsformel der UNESCO zitiert, der zufolge das Buch „eine gedruckte, der Öffentlichkeit verfügbar gemachte, nicht periodische Veröffentlichung mit – zuzüglich der Umschlagseiten – mindestens 49 Seiten Umfang“ ist (ebd., Vorwort, S. 9f.). Sowohl das ‚Öffentliche‘ als auch der Umfang und das Druck-Kriterium könnten als brauchbare Kriterien in Zweifel gezogen werden; es gibt private, ungedruckte und sehr knappe Bücher. Doch hier geht es offenkundig um eine ‚justiziable‘, für rechtliche und ökonomische Zwecke anwendbare Richtlinie, und auch damit ist eine spezifische Sicht auf das Buch verbunden. Allenfalls scheinbar neutral und implikationsfrei sind Definitionen, die sich auf materiale und mediale Eigenschaften des Buchs (und seiner Vergleichsrelate) konzentrieren. Das Stichwort ‚Buch‘ bietet Anlass zu diversen Differenzierungen; das Bedeutungsspektrum bewege sich, so betont Werner Faulstich zusammenfassend, zwischen Kodex – Objekt/Ware – Institution – „Literatur“.62 Die Wörterbuch-Strategie der Reihung verschiedener Bedeutungs- und entsprechender Diskursebenen erscheint auch in buchwissenschaftlichen Zusammenhängen als einzig angemessene Form angemessenen Umgangs mit der Polysemie des Ausdrucks ‚Buch‘ und dem, was da jeweils gemeint ist; ein Beispiel bietet Ursula Rautenbergs Artikel Buch in ihrem Sachlexikon des Buchs.63  











61 Der Name des ‚Buchs‘ leitet sich ab aus frühgerman. *bok-s: „Buchstabe, Stab, auf dem eine Rune geschrieben ist, die Rune selbst und schließlich der griech. und lat. Buchstabe; im Plural in der Bedeutung von Schriftstück“ (Rautenberg 2015 (zuerst 2003), S. 65). Im Althochdeutschen entspricht ihm das Wort „buoch“. Einer Hypothese zufolge bezieht sich die Wortprägung auf zusammengebundene Buchenbretter mit Vertiefungen, die eine Wachsschicht enthielten, in welche man Buchstaben einritzen konnte. Vgl. Faulstich 2004, S. 133. 62 Faulstich weist darauf hin, dass „Buch“ und „Literatur“ oft als Synonyme gebraucht werden, was aber insofern irreführend erscheint, als Bücher literarischen Inhalts stets nur einen schmalen Prozentsatz der insgesamt publizierten Bücher ausmachten. Für 1996 nennt Faulstich 13,5 Prozent, für die Jahre von 1951–1976 im Durchschnitt 19,1 Prozent. Fach- und Sachbücher machen also 80–90 % der Buchproduktion aus. (Angaben nach Faulstich 2004, S. 133f.) 63 Vgl. Rautenberg 2015, S. 63–65. Rautenberg unterscheidet verschiedene Wortbedeutungen, darunter das Buch als materielles Objekt und als Kommunikationssystem (S. 65–67).  











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Perspektivische (Re-)Konstruktionen der Buchgeschichte. Darstellungen zur Geschichte des Buchs sind nie neutral und voraussetzungslos, ergibt sich doch schon die jeweilige Einteilung in Phasen aus der Orientierung an leitenden Perspektiven auf das Buch. Werner Faulstichs Differenzierung mehrerer Hauptetappen der Buchgeschichte etwa orientiert sich an einem Ensemble aus materiell-medialen, soziokulturellen und ökonomischen Faktoren, wobei jeweils Innovationen als zäsurbildend verstanden werden, ohne dass dabei das, was vor der Zäsur bestand, gänzlich abgelöst worden wäre (so gibt es ja auch nach Einführung des Buchdrucks noch primär manuelle Formen der Buchgestaltung). Es erfolgen aber infolge der Innovationen maßgebliche Verschiebungen im Bereich der buchgebundenen kulturellen Praktiken – der Produktions- wie der Gebrauchsweisen von Büchern (vgl. Faulstich 2004, S. 133–150). Mit der Etablierung des Kodexformats beginnt für Faulstich erst die eigentliche Buchgeschichte; von dieser unterscheidet er eine Vor- und Frühgeschichte des Buchs (ebd., S. 135). Nicht angemessen sei es, ganz andere Medien als das Buch, etwa die gebrannten Tontafeln der Babylonier und Assyrer als „Frühformen des Mediums Blatt“, die Tafel, das Ostrakon und zusammengeschnürte Palmblätter der Inder als Frühformen des Buchs in die Buch-Geschichte einzuordnen; Analoges gelte für die Rolle, das „Bildungsmedium der Antike“, diese sei keine „Vorform des Buchs“, sondern ein eigenständiges Medium mit eigenen Nutzungspraktiken (ebd.). Die erste Phase der Buchgeschichte datiert Faulstich entsprechend vom Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts bis zum Einsatz der Drucktechnik im mittleren 15. Jahrhundert – und fasst wichtige Merkmale dieser Phase zusammen: Im 4. Jahrhundert ist das ‚Buch‘ (gemeint ist der Kodex) zum dominanten Medium geworden; es fungiert in dieser ersten Phase primär als Kultmedium.64 In den frühmittelalterlichen Klöstern und Bischofssitzen etabliert sich ein Buchkult, an den dann später die mittelalterlichen Universitäten und städtischen Gesellschaften anknüpften. In Kodexform zirkulieren in erster Linie Abschriften der Bibel und der Kirchenväter-Texte sowie andere theologische Texte, ferner antike juristische und philosophische Texte. Seine Lehrbücher muss jeder Benutzer selbst herstellen: In den Vorlesungen diktieren die Vortragenden den Studenten. Im 14. Jahrhundert geht man dazu über, gewerbsmäßig Abschriften von Texten herzustellen (Bibel, Andachtsbücher, Lehrbücher). Eine zweite Phase datiert Faulstich von der Zeit Gutenbergs (†1468) bis zum frühen 20. Jahrhundert. In dieser Zeit wird das Buch vom Schreib- zum Druckmedium und vom Kult- zum allgemeinen Kulturmedium (ebd., S. 136). Soziologisch gesehen, sind es zunächst Angehörige des  

















64 Eine enge Beziehung besteht zwischen der Geschichte des Buchs und der der sich im frühen Mittelalter ausbreitenden christlichen Kultur. Die Christen bevorzugen das Buch u. a., um es als Medium ihrer Texte gegen die jüdischen und heidnischen Trägermedien von Schrift sowie gegenüber der profanisierten Schriftrolle abzugrenzen. Das Buch erscheint also als metonymisches religiös-kulturelles Distinktionsmerkmal. Die Kirche nimmt früh und wiederholt Einfluss auf die Buchzirkulation. Zunächst schränkt sie das Recht zum Lesen ein, später kontrolliert sie das Druckwesen durch Verbote, ab 1515 wirkt die Inquisition als Zensur-Behörde.  

A 3 Buchansichten: Konzepte und Semantiken des Buchs als Impulse

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Adels und des Klerus, die das Buch nutzen, hinzu kommt dann allmählich erst das höhere, dann das niedere Bürgertum. Eine dritte Phase setzt laut Faulstich ein, als das Buch zum Massenmedium wird – vor allem mit der Geschichte des Taschenbuchs (ebd., S. 137). Kriegsbedingte Phasen der Bücherknappheit tragen im 20. Jahrhundert zum Siegeszug des Taschenbuchs bei, das billig und in großer Auflage produziert werden konnte. Gerade als Taschenbuch wird das Buch zum Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs. Von einer vierten Phase spricht Faulstich dann mit Blick auf diverse rezente Veränderungen: Verlage und Buchhandelsketten konzentrieren sich; das Buch tritt seine Unterhaltungsfunktion weitgehend an andere Medien ab, vor allem ans Fernsehen. Neben dem Fernsehen wird dann der Computer, aber auch die Fotokopie zum Konkurrenten des Buchs.  





Zäsuren in der Buchgeschichte. Markiert in Faulstichs Modell der Buchgeschichte die Ablösung der Rolle und anderer Schriftträger durch den Kodex die entscheidende buchgeschichtliche Zäsur, so finden sich demgegenüber auch Überblicksdarstellungen, welche die Buchgeschichte bereits mit den älteren Schriftträgern beginnen lassen und die Differenz zwischen Kodexformat und anderen Formaten entsprechend weniger stark gewichten (einen Überblick bietet etwa Kunze 1983). Zudem kann auch innerhalb der Geschichte des Kodex anders akzentuiert werden, etwa durch stärkere Differenzierung zwischen der Ära manuellen Schreibens und der Ära des Buchdrucks. So ist etwa für den Kommunikationstheoretiker Michael Giesecke die historische Wende vom handgeschriebenen zum gedruckten Text bzw. Buch mindestens ebenso einschneidend wie die zwischen oraler und literaler Kultur.65 Giesecke spricht von der „Wiedergeburt der Wissenschaft als Subsystem des typographischen Informationssystems“ (Giesecke 2006, S. 665–681); leitend ist die These vom wechselseitigen Bedingungsverhältnis zwischen Buchdruck und spezifisch neuzeitlicher Wissenskultur. Im Abschnitt über „Informationstransformationen in der typographischen Kultur“ (ebd., Kap. 6.7, S. 656–662) finden sich die Folgen des durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelösten „typographische[n] Kreislaufs“ und dessen „Eigendynamik“ als ebenso weitläufig wie tiefgreifend dargestellt:  





Immer mehr neue Informationen müssen dem System zugeführt werden, damit es am Laufen bleibt. […] Die Speicher mit den ausgedruckten Informationen wachsen von Jahr zu Jahr, die Bibliotheken und Buchsammlungen verbreitern und vergrößern sich. Nicht mehr das Bewahren

65 „Die Einführung der Schrift führte weder praktisch noch im Bewußtsein der Zeitgenossen zur Verdrängung der oralen Formen der Abwicklung sozialer Geschäfte. […] Erst die Durchsetzung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit führte zu anderen, nämlich den bis heute vertrauten Hierarchien. Erst im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert wird die Abwertung oraler Informationen zu einer von breiten Schichten getragenen Erscheinung […]. Diese als ‚Wissen‘ bezeichnete und sowohl der ‚Erfahrung‘ als [auch] der ‚Kunst‘ gegenübergestellte Information ist die ‚Wunschmaschine‘, von der man sich Aufklärung und bürgerliche Wohlfahrt versprach.“ (Giesecke 2006, S. 33)  



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von Informationen, wie dies in den oralen und skriptographischen Kulturen der Fall war, sondern ihre Akkumulation und der möglichst rasche Umschlag werden zum Leitprinzip der modernen Kultur./Die Suche nach typographisch verwertbaren Informationen erfaßt […] alle Lebensbereiche. (ebd., S. 660f.)  

Zu diesen vom Buchdruck maßgeblich geprägten Lebensbereichen gehören auch der Alltag und sein Wissen. Das gedruckte Buch als neues Medium „wird eingesetzt, um den Menschen den Verstand selbst von solchen Dingen und Vorgängen nahe zu bringen, die sie gut kennen“; praktische Ratgeber und alltagsrelevante Informationsbücher nehmen an Beliebtheit und Verbreitung zu. MSE

A 3.2 Geschichte und historische Konzepte des Buchs im Spiegel von Buchwerken Künstlerbücher, Buchplastiken und buchliterarische Werke nehmen vielfach direkt oder indirekt auf frühere Phasen der Buchgeschichte Bezug, sei es als Hommage an Traditionen oder Innovationen, sei es auch in spielerisch-selbstironischer Mimikry. So erinnern manche Buchwerke an die Vorläufer des Kodex: an die Rolle, aber auch an noch ältere und früher gebräuchliche Typen von Schriftträgern. So finden sich unter den auf der documenta 1977 gezeigten Buchwerken diverse Objekte, die an Formen vor und jenseits der Kodex-Kultur erinnern, etwa Michael Baduras Nummer 60 der Zellenbücherei (Kat. Ausst. 1977, S. 300f.), ein in einzelne Blätter zerlegtes Buch, dessen Blätter sich gerollt haben und als Arrangement einer Kollektion von Buchrollen ähneln. Objekte von Timm Ulrichs spielen auf steinharte Textträger und auf die Kunst des Handlesens, also auf materielle ‚Konkurrenten‘ des Buchs aus Pergament oder Papier an (vgl. ebd., S. 346f.: Concrete Poetry und Handlese-Kunstbuch). Unter dem Sammelbegriff „Bücher aus der Natur“ präsentiert Dominique Moldehn in ihrer Monografie zu Künstlerbüchern (Moldehn 1996) diverse Buchobjekte, die natürliche Materialien als Schriftträger nutzen und exponieren: Holz, Pflanzenteile, Blätter, Knochen etc. (vgl. ebd., S. 67). So setzt sich Elisabetta Guts Libro-Foglia (1980) aus Teilen von Magnolienblättern zusammen (ebd., S. 70, Abb. S. 68), das Rippenbuch Inge Prokots besteht aus Rippenknochen (ebd., S. 71), ihr Henry Moore Book (1980) aus einem beschrifteten Knochenstück (ebd., S. 72). Als ironisch-verspielter Brückenschlag zwischen natürlich-atavistischen Schriftträgern und moderner Medientechnologie präsentiert sich Thomas Virnichs TV (1986), ein aus Holzbrettern zusammengesetztes buchförmiges Arrangement. Insgesamt schließen viele Buchobjekte durch die Verwendung spezifischer Materialien aus natürlichen oder architekturgeschichtlichen Kontexten an Praktiken des Lesens und Schreibens an, wie sie Vorläufer und Konkurrenten des Kodex stimulieren. Buchrollen und gerollte Buchteile tauchen dabei ebenso in vielen Varianten auf wie massive Träger von Inschriften. Ein kleiner Berliner  













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Verlag („Round not Square“) hat sich auf die Produktion von Rotulus-Büchern (von Buchrollen) spezialisiert. Anspielungen auf Buchformen vor und nach dem Kodex. Komplementär zu den manchmal recht verspielten, manchmal von der Faszination durch atavistische Materialien und Formen stimulierten Produktion von Büchern vor dem Kodex verhalten sich die – meist ironischen – buchkünstlerischen Verweise auf die Ära nach dem Kodex, die Epoche der technischen Medien und digitalen Textträger. Andy Warhol hat in sein Index Book eine Schallplatte eingeklebt (vgl. Kat. Ausst. 1978, S. 73). Unter dem Titel Lucy in the Sky hat Peter Malutzki ein Künstlerbuch geschaffen, das wie ein Mobiltelefon aussieht. Zum Anlass der Auseinandersetzung mit Buchgeschichtlichem werden für neuere Buchkünstler aber auch frühe Phasen der Kodex-Geschichte. So erinnern manche buchkünstlerische Arbeiten durch ihre aufwendige grafische Gestaltung, durch Seitenlayout und Illuminationen an frühe Kodizes; Tom Phillips nimmt auf diese Phase der Buchkultur und ihre Techniken in A Humument und Dante’s Inferno vielfältigen Bezug. Andere Buchkünstler erinnern an das Format des Stundenbuchs als einen frühen Buchtypus (vgl. Teil B 1.4). Insgesamt bildet die von Historikern unterschiedlich (re-)konstruierte Buchgeschichte als Geschichte technischer Entwicklungen, funktionaler und ästhetischer Ausdifferenzierungen einen maßgeblichen Bezugshorizont des künstlerisch-gestaltenden Umgangs mit Büchern und mit buchähnlichen Objekten. Die Geschichte des Taschenbuchs und die Geschichte buchkünstlerischer Arbeiten sind auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft. Erstens fällt die Künstlerbuchbewegung in die große Zeit des Taschenbuchs, und zumindest ein Teil der Buchkünstler zielt – orientiert am Taschenbuch – auf Werke in möglichst großen Auflagen, um das Künstlerbuch als ‚demokratisches‘, prinzipiell jedem Interessenten zugängliches Multiple vertreiben zu können. Zweitens bieten sich die billigeren Taschenbücher besonders als Bearbeitungsgrundlage für Buchkünstler an, insbesondere, wenn es um die Herstellung mehrerer Exemplare geht. Die Taschenbuchästhetik mit ihrem einfachen Papier- oder Pappeinband beeinflusst drittens Künstler wie Dieter Roth, die Künstlerbücher aus recyceltem Papier herstellen.  









Spiel- und Sonderformen des Kodex. Auch verschiedene Kodex-Sonderformen (Kettenbuch, Beutelbuch, Leporello, Buch mit Falteinlagen etc.) werden zum Gestaltungsmuster für Buchwerke und damit zu ihrem Thema. Als eine mit dem Kodex verwandte Materialisierung der Schrift- und Buchkultur sind auch die Loseblattsammlung, der Zettelkasten und der Kodex ohne Bindung ergiebige Modelle buchkünstlerischer Gestaltung – also lose Kollektionen mit in der Regel beschrifteten Papierobjekten, die entweder ‚noch kein Buch‘ oder ‚kein Buch mehr‘ zu sein scheinen. In literarischen Texten werden Alternativen zum Kodex zum einen thematisiert – und zwar nicht selten im Zeichen der Fiktion, der im Buch lesbare Text beruhe auf entsprechenden Nochnicht- oder Nicht-mehr-Büchern, etwa wenn der Text eines Romans angeblich auf verstreuten und wieder zusammengelesenen hypotextuellen Fundstücken beruht – oder  





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zum anderen, wenn ein Roman von defekten Büchern erzählt und deren Inhalte in ihrer Defizienz in die Rahmenerzählung integriert (wie in Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (Calvino 1979; vgl. Teil E 1.20)). Beispiele für literarische Werke aus losen Blättern oder losen Kapiteln sind seit den 1960er Jahren bis in die jüngere Zeit hinein entstanden – so bei Bryan Stanley Johnson (The Unfortunates, 1969), Marc Saporta (Composition No. 1, 1962), Francis Nenik (XO, 2012). Zettelkästen werden als Materialisationen literarischer Produktivität publiziert – so im Fall von Lev Rubinštejn (Programm der gemeinsamen Erlebnisse. Kartothek, 2003a; vgl. auch Vladimir Nabokovs Pale Fire in der Karteikarten-Version und Das Modell für Laura als Textausgabe mit integrierten Faksimiles der Karteikarten, auf denen er fixiert wurde). Das Leporello lädt zur Inszenierung von Texten – insbesondere auch von Gedichten, aber auch von Bildserien ein. Horst Janssen hat, inspiriert durch Leporelloformate aus der asiatischen Buchkultur, verschiedene Leporello-Bücher geschaffen, die neben reproduzierten Bildern auch Texte des Künstlers enthalten (Kat. Ausst. 2002a). MSE  







A 3.3 Metaphern des Buchs und das Buch als Metapher Ivan Illichs Rekonstruktion verschiedener historischer Lese-Kulturen zeigt insgesamt, wie Objekte, Praktiken und Konzeptualisierungen des Lesens einander wechselseitig auf profilierende Weise bedingen. Zu den Konzeptualisierungen gehören dabei auch die jeweils dominanten Metaphoriken des Lesens. Entsprechend werden Metaphern des Lesens (und damit eben auch Metaphern des Buchs) ebenfalls zu signifikanten Indikatoren der jeweiligen Lesekultur und damit der Kultur insgesamt. Die ‚Text‘-Metapher geht Illichs These zufolge auf eine Auffassung des Sprechens (auch des poetischen Sprechens) zurück, die noch nicht dem Modell der schriftlichen (und schriftgebundenen) Kombination von Elementen verpflichtet ist (Illich 2010, S. 44, 57). Eine weitere variationsfähige Grundmetapher ist die des Essens als Einverleibung (vgl. ebd., S. 58, 60). Illich verweist auf eine ganze Reihe von Varianten der Essmetapher bei theologischen Autoren des Mittelalters, die sich vor allem auf die Lektüre der heiligen Schrift beziehen (ebd., S. 58). Ihm zufolge leitet sich die Neigung mittelalterlicher Leser zu einer ‚geschmacklichen‘, d. h. sinnlichen Perzeption von Texten daraus ab, dass damals noch laut gelesen (das Gelesene murmelnd artikuliert) und die Lektüre von Körperbewegungen begleitet wird (ebd.). Der Wechsel vom einverleibenden zum strukturorientierten, vom monastischen zum scholastischen Lesen erscheint zudem als ein Wechsel vom nicht-individuellen zum individuellen Lesen, durchgeführt vom Einzelnen auf besondere Weise und vor allem: im Inneren des Lesers (ebd., S. 86). Dieser Individualisierung des Umgangs mit dem Buch kommt wohl auch die im Lauf des Mittelalters wachsende Handhabbarkeit des Kodex entgegen. Erst jetzt entsteht „das wirklich tragbare Buch“ (ebd., S. 100). Eine neue wichtige Metapher des Lesens ist die der Bewegung im Buchraum.  











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Gerade anlässlich von Buchmetaphern verdichtet sich die reflexive Auseinandersetzung mit dem Buch in literarischen wie in buchkünstlerischen Kontexten. Dabei kann das Buch sowohl als Spender wie auch als Empfänger der jeweiligen Vergleichsvorstellung dienen. Metaphoriken, in denen anderes – allem voran die Welt selbst – als Buch interpretiert wird, haben auf literarische Texte und buchkünstlerische Arbeiten ebenso stimulierend gewirkt wie ihre Gegenstücke, also Metaphoriken, die das Buch selbst beschreiben, indem sie es mit etwas anderem analogisieren. Künstlerische Buchgestalter knüpfen vielfach an tradierte metaphorische Konzepte und Allegorien an (Schmitz-Emans 2016a). So materialisieren sich Buchmetaphern (‚Buch der Natur‘, ‚Buch der Geschichte‘…) und Metaphern für das Buch (als ‚Körper‘, ‚Kleid‘, ‚Behälter‘, ‚Grab‘…) sowie allegorische Funktionalisierungen des Buchs (das Buch als Allegorie des Gesetzes, als Kernmotiv allegorischer Repräsentation der Zeit, der Geschichte, der Erfahrung…). Dominique Moldehns Monografie zu Künstlerbüchern bezieht sich bereits durch ihre Kapiteltitel auf Buchmetaphern (vgl. Moldehn 1996, hier u. a. „Das Buch als Grab“).  





Bücher als Metonymien. Johanna Drucker zufolge sind Bücher generell Metaphern – Metaphern der Lebens- und Praxisbereiche, auf die sie verweisen, Metaphern der Kommunikationsformen, denen sie dienen, Metaphern der Bedeutungen, die Bücher und bestimmte Buchtypen für Individuen und für Kollektive haben, der Verheißungen, die in ihnen enthalten sind. Das Künstlerbuch nimmt laut Drucker auf diese metaphorische Dimension eines jeden Buchs Bezug und verleiht den mit ihr verbundenen Themen, Vorstellungen und Ideen ein höheres Maß an Konkretheit bzw. Wahrnehmbarkeit (Drucker 2004, S. 42). Was hier mit ‚Metapher‘ gemeint ist, ist eigentlich die Metonymie, die der Metapher allerdings eng verwandt ist und manchmal dem Metaphorischen subsumiert wird: eine Form der sinnlich-bildlichen Repräsentation, bei der das Repräsentierende selbst ein Bestandteil des Repräsentierten ist oder auf andere Weise zu ihm gehört. Drucker nennt als Beispiele solcher Metaphorik u. a.: das Taschenbuch (die paperback novel), deren äußeres Erscheinungsbild schon auf die eigene Vergänglichkeit („ephemerality“) hinweise – das traditionelle Fotoalbum mit seinen „heavy black pages“ als Konkretisierung von „Memory“ (Drucker 2004, S. 41f.), die leeren Seiten eines neugekauften Notizbuchs, die allerlei Versprechen zu enthalten scheinen – das Tagebuch, das für die Idee steht, Erlebtes und Persönliches sei es wert, aufgezeichnet zu werden – das Adressbuch mit seinen Überschreibungen – ein Palimpsest, das auf vieles verweist, das mit dem Überschriebenen zusammenhängt. In all diesen Fällen hat man es eigentlich mit Metonymien zu tun: Die jeweils genannten Bücher stehen für den Erfahrungs- und Vorstellungskreis, der mit dem von ihnen konkret gemachten Gebrauch verbunden ist.  















Buchmetaphoriken als sprachbildliche Selbstinterpretation der Buchkultur. Alphabetisierte Kulturen entwickeln vielfältige Metaphoriken des Lesens und des Schreibens, und wenn eine Leitmetapher für das Buch durch eine andere ersetzt wird,

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so kann dies unter Umständen gravierende Verschiebungen nicht nur in der Einstellung einer Kultur zum Buch, sondern in ihrem gesamten Wissenssystem anzeigen. Ein Beispiel: Ivan Illich, der die Umbruchssituation analysiert hat, welche sich im 12. Jahrhundert mit der Genese der modernen Buchseite verband, charakterisiert den Wechsel von einer eher rezeptiven zu einer konstruktiven Haltung der Buchbenutzer gegenüber den Gegenständen ihrer Lektüre durch zwei Metaphern, eine für die frühere Zeit des artikulierenden Lesens, eine für die Ära des primär visuellen und darum auch visuell strukturierten Textes, der zugleich einen neuen Willen zum Entwurf von Ordnungen sinnfällig machte: Hatte der murmelnde Leser die allein als Partitur für ihre Verlautbarung dienende geschriebene Seite noch als Nahrungsmittel erfahren, das man sich physisch einverleiben musste, so setzt sich mit der Ära des geschriebenen Textes eine konstruktive Haltung gegenüber Wissensgegenständen durch, die gut durch Architekturmetaphern charakterisiert wird: „Für sie [die Autoren des späten 12. Jahrhunderts] waren die alten Bücher nicht mehr Nahrung für die eigene Meditation, sondern Baustoff für die Errichtung neuer geistiger Gebäude.“ (Illich 2010, S. 111)  





Spielformen der Buchmetaphorik (a): Das Buch als Metaphernspender. Die Metaphorisierung von Buch und Schrift ist besonders facetten- und variantenreich; Buchkünstler nehmen darauf vielfältigen Bezug – und zwar auf verschiedene Phasen und Ausprägungsformen der einschlägigen Metaphorik. Implizit geht es dabei vielfach um Lesbarkeitswünsche – gerichtet nicht nur an Bücher und andere Schriftträger, sondern auch an das, was metaphorisch mit dem Buch bzw. mit dem Text analogisiert wird. Auch unlesbare Bücher sind dabei Auseinandersetzungen mit Lesbarkeitswünschen.  



Welt als Buch. Mittelalter und Frühe Neuzeit. Der Text bzw. das ‚Buch‘ ist eine alte kosmologische Metapher der Schöpfung, des Kosmos oder auch der Natur, deren Bedeutung sich kulturspezifisch ausdifferenziert. Die ‚Buchförmigkeit‘ dessen, was der Mensch erfahren und verstehen kann, wird in dem Maß nachdrücklicher akzentuiert, als das Buch als kulturelle Institution an Bedeutung gewinnt. Erfahrung als Lektüre zu deuten setzt laut Hans Blumenberg die „kulturelle Idee des Buches voraus, insofern es nicht mehr bloßes Instrument des Zugangs zu anderen ist“ (Blumenberg 1981, S. 10f.). Die Stoiker deuten die Natur als einen Kosmos aus Buchstaben. Plotin betrachtet die Sterne als Buchstaben, deren Bedeutungen man erschließen kann, wenn man ihre Kompositionsprinzipien versteht. Der gestirnte Himmel ist bis in die Frühe Neuzeit hinein aber auch und gerade von Astronomen als Gegenstand der Lektüre charakterisiert worden (ebd., S. 69f.). Kabbalistische Spekulationen über die Erschaffung der Welt aus Buchstaben und die Korrespondenzen zwischen dem hebräischen Alphabet und den Wesenheiten werden vor allem im Sefer Jezirah ausformuliert; die Schöpfungsenergie selbst sei in den Buchstaben erhalten geblieben; ein Zitat aus dem Sefer Jezirah (2,2) steht einem Kapitel aus Umberto Ecos Foucaultschem Pendel voran (vgl. Eco 1989, S. 44f.). Theologen des Mittelalters betrachten die Welt als ein Buch  





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Gottes. Die darin dokumentierte Aufwertung der Buchherstellung hat auch einen buchgeschichtlichen Hintergrund, insofern das Buch im Christentum zum kulturell dominanten Medium geworden ist. Augustinus liefert den frühesten bekannten Beleg für die traditionsreiche Metapher vom Buch der Schöpfung und für die Parallelisierung mit der Heiligen Schrift. In beiden Büchern offenbare sich Gott. Gott, so die Kernidee mittelalterlicher Buchmetaphorik, drückt sich in seinen Geschöpfen aus; Tiere, Pflanzen und andere Wesen können als Träger einer Bedeutung gelesen werden. Bei Hugo von Sankt Victor und Bonaventura wird die Idee einer solchen spirituellen Signifikanz und Lesbarkeit der Kreaturen weiter ausgearbeitet; Gott, so heißt es bei Hugo, habe gleichsam eine Schrift der Dinge erfunden, und sein schreibender Finger habe das Naturbuch verfasst (dazu Blumenberg 1981, S. 53). Mittelalterliche Bestiarien dokumentieren eine Übertragung der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn auf die natürlichen Wesen, die wie geschriebene Wörter als Zeichen gelesen wurden. Für Galileo Galilei ist das Buch der Natur in mathematischen Zeichen abgefasst; Zeichen sind hier die geometrischen Figuren, wie etwa Kreis und Dreieck (Galilei, Il saggiatore, Rom 1623; vgl. dazu Blumenberg 1981, S. 74). Dieses Buch zu lesen, bedeutet, die sichtbare Welt rational zu decodieren und ihre mathematischen Kompositionsprinzipien zu erschließen. Hatte der Natur-Buch-Topos im Mittelalter einen theologischen Sinn, so akzentuiert Galilei ihn als Ermutigung zur empirischen Beobachtung anstelle des Festhaltens an ungeprüftem und überholtem Bücherwissen (womit auch und gerade theologische Lehren gemeint sind; vgl. Blumenberg 1981, S. 71f.). In literarischen Rekursen der Renaissance und des Barock auf die Metapher von der Welt als Buch klingen aber teilweise noch religiös-metaphysische Vorstellungen nach (so bei Calderon oder in John Miltons Epos Paradise Lost); teilweise machen sich eher empiristische Modelle geltend (so in Shakespeares Antony and Cleopatra).  





Welt-Bücher in der Buchkunst. Eine Anknüpfung an die Metaphorik vom ‚Buch der Welt‘ respektive der ‚Natur‘ liegt dort vor, wo sich ein Künstlerbuch selbst als ‚Universum‘ präsentiert wie im Fall von Maurizio Nannuccis Arbeit Universum (vgl. Kat. Ausst. 1977, Abb. 330, Buchobjekt 17,8 x 12,0 x 2,3 cm, im Schuber.) Allerdings wird hier mit der Idee der ‚Lesbarkeit der Welt‘ auf programmatische und provokante Weise gespielt: Der Lederband besitzt zwei Buchrücken, lässt sich also nicht öffnen. Auf den beiden Buchrücken stehen die Titel „Universum Volume I“ bzw. „Volume II.“ Ganz konkret scheint das ungewöhnliche Buch namens Universum zu signalisieren, dass sich das Universum nicht lesen lässt – wenn man denn im Horizont der Weltbuchmetaphorik das Buch als Sinnbild der Welt versteht. Aber diese Suggestion lässt ihrerseits verschiedene Interpretationen zu: Erstens könnte Nannuccis Arbeit dem Betrachter zu verstehen geben wollen, dass die Welt unlesbar geworden ist – respektive (und das ist schon etwas anderes), dass sie aus moderner Perspektive unlesbar erscheint, dass der Lesbarkeitsoptimismus des Mittelalters und noch der Frühen Neuzeit keine Grundlage mehr hat. Ist das Buch leer oder mit Sinnlosem gefüllt? Oder verschließt es sich nur vor dem Leser, um das, was es sagen könnte, für sich zu behalten?  















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Ist Nannuccis Welt-Buch ein Kommentar zur Intransparenz der Welt für den wissbegierigen Blick der Menschen – oder eher eine Kritik an den geläufigen Formen des wissenschaftlichen Verfügens über Welt, des selbstbewussten und ausbeuterischen Zugriffs der Menschen auf das Universum?  

Texte am Himmel und auf der Erde. Der Sternenhimmel gehört traditionell zu den wichtigsten Gegenständen der ‚Lektüre‘ natürlicher Erscheinungen; Himmelserscheinungen werden seit der Antike mantisch ‚gelesen‘, und noch die säkulare neuzeitlichempiristische Naturforschung betrachtet den Himmel als ein Gefüge aus Zeichen. Daran – und spezifisch an den Natur-Leser Paracelsus – erinnert László Lakner mit einem Buchobjekt von 1976 (Kat. Ausst. 1978, S. 22f.): Paracelsus I ist ein übermaltes offenes Buch. Als Bearbeitungsgrundlage diente ein Band aus Meyers Enzyklopädie, geöffnet auf einer Doppelseite, die eine Sternenkarte zeigt. Zu den Übermalungen gehören u. a. Figuren, die an die Signaturenlehre des Paracelsus erinnern, also eines der wichtigsten Beiträger zur Metapherngeschichte der ‚lesbaren‘ Welt (ebd.: „Fifth edition of ‚Meyer’s Encyclopedia‘, opened up showing a map of the stars; partly covered with signature attempts after Paracelsus.“) Nicht nur am Himmel, sondern auch auf der Erde wird ‚gelesen‘, was besonders sinnfällig demonstrierbar ist, wenn man sich die Homonymie von ‚Blättern‘ (eines Buchs) und ‚Blättern‘ (von Pflanzen) zunutze macht. An das metaphorische Konzept vom Buch der Natur erinnert etwa Timm Ulrichs mit seinem Buchobjekt Loose Leaves (1966/69; ebd., S. 124): Die Blätter dieses Buchs sind Plastikfolien, in die lose Baumblätter gefüllt worden sind. Überhaupt lassen sich Buchwerke, die unter Verwendung natürlicher oder anderer ursprünglich nicht zum Buch gehöriger Materialien gestaltet worden sind, als Anspielungen auf den Topos von der Lesbarkeit interpretieren – insofern hier etwas, das zur ‚Welt‘ (zur Natur, zur zivilisatorischen Sphäre) gehört, offensichtlich ‚als Buch‘ präsentiert wird. Bücher, die besonders dazu einladen, in Gesichtern zu lesen, weil sie Serien von Gesichtern zeigen, lassen sich auf die physiognomische Facette der Lesbarkeitsmetaphorik beziehen. Neben Affirmationen der Lesbarkeitsidee sind aber vor allem kritische und negative Referenzen auf das ‚lesbare Gesicht‘ zu beobachten. Dafür nur ein Beispiel: Halina Jaworski hat in ihrem Buchobjekt Open for Business (1973; ebd.) eine Werbe-Broschüre mit Fotoporträts bearbeitet, diese mit Silberfarbe bemalt und die Seiten teilweise in der Mitte vertikal gefaltet. Fragmentierte Gesichter in Großaufnahmen provozieren und brüskieren zugleich das Bedürfnis, die dargestellten Personen ‚lesend‘ zu verstehen.  











Materialisierte Naturbuch-Metaphern in Buchwerken. Dominique Moldehn überschreibt ein ganzes Kapitel ihrer Monografie Buchwerke. Künstlerbücher und Buchobjekte 1960–1994 (1996) mit der Metapher vom „Buch der Natur“ und verweist auf Ernst Robert Curtius, Leo Koep und Hans Blumenberg als Metaphernhistoriker des Naturund des Lebensbuchs. Als Auseinandersetzungen mit der Naturbuchmetaphorik betrachtet Moldehn Buchwerke, die auf Sammlungen beruhen und damit auf eine Praxis der Naturaneignung verweisen (Moldehn 1996, S. 19). Wie Anspielungen auf die Meta 

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phorik von Buch, Text oder Schrift der Natur wirken u. a. Buchobjekte und Künstlerbücher, bei denen sich pflanzliche oder animalische Substanzen mit Buchformen kombiniert oder hybridisiert finden oder natürliche Substanzen behandelt werden. Manche buchförmigen Objekte enthalten ‚Natürliches‘ oder nehmen die Form von ‚Natürlichem‘ an. Beatrix Sitter-Livers Zwiebelbuch aus ineinander gelegten, nicht gebundenen Blättern gehört dazu, ein Objekt in Form eines gespaltenen Baumstamms (ebd., S. 58), ferner Michelle Stuarts Fort Ancient History, ein Objekt, das Erde enthält (ebd.). Abbildungen von Gesteinsformationen durch das künstlerisch gestaltete Buch finden sich bei Jan Cincera in Red Rock (Kat. Ausst. 1978, S. 19). Pflanzliche oder tierische Fasern, die aus einem Buch herausragen, präsentiert Helena Almeida in ihrem Werk saida negra (ebd.). Joyce Schmidt lässt in leaf and branch Pflanzliches einem buchförmigen Objekt (einer Art Leporello) ‚entwachsen‘ (ebd., S. 64). Wolfgang Nieblich gestaltet mit seinem Objekt Buchweizen ein Buch, aus dem Ähren sprießen (ebd., S. 64f.). Martin Weimar macht das Buch ebenfalls zur Erdscholle: Auf Bücher aus handgeschöpftem Papier werden Pflanzensamen gestreut, die dort dann keimen und wachsen (ebd.). Wichtig für die ästhetische Hybridisierung von Buch und ‚Natürlichem‘ sind insbesondere spezifische Formen der Papierherstellung, also die Realisierung von Büchern aus ‚naturverbundenen‘ Materialien, die dann allerdings dem Buchformat ja angeglichen werden; sie werden u. a. flach wie Papier (ebd., S. 66). Eine besondere Gruppe von Arbeiten nennt Moldehn „Bücher aus der Natur“: Objekte, bei denen gefundene ‚natürliche‘ Materialien den Buchkörper bilden. Elisabetta Guts Seedbook (1979) etwa besteht im Wesentlichen aus einer getrockneten exotischen Frucht (Moldehn 1996, S. 70, Abb. S. 69). Moldehn spricht bilanzierend zu diesem Typus des ‚Buchwerks‘ von einer ‚symbolischen‘ Dimension: „Der funktionslos gewordene Stoff aus der Natur übernimmt die Aufgabe, Symbol für Bewegung und Wachstum, für Lebendigkeit zu werden“ (ebd., S. 75). Daran, dass das ‚Buch der Natur‘ Pendant oder auch Konkurrent der Bibel ist, erinnert Michael Badura mit seinem Buchobjekt The Bible. The Catholic-Protestant Total Work of Art (1969; vgl. Kat. Ausst. 1978, S. 35). Die Seiten dieser ‚Bibel‘ sehen alle gleich aus: Fotografien zeigen ein Stück Waldboden, mit Tannennadeln bedeckt. Ein Plastiksack mit Tannennadeln ist in jedes der 25 Exemplare eingeklebt.  





















Lebensbücher. Die Vorstellung eines Lebensbuches, in dem die Schicksale der Menschen und andere sie betreffende Dinge im Voraus fixiert sind, ist verschiedenen Kulturkreisen geläufig. Davon zu unterscheiden sind Bücher, in denen während der menschlichen Lebenszeit protokolliert wird, was der Einzelne tut. Die Idee himmlischer Lebensprotokolle datiert bis in die babylonische und die persische Kultur zurück. Götter, Engel und Heilige führen Buch. Das Protokollbuch impliziert, anders als die vorab bestehende himmlische Liste, dass der Einzelne sein Handeln selbst zu verantworten hat und einst gemäß seiner Schuld oder Unschuld abgeurteilt wird. Wer im Buch des Lebens nicht stehe, werde wie nicht gewesen sein, so resümiert Hans Blumenberg, der eine Verbindung zu neuzeitlich-säkularen Behörden herstellt (Blumen-

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berg 1981, S. 23). Titelgebend wird die Metapher vom ‚Buch des Lebens‘ wohl vor allem in Anspielung auf das individuelle Lebensbuch bei Jochen Gerz: Das Buch des Lebens (La Mort) (1974/1975; Holzkasten, Glas, Papier. In: Kat. Ausst. 1989, S. 33). Der aufrechtstehende Holzkasten ist an der Vorderseite mit einer semitransparenten und gesprungenen Glasplatte verschlossen. Im Hintergrund des Kastens wird eine Seite sichtbar, die wie ein Schulheftumschlag mit Etikett aussieht, auf dem Etikett steht „la mort“. „Das Buch des Lebens“ hat Gerz auf die Rückseite geschrieben. Das Objekt ist vieldeutig und rätselhaft, ruft aber eben darum die Erinnerung an den Topos vom Lebensbuch in seinen verschiedenen Spielformen auf.  



Lebens-Buchführer. Als Autobiografen schreiben die Menschen ihre Lebensbücher selbst. Damit verbinden sich große Ansprüche: in seinem Handeln und Verhalten besser verstanden zu werden, sich selbst in seinem eigenen Wesen zu offenbaren, sich vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Vor allem versprechen ‚Lebensbücher‘, seien sie von eigener oder fremder Hand, dass der Beschriebene nicht so schnell vergessen wird. Bücher, die man über sich selbst führt, sind materialisierte Sinnbilder der Erinnerung. Heide Lindecke knüpft mit einer Bucharbeit an das Konzept des Erinnerungsbuchs als einer wichtigen Spielform des ‚Lebensbuchs‘ an. Sie überarbeitete ein Memoirenbuch aus dem 19. Jahrhundert, die Memoires du Duc du Montpensier, so auch der Titel des Objekts (Kat. Ausst. 1978, S. 24f.). Das ledergebundene Buch ist mit Wasserfarben bemalt; dadurch werden Teile des Textes unlesbar, Seiten sind bekleckst. Solche Bearbeitungen (Lindecke hat noch andere ähnliche Objekte geschaffen) changieren hinsichtlich ihres Effekts: Sie wirken wie Eingriffe, die die Abwesenheit des ursprünglichen Autors besiegeln – aber auch wie Revitalisierungen vergessener Bücher. Irma Blank hat mehrere Bücher gestaltet, deren Seitengestaltung zwar an die von Tage- oder Briefbüchern erinnern, dabei aber keine lesbare Schrift mehr tragen; die Schriftzüge sind auf gleichförmige gewellte Linien reduziert, die sich auf den Seiten verteilen wie die Elemente von Briefen oder Tagebuchnotizen. News (1976), Epistolario (1976) und Promemoria suggerieren eine kontinuierliche Buchführung über Persönliches und spielen mit Lesbarkeitswünschen, die sie dann enttäuschen (ebd., S. 36f.).  







Der Mensch als Buch. Die Metapher vom Leben der Bücher sowie ihre Komplementärmetapher vom buchartigen Charakter lebendiger Wesen haben ebenfalls ein facettenreiches buchkünstlerisches Echo gefunden – in den Spuren früherer malerischer und druckgrafischer Arbeiten. Giuseppe Arcimboldos berühmter Bibliothekar, aus Büchern und Leseutensilien zusammengesetzt, ist die vielleicht berühmteste allegorische Gestalt auf der Basis der Metaphorik vom Bücher-Leben; ganz evident repräsentiert er eine Büchergelehrsamkeit, deren Konsequenz in seiner zugleich anthropomorphen und buchgestaltigen Erscheinung sinnfällig gemacht wird: Wer viel liest, wird selbst zum Buch. Ähnliche Kreaturen hat die Buchkunst hervorgebracht; auch diese sind, wie Arcimboldos Bibliothekar, zusammengesetzt aus Bauelementen, die jeweils für sich Zeichencharakter besitzen. Ob das ‚Buch-Sein‘ dabei positiv oder negativ konnotiert  

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ist, lässt sich nicht entscheiden – ebenso wenig wie die Frage, ob hier eine Metamorphose vom Mensch zum Buch oder deren Gegenteil angedeutet ist. Brian Dettmers Buchskulptur Tab (auch: The Boy Who Knew Too Much; 2005) entstand aus einer Kollektion von Enzyklopädien; die Einzelbände wurden aufeinandergestapelt und die Buchkörper wurden so skulptiert, dass sie die plastische Gestalt einer männlichen Figur ergeben. Da die Bucheinbände unverändert blieben, wirkt der aus geformten Papierblöcken zusammengesetzte Boy wie von den Einbänden zerschnitten (vgl. Stewart 2011, S. 16, 19; zum Vergleich ist Arcimboldos Bibliothekar abgebildet; vgl. ebd., S. 18). Aus skulptierten Holzplatten montierte Wolfgang Nieblich sein Buchobjekt Still Life, das die Form eines Kopfes hat. An die Stelle der Augen oder der Brille ist quer zu den senkrechten Platten ein Buchkörper eingefügt (Stewart 2001, S. 20). Martin Schwarz hat eine Reihe von Buchobjekten gestaltet, die menschlichen und tierischen Körperteilen ähneln und dabei suggerieren, dass diese ein Eigenleben führen. Buch-Tier-Hybride und Buch-Pflanzen-Hybride sind auf analoge Weise dem Topos vom Leben der Bücher evidenterweise verpflichtet (vgl. dazu diverse Beispiele in Schwarz 2008).  







Abb. A 4: Brian Dettmer: Tab (aka The Boy who knew too much). Buchobjekt, 2005. Detail.  

Spielformen der Buchmetaphorik (b): Metaphorische Bespiegelungen des Buchs selbst. Das Buch ist nicht allein ein in der Metapherngeschichte der abendländischen Buchkultur auf facettenreiche Weise genutzter Metaphernspender, sondern es wird selbst auch durch Metaphorisierungen charakterisiert und interpretiert. Und auch an solche Metaphorisierungen schließen die Schöpfer von Buchwerken an – zitierend, manchmal parodistisch, oft auch im Zeichen weiterer Ausdifferenzierung.  

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Das Buch als Leib – der tote oder lebendige Körper. Der Terminus Körper bezeichnet aber nicht nur physikalische dreidimensionale Objekte, sondern insbesondere auch den Körper als Organismus, als Träger und Ausdrucksmedium organischen Lebens, ja als Ausdrucksmedium von Lebensbekundungen, die selbst nicht als körperlich gedacht werden. Ivan Illich hat daran erinnert, dass bereits Hugo von Sankt Viktor zwischen dem Körper des Menschen und dem Buch eine Verknüpfung herstellt, indem er als den Vorläufer des Buchs die schlichte Tontafel bezeichnet, die aus Lehm hergestellt ist wie Adam selbst (Illich 2010, S. 53). Daraus leitet er die Ermahnung ab, die ‚harten Brocken‘ der Schrift aufzunehmen und zu verdauen (ebd., S. 53f.). Mit der metaphorischen Deutung des Buchs als eines in diesem Sinn verstandenen Körpers schließt die Buchmetaphorik an eine lange Tradition der Gegenüberstellung von Materie und Leben sowie von Körper und Geist an. Der materielle Körper kann im Horizont dieser Tradition sowohl als bloße äußere Hülle, ja als Gefängnis des in ihm ‚eingeschlossenen‘ Lebens gelten wie auch als dessen genuines Ausdrucksmedium. Eine enge Beziehung besteht zwischen metaphorischen Bespiegelungen des Buchs im Horizont des Körper-Geist-Modells und der Geschichte theoretisch-metaphorischer Spekulation über die Schrift. Gefesselt wie ein lebendiges Wesen, das nicht ausbrechen soll, erscheint der Buchkörper in Konrad Balder Schäuffelens Conradi Balderi Paliculae Liber Catenatus Tomus Secundus (1970, in: Kat. Ausst. 1978, S. 121): Der Buchkörper ist mehrfach mit Ketten umwunden.  







Abb. A 5: Konrad Balder Schäuffelen: Conradi Balderi Paliculae Liber Catenatus Tomus secundus. Buchobjekt, 1970.  

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Seltsame Lebewesen. Wie eine Art Golem wirkt Bernard Schultzes Book-Migof (BuchMigof) von 1976. Die 49 x 35 x 74 cm messende buchförmige Skulptur wurde aus Draht, Kleidung, Plastikteilen und Ölfarbe geschaffen.66 Eine Reminiszenz an die Idee des lebendigen Buchs knüpft sich an Ursula Schultze-Bluhms Buchobjekt Lovecraft (1967, ebd., S. 30). Ein Exemplar von Howard Phillips Lovecrafts Das Ding auf der Schwelle wurde mit Ölfarbe übermalt; der Buchkörper wurde ergänzt durch Federn, Fell, Zähne und einen Babyschuh. In der Titelerzählung von Lovecrafts Buch kehrt eine Tote, bedingt durch Magie, in weitgehend verwestem Zustand auf die Schwelle ihres Hauses zurück. Der Reliktcharakter der dem Buch angeklebten Gegenstände, zumal der von einst lebenden Körpern stammenden, signalisiert ironisch eine Wiederkehr ‚aus dem Buch‘. Timm Ulrichs hat mit seinem Hand-Art-Book (1966–1977) ein Buch aus zwei Händen geschaffen (ebd., S. 124f.): Die Bronzeabgüsse seiner eigenen beiden Hände wurden so aneinander befestigt, dass sie wie ein Buch aufklappen. Die an der Innenseite der Hände sichtbaren Handlinien werden im Katalogtext als „a lifelong hand-written diary written into the hands“ bezeichnet (ebd.).  













Das Buch als Grab. In den metaphorischen Horizont, der durch die Gegenüberstellung von ‚toten‘ Schriftzeichen und ‚lebendigen‘ Wesen eröffnet wird, gehört die Vorstellung vom Buch als einem ‚Grab‘: als einem Ort, der keinen ‚lebenden‘, sondern einen ‚toten‘ Körper beherbergt. Zum einen ist die Metapher vom Buch-Grab in dem Sinn allegorisch eingefärbt, dass sie den Relikt-Charakter von Büchern betont (Moldehn 1996, S. 20). Zum anderen verweist sie aber auch auf die Hoffnung, das BuchGrab möge zumindest die Erinnerung an den Autor aufrechterhalten, wenn dieser selbst einst nicht mehr lebt. Das Funerarbuch – der in Buchform gestaltete Gedenkstein – wird im 20. Jahrhundert zu einem konventionellen Bestandteil der Ausstattung von Gräbern (Metken 1979; Gerz 1976). Jürgen Brodwolf formt analog dazu Bücher zu ‚Gräbern‘ um, in denen kleine Figuren liegen. Brodwolfs Arbeit Poetengrab (1975) besteht aus einem Buchblock, dessen Seiten zusammengeleimt sind, so dass sich ein fester Körper ergibt. In den Buchblock wurde ein mehrfach gestufter rechteckiger Hohlraum gegraben; in diesen wurde eine zerquetschte Farbtube gelegt, deren Form an die einer menschlichen Figur in Bandagen, eine Art Mumie, erinnert. Der Buchblock ist mit einer Glasplatte bedeckt (Kat. Ausst. 1978, S. 110).  









66 „Migof“ nannte Schultze die dreidimensionalen phantastischen Gebilde, die seine surrealistisch inspirierte Vorstellungswelt bevölkern und verschiedentlich dargestellt wurden. Unter dem Titel Die Welt der Migofs gestaltete Schultze 1974 ein Buch in Pappumschlag, den Katalog einer gleichnamigen Ausstellung in der staatlichen Kunsthallte Baden-Baden vom 18.10.–24.11.1974. Auf dem vorderen und dem hinteren Buchumschlag ist je ein dreidimensionaler „Migof“ angebracht.

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Abb. A 6: Jürgen Brodwolf: Poetengrab. Buchobjekt, 1975.  

Mummified book nennt Servie Jansen ein Buchobjekt von 1976 (ebd., S. 117). Ein Buch wurde in einem Acrylglasbehälter ‚begraben‘. Hubertus Gojowczyks Arbeit Goethes Werke von 1969 nimmt indirekt Bezug auf die Vorstellung vom Buch als einem Aufenthaltsort toter Körper (ebd., S. 14f.). Auf die Bände einer in grünes Leinen gebundenen und mit Goldprägungen versehenen Goethe-Gesamtausgabe wurden Teile einer zerlegten Puppe montiert. Der auf den Buchkörper genagelte kopflose Puppenkörper wirkt doppelt ‚tot‘. Einem analogen Bildhorizont verbunden ist auch Hubertus Gojowczyks Buch mit zwei Augen (ebd., S. 35): Aus einem aufgeklappten (u. a. mit Scriptol und Deckweiß) bearbeiteten Buchkörper schauen den Betrachter zwei einmontierte Glasaugen an.  







Das Buch als Nahrungsmittel. Die metaphorischen Analogisierungen bzw. Vergleiche zwischen Lektüre und Nahrungsaufnahme korrespondieren dem Umstand, dass für die Kompetenz zu ästhetischer Erfahrung und ästhetischem Urteil noch heute derjenige physische Sinn seinen Namen herleiht, der beim Essen aktiviert wird: der Geschmack. Mit dem (in Texten und auf Bildern oft gestalteten, physisch hingegen doch eher schwierigen) Essen eines Buchs findet in ganz handgreiflich-konkreter Weise ein Akt der Einverleibung statt. Der Leser eignet sich das geistige Gut eines anderen (des Autors) an und macht es sich zu eigen. Die metaphorische Analogisierung des Buchs mit einem Nahrungsmittel impliziert die Vorstellung einer radikalen Verinnerlichung des Gelesenen und eignet sich daher als programmatisches Bild der Lektüre von Schriften, die in das Leben des Lesers tief eingreifen. Insofern ist es kein Sakrileg, sondern sogar geboten, heilige Texte zu verschlingen. Das Bild findet sich bereits im Alten Testament belegt. Als der Priester Ezechiel (Hesekiel) im Land der Chaldäer den Herrn selbst in seiner Herrlichkeit sieht, befiehlt ihm dieser, das Volk Israel zurechtzuweisen – und er bietet ihm eine Schriftrolle als Nahrung an. Auch in der Johannes 

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Apokalypse wird ein Buch verschlungen. Der heilige Johannes auf Patmos, der seine Vision aufschreiben will, bekommt es von einem Engel dargeboten, während ihn eine donnernde Stimme auffordert, nicht zu schreiben, sondern das Buch zu empfangen. Da im Mittelalter der Text der Johannes-Apokalypse besonders intensiv rezipiert wurde, prägte sich seine Bildsprache nachhaltig ein, und noch der 1497 von Albrecht Dürer geschaffene Holzschnitt, auf dem Johannes das Buch verschlingt, dokumentiert ihre Wirkung. Rekurse des 20. Jahrhunderts auf die Lese-Essmetapher sind stark säkularisiert. Raymond Federman integriert in seinem typografischen Roman Double or Nothing (1971; vgl. Teil E 1.16) diverse Gedichte in Nudelform, abgestimmt auf den Inhalt, in dem Nudelvorräte als Lebensmittel eine wichtige Rolle spielen. Herbert Zangs hat ein Pizza-Bag-Book (1976) und ein Baguette-Book (1976) geschaffen (Kat. Ausst. 1978, S. 106): Erstes besteht aus Pizza-Verpackungen, bei letzterem wurden Baguette-Verpackungen verarbeitet. Rolf Dittmar kommentierte die auf der documenta 6 gezeigten Buchobjekte, indem er auf das Bild des Bücher-Essens anspielte: „Ein Buch ist nicht nur Lesegrießbrei“ (Dittmar 1977b).  



Angerichtete Buchmahlzeiten. Dieter Roth (Diter Rot) hat die Idee der Buch-Mahlzeit wiederholt beim Wort genommen – und dabei im Sinne der Distanzierung vom „Lesegrießbrei“ eher ‚unverdauliche‘ Mahlzeiten angerichtet. Poeterei (1968, in: Kat. Ausst. 1977, S. 338, Abb. 339) besteht aus 38 Stammrollbeuteln in einer Holzkiste und wurde in sieben Exemplaren realisiert. Poemetria (1968) ist seinerseits eine Vorzugsausgabe der Nr. 4 der Poeterei; eine Restauflage erschien 1970, ausgewiesen als Puddingbücher. 1961 entstand eine erste Literaturwurst; in den Jahren 1966 bis 1970 folgten weitere. Quick (1970) heißt eine Literaturwurst von 33 cm Länge aus Papier in Plastikbeuteln. Im Katalog Buchobjekte zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau (1980) finden sich mehrere Objekte Roths abgebildet, verbunden mit dem Rothschen Motto: „Mein Auge ist ein Mund und mein Mund ist ein Auge“ (Kat. Ausst. 1980, S. 83). Mit Roths Objekt Hegels Werke in 20 Bänden. Bücher, Wursthaut, Gewürze (1961/1974) wird eine Serie von Büchern verwurstet.  











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Abb. A 7: Dieter Roth: Hegels Werke in 20 Bänden, Objekt (Bücher, Wursthaut, Gewürze, 1961/1974).  

Hubertus Gojowczyk knüpft an die Ess-Metapher mit verschiedenen konkreten Buchobjekten an (vgl. Kat. Ausst. 1975). Neben dem Herrichten von Büchern zu ‚Mahlzeiten‘ fallen vor allem Kombinationen von Buch und animalischer Materie auf, so Buch mit Fischhaut (ebd., Nr. 50, unpag.) und Hommage à Diter Rot (ebd., Nr. 20); letzteres besteht aus einem mit Resten einer Mahlzeit kombinierten, eingeweichten und partiell verschimmelten Buch. Fladen ist ein als Fladen zugerichtetes Buch (ebd., Nr. 25, „Buch eingeweicht, geknetet, ausgebreitet“, 1971). Weitere Buch-Mahlzeiten sind ähnlich angerichtet. Gojowzcyk gebe den Büchern, indem er sie auf eine ganz neue Art zu lesen lehre, ein Stück ihrer lange vergessenen Aura zurück, die sie im Zeitalter des Bestsellerkonsums verloren haben, so kommentiert Eberhard Freitag diese Arbeiten (ebd.). In Martin Schwarz’ buchkünstlerischen Arbeiten findet sich eine erhebliche Zahl von Nahrungsmittel-Buch-Hybriden: Bearbeitete Bücher und buchförmige Objekte werden auf Tellern angerichtet; miteinander verschmolzen finden sich Buchkörper und die Körper essbarer Tiere; erkundet werden Ähnlichkeiten und Übergänge zwischen Büchern und Mahlzeiten.  





Das Buch als flüssige Materie. Dem Thema Buch als Bach (Gewässer) hat die Buchkünstlerin Gundi Feyrer einen Text gewidmet: Man kann ein Buch wie einen Bach in die Hände nehmen (Feyrer 2010). Festigkeit und Flüssigkeit sind die (auch metaphorisch signifikanten) Pole, zwischen denen eine Arbeit von Gotthard Graubner changiert: Si-

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ckerbuch. Hommage à Ungaretti (1964; Kat. Ausst. 1978, S. 49). In dem 37-seitigen Buch, das mit Ölfarbe auf flüssigkeitsdurchlässigem Papier gestaltet wurde, durchdringen einander die Farben Rot und Grün bis zur Buchmitte sukzessiv stärker. Eine geschriebene Hommage an Ungaretti besteht aus einem Zitat, das den hier abgebildeten Prozess der wechselseitigen Infiltration von Farben metaphorisch auslegt: „Jede Farbe breitet sich aus und gibt sich auf in den anderen Farben/um einsamer zu sein wenn du hinsiehst. Ungaretti“ (ebd., S. 49). Vera Röhm ist auf der Teheraner Ausstellung mit zwei Wasserbüchern vertreten gewesen: mit Waterbox (1977, ebd., S. 121), einem Objekt aus einem Buchblock, in den ein mit Wasser gefüllter Acrylglaswürfel eingefügt ist, sowie mit The River Pegnitz in Nurnberg, bestehend aus Papierseiten, deren jede ein Farbfoto des Flusses Pegnitz trägt (ebd., S. 120). Prozesse der Flutung prägen eine Arbeit von Anselm Kiefer: The Flooding of Heidelberg (1969, ebd., S. 57). Die Seiten eines vorwiegend mit Fotos beklebten und mit Ölfarbe behandelten Buchs stellen das Konzept einer ‚Überflutung Heidelbergs‘ dar. Es enthält u. a. diaristische Elemente. Die Zweite Enzyklopädie von Tlön von Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki enthält unter anderem einen Band mit dem Titel „Eau“. Ein eigenes Künstlerbuch hat Malutzki dem Rhein gewidmet.  











Hubertus Gojowczys Buch-Objekt-Metaphern. Hubertus Gojowczyk hat eine Vielzahl von Buchobjekten geschaffen, die auf Buchmetaphern (metaphorische Ausdeutungen des Buchs und Metaphern für das Buch) anspielen. Er erkundet in diesem Zusammenhang Aspekte der Materialität des Buches und seiner Gestaltbarkeit als materielles Ding, stellt zugleich aber auf metaphorisch-sprachbildlicher wie teilweise auch auf inhaltlicher Ebene Beziehungen zur Welt der Texte her. Das Objekt Der dröhnende Wald spielt auf die Metaphorik um die Natur als Buch an: Es besteht aus einem Buch und Spinnweben, ähnlich wie das Buch mit rechteckiger Öffnung (ebd., Nr. 86): Hier wurde das „Buch ausgehöhlt und mit Blei ausgeschlagen, in den Deckel eine rechteckige Öffnung geschnitten, Spinnweben und Insekten eingeklebt“ (ebd.). Gojowczyks Einstellung zum Buch als Objekt und als Institution – wie zu dem, wofür ‚das Buch‘ steht – scheint ambivalent zu sein: Seine Objekte lassen einerseits ahnen, dass kulturelle Erbschaften ein Ballast sind, gegen den man sich mit Werkzeug aller Art zur Wehr setzen möchte; andererseits sprechen manche Arbeiten von einer affirmativen persönlich-intimen Beziehung zum Buch, sie wirken wie Versuche der Verlebendigung einer ansonsten zum bloßen Informationsträger degradierten Materie. MSE  





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A 3.4 Konzepte und Ästhetiken des Buchs bei Dichtern und Buchkünstlern Paul Valéry unterscheidet in einer Abhandlung von 1926 über die beiden Tugenden (vertus) von Büchern zwischen zwei Arten des Lesens, die von zwei unterschiedlichen Eigenschaften oder Dimensionen des Textes stimuliert werden (Valéry 1995): zum einen von der Ebene, welche geistige (mentale) Tätigkeiten auslöst (von der Ebene mitgeteilter und lesend erschlossener Bedeutungen), zum anderen von der Ebene des sinnlich Wahrnehmbaren. Er beschreibt den Vorgang der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Text als einen kontinuierlichen Prozess, in dessen Verlauf der Text vom Leser gleichermaßen aufgezehrt werde – sei es, bildlich gesagt, im Sinn einer Einverleibung, sei es im Sinne eines linearen Abbrennens durch die Lektüre, ähnlich wie ein glühender Faden abbrennt. Im Horizont beider Metaphern gedacht, ist die konkret-sichtbare Dimension des Textes demnach nur da, um zu verschwinden, und ihr Verschwinden ist es, das im Inneren des Lesers etwas auslöst. In jedem Fall vollzieht sich mit dem Text eine Verwandlung: eine körperliche oder eine Freisetzung von (spiritueller) Energie durchs ‚Abbrennen‘.  

Valérys Differenzierung zwischen Lesbarkeit und Sichtbarkeit. Damit der Text vom ihn aufzehrenden Leser leicht und effizient aufgezehrt werden könne, müsse er bequem zu lesen sein, also vor allem ein deutliches Druckbild haben: Die Lesbarkeit eines Textes beruht auf seiner Deutlichkeit für das Auge./Man könnte demnach auch sagen, die Lesbarkeit eines Textes sei diejenige seiner Eigenschaften, die bestimmt ist, sein Verzehren zu erleichtern, seine Zerstörung durch den Geist, die Verwandlung in geistige Ereignisse. (Ebd., S. 467)  

Eine zweite Dimension jedes Textes ist seine sinnlich-materielle. Diese ist statisch. Valérys Gegenüberstellung der beiden Text-Dimensionen steht also im Zeichen der Differenzierung von Prozessualem und Statischem, wobei das Statische als ‚Bild‘ bezeichnet wird. Als ‚Bild‘ wird der Text auf andere Weise gesehen denn als etwas temporal ‚Verzehrbares‘, nämlich als dauerhafter Gegenstand. Die typografische Gestaltung des Textes erscheint, bezogen auf die beiden Arten, den Text zu sehen, jeweils in unterschiedlicher Beleuchtung. Bezogen auf das kontinuierliche, lineare Aufzehren des Textes vergleicht Valéry sie mit der Musik (wobei er vermutlich an eine Partitur denkt), bezogen auf die Wahrnehmung des Textes als statisches Gebilde mit der Architektur. Valéry akzentuiert tendenziell die Diskrepanz zwischen den beiden Weisen, eine Text zu sehen. So spricht er von Beispielen, bei denen der betriebene typografische Aufwand dem lesenden Aufnehmen des Textes eher hinderlich sei. Ausgehend von der Unterscheidung einer visuellen und einer zum intellektuellen ‚Verzehr‘ bestimmten Seite der Texte und Bücher, ordnet Valéry erstere dem Bereich der bildenden Kunst zu (und letztere dem der Literatur).

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Weil die Eigenschaften, die ein Buch besitzen muß, derart voneinander unabhängig sind, ist der Buchdruck zu den Künsten zu rechnen./Wo das Druckerhandwerk nur dem einfachen Lesebedürfnis genügen will, kann es der Künstler entraten, denn was die Lesbarkeit erfordert, läßt sich genau bestimmen und durch gleicherweise festgelegte und einheitliche Mittel befriedigen. Erfahrung und Untersuchung genügen, um auszumachen, welchen Grundbedingungen der Letternstecher, der Setzer und der Drucker zu genügen haben, um einen klaren und sauberen Text zu erzielen./Kaum aber erwacht in dem Buchdrucker das Bewußtsein von der Komplexität seines Werkes, so fühlt er sich alsbald aufgerufen, als Künstler zu handeln, denn dem Künstler ist es eigentümlich zu wählen, und die Wahl entspringt der Vielzahl von Möglichkeiten. […] Der Buchdrucker als Künstler befindet sich angesichts seiner Aufgabe in der gleichen verwickelten Lage wie der Architekt, den ja vor allem die Übereinstimmung der Tauglichkeit seines Bauwerks mit dessen Erscheinung beschäftigt. (Ebd., S. 468f.)  

Wie ein Architekt, so muss ein Buchdrucker also darauf achten, dass sein Werk seine Zwecke erfüllt, auch wenn es zugleich ästhetisch ansprechend sein will. In diesem Zusammenhang wird das Buch als Lesemaschine charakterisiert. […] ein schönes Buch ist eine vollkommene Lese-Maschine, deren Bedingungen sich mit ziemlicher Genauigkeit nach den Gesetzen und Methoden der physiologischen Optik bestimmen lassen; und gleichzeitig ist es ein Kunstgegenstand, ein Ding, aber eines mit eigener Persönlichkeit, das den Stempel eines besonderen Geistes trägt und das hohe Bemühen um eine ausgewogene und bewußte Ordnung verrät. (Ebd., S. 471)  

Valérys buchgestalterische Erwägungen betreffen allein die Typografie, und er bleibt dabei der Dichotomie von Geist und Körper bzw. Körper und Kleid verpflichtet. Michel Butors Abhandlung über das Buch. Butor verfasst nicht einfach Texte, er gestaltet als Schriftsteller seine Bücher, erkundet deren Strukturierbarkeit – und trägt zum Diskurs der 1960er Jahre impulsgebend bei. In seiner Abhandlung Le livre comme objet von 1964 (dt.: Butor 1990) bezieht er sich explizit auf differente Bedeutungen des Wortes ‚Buch‘ – insbesondere auf das Buch als materielles und strukturiertes Ding sowie auf das ‚Buch‘ als Synonym des Produkts der Schreibtätigkeit (und hier sowohl des wissenschaftlichen wie auch des literarischen Schreibens) – und in diesem Zusammenhang implizit auch auf das Buch als Abbild gedanklich-konzeptueller Strukturen. Insofern denkt Butor in eine Richtung, die später Illich weitergehen wird. Seine Überlegungen basieren auf der These des prägenden Einflusses von Darstellungsmedien auf das Dargestellte und damit auf die Kultur, die sich mit diesen Darstellungen beschäftigt. Er fragt angesichts der bereits in den frühen 1960er Jahren geläufigen These vom Ende des Buchzeitalters nach dem, was die Überlegenheit des Buchs ausmachen könne, und betont insbesondere die Vorteile, die der Kodex als Format gegenüber zeitlichen, linearen und irreversiblen mündlichen Darstellung biete, indem er ein simultanes bzw. rekapitulierendes Lesen erlaube (Butor 1990, S. 26). Der Grundtendenz nach geht es also nicht um die Widerständigkeit des Buchs qua materielles Objekt, sondern um die Frage, welche Materialität zur Vermittlung welcher Inhalte und Argumentationen disponiert ist. Der Vergleich zwischen Buchrolle und Kodex, der Texte in Ab 







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schnitten stapelt, lässt letzteren als flexibler erscheinen, da er Wiederholungen erleichtert und dem Leser größere „Bewegungsfreiheit“ gibt (ebd., S. 29), was nicht nur technische Vorteil hat, sondern auch die Auseinandersetzung mit den Inhalten prägt; Texte – und damit Gedanken – werden entsprechend den Möglichkeiten, die der Kodex bietet, strukturiert, arrangiert und rezipiert. Der Rotulus-Leser bewegte sich entlang linearer Strukturen; mit dem Kodex wird das Buch zum Raum, nicht nur im physischen Sinn. Die Bewegung im Buch-Raum, der sich durch die Kodexform bildet, ist auch eine mentale Bewegung.  





Der Schriftsteller als Buchraumdesigner. Umso interessanter erscheint die Frage, wie dieser Raum strukturiert ist, welche Parameter also bei der Buchgestaltung genutzt werden. Abschnittweise erörtert werden „Horizontale und Vertikale“ (ebd., S. 32–38); hier rücken vor allem Listen in den Blick, welche das Aufgezählte vertikal strukturieren, die als Vertikalen innerhalb des Buchs die Darstellungsweise und die Rezeption des Mitgeteilten prägen. Es geht ferner um die „Schräge“ (hier geht es um typografische Maßnahmen zur Verteilung von Textelementen auf Seitenflächen sowie deren spezifische Effekte) sowie um die „Ränder“ (hier verdeutlich Butor die Signifikanz der Platzierung von Texteinheiten auf der Buchseite, vor allem die ans Seitenlayout gebundene Hierarchisierung von Haupttext und Nebentexten wie Fußnote und Kommentar – wobei die am Seitenende platzierte Fußnote sich schwächer zur Geltung bringt als der Kommentar am Rand). Typografie, Textlayout und Bucharchitektur wirken insgesamt strukturierend und hierarchisierend und bestimmen so maßgeblich über Konfiguration und Rezeption der vermittelten Inhalte. Vor allem Umfang und Platzierung von Paratexten (wie Fußnoten, Marginalglossen, Kolumnentiteln) ist für den rezipierten Text sinnkonstitutiv. Insofern bildet die buchgestalterische Textpräsentation den nicht auszublendenden Rahmen der Lektüre und ihrer gedanklichen Verarbeitung. Welches Gewicht typografische Gestaltungsoptionen besitzen, erörtert Butor unter Verweis auf Mallarmé („Lettern“, ebd., S. 44–47) und dessen Differenzierungen der Schriftzeichen nach Größe, Schriftfonts etc., aber auch mit Blick auf die „Figur“, die ein Text auf der Seite stets bildet („Figuren“, ebd., S. 47f.), nicht nur im Fall visualpoetischer Sonderformen, sondern auch bei eher konventioneller (dabei aber stets auf gestalterischen Entscheidungen beruhender) rechteckiger Form. Die differenzierende typografische Behandlung von Textteilen oder -abschnitten auf ein- und derselben Seite lässt diese Seite zu einem semantisch dichten Inszenierungsrahmen werden, bei dem sich Wichtiges drucktechnisch markieren, der Text segmentieren, Zitiertes abheben lässt („Die Seite auf der Seite“, ebd., S. 48–50). Komplementär zur Linearität, die der Kodex als Abfolge von Blättern bzw. Seiten durchaus besitzt, erleichtern es der Index und das Inhaltsverzeichnis, sich quer durchs Buch zu bewegen („Index und Inhaltsverzeichnis“, ebd., S. 51f.). Die „primäre Ordnung“ der Paginierung wird durch andere Ordnungen überlagert. Autoren, deren Sensorium für die Implikationen und Semantiken von Buchgestaltung so ausgeprägt ist wie bei Butor, nutzen die Strukturmerkmale des Buchs, seine  











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Architektur, seine Typografie, seine Ordnungssysteme literarisch. Dafür nur einige Beispiele. Echo-Effekte im Buch. Das Ensemble von je zwei einander gegenüberliegenden Seiten, lässt sich für das Arrangement spezifischer Inhalte in besonderem Maße nutzen: Als „Dyptichon“ weist das Buch in der Mitte eine „Naht“ auf, die durch ihre Nutzung besonders hervorgehoben werden kann – offenkundig etwa bei zweisprachigen Textausgaben, welche die gegenüberliegenden Seiten nutzen („Diptychon“, ebd., S. 50f.). Der von Butor zusammen mit Gérald Minkoff gestaltete Bildband Echo (Butor/Minkoff 1988) nutzt die Doppelseitenstruktur des Kodex: Auf den beiden Hälften der Buchseiten finden sich jeweils paarweise angeordnete Fotos von Minkoff, die in geheimer oder offenkundiger Korrespondenz stehen – eines des anderen Echo, getrennt durch die Spalte in der Buchmitte. Zugleich gibt es ein jeweils anderes „Echo“ auf jedes Bild: die Textzeilen von Butor, die keine konventionellen Bildlegenden sind, doch eben darum einen genaueren Blick auf die Bilder stimulieren.  





Ein labyrinthischer Raum. Butors Roman L’emploi du temps (1956) entspricht den Überlegungen des Autors zur Gestaltbarkeit von Buchflächen und ihrer Signifikanz. Durch die Überlagerung mehrerer Zeit- und Erzählebenen geprägt, ist der Roman zunächst einmal ein komplexer literarischer Text. Dadurch aber, dass die Aufzeichnungen der Rahmenfiktion nach ein Tagebuch sind, nimmt der Leser zugleich wahr, wie sich innerhalb dieses ‚Tagebuchs‘ verschiedene Zeitebenen in Form verschiedener Textebenen überlagern – und durch ihre Komplexität zu einem Labyrinth werden, das der labyrinthischen Suchbewegung des Protagonisten in der Welt des Romans entspricht. Dieser Roman über einen labyrinthischen Stadt-Raum wartet mit einer so kompliziert-verschachtelten Geschichte auf, dass ein Hin- und Herblättern öfter nahegelegt wird als in konventionellen Romanen. Das Buch als lesend durchstreifter Raum wird so zum Analogon des diegetisch dargestellten Raums im Roman; die labyrinthische Struktur des Parcours nutzt und betont dadurch die Bewegungsfreiheit als Angebot des Kodex an seine Nutzer.  

Modell eines Bewegungsraums: Mobile. Butors Buch Mobile von 1962, ein Text, der vertrauten Vorstellungen über den Roman deutlich ferner steht als L’emploi du temps, nutzt vor allem die unter dem Stichwort „Schräge“ erörterten Buchgestaltungsmittel. Die Wörter, Sätze, Textabschnitte sind nicht als konventionelle Textblöcke auf den Buchseiten platziert, sondern entsprechend bestimmten Anordnungskriterien; sie ergeben Muster. Damit wird der Lese(r)-Weg durch den Buchraum konsequent ent-linearisiert. Die Textteile sind dabei Teilen des dargestellten Reiselandes USA zugeordnet, so dass die Reise durchs Buch zum Modell der USA-Reise wird. Mobile ist durch Butors Interesse an Optionen der Buchgestaltung, an der Flächigkeit und an der Räumlichkeit des Buchs geprägt. Mit diesem Buch erfolgt ein programmatischer Übergang zwischen innovativ-explorativer Textgestaltung zur dezidierten Buchgestaltung.

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Mobile (1962) entstand als Reaktion auf eine mehrmonatige Reise Butors durch die USA, die ihn durch diverse Bundesstaaten führte – und aus dem Bestreben heraus, konventionellen, als verfälschend empfundenen Berichten von Europäern über Amerika etwas anderes entgegenzusetzen (vgl. Butor 1996, S. 129f.). Dominante Strukturierungsprinzipien sind die Liste und der Katalog. Als Knotenpunkte im Netz vielfältiger Verflechtungen unterschiedlicher, allesamt USA-bezogener Gegenstände, Personen, Objekte und Themen fungieren Namen. In 50 Abschnitte gegliedert, stellt Mobile 50 Staaten vor, aber nicht entsprechend einer zurückgelegten oder doch denkbaren Route durch die USA, sondern in alphabetischer Folge: von ALABAMA bis WYOMING. Die Darstellung der einzelnen Bundesstaaten basiert auf von Butor gesammelten und zu einer großen Collage zusammengefügten Text-Materialien. Diese Texte werden nach bestimmten selbstgesetzten Regeln montiert, die Textsorten teilweise durch unterschiedliche typografische Gestaltung und durch die Art ihrer Platzierung auf der Buchseite voneinander abgehoben. Typografie und Layout, Buchstabe und Seite sind also für die Komposition ebenso konstitutiv wie die verwendeten Materialien. Auf die ‚Flächigkeit‘ des entstandenen Textes weist er u. a. durch den Vergleich seines Textkunstwerks mit bestimmten für die amerikanische Einwandererkultur charakteristischen Textilkunstwerken hin: mit Quilts (vgl. ebd., S. 130).  







Abb. A 8: Michel Butor: Mobile. Paris 1962, S. 34/35.  



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Butors Illustrations. Für die in Illustrations (1969) zusammengefassten Texte ist ebenfalls die Verteilung unterschiedlicher Texteinheiten auf den Buchseiten prägend. Die Textbausteine des Buchs bilden unterschiedliche und schon darum auffällige „Figuren“ (s. o. „Figuren“). Ihre Größe, ihr Umfang und ihre Platzierung konstituieren den Text mit und suggerieren hierarchische Differenzen. Butor arbeitet mit verschiedenen Schrifttypen und Schriftgrößen, kalkuliert die Spannung zwischen Textfläche und leeren Flächen ein und thematisiert durch die (relative) Verfremdung gegenüber konventioneller Seitengestaltung die Seite als Gestaltungseinheit.  

Ulises Carrión. Ulises Carrións Text über Die neue Kunst des Büchermachens hat den Charakter eines Manifestes; dieses changiert zwischen der Deskription einer solchen „neuen Kunst“ und einer entsprechenden Zukunftsvision. Der im Original spanische Text erschien erstmals vollständig in der Zeitschrift Plural, Nr. 41, Mexiko City (1975).67 Das Manifest gliedert sich in sechs Abschnitte, die zum Teil mit definitorischem Gestus verfasst sind: „was ein buch ist“, „prosa und dichtung“, „der raum“, „die sprache“, „strukturen“, „das lesen“. Fast alle genannten Begriffe werden im Zeichen einer Unterscheidung zwischen älteren und neueren künstlerischen Leitideen und Verfahrensweisen bestimmt. Die damit verbundene Affirmation des jeweils Neuen gegenüber dem als überholt verstandenen Alten zeigt Carrións starke Prägung durch eine Ästhetik der innovatorischen Moderne. Er versucht, das Buch auf neue Weise zu beschreiben und damit zu konzeptualisieren. Eben darum dokumentiert sich in seinem Text allerdings auch exemplarisch die Schwierigkeit, eine angemessene und in sich konsistente Beschreibungssprache zu finden. Als ein grundsätzliches Problem erweist sich dabei insbesondere die Vermittlung zwischen Diskursen über Form und Struktur auf der einen Seite, metaphorisch geprägten Diskursen über ‚Behälter‘ (‚Gefäß‘) und ‚Inhalt‘ auf der anderen Seite. Gilt der erste Teil des Manifests dem Buch selbst („was ein buch ist“), so wird dadurch schon deutlich, dass Carrión alle anderen behandelten Themen („dichtung“, „prosa“, „sprache“ etc.) vom Buch her denkt. Allem anderen voran steht – argumentativ und sachlich – die Interpretation des Buchs als eine Form mit einer räumlichen und einer zeitlichen Dimension. (Ein Buch sei, so die Bestimmungen, von denen dann alles andere abgeleitet wird, „eine folge von räumen“ sowie „eine bestimmte folge von momenten“) Eine Betrachtung des Buches aus primär funktionaler Sicht, also im Ausgang von seiner dienenden Funktion (etwa als „behälter“ oder „träger“) lehnt er ab. Trotz seiner dezidierten Unterscheidung zwischen Buch und Text gilt Carrións Interesse den Voraussetzungen, unter denen sich Buchform und Textform affin verhalten. Ihm zufolge ist dies der Fall bei Texten, die aus relativ kurzen Teil-Texten bestehen – bzw. bei Text-Reihen, wie sie in Gedichtbänden enthal 







67 Carrión 1980. Auf der Basis des hier enthaltenen englischen Textes entstand die (im Folgenden verwendete) deutsche Übersetzung von Hubert Kretschmer (zuerst erschienen in der Kunstzeitschrift Wolkenkratzer, Okt./Nov. 1982, Nr. 3/82; auch in: http://www.artistbooks.de/statements/carrion-deutsch. htm (21.09.2018).  

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ten sind. Selbst sequenziell, erscheinen solche Texte ihm als Verdeutlichung der sequenziellen Form des Buchs. Der thesenhaft-definitorische Gestus des Textes kann über Brüche und Unstimmigkeiten nicht hinwegtäuschen. Wie etwa verhält sich die These „ein buch ist kein behälter für wörter […]“ zu der Bemerkung: „bücher existierten ursprünglich als behälter literarischer texte“? Insgesamt erscheint die pauschale Gegenüberstellung buchbewusster und buchvergessener Literatur als zu simpel. Aber sie dient der Profilierung dessen, was Carrión der „neuen kunst“ als Errungenschaft attestiert: Auch wenn (wie es heißt) „unter den sprachen […] die literarische sprache […] nicht die für die natur des buches am besten geeignete“ ist, „macht“ in der „neuen Kunst […] der schriftsteller bücher“. Johanna Drucker und ihre Metabücher. Johanna Drucker, Kunsthistorikerin, Theoretikerin und Gestalterin von Künstlerbüchern, hat selbst eine ganze Reihe von Künstlerbüchern gestaltet, in denen Parameter der Buchgestaltung auf besondere und daher Aufmerksamkeit erregende Weise genutzt werden. Zum Teil entstehen regelrechte Meta-Bücher, in denen die konstitutiven Bestandteile, Strukturmerkmale und Funktionsweisen des Buchs explizit zur Sprache kommen und demonstriert werden. Flankierend dazu kommentiert Drucker ihre Arbeiten in reflexiven Texten. Ein solcher Aufsatz zu zwei eigenen Buchwerken Diagrammatic Writing (Drucker 2013) und Stochastic Poetics (Drucker 2011/2012, 2014/2015) fragt zunächst nach der aktuellen Situation von Literatur (Dichtung) und Poetik angesichts des Vordringens digitaler Textmedien und hypertextueller Strukturen sowie nach der Beziehung der Dichtung zum Buch im digitalen Zeitalter. Im Zeichen künstlerischer und diskursiver Reflexion über bookness konvergieren ästhetische wie epistemologische Interessen. Für Drucker besitzen auch ihre Meta-Bücher einen diskursiven Zug, sie sind ‚arguments‘. Das Künstlerbuch Diagrammatic Writing entfaltet dabei Themen, die ähnlich bereits Butor exponiert hatte und die seitdem in Forschungsarbeiten zu Text-, Buch- und Lesekulturen weiter verfolgt worden sind.68 Innerhalb ihres eigenen Œuvres betrachtet Drucker dieses Buch als „the first fully self-referential articulation of the dynamic relations that constitute a codex“ (Drucker 2014/2015, S. 123). Vorgängerprojekte, die buchbezogene Ideen demonstrierten, aber nicht explizit thematisierten, waren From A to Z (1977) und History of the/my Wor(l)d (1989). Als Wegbereiter erscheint aber auch Mallarmé (ebd., S. 126). Wie für Butor stehen für Drucker die Räumlichkeit des Buchs und seine spatialen Strukturierungen im Vordergrund; der Weg durchs Buch erscheint als explorative Erfahrung.  



68 „‚Diagrammatic Writing‘ is a meta-study of the workings of a book. It is designed to demonstrate that a book is not a static object but a dynamic space, not a fixed and final expression but an organized arrangement of elements whose spatial relations encode semantic value. The work is a completely selfreferential examination of the codex as a graphical space in which the structuring principles of its format features are explicitly exposed and described.“ (Drucker 2014/2015, S. 123)  

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Diagrammatic Writing. Das Buchwerk Diagrammatic Writing illustriert dies beispielhaft: ein selbstreferenzielles Buch über bookness, also ein gleichsam reflexiv potenziertes „artists book“, das Strukturmerkmale des Buchs zugleich vorführt und thematisiert, und zwar im Wesentlichen solche, die Illich als prägend für das Buch im Buchzeitalter charakterisiert. Die Gestaltung von Büchern wird exemplarisch anhand eines Modellbeispiels vorgeführt, gleichsam inszeniert: der ‚Einzug‘ von Text ins Buch, die sukzessive Füllung des Buchs mit Text-‚Inhalten‘, die Verteilungsmöglichkeiten von Text-Elementen auf den Seiten. Auf der ersten bedruckten Textseite stehen zwei einzelne (selbstreferenzielle) Sätze: „The semantic system of graphical relations/ The graphical system of semantic relations“ (Drucker 2013, unpag.); auf der zweiten wird die Platzierung von Wörtern auf Buchseiten als ‚Definition‘, als Eröffnung und Bestimmung eines Raums charakterisiert („The first words placed define the space“; ebd.). Auf der dritten bedruckten Seite wird der Satz über das ‚erste Wort‘ als Definition des Raums wiederholt und zur Überschrift eines Absatzes gemacht; letzterer enthält Ausführungen zur Strukturierung des ‚Raums‘ der Seite durch Platzierung von Wörtern (ebd., S. 3f.). Hatte schon Butor unter dem Stichwort „Schräge“ die von typografischen Formen und Arrangements katalysierten Bewegungen des Blicks betont, so spricht Drucker in einem ähnlichen Sinn von den Kräften, die sich auf der Buchseite infolge der Anordnung von Textelementen bilden: „The space of an apparently static page is a scene of v[e]ctors and forces“ (ebd., S. 4). Verschiebungen von Textelementen bringen die Seitenkomposition in Bewegung und werden durch die fraglichen Textelemente kommentiert. Wie Butor thematisiert Drucker die Absatz- bzw. Blockbildung von Texten sowie die Spannungen zwischen Textfläche und leeren Seitenpartien – und führt sie und ihre Effekte im Buch durch eben die Sätze vor, mit denen sie sie beschreibt. Der Akzent liegt stets auf räumlichen Effekten, auf Suggestionen von Dynamik und ‚Kräftespielen‘ entlang von (meist unsichtbaren) Vektorlinien. Textblöcke in unterschiedlichen Schriftgrößen, unterschiedlich zueinander positioniert, einander rahmend, einander durchdringend, den Blick des Lesers auf bestimmte Wörter lenkend, stufig angeordnet, von (ihrerseits selbstreferenziellen und demonstrativen) Fußnoten begleitet, teils auch zu mehrschichtigen Arrangements gefügt – sie verdeutlichen und kommentieren die Potenziale der Typografie. Das MetaBuch endet mit einer Liste von Termini aus dem Bereich der Buchgestaltung sowie mit einem Stichwortregister. Jeweils alphabetisch strukturiert, demonstrieren Glossar und Register insofern auch das Funktionieren von Navigationshilfen durchs Buch. Das letzte Wort hat, vor seinem Ende, gleichsam das Buch selbst: „This is a book that is as close as possible to being entirely about itself.“ (Ebd., unpag.)  







Konzeptualisierungen und Gestaltungen des Kodex bei Anton Würth. Sind mit Blick auf ein Verständnis des Künstlerbuchs, demzufolge dieses über bookness reflektiert, alle Künstlerbücher als ‚Metabücher‘ beschreibbar, so gilt dies für Anton Würths Künstlerbücher doch in besonderer Weise: Seine Buchwerke entstehen im Zuge eines in hohem Maße theoriebasierten Reflexionsprozesses, der dem Buch und seinen Kon-

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stituenten, aber auch buchkulturellen Praktiken und ihren semiotischen und epistemischen Implikationen gilt. Theoretisch-reflexive und praktische Arbeit am Buch durchdringen einander bei Würth in einer Weise, die sich konsequent in charakteristischen Formen der Buchgestaltung manifestiert – in einem buchgestalterischen Personalstil, der die einzelnen Bucharbeiten und Publikationen als Phasen eines kohärenten Projekts erscheinen lässt und Werkgrenzen durchlässig macht. Ausgangspunkt und Zentrum der Arbeit ist der Kodex (Stoltz/Würth 2003), wobei neben dem gebundenen Buch auch dessen ungebundene Variante sowie das Leporello auftauchen. In seiner programmatischen Fokussierung auf das Buch als materielles Objekt, als Kommunikationsmedium, als Bedeutungsträger und Interpretationsgegenstand repräsentiert Würth exemplarisch die für das Künstlerbuch prägende reflexiv-gestaltende Auseinandersetzung mit bookness in ihren diversen Dimensionen (Würth 1996, S. 8). Charakteristisch ist die Entschiedenheit, mit welcher er auf der Untrennbarkeit dieser Dimensionen insistiert. Hier, in der Betonung der Ununterscheidbarkeit von Inhalt und Form, von vermeintlich ‚Äußerem‘ und Bedeutungshaftem, liegt ein Kernmotiv seiner dekonstruktivistisch inspirierten Kritik an Leitdifferenzen und hierarchischen Ordnungsvorstellungen.  



Theoretisch-diskursive und ästhetische Orientierung. Würths buchgestalterisch umgesetzte Reflexionen sind einem diskursiven Rahmen verpflichtet, den vor allem die dekonstruktivistische Theorie rund um Jacques Derrida sowie das diskurs- und machtkritische Denken Michel Foucaults abgesteckt haben. Anschlussstellen bestehen zur modernen Semiotik sowie zu einem wissensgeschichtlichen und wissenspoetologischen Ansatz, der Bedeutung und Effekte von Darstellungsmodi und Repräsentationsverfahren für Erkenntnis- und Kommunikationsprozesse, Denkstile und menschlichen Weltbezug erörtert. Buchreflexion und Wissensreflexion, kritische Reflexion auf gesellschaftliche und epistemische Strukturen verhalten sich konvergent, ja sind letztlich kongruent. Leitend ist die Idee, dass Verfremdungen zur Destabilisierung von Denk- und Wahrnehmungsmustern und damit von Machtstrukturen, Autoritäten und unhinterfragten Traditionen führen können. Wie für die frühen und späteren Avantgarden, so sind für die Repräsentanten einer dekonstruktivistisch und diskursanalytisch fundierten Ästhetik Künstlerisches und Politisches nicht zu trennen. Würth versteht Reflexivität und Strategien der Selbstreferenz als Strategien der Distanzierung von Funktionszusammenhängen und insofern der Emanzipation ästhetischer Gebilde und Prozesse von externen Determinanten. Handwerk. Komponenten und Parameter der Buchgestaltung. Sind Würths Metabücher zum einen durch eine ausgeprägt theoretisch-reflexive Orientierung des Künstlers geprägt, so entstehen sie zum anderen zugleich in gezielter und ostentativer Anknüpfung an die handwerklich-künstlerische Tradition der Druckgrafik; deren Techniken werden rezipiert, theoretisch und praktisch reflektiert; und deren Themen und Motive werden in verfremdender Weise zitiert. Der Einsatz handwerklicher Tech-

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niken und die ostentative Transparenz buchgestalterischer Elemente treten in den Dienst der ‚Metaisierung‘ des Buchs, manchmal auf eine minimalistisch erscheinende Weise, welche das zu Zeigende in verknappter, reduzierter, abstrahierter Form präsentiert und leicht Übersehenes dadurch herauspräpariert. So ist es typisch für Würths Buchwerke, dass Falz und Bindungen sichtbar gemacht, die Beziehungen zwischen Doppelseiten und Seitensequenzen durch grafische Mittel betont werden: Was zur Kodex-Architektur gehört, soll sich insgesamt transparent darstellen. Dazu gehören auch die Gestaltungsmodi sowie die mit diesen verbundenen Auffassungsweisen von Schrift, von Bildlichkeit und Ornamentik, von Kontrastierung und Farbgebung. Auch die klaren Farben von Bucheinbänden und die mit verschiedenen Techniken erzeugten Schwarz-Weiß-Kontraste sind Bestandteile des ästhetischen Gesamtkonzepts. Der buchgestalterisch dokumentierte Reflexionsprozess differenziert sich in mehrere Richtungen aus und findet sich in einzelnen Künstlerbüchern in unterschiedlichen Weisen akzentuiert. Einen thematischen Schwerpunkt bilden dabei Raum- und Zeitstrukturen, wie sie das Buch konstituiert und modelliert, einen anderen die Auseinandersetzung mit Schrift, Zeichenhaftigkeit und Zeichentypen, einen weiteren, damit eng verknüpft: die Ornamentik. Die Räumlichkeit des Buchs wird als eine doppelte verstanden: Neben der konkreten Räumlichkeit des Buchs existiert für Würth ein illusionärer Raum auf der Buchseite, der durch die sichtbaren Strukturen im Zusammenspiel mit ihrem Hinter- oder Untergrund konstituiert wird. Würths Bücher und ‚Hefte‘ („Carnets“) enthalten vielfach Texte des Künstlers, deren Duktus der buch- und zeichenreflexiven Grundintention entsprechen: Texte, die keine eindeutigen Entzifferungen zulassen, zwischen Deutungsoptionen oszillieren und dabei selbstbezügliche Lesarten provozieren. In Form von Buch – nicht zufällig stehen eine Ausstellung von 2008 und ihr Katalog unter diesem zugleich programmatisch auf das Buch verweisenden, zugleich aber unkonventionell formulierten und insofern auffälligen Titel (Klingspor Museum 2008).  

Form und Variation. Schlichte Formen werden bei Würth zum Ausgangspunkt von Variationsprozessen; die Abstraktheit ihrer Erscheinung verbirgt auf eine manchmal ans Humoristische grenzende Weise ihren einst mimetischen Sinn. So ist das Künstlerbuch 2. Halbjahr 1999 u. a. durch Variationen über eine Umrissform geprägt, welche an die von täglich konsumierten Toastscheiben erinnert (ebd., S. 5); die Buchform insgesamt ist aber einer ganz anderen Konzeption als der diaristischen verpflichtet. Die geschwungenen Linien des Buchwerks Carnet 13 übergreifen die einzelnen Seiten und betonen durch ihre Platzierung wie durch ihre an gebogene Seiten erinnernde Form das Umblättern als sinnlich-ästhetische Erfahrung. Carnet 12 spielt auf den Ackerbau, konkreter auf die Dreifelderwirtschaft an; seine Figurationen ähneln den Furchen, die auf Feldern gezogen werden. Die geschwungenen Linien entfalten dabei eine räumliche wie zeitliche Dimension. Die publizierten theoretischen Reflexionen Würths zum Buch und seinen Gestaltungsparametern, teils in eigenständigen Publikationen, teils in Katalogen bzw. werk 



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monografischen Darstellungen enthalten, fallen durch ihre Textgestaltung und ein Layout auf, das sie als Fortsetzungs- oder Parallelprojekte der im engeren Sinn buchkünstlerischen Arbeiten ausweist. Die Texte sind auffällig und unkonventionell gesetzt, manchmal ostentativ in Zeilen zerlegt, oft als Blöcke auf den Seiten verteilt. Vielfach durchdringen einander mehrere Texte bzw. Textebenen auf der jeweils selben Buchseite wechselseitig; sie treten in Spannungsverhältnisse, führen Dialoge und stehen zueinander im Verhältnis der Metaisierung, etwa durch Fußnoten und andere annotierende Texte. Die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebentext, Text und Paratext, wird letztlich spielerisch dekonstruiert, und dies erscheint als ein Beitrag zur Destabilisierung hierarchischer Strukturen – wie auch die Entdifferenzierung zwischen Buch-Kunst und Buchkunst-Reflexion insgesamt. Weder bestimmt die ‚Kunst‘ die Theorie noch umgekehrt; ihr gemeinsamer Entfaltungsraum ist das Buch. Einen analogen Effekt haben die gelegentlichen Sprachenmischungen, wenn sich in Mein Buch – Das Buch reflexive Äußerungen, über die Seiten verteilt, in deutscher, englischer und französischer Sprache abgedruckt finden. Programmatisch erscheint der Titel einer vor allem der theoretischen Buchreflexion gewidmeten Publikation, entstanden auf der Basis von E-Mail-Korrespondenzen zwischen Würth und seiner Kollegin Ulrike Stoltz, in denen die beiden buchkünstlerisch produktiven Künstler ihre Gedanken über das Buch und die Gattung des Künstlerbuchs austauschten: Buchverhandlungen (2003). Auch dieser Band ist durch ein Layout charakterisiert, das Textblöcke und paratextuelle Elemente im Buchraum auf signifikante Weise arrangiert. Tatsächlich werden hier und in ähnlichen Publikationen eher „Buchverhandlungen“ geführt als Definitionen des Buchs verbindlich festgeschrieben. Die in flexibel wirkender Gruppierung präsentierten und von Freiräumen umgebenen Stellungnahmen und Annotationen zum Buch signalisieren, dass Buch, Buchreflexion und Buchtheorie gleichermaßen mobil und entwicklungsfähig sind.  



Buchansichten bei Keri Smith. Keri Smiths Buch This is not a book (2009) irritiert nicht nur durch seinen Titel, sondern auch durch die vielen Variationen der daran anknüpfenden Behauptung des Objekts in der Hand des Lesers, es sei eben etwas anderes als ein Buch. So zum Beispiel etwa Unbequemes („inconvenience“), das man ständig mit sich herumschleppen müsse, ein Aufzeichnungsgerät („Recording Device“), ein Geheimagent („Secret Agent“) und vieles andere mehr (Smith, Keri 2009, S. 1, 2/3, 5). Auf Doppelseite 12/13 findet sich das Foto eines Stücks Gartenboden; der Leser soll hier seine Ideen ‚einpflanzen‘. Die Seiten 24/25 bieten quadratische Kästchen an, von denen jedes mit einer Idee beschriftet, signiert, datiert, ausgeschnitten und öffentlich ausgelegt werden soll, ausgewiesen als „Limited Art Pieces: Free“. Danach soll geprüft werden, ob jemand die Zettel mitgenommen hat. Wie auch immer der Buchnutzer die Anweisungen, Behauptungen, Suggestionen des Buchs interpretiert, sie womöglich umsetzt oder auch nur als Anleitung zu bloßen Gedankenspielen betrachtet: Smiths Buch This is not a book stellt von seinem Titel an bis in sämtliche Details der Buchausstattung die Frage, was ein Buch denn eigentlich sei. Und diese  

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Frage gilt nicht nur dem Aussehen und der Struktur von Büchern, sondern auch und vor allem den mannigfachen Formen ihres möglichen Gebrauchs, ihrer Einbettung in kulturelle Praktiken, in wissensbezogene, alltägliche, experimentelle. Schon weil es diese Frage aufwirft, ist This is not a book ein Meta-Buch. Dabei lässt es sich aus verschiedenen, aber einander ergänzenden Perspektiven betrachten: Zum einen präsentiert es sich als ein von der Designerin und Aktionskünstlerin Smith gestaltetes Artefakt, als ein grafisch einfallsreich gestaltetes Buch, das Texte, Bilder, Zeichnungen enthält, Collagen, Strichzeichnungen, Hand- und Druckschriftliches in faksimilierter Form. Zum anderen enthält es vielerlei Anleitungen und Anweisungen für den Leser, erscheint also auch als ein Objekt, das in potenzielle Praktiken eingebettet ist, und insofern es sich selbst beim Umsetzen der Anleitungen verändert, als ein erst noch zu gestaltendes Objekt. Bei manchen der angeregten Formen der Buchbehandlung bleibt das Buch erkennbar, etwa wenn es als Notizbuch zum Einsatz kommt; bei anderen wird es deformiert, womöglich zerstört. This is not a book ist, so gesehen, ein Buch, das sein Nicht-mehr-Buch-sein selbst programmiert. Was also ist ein Buch? Der Band This is not a book gibt einen, vielleicht den entscheidenden Hinweis: Entscheiden muss der Nutzer. Auf dem rückseitigen Cover heißt es: This object does not exist without you. You will determine the content and the final product. All will be shaped by your imagination. You must go out into the world in order to bring it to life and complete the assignments./If it is not a book, then what exactly is it? The answer is up to you. (Ebd., hinteres Cover)

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A 4 Das Buch als physisches Objekt: Materialität und Sinnlichkeit des Buchs im Spiegel der Buchkunst „Das Buch wird vom Künstler als Material benutzt“, so konstatiert Rolf Dittmar mit Blick auf die programmatische Präsentation einer größeren Zahl von Buchwerken auf der documenta 6 von 1977 (Dittmar 1977a, S. 297). Mit solcher Nutzung als Material sind zumindest im Fall der documenta-Exponate Destruktionsprozesse verbunden, wobei Dittmar allerdings Wert auf die Feststellung legt, dass die Akzentuierung des Materials respektive des Materiellen am Buch keineswegs Bedeutungsverlust bedeute: „Die Zerstörung der (ursprünglichen) Sachaussage des Buches ist selbstverständlich nicht Zerstörung von Aussage schlechthin“(ebd.). Tatsächlich präsentiert sich im Fall der hier gemeinten Buchwerke, aber auch mit Blick auf Buchobjekte und Künstlerbücher insgesamt deren Materialität als solche als etwas Interpretationsträchtiges. Dabei kann in mindestens zweierlei Hinsicht von der Nutzung des Buchs als Material die Rede sein: Zum einen zitieren die Buchkünstler die Kodexgestalt, ohne doch Bücher im konventionellen Sinn zu schaffen; hier wurde gleichsam das Vorstellungsbild ‚Buch‘ zum Ausgangspunkt, und dieses Vorstellungsbild konkretisiert sich in unterschiedlicher Stofflichkeit. Zum anderen entstanden manche Objekte aber auch durch konkret-physische Bearbeitung realer Bücher, die insofern die materielle Basis des Schaffensprozesses bilden. Zu den einfallsreichsten Pionierarbeiten der neueren Buchkunst in den 1960er Jahren, die auf die spielerische Erkundung der materiell-sinnlichen Dimensionen des Buchs abzielten, gehört Andy Warhols „Index Book“ von 1967 (vgl. u. a. Drucker 2004, S. 154). Es demonstriert vor allem exemplarisch (und für die Künstlerbuchbewegung dieser Zeit programmatisch), wie eng das Interesse an Räumlichkeit und Materialität des Buchs mit dem an der Alltagskultur, ihren Teilbereichen und Praktiken verbunden ist. Warhols als Multiple hergestelltes interaktives Buch entstand in Gemeinschaftsarbeit mit anderen Künstlern (David Paul, Steven Shore, Paul Morissey, Ondine, Nico, Christophe Cerf, Aklan Rinzeer, Gerald Harrison, Akihito Shirokawa, Nat Finkelstein und Billy Name). Warhol behandelt den Kodex wie einen Behälter für verschiedene Teilobjekte, die auf jeweils verschiedene Weisen ihre Materialität demonstrieren und damit auf spezifische zeitgenössische Teilkulturen verweisen. Das „Index Book“ enthält neben Fotos unterschiedlicher Art (Starfotos, Modeaufnahmen, Fotos aus der Undergroundszene und aus der Welt des Kommerzes) diverse gefaltete Papierobjekte und eine eingeklebte Schallplatte (vgl. Kat. Ausst. 1978, S. 73). Ein Teil der Exemplare ist in eine dreidimensionale Buchhülle eingebunden. Für die Textpartien benutzt Warhol unterschiedliche Drucktypen, so für ein Interview zwischen ihm und einem „German Reporter“. In Anknüpfung an die Form des Pop-ups fügt er Pop-up-Konstruktionen von einem Flugzeug, einer „Tomato Paste can“ und einer Papierburg ein; wiederum wird auf verschiedene Teil-Kulturen verwiesen, so auf die der Reklame und des Kinderspiels. Ein entfaltbares „cut out“ zeigt den Künstler Warhol selbst, wie er den Betrachter mit einer Kamera aufnimmt; vom Buch selbst  





https://doi.org/10.1515/9783110528299-005



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geht also ein Blick aus, der den blätternden Nutzer trifft. Durch seine abwechslungsreichen Materialien und Formen lädt das Buch zur entsprechend flexiblen Nutzung ein. MSE

Abb. A 9: Andy Warhol: Index Book. New York 1967.  

A 4.1 Die Materialität des Buchs In welchem Sinn auch immer als Material genommen, behandelt und verhandelt, bietet die Buchkunst der letzten Jahrzehnte viele Beispiele von hochgradig semantisierter Materialität. Denn mittelbar kann über die handgreifliche Buch-Verfremdung der gesamte kulturelle Kontext des Buches zum Gegenstand des Verweises und zum Thema der Reflexion werden: die Lese- und Wissenskultur, ihre Akteure, Institutionen, Medien und Praktiken. Viele Beispiele betont materialbezogener Buchbehandlung erscheinen tendenziell buchkritisch; andere hingegen wirken wie Monumente, die dem Buch am scheinbaren Ende seiner kulturellen Führungsrolle gesetzt worden sind. Wenn sich (wie nicht nur Dittmar meint) eine Tendenz zur künstlerischen De-Funktionalisierung des Buchs seit den 1960er Jahren verstärkt beobachten lässt, so liegt gerade darin ein zentraler Ansatzpunkt der sich konstituierenden Künstlerbuchbewegung. Demonstrationen von Materialität. Buchförmige oder buchähnliche Plastiken, die keine Bücher sind, sondern gleichsam nur ein materielles Double des Buchs bieten, machen die Bedeutung des Materialitätsaspekts in der Buchkunst auf besondere Weise sinnfällig, da sich an ihnen im Wesentlichen dieses Material selbst zur Lektüre anbietet. Die Betitelung vieler Objekte weist darauf bereits hin. Hans Alvesen nennt eine Bucharbeit programmatisch Buch-Körper (1981–1987; vgl. Kat. Ausst. 1989, S. 16). Das Objekt besteht aus Papiermasse, Asche, Seidenpapier, Tusche, Latex, Leim; Verarbeitet wurden ein Holzkasten und eine Plexiglashaube: Die verschiedenen Materialien sind zu einem Objekt zusammengefügt, das in der Form an ein aufgeklapptes Buch erinnert. Wolf Vostells Betonbuch (Book put into Concrete) von 1970 (vgl. Kat.  

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Ausst. 1978, S. 31) präsentiert ein ‚Buch‘, das fast nichts Anderes als Materie ist: Ein Betonblock in den Maßen eines Buchs trägt zusätzlich nur eine gravierte und signierte Aluminium-Platte wie einen Titel. Durch gewaltsame Maßnahmen gegenüber BuchKörpern machen diese oft besonders auf sich aufmerksam. Neben den Materialien werden auch materialbezogene Bearbeitungsprozesse vielfach bereits durch den Werktitel unterstrichen. Bernard Aubertin hat mehrere angebrannte Bücher gestaltet, die dies exemplarisch illustrieren (ebd., S. 12f.). Ein livre brûlé et à brûler entstand 1962, ein weiteres 1970. In beiden Fällen verwendet wurden Pariser Telefonbücher von 1961 bzw. von 1966, in beiden Fällen wurden Streichhölzer auf den Buchkörpern angebracht; die Buchseiten wurden angebrannt, teilweise sind sie rot, gelb oder schwarz bzw. rot und schwarz koloriert. Marty Greenbaum überarbeitete für Compositions (1967) ein Übungsheft mit Ölfarbe, Wasserfarbe und Buntstiften, beklebte es mit Papierstücken und anderen Objekten (ebd., S. 16f.). Es sind vor allem die noch sichtbaren Reminiszenzen an ein Schulheft, die diese gewaltsame Bearbeitung als symbolischen Akt erscheinen lassen. Das Körperliche des Buchs hat bei den genannten Beispielen sowie bei anderen Buchobjekten bzw. Buchplastiken erkennbar stets auch einen zumindest latent verweisenden Sinn.69  





Abb. A 10: Bernard Aubertin: Livre brulé et à bruler. Buchobjekt, 1962.  

Widerstände und Entzugseffekte. Die Akzentuierung des Materiellen am Buchwerk erzeugt vielfach einen Eindruck von Widerständigkeit. Jochen Gerz’ Buchobjekt Das Buch war weich und flexibel (French Wall 2) von 1969, gezeigt u. a. in einer Freiburger Ausstellung von 1980, ist nicht zum Lesen gedacht, sondern gleichsam, um seine dro 

69 Vgl. Dominique Moldehn zur Semantik von Buchwerken: „Wirken konservierende und regenerierende Kräfte der Elemente Erde und Feuer auf das Buch, aktualisiert sich der Mythos vom göttlichen Ursprung der Schrift.“ Moldehn 1996, S. 20.  

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hende Verwandlung in etwas Unlesbares anzukündigen. Es besteht aus Karton, PVCFolie und einem maschinenschriftlichen Manuskript (Abb. in Kat. Ausst. 1980, S. 50. Text: ebd., S. 48f.; Exponat Nr. 23, 40 x 50 cm). Beim bloßen Versuch, das weiche und flexible Buch zu lesen, käme es zur Zerstörung des in die schwarze Plastikfolie eingepackten Textes (vgl. Gerz 1979, S. 688).70 Denn da er auf Fotopapier geschrieben ist, würde er vom einfallenden Licht vernichtet, sobald man ihn aus der Folie herausholte. Bücher, die sich infolge der Bearbeitung ihres Ausgangssubstrats gegen eine konventionelle Nutzung, Entzifferung bzw. Lektüre sperren, sind von irritierender Bedeutungsoffenheit.  













Abb. A 11: Jochen Gerz: Das Buch war weich und flexibel. Buchobjekt, 1969.  

Der Katalog der Kasseler documenta 6 von 1977 liest sich wie ein Szenario der Verweigerung starrsinniger Objekte gegenüber der Zudringlichkeit des Betrachters. Dem Besucher werden ostentativ Einblicke in Bücher verweigert, und die zu Objekten gewordenen Bücher verweigern sich wiederum gegenüber Versuchen verbindlicher Sinnzuweisung.71 Ein Objekt, das die Idee verweigerter Lesbarkeit auf besonders

70 Das Etikett trägt die Aufschrift: „Das Buch war weich und flexibel. Die Seiten traten durch die lichtundurchlässige schwarze Hülle beim Berühren hervor, auf der stand: diese Seiten wurden im Dunkeln auf unbelichtetes Fotopapier geschrieben. Ans Licht gebracht würden sie vergilben und ihre Beschriftung unleserlich. Im Dunkeln können sie die Schrift auch in Zukunft bewahren“ (Gerz 1979, S. 688). 71 Vgl. als ein Beispiel für den ästhetischen Protest gegen die Reduktion von Kunst auf ein Bildungsgut Michael Baduras Objekt: Nummer 60 der Zellenbücherei – Professor Dr. Hans W. Singer, Kunstgeschichte  



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drastische Weise in Szene setzt, ist Timm Ulrichs’ aus Hartgummi und Eisen bestehendes und von elektrischem Strom durchflossenes Buch der Berührungsängste (Mimose/Mimese). Manche Arbeiten scheinen unter verfremdendem Rekurs auf die Buchgestalt eine Verflüchtigung des Buchs zu signalisieren. Luis Camnitzers Objekt Das Buch der Öffnungen (1979) besteht aus einem buchförmig zurechtgebogenen Messingdraht. Dieser ist an der rechten oberen Ecke offen. So entsteht die bloße Leerform eines Buchs – oder, bei entsprechender Beleuchtung, der bloße Schatten eines Buchs. Das Objekt ist mehrdeutig: Spielt es auf ‚leere‘ im Sinne inhaltsloser Bücher an? Oder ist es Inbegriff des offenen, des gestaltbaren und potenziell welthaltigen Buchs? Ähnlich vieldeutige verschlossene Bücher hat Maurizio Nannucci geschaffen (vgl. Kat. Ausst. 1977, Maurizio Nannucci: Universum, Abb. S. 330).  



Ästhetiken der Materialität. Material und Materialitäten stehen in jüngerer Zeit im Mittelpunkt vielfältiger ästhetischer und epistemologischer Diskurse (vgl. Wagner 2001), unter anderem auch in Verknüpfung mit dem Komplementärthema des Immateriellen (vgl. auch Teil D, Art. „Materialitätsdiskurse“). Dies hat sich auch in Diskursen über Schrift und Buch niedergeschlagen und Studien zu spezifischen Materialien stimuliert, die unter anderem Buch-Materialien sind, wie insbesondere das Papier.72 Die Dinghaftigkeit des Buchs wird vor allem unter dem Stichwort ‚Materialität‘ erörtert; dieses lenkt unter anderem den Blick auf Formen, Extensionen und Gewichte von Büchern (vgl. Spoerhase 2016). Materielle Aspekte des Buchs sind auch dort tragend, wo es um Formen seiner physischen Benutzung wie etwa das Blättern geht (zu „Poetiken des Blätterns“ vgl. Schulz 2015b). Auch und gerade theoretische Erörterungen über Künstlerbücher und Buchobjekte akzentuieren vorzugsweise den Materialitätsaspekt. Dass gerade in der kulturwissenschaftlichen Erforschung von Schrift und Schriftlichkeitsgeschichte das Materialitätsparadigma ausnehmend fruchtbare Perspektiven eröffnet hat, hat die buch-theoretische Orientierung an diesem Paradigma zweifellos unterstützt. Wichtige Anschlussstellen bestehen etwa zwischen dem Paradigma einer ‚Ästhetik der Materialität‘ und den kultur- und schrifthistorischen Forschungen Jan Assmanns (Assmann, Jan 1991). Denn im Licht der Assmannschen The-

in einer Stunde (von Abu Simbel bis Klinger), 1977, 250 x 495 cm, verschiedenes Papier, Foto, Stecknadeln, Holz; „dazu das Buch mit dem obigen Titel, das in einer Buchreihe verschiedener Wissensgebiete im Verlag Dürr und Weber, Leipzig 1922, erschien.“ In: Kat. Ausst. 1977, S. 300 (Abb.: S. 301). 72 Vgl. Müller 2012. Müller-Wille vertritt die These, das „aktuelle kulturwissenschaftliche Interesse an der Bedeutung von Material und Materialität“ sei „der digitalen Revolution geschuldet. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Malereien, Skulpturen, Musikstücke, Performances und literarische Texte immer häufiger am Bildschirm rezipiert werden, kann es nicht überraschen, dass die ästhetische Frage nach der Wider- und Eigenständigkeit singulärer Materialien (die sich nicht in digitalen Medien aufheben lassen) an Bedeutung gewonnen hat. Dies gilt auch für die Aufmerksamkeit, welche die Gegenständlichkeit des Buches in jüngster Zeit auf sich gezogen hat.“ (Müller-Wille 2017, S. 17f.)  











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sen erscheint der jeweilige Träger eines Textes, das Material, in dem sich Schrift konkretisiert, als von maßgeblicher Signifikanz für die Bedeutung der Schrift. Es kommt nicht nur darauf an, was geschrieben wird, sondern auch darauf, wo, auf welchem Stoff und mittels welcher zur Bearbeitung des Schriftträgers verwendeten Werkzeuge etwas geschrieben wird. Assmann arbeitet die Bedeutung der jeweiligen Schriftträgermaterie und den prägenden Anteil, den sie an der Bedeutung des Textes hat, anlässlich seiner kulturhistorischen Forschungen zum ägyptischen Altertum heraus. Hier existierten, so sein Befund, zwei voneinander deutlich unterschiedene Schreibkulturen nebeneinander her, und jede von ihnen korrespondierte mit einer spezifischen Materialität der jeweils entstehenden Texte. Semantik und Materialität von Zeichen erscheinen aus dieser Perspektive als eng miteinander verknüpft. Modifizierte Konzepte von Materialität. Gerade mit Blick auf Materialitäten und ihre kulturgeschichtlichen Bedeutungspotenziale, ihre Semantisierungen und Aussagevalenzen erscheinen Künstlerbuchbewegung und Buchkunst-Diskurse also eingebettet in tiefgreifende diskursive Verschiebungen. Galten doch die Trägersubstanzen und materiellen Medien von Kommunikations- und Denkprozessen, das Materielle, Physisch-Körperliche also, lange Zeit als bloße Äußerlichkeit und wurden von einer Sphäre des Sinns unterschieden. Exemplarisch ausformuliert findet sich diese Position etwa bei Adorno – und zwar nicht zufällig anlässlich von Reflexionen über das Buch. Kritisch gegenüber einem bibliophilen Interesse an der physischen Beschaffenheit von Büchern betrachtet Adorno in seinem Essay über Bibliographische Grillen das Buch, das die Aufmerksamkeit des Lesers auf sein eigenes Erscheinungsbild lenkt, als Konkurrenten des Textes, den es vermitteln soll – und damit als Störfaktor im Prozess intellektueller Vermittlung, Aufnahme und Verarbeitung von Gedanken und Ideen, als etwas Äußerliches, das sich auf Kosten des Gedanklichen in den Vordergrund drängt (Adorno 1963, S. 694; vgl. Benne 2015, S. 73). Für Adorno sind Texte qua Ausdrucksformen von Gedanken und Ideen nicht an spezifische Körper gebunden; das Buch ist nie mehr als eine Verpackung, die man beiseiteschieben muss, ein Transportvehikel, dass man nach der Ankunft verlässt. Wie sehr sich unter dem Einfluss einer allgemeinen Sensibilisierung für die Bedeutung(en) des Materiellen die Perspektive neuerer Schriftsteller auf den Buchkörper von der Position Adornos unterscheidet, illustriert beispielhaft der Fall der Autorin und Buchdesignerin Judith Schalansky. In einem Interview von 2018 betont sie die unauflösliche Verbindung zwischen literarischem Arbeitsprozess und Buchgestaltungsprozess. Eine Vorstellung vom (künftigen) Buchkörper gehe der Schreibarbeit initiierend voran.  







Eigentlich beginnt die Gestaltung schon beim Schreiben. Als ich wusste, dass es [=Der Hals der Giraffe] ein Roman werden würde, war das Format im Grunde klar. Dann wollte ich endlich mal ein Buch über 200 Seiten schreiben. Also habe ich geschaut, was die optimale Druckbogenausnutzung ist. Noch bevor ich anfing, war mir klar, dass das Buch 224 Seiten haben wird. Während

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der Arbeit am zweiten Kapitel wurde ich plötzlich unruhig, weil ich noch nicht wusste, wie das Buch von außen aussehen würde. Also habe ich erst einmal das Cover entworfen, ehe ich weiterschreiben konnte.73 (Schalansky online)

In verschiedenen Beispielen zeitgenössischer Buch-Literatur prägen gestalterische Maßnahmen, die die Körperlichkeit des Buchs und seine materiellen Bestandteile sinnstiftend nutzen, das literarische Gesamtarrangement. Zum genuin literarischen Gestaltungsobjekt werden Buchblock, Einband, Papierbeschaffenheit, Faltungen, manchmal auch lose Bucheinlagen. J. J. Abrams und Doug Dorst, deren Roman Ship of Theseus (Dorst/Abrams 2013) u. a. auf der Suggestion beruht, der konkrete Leser halte ein ganz spezifisches Bibliotheksexemplar eines Romans in Händen, also ein in dieser Gestalt einzigartiges und unverwechselbares Buch mit Einträgen und sonstigen Gebrauchsspuren zweier individueller Leser, haben den Roman entsprechend dieser Suggestion mit physischen Lektürespuren ausstatten lassen. Das Buch (als Multiple) wurde mit einem Schuber versehen, der es wie ein Bibliotheksbuch aussehen lässt, und der Text besteht aus zwei verschiedenen Ebenen: einem in Drucklettern gesetzten Roman und einem Text in faksimilierten (Pseudo-)Handschriften, der sich farbig und formenreich um den Romantext rankt.  





Buchmaterielles im Spiegel literarischer Texte. Dass literarische Autoren sich für das Buch als konkretes materielles Gestaltungsobjekt nicht interessieren, ist ein gelegentlich zur Profilierung buchkünstlerischer Arbeiten angeführtes, aber unzutreffendes Gerücht. In Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus (1668) wird die Geschichte der Herstellung von Papier erzählt – oder vielmehr: Das Papier darf seine Entstehungsgeschichte selbst erzählen (Grimmelshausen 1964 [1668], Buch 6, 11. Kapitel: „Simplicii seltsamer Diskurs mit einem Schermesser“, S. 455–459). Es stellt in einer autobiografischen Geschichte die Gewinnung und Bearbeitung von Rohstoffen für die Papierproduktion sowie die diversen Transformationen dar, die diese Stoffe sowie das fertige Papier dann durchlaufen. Genese und Schicksale des Papiers werden dabei zum Sinnbild des Be- und Verarbeitens literarischer Stoffe, also zur Metapher des literarischen Arbeitsprozesses selbst. In Salvador Plascencias Roman über Papiermenschen (People of Paper) treten Figuren auf, die aus demselben Material bestehen wie das Buch, in dem sie sich beschrieben finden. Der ‚Autor‘ dieser Figuren residiert in einem Papierhimmel, wo ihn  





73 Das Interview des Webprojekts „Fontwerk“ von Ivo Gabrowitsch mit Judith Schalansky trägt den Titel: Jedes gedruckte Buch muss beweisen, warum es nicht als Datenmasse auf die Welt gekommen ist (20. November 2012, abgerufen: 7.2.18). Zumindest der Anfang des Berichts erinnert an Poes Aufsatz The Philosophy of Composition, wo am Beispiel der (angeblichen) Entstehungsgeschichte der Ballade The Raven dargelegt wird, inwiefern strukturelle und sensuelle Eigenschaften des künftigen Textes zuerst festgelegt werden und der entstehende Text sich danach richtet, wie sich also die Textaussage der sinnlich-konkreten Textform unterordnet.  

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einzelne Figuren aufspüren (vgl. Teil E 1.36). Und wieder spiegeln sich in den Schicksalen papierner Objekte metaphorisch und metonymisch die Entstehung wie die wechselhaften Schicksale literarischer Kreationen; in einem papiernen Raum kommt es zu Kontakten zwischen dem Schriftsteller, seinen Romanfiguren – und dem Leser. Einer Buchausgabe der People of Paper ist zudem ein Faltblatt beigelegt, mittels dessen der Leser über die „Anatomie“ von Büchern informiert wird. Genaugenommen gibt das Buch selbst mit dem Faltblatt eine Art Steckbrief seiner selbst ab („The Anatomy of Your Favourite Novel by Salvador Plascencia“, Plascencia 2005, unpaginierte Beilage). Erklärt werden diverse Fachbegriffe aus dem Bereich des Buchdesigns bzw. der Kodexgestaltung (Fore-Edge, Front Cover, Back Cover, Spine, Gutter, Page Number, Recto/Verso); hinzu kommt ein Hinweis auf die von der westlichen abweichenden Buch- und Schriftstrukturen in semitischen und asiatischen Sprachräumen. Der Duktus dieser Erklärungen ist bei aller Knappheit keineswegs neutral-sachlich, sondern er lässt Raum für persönliche Anmerkungen und ein kleines Gedankenspiel um Bücher ohne Bindung („The spine […] secures that no chapters are left behind at coffee shops or on those long, nomadic rides known as the crusades“; ebd.). MSE  

A 4.2 Verwandlungen „Metamorphosen des Buchs“: Dittmars Formel zur Charakteristik der 1977 auf der documenta gezeigten neuen Buchwerke besagt nicht nur, dass hier neuartige Erscheinungsformen des Buchs gestaltet werden, mit denen sich das Verständnis dessen wandelt, was alles ein „Buch“ ist oder sein kann – sondern sie spielt auch darauf an, dass dies oft unter konkreter Bearbeitung und Verwandlung bereits bestehender Bücher geschieht. Im Begriff der Verwandlung verschmelzen die Idee des materiellen, das sich da verwandelt, und der Zeit, in der sich die Verwandlung vollzieht. Verwandelte Bücher haben insofern einen Zeitindex; in ihnen konkretisiert sich die Spannung zwischen einem Vorher und einem Nachher, ja, das Verwandelte erscheint dezidiert als etwas Instabiles und Vergängliches. Damit stellt sich die Frage nach seiner Identität im Wandel, aber auch die nach den Akteuren der vorgenommenen Transformation. Viele Buchwerke (Künstlerbücher, Buchobjekte) präsentieren sich als deutungsträchtige Bearbeitungen vorgefundener Buchexemplare. Die Eingriffe in das Ausgangssubstrat können dabei unterschiedlich radikal sein; sie können dieses Substrat auf neue Weise sichtbar machen, es aber auch ganz oder teilweise dem Blick entziehen oder sogar zerstören (vgl. Endlich 2007). Mit dem Transformieren, Fragmentieren und Zerstören von Büchern beschäftigen sich Buchkunst und Literatur gleichermaßen intensiv. Prozesse der Buchverwandlung sind ein variantenreich entfaltetes literarisches Thema (vgl. Körte/Ortlieb 2007). Manchmal geben sich die literarischen Texte selbst als Produkte physischer Buchverwandlungen aus.  

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Semantisierungsoptionen. Überarbeitete, verarbeitete, zumal unlesbare oder unlesbar gemachte Texte und Bücher sind mit unterschiedlichen Vorstellungsbildern und Begriffen konnotiert; jeder der Vorstellungsräume, auf welche die entsprechenden Objekte verweisen, unterliegt einer komplexen Semantisierung.74 Die Interpretation verfremdeter, bearbeiteter, gewalttätig behandelter Bücher vollzieht sich vor allem im Spektrum zwischen zwei einander gegenüberstehenden Deutungsoptionen: Einerseits kann eine solche Behandlung des Buchs als Ausdruck des Aufbegehrens gegen starre Autoritäten erscheinen. Das Buch ist dann Metonymie dieser Autoritäten, etwa des autoritativen Schulwissens oder des Gesetzbuchs. Im Bearbeitungsprozess setzt sich (so die entsprechende Suggestion) die individuelle Kreativität des Bearbeiters (Künstlers) durch: gegen das uniforme Buch und die Uniformität, Regelhaftigkeit, Hierarchie, für die es steht (vgl. Endlich 2007). Andererseits kann die Gewalt gegen das Buch auch als Metonymie der Gewalt gegenüber Schriftstellern, Ideen, Meinungsvielfalt erscheinen; das ostentativ beschädigte Buch wirkt wie ein Protest dagegen. (Wo man Bücher verbrennt, da verbrennt man auch Menschen: Auch auf diese Idee wird angespielt, wenn Bücher angesengt werden.) Komplementär zu irritierenden Veränderungen verhalten sich Verschönerungen des Buchs, Gesten der Zuneigung zum Buch, bibliophile Gestaltungspraktiken. Das Spektrum ist auch hier breit: Bücher werden geschmückt und bemalt, zum ‚Lebensgefährten‘ gemacht. Statt mit Axt, Hammer, Schraubzwinge, Farbeimer und Teer traktiert zu werden, verziert man sie mit Rüschen, Ornamenten, Schmuckobjekten etc. Wiederum gibt es kontroverse Deutungsmöglichkeiten: Einerseits kann die Würdigung des Buchs ernsthaft als Hommage erscheinen; sie kann Zeichen einer persönlichen Beziehung zum Buch oder auch Ausdruck der Ehrfurcht vor dem Buch sein. Andererseits kann die ‚Verschönerung‘ ironisch wirken; sie kann bibliophile Neigungen parodieren oder Individualität (Marotten, Obsessionen, Spleens) auf skurrile Weise inszenieren. Manchmal kommt es zu Spannungen zwischen differenten Deutungsoptionen, zum Spiel mit Sinnsuggestionen und Interpretationsappellen. Mehrdeutig sind insbesondere Praktiken der Tilgung von oder des Verzichts auf Texte. Verwandelt beispielsweise Rühms Übermaltes Buch den übermalten Text in etwas Nichtssagendes oder in ein auratisches Geheimnis, in eine bloße Fläche oder in einen Sternenhimmel aus hellen Punkten auf ansonsten schwarzer Fläche? Gerhard Rühms Übermalungen. Mit Übermalungspraktiken haben avantgardistische Künstler wie Gerhard Rühm seit den frühen 1960er Jahren gearbeitet. Aus dem Jahr 1965 stammt die Arbeit Lehrsätze über das Weltall, aufgenommen in Emmett Wil-

74 Auf der documenta 6 (1977) wurde eine ganze Reihe unlesbar gemachter Bücher gezeigt, die die unterschiedlichen Semantisierungsoptionen nutzen: Rühm, Gerhard: Ein Geschlecht (S. 340, Abb. S. 341), 1961; Rühm, Gerhard: Übermaltes Buch, 1962; Schwarz, Martin (S. 344): Nichts, 1972–1976; Ulrichs, Timm (S. 346): Herta Wescher: Die Geschichte der Collage, 1977.  







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liams Anthology of concrete poetry, dem Paratext zufolge „A poetic reworking of a refutation of Einstein’s theories“. Die Seiten des Buches sind weitestgehend eingeschwärzt, nur einzelne Wortgruppen bleiben lesbar. Insofern sie durch ihre jeweils isolierte Positionierung als helle Felder auf den ansonsten schwarzen Seiten eine Art ‚Konstellation‘ bilden, passend zum Titel, der vom „Weltall“ spricht, lässt sich Rühms Arbeit zu Mallarmés Konzept der „constellation“ von Wörtern in eine Beziehung setzen. Zu den auf der documenta 6 (1977) gezeigten Buchobjekten gehören diverse Beispiele, die durch Übermalung, teils durch weitgehende Einschwärzung eines Buchs als Bearbeitungssubstrats entstanden sind. So finden sich andere Übermalungen Rühms: Ein Geschlecht (1961)75 sowie Übermaltes Buch (1962; Abb. in Kat. Ausst. 1977, S. 340). Neben der Reminiszenz an Zensurpraktiken hat die Schwärze der Druckfarbe als solche eine symbolische Valenz: Sie erinnert an Tod und Vernichtung, und wenn sie Texte fast zum Verschwinden bringt, so lässt dies Zwangsmaßnahmen assoziieren, die Menschen selbst zum Schweigen bringen sollen.  

Residuen des Sichtbaren. Auf dieses ‚Fast‘ des Überdeckens kommt es in mehreren Übermalungen Rühms aber gerade an; bei genauem Hinsehen lassen sich Reste der überdeckten Texte entziffern, und die damit verbundene Interaktion zwischen Buchwerk und Betrachter erscheint als ein Prozess von latenter Symbolik, vergleichbar der Forschung von Archäologen. Die gut sichtbaren partikulären Textrelikte wirken wie ein Widerstand gegen die weitgehende Löschung, wie Lichtpunkte im Dunkel, und bei genauem Hinsehen erweist sich auch der übermalte Text trotz seiner Verschattung noch als präsent – aber man muss sich beim Lesen Mühe geben. Ähnliche Projekte Rühms basieren auf einer analogen Verfahrensweise, so die Arbeit Österreichische Neue Tageszeitung (1962; in Rühm 1996, S. 114ff.). Hier wurden die Titelblätter ausgewählter Zeitungsausgaben bearbeitet; unter der Übermalung verschwand alles außer der Kopfzeile und der (wiederholten) Vokabel „und“.76 Der Vergleich des übermalten Lyrikbandes mit der übermalten Tageszeitung verdeutlicht die Mehrdeutigkeit des (unmittelbar als symbolisch wahrgenommenen) Einschwärzungsverfahrens: Die Übermalung von Gedichten erscheint fast automatisch als ein Akt der Gewalt. Auch die Überdruckung von Seiten einer Tageszeitung erinnert an politische Zensur, aber die Einstellung des Künstlers gegenüber diesem Eingriff erscheint doch weniger eindeutig. Impliziert die Einfärbung, die nur das als Konjunktion funktionslos gewordene „und“ bei Rühms Arbeit noch übriglässt, womöglich eine kritische Distanzierung von  



75 Abb. in: Kat. Ausst. 1977, S. 340; „Entstanden aus: Fritz von Unruh, Ein Geschlecht, Leipzig 1918, Kurt Wolff Verlag (Privateinband). Übermalung des Satzspiegels mit schwarzer Tusche unter Aussparung einzelner Worte“ (ebd.). 76 Zu Deutungsoptionen, etwa als kritische Auseinandersetzung mit dem Format Tageszeitung, vgl. Schulz 2012, S. 288; ferner: Weibel 1997, S. 453; Weibel spricht bezogen auf die einzelnen nicht-geschwärzten Wörter von „Selektionen“.  





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hohlen Zeitungsphrasen? Eine Publikation von Vorträge[n] über Praktischen Okkultismus, erschienen in einem theosophischen Verlag, wird Rühm zur Bearbeitungsgrundlage für seine Arbeit Lust und Schmerz (1962; vgl. ebd., S. 289): Durch Spalten kann man Reste eines ansonsten schwarz übermalten Textes sehen, der sich allerdings nicht mehr lesen lässt. Damit präsentiert sich das Buchobjekt als ironischer Beitrag zu einem „praktischen Okkultismus“. Ein übermaltes Buch mit partiell ausgesparten Rest-Wörtern und einer ironischen Grundtendenz ist auch Rühms Kleine Billardschule (1968), die auf einem gleichnamigen Anleitungsbuch zum Billardspielen basiert. Die Aussparungsstrategie zielt auf die Produktion eines neuen Textes mit potenziellen erotischen Konnotationen; der Eindruck solcher Zweideutigkeit wird durch die einbezogenen Abbildungen verstärkt. Wiederum scheint das übermalte Buch auf Zensurpraktiken zu verweisen, wobei ironischerweise die erotisch-sexuellen Konnotationen erst durch die ‚zensierende‘ Übermalung entstehen; die eigentliche Billardschule ist ein nüchterner Sachtext (vgl. ebd.). Vergleichbare Übermalungen oder ähnliche Verfremdungen schufen auch andere Buchkünstler (Dencker nennt das libro cancellato von Emilio Isgrò und Marcel Broodthaers’ Arbeit Pense-Bête von 1964, vgl. Dencker 2011, S. 414).  



Metaphoriken der Verwandlung. Materialien und Bearbeitungsmodi erzeugen als Metaphern oft eindringliche Sinneffekte – so etwa Bearbeitungen, bei denen dem Material Brandspuren zugefügt werden oder es teilweise verbrannt wird, Formen des Zerschneidens und Zerreißens oder auch der Einsatz von eher ‚buchfremden‘ Substanzen wie pflanzlichen, tierischen oder synthetischen Stoffen zur Verwandlung von Buchseiten und Buchkörpern. So können angebrannte Bücher kritisch an Bücherverbrennungen erinnern, gewaltsam verschlossene Bücher an Zensurpraktiken und an Maßnahmen, nicht nur Bücher zum Schweigen zu bringen. Von einer Kette umschlossene Bücher (wie Konrad Balder Schäuffelns „libri catenati“)77 können als stellvertretende ‚Opfer‘ der Gewalt gegenüber Büchern (und Menschen) interpretiert werden, aber auch als handgreifliche Hinweise auf die Exklusivität von Büchern, auf die Widerständigkeit und Kryptik von Texten, auf versiegelte Bücher als Geheimnisträger. Zudem erinnern sie an Kettenbücher, wie sie in früheren Zeiten gebräuchlich waren: Bücher, die an Arbeitsplätzen angekettet wurden, um dort verfügbar zu bleiben. Die Überschreibung oder Überdruckung einer Text- oder Bildseite kann vieles und Verschiedenes signalisieren, nicht zuletzt bedingt durch den jeweiligen Modus der Bearbeitung: Sie kann als Akt der Kritik, als Akt der Zensur, aber auch als Kritik an Zensur interpretiert werden.  

77 Vgl. etwa Conradi Balderi Paliculae Liber Catenatus Tomus Secundus (einer von drei alte Pergamentbände, die mit Eisenketten umgeben und verschlossen wurden (1970); vgl. Abb. in Kat. Ausst. 1977, S. 341).  

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In László Lakners auf der documenta von 1977 gezeigten Arbeiten etwa dokumentiert sich der Protest des Dichters gegen externe Behinderungen seiner Artikulation, gegen Zensur, behinderte Meinungsäußerung, eingeschränkte Freiheit zur Buchproduktion.78 Gerhard Rühms Übermaltes Buch (1962) ist Produkt der Bearbeitung eines Gedichtbandes, der aus einem zur Entstehungszeit der Arbeit unter Zensurmaßnahmen leidenden Land entstammt: Hans Reichs Anthologie Lyrik aus Ungarn. Der Leinenband wurde schwarz eingefärbt, die Seiten weitgehend schwarz übermalt. Nur einzelne Textstellen blieben sichtbar, so etwa die Wörter: „bald vorbei“, „löst sich auf“, „verweht“, Stephanie Endlich beschreibt Übermaltes Buch als „ein beklemmendes Bild zur kommunistischen Zensur, die durch die Wahl der ungeschwärzten Worte […] zugleich ad absurdum geführt wird“ (Endlich 2007, S. 295). Ein Buchobjekt, dessen Hersteller besorgt an das drohende Ende des Buchzeitalters zu erinnern scheint, hat etwa Raymond E. Waydelich geschaffen; er nennt es „unlesbar restaurierte Bücher“ und spielt damit warnend auf eine Zeit an, der sich der Zugang zum Buch in übertragenem Sinn verschließen könnte. Die drei Objekte (1979) bestehen aus Büchern, Wachs und Schrauben (Kat. Ausst. 1980, S. 99). Damit vergleichbar sind Objekte, die aus ganzen Bücherwänden, Regalen oder Bibliothekseinrichtungen geschaffen werden, die sich gegenüber dem Betrachter verschlossen geben oder mit ihrem Verschwinden drohen.  





Rhetoriken der Negation. Die Arbeit an Buchwerken scheint oft getragen durch eine skeptische Grundhaltung gegenüber Wort und Sprache – eben jene Skepsis, die sich auch in der Literatur der Moderne so nachdrücklich artikuliert. Aber das ist nur die eine Seite des spannungsvollen Verhältnisses zwischen Wort und (Buch-)Materie. Auf der anderen Seite stehen gerade Buchobjekte in vielfältigen Beziehungen zu Worten und Texten, denen sie ihre Bedeutungspotenziale verdanken. Und viele Buchobjekte setzen dem Wort ein schweigendes Denkmal. Manchmal erscheinen sie wie Gebilde, die angesichts des angeblichen oder tatsächlichen Endes des Buchzeitalters an die auratische Dimension des Buchs erinnern. Die Prinzipien der Verfremdung und der Negation spielen in weiten Bereichen der Buchkunst eine prägende Rolle. Negiert (zumindest spielerisch) wird das Buch als Institution, verfremdet werden konkrete Bücher. Am Ende des Spektrums der Möglichkeiten steht – auf das Schweigen, die Aussageverweigerung folgend – die Vernichtung des Buchs. Analog zur in Texten entfalteten Schweige-Rhetorik entfaltet sich in der Buchkunst eine Rhetorik der Nichtkommunikation. Aber auch und gerade verweigerte oder verhinderte Kommunikation erscheint als bedeutsam, als vielsagend. Wie die genannten Beispiele illustrieren,  





78 Vgl. Curses (Flüche). Poems of László Lakner, 1970. 19,3 x 12,0 x 3,0 cm. In: Kat. Ausst. 1977, S. 324: „Gefesselter Band mit Gedichtmanuskripten des Künstlers. Lakner verschnürte und ‚fesselte‘ […] seine Manuskriptbände […] als Antwort auf seine damalige sozial-kulturelle Position in Budapest.“  











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kann das durch seine äußere Gestalt ebenso wie durch seine Botschaften irritierende, unordentliche, das deformiert wirkende Buch vielfach und widersprüchlich semantisiert sein: Es kann als Opfer (etwa von Zensur und Verstümmelung) erscheinen, aber auch als Vehikel der Täter, als materialisierte Macht. Und es kann als Protest gegen das ‚funktionale‘ oder ‚schöne‘ Buch präsentiert, respektive: interpretiert werden (vgl. Dittmar 1977a über die ‚Antibücher‘ von Herbert Zangs). Auch und gerade dort, wo es scheint, als verweigere sich das Buch, hat es Appellcharakter: Es lädt zu Deutungen ein, gerade wo es sich zunächst ‚unverständlich‘ und irritierend zeigt, es eröffnet neue Formen der Kommunikation, auch wo es sich gegenüber dem Wunsch nach Verständnis sperrig zeigt. Verwurstung von Büchern. Dieter Roth (auch Diter Rot) geht mit dem Bearbeiten von Büchern besonders weit (vgl. Kat. Ausst. 1977, S. 338, Abb. S. 339): Auf ironische Weise kommentieren diverse Buchobjekte Roths das, woraus sie gemacht sind. Auf der documenta 6 präsentierte Roth eine Serie von Objekten. Die Verfremdungen, denen dabei die buchförmigen Ausgangsmaterialien unterworfen wurden, sind unterschiedlich tiefgreifend. Zu Roths Spezialitäten gehört es, Buch-Materie wie Nahrungsmittel zu behandeln und entsprechende ‚Mahlzeiten‘ anzurichten.79 Das Objekt Poetrie (1967) in einer Vorzugsausgabe der Poetrie 2 besteht aus einem bedruckten Plastikbeutel, der mit gefärbtem rosa Kleister angefüllt ist. Poeterei (1968) besteht aus 38 Stammrollbeuteln in einer Holzkiste. Alle Beutel sind mit Nahrungsmitteln (Hammelkoteletten, Sauerkraut und Würstchen) gefüllt.  



Die Buchobjekte des Martin Schwarz. Die Bucharbeiten von Martin Schwarz illustrieren in vielen Variationen den stimulierenden Effekt eines an Materialien interessierten buchkünstlerischen Arbeitens in besonders facettenreicher Weise: Durch die Verwendung ungewöhnlicher Materialien zur Produktion von Büchern oder buchähnlichen Objekten sowie durch die physische Hybridisierung von Büchern und anderen Materialien macht hier das Materielle in oft irritierender Weise auf sich aufmerksam. Schwarz’ Bearbeitungen von Buchkörpern wirken teilweise, als sollten Bücher zum Schweigen gebracht werden: Nichts/nothing (1972–1976) entstand durch Übermalung von Heideggers Was ist Metaphysik?.80 Von dem bearbeiteten Buchexemplar blieben

79 Im Katalog „Buchobjekte“. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau, 13. Juni bis 10. Juli 1980, finden sich diverse Objekte Dieter Roths. Zitiert wird als Devise Roths der Satz: „Mein Auge ist ein Mund und mein Mund ist ein Auge“ (Kat. Ausst. 1980, S. 83). 80 Vgl. Kat. Ausst. 1977, S. 344f.: „Mit grauem Acryl eingefärbter Band von Heidegger, Was ist Metaphysik?, 10. Aufl., Frankfurt/Main 1972, Kladermann [sic! richtig: Klostermann]. Text bis auf Titel und Untertitel, das Wort ‚Nichts‘ und die Fragezeichen der Interpunktion schwarz übermalt; dazu ein in gleicher Weise bearbeitetes Autograf Heideggers unter Glas in schwarzem Rahmen […]“ (ebd., S. 344).  





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nach der Einschwärzung nur Titel und Untertitel, ferner alle Erscheinungsstellen des Wortes „nichts“ sowie alle Fragezeichen übrig. Der Künstler hat das Buchwerk als visuellen Ausdruck von „Gedanken an die nichtgedachten Gedanken“ charakterisiert (ebd.). Trotz der recht gewaltsamen Bearbeitung der Schrift Heideggers wirkt das so perspektivierte Buchobjekt spätestens jetzt nicht mehr eindeutig als Ausdruck einer Kritik, welche (womöglich) Heidegger so gründlich zum Schweigen bringen möchte, dass von seinen Ausführungen „nichts“ übrigbleibt. Eher suggeriert Schwarz’ Kommentar, dass dem von Heidegger Gedachten ein Ungedachtes gegenüberstehe, auf das das eingeschwärzte Buch verweise. Mehrdeutig ist dieser Kommentar allerdings, weil er auf mindestens zwei verschiedene mögliche Einschätzungen des Heideggerschen Textes deutet: Zum einen erscheint Was ist Metaphysik? als mögliches Sprungbrett vom Gedachten ins Ungedachte. Zum anderen aber kann man die Bemerkung auch so verstehen, dass dem Heideggerschen Text manche Gedanken fehlen, dass er manches Fragezeichen im Raum stehen lässt und auf „nichts“ eine Antwort gibt. Verbindend erscheint für diese und ähnliche Arbeiten am konkreten Buch als einem mit Texten gefüllten Bearbeitungssubstrat die Spannung zwischen impliziter Distanzierung von den übermalten Texten und der unausweichlichen Fokussierung, die das übermalte Textsubstrat gerade durch solche unkonventionelle Behandlung erfährt. Die Bucharbeit Album ist ein schwarz übermaltes Fotoalbum, das nur ein Foto enthält: das seiner selbst; Silenced book besteht aus einem Buch, dessen Seiten zusammengeleimt wurden und das anschließend schwarz angemalt wurde; Murdered Book entstand, indem seine Seiten entfernt wurden: „The book was deprived of its language and its life“.81 Komplementär dazu erzeugen viele Arbeiten den Eindruck, das Buch sei lebendig, ein theriomorphes Objekt oder sogar ein Wesen mit menschlichen Körperteilen. Vor allem Augen signalisieren solche Lebendigkeit. Freilich: es handelt sich um tote Augen, tote Objekte – und so liegt auch die Erinnerung an Tierpräparation nahe, an naturkundliche Sammlungen mortifizierten einstigen Lebens (vgl. Schwarz 2008).  

Buchhybride bei Schwarz. Viele Buchwerke irritieren den Betrachter durch ihr hybrides Erscheinungsbild, ihr gleichsam doppeltes Gesicht: Handelt es sich um ein Buch, um ein Lebewesen bzw. dessen dreidimensionales Abbild, um eine Hybriderscheinung aus beidem? Befindet sich das Buch im Übergang zur theriomorphen Gestalt, wird ein Tier gerade zum Buch? Das Irritationspotenzial dieser und ähnlicher Objekte lässt sie als „offene Objekte“ erscheinen, deren verunsichernde Wirkung darauf beruht, dass sie konventionelle Differenzierungen infrage stellen (hier u. a. die Leitdifferenz zwischen Lebendigem und Totem, Organischem und Anorganischem) – und damit unsicher erscheinen lassen, wie hilfreich solche Basisdifferenzierungen bei  



81 Kommentartext von Rolf Dittmar in Kat. Ausst. 1978, S. 123. Alle aufgeführten Beispiele von Martin Schwarz ebd., S. 122–123.  



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der Beschreibung der Welt überhaupt sind.82 Die irritierenden, teils provozierenden Hybridbücher der Buchkünstler haben übrigens harmlosere kleinere Geschwister in Gestalt ähnlich mehrgesichtiger Spielbücher. Ein so beliebtes wie suggestives Spielzeug für Kleinkinder sind Bücher, die nicht nur Bücher, sondern zugleich auch noch etwas anderes sind – Kuschelkissen, Plüsch-, Stoff- oder Papptiere, Autos, Flugzeuge, Häuser, Gärten und Landschaften (durch die dann etwa Raupen klettern) etc. Die Spielzeugindustrie ist einfallsreich in der Produktion von teilbibliomorphen Hybridwesen.  

Hubertus Gojowczyks Bucharbeiten. Hubertus Gojowczyks Objekte lassen einerseits ahnen, dass kulturelle Erbschaften ein Ballast sind, gegen den man sich mit Werkzeug aller Art zur Wehr setzen möchte; andererseits sprechen manche Arbeiten von einer affirmativen persönlich-intimen Beziehung zum Buch, sie wirken wie Versuche der Verlebendigung. Der Künstler legt das Buch auf einen Teller, so, als lebe er nicht nur mit, sondern von Büchern. Eine Ausstellung der Werke Gojowczyks in Wolfenbüttel (1980) stand unter dem programmatischen Titel Worte ohne Bücher und Bücher ohne Worte. Gojowczyk umspielt die kategoriale Differenzierung zwischen Buchwelt und Dingwelt, lässt die Natur ins Buch Einzug halten und setzt Bücher natürlichen Verwandlungsprozessen aus (vgl. Kat. Ausst. 1975; Bücher, Zeichnungen und Objekte). Schon die Titel seiner Arbeiten deuten vielfach auf dieses thematische Interesse hin – und erinnern an Transformationen insgesamt, die unter anderem zu Auflösungen von Buchkörpern führen. Entsprechend heißt eine Arbeit (ebd., Nr. 1) schlicht Rest eines Buches. Teils mit ernsthaftem oder melancholisch gefärbtem, teils mit zitathaft-ironischem Gestus wird das Buch den Elementen ausgesetzt, zum Wesen mit theriomorphen Elementen oder zur Landschaft verwandelt. Oft ist vom ursprünglichen Buch nurmehr die Form übriggeblieben, etwa im Fall des Großen Bleibuchs (ebd., Nr. 22) und des Verhüllten Buchs (ebd., Nr. 24). Bücher werden zerrissen und versengt (Atlas I und II, ebd., Nr. 33), eingeweicht, zerrissen, aus verformtem Zeitungspapier gestaltet (Zeitung I und II, Kat. Nr. 34–37); Bücher und Buch-Teile werden durch Kombination mit anderen Materialien verarbeitet, etwa durch Integration eines eingeweichten Buchs und eines Baumrindenstücks in einen Holzkasten (Rindenstück, ebd., Nr. 38). Manche Bearbeitung wirkt gewalttätig, und die Titel der Arbeiten weisen, manchmal ironisch, manchmal sogar wortspielerisch, auf die semantischen Potenziale der Objekte hin. So präsentiert sich ein Liederbuch mit Nägeln beschlagen und mit Wachs überzogen (Liederbuch, ebd., Nr. 27), ein anderes Buch ist mit Stoff überzogen (Buch in Leinen, ebd., Nr. 28), ein weiteres wurde in Gips eingegossen (Halbversunkenes Buch, ebd., Nr. 29), ein wiederum anderes wurde angebrannt und  



















82 Vgl. Balke 2011, S. 87: „Offene Objekte verstehe ich […] als ontologisch unsichere Dinge, von denen eine tiefe Verstörung ausgehen kann, weil sie eine Herausforderung für die gewöhnlichen Praktiken der Auswahl, Einordnung und Bewertung von Dingen darstellen.“  

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anschließend mit Wachs fixiert (Brandbuch III, ebd., Nr. 32). Ein Eingesponnenes Buch (I und II) integriert das Buch scheinbar in natürliche Prozesse (vgl. ebd., Nr. 19). Hybridisierungsprozesse zwischen Buchkörper und Natur werden variantenreich inszeniert bzw. simuliert. So finden sich Bücher mit organischer Materie kombiniert, etwa mit tierischen Körpersubstanzen wie das Buch mit Fischhaut: „Buch, Forellenhaut, Spriktol[,] Forellenhaut auf linke Seite aufgeklebt, Text rechts überschrieben, 1973“ (ebd., Nr. 50), oder mit Produkten tierischer Organismen. Wie ein von Spinnweben überzogenes Nest wirkt Gojowczyks Buch mit rechteckiger Öffnung: „Buch, Spinnweben, Insekten, Blei[,] Buch ausgehöhlt und mit Blei ausgeschlagen, in den Deckel eine rechteckige Öffnung geschnitten, Spinnweben und Insekten eingeklebt“ (1975, ebd., Nr. 86). In die Nähe lebendiger Wesen rückt das Buch mit Wunde (ebd. Nr. 4); auf die Sterblichkeit des Lebendigen verweist das Fundstück aus einem mitteleuropäischen Gräberfeld (ebd., Nr. 14). Wie ein Opfer roher Behandlung erscheint das Buch mit aufgekratzten Seiten (ebd., Nr. 26). Buch-Objekte, die an Stoffwechselvorgänge erinnern, relativieren die Grenze zwischen anorganischem Buch und der Welt organischer Wesen auf eigene Weise und knüpfen dabei zugleich an eine facettenreiche Metapher für die Rezeption von Büchern und Texten an. Als Begonnene Mahlzeit (ebd., Nr. 30) wurden „Buch, Gabel, Messer, Brotkanten, Senf, Teller“ (1971) bezeichnet.  















Materialisierte Buchreflexionen und Sprachspiele bei Wolfgang Nieblich. Wolfgang Nieblich erkundet das Buch durch Arbeiten verschiedener Kunstgattungen; seine Perspektiven auf Buchproduktion und Buchkultur manifestieren sich in Assemblagen, Buchobjekten und Gemälden. Sein Werk bietet eine Fülle von Buch-Monstern, oft aus Sprachbildern generiert. Die Ausstellung Vom Umgang mit Büchern von 1982 dokumentiert das generistische und medial-materielle Spektrum dieser Arbeiten. Nieblich demontiert und rekombiniert, konstruiert hybride Objekte und Objektgruppen. In Assemblagen finden sich Buchteile in unterschiedliche Arrangements eingefügt; Bücher wurden dazu ganz oder teilweise bearbeitet, zerlegt, übermalt, zum Teil bis zur annähernden Unkenntlichkeit transformiert. Die Assemblage Rücken und Bünde (Nieblich 1982, S. 7) zeigt eine Serie hochkant nebeneinanderstehender Buchrücken, angebracht auf einer Leinwand, hell übermalt und bis auf einen kleinen Ausschnitt fast unkenntlich, in jedem Fall unlesbar gemacht, in großen, aber farblich kaum vom Hintergrund abgehobenen Lettern mit dem Wort „Buchkunst“ überschrieben. Diverse andere Arbeiten stellen Bücher oder Buchteile in ähnlicher Weise zum einen aus, um sie doch zum anderen fast unkenntlich zu machen oder aber ihre Präsentationsform rätselhaft erscheinen zu lassen, so die Assemblage Der Foliant (ebd., S. 9), ein weiteres Arrangement aus einer Leinwand mit einem Buch, die übermalt und beschrieben wurde, die Assemblage Von Wörtern (ebd., S. 11), bei der auf einer Leinwand drei aufgeklappte Buchhülsen sowie eine ganze Reihe von Buchseiten in zeilenartig untereinander stehenden Reihen montiert sind (eine der wiederum durch helle Übermalung teilweise bzw. graduell unlesbar gemachten Seiten verweist durch den gerade noch sichtbaren Titel auf Jean-Paul Sartres autobiografische Schrift Die Wörter), die mit  





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dem Schriftzug „habent sua fata libelli“ versehene Assemblage Die Filete (ebd., S. 13), bei der über den auf Leinwand montierten Buchteilen pendelartig ein Werkzeug zu schwingen scheint, das an die Vergänglichkeit aller Dinge erinnert, ferner die ebenfalls aus Buchteilen auf Leinwänden bestehenden Assemblagen Trogium Pulsatorium (ebd., S. 15), Der Codex (ebd., S. 17) und Preußische Instruktionen (ebd., S. 19).  







Buch-Welten und ihre Bestandteile. Die Sphäre der Buchproduktion, des Buchdrucks, der Buchmaterialien und des Buchkörpers, aber auch der Inhalte von Büchern und ihrer Entstehungsparameter wird bei Nieblich variantenreich mit allerlei aus Buchteilen gebildeten Assemblagen thematisiert: mit Libris (ebd., S. 99), mit Der Text (ebd., S. 107), mit Bibliothek I (ebd., S. 127), Bibliothek II (ebd., S. 171), Bibliothek III (ebd., S. 163) und Bibliothek IV (ebd., S. 165), mit Schreiben I (ebd., S. 143; die Assemblage enthält u. a. eine Gänsefeder sowie diverse Stahlfedern), Schreiben II (ebd., S. 133; Bestandteil dieser Assemblage sind u. a. diverse Bleistifte und ein Radiergummi) und Schreiben III (ebd., S. 157; Assemblage mit verschiedenen Papieren, Federhaltern und Stahlfedern), mit Handschriften I (ebd., S. 179) und Handschriften II (ebd., S. 137), mit Ex Libris (ebd., S. 161) und mit Edition (ebd., S. 169). An die Materialien des Buchbinders erinnern die Objekte Binden I (ebd., S. 103) und Binden II (ebd., S. 101), Die Prägung (ebd., S. 109), Perlleim (ebd., S. 173), Leder (ebd., S. 105) und Buchleinen (ebd., S. 131). Auf die Arbeit des Druckers verweisen Der Druckfehler (ebd., S. 97), Druckplatten (ebd., S. 139), Lettern (ebd., S. 159) und Zwiebelfische (ebd., S. 167). Und es geht ums Drucken (ebd., S. 175) und Illustrieren (ebd., S. 177), um Übersetzung (ebd., S. 111) und Rechtschreibung (ebd., S. 193, Assemblage mit Teilen eines Rechtschreibe-Dudens), sowie um das Buch als Wörter-Buch (vgl. S bis V; Assemblage, u. a. mit einer gedruckten Seite, auf der Verben wie „schreiben“, „lesen“ etc. stehen; ebd., S. 199).83 Mit arrangierten Büchern und Buchteilen, ergänzt um andere Objekte, füllt Nieblich zur selben Zeit auch Objektkästen, deren Titel dabei schon auf materielle Aspekte des Buches bzw. auf die Welt der Schrift verweisen – so Neumen (ebd., S. 25), Goldschnitt (ebd., S. 27; wiederum ein Arrangement aus Buchrücken), Die Krümmung (ebd., S. 29), Vom Vermessen des Alphabets (ebd., S. 31), Lettern (ebd., S. 33), Vertikal ausgebunden (ebd., S. 35) und ähnliche Arbeiten.  











































































83 Eine Hommage an ein mediales Pendant des Buchs bietet die Assemblage Das Hörspiel (Nieblich 1982, S. 135), zu deren Kompositionselementen u. a. eine (defekte) Audiokassette gehört. Durch Assemblagen repräsentiert werden auch Themen wie Zensur (Zensur; ebd., S. 125; gezeigt werden verschiedene durch Zensurmaßnahmen modifizierte Textseiten) und Bücherverbrennung (Verbrennen nach 45; ebd., S. 121; Arrangement aus Blättern, die auf staatliche Kontrollpraktiken verweisen). Weitere Ausstellungen und Publikationen zeigen oft schon durch ihren Titel die Kontinuität der Auseinandersetzung Nieblichs mit Buch-Welten an, so etwa Das Buch als Objekt (Berlin 1985); BuchSkulpturen (Gütersloh 1991), Die imaginäre Bibliothek (Berlin 1998), Bücherwelten & andere Welten (Berlin 2007), Die unendliche Bibliothek (Berlin 2011) und 12 Miniaturbücher (Berlin 2012). Nieblichs Bucharbeiten umfassen u. a. auch Bronzereliefs, so etwa Lesen & Schreiben (Aufl. 12; Nieblich 1982, S. 93).  













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Wortgenerierte Bücher. Eine Reihe von Arbeiten Nieblichs beruht auf der Grundidee, Komposita oder metaphorische Ausdrücke aus dem Umfeld von Buch, Texten oder Schrift durch Objekt-Arrangements gleichsam zu materialisieren; diese Buchobjekte erscheinen als physisch sinnfällig gemachte Wortspiele. Das Literaturnetz (ebd., S. 61) etwa besteht aus einem Arrangement von 25 aufgeschlagenen Büchern, die in einer Anordnung von fünf Reihen konkret durch Kordeln kreuz und quer miteinander vernetzt wurden. Unter dem Titel Das Bücherlabyrinth (ebd., S. 63) stand ein (Ende 1982 in der Berliner Akademie der Künste realisiertes) Environment, das aus ganzen Wänden miteinander materiell vernetzter aufgeklappter und zu senkrecht stehenden Flächen gefügter Bücher gebildet wurde. Das Wort „Buchweizen“ hat Nieblich zu verschiedenen Arbeiten angeregt, die auf der wortspielerischen Interpretation des ersten Wortteils als Synonym von ‚Kodex‘ basieren. Unter dem Titel Das Buchweizenfeld steht ein Arrangement aus zahlreichen Paperbacks, die, zu einer quadratischen Fläche ausgelegt, zum ‚Boden‘ wurden, aus dem Weizenhalme sprießen (Modell; ebd., S. 65 – Realisation des Environments in der Akademie der Künste Berlin; vgl. ebd., S. 67). Das Environment lässt sich als Konkretisierung der Metaphorik vom ‚ersprießlichen‘, ‚fruchttragenden‘ Lesen deuten, als Hinweis auf Wortund Gedanken-‚Saaten‘, und mithin als zwar humoristischer, aber doch affirmativer Beitrag zur Kultur des Buchs und des Lesens. Allerdings gemahnt das Heraussprießen der Getreidehalme aus den Büchern auch daran, dass selbst Medien der Kommunikation von Gedanken, Ideen und Wissen in ihrer Eigenschaft als materielle Medien vergänglich sind – dass alle Körper, auch Buchkörper, dazu bestimmt sind, einst wieder ‚zu Erde‘ zu werden. Insofern ist es auch als buchbezogenes memento mori interpretierbar – wobei das Jesus-Wort vom Weizenkorn, das zwar in der Erde stirbt, dadurch aber Früchte trägt („Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Joh. 12, 24), gerade dadurch doch wieder eine positive Akzentuierung ins Spiel bringen mag. Aus Büchern geformte räumliche Objekte wie Mikado (eine Reihe hochkant stehend gegeneinander gelehnter, aus Büchern geformter Stangen; Nieblich 1982, S. 69) und Turmtexte (ein Stapel aus Büchern; ebd., S. 69) und ähnliche Arbeiten spielen mit der Grenze zwischen dem Buch und der übrigen Welt der Dinge. Bücher werden dazu auf verschiedene Weisen verformt, mit anderen Objekten zusammenmontiert und räumlich positioniert. Manchmal erscheinen sie dabei als Opfer gewaltsamer Behandlungen, so das Objekt Dornen (ebd., S. 77), bei dem in ein Exemplar des Bürgerlichen Gesetzbuchs zahlreiche spitze Metall-Objekte hineingetrieben wurden, sei es, um das bürgerliche Rechtswesen selbst als gewaltaffin, sei es auch, um es als Opfer der Gewalt (etwa der gewaltsam-willkürlichen Auslegung) zu charakterisieren. Insgesamt kommt die Verknüpfung von Büchern und Buchteilen mit anderen Objekten stets einem impliziten Kommentar gleich: zum Buch, aber auch zu dem, womit dieses bedingt durch seinen Werk-Titel jeweils assoziiert ist.  



















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Buchgestalterisch inszenierte Sprachbilder. Manche Buchobjekte Nieblichs wirken durch die ‚buchstäbliche‘, dabei aber eigenwillige Auslegung der ihnen zugrundliegenden Wortbildungen witzig (im Sinne eines auf Kontrastbildung beruhenden Witzes). Denn erstens bestehen sie aus normalerweise nicht verbundenen Objekten, und zweitens besteht zwischen dem jeweiligen Hybridobjekt und seinem Titel (also dem sinnfällig gemachten Wort) eine (humoristisch-)irritierende Verbindung. Aus zwei Büchern und einer sie zusammenhaltenden Metallzwinge gebildet ist das Objekt HuckePack (ebd., S. 83), dessen Titel eine spezifische Wahrnehmung der beiden Bücher stimuliert: Das kleines scheint auf dem größeren ‚aufzusitzen‘. David & Goliath heißt ein Objekt aus einem Buch mit zwei in es hineingetriebenen Messern, einem großen und einem kleinen (ebd., S. 205). Ähnlich besteht Diagnose (ebd., S. 215) aus einem Buch mit zwei hineingesteckten medizinischen Geräten: einem Klistier und einem Thermometer. Sprachlos heißt ein Objekt aus drei gestapelten und zusammenhefteten Telefonbüchern und einem auf dem Stapel platzierten Telefon (ebd., S. 85), das eine Art MiniGeschichte zu erzählen bzw. eine Situation zu schildern scheint: Da die Telefonbücher nicht geöffnet und folglich nicht genutzt werden können, kommt ein Telefon-Gespräch nicht zustande. Das Objekt Die Lesebrille ist eine Maske aus Schichten von (mit Texten) bedrucktem Papier, die eine randlose Brille trägt; an der Stirn der Maske ist auf einem weißen Feld das Wort „Lesen“ deutlich zu sehen (ebd., S. 87). Das Objekt löst verschiedene Assoziationen aus, stimuliert zu mehreren hypothetischen Interpretationen. So erinnert es an die Vorstellung, man könne in Gesichtern lesen, aber auch an die (komplementäre) Wendung vom ‚Gesicht‘ eines Textes. Die Brille scheint (als „Lesebrille“) einerseits eine Optimierung der Lektüre zu verheißen, andererseits sind hinter ihr gar keine Augen sichtbar – und was helfen Lesebrillen, wo die Sehorgane fehlen? Oder ist die (bärtige, dem Künstler ähnlich sehende) Maske eine Allegorie des Textes, der seinen Leser anblickt? Dass Texte ‚Brillen‘ sind, weil sie den Leser die beschriebene Welt genauer sehen lassen, ist eine geläufige Vorstellung. Aber dass die Brille hier auf ‚TextAugen‘ sitzt, die, aus bedrucktem Papier gebildet, eigentümlich blind wirken, gibt doch zu denken. Ein Wortspiel bildet auch die Basis des Objekts Die Presse – genauer: die Homonymie zwischen Druckpresse und der Presse als einer Art Maschine (ebd., S. 209): In eine Presse eingezwängt ist ein Stapel von Büchern, aus denen eine Flüssigkeit herausgeronnen zu sein scheint – so als habe man etwas Lebendiges zerquetscht. Ein ähnliches Buch-Maschinen-Hybrid ist Die Mühle (ebd., S. 213), gebildet aus einem Bücherstapel und der Drehvorrichtung einer alten Kaffeemühle. Geht es um das ‚Mahlen‘ und Zermahlen von Büchern und ihren Inhalten – oder geht es um Bücher als ein ‚Mahlwerk‘ für ihre Benutzer? Eine ganze Reihe von Arbeiten Nieblichs dokumentiert einen lustvoll-spielerisch inszenierten Sadismus gegenüber Buch-‚Körpern‘: So auch das von einem Wiegemesser (so der Buchtitel; ebd., S. 221) zerschnittene Buch oder eine Reihe von Heften, die gerade von einer alten Nähmaschine bearbeitet werden (Maschinell; ebd., S. 223). Präsentiert wird das Buch auch als Fenster (Assemblage; ebd., S. 197), wobei das Ensemble aus allesamt intransparenten Buchteilen eigenartigerweise durch ein Linien-Netz an ein gesprungenes Fensterglas erinnert. Pendant zur Fens 



























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ter-Assemblage ist eine Collage mit dem Titel Jede Mauer ist eine Pforte, die eine aus Buchteilen gebildete Mauer als Teil eines Gebäudes zeigt; wie dessen Fenster vergittert sind, so sind die Bücher intransparent bzw. verschlossen (ebd., S. 201).  

Literaturbezüge. Kontinuierlich nehmen Nieblichs Bucharbeiten Bezug auf literarische Texte, indem sie diese in ihrer materiellen Gestalt, auf bedruckten Seiten stehend, in die Assemblagen und Buchobjekte hineinzitieren. All diese Zitate – etwa aus Büchners Woyzeck (vgl. Schreiben III; ebd., S. 157) – eröffnen auf je eigene Weise potenzielle Räume des Interpretierens. Wenn sich das Objekt Die Wörter (ebd., S. 207) als ein Einmachglas mit Papierschnipselfüllung präsentiert, so deutet der Aufkleber („Jean-Paul Sartre/Die Wörter“) zwar einerseits an, dass hier ein bestimmter Text zerlegt und eingemacht wurde, aber das Arrangement als solches ist mehrdeutig: Betont es die Dauerhaftigkeit des Textes, der hier in einer ‚Konserve‘ enthalten ist; ist das konservierende Glas ein Gleichnis des Buchs als Ort der dauerhaften Aufbewahrung von „Wörtern“? Oder signalisiert das seltsame Glas, dass hier ein Text zerstört wurde und die Aufbewahrung seiner materiellen Bestandteile keine wirkliche Lektüre mehr zulässt? In ein Konservenglas gesteckt wurde auch eine Taschenbuchausgabe von Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt; einmal mehr verweist der Titel (Eingeweckte Welt; ebd., S. 217) auf mehrerlei: auf (Zwangs-)Maßnahmen gegenüber Büchern (die in der Romanwelt Huxleys ihre kulturelle Funktion verloren haben), aber auch auf das Buch-Medium als Konservierungsort literarischer Welten. Wer Huxleys Roman kennt, wird so zudem daran erinnern, dass in der Brave New World Menschen in Reagenzgläsern gezeugt und in Retorten aufgezogen werden, dass sie in einem totalitären Gefüge von Normen und Regeln zeitlebens gefangen sind, dass ihre Lebensberechtigung an ihre Jugendlichkeit und Frische geknüpft ist. In mehr als einer Hinsicht ist das Lebensumfeld der ‚neuen‘ Weltbürger also mit einem Ensemble von Einmachgläsern vergleichbar. Mit den gedruckt-zitierten Texten zusammengestellt finden sich handschriftliche Texte des Künstlers selbst, so etwa diaristische Aufzeichnungen und Notizen zum Thema Buch (vgl. Schreiben III; ebd., S. 157). MSE  











A 4.3 Palimpseste Palimpsestierung ist eine spezifische Verwandlungspraxis, wobei der Begriff zunächst die physische Überschreibung eines zuvor bereits benutzten Textträgers meint (Mentzel-Reuters 2003, S. 387), zudem aber zur geläufigen Metapher für Transformationen anderer Art geworden ist.84 Die Mehrdeutigkeit des Palimpsest-Begriffs kann dabei  

84 Der Palimpsest-Begriff bezeichnet zunächst ein Manuskript, dessen Schrift bei einer Neuverwendung des Papiers überschrieben wurde, unterhalb des neuen Textes aber noch (wenngleich erst mit

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bewusst ins ästhetische Kalkül einbezogen sein – wie auch seine Unschärfe. Die Realisierung von ‚Palimpsest-Werken‘ erfolgt unter Orientierung an verschiedenen Palimpsest-Konzepten. Zu unterscheiden wären insbesondere zwei Konzeptualisierungstendenzen des ‚Palimpsests‘, die sich im Übrigen gegenseitig nicht ausschließen: Als Palimpsest verstanden wird erstens das konkrete Produkt des Recyclings von zuvor bereits benutztem Material (entsprechend den mehrfach beschriebenen Pergamenten in der mittelalterlichen Schreibpraxis). Zumindest begrifflich hiervon zu unterscheiden sind zweitens ‚palimpsest‘-artige Strukturen, die durch Bezugnahme eines ‚Hypertextes‘ auf einen ‚Hypotext‘ entstanden sind und durch ihre Komplexität dem Lesen, Betrachten, Interpretieren spezifische Anstrengungen abverlangen und dem Verstehen Widerstände entgegensetzen. Genettes „Palimpseste“ sind Texte, welche nicht physisch-konkret unter Verwendung bereits vorgefundener Materialien entstanden sind, sondern vielmehr unter Verwendung von Zitaten. Wer in diesem Sinn zitiert und entlehnt, bearbeitet keine physische Substanz, sondern verbale oder visuelle Formulierungen (die meist wiedererkennbar sind und als Zitate auch wiedererkannt werden sollen).  

Palimpsestierung als Buchbearbeitung bei Tom Phillips. Ein auf der Idee der Palimpsestierung beruhendes Künstlerbuchprojekt ist Tom Phillips’ A Humument, das in mehreren Fassungen vorliegt (Phillips 2016 (zuerst 1980 u. a., vgl. Teil E 2.14).85 A Humument entstand durch die technisch und stilistisch abwechslungsreiche Übermalung der Seiten eines bereits existierenden Buchs – eines vergessenen viktorianischen Romans von William Hurrell Mallock mit dem Titel A Human Document. Wie dieser Titel bei Phillips zu A Humument zusammengekürzt wird, so präsentieren auch die Buchseiten in A Humument insgesamt jeweils nur Reste von Mallocks Text, nämlich einzelne Wörter und Wortreihen, die von der Übermalung nicht überdeckt worden sind. Der Rekurs auf einen solchen (hier keineswegs in konventionellem Sinn ‚interpretierten‘) Substrattext erscheint als programmatisch. Erstens deutet er an, dass ein prägendes Interesse des Künstlers dem Buchkörper selbst und seiner Gestaltbarkeit gilt. Und zweitens präsentieren sich die von der Übermalung ausgesparten Textfragmente sinnfällig als Relikte, als Spuren eines von den gegenwärtigen Farbschichten weitgehend überdeckten Früheren. Das Portmanteau-Wort „Humument“ erscheint als  



Mühe oder auf den zweiten Blick) lesbar ist. In seinem Buch Palimpsestes (Genette 1982) entwirft Gérard Genette am Leitfaden einer metaphorischen Verwendung des Palimpsest-Begriffs ein System von katalogartig aufgeführten und gegeneinander abgegrenzten Text-Text-Beziehungen. Es geht um Texte, die von Vorgängertexten abhängen und auf diese verweisen, sie also im metaphorischen Sinn partiell ‚sichtbar‘ werden lassen, in Spuren, Resten, Fragmenten (u. a. in Zitaten, Titelnennungen oder Paraphrasen). 85 Bearbeitet seit 1966, publizierte Phillips A Humument erstmals 1971 in zehn Sektionen, 1980 folgte eine erste Buchausgabe. Weitere Ausgaben folgten (1987, 1997, 2005, 2012); dabei wurden oft Seiten neu bearbeitet und ausgetauscht. Vgl. zu diesem Werk Ernst 2015, ferner: Hubert/Hubert 1999, S. 71–96.  



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ironischer Hinweis darauf, dass die Bearbeitungen den Ausgangstext einerseits ‚begraben‘ (ihn mit Farben bedecken wie eine Leiche mit Erde), dadurch als sein Grab aber eben gleichzeitig zu seinem ‚Monument‘ werden. Punktuell erscheint der Text ‚exhumiert‘. Phillips’ 1985 veröffentlichtes Künstlerbuch Dante’s Inferno (vgl. dazu auch Teil E 2.21) besteht aus einer Serie von 139 Bildern, welche sich auf die 34 Canti des ersten Teils der Commedia beziehen, verbunden mit einer englischen Übersetzung des Danteschen Inferno durch den Künstler selbst (Phillips 1985). Zudem verfasst Phillips einen umfangreichen Kommentar zu seinem Werk, der – nach einer ersten unkommentierten Fassung des Projekts (1983) – in die Buchpublikation aufgenommen wird. Jedem Canto sind vier Bilder zugeordnet, die, alles andere als Illustrationen in einem konventionellen Sinn, auf der Basis unterschiedlicher Materialien und Techniken hergestellt wurden und auf unterschiedliche Gegenstände, Bildquellen und Bildprogramme verweisen. Dante’s Inferno ist ein Projekt, in das viele Stufen der Lektüre und Materialsammlung, Rezeption und Reflexion eingegangen sind. Das Buchprojekt gestaltet sich als ein work in progress. Es wird nach diversen Vorarbeiten erstmals 1983 in einer Auflage von 180 Exemplaren publiziert, erscheint aber zwei Jahre später schon in etwas verändertem Format, in größerer Auflage und preiswerterer Ausgabe (vgl. Calè 2007). Für Dante’s Inferno wird wiederum Mallocks Roman übermalt; insofern ist dieses Projekt ein konzeptuelles ‚Palimpsest‘ zu A Humument. Mallocks Roman selbst hat nichts mit Dante oder mit einer von Dante behandelten Thematik zu tun. Obgleich selbst in hohem Maße interpretationsbedürftig, verstehen sich die Bilder in Dante’s Inferno doch als ‚Kommentare‘ zu Dantes Dichtung, demnach also als Hilfsmittel bei der Erschließung von deren Sinnpotenzial. Phillips betont die Textnähe und intendierte Verständlichkeit seiner Übersetzung. Aber das Interesse an einer Erhellung der Danteschen Wissens- und Vorstellungswelt entspricht nur einer Seite des Projekts. Komplementär zu solcher Transparentisierung kommt es zu Überlagerungen des Danteschen Ausgangstextes durch gleich mehrere Schichten neuer visueller Strukturen und latenter Botschaften – und das heißt zu einem Komplexitätsgewinn, der neue Rätsel und Obskuritäten erzeugt. An der umfangreichen Bilderserie selbst fällt vor allem der reichhaltige Gebrauch von Bildzitaten auf. Ostentativ zitierend, wird auf den Arbeitsprozess als auf ein Umgestalten von Vorlagen aufmerksam gemacht. Die jeweils zitierten Bildvorlagen sind als solche unterschiedlich leicht identifizierbar, und stellen den Betrachter schon darum oft vor Interpretationsaufgaben. Dies und die gelegentliche Mehrfachnutzung bestimmter Bildvorlagen, Bildprogramme und Techniken machen die Bilderserie zu einem Netzwerk aus polyvalenten Elementen, die zur Erprobung diverser Lesestrategien einladen. Phillips’ dem Inferno-Buch seit 1985 integrierten Kommentare zu seinen Bildern erklären vieles zum Arbeitsprozess, zu Einfällen und deren technischen Umsetzungen. Wiederholt wird (manchmal explizit, oft implizit) eine übertragene Bedeutung der jeweils gewählten künstlerischen Techniken und Gestaltungsprinzipien selbst signalisiert. Mit dem Kommentarteil bewegt sich Phillips zudem in der Spur philologischer Dante-Exege 





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sen, auf die er des Öfteren anspielt. Erläuterungen zu Thematik und Motivik, zu Aufbau und Materialität der Bilder verbinden sich mit Kommentaren zu den Danteschen Canti selbst. Insgesamt hebt der Kommentar nicht nur bestehende Vernetzungen heraus, er schafft – durch Hinweise auf Texte, Werke, Personen etc., die der Leser sonst vielleicht nicht assoziiert hätte,– auch neue Verbindungen.86 Versteht man Dante’s Inferno als ein dem Thema Interpretation gewidmetes Projekt, so erscheinen Phillips’ der Buchausgabe seines Infernos beigefügte Selbstkommentare jedenfalls nicht als Para- oder Metatexte im von Gérard Genette umrissenen Sinn, nicht als dem Werk äußerliches ‚Beiwerk‘, sondern vielmehr als integrale Bestandteile des gesamten Unternehmens – obwohl Phillips die Lektüre des Kommentars für optional erklärt.  



Text-Übermalung als Text-Interpretation: Roni Horn, Kafka und der Bau. Das von Roni Horn mitgestaltete Taschenbuch bietet einen Komplettabdruck von Kafkas Erzählung Der Bau (Kafka 2014), die in diversen Taschenbuchausgaben desselben Verlags (Fischer) als Bestandteil des publizierten Kafkaschen Œuvres vorliegt. Die hinzugefügten „Zeichnungen“ (so die paratextuelle Formulierung) von Roni Horn bieten reproduzierte Arbeiten Horns in Seitengröße. Insgesamt 11 Seiten des im Taschenbuch abgedruckten Textes wurden überarbeitet und in ein Schrift-Bild verwandelt. Die Schriftzeilen – jeweils eben die derjenigen Druckseite, welche auf der im Buch jeweils gegenüberliegenden Seite gut sichtbar als Bestandteil des Kafka-Textes erscheint,– sind infolge der Bearbeitung stark verblasst, wie von weißen Farbaufträgen überdeckt oder aber ausradiert (dies lässt sich anhand der fraglichen Buchseiten selbst nicht entscheiden). Stünde nicht der lesbare – und, wie der Leser weiß, schon früher gedruckte – Text daneben, so könnte man auch an eine Schrift in statu nascendi denken, so aber wirken die Seiten Horns wie die Darstellung einer fast gänzlich gelöschten Schrift. Nur schemenhafte Reste präsentieren sich als Spuren der verschwundenen Drucktextzeilen, bei genauem Hinsehen kann man auch Buchstabenfolgen und Worteinheiten zu erheblichen Teilen noch wiedererkennen. Zudem sind auf jeder der bearbeiteten Druckseiten bei der Bearbeitung einzelne Wörter oder Satzfragmente gut sichtbar stehen geblieben, allenfalls leicht ‚schadhaft‘ durch die Intervention der Bearbeiterin (vgl. ebd., S. 11, 21, 25, 33, 39, 51, 59). Da die bearbeiteten Seiten (bzw. ihre drucktechnischen Reproduktionen) mit den Text-Relikten genau gegenüber den ihnen entsprechenden unbearbeiteten Seiten platziert sind, wird die Suggestion eines Verschwindens noch verstärkt. Die bearbeiteten Seiten tragen zwar keine Seitenzahlen, sind aber in die Seitenzählung des Buchs einbezogen, wodurch signalisiert wird, dass sie zum laufenden Text gehören, dieser Text – betrachtet als ein Prozess – also durch  











86 Als Buchkünstler steht Phillips in Beziehung zu wichtigen Vorläufern im Feld der bildkünstlerischen Danterezeption: zu Botticelli (dessen Dante-Bilderzyklus vermutlich in ein Buch eingehen sollte), zu Blake (insbesondere mit Blick auf die gestalterischen Freiheiten und individuellen Akzentsetzungen, die Blakes Umgang mit der Commedia prägen), sowie zu Doré, der u. a. als Lieferant interpikturaler Zitate dient.  

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ein gelegentliches Verschwinden des Textes geprägt ist. Die bearbeiteten Seiten mit ihren Text-Resten fordern ein genaues Lesen; dieses stellt sich, bezogen auf Kafkas Texte, als Pendant eines grabenden, insistenten Schreibens dar. Der namenlose IchErzähler von Der Bau ist ein Tier, das unermüdlich und ohne erkennbares Ziel an einem weitläufigen unterirdischen Höhlenwerk baut und seinen Bericht als Deskription dieser Arbeit angelegt, beschrieben aus der Tätigkeit heraus, diese begleitend, also nicht aus der Distanz. Der Bau erscheint als Gleichnis eines unabschließbaren Textes und korrespondiert Kafkas spezifischer Poetik des Schreibens als eines (auch) physischen Sich-Vortastens ins Unbekannte. Aktualisiert wird dabei die etymologische Verwandtschaft zwischen dem griechischen Verb ‚graphein‘ und dem Verb ‚graben‘, welche an Einkerbungen und Einritzungen als frühe Formen der Grafie erinnert. Die in den Text integrierten bearbeiteten Buchseiten Horns nutzen die Räumlichkeit des Buchs, um diese Analogisierung von Text und Bau nachdrücklicher sinnfällig zu machen: Durch die Text-Fragmente erfolgt eine Inszenierung von ‚Auftritten‘ des grabenden/schreibenden Tiers. Dieses scheint sich auf den überarbeiteten Seiten aus der Tiefe unterhalb des gerade obenliegenden Blattes herauszuarbeiten – und die wenigen klar sichtbaren Wörter scheinen eine Oberfläche zu durchbrechen – ähnlich einem Körperteil, der partiell sichtbar wird, einer verschütteten und partiell freigelegten Schrift oder auch analog einer punktuell (aus dem Untergrund, aus der Ferne, im Vorbeiziehen) hörbaren Stimme. Interpretiert man die bearbeiteten Buchseiten als Visualisierungen der dargestellten Grabe-Arbeit, die zugleich eine Schreib-Arbeit ist, so erscheint der Buch-Körper als der Grabungsraum, innerhalb dessen das schreibendgrabende und grabend-schreibende Erzähler-Tier immer wieder einmal kurz sichtbar wird. Der Leser begegnet dem Tier, indem er selbst den Buchraum durchstreift und dabei auf die Blätter trifft, welche die eben durchstoßene Oberfläche bilden.  



Sonett-Palimpseste 1: Jen Bervins The Sonnets of William Shakespeare (2004). Wird ausgehend von einem bereits existierenden Hypotext ein auch im physisch-konkreten Sinn ‚palimpsestartig‘ wirkender Hypertext geschaffen, so sind neben Inhaltsaspekten auch Formaspekte relevant. Während ‚bearbeitete‘ Prosatexte sich dem Bearbeiter in der Regel als rechteckiges Textfeld präsentieren (aus dem sich dann Segmente herauslösen oder aber herauslöschen lassen), bestimmt im Fall vieler lyrischer Texte deren Form auch ihr visuelles Erscheinungsbild, das dann ebenfalls zum Ausgangssubstrat der Bearbeitung gehört. Sonette sind durch ihre prägnante Form ausgewiesen – und als Basis poetischer ‚Palimpsestierungen‘ daher besonders ergiebig. Buchgestalterische Arbeiten, welche auf der Bearbeitung konkreter Textausgaben beruhen und diese physisch-konkreten Transformationen unterziehen, besitzen Anschlussstellen an ästhetische Praktiken der Appropriation und lassen sich teilweise als Appropriationen beschreiben. Dies gilt etwa für das im Folgenden vorgestellte Büchlein von Jen Bervin. Konzeptionell ist dies appropriierenden Arbeiten analog, die sich als hochgradig ähnliche Wiederholungen bereits bestehender Artefakte – in diesem Fall Bücher – präsentieren, durch deren Produktion sich der jeweilige Künstler  





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die Vorlage ostentativ aneignet (zur Appropriation vgl. Gilbert 2012). Das Cover von Jen Bervins Buch The Sonnets of William Shakespeare (2004; Fettdruck nach Jervin) zeigt (ohne jeden Textanteil) eine Netzstruktur auf schwarzem Grund; sie erinnert an Drahtzäune und wegen der sechseckigen Form der Lücken an Bienenwaben. Diesem paratextuellen Hinweis auf die Bedeutung von Formen entspricht der Inhalt: eine Serie von Sonetten, also von Texten, die durch die Bedeutung ihrer Form in besonderem Maße charakterisiert sind. Das Bändchen selbst enthält, abgedruckt jeweils auf dem rechten Teil der Doppelseiten, eine umfangreiche Auswahl aus den Sonetten William Shakespeares, also einen Komplex ‚geborgter‘ Texte. Die Nummern der Sonette stehen als Titel über den Texten – dort, wo man die Seitenzahlen vermuten würde, aber wegen der getroffenen Auswahl in unterbrochener Folge, sodass sich keine konsequente Seitenzählung ergibt. Schon das erste der 154 Shakespeare-Sonette wird ausgespart; die Reihe beginnt bei Bervin mit dem zweiten (When forty winters shall besiege thy brow), den Beschluss bildet Sonett 150 (O, from what power hast thou this powerful might); dazwischen ergeben sich wiederholt teils größere Sprünge über ‚Fehlbestände‘ hinweg. Ein Teil der Shakespeare-Sonette wurde also ‚unterdrückt‘. Diese Verfahrensweise passt zum sonstigen Vorgehen, denn Shakespeares Texte werden in typografisch ‚reduzierter‘ Form dargeboten: in einer Schrift von so hellem Grau, dass ihre Lektüre gegenüber schwarz gedruckten Texten erschwert wird; es scheint, als seien die Texte dabei zu verschwinden. Einzelne Wörter und Wortfolgen sind jedoch von diesem Verblassen ausgenommen: In deutlich lesbarem Schwarz gedruckt, ergeben sie einen ‚Hypertext‘, der sich dem ihnen unterlegten Shakespearetext als ein neuer Text überlagert – konstituiert allein durch Hervorhebung von Teilen des alten Textes. So etwa entsteht aus dem Sonett 2 ein viel knapperer Text in Schwarz: „a […] weed of small worth/asked/to be new made“ (Bervin 2004, unpag.). Sinnlos ist dieser Text nicht, wenn auch vieldeutig; die Reduktion des Ausgangstextes erweist sich also als Strategie neuer Textproduktion – unter Verwendung übernommener Sprachbilder („weed of small worth“) und unter selbstreferenzieller Betonung der Idee des Erneuerns (‚Neumachens‘; „to be new made“). Selbstbezügliche bzw. als selbstbezüglich deutbare Relikttexte finden sich immer wieder in Bervins ‚Netz‘; genannt seien nur die drei nächsten Texte: „form another/fresh repair […]“ (aus Sonett 3); „[…] distill/their substance“ (aus Sonett 5); „In singleness the parts/Strike[] each in each/ speechless song, being many, seeming one“ (aus Sonett 8). Die innere Titelseite des Bändchens lässt bereits erkennen, wie Bervin mit den Shakespeare-Sonetten umgeht: Der Schriftzug „THE SONNETS OF WILLIAM SHAKESPEARE“ ist hellgrau gedruckt, mit Ausnahme der Buchstaben „NETS“, der durch die implizite Anspielung auf die Gewebe-Metaphorik (‚textus‘) dem Unternehmen bereits einen metapoetisch-selbstreferenziellen Zug verleiht. Die folgenden Texte werden dadurch als ein Netzwerk charakterisiert. Zudem könnte man die Überlagerung der Shakespeare-Texte durch einen neuen Text mittels schwarzer Hervorhebungen mit einem Spinnen-Netz vergleichen, das die Textbasis überzieht. In einer abschließenden „working note“ verdeutlicht Bervin ihre poetischen Intentionen und den poetologischen Charakter der vollzogenen  





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Textverwandlungen – im Sinne der Intertextualitätskonzeption, derzufolge jeder neue Text auf der Basis von Prätexten als seinen ‚Hypotexten‘ entsteht.  

I stripped Shakespeare’s sonnets bare to the ‚nets‘ to make the space of the poems open, porous, possible – a divergent else-where. When we write poems, the history of poetry is with us, preinscribed in the white of the page; when we read or write poems, we do it with or against this palimpsest. (Bervin 2004, unpag. Bandende)  

Die durch dunkle Hervorhebungen konstituierten Texte repräsentieren demnach neue Gedichte in ihrer Abhängigkeit von den Hypotexten; in Bervins Arrangement, das diese Beziehung sichtbar macht, erscheinen sie somit als Meta-Gedichte. Bietet die einzelne Buchseite Gelegenheit, den Palimpsest-Charakter mit Blick auf Einzeltexte sinnfällig zu machen, so bestätigt sich dies auf der Ebene des gesamten Buchs mit Blick auf größere Textkomplexe. Sonett-Palimpseste 2: Uljana Wolfs und Christian Hawkeys Sonne from Ort (2012). Der irritierende Titel des Bändchens von Wolf und Hawkey87 ist das Produkt einer Teil-Ausstreichung des Titels Sonnets from the Portuguese von Elizabeth BarrettBrowning und erinnert insofern an die Genese des Titels A Humument bei Tom Phillips. Ähnlich wie dort, allerdings nicht als Produkt einer physisch-konkreten Überdeckung, präsentiert sich auch der Inhalt von Sonne from Ort als Resultat einer Bearbeitung, die das bearbeitete Substrat weitgehend ‚abdeckt‘. Konkretes Buch-Substrat der Bearbeitung ist ein Inselbändchen mit den deutschen Übersetzungen der Sonette.88 Das Text-Substrat, der Sonettzyklus Barrett-Brownings in der Übersetzung durch Rilke, besitzt als Übersetzung bereits eine eigene Signifikanz.89 Vom Text der bearbeiteten Insel-Buchausgabe ist bei der Bearbeitung quantitativ nur wenig übriggeblieben. Die Paratexte, deren Seiten in Wolfs und Hawkeys Buch durchaus präzise Äquivalente zur bearbeiteten Inselausgabe finden (darunter auch das Nachwort von Felicitas von Lovenberg), erscheinen – mit Ausnahme des bereits reduktiven Buchtitels Sonne from Ort, der Angabe „Übertrag von“ auf der inneren Titelseite, den Seitenzahlen und den Sonett-Nummern – getilgt. Sie wurden durch grafische Platzmarkierungen ersetzt, die den Umriss des (gelöschten) Textes, Absätze, Textränder-Verläufe und typografische Strukturen durch Linien, gepunktete Linien und Striche repräsentieren. Die SonettTexte sind zum überwiegenden Teil gelöscht und ebenfalls durch Linien, Linienbündel und gepunktete Linien replatziert, wobei die Umrisse und damit die gattungskons 



87 Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Gertrud Lehnert (Lehnert 2017). 88 Barrett-Browning, Elizabeth: Liebesgedichte. Engl./dt. Übertragen von Rainer Maria Rilke. Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. Frankfurt a. M. 2006. 89 Lehnert charakterisiert die von E. Barrett für ihren späteren Mann R. Browning verfassten Texte treffend als „eine Seite eines potentiellen literarischen Gesprächs“, in welches sich später mit Rilke ein anderer Partner eingeschaltet habe, indem er die Texte übersetzte – was einem Akt der Aneignung gleichkomme (vgl. Lehnert 2017, S. 293).  





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titutive Form der Sonette aber sichtbar bleiben. Sichtbar bleiben zudem von jedem der Sonette herausgelöste einzelne Wörter oder Wortfolgen. Die Struktur des Sonetts bleibt – jeweils realisiert durch wenige Wörter plus Linien – deutlich erkennbar, ja sie wird durch die Reduktion als Form noch betont; ansonsten sind die Seiten zu weiten Teilen weiß.90 Auf den Doppelseiten des Bändchens finden sich – analog zum bearbeiteten Ausgangssubstrat, dem Inselbändchen,– jeweils links die Bearbeitung des englischen Originals, vorgenommen durch Hawkey, jeweils rechts die Bearbeitung der Rilkeschen Übersetzung durch Wolf. Aus den Ausgangstexten (deutschen wie englischen) sind – ähnlich wie in A Humument – durch die Tilgungen neue Texte entstanden – respektive Wörter-Konstellationen, die sich als neue Texte (neue Gedichte) lesen lassen. Insofern erscheint die Tilgung nicht eindeutig als destruktives und negierendes, sondern auch als konstruktives, poietisches Verfahren. Trotz der (durch die Markierung des Getilgten mittels der Striche ja noch betonten) Disparatheit der Einzelwörter auf der Buchseite sind diese in einer Weise gewählt, die man als knappes, verdichtendes Sprechen charakterisieren könnte. Wortwiederholungen und gelegentliche Binnenreime verstärken diesen Eindruck, man habe es mit neuen Gedichten zu tun (vgl. z. B. „Auge schau/Asche/schau/an meiner Seite war/Feuer—dein Haar“; Wolf/Hawkey 2012, S. 15). Signalisiert wird also, dass Palimpsestierung ein Verfahren der Generierung neuer Gedichte aus alten ist – und dass Wörter in einem neuen konstellativen Kontext gegenüber den älteren Kontexten neue Funktionen und Bedeutungsspektren aufnehmen. Eine negative Deutung des Bearbeitungsverfahrens als eine Form der Aggression gegenüber den Ausgangstexten Barretts und Rilkes stellt sich kaum ein, zumal durch die Aufmachung des Bändchens ja an das (weiterhin als gedrucktes Multiple verfügbare) Bearbeitungssubstrat erinnert wird.  















Palimpsest-Variationen und -Reflexionen. Der Vergleich des deutschen und des englischen bearbeiteten Textes zeigt in allen Fällen, dass die beiden Bearbeiter unterschiedliche Passagen ihres jeweiligen Ausgangstextes stehengelassen haben. Hatte bereits die Übersetzung der Barrett-Browning-Sonette durch Rilke einen neuen (deutschsprachigen) Textzyklus entstehen lassen, so verzweigt sich die Geschichte dieses englisch-deutschen Doppelzyklus nun durch die Bearbeitung einmal mehr. Die Gegenüberstellung eines neuen deutschen und eines neuen englischen PalimpsestTextes auf jeder Doppelseite weist durch das grafisch-typografische Arrangement nicht allein auf die Abhängigkeit des jeweils späteren Textes vom früheren hin (dessen echte Teilmenge er ja ist), sondern erinnert auch an die Dependenz der Übersetzungen Rilkes von den Originalen Barrett-Brownings – und damit metonymisch an die Beziehung literarischer Übersetzungen zu ihren Ausgangstexten: Diese Beziehung changiert zwischen Determination und Freiheit, zwischen Abhängigkeit und Autonomie; die Übersetzung selbst erscheint einerseits als Derivat, andererseits als eigen 

90 Neben Tom Phillips’ A Humument hat Mallarmés Coup de dés (1897) das Sonett-Bändchen inspiriert.

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ständige (und u. U. eigenwillige) poetische Bekundung. Dass Barrett-Browning ihre Sonette als Texte „from the Portuguese“, als Übersetzungen also, ausgibt und dass Wolf und Hawkey gerade diesen Sonettzyklus samt seiner (wirklichen) Übersetzung als Grundlage wählen, betont die Signifikanz des ‚Übersetzens‘, das seinerseits zwischen einem konkreten Übersetzungsprozess und metaphorischen ‚Übersetzungen‘ changiert. Die als Platzhalter (oder ‚Überdeckungen‘) der getilgten Wörter verwendeten Linien haben ihre eigene Semantik. Insbesondere erinnern die Bündel paralleler Linien an Notensysteme (auch wenn es immer nur vier Parallelen sind), wodurch die Suggestion eines hier denkbaren, wenn auch durch keine sichtbare Note repräsentierten, Gesangs ins Spiel kommt – eines potenziellen oder eines unhörbaren Singens oder Artikulierens. Die Konstellationen von Wörtern und grafischen Zeichen stimulieren gerade wegen ihrer ungewöhnlichen Anordnung zu Hypothesenbildungen, erscheinen dabei aber niemals als lesbar im Sinn einer verbindlichen Decodierung.91 Auch die einfachen Linien haben ein überraschend suggestives Erscheinungsbild, verlaufen sie trotz ihrer insgesamt horizontalen Ausrichtung doch nicht immer ganz gerade, sondern weisen zahlreiche Knicke auf oder sind in Teile zerbrochen, die oft nicht ganz gleich ausgerichtet erscheinen und zudem vielfach durch gepunktete Linien unterbrochen werden. Mehr als bloße Hilfsmittel der Tilgung von Textpassagen, scheinen diese Linien eine Art Eigenleben zu führen und selbst immer wieder unterbrochen zu werden.  



Text-Inseln. Liegt neben der Text-Reduktion durch Wolf und Hawkey als erster Bearbeitungsebene mit der typografischen Behandlung der neuen Texte eine zweite gestalterische Ebene vor, so kommt als dritte Ebene die buchgestalterische hinzu. Das 2014 erschienene Bändchen ist mit einem fast weißen Einband versehen, auf dem nur der Titel steht, es wird zudem aber von einem Schutzumschlag umgeben, dessen Design sich an das der Insel-Buchreihe anlehnt, aus welcher die Bearbeitungsvorlage ja stammt: Auf einem floralen Muster zeigt sich mittig ein weißes Feld, das ursprünglich den Buchtitel trug. Dieser ist aber mit Tipp-Ex gelöscht worden; stehen blieb nur das Wort „Insel“, das zunächst den Insel-Verlag bezeichnete, nun aber als residuale Text„Insel“ erscheint. Dass bei der Bearbeitung des Originalumschlags mit Tipp-Ex gearbeitet wurde, kann man gut sehen. Im inneren Klappentext des Schutzumschlags ist zudem von der Arbeit Wolfs und Hawkeys als von einer „Tipp-Ex-Bearbeitung“ die Rede, welche vom Buchdesigner Andreas Göpfer für die vorliegende (gedruckte) Ausgabe einer weiteren „Übersetzung“ – „in grafische Informationen“ – unterzogen worden sei. Daneben findet sie eine Art Bildlegende zu den Linientypen im Buch; die jeweils übersetzenden Logos verweisen auf Schreibvorgänge, deren Anfänge und Abbrüche, auf Übermalung und auf Wetterkarten mit Symbolen für Sonne und Regen.  



91 Wie Lehnert richtig bemerkt, setzt sich beim Betrachter der Seiten die von Barretts Sonetten bereits vollzogene Suchbewegung fort (vgl. Lehnert 2017, S. 295).  

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Der Klappentext gehört mit zum Gesamtarrangement und trägt zum autoreferenziellen Charakter des Sonettbändchens bei. Dieses bietet erstens eine poetisch-typografische Reflexion über die bei aller Variabilität stabile Sonett-Form. Zweitens inszeniert es poetisches Schreiben als einen dialogischen Prozess zwischen verschiedenen Stimmen sowie als ein Schreiben in den Spuren von Vorläufern – wobei das jeweils Neue hier programmatisch durch partielle Löschungen des Alten entsteht. Demonstriert wird zudem das semantische Potenzial von Wörter-Konstellationen, die sich als „Inseln“ aus verlorenen Kontinenten herausheben. Schließlich aber wird auch der materielle Bearbeitungsprozess in seiner Signifikanz betont: Wolf und Hawkey benutzten (so zumindest die Auskunft des Klappentextes) zum Schreiben nicht Feder, Bleistift, Schreibmaschine oder PC, sondern ein Pinselchen mit Tipp-Ex.  

Ein Palimpsest-Notizbuch: R. Murray Schafers Dicamus et Labyrinthos (1984). Das „Notebook“ des namenlosen Philologen, der im Mittelpunkt von Schafers Dicamus et Labyrinthos steht (vgl. Teil A 5, S. 173f.) enthält diverse (fingierte) Palimpseste im ursprünglichen und engeren Sinn: einen (der Suggestion nach) früheren (unteren) und einen späteren (sich ersterem überlagernden) Text. Der Philologe, dessen manuelle Aufzeichnungen der Leser der Fiktion zufolge liest, korrigiert sich während seiner Recherchen, streicht aus, überschreibt, modifiziert. Zugleich verfasst er auch Palimpseste im übertragenen Sinn; er zitiert und paraphrasiert; seine vielen gelehrten Anspielungen basieren auf einem ganzen Netzwerk gelehrter, historischer und anderer Texte, aus denen zitiert und auf die angespielt wird. Visualisiert wird durch die Form von Dicamus et Labyrinthos zum einen der Prozess der Entschlüsselungsversuche, das Ausprobieren verschiedener Zugänge zum Problem der mysteriösen Schrift; visualisiert wird andererseits aber auch, wie der Schreibende mit Teilen der eigenen Schrift im übertragenen Sinn Teile seiner selbst durchstreicht – insofern tragen die ‚Palimpsest‘-Passagen auch dazu bei, den Ich-Zerfall, die Dissoziation des Philologen sichtbar zu machen.  

Ein Roman mit Palimpseststrukturen: Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000; vgl. Teil E 1.31). Danielewskis House of Leaves präsentiert sich insgesamt als ein Kompendium der Umgangsformen mit Texten und mit Schrift – repräsentiert durch diverse Schreibtechniken (Handschrift, Maschinenschrift, Druck), durch diverse Textsorten (Bericht, Kommentar, Metakommentar, Brief, Protokoll etc.), diverse Textrelationen (Meta-, Para-, Intertextualität…) und diverse Modi visueller Inszenierung von Schrift. Ein ‚Palimpsest‘ im Sinn der Intertextualitätstheorie ist der Roman schon mit Blick auf die Vielzahl von intertextuellen Anspielungen, die ihn charakterisieren – wobei es vielfach auch zu direkten oder allenfalls durch Übersetzung verfremdeten Zitaten kommt. Palimpsestartig wirken ferner die teils großflächigen Ausstreichungen. Der Text unterhalb der Ausstreichungen bleibt in solchen Fällen gut lesbar, wird letztlich durch die Markierung sogar hervorgehoben. Das ‚Palimpsestieren‘ erfolgt in House of Leaves im Kontext einer großangelegten Präsentation von For 



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men und Modi der Text-Verwandlung. Stark ist die Suggestion des Durchlöcherns und Untertunnelns. Sie korrespondiert dem Motiv des untertunnelten Hauses – das ein Analogon des Buchs ist, sodass auch unterhalb des Buches sich imaginäre Hohlräume (und Wege!) auftun. Unterhalb jedes Textes liegt (im Sinne der Intertextualitätstheorie) ein Labyrinth aus Texten, die sich auf entsprechend labyrinthischen Lese-Wegen entdecken und freilegen lassen. Zudem sind die Gänge im House of Leaves beweglich, sie scheinen zu leben. Das Überschreiben bringt sie nicht zum Verschwinden.  

Skulpturierung als Palimpsestierung: Jonathan Safran Foers Tree of Codes (2010; vgl. Teil E 1.44). Foers Tree of Codes, charakterisiert durch die zahlreichen rechteckigen Löcher in den Buchseiten, ist als ‚Palimpsest‘ beschreibbar, insofern im Buch ein älterer Text (der von Bruno Schulz) partiell – in Resten – sichtbar gemacht wird: Die Textpassagen rund um die Löcher sind Relikte aus einer ins Englische übersetzten Sammlung Schulzscher Erzählungen. Foers Text radikalisiert das PalimpsestKonzept: Der neue Text besteht nur aus Elementen des alten Textes. Der Effekt von Tree of Codes resultiert aus der buchgestalterisch sinnfällig gemachten Spannung zwischen Zerstörung (der Seiten bzw. des alten Textes durch Löcher) und Poiesis. Der Text ist nicht als defizitärer Text zu lesen, sondern als ‚neuer‘ Text, der auch für sich selbst stehen kann. Trotz vordergründiger Zerstörung des Schulzschen Textes lenkt die Foersche Bearbeitung des Buchkörpers den Blick auf ihr Ausgangssubstrat. Das partielle Sichtbarmachen des alten Textes stimuliert die Erinnerung an den Autor Schulz, sein Werk – und an die verschwundene Kultur, für die er steht. Unmittelbar evident ist die Analogie zwischen Foers Ausschneidungen und der Idee der Auslöschung – wobei hier aber ein neuer Text entsteht, ein Text, der seine Lücken offen zeigt, statt sie zu überspielen. Gedenk-Texte – so die Suggestion – sind ‚Palimpseste‘, entstanden auf der Basis einer partiell verlorenen Text-Welt. Foers Vorgehen impliziert eine Umwertung des ‚Palimpsest‘-Motivs (ähnlich wie sie sich bei Genette abzeichnet): Die noch lesbaren alten Textbestandteile sind keine Störfaktoren, sondern tragende Elemente des neuen Textes (wie bei literarischen ‚Palimpsesten‘) – und sogar manchmal das, worum es eigentlich geht. Als ein Buch, das vor allem durch Einschnitte und Einkerbungen auffällt, erinnert Tree of Codes an eine der ursprünglichen Schreibpraktiken, das Einkerben von Figuren in einen Untergrund, wobei es sich bei diesen Figuren noch nicht um codierte Schriftzeichen handeln muss.92 Über das Konzept der Spuren auf einer Wand ergäbe sich eine Analogie des hier betriebenen Recyclings von Schulz’ Erzählungen zu den wieder sichtbar gemachten Wandbildern von Schulz (die Foer selbst in seinem Buch erwähnt). MSE  













92 Vgl. Rapatzikou online. Rapatzikou vergleicht Tree of Codes mit einem „relief mural painting“ (ebd., S. 44) und erinnert in diesem Zusammenhang an die Wandmalereien, die Schulz während seiner Gefangenschaft selbst geschaffen hatte.  

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A 4.4 Das Buch und die Sinne als Thema künstlerischer Buchgestaltung Als körperliche Dinge affizieren Bücher die Sinne, den Sehsinn vor allem, oft auch den Tastsinn. Ob man sie bei der alltäglichen Nutzung auch hört oder riecht, ob man ihr Gewicht registriert und womöglich ihr Material schmeckt, hängt teils von der jeweiligen Sensibilität oder Neugier des Nutzers ab, teils auch von Sonderausstattungen und Ergänzungen des Buchs. Das Buch, das beim Aufklappen eine batteriebetriebene Schallkonserve ertönen lässt, hat eine Stimme und lädt zum Anhören ein. Das mit schlechtriechendem Leim gebundene Buch wirkt abstoßend. Papier zu essen und zu schmecken ist zwar eher unüblich, es sei denn, man wolle wie Jorge von Burgos in Il nome della rosa (Eco 1980; vgl. Teil E 1.21) ein Buch gründlich zum Verschwinden bringen; aber es gibt eine reichhaltige Metaphorik des Schmeckens und Verzehrens von Büchern und viele Beispiele für buchkünstlerische Hybridisierungen von Büchern und Lebensmitteln. Als Produkte einer Kunst, die für ‚Buchhaftigkeit‘ sensibilisiert und dabei auch ungewöhnliche Präsentations- und Wirkungsformen des Buchs erkundet, ist das künstlerische Buchwerk an den sinnlichen Qualitäten bzw. Perzeptionsweisen von Büchern nachhaltig interessiert. Ans ‚Schmecken‘ von Büchern erinnern vor allem Buchskulpturen, die wie Lebensmittel oder angerichtete Mahlzeiten aussehen. Das Buch als Gegenstand sinnlicher Erfahrung. Theoretische Arbeiten zum ‚Artists’ Book‘, ‚Künstlerbuch‘, ‚Buchwerk‘ etc. bestimmen ihren spezifischen Gegenstand vielfach unter Betonung der besonderen Beziehung einschlägiger Arbeiten zu den verschiedenen Dimensionen sinnlicher Erfahrung. Rolf Dittmar stellt ein Kapitel seines Ausstellungskatalogs zu einer in Teheran gezeigten Sammlung von Buchobjekten unter den Titel „The Haptic Dimension of the Book“ (Kat. Ausst. 1978, S. 91), und betont den multisensorischen Charakter von Künstlerbüchern. Ein Ausstellungsprojekt von 2004 nennt im Titel vier Themen, zu denen als erstes das „Sehen“ gehört: „guardare raccontare pensare conservare“ (Dematteis u. a.). Daran, dass sich Bücher an verschiedene Sinne wenden, erinnern u. a. Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki mit ihrer Zweiten Enzyklopädie von Tlön (Ketelhodt/Malutzki 1997–2006): Das enzyklopädische Künstlerbuchprojekt thematisiert neben vielem anderem auch die diversen Formen der Sinneswahrnehmung. Der buchgestalterische Akzent liegt – kontrastiv zum Grau des Gesamtblocks der 50 Bände – auf der spezifischen Materialität der Einzelbände, ihrer sinnlich-konkreten Dimension: Papierbeschaffenheit, Papierstruktur, Bildformen, Farben, Seitenlayout und haptische Qualität spielen unterschiedlichste, stets aber wichtige Rollen. Sie korrespondieren mit der jeweiligen Band-Thematik; der Band LEIBNIZ zitiert als Einbandstruktur die Form eines Leibni(t)z-Kekses. Die verschiedenen Sinne kommen ins Spiel – so der Gesichtssinn durch die Bände zu den Farben Rot (ROUGE), Blau (BLAU) und Gelb (YELLOW), aber auch durch die Bände zu Helligkeit und Dunkel (LUZ und NACHT). Eine Hommage an den Gehörsinn ist der  











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Band HESPOS, der aus einem umfassenden Verzeichnis von Klang- und Geräuschqualitäten beruht, das aus Werken des Komponisten Hans-Joachim Hespos zusammengestellt wurde. Der Geschmackssinn wird (vom humoristischen LEIBNIZ-Keks einmal abgesehen) vor allem durch das COOKBOOK angesprochen, der Geruchssinn eher mittelbar, durch die Abbildung von duftenden Objekten, teilweise aber auch durch Papier mit charakteristischem Eigengeruch; an den Tastsinn schließlich appellieren die verschiedenen Materialqualitäten. Die Sichtbarkeit des Buchs und die Farben der Bücher. Der Papieringenieur David A. Carter hat den Sinneseindrücken, die Bücher erzeugen, eine ganze Pop-up-Reihe gewidmet. Der Gesichtssinn hat dabei Vorrang, obwohl auch andere Sinne (Ohr, Tastsinn) beteiligt sind (s. u.). Denn die Bände sind nach Farben (Rot, Blau, Gelb, Weiß) benannt und inszenieren in Form komplexer und einfallsreicher Pop-up-Mechanismen zunächst einmal diese Farben. One Red Dot, der Pilotband, ist der Farbe Rot gewidmet. Carter hat zehn Pop-up-Skulpturen kreiert, die sich beim Umblättern nicht nur zu phantastischen Architekturen entfalten, sondern teilweise zugleich auch noch in andere Bewegungen geraten: kreisende, wirbelnde, drehende. Leitmotiv des Buchs ist der rote Punkt; jedes Pop-up-Konstrukt wird zum Anlass, den in seine Architektur integrierten roten Punkt zu suchen. Carter hat auch andere Farben und mit ihnen verbundene Formen in Pop-up-Büchern zum Ausgangsthema raffinierter Papierkonstruktionen gemacht: 600 black spots, blue 2, yellow square und white noise. Eine Serie von Büchern, die jeweils bestimmten Farben gewidmet sind, hat Ines von Ketelhodt zwischen 2011 und 2013 geschaffen und in einer Auflage von 33 nummerierten Exemplaren in einer Kassette präsentiert. farbwechsel heißt das Gesamtprojekt; die Einzelbandtitel nehmen das Stichwort auf und kombinieren es mit dem Namen der im Band inszenierten Farbe. Das Spektrum reicht vom farbwechsel: weiß über jeweils einen blauen, grünen, gelben und roten Band bis zum farbwechsel: schwarz. Konzeptuell sind alle Bände durch Rekurse auf die Symbolwerte der jeweiligen Farben in verschiedenen Kulturen geprägt. In den meisten Bänden werden zudem literarische Zitate in Beziehung zur jeweiligen Farbthematik gesetzt. farbwechsel: grün bietet in typografisch stark verfremdeter Form auf grünem Papier einen Textauszug aus Virginia Woolfs To the Lighthouse sowie aus der deutschen Übersetzung (Zum Leuchtturm). In farbwechsel: gelb erinnert eine Passage aus H. C. Artmanns Die Sonne war ein grünes Ei. Von der Erschaffung der Welt und ihren Dingen an die Geschichte der Sterne sowie an Sonne und Mond. Im Band über die nächtliche Farbe Schwarz sind zwei Auszüge aus Giorgio Manganellis La Notte – Addenda alle note sulla notte sostanziale, ergänzt um die deutsche Übersetzung, abgedruckt, kombiniert mit Schwarzweißfotos mit Motiven aus der Frankfurter Dämmerung. Zitate enthalten auch die anderen Bände: Im Band zur Farbe Weiß, die hier als asiatische Trauer- und Todesfarbe inszeniert wird, handelt es sich um Presseberichte zur Tsunami-Katastrophe von 2011. farbwechsel: rot enthält als Bildzitate Kussszenen aus Hollywoodfilmen.  









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Die Hörbarkeit des Buchs und die Stimmen der Bücher. Bücher haben in zweierlei Hinsicht eine akustische Dimension: Erstens eine, die aus ihrer Funktion als Text-Medium resultiert. Sofern sie Texte oder textartige Zeichensequenzen enthalten, können diese in der Regel auch laut verlesen und insofern hörbar gemacht werden. Bis zum späten Mittelalter entsprach dies einer gängigen Lesepraxis: Texte wurden vor Gruppen verlesen, aber auch der einzelne Buchbenutzer artikulierte oft den Text, während er ihn entzifferte; lange war dies für den Verstehensprozess offenbar unverzichtbar. Das ‚stille Lesen‘ setzte sich später durch. Buch-bewusste Kunstwerke – literarische Texte und Künstlerbücher – erinnern gelegentlich an die Praxis des lauten Lesens und dessen Implikationen – auf inhaltlicher Ebene oder durch Stimulation zur akustisch vernehmbaren Lektüre. Zweitens besitzen Bücher eine Beziehung zum Gehörsinn, die aus ihrer Materialität resultiert: Bei der Benutzung von Büchern werden Geräusche erzeugt. Im alltäglichen Umgang mit Büchern spielt dies keine große Rolle, in künstlerischen Reflexionen über das Buch und in Praktiken künstlerischer Buchgestaltung kann es wichtig werden, dass man Bücher ‚hören‘ kann. Sensible Leser ‚hören‘ Bücher und Texte auch dort, wo andere nichts hören. Das Interesse an der Klanglichkeit von Büchern hat diverse buchkünstlerische Arbeiten stimuliert. Dabei sind verschiedene Genres des auf den Gehörsinn bezogenen Buchs zu unterscheiden: (a) Praktiken der Gestaltung von Büchern, die bei der Benutzung tatsächlich andere, deutlichere Klänge erzeugen als konventionelle Bücher, (b) Kombinationsformen von Büchern mit Objekten, die Geräusche erzeugen, sowie (c) Verfahren der Buchausstattung, die an akustische Erfahrungen erinnern, ohne sie zu gewähren. Auf der Frankfurter Buchmesse von 2010 präsentierte der Pekinger Buchkünstler Ju Lingren, Inhaber einer Professur für Buchgestaltung und Illustration an der Tsinghua Universität, eigene Arbeiten: besonders sorgfältig und oft in jahrelanger Arbeit ausgestaltete Buchkörper. Ju Lingren betrachtet Bücher als Gegenstände, die neben dem Intellekt des Lesers auch dessen Sinne ansprechen müssen: natürlich den Sehsinn, aber auch den Tastsinn, den Geruchssinn – und den Gehörsinn. Der im selben Artikel vorgestellte Buchkünstler Zhu Yingchun, der, anders als Ju Lingren, seine Bücher aus einfachen Materialien herstellt, stellt suggestive Korrespondenzen zwischen diesen und lebendigen Menschen her; Weep no more heißt beispielsweise ein von ihm gestaltetes Buch über im japanisch-chinesischen Krieg zur Prostitution gezwungene chinesische Frauen. Im Kontext solcher Verknüpfung zwischen Menschen und Büchern steht auch Zhu Yingchuns Anspruch, mit seinen Büchern Menschen eine Stimme zu verleihen: „den Menschen am Rande, den Unbemerkten, Vergessenen“.93 Nicht um konkrete Buchgeräusche geht es hier, sondern um eine metaphorische Stimme.  







93 FAZ vom 20. März 2010, Nr. 67, Teil Bilder und Zeiten, Schelleis, Stefanie/Metz, Christian: Hörst du den Klang beim Blättern? Ortstermin: Bei den chinesischen Buchgestaltern Lu Lingren und Zhu Yingchun.  



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Buchmaschinengeräusche. In The Penland Book of Handmade Books (LaFerla/Gunter 2004) werden verschiedene Werke vorgestellt, die sich bewegen lassen, und bei deren Gebrauch Geräusche des Papiers oder anderer Materialien vernehmbar werden: so ein von Brook Spurlock gestaltetes Hybrid aus Buch und Riesenrad (Ferris Wheel, 2003), das die Blätter zum Flattern bringt (ebd., S. 30), oder Dolph Smiths Tennarkippi’s Bridge of Peace (1993), ein Hybrid aus Buch und Zugbrücke, für das Analoges gilt: Blätterrauschen begleitet die Bewegung (ebd., S. 31). In Dolph Smiths Buchobjekt Book With Running Water (2001) ist zwar kein Wasser integriert, sondern als dessen Repräsentant kleine in Röhren eingefüllte und mit Buchstaben beschriftete Würfel (die für die Zeilen von Haikus stehen); aber auch dieses Buch macht leise Geräusche, wenn man es bewegt, und diese dürften ähnlich klingen wie rinnendes Wasser (ebd., S. 162). Ein Water-Wheel hat Lynn Sures mit ihrem drehbaren Buchobjekt von 1998 geschaffen; hier sind es die im zylinderförmigen, an eine Wassermühle erinnernden Objekt befestigten Blätter, die akustische Sensationen erzeugen. David A. Carters Popup-Buch Weisses Rauschen (White Noise, Texas 2009, dt. 2001) spricht neben dem Auge auch den Gehörsinn an. Es besteht aus Papierskulpturen, die sich beim Aufklappen bewegen und dabei verschiedenste leise, aber charakteristische Geräusche erzeugen: schleifende, schnarrende, schiebende, knackende, krachende. Wie in den anderen Bänden der Serie, so sind auch hier den Papierkonstruktionen kurze Verse beigegeben; diese nehmen auf die Art des jeweiligen Geräuschs Bezug und charakterisieren es kurz. Das Buch erzeugt also nicht nur Klänge, Rascheln etc., es spricht auch über diese Sinnesreize. Zum Teil erinnern seine weitgehend abstrakt-geometrischen Kompositionen an Naturgeräusche: an das Knistern von Feuer, an den leisen Klang des Windes in Flügeln, an das Quaken von Fröschen. Selbst papierne Musikinstrumente, die durch zu ziehende Laschen bedient werden, enthält das Buch: Mittels einiger gabelförmiger Kratzvorrichtungen wird eine Folie zum Tönen gebracht; eine Papiersäge erzeugt Geräusche auf einer Konstruktion aus Papierseiten. Auch in Carters One Red Dot (2004) war das Gehör schon angesprochen worden: Eine Konstruktion, bei der sechs Zahnräder eine sich aufklappende Papierkonstruktion durchschneiden, erzeugt ein Knarren.  







Zeit-Geräusche. Barbara Schmidt-Heins’ Künstlerbuch eine Gedenk-Minute für die Zeit betont ebenfalls die latent akustische Dimension eines jeden Buchs, die bei seiner Benutzung deutlich wird, und macht sie zum Thema dieses Zeit-Buchs; latent ‚tönend‘ sind Bücher ja vor allem insofern, als sie beim Durchblättern leise Geräusche machen. eine Gedenk-Minute für die Zeit besteht aus einer Sequenz von Seiten, die einer bestimmten Minute gewidmet sind: der Minute zwischen 17.26 und 17.27 am 12. August 1978. Auf jeder Vorderseite der (von Titelblatt und Datumsangabe eingeleiteten) Blätter des Buchs steht, in chronologischer Sequenz, die Angabe einer Sekunde dieses Minutenintervalls: 17.26.00, 17.26.01 etc. Zu einer Art „Uhr“ wird das Minuten-Buch, wenn man es schnell durchblättert, wie man ein Daumenkino benutzt: Dann läuft die fragliche Minute, derer hier gedacht werden soll, vor den Augen des Betrachters ab.

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Bedingt durch die Qualität des relativ dicken Papiers hört man die vorbeifliegenden Sekunden aber auch. eine Gedenk-Minute für die Zeit steht in der Tradition des Stundenbuchs, die hier zugleich selbst zum Gegenstand des Gedenkens gemacht und modifiziert wird – vor allem durch eine parallel zur optischen verlaufende akustische Inszenierung der verrinnenden Zeit.  

Hybridkonstruktionen. Medien akustischer Kommunikation in Buchwerken. Schon Andy Warhols Index Book, eine der Pionierarbeiten der Artists’-Book-Bewegung, enthält einen eingeklebten Tonträger (Schallplatte; Abb. in: Kat. Ausst. 1978, S. 73). Ob dieser noch abspielbar ist, erscheint fraglich; er erinnert aber daran, dass Bücher auch gern eine Stimme hätten. ‚Hörbar‘ können Bücher jedenfalls zumindest grundsätzlich werden, wenn ihre Konstruktion zum Abspielen von in den Buchkörpern eingelassenen Tonträgern einlädt. Beispiele dafür gibt es im Bereich der Kinderbuchgestaltung, aber auch andere buchgestaltende Künstler nutzen diese Möglichkeit – etwa Gerhard Polt und Michael Sowa mit ihrem Klangbuch Halleluja! Die Bethlehem-Saga (2004), das biblische Episoden visuell und akustisch in Szene setzt. Andere Buchwerke bedürfen solch technischer Ergänzungen nicht. Ein ähnliches Phänomen wie die mit Klangchips versehenen, beim Öffnen ertönenden Bücher stellen solche Bücher dar, in die Tonträger (meist CDs) eingefügt sind. Diese Tonträger und ihre Hüllen sind zwar ‚eigentlich‘ keine Buchseiten, können aber als Bestandteile des Buchs betrachtet werden. Romane mit integrierten CDs zielen auf ein Publikum, das sich die im Text thematisierten, vielleicht auch ausführlich beschriebenen Klangeindrücke selbst verschaffen würde. Eine Kombination aus Buch und CD haben 2012 die Krimiautorin Donna Leon und die Sängerin Cecilia Bartoli publiziert: Unter dem Doppeltitel Mission/Himmlische Juwelen widmen sie dem italienischen Barockkomponisten Agostino Steffani 2012 eine mehrfach-mediale Hommage; Leons Roman handelt von dessen Nachlass; Bartoli singt Kompositionen Steffanis auf der CD. Es kann mit Buch-CD-Hybriden aber zudem auch darum gehen, die Rezeption des Textes zu unterbrechen und die Zwischenräume mit Musik zu füllen – wie in Laura Esquivels Roman La ley del amor, der seine Leser dazu einlädt, gelegentliche Pausen zum Musikhören und Tanzen einzulegen.94  





Gesammelte Buch-Stimmen. Keine Erzählung, sondern eine Anthologie der ‚Stimmen‘ im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn bietet die Merve-Publikation You Can’t Judge a Book by it’s Cover, arrangiert von Hans Peter Kuhn und Hanns Zischler (Berlin 1995). Die CD enthält Passagen aus Texten verschiedener Autoren. Allerlei

94 Laura Esquivels mexikanisch-spanischer Roman La ley del amor (Barcelona 1995; dt.: Esquivel, Laura: Das Gesetz der Liebe. Übers. von Maralde Meyer-Minnemann. Berlin 1996) besteht aus einem illustrierten Buch, in das eine CD integriert ist, die der Leser abspielen soll.

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Teil A Aspekte des Buchs

Stimmen werden vernehmbar, parallel zur Lektüre von Textzitaten der Sprecher.95 Insgesamt ist das Arrangement die materiell-mediale Konkretisierung einer Auseinandersetzung mit Stimme und Schrift, dabei explizit wie auch implizit selbstreferenziell, manchmal (wie im Fall von Zischlers Atem-Beitrag) ironisch-verspielt. Die Reflexivität des Arrangements ist dabei an die Möglichkeit der Klangwiedergabe via CD gebunden. Diese wird in ihrer Rolle und Funktion als Repräsentation von Stimmen hier zugleich vorgeführt und zum begleitenden Text in ein facettenreiches und spannungsvolles Verhältnis gesetzt. Recycelte Tonträger und Schallquellen. Manche Buchkünstler verwenden Tonträger und akustische Geräte als architektonische Elemente ihrer Buchkonstrukte, doch nicht als echte Medien der Klangerzeugung. Gabe Cyr zeigt in der katalogartig präsentierten Beispielsammlung New Directions in Altered Books (Cyr 2006) unter dem Titel Making a new kind of music ein Buchobjekt, bei dessen Herstellung zwei CDs verwendet wurden; kreisförmig wie diese sind auch die übrigen Blätter des mit verschiedenen recycelten Text- und Bildmaterialien gefüllten Buchs (ebd., S. 60f.). Eine Bucharbeit von Rebecca Aranyi, Rebeccas Thoughts, ist ein unter Verwendung eines ausgemusterten CD-Rom-Laufwerks gestaltetes Objekt (vgl. ebd., S. 94–95). In dem von verschiedenen Buchkünstlern gemeinsam produzierten Band The Penland Book of Handmade Books präsentiert Hedi Kyle ein Buchobjekt, in dessen Innerem sich verschiedene gefundene und recycelte CDs verbergen (vgl. LaFerla/Gunter 2004, S. 127). Schon aus den 1970er Jahren sind Beispiele buchartistischer Objekte zu nennen, die an die Alltagskultur und ihre Kommunikationsprozesse erinnern. Telephone-Book nennt der Buchkünstler „Dr. Panthel“ ein Buchobjekt von 1976, das aus einem alten deutschen Telefonbuch von 1972/1973 hergestellt wurde (vgl. Kat. Ausst. 1978, S. 118). Dieses wurde rot bemalt und zusammengeschraubt; auf den Umschlag ist ein alter Telefonhörer montiert. Peter Malutzki hat als technisch-innovatorisches Pendant zu solch mittlerweile nostalgisch wirkenden Telefon-Hommagen ein Künstlerbuch gestaltet, das geschlossen in Größe und Form an ein Mobiltelefon erinnert; allerdings liegt der Akzent nicht auf dessen Funktion als Geräuschquelle, sondern auf der Nutzung zur Bildproduktion. Immerhin wird auf ein Lied angespielt: Die Arbeit heißt nach einem Lied der Beatles Lucy in the sky. Das Bändchen enthält mit dem Mobiltelefon gemachte Selbstporträts junger Frauen aus dem Internet, kombiniert mit Textzitaten aus dem Beatles 







95 Die Buch- und CD-Beiträge gelten teilweise explizit der Reflexion über Schrift, Schriftlichkeit und deren Semantiken, über Prozesse des ‚Sagens‘ und ihre Implikationen. So beginnt die Zitatsequenz mit einem Beitrag von Michel Foucault; hier kommt die Dichotomie von Leben und Auf-dem-Papier-Stehen ins Spiel. Weitere Zitate gelten dem „Buch“ (Edmond Jabès), dem ‚stummen‘ Subjekt und dem Sprechen (Roland Barthes), dem Verschwinden-hinter-Texten (Blixa Bargeld); die auf der CD klanglich, im Buch metaphorisch versammelten ‚Stimmen‘ umkreisen thematisch den Themenkomplex um Artikulation, Zeichen, Wiederholung, Repräsentation, Medien etc. Die 15. Nummer des Arrangements besteht im „Atmen“ von Hanns Zischler, was wir aber nur wissen, weil es im Textteil des Buchs so steht.  

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Song Lucy in the sky with diamonds. Die verwendeten Bilder wiederholen sich in Variationen, bedingt durch Wechsel der verwendeten vier Farbklischees. Die Haptik des Buchs. Über die Frage, wie sich Bücher anfühlen, wird im alltäglichen Umgang mit Büchern eher wenig nachgedacht. Die Wahl spezifischer Papiere und Einbandmaterialien ist jedoch für bibliophile Leser nicht bedeutungslos. Im Bereich der buchgestaltenden Kunst (Künstlerbücher, Buchobjekte) spielt die Akzentuierung der haptischen Dimension von Büchern oder buchförmigen Objekten eine besonders wichtige Rolle – weil gerade die meist ignorierte Qualität des Buchkörpers Gelegenheit bietet, auf diesen in seiner physischen Konkretion aufmerksam zu machen. Kontaktoptionen zwischen Buch und Körper werden suggeriert. Manche Bücher laden dazu ein, sie zu betasten. Andere (wie Timm Ulrichs’ Buch der Berührungsängste) verweigern sich ostentativ der Berührung. Wieder andere zeigen die Spuren vergangener Berührungen. Timm Ulrichs’ Buch der Berührungsängste (Mimose/Mimese) (Hartgummi, Eisen, elektrischer Strom, 50 x 85 cm) thematisiert die sensorische Erfahrung von Büchern auf drastische Weise und gleichsam via negationis: Wer das Buch der Berührungsängste berührt, bekommt einen elektrischen Schlag.  







Der Geruch der Bücher. Als je ‚körpernäher‘ ein Sinn gilt, desto besser eignet er sich dazu, auf die Körperlichkeit von Büchern aufmerksam zu machen. Im Bereich ästhetischer Buchgestaltung eröffnet die olfaktorische Dimension von Büchern manche Gestaltungsoptionen. Insbesondere Buchobjekte, die auf Materialien mit charakteristischem Eigengeruch bestehen, wirken stark durch die Nase. Dieter Roths Literaturwürste haben nicht nur einen Eigengeruch; sie erinnern an allerlei Riechbares, mit dem sie durch Ähnlichkeiten verbunden sind. Und sie stimulieren Geruchsphantasien. Vielleicht ist ihr ‚virtueller Geruch‘ stärker als ihr realer. Literaturwürste bestehen „aus zerkleinerten Büchern, Zeitschriften und Zeitungen mit Wasser und Gelatine oder Fett und Gewürzen in Plastikbeuteln oder Wursthaut“; Roth stellte 1961 die erste ‚Literaturwurst‘ her, 1966–1970 weitere (Kat. Ausst. 1977, S. 338; Abb. S. 339). MSE  



A 4.5 Buchgestaltung durch den Nutzer als sinnliche Erfahrung Keri Smiths Bücher fordern ihre Benutzer auf vielfältige Weisen auf, etwas mit ihnen zu tun – sie als Anleitung zu gebrauchen, bestimmte Handlungen auszuführen, aber auch ganz konkret etwas mit ihnen selbst zu tun – bis hin zu Praktiken, die auf die Zerstörung des Buchs hinauslaufen können (vgl. auch Teil D, Art. „Gebrauchsbücher“). Die ans Buch gebundenen Praktiken und Performanzen sind als Repräsentationen (Metonymien) vielfältiger Erfahrungs-, Kommunikations- und Arbeitsvorgänge deutbar. So etwa repräsentieren sie Formen der Orientierung in der Welt (sich im Raum bewegen, Wege suchen, Dinge identifizieren; vgl. Smith, Keri 2010), Strategien  



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Teil A Aspekte des Buchs

der Erkundung von Materialien, von Umwelten, von Dingen, Prozesse der Sammlung von Erfahrungen, Eindrücken, Ideen, Praktiken des Auflistens, Registrierens, Dokumentierens. Verschiedenste Produktions- bzw. Gestaltungsprozesse werden dem Leser vorgeschlagen: Formen der Bearbeitung von vielerlei Materialien, Schreib-, Malund Zeichenprozesse, Prozesse der Hinterlassung von Spuren, Praktiken der Umweltgestaltung, insbesondere auch Kommunikationsprozesse, und hier vor allem gemeinsame Aktionen der Arbeit an und mit Büchern. Mit Wreck this Journal. To create is to destroy erschien 2007 (in New York) der programmatische Pilotband der Serie. Bei Smith beziehen sich die Anleitungen an die Adresse des Buchnutzers stets indexikalisch auf ‚dieses Buch‘, also auf das konkrete Exemplar, das der Leser in Händen hält. Das Buch soll zum Träger von Spuren und zum Sammelbehälter werden; diverse Anweisungen sprechen vom Kleckern, Klecksen, Beschmieren etc. Es soll als Objekt gewaltsam behandelt werden, soll im Freien hängen und mit unter die Dusche gehen; der Benutzer soll es mit diversen Körperteilen (auch mit der Zunge) kontaktieren. Manche Seiten sind zum Zerschneiden vorbereitet. How to be an Explorer of the World. Portable Art Life Museum (New York 2008; Durchstreichung wie im Original) konzentriert sich auf Anleitungen, die Alltagswelt auf vielfältige Wesen wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen zu fixieren, zu protokollieren und zu kommunizieren; mit den praktischen Anleitungen und materialbezogenen Ideen wird an die des Vorgängerbuchs teilweise angeknüpft. Buchbenutzung erscheint als eine Erkundungs- und Entdeckungsreise in die Welt – und Buchgestaltung als Dokumentation dieser Reise. This is not a book (New York 2009) spielt mit der Paradoxie der Titel-Aussage. Das Buch ist durchgehend selbstbezüglich, insofern es über die Beziehung zwischen sich selbst und dem Nutzer spricht – meist, aber nicht nur, in Form von Handlungsanweisungen. Es geht wohl nicht unbedingt und eindeutig darum, die das Buch füllenden Anregungen und Anweisungen wörtlich zu nehmen (obwohl man viele wörtlich nehmen kann); in jedem Fall aber geben sie Denkanstöße. Komplementär zur Aussage, dies sei kein Buch, findet sich nach jedem Umblättern eine alternative Selbstbeschreibung des Buchs, eingeleitet jeweils durch ein „This is…“. Mess (New York 2010) geht auf die der Buchserie zugrundeliegenden ästhetischen Ideen und Einflüsse expliziter ein. In einem Einführungstext interpretiert Smith die vom Buch ausgehenden Formen der Buchbearbeitung als experimentelle Prozesse, vergleicht sie mit anderen Kunstprojekten und beschreibt das Experimentieren als ein Improvisieren. Finish this Book (New York 2011) ist explizit allen gegenwärtigen und künftigen Erforschern der Erde gewidmet. The Pocket Scavenger (New York 2013a) präsentiert sich als Anleitung zum Sammeln, als Sammelbehälter und als Verzeichnis von Gesammeltem; das Sammeln erscheint als Inbegriff der Zuwendung zu den Dingen der Welt. Everything is connected. Reimagining the world one postcard at a time (New York 2013b) legt den Akzent auf das Buch als Kommunikationsmedium. Das Buch soll in die einzelnen Postkarten zerlegt werden. The imaginary world of… (New York 2014) handelt vom Weltenbauen. Das Inhaltsverzeichnis listet auf, was alles dazu gehört; einzelne Prozesse werden durch Anweisungen repräsentiert, nach denen das Buch auf verschiedene Weisen bearbeitet  

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werden soll. In Keri Smiths Bücher fließen Impulse aus verschiedenen künstlerischen Strömungen des späten 20. Jahrhunderts ein, etwa aus der Fluxus-Bewegung, aber auch Anregungen, die vom Spiel- und Bastelbuch, vom Poesie- und Sammelalbum, vom Notizbuch und vom Scrapbook ausgehen. MSE  

A 5 Schrift, Buch und Buch-Literatur Die Geschichte der Schriftlichkeit als Darstellungs- und Kommunikationsform ist durch die des Buchs stark geprägt und vice versa; die Geschichte des Buchs ist ja vor allem die eines Schriftträgers. Das Stichwort ‚Schrift‘ weist dabei ähnlich wie das Wort ‚Buch‘ ein ganzes Spektrum an Bedeutungsoptionen und -dimensionen auf. Schriftgestaltung und Buchgestaltung greifen eng ineinander. In buchliterarischen Werken wie in künstlerischen Buchwerken zeigen sich vielfältige Strategien und Spielformen des gestaltenden Umgangs mit Schrift. So können unterschiedliche Schriften, Sonderzeichen und Schriftsysteme eingesetzt, Schriften mit unterschiedlichen Techniken produziert und unterschiedlich arrangiert werden. Kryptografie, Sondercodes, Schriftenmischungen und Schriftverfremdungen eröffnen vielfältige Optionen. Schriftgeprägt ist vor allem die Visualpoesie; das Feld lettristischer Texte ist stark ausdifferenziert; abecedarische Texte sind immer auch Hommagen an die durch das Alphabet repräsentierte Sphäre der Schrift. Buchstabenbilder und Bildalphabete bilden Scharniere zwischen Text- und Bildwelten. Mit dem Schriftbild lässt sich auch auf der Ebene des Seitenlayouts und der Sequenzierung verschiedener Seiten gestalterisch arbeiten. Nicht allein die sinnliche Dimension des Buchs wird durch schriftgestalterische Mittel unterstrichen – seine Sichtbarkeit, seine grafische Formensprache –, sondern auch seine Architektur, seine Untergliederung sowie deren Funktionen sind an gestaltete und positionierte Schrift maßgeblich gebunden. Alphabetisch organisierte Bücher verdeutlichen dies besonders klar, aber auch die Untergliederung in Haupt- und Paratexte, die Gestaltung von Tabellen, Registern, Diagrammen etc. hat immer auch eine grafische Dimension. Die Geschichte eines sich allmählich mit verschiedenen Schriften und sonstigen Grafien füllenden Notizbuchs erzählt R. Murray Schafer in Dicamus et Labyrinthos (1984), indem er das (fingierte) Notizbuch selbst zeigt. Dieses Buch wird um der Schrift willen geführt, die seine eigentliche Protagonistin ist, auf deren Spuren der Schreibende viele Schrifträume passiert und sich selbst zuletzt verliert (s. u. Weiteres): Buch und Schrift sind hier sehr konkret und sehr eng verschränkt. MSE  





https://doi.org/10.1515/9783110528299-006

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Abb. A 12: R. Murray Schafer: Dicamus et Labyrinthos. A Philologist’s Notebook. Bancroft, Ontario 1984, unpag.  

A 5.1 Grafie, Literatur und Buch Literatur ist immer auch Grafie. Buchliterarische Texte zeigen dies nicht nur, sie thematisieren Schrift und Schriftlichkeit vielfach auch, stellen Prozesse des Schreibens und Lesens dar, erzählen vom Umgang mit Buchstaben, Schreibgeräten und Texten, inszenieren die materiellen Dimensionen von Schrift und deren Signifikanz. Die Literatur des 20. Jahrhunderts ist zu weiten Teilen durch ihre grafisch-visuelle Dimension, durch eine ostentativ entfaltete Schriftbildlichkeit geprägt. Formen und Erzeugungspraktiken von Schriftlichem werden vor allem in ästhetisch-poetologischen Kontexten oftmals betont und entsprechend schrifttheoretischen respektive schriftpoetologischen Leitideen semantisiert. Die visuelle Gestaltbarkeit von Schrift wird zum Gegenstand literarischer Darstellung – vor allem in Buchräumen, in denen Schriftliches selbstreferenziell inszeniert werden kann. Entscheidend für die vertiefte theoretische, literarische und künstlerische Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit sowie mit ihren unterschiedlichen konkreten Erscheinungsformen, deren physischer Ausdifferenzierung und materiellen Bedingtheit, sind insbesondere semiologische Ansätze gewesen, denen es darum ging, Saussures Konzept der Sprache als eines immateriellen Systemzusammenhangs abzulösen und den Anteil sinnlich-physischer Faktoren an Signifikations- und Kommunikationsprozessen auf semiotischer Basis zu erschließen (vgl. Müller-Wille 2017, S. 24).  





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Schriftdiskurse und ästhetische Semantisierungen der Schrift. Schreiben und Lesen sind im 20. Jahrhundert zentrale Themen ästhetischer Reflexion (vgl. Assmann 1996). Ein (u. a. noch von Saussure vertretener) Ansatz, demzufolge es der Verfasser, Leser und Interpret von Texten mit Zeichen zu tun hat, deren physisch-sinnliche Beschaffenheit gleichgültig ist, wird dabei obsolet (vgl. Saussure 1967, S. 143). Verstärkt in den Blick geraten die materiellen Dimensionen von Geschriebenem, Schreibtechniken (vgl. Zanetti 2012) und Schreibszenen (vgl. Campe 2012), von historischen Schriftformen und -trägern. Schriftlichkeitsforschung wird zu einem Kernstück der Kulturwissenschaften (vgl. Goody/Watt/Gough 1986). Damit verbinden sich unter anderem die Erforschung von Vor- und Frühformen von Schriftlichkeit, der Vergleich von Notationsverfahren und die Erforschung ihrer Funktionen (vgl. dazu Leroi-Gourhan 1995 [1964]). Schreibwerkzeuge, Schreibpraktiken, Schreibprozesse sowie die verschiedenen Aspekte von Text-Materialität unterliegen teils komplexen Semantisierungen. Wissenschaftliche Rekonstruktionen und Imaginationen sind hier nicht immer unterscheidbar. Historisch und kulturell ausdifferenzierte Schriftsysteme und Schreibpraktiken werden schon im 19. Jahrhundert stärker als zuvor zu Gegenständen einer Spezialwissenschaft. Karl Faulmann möchte sein Kompendium Illustrirte Geschichte der Schrift als Beitrag zur Darstellung der „Weltgeschichte“ betrachtet wissen (Faulmann 1880, S. VIII). Er betont die prägende Rolle der Schriftgeschichte für die Kulturgeschichte; es gelte, „an der Hand der Schriftkunde hinab[zu]steigen in die Dunkelheit der Vorzeit“ (ebd., S. 5). Die Schriftgeschichte versteht sich hier explizit nicht etwa als integrierter und untergeordneter Beitrag zur Historiografie der Sprachen, sondern als Erforschung einer autonomen Kulturtechnik, wodurch sich der Beobachtungshorizont auf Vorund Frühformen der Markierung und Notation erweitert. Nicht nur die Entwicklung der Schriftsysteme zur Fixierung der Sprachen gelte es zu beobachten, sondern auch „die primitivsten Eintheilungen der Zeit in Wochen, Monate und Jahre“, Kalender also (ebd.). Schriftentwicklung erscheint hier (typisch fürs 19. Jahrhundert) als Geschichte sukzessiver Weltbemächtigung – zunächst einmal in ihrer Eigenschaft als Medium der Wissensüberlieferung. „Elementar“-Zeichen und elementare Vorformen von Schreibprozessen rücken in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verstärkt in den Blick; den diskursiven und ästhetikgeschichtlichen Kontext bildet ein generelles Interesse am „Elementaren“ (Biedermann 1985).  

















Grafien der Avantgarden. Wassily Kandinsky widmet sich seit der Zeit um 1910 der Frage nach basalen Darstellungsformen in der Kunst. 1911 erscheint erstmals Über das Geistige in der Kunst (Kandinsky 1963, S. 45–47), 1926 Punkt und Linie zu Fläche, dazwischen eine namhafte Zahl anderer Publikationen (die Max Bill später als Essays über Kunst und Künstler zusammengefasst hat). Immer wieder thematisiert Kandinsky basale Darstellungsformen wie Punkt, Linie, Fläche unter dem Aspekt ihrer Emanzipation von Abbildfunktionen und des genuinen Ausdruckswertes abstrakter Formensprache. Ihre Zeichenhaftigkeit ist für Kandinsky von universaler Art. Verschwinden die klaren Grenzen zwischen bildender Kunst und Literatur in dieser Zeit ohnehin, so  

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Teil A Aspekte des Buchs

sorgt gerade das Interesse an elementaren grafischen Formen für konvergente Verfahrensweisen bei literarischen Autoren und bildenden Künstlern. Kurt Schwitters hat sein berühmtes i-Gedicht 1923 selbst kommentiert: als programmatisch für eine spezifische Form der Kunst, die darauf beruht, in der Erscheinungswelt selbst Rhythmen wahrzunehmen und durch Herauslösung aus ihrem Funktionskontext sichtbar zu machen (vgl. Schwitters 1998). Die Intensität kulturphilosophischer Auseinandersetzung mit hypothetisch rekonstruierten Frühstadien menschlicher Kulturpraxis als einer Schreib-Praxis wird prägnant aus Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ablesbar. Der erste Band erscheint 1923, der für die Schrift- und Zeit-Thematik interessantere zweite Band 1924. Cassirer knüpft hier erklärtermaßen an frühere Ausführungen an (vgl. Cassirer 1977 [1925], Bd. 1, S. V), und sein Werk kann zudem als eine Art Summe kultur- und zeichentheoretischer Interessen, Modelle und Theoreme der ihm vorangegangenen Jahrzehnte gelesen werden. MSE  



A 5.2 Buchstaben, Bilder und Bücher bei Walter Benjamin Walter Benjamins Reflexionen über die Buchstaben sind eng mit Reflexionen über das Buch verknüpft. Er plante ein Buch über Kinderbücher, das ein Werk über Dimensionen und Aspekte konkreter Buchausstattung, über Farben, Formen, Strukturen und Schriftzeichen geworden wäre. Bausteine hierzu sind diverse Abhandlungen: Über die Fläche des unfarbigen Bilderbuches (1919), Aussicht ins Kinderbuch (1926), ABC-Bücher vor hundert Jahren (1928), Alte vergessene Kinderbücher (1924), Chicheuchlauchra. Zu einer Fibel (1930), Kolonialpädagogik (1930), Grünende Anfangsgründe. Noch etwas zu den Spielfibeln (1931). Seine Kommentare über Fibeln und Kinderbücher gelten vor allem der Analogie zwischen Buchstabenwelt und Dingwelt. Benjamin besaß eine ausgeprägte Sensibilität für Räumlichkeit und ‚Physiognomie‘ der Buchstaben. Die Möglichkeit, Buchstaben als spatiale, dynamische Dinge zu sehen, hat zunächst eine lernstrategische Bedeutung: Es macht die Zeichen einprägsam. Hinzu kommt eine poetologische Dimension: Die physiognomisierende Betrachtung einer ästhetischen Perzeptionsweise. Benjamins Vorstellungen zufolge hat sich im Bereich der Künste ein Residuum magischen Denkens, eines Denkens in Analogien und Ähnlichkeiten, erhalten. Buchstaben, die zugleich als Dinge oder sogar lebendig erscheinen, repräsentieren eine im Medium der Kunst magisch belebte Welt.96 In manchen ABC-Büchern sieht Benjamin Schwellen in ein Reich ausdruckshafter Zeichen, wo andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als in der Alltagswelt.

96 Im Zusammenhang von Bemerkungen über Ziehbilderbücher, die sich durch Bewegung (etwa eines Streifens am Rande) verändern lassen, lobt Benjamin das „Zauber- oder Vexierbuch“ wegen seiner Wandlungsfähigkeit (Benjamin 1980a, S. 612).  

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Chichleuchlauchra: Überlegungen zum Kinderbuch, insbesondere zur Fibel. Um des Lernerfolgs willen soll – so eine leitende Idee Benjamins – die Fibellektüre spielerisch gestaltet werden; dies gelinge am ehesten, wenn die Kinder mit den Buchstaben physisch umgehen können, diese also zu den konkreten Objekten der Alltagswelt gehören und sich unter die anderen Objekte mischen (Spielzeug, Geräte, Gebrauchsgegenstände…).97 Durch die Ermutigung, die Fibel selbst zu beschreiben, dringe das Kind physisch-gestisch in die Sphäre der Buchstaben ein und erobere sie sich durch seine gestalterischen Eingriffe. Abgestimmt auf seine Idee einer anzustrebenden (bzw. immer schon gegebenen, dem Kind aber zu vermittelnden) Durchdringung von Buchstabenwelt und Alltagswelt beschreibt Benjamin Schreib- und Leseheft wie Räume, die man durchreisen kann. Die vom Kind selbst mit Buchstaben zu füllende Lese-Fibel ist ein solcher Raum. Eine Verwandtschaft der Dinge mit den Buchstaben wird suggeriert, wo beide nebeneinander abgebildet sind; der Effekt verstärkt sich, wenn das Kind mit den Buchstaben physische Verwandlungen (Anmalen, Ausstreichen…) vornehmen kann, so als handhabe es Dinge. Wieder erscheint die rezensierte Fibel als mustergültig, weil sie zur Praxis ermuntert (Benjamin 1991a, S. 268). Noch zwei weitere Eigenarten der besprochenen Fibel erleichtern die Verknüpfung und Durchdringung der Buchstaben- und der Ding-Welt: Die Farbigkeit der Buchstaben – und der Umstand, dass sie lange als isolierte Buchstaben auftreten (und nicht bereits als Bestandteile von Wörtern). So wird das Kind daran gewöhnt, sie als eigenständige Figuren wahr- und ernstzunehmen (ebd.). Alte Schulfibeln (wie sie Benjamin ebenfalls interessieren) sind in ihren Bildprogrammen manchmal kurios, aber sie folgen damit der Leitidee einer prägnanten, mit der Sphäre des Physischen, ja des Leiblichen verbundenen Darstellung der Buchstaben. Frühe Lesebücher können als Mini-Enzyklopädien in diverse Wissensgebiete einführen.  







Aussicht ins Kinderbuch: Bilder der Grenzüberschreitung. Der Idee einer Entgrenzung zwischen Buch-Welt und Lebenswelt, einer Grenzüberschreitung zwischen dem Inneren des Buchs und der Außenwelt, ist der Aufsatz Aussicht ins Kinderbuch (Benjamin 1980a) gewidmet. Interessanter als die (in manchen Geschichten gestaltete) Idee des Heraustretens buch-interner Wesen in die Außenwelt findet Benjamin hier die Idee des Eintritts (von Buchlesern) in die Buch-Welt. In einer Geschichte von Andersen kommt ein Bilderbuch vor, das ‚für das halbe Königreich‘ erkauft war. Darin war alles lebendig. ‚Die Vögel sangen und die Menschen gingen aus dem Buche heraus und sprachen.‘ Wenn aber die Prinzession das Blatt umwandte, ‚sprangen sie gleich wieder hinein, damit keine Unordnung entstehe‘. Niedlich und unscharf, wie so vieles, was er geschrieben hat, geht auch diese kleine Erdichtung haargenau an dem vorbei, worauf es hier ankommt. Nicht die Dinge treten dem bildernden Kind aus den Seiten heraus – im Schauen dringt es selber als Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt, in sie ein. (ebd., S. 609)  



97 Benjamin bezieht sich auf Seidmann-Freud, Tom: Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben! Eine Spielfibel. Berlin 1930. (Benjamin 1991a, hier S. 267)  

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Bilderbücher, in denen die Buchstaben als Dinge oder sogar als Akteure auftreten, sind für Benjamin Sinnbilder für das Leben, das sich in Büchern abspielt, wenn man sie in ihrer Buchstäblichkeit ernstnimmt und mit kreativem Blick betrachtet (ebd., S. 611). Auch der Aufsatz ABC-Bücher vor hundert Jahren (Benjamin 1980b) handelt von der Ausstattung von Kinderbüchern; wiederum verbinden sich damit Vorstellungen, welche das Wesen des Buches und der Schrift selbst betreffen (vgl. Teil C 2 über ABC-Bücher); wiederum erscheint das Lesebuch für Kinder als Inbegriff des Buchs, weil es ein Buch aus und über Schrift ist.  

Ein Buchroman Yoko Tawadas in den Spuren Benjamins. Yoko Tawada hat sich mit Benjamins Reflexionen über Buchstaben, Schrift und Buch intensiv auseinandergesetzt (vgl. Tawada 2000). Ihrer Neigung, die eigenen Bücher mit grafischen Elementen auszustatten, kommen diese Reflexionen ebenso entgegen wie dem Interesse an der Erfahrung der Sinnlichkeit und Widerständigkeit von Schrift. Dafür ein prägnantes Beispiel unter anderen: Tawadas Roman Schwager in Bordeaux ist durch Schriftlichkeit in mehrfacher Hinsicht geprägt (Tawada 2011): Erstens auf inhaltlicher Ebene; es geht immer wieder um die Eindrücke, welche Schriftzeichen, vor allem unvertraute, fremdkulturelle erzeugen. Zweitens stehen einzelne Abschnitte des Romans unter Schriftzeichen, die der westliche Leser in der Regel nicht lesen kann: unter (ihrem Ursprung nach chinesischen) Ideogrammen, wie sie auch in der japanischen Grafie gebräuchlich sind, wobei sie teils andere Bedeutungen haben als im Chinesischen. Diese Ideogramme wirken auf den westlichen Leser so unbekannt wie die Buchstaben einer Fibel auf ein Kind, das noch nicht lesen kann. Sie durchdringen das Buch, geben oft Anlass, als Bilderschrift betrachtet und hypothetisch auf Figuren und Szenen des Romans bezogen zu werden. MSE

A 5.3 Prägende Motive neuerer Schriftreflexion André Leroi-Gourhans zweiteilige Monografie La geste et la parole von 1964/1965 hat zur jüngeren Diskursgeschichte über den Menschen und die Kultur einen folgenreichen Beitrag geleistet. Dass das Buch eines Paläontologen und Anthropologen so nachhaltig rezipiert wurde, lässt sich zunächst einmal mit den spezifischen Verknüpfungen erklären, die er zwischen prähistorischen Funden und anthropologischem Diskurs herstellt. Leroi-Gourhan zufolge kann das Auftauchen des Homo sapiens in der Evolutionsgeschichte der Anthropinen insofern als eine epochale Wende gelten, als dieser Homo sapiens die Fähigkeit entwickelt, Gedanken in materiellen Symbolen Gestalt und Dauer zu verleihen (Leroi-Gourhan 1995, S. 237).  

Impulse (a): Leroi-Gourhan und der „Graphismus“. Mit dem Terminus „Graphismus“ bezeichnet Leroi-Gourhan keineswegs nur das Schreiben im engeren Sinn; ge-

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meint ist mehr als der Gebrauch von Schriftzeichenrepertoires zu Notationszwecken. „Graphismen“ sind Markierungstechniken verschiedenster Art, insbesondere auch Einritzungen und Einkerbungen in dazu geeignete bzw. eigens dazu hergestellte Objekte aus der frühesten Geschichte des Homo sapiens. „Graphismen“ sind sichtbar; dies trifft mit wenigen Ausnahmen (Strom-Impulse) auch für ihre modernen Nachfolger zu. Die materiellen Träger dieser frühen „Graphismen“ interessieren Leroi-Gourhan primär unter dem Aspekt ihrer Form und Anordnung; immerhin nennt er auch die materiellen Trägersubstanzen. Konstitutiv für die „Graphismen“ ist ihre rhythmische Dimension, und Leroi-Gourhan setzt sie hypothetisch in Beziehung zur Erfahrung von Zeit. Die frühen rhythmischen Ritzungen bzw. Kerbungen auf Steinen und Knochenfragmenten zeugen (wie er sagt), „von der frühesten Wahrnehmung regelmäßiger rhythmischer Intervalle“, und zwar bereits „viele Jahrtausende vor den ersten Maßsystemen“ (LeroiGourhan 1995, S. 391). Mit dem „Graphismus“ komme es zu einer Überlagerung der erfahrenen Zeit durch die vom Menschen selbst strukturierte Zeitordnung. Mit seiner Konzeptualisierung des „Graphismus“ als sichtbarem Rhythmus knüpft Leroi-Gourhan implizit an weitläufigere Reflexionen über die transzendentale Dimension des Rhythmischen an. Ernst Cassirer hatte sich in Band 2 seiner Philosophie der symbolischen Formen (1925) der Frage nach dem Ursprung der Zeichen und ihren ursprünglichen Funktionen zugewandt. Seiner Überzeugung zufolge sind im mythischen Denken Zeit- und Raumvorstellungen zunächst nicht getrennt. Aber wie geht „diese mythische ‚Urzeit‘ allmählich in die ‚eigentliche‘ Zeit“, in „das Bewusstsein der Folge“ über? Der „Ausdruck der einzelnen Zeitverhältnisse“, so Cassirers These, entwickle sich in Anlehnung an den der „Raumverhältnisse“ (Cassirer 1973 [1925], S. 131f.). Grundlegend seien Verfahren der Unterteilung, des Abschneidens. Der „Graphismus“, nach Leroi-Gourhans Konzeption kein Abbild von Dingen, das den Anfang bildkünstlerisch-mimetischer Darstellung markierte, sondern vielmehr eine Art von sichtbarer Sprache, besitzt in diesem Sinn eine weltstrukturierende Funktion. In dieser Eigenschaft, aber auch hinsichtlich seiner Ontogenese steht er gleichberechtigt neben der gesprochenen parole; er ist dieser weder ontologisch noch zeitlich-kausal nachgeordnet. Sowohl malerische und grafische Arbeiten diverser Stilrichtungen als auch zahlreiche Künstlerbücher lassen sich mit dem Konzept des Graphismus in Verbindung bringen: als Resultate und Modelle der Skandierung und Rhythmisierung von Fläche, Raum und Zeit, als Spuren unterschiedlicher grafistischer Praktiken, als Erinnerungen an prähistorische und archaische Grafien.  



Impulse (b): Barthes und die écriture. Barthes’ Variationen über die Schrift/Variations sur l’écriture (Barthes 2006) sind als erst posthum publizierter Text zwar nicht definitiv ‚autorisiert‘, sondern bieten eher eine ‚toolbox‘ von Ansätzen zur Reflexion über Schrift bzw. Grafie, aber sind gerade darum auch besonders interessant. Von Konzepten und Thesen Leroi-Gourhans ausgehend, setzt Barthes doch mit seinen Reflexionen zur écriture durchaus eigene Akzente: Seine Beobachtungen gelten vorrangig Schreibpraktiken der Gegenwartskulturen (wenn auch schrifthistorische Befunde

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einbezogen werden) – und im Zusammenhang damit eigenen Schreibpraktiken, was auch bedeutet: literarischen Praktiken. Als écriture charakterisiert Barthes auch und gerade das literarische Schreiben. Die Variations reflektieren eine ausschließlich manuelle écriture. Barthes geht es insgesamt um die Somatik von Schrift, die „Beziehung der skripturalen Geste zum Körper“ (Barthes 2006, S. 9), den „muskuläre[n] Akt des Schreibens“ und die daraus resultierende „Prägung der Buchstaben“ (ebd., S. 7). Schreibtechniken, an differente materielle Voraussetzungen gebunden, bilden nichts der écriture Äußerliches. Im Abschnitt „Inscription/Einschreibung“ (ebd., S. 156–161) kommentiert und vergleicht Barthes verschiedene Praktiken manueller Textproduktion. Dabei erscheint die jeweilige physische Arbeit als prägend sowohl für die entstehenden Schriftzüge als auch für deren Funktion und mithin deren Bedeutung. Durch die Wahl der Arbeitsgeräte, durch Schreibgestik und Platzierung der Schrift deuten die Schreiber an, auf welche Art der Rezeption und welche Zukunft ihrer Schriftzüge sie abzielen. Die Materialien, Orte und Schreibgesten sind entsprechend semantisiert – etwa im Horizont der Alternative von ‚Dauerhaftigkeit oder Flüchtigkeit‘, von ‚lauter oder stiller Lektüre‘, von ‚gemeinsamer oder individueller Lektüre‘ (Kodizes, die von einer Gruppe gemeinsam gelesen werden sollten, wie im mittelalterlichen Gottesdienst, mussten groß und mit weit lesbarer Schrift gefüllt sein). Unter dem Aspekt der Schrift-Produktion, betrachtet als ein sinnlich-physischer Akt, ist écriture also eine Schnittstelle zwischen dem Physischen und dem Bedeutenden. Barthes akzentuiert insbesondere die Alternative zwischen ‚Einkerbung‘ (als einer mit einem scharfen Instrument vollzogenen Einkerbung) und sanftem Pinselstrich; das ist eine bewusste (und wohl auch bewusst subjektive) Differenzierung, die aber auf entsprechende Unterscheidungen in der Schrift-Archäologie Leroi-Gourhans zurückverweist (vgl. ebd., S. 157, 159). Dem Konzept einer Schrift- bzw. Text-Literatur-Geschichte, die sich auf Inhalte und Themen bzw. auf Textgattungen, -formen und -stile konzentriert, stellt Barthes das einer anderen, die Materialität der Schrift betonenden Schrift-Geschichte gegenüber. Er unterscheidet nicht allein zwischen Einritzung und Pinselstrich als zwei gegensätzlichen Grundtechniken des Schreibens; er semantisiert zudem die jeweilige Materialität beider im Zusammenhang damit (als ‚gewaltsam‘ bzw. als ‚liebkosend‘; vgl. ebd., S. 156–161).  













Trägermaterien der écriture, der Kodex als Schriftträger. Weitergehend als LeroiGourhan, erörtert Barthes die materiell-somatische Dimension der écriture vor allem mit Blick auf die differenten Schriftträger-Materien. Diese sind nicht nur mit ausschlaggebend dafür, auf welche Weise geschrieben wird; sie korrespondieren auch der jeweils vermittelten Botschaft und haben Anteil an ihr. Der Artikel „Matière/Material“ (Barthes 2006, S. 172–177) ruft in Erinnerung, welche Widerstände unterschiedliche Materialien dem Schreibenden bieten, aber auch, welchen Wert Texte infolge der Materialität ihres Schriftträgers haben bzw. zugeschrieben bekommen. Materialien determinieren die Art, wie sie beschrieben werden, die Instrumente, mittels derer man sie beschreibt – und so auch indirekt die Texte, die sie tragen sollen. Die Textur des  



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Materials bestimmt über die Tastempfindungen und die Gesten des Schreibens, die ‚Zartheit‘ oder ‚Aggressivität‘ seiner Gesten (vgl. ebd., S. 173). Gegenstand der Lektüre sind keine reinen, vom Körperlichen gelösten Inhalte, sondern all die Parameter, die an der Genese der Schrift mitbeteiligt waren. Das Buch als Schriftträger in seinen beiden Modifikationen als Rolle und als Kodex wird als ein wichtiger, wenngleich nicht unabdingbarer Parameter der Kultur der écriture berücksichtigt. Im Artikel „Support/ Träger“ (ebd., S. 184f.) wird betont, welche Folgen der Übergang von der Rolle zum Kodex für Schreibende und Leser hatte. Die körperliche Nutzung beider Buchformate gestaltet sich unterschiedlich – und entsprechend auch die Beziehung des Benutzers zum Buch (ebd., S. 185). Wer sich physisch durch ein Buch bewegt, kann dabei verschiedene Leserichtungen einschlagen, so der Artikel „Vection/Richtung“ (ebd., S. 186–189). Wiederum lassen sich Verbindungen zu künstlerischen Arbeiten, spezifisch: zu grafischen Blättern und Künstlerbüchern darstellen, die einen besonderen Akzent auf die Darstellung von Schreibgesten, auf die spezifische Gestik von Schreib-Spuren legen, die sich als Erkundungen von Materialitäten und Schreibinstrumenten verstehen – und als Auseinandersetzung mit der Physis unterschiedlicher Bucharchitekturen.  











Widerständigkeit der Schrift, Geheimschriften im Künstlerbuch. Im Kapitel „Illusionen“ heißt das erste Stichwort „Verbergen“ („Cacher“, Barthes 2006, S. 22–27). Hier kommt es u. a. zu einer neuen Semantisierung der Kryptografie, die hier ins Gewand einer medial-‚archäologischen‘ Betrachtung gekleidet ist. Ein typisches LinguistenVorurteil sei es, so Barthes, Sprache und Schrift einseitig auf ihre KommunikationsFunktion reduzieren zu wollen. Vielmehr habe letztere in früheren Zeiten auch dazu gedient, „das ihr Anvertraute zu verbergen“ (ebd., S. 23), und für manche Schriftsysteme sei ihre Dunkelheit, ihr Mangel an Lesbarkeit konstitutiv. Daraus zieht Barthes den provokanten Schluss, Schrift sei an sich kryptografisch (vgl. ebd., S. 23, 25). So betrachtet, machen gerade erfundene Schriften sinnfällig, was Schrift ist. Dementsprechend sind literarisch-künstlerische Arrangements um Kryptografisches selbstreferenzielle Darstellungen von Schriftlichkeit. Beispiele für die Verwendung kryptografischer Codes oder pseudo-kryptografischer Figurationen finden sich in Künstlerbüchern in verschiedenen Varianten. Giulio Paolinis Arbeit Ennesima (1975; vgl. Mœglin-Delcroix 1997a, S. 304) etwa enthält Seiten in unlesbarer Schrift und Tafeln, die wie Übersichten zu Beständen von nichtlateinischen Schriftzeichen wirken. Irma Blank hat ihr Künstlerbuch And so on (1974; vgl. ebd., S. 304) mit einer Art Simulationsschrift aus ähnlichen Strichen gefüllt. Mirtha Dermisaches Diario n.o/Aña/3a edición Septiembre (1975; vgl. ebd., S. 305) verwendet für den Text Zeichen, die nur noch vage an bekannte Schriftcodes erinnern, dafür aber in Spalten gedruckt sind wie eine Zeitungsseite, zudem entsprechend größer gehaltene Überschriften aufweisen – so dass eine scheinbare Orientierung auf dieser Seite möglich ist.  















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Impulse (c): Derridas Grammatologie. Die Grammatologie Derridas versteht (in konsequenter Umkehrung geläufiger Ableitungsmodelle) Schrift als konstitutiv für Sprachlichkeit, schreibt ihr eine transzendentale (im Sinne von: welt- und gegenstandskonstitutive) Dimension zu. ‚Schrift‘ (im Sinne Derridas) weist mit ihrer Iterativität und Dekontextualisierbarkeit die entscheidenden Charakteristika jeglicher Art von Zeichenverwendung auf (vgl. Krämer 2012, S. 80). Derrida hat wie Barthes durch Leroi-Gourhan wichtige Impulse erhalten. Kritisch revidiert er insbesondere die Annahme, dass Schriften im Sinn der Entbindung ihrer Bedeutung aus den Zeichen gelesen werden wollen und können (vgl. Derrida 1976, S. 422–442). Derridas Kritik an der logozentrischen Metaphysik gilt primär dem Phonozentrismus, den er als deren Kernstück diagnostiziert. Dekonstruiert werden die These von der Stimme als privilegierter Selbstoffenbarung des Logos (vgl. dazu die Abhandlung Die Stimme und das Phänomen, ebd.) bzw. die Deutung des Denkens als eine Art von Sprechen des Bewusstseins zu sich selbst. Komplementär zur Kritik an der metaphysischlogozentrischen Privilegierung der Stimme erfolgt eine Aufwertung der Schrift. Die Dekonstruktion wendet sich gegen die hierarchisierende Vorstellung, jenseits der durch Differenzierungsprozesse konstituierten Zeichen gebe es eine primäre Sphäre des originär Gegenständlichen, eine Welt außerhalb der Markierungen, der Differenzen, des Spiels der différance. Es gebe – so Derridas pointierende These – „nur Schauplätze der Schrift“ (Derrida 1986, S. 24). In seinem Essay über Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch greift Derrida die platonische Schriftkritik mit ihrem Argument der ‚vaterlosen‘, mithin in ihrer Bedeutung nicht gesicherten Schrift auf – und wendet den kritischen Befund Platons ins Gegenteil: Die Verlassenheit der Schrift von ihrem Urheber und von jedem Sinngrund macht ihre Stärke aus, zum Gegenstand immer neuer Deutungen zu werden (Derrida 1976, S. 109). Das Denkbild des sich von Sinnvorgaben emanzipierenden, an keinen Autor mehr gebundenen Buchs erscheint Derrida in den Buchwerken von Jabès konkretisiert: in Büchern, die unter anderem typografisch zum Ausdruck bringen, dass sie auf leerem Grund geschrieben sind. David Wellbery hat, an Derridas Überlegungen anknüpfend, die Bedeutung der Äußerlichkeit der Schrift betont – der Schrift als einer Instanz, welche „den Schauplatz der Bedeutung – der Hermeneutik, der Sinnorientierung, der Übersetzung – auseinanderreißt“ (Wellbery 1993, S. 338). Das Äußerliche der Schrift erscheint als ein irreduzibles Stör-Element auf dem „Schauplatz der Bedeutung“; jeder „Akt der Bedeutung“ sei „durch Kontingenz im Sinne von Zufall gekennzeichnet“ (ebd., S. 345). Auf viele literarische Autoren, aber auch auf Buchkünstler haben die Überlegungen Derridas vor allem in dieser Hinsicht impulsgebend gewirkt.  























Schriftbildlichkeit. Materialitäts-Diskurse entfalten sich entlang verschiedener Begriffsoppositionen; dass diese wechseln, führt zu den spannungsvollen Ausprägungen der fraglichen Teildiskurse. Eine Grundopposition ist die zwischen SprachlichCodiertem und Nichtsprachlich-Codiertem (bzw. zwischen sprachlichen Codes und

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nichtsprachlichen Codes). Eine zweite ist die zwischen Codiertem (hier dann vor allem: sprachlich Codiertem) und Uncodiertem. Diese Differenzierungen bilden auch den Hintergrund unterschiedlicher Diskurse über Schriftbildlichkeit. Denn Reflexionen über Schrift und Schriftlichkeit bieten zum einen Anlass, eine Codierung bzw. einen Komplex von Codes in den Blick zu nehmen, der in Sprache (sprachlichen Codes) nicht aufgeht, der mehr ist als nur eine Ableitung aus dem Sprachlichen. Zum anderen werden anlässlich des Schrift-Themas auch uncodierte und in diesem Sinn gegenüber versuchter Lektüre widerständige Aspekte und Dimensionen von Texten und Büchern erörtert (vgl. Krämer in: Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012). Leitend für Konzeptualisierungen von „Schriftbildlichkeit“ ist die Absicht, ein traditionsreiches Konzept von Schrift, nämlich ihre Identifikation mit ‚geschriebener Sprache‘, zu überwinden. Bis in jüngere Zeit hinein dominiert in vielen Reflexionen und Theorien über Schrift deren Beschreibung als Übertragung von Rede in ein dauerhaftes und sichtbares Medium (vgl. Ehlich 1994). Schriftbildlichkeitsdiskurse gelten in Abgrenzung davon der „Materialität, Sichtbarkeit und Handhabbarkeit“ von Schrift, wobei diese primär als „Technik und Werkzeug“ in den Blick gerät (vgl. Krämer/CancikKirschbaum/Totzke 2012, S. 5). Dass Schrift nicht einfach visuell fixierte Rede ist, lässt sich anhand von schriftlichen Texten leicht aufzeigen. Seiten- und Absatzgestaltung, Schriftart, Schreibtechnik, Groß- und Kleinschreibung, Spatien und Interpunktionszeichen, Buchstaben- und Zeilenabstände konstituieren den Text mit – und beeinflussen seine Aussage, so dass der geschriebene Text selbst dann, wenn er auf ein Diktat zurückgeht, anderes bedeutet als dieses. Schrift hat – und damit geht sie über OralSprachliches hinaus – eine eigene Räumlichkeit. Dies zeigen etwa Tabellen, mathematische Kurven, Punkte, Linien, Logos und Symbole, geometrische Figuren und andere Elemente grafischer Darstellung, die unabhängig vom Wortsprachlichen sind, aber doch eine Schrift bilden.  







Exploratives und epistemisches Schreiben. Schreiben, so ein Kerngedanke neuerer Schriftkonzepte, hat eine explorative Dimension: Auch Sachverhalte, die sich nicht aussprechen, nicht berechnen, ja unabhängig von ihrer Verschriftlichung nicht einmal erfassen lassen, werden als verschriftete zu handhabbaren Gegenständen, lösbaren Aufgaben – wie etwa der Umgang mit algebraischen Formeln illustriert. ‚Epistemisches‘ Schreiben ist kreative Praxis, katalysiert Einfälle, produziert Formen, weist Denkwege. Auf dem Papier werden Argumente und Ideen entwickelt; die Skizzen- und Notizbücher von Künstlern und Wissenschaftlern illustrieren exemplarisch, wie am Leitfaden der Schrift Neues auf dem Papier entsteht. Eine Sonderrolle spielen in diesem Zusammenhang Formen nichttextuellen Schreibens, wie sie sich in Diagrammen manifestieren. Diagramme gehören einem Zwischen- oder Übergangsbereich von Schrift und Bild respektive zwischen verbaler und bildlicher Darstellung an (vgl. Totzke 2012, insbes. S. 422). Durch Diagramme wird sichtbar, was zuvor unsichtbar war, auch an sich Nicht-Visuelles; sie dienen der Verdichtung, aber auch der „Entkomprimierung“ und einer dadurch möglichen ausdifferenzierenden Betrach 



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tung (ebd., S. 423). Sie machen Sachverhalte lesbar, indem sie sie einer Syntax unterwerfen, und sie haben eine performative Dimension: Sie ziehen den Betrachter in ein von ihnen konstituiertes Spiel der Betrachtung des jeweiligen Gegenstandes ein – eines Gegenstandes, der sich infolge der diagrammatischen Darstellung gemäß ihrer Syntax und den für sie maßgeblichen Differenzierungen konstituiert. Als „Graphismus“ verstanden, bildet Schrift eine Grenz- und Scharnierstelle zwischen dem Physisch-Konkreten, dem Materiellen, und der Sphäre des Sinns. Insofern ist sie ein Doppeltes, dessen Produktion und Rezeption sich auf eine Weise vollzieht, die man als „Oszillation“ zwischen Textur und Textualität charakterisiert hat; auch von „Kippfiguren“ wurde gesprochen (vgl. Assmann 2012, S. 235–244). Die kritische Abkehr von einer Konzeptualisierung der Schrift als Derivat und sekundäre Visualisierung gesprochener Sprache bietet vielfältige Impulse und Anschlussstellen für Praktiken der Schriftgestaltung, insbesondere in Literatur und bildender Kunst. Vor allem die zuletzt zitierte Beschreibung der oszillatorischen, kippfiguralen Wahrnehmung von Schrift gibt wieder, worauf vor allem literarische und künstlerische Gestalter von Schriftflächen, vor allem aber auch von Büchern zielen; auf ein Hin und Her zwischen dem Sichtbaren und hypothetisch erschlossenen oder postulierten Bedeutungen. In buchliterarischen Werken wird dabei gerade die Buchform ins oszillatorische Spiel integriert.  





Satzzeichen, Typogramme. Mit dem Interesse an Schriftbildlichkeit eng korreliert ist das an typografischen Zeichen, die keine Laute repräsentieren: an Interpunktionszeichen, an Zeichen, die den Leseprozess ausrichten, leiten, bestimmen, an Leerzeichen sowie an anderen zwar codierten, aber genuin schriftcodespezifischen Elementen von Texten. Satzzeichen sind genuin literarische Gestaltungs- und Ausdrucksmittel (vgl. Guntermann 2004; Nebrig/Spoerhase 2012). Gerade mithilfe typografischer Zeichen lassen sich oszillatorische oder Kippbild-Effekte erzielen, etwa insofern sie vielfach an bildmimetische Formen erinnern, zugleich aber Bestandteile eines abstrakten Schriftcodes sind. Von einer „physiognomischen“ Dimension der Satzzeichen spricht Theodor W. Adorno in einem Aufsatz von 1956 (Adorno 1958, S. 161f.). Die Aufmerksamkeit auf Satzzeichen eröffnet ein weites Feld literarisch-ästhetischer Gestaltungsoptionen, wie sie seit den frühen Avantgarden facettenreich genutzt worden sind, in einzelnen Fällen auch schon in früheren Zeiten. In der neueren Buch-Literatur wird an die Typogramme und Satzzeichenverwendungen früherer literarischer Arbeiten angeknüpft; die Gestaltungsoptionen erweitern sich, wo das Buch als Inszenierungsraum der Schriftbildlichkeit genutzt wird.  



Schreibszenen, Schriftschauplätze. Roland Barthes weist darauf hin, dass „schreiben“ in der Moderne zum intransitiven Verb wird (Barthes 2012), zu einem Wort, das die literarische Arbeit als Tätigkeit unabhängig von konkreten Gegenständen oder Themen charakterisiert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereiten sich die für jüngeres Schrift-Wissen charakteristischen Tendenzen vor: das kulturwissen 

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schaftlich, historisch und kulturanthropologisch motivierte Interesse an der Geschichte der Schrift, an Schreibpraktiken, an der Materialität und sinnlichen Konkretheit von Schrift, an Zeichenformen, Textstrukturen etc., und schon hier finden sich prominente Beispiele für ganze literarische Œuvres, die durch ein Interesse an Schreibpraktiken und am ‚Buchstäblichen‘ geprägt sind. Schreibpraktiken und Schreibszenen werden in literarischen Texten jeweils auf spezifische Weise semantisiert; dies geschieht aber in Anknüpfung an die von Wissensdiskursen über Schrift, Schriftlichkeit und Schreibverfahren (implizit oder explizit) vorgenommenen Semantisierungen. In den Spuren von Barthes’ Reflexionen über écriture wird das Konzept der „Schreibszene“ zum wichtigen Beschreibungsmodell schriftgebundener Arbeitsprozesse (vgl. Campe 2012, S. 270). Es impliziert bzw. fordert eine Zusammenschau des entstehenden Textes mit dem Prozess seiner Hervorbringung sowie den an diesem Prozess beteiligten Faktoren und Rahmenbedingungen. Sprachlich-semantische, technisch-instrumentelle, somatische und persönlich-habituelle Faktoren spielen zusammen, manifestieren sich im Verlauf der Schreibarbeit und hinterlassen in deren Produkten ihre Spuren, wie deutlich auch immer. Das Grundmodell der Schreibszene, weiterentwickelt zur Konzeption einer „Genealogie des Schreibens“ (Zanetti 2012, S. 22; vgl. Stingelin 2012), bietet ein flexibles methodisches Instrumentarium zur Beobachtung und Beschreibung, zum Vergleich und zum Interpretieren von Schreibprozessen verschiedener Art, insbesondere literarischen. Zugleich entfaltet es, gleichsam rückwirkend, stimulierende Wirkungen auf die literarische und künstlerische Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit. Schreibprozesse in der Vielfalt ihrer Parameter zu reflektieren und sie gegebenenfalls modellhaft zu simulieren, also Schreibszenen zu entwerfen und darzustellen, ist ein literarisches und schreibästhetisches Programm, das zwischen Literatur und anderen visuellen Künsten eine Brücke schlägt. MSE  



A 5.4 Buchliterarische Variationen über Grafie, Schriftbildlichkeit und Schreibprozesse In visualpoetischen Texten wird die Zwischenstellung respektive Übergänglichkeit von Schrift zwischen der Sphäre des Sprachlichen und der des Bildlichen, ihr oszillatorischer Charakter, ihre Balance zwischen sprachlich-semantischer Sphäre und materieller Dimension, in besonderem Maße sichtbar. Visualpoesie ist insofern ein Rahmen, in welchem Schrift selbstreferenziell präsentiert werden, wo Schriftliches zum primären Schauobjekt werden kann. Das Buch in seiner Räumlichkeit kann dabei zum zweckentsprechend gestalteten Schau-Platz, zum Schrift-Theater werden. Hier können Schriftzeichen agieren und interagieren; hier können insbesondere unterschiedliche Schriftproben, Schriftzeichentypen, Schriftsysteme und Schreibweisen aufeinandertreffen, hier können Differenzen und Analogien sinnfällig gemacht, ja

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ganze Schrift(zeichen)-Geschichten erzählt werden. Und wo das Buch als Inszenierungsraum von Geschichten auf besondere Weise gestaltet wird, hat die Schriftgestaltung daran fast stets einen wichtigen Anteil. Johanna Druckers Buchpublikation The Alphabetic Labyrinth. The Letters in History and Imagination (1995b) ist eine reichbebilderte wissenschaftliche Studie. Das Buch erschien zeitgleich mit der Erstauflage von Druckers Künstlerbuch-Monografie (The century of the artists’ book, zuerst 1995) und bildet zu dieser ein Parallelkompendium. Diese Parallele, aber auch diverse inhaltliche Vernetzungen (die Behandlung von Schrift und Schriftlichkeit im Buch über artists’ books und die Relationierung der Beispiele von ABC-Gestaltungskunst zu den Büchern, für welche sie geschaffen wurden) bekräftigt den Zusammenhang zwischen Schrift- und Buch-Thematik. In Büchern lassen sich Schreibprozesse nachverfolgen und gezielt inszenieren. Buchliterarische Werke präsentieren sich in verschiedenen Varianten als Darstellungen von Schreibprozessen, als Ensembles von Indizien. Buchwerke werden aber auch zu Schauplätzen der Überkreuzung von Schreibspuren, der Sammlung von Schriften, der Transkription, der Interaktion in mehrschriftlichen Prozessen. Massin, Kriwet: Bücher als Sammel- und Ausstellungsräume von Schrift. Vor dem Hintergrund eines zugleich historisch-kulturgeschichtlich, kunst- und ästhetikgeschichtlich und künstlerisch motivierten Interesses an der Vielfalt historisch-kultureller Erscheinungsformen von Schrift entstehen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts große Kompilationen zur Schrift-Bild-Geschichte und zu den zahlreichen Erscheinungsformen von Schrift unter dem Einfluss kultureller, zeitstilistischer, typografiegeschichtlicher, kommerzieller und künstlerischer Faktoren. Robert Massins Kompendium La lettre et l’image (Paris 1970; dt. Buchstabenbilder und Bildalphabete, Ravensburg 1970) findet breite Resonanz und wird u. a. von diversen literarischen Autoren gewürdigt. Massin trägt Beispiele figuraler Schrift von der Antike bis zur Gegenwart zusammen, berücksichtigt dabei viele mittelalterliche, frühneuzeitliche und barocke Beispiele, gewinnt dem 18. und 19. Jahrhundert viele Beispiele ab, präsentiert neben figuralen Einzelbuchstaben und Initialen eine Fülle ganzer Bildalphabete und lässt seine von einem knappen Kommentartext begleitete Kollektion mit Beispielen aus dem 20. Jahrhundert enden. Die von Schriftzeichen auf Reklametafeln und Geschäftsschildern geprägten modernen Städte erscheinen so als Nachfahren der Buchstabenwelten mittelalterlicher und neuzeitlicher Imagination. Insofern erzählt Massins Buch mehr als nur eine Geschichte: Da ist erstens die der ständigen KippbildEffekte zwischen Schriftlichkeit und Bildlichkeit im Wandel der Zeiten, zweitens die der kontinuierlichen Versuche, Zeichen und Gegenstände (vor allem ‚lebendige‘ Erscheinungen wie Menschen, Tiere, Ungeheuer) oszillatorisch aufeinander zu beziehen oder sie als Kippbilder wiederzugeben – und drittens die der schriftgestalterischen Variationen über den Topos vom ‚Buch der Welt‘. Insgesamt liegt bei Massin der Akzent auf der diachronen Kontinuität bestimmter figuraler Erscheinungsformen von Schrift.  









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Eine Art Pendant zu diesem Bilderbuch der Schriftbilder bildet Ferdinand Kriwets Anthologie Com.Mix (1972). Nicht allein um Buchstaben und Buchstabenserien, Schriften und Schriftzeichen geht es hier, sondern um „Die Welt der Schrift- und Zeichensprache“ in ihrer Breite und Vielfalt (Kriwet 1972). Dazu gehören allerdings eben auch verschiedenste Beispiele historischer Schriften wie etwa die Keilschrift. Der Band ist eine buchförmige Montage aus Zeichen aller Art, aus Emblemen und Logos, grafisch wiedergegebenen gestischen Zeichen und Körperzeichen, aus Signalen und Zahlzeichen, aus nonverbalen Zeichen verschiedenster historischer Epochen von Höhlenbildern zu Verkehrsschildern etc. In der Dichte seiner einander ununterbrochen folgenden und bunt gemischten Beispiele für Bildzeichen simuliert der Band die Sensationen der historischen Welt wie der gegenwärtigen Alltagswelt, der diese Beispiele entnommen sind; er modelliert also auf der Basis der ihn prägenden Collageästhetik die Welt als ein ‚Buch‘ voller Zeichen, indem er sie mittels eines Buchs rekonstruiert. Auch Ferdinand Kriwets Collagebücher Apollo Amerika (1969) und Stars (Bd. I–III; 1971; vgl. Teil E 1.12) stellen Schriftbildliches in vielfältigen Erscheinungsformen dar, collagiert aus der Schrift-, Bilder- und Schriftbilderwelt der Gegenwart, insbesondere auf der Basis von Publikationen der Massenmedien, von Reportagen, Fotos, Grafiken, Dokumenten verschiedenster Art. Neben schriftsprachlichen Texten finden sich tabellarische, diagrammatische und andere Spielformen der Schriftbildlichkeit. Kriwet akzentuiert die Vielfalt der Facetten von Schriftbildlichkeit unter synchroner Akzentuierung: Seine Collage-Bücher sind Modelle der Gegenwart in ihrer Durchdringung von Bilderschriften und Schrift-Bildern.  

Schreib-Szenen im Buchraum: R. Murray Schafers Dicamus et Labyrinthos. A Philologist’s Notebook. Schafers fiktionales Notizbuch Dicamus et Labyrinthos (1984) entwickelt den schon mit Ariadne (1985, entstanden 1976) verfolgten Ansatz weiter. Beide Bücher machen die Schrift im Durchgang durch zahlreiche Spielformen des Grafischen zu ihrer eigentlichen Protagonistin. Wie in Ariadne, so wird auch im Notebook mit schriftbildlichen Mitteln eine Geschichte erzählt, aber diesmal ist es dezidiert eine Buch-Geschichte, die eines Notizbuchs, das gleichsam seine eigenen Abenteuer vorführt. Dem Leser selbst liegt ein fiktionales Forschernotizbuch vor, das der Rahmenkonstruktion zufolge von einem ungenannt bleibenden Paläografen geführt und nach dessen Verschwinden von einem Herausgeber publiziert wurde. Gegenstand der (fingierten) Forschungsarbeit des Philologen war eine Serie von Tafeln in einer von den Philologen „ektokretisch“ genannten unentschlüsselten Schrift, gefunden im Mittelmeerraum. Die Tafelfunde und die unbekannte Schrift erinnern an die Geschichte der (realen) Tafeln mit der Linear-A- und Linear-B-Schrift. Das Notizbuch visualisiert und beschreibt im Ausgang von einer Zeichnung der beschrifteten Tafeln die diversen Stadien der Entschlüsselung durch den Philologen. Seine Arbeit gestaltet sich umwegreich, voller Sackgassen und Dunkelheiten – wie ein Labyrinth; zum Labyrinthmythos und zu dessen Figuren (Minotaurus, Dädalus, Theseus, Ariadne) setzt der Philologe seinen Gegenstand und sein Tun auch wiederholt in eine Beziehung. Die Schrift selbst  

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wird dabei zum Labyrinth par excellence; der Philologe identifiziert sich unbewusst mit Dädalus. Mit seinen Dechiffrierungs-Versuchen verbinden sich vielfältige Reflexionen über Mythos und Sprache, Schreiben, Lesen, Übersetzen, Dechiffrieren. Das im Buch als Pseudo-Faksimile dargestellte Arbeitstagebuch enthält diaristische Aufzeichnungen und allerlei Gedanken- und Ideennotate, Zitate, Skizzen, auch nicht-lineare Textanteile, Überschreibungen, grafische Elemente etc. Zitiert werden – in verschiedenen Sprachen und Schriftsystemen – echte und fingierte Quellen; es wird auf verschiedene Übersetzungstheorien angespielt. Schriftbildlichkeit findet sich in Dicamus et Labyrinthos unter verschiedenen Aspekten akzentuiert. Erstens sind zu entziffernde Tafeln Schrift-Bilder und werden als solche präsentiert; insofern bilden Schrift-Bilder den Ausgangspunkt der fiktiven Handlung und aller Reflexionen. Der Weg durch verschiedene Entzifferungsstufen, durch Stadien der Transkription und Übersetzungsschritte, akzentuiert die Bildlichkeit von Schrift; Analoges gilt für die einfließenden Ausführungen über Kryptografie. Zweitens geht es im Notizbuch des fiktiven Philologen um die verschiedensten Parameter, die Schreibszenen bestimmen und auf das entstehende Textgebilde Einfluss nehmen; dies gilt für die Schreibtätigkeit des Philologen selbst als auch für die anderer, für die Werkzeuge und das Material, welche die Gestalt der Tafeln bestimmt haben. Drittens werden Schriftproben unterschiedlicher technischer Provenienz einbezogen: neben den Steintafeln sowohl hand- als auch maschinenschriftliche und gedruckte Texte. Viertens geht es durchgängig um die Widerständigkeit von Schrift. Die Frage, ob ihre vom Philologen vermeintlich geleistete Entzifferung zuletzt gelungen ist, bleibt ob des skurrilen Ergebnisses unentscheidbar. Der Philologe selbst verschwindet zuletzt im Dunkel schwarzer Seiten, bis keine Spur mehr von ihm bleibt.  



Transformationen der Schrift, Extension des Gedichts: Derek Beaulieu. Die lettristischen Kompositionsübungen der Konkreten Poesie und anderer avantgardistischer Strömungen des späteren 20. Jahrhunderts finden bis in die Gegenwart Nachfolger. Zwei Beispiele aus Kanada seien stellvertretend für andere genannt: Derek Beaulieu stellt seine textgrafischen Arbeiten ins Zeichen der Erkundung von schriftbildgestalterischen Möglichkeiten. Als Einzelhefte entstehen in regelmäßiger Folge Serien schriftbildlich-lettristischer Kompositionen, die als Sequenzen gelesen werden wollen. So ist seine Xerolage 52 (LaFarge, WI 2011) eine Hommage an die LetrasetTechnik, also an die Verwendung von auf Folien geklebten Anreibe-Buchstaben, die auf verschiedene Schriftträger durch Reiben aufgetragen werden konnten. Beaulieus Xerolage-Arbeiten bieten explodierende Bilder aus Einzelbuchstaben, typografischen Zeichen und grafischen Elementen, in denen gelegentlich, verschwindend klein, einzelne sichtbare Wörter auftauchen. Mit der neologistisch etikettierten Publikationsreihe Xerolage geht es Beaulieu und anderen darum, die Gestaltungsmöglichkeiten mittlerweile historischer Techniken der Schriftproduktion in den Dienst poetischer Explorationen zu nehmen. Beaulieus Buch Konzeptuelle Arbeiten (Bern 2017) versammelt diverse grafische Arbeiten, die als Transformationen von oder Repliken auf lite 

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rarische Texte angelegt sind, diese Text-Vorlagen also ins Grafische übersetzen. Edwin Abbotts flatland: a romance of many dimensions (London 1884) wird in eine Sequenz von Diagrammen transformiert, die an die Linien eines EKGs erinnern. Paul Austers Roman Ghosts (Los Angeles 1986), eine Geschichte um die Figuren „Blue“, „Black“ und „White“, wird in eine Serie grafischer Kompositionen aus (vorwiegend) blauen, schwarzen und weißen Rechtecken übersetzt; andere Figuren sind vereinzelt durch weitere Farben repräsentiert. Andy Warhols Roman a, a novel (New York 1968) wird auf Satzzeichen und onomatopoetische Wörter reduziert. Mit diesen und diversen anderen Arbeiten operiert Beaulieu jeweils in einem Übergangsbereich zwischen Sprachlich-Textuellem und Grafischem; im Fall einer Bearbeitung einer Satie-Komposition bildet eine Partitur den Ausgangspunkt. Die Grafien Christian Böks und das Xenotext-Projekt als Fortschreibung des Buchs der Natur. Christian Böks Lyrikbände Crystallography (dt. Kristallographie, Toronto 1994/2003) und Eunoia (Toronto 2001) sind Hommagen an die Schrift: das erste Buch spielt auf die ‚Schrift‘ der Kristalle und auf das Ideal eines „kristallklaren“ Schreibens an;98 das zweite basiert auf Regeln zum Einsatz von Buchstaben, die an lettristische Experimente der Oulipisten erinnern. Das Wort Eunoia enthält alle Vokale des lateinischen Alphabets; der Band besteht aus einem ersten, wiederum Eunoia betitelten Teil und einem zweiten mit dem Titel Oiseau (in dem wiederum alle Vokale enthalten sind). Der Eunoia-Teil enthält univokale Lipogramme; in jedem Abschnitt findet sich ein Text, in dem ausschließlich ein einziger Vokal verwendet wird. Die Texte in Eunoia unterliegen mehrfachen, jeweils strikt angewendeten Regeln. Eine davon ist, dass sie alle auf das Schreiben verweisen müssen („All chapters must allude to the art of writing“; Bök 2001, S. 103). Böks Xenotext-Projekt steht im Zeichen einer medialen Grenzüberschreitung, die das Feld der Schriftbildlichkeit hinter sich lässt, sich aber doch in schriftbildlicher Form darstellen lässt. Den Ausgangspunkt bildet ein Gedicht Böks, das er durch diverse Transformationsschritte in eine Sequenz der Bausteine eines Genoms übersetzt hat; die genetischen Nukleotide wurden zu diesem Zweck eigens in einem Labor produziert. Nach Herstellung der Genom-Übersetzung seines Gedichts ließ Bök die Kette in ein Bakterium implantieren. Beim Verfassen des solcherart übersetzten Textes hatte er Zeichensequenzen gewählt, die das Bakte 

98 Dies geschieht allerdings in einer gebrochenen Weise, welche auf der Unterscheidung zwischen Lesbarem und Unlesbarem/Materiellem, also zwischen Schriftsprachlichkeit und Schriftmaterialität, beruht. Bök charakterisiert „Crystallography“ als „a pataphysical encyclopaedia that misreads the language of poetics through the conceits of geology“: „While the word ‚crystallography‘ quite literally means ‚lucid writing‘, this book does not concern itself with the transparent transmission of a message (so that, ironically, much of the message may seem ‚opaque‘); instead, the book concerns itself with the reflexive operation of its own process (in a manner that might call to mind the surreal poetics of lucid dreaming).“ (Bök 1994, S. 156).  

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rium als eine Sequenz sinnvoller genetischer Instruktionen ‚entziffern‘ konnte, um auf der Basis dieser Informationen ein Protein zu produzieren. Dieses Protein ist für Bök ein weiterer bedeutungsvoller Text, ein „poem“.99 Das ungewöhnliche Experiment ist in einem Buch dargestellt (The Xenotext, Book 1, Toronto 2015), das die konzeptuelle Basis des Unternehmens in poetischer Form darstellt und gleichzeitig in die Genetik einführt – durch erklärende Sachtexte wie durch Grafiken. Als Subtext des XenotextProjekts erweist sich die mythische Fabel um Orpheus und Euridike; „Orpheus“ heißt das von Bök codierte und dem Bakterium implantierte Genom-Gedicht; „Euridike“ ist der Name des Proteins, mit dem das Bakterium antwortet. Die genetisch-gentechnologischen Sachinformationen des Buchs wirken teils wie lettristische Kompositionen, teils wie figurale Grafiken. Die Bedeutsamkeit schriftgrafischer Konfigurationen jenseits der Sprache wird an ihnen sinnfällig. Tabellarische, sequenzielle und diagrammatische Figuren umspielen die Grenze zwischen Schrift und Bild. Die Beziehung zwischen Schriftzeichen und Sprachlichkeit bildet das Zentrum des oszillatorischen Experiments. Denn gerade in einer Sphäre, die dem Sprachlichen denkbar fern zu stehen scheint, wird ja mittels einer Genom-Schrift eine ‚Antwort‘ auf ein Gedicht provoziert, eine Antwort die zwar ‚schriftlich‘, aber eben nicht mehr sprachlich verfasst ist. MSE  

99 „I’ve written a short poem, and then through a process of encipherment, I’ve translated it into a sequence of genetic nucleotides, which I’ve manufactured at a laboratory, and then, with the assistance of my scientific collaborators, I’m going to implant this gene into the genome of an extremophile bacterium called Deinococcus radiodurans. I’ve written this poem in such a way that, when translated into this genetic sequence, my text actually causes the organism to interpret it as a set of meaningful, genetic instructions for producing a protein, which, according to my original, chemical cipher, is itself yet another meaningful poem.“ (Bök online)

A 6 Verbindungslinien: Dichter des 19. Jahrhunderts und ihre Impulse für Buch-Poetiken der Moderne  

Erfolgen Erkundungen der Gestaltbarkeit von Büchern im 20. und 21. Jahrhundert über konventionelle Gattungsgrenzen zwischen bildender Kunst und Literatur hinaus, so schließen sie damit an neue Gestaltungspraktiken des Buchs im 19. Jahrhundert an. In mehr als einer Hinsicht ist gerade dieses ein Jahrhundert des Buchs gewesen: eines der expandierenden Produktion und Zirkulation von Büchern, eines des expandierenden Buch-Wissens, aber auch eines der Entwicklung neuer Verfahren materieller Buchproduktion, drucktechnischer Verfahren sowie insgesamt neuer Formen und Gestaltungsmodi des Buchs. Buch-Illustrationsverfahren verfeinern sich und werde zunehmend häufiger genutzt. Auch und gerade Bände mit literarischen Texten werden mehr und mehr von Illustrationen begleitet; die Werkausgaben wollen auch als ästhetische Gebilde wahrgenommen werden und die privaten Räume des lesenden Bürgertums schmücken. Das 19. Jahrhundert ist ferner ein Zeitalter der Enzyklopädien, Konversationslexika und Wörterbücher, aber auch eines der Genese neuer Arten von Kinder- und Spielbüchern, das der Sammel- und Familienalben, das der Erfindung des Scrapbooks. Dichter, Grafiker und Buchgestalter wenden sich dem Buch verstärkt zu. Dabei geben sie Impulse für Verfahrensweisen und Werke der folgenden Zeit. Dies soll anhand dreier Komplexe illustriert werden, ausgehend von Hans Christian Andersen, Justinus Kerner, Lewis Carroll und Stéphane Mallarmé. MSE  





A 6.1 Ein Jahrhundert der Bücher und des Papiers Das 19. Jahrhundert ist in besonderem Maße an visuellen Erfahrungen interessiert, gewissermaßen ‚sehsüchtig‘. Dies prägt einen Umgang mit der Erfahrungswelt und sein Selbstverständnis, seine Wissenskultur und seine Ästhetik. Zeittypisch ist die Faszination durch neue Entdeckungen im Bereich des Sichtbaren: durch neue Bilderzeugungsverfahren und Bildtypen, aber auch durch neue Formen des Umgangs mit Bildern. Auch die – ihrerseits zunehmend expandierende und florierende – Buchkultur des 19. Jahrhunderts ist durch die Bilderfreude dieses Zeitalters geprägt. Dazu trägt neben der zunehmenden Signifikanz von Seherfahrungen, differenten Bildtypen und Medien des Sehens auch die bürgerliche Bildungswelt mit ihren Vorlieben und Bedürfnissen bei: Man schaut gerne und viel. Neben der Welt der Bücher und der der mit optischen Geräten arbeitenden Wissenschaften ist auch die Welt des Theaters eine Welt der Bilder und des Schauens, und nicht zufällig differenziert sich die Welt des Theatralen stärker aus – unter anderem durch Entwicklung spezifischer Buch- und Papiertheater (vgl. Teil D, Art. „Papiertheater“). Die Buchillustration blüht auf, im Bereich der Wissens- wie der Unterhaltungskultur, und sie demonstriert dabei unter an 









https://doi.org/10.1515/9783110528299-007

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derem ihre Möglichkeiten, die illustrierten Klassiker durch Bebilderungen zu interpretieren. Die zunehmende Bedeutung der Illustration als Bestandteil von Büchern belegen exemplarisch illustrierte Klassikerausgaben, wie sie im 19. Jahrhundert besonders beliebt sind. Bilderreich präsentieren sich aber auch illustrierte Sachbücher und Wissenskompendien: Enzyklopädien, Lexika, Atlanten, Reisebücher, Ratgeberliteratur und andere Formate. Als Einladungen, eigens dafür konstruierte Bücher selbst zu bebildern, präsentieren sich Scrapbooks und Alben. Papier ist der wichtigste Träger von Informationen, Wissen, Kommunikation, sei es in Büchern, sei es in anderen Druckerzeugnissen, sei es im Bereich brieflicher und anderer Fern-Kommunikation. Aus Papier entstehen unter anderem Modellwelten, Papiertheater, Schnitt- und Bastelbögen, Lehrbücher. Solches Papier wird manchmal vom Nutzer aktiv bearbeitet. Gedruckte Bücher werden zwar normalerweise nicht zerschnitten oder in ihre papiernen Bestandteile zerlegt, aber es ist durchaus üblich, Zeitungsausschnitte zu sammeln und in eigens dafür bestimmte Hefte zu kleben (vgl. Heesen 2006). Sammelalben nehmen ausgeschnittenes Bildmaterial auf; vorgedruckte, oft zuvor eigenhändig ausgeschnittene Bildmotive, Postkarten und Fotos werden in Alben gesammelt; solche und andere Bände sind geprägt durch die Materialität und Funktionalität des Papiers, hier in seiner Eigenschaft als schneidbares Material. Das Papier als Material bildet nicht allein eine Art Bindeglied zwischen Buch und Papiertheater, es lässt manches Buch zu einem Schau-Raum aus Papier werden. Die Papier-, Schneide-, Klebe- und Sammelkultur des 19. Jahrhunderts berührt sich in mehrerlei Hinsicht mit der Welt der Literatur, mit Praktiken und Themen literarischen Schreibens. So thematisieren diverse Autoren das Arbeiten mit Papier (das ja eine Metonymie der literarischen Arbeit ist, die ‚auf dem Papier‘ ihre Spuren hinterlässt und zu ‚Büchern‘ führt). Manche Autoren praktizieren und semantisieren das Arbeiten mit Papier auf spezifische Weise, gelegentlich unter dezidiert poetologischer Akzentuierung. Damit bahnen sie den Weg für Vertreter moderner Literatur und Kunst. Vor allem Formen der Buchnutzung und Buchgestaltung im Zeichen des Gebrauchs von Schere, Klebstoff und Papier(en) erweisen sich als ergiebige Gegenstände und Reflexionsmodelle. MSE  



A 6.2 Klecksen und Falten: Von Justinus Kerners Klecksografien zu Peter Rühmkorfs Buch-Poetik Klecksografie ist bei Kerner eine Art Fortsetzung der Geisterseherei mit Mitteln der geselligen Spielkultur (vgl. Kleksographien in Kerner 1981 [1890], S. 365–433). Seine altersbedingte Sehschwäche, so Kerner, habe dazu geführt, dass zunächst versehentlich erste Klecksbilder entstanden; seine progressive Erblindung habe die Befassung mit diesem Verfahren unterstützt. Kerners Medien sind Tinte, manchmal auch Kaffee oder andere Getränke, und Papier. Ihre Materialität prägt die Klecksbilder. Diese ent 

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stehen bei ihm ja darum, weil man Papier falten und die durch den Falz getrennten Teile flach aufeinanderlegen kann – was dann zu symmetrischen Figurationen führt. Jahrzehnte nach ihrer Entstehung als Einzelblätter erscheint eine Auswahl von Kerners Kleksographien (1890) in Buchform, und zwar als Ensemble von Bildern (laut Untertitel: Illustrationen nach den Vorlagen des Verfassers) und ihnen zugeordneten, in ihrer Nachbarschaft platzierten Gedichten, ebenfalls von Kerner, wiederum Produkte auf Papier, geschöpft aus seinem Tintenfass. (Publiziert werden die Kleksographien erst posthum durch Kerners Sohn Theobald.) Alle Gedichte folgen einer Leitidee und bilden einen Zyklus: Die Klecksbilder werden von den Texten als Geistererscheinungen interpretiert, das sie versammelnde Buch bietet also eine Art Geister-Atlas, gegliedert in Hades- und Höllengeister. Überall ‚entfalten‘ sich Geister entlang von Falten im Papier. Zum memento mori als Kernbotschaft passt ein ephemeres Material wie das Papier besonders gut. Aber auch zwischen der Leichtigkeit der körperlosen, schwebenden Geister und der des Papiers besteht eine assoziative Beziehung. Symbolträchtig ist die Farbe Schwarz, sind also insbesondere die schwarzen Kleckse, aus denen die meisten Klecksfiguren gebildet wurden (andere sind zunächst braun, im gedruckten Buch dann allerdings auch schwarz). Und insofern eine ganze Reihe der Texte die Genese der Klecks-Erscheinungen beschreibt, konstruiert Kerner eine Parallele zwischen dem Kampf zwischen Hölle und Himmel auf der einen Seite, der Interaktion zwischen Schwarz und Weiß, Tinte und Papier auf der anderen Seite. Der Hades ist ein schwarzer Fleck, beschrieben als „schwarzes Blatt“, der weitgehend deutungslos bleibt; das ihm zugeordnete Gedicht besteht im Wesentlichen aus Negativaussagen. Die Höllengeister entstehen angeblich aus dem Aufrühren des Satzes im Tintenfass und nächtlichem Klecksografieren. Kerners Gedichttexte betreiben die Semantisierung des Materiellen als eine Art Gegen-Exorzismus: Sie treiben die Geister ins Körperlich-Stoffliche hinein statt heraus. Ein Klecksbild erscheint als Darstellung eines Tintenfasses mit Feder – und zugleich (vorausgesetzt, man dreht das Bild) als Porträt eines Dämons („Hier das Tintenfaß mit stummer Feder,/Wenn man’s umdreht, sieht mit Staunen Jeder:/Wie in einen Dämon tierisch kraß/Sich umwandelt oft das Tintenfaß.“ Kerner 1981, S. 382). Entdeckungen der dämonischen Kehrseite des Alltäglich-Harmlosen prägen das klecksografische Projekt. Das Schmetterlings-Motiv ist mehrfach vertreten. Es verweist auf den Tod als Verwandlung und bietet ein traditionsreiches Bild der vom Körper gelösten Seele. Aber die aufgestellten Flügel von Schmetterlingen ähneln auch Buchseiten; sie lassen sich wie diese zusammenfalten und auseinanderklappen. Insofern der Klecksograf immer auch ein (Papier-)‚Falter‘ ist, hat auch dieses Bild einen autoreferenziellen Sinn.  





Poetik entfalteter Kleckse: Peter Rühmkorfs Kleine Fleckenkunde als poetologisches Buch. Als Klecksograf wirkt auch Peter Rühmkorf, der mit seiner Kleinen Fleckenkunde explizit an Kerner anknüpft, gemäß dem Motto: „Die Methode Justinus Kerner/ist der beste Fleckenentferner“ (Rühmkorf 1982, erste, unpag. Seite). Auch Rühmkorf erzeugt axialsymmetrische Klecksbilder, auch er fügt ihnen Kommentare

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in Versform bei. In diesen Texten werden zum einen die sichtbaren Klecksbilder als mimetisch gedeutet, zum anderen erfolgen immer wieder Hinweise auf das Kernersche Verfahren als solches. Rühmkorf betreibt eine hochgradig und explizit autoreflexive klecksografische Praxis, die ihre intertextuelle Abhängigkeit von Kerner signalisiert. Der Wille zur Selbstdarstellung der ästhetischen Praxis bedingt es, dass neben den fertigen axialsymmetrischen Klecksbildern auch deren (angebliche oder tatsächliche) Ausgangsstadien abgebildet werden: die rohen, unbearbeiteten Kleckse. Die Fleckenkunde ist ein poetologisches Buch; sie bespiegelt die Genese von sprachlichen und bildlichen Kunst-Stücken. Kreative Gestaltung nimmt, so sehen und lesen wir, ihren Ausgang vom Amorphen, vom bloßen Material, das bedeutungslos weil ungestaltet ist. Bedeutung entsteht erst im Gestaltungsprozess. Inbegriff und Modell der Gestaltung ist die axialsymmetrische Spiegelung, denn sie erzeugt eine erste Beziehung zwischen zwei Relaten, die damit wechselseitig aufeinander verweisen, eine erste Zeichenbeziehung also, zugleich eine basale Form der Ordnung: „Wer hierzulande Flecken hinterläßt/gilt gleich als Schwein./Wer einen Klecks in eine Ordnung preßt/kann schon ein Künstler sein.“ (Ebd., S. 12) Der Moment der Faltung des Papiers in der Mitte ist das Sinnbild und zugleich ein handgreifliches Exempel solcher Schaffung von Formen aus dem Chaos. Diverse Verse Rühmkorfs thematisieren den Prozess der Wendung vom Amorphen und Bedeutungslosen zum Gestalteten und Bedeutsamen, vom Chaos zum Kosmos. Anders als bei Kerner finden sich bei Rühmkorf auch solche Kleckse, deren Symmetrieachse genau mit der Falzlinie zwischen zwei Buchseiten identisch ist. Der Klecks scheint im Buch und durch das Buch als materielles Objekt entstanden zu sein. Und so wird das klecksografische Dichten zum dezidiert buchbezogenen Unternehmen. Rühmkorf semantisiert die Doppelseite und das Umblättern von Seiten, macht das Buch explizit zum Theater (im Sinn von Anschauungsraum). Es ist ein Raum, in dem sich allerlei zauberhafte Verwandlungen vollziehen, bedingt in erster Linie durch Sprache.  

Dopplungen, Doppelseiten. Als Theoretiker der Lyrik betont Rühmkorf das kreative Potenzial atavistisch-infantiler Experimente (Rühmkorf 1985, S. 53). Die spielerische Klecksografie ist das visuelle Pendant zur Verdopplung von Sprachlauten und Silben als dem basalen poetischen Gestaltungsprozess. Rühmkorf betont die Analogie zwischen magisch-atavistischen Evokationsverfahren und poetischen Gestaltungsprozessen. In seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung agar agar – zaurzaurim etwa erörtert er ausführlich die evokativen Potenziale des Reims und anderer sprachlicher Strukturierungsverfahren. Erörtert werden viele Beispiele für effektvolle Parallelismen sprachlicher Elemente in der Alltagskultur und in der Dichtung: vom Stabreim bis zur Sprache der Massenmedien. Passend dazu feiert die Kleine Fleckenkunde die Dopplung, die Paarung, die Mitte, die Spiegelachse und deren Schwellencharakter. Im Gedicht coincidentia oppositorum wird das Zusammenspiel der Antagonisten Klecks (Formlosigkeit) und Mittellinie (Formgeberin) angespielt – und damit auch auf die Spannung zwischen Chaotischem und Struktur, die wiederum mittels des Buchs inszeniert wird:  





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Erst wird gekleckst, dann wird (durch die Handhabung des faltbaren und umblätterbaren Papiers) geformt. Der Klecksograf selbst repräsentiert dabei die Idee einer Vermittlung des Gegensätzlichen (Rühmkorf 1985, S. 32). Das Buch bringt – so eine wiederholte Leitidee – Form ins Chaos, und zwar durch seine spezifische Materialität, vor allem durch die Macht der ordnenden Linie, die selbst das schlechthin Strukturlose zu bändigen versucht.  





Rühmkorfs magisches Buchtheater: Geisterwesen, Flügelwesen, ‚Libellen‘. Zugleich wird das Buch, und auch dies macht es zum Inbegriff der ‚Kunst‘, zum Geistertheater. Bedingt durch die Bucharchitektur tritt in der Fleckenkunde neben die Alltagswelt eine phantasmagorische Welt, die sich auf dem Papier formt und entfaltet. Durch Gedichte, die explizit die Form des Flügelpaars thematisieren, wird, selbstreferenziell wie bei Kerner, auf die Analogie Doppelseite-Flügel hingewiesen („Ein Klecks ist zu gar nichts zu gebrauchen,/du mußt ihn zärtlich zusammenstauchen./Dann siehst du, wie das, was dich erschreckt,/auf einmal zwei Flügel zur Seite streckt.“ Rühmkorf 1982, S. 20f.). Auch das Gedicht selbst wirkt hier wie ein Paar Flügel, insofern es sich symmetrisch auf die Doppelseite verteilt. So schließt der (lyrikgeschichtlich bewanderte) Dichter hier an die Tradition des Flügelgedichts in der Visualpoesie an. Zugleich lässt sich die Flügelform als symbolischer Verweis auf den Inspirationstopos lesen. Ein Gedicht gilt der Verwandlung eines Flecks in eine Libelle; gerade dieses geflügelte Tier teilt sich Namen und Achsensymmetrie mit dem „Libellum“, dem ‚kleinen Buch‘, wie es die Fleckenkunde selbst ist (ebd., S. 52). MSE  



A 6.3 Falten und Schneiden: Papier-Poetik und Buchphantasien bei Hans Christian Andersen und ihre buchästhetische Rezeption Bücher, Buchstaben, Papier und deren Gestaltbarkeit stehen immer wieder im Zentrum von Andersens (1805–1875) Erzählungen (vgl. Heltoft 1980 sowie Müller-Wille 2017). Sein Œuvre bezeugt einen ausgeprägten Sinn für die materielle und visuelle Dimension des Literarischen, für die Körperlichkeit der Bücher, die physische Bedingtheit von Schreib- und Leseprozessen, die involvierten Geräte. Das Schneiden wird bei Andersen zum poetologischen Modell seiner dichterischen Arbeit.100 Eine metonymische Beziehung zwischen Schneide- und Erzählkunst stiftet der Erzählerbericht über einen alten Schneider im Roman Sein oder Nichtsein.101 In der Jugendge100 Müller-Wille fragt u. a., „ob und inwiefern Andersens Märchen […] durch ein schneidendes Schreiben geprägt sind“ (Müller-Wille 2017, S. 293). 101 Andersen, Hans Christian: At vaere eller ikke vaere. 1857 (dt.: Andersen, Hans Christian: Sein oder Nichtsein. Roman. Aus dem Dänischen von Erik Gloßmann. Frankfurt a. M. 2005).  





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schichte des als Waise heranwachsenden Helden tritt die Gestalt eines Flickschneiders auf, der über die Dörfer zieht und dabei mehr tut, als nur defekte Kleider zu flicken: er ist ein lebendes Kommunikationsmedium, ein Erzähler, eine wichtige Instanz bei der Aushandlung von Streitigkeiten. Papier ist lange Zeit aus Lumpen, also aus alten Geweben gemacht worden; schon darum stehen Textilien und Bücherproduktion in enger Beziehung. Zu den Materialien, aus denen bei Andersen Bücher gemacht sind, gehören aber auch die Buchstaben, An denen er lebhaften Anteil nimmt. In der Erzählung vom Flachs treten sie als (vergängliche) Figuren auf (Märchen 2, S. 158–163).102 Auch andere lebendige Figuren können den Büchern entsteigen. Der Titelheld des Märchens Der kleine Tuk legt sich sein Geografiebuch, das er nicht fertiglesen konnte, beim Schlafen unters Kopfkissen, und nachts entsteigen dem Buch allerlei Wesen, die den im Buch dargestellten Orten entstammen (Märchen 2, S. 113–118). Der märchenhafte Ole Luköie, der zu den schlafenden Kindern kommt und ihnen mit seinem bebilderten Regenschirm Träume eingeben kann, exerziert mit den schiefen Buchstaben im Schreibheft des kleinen Hjalmar (Märchen 1, S. 254–269). Das Märchen über Das Abc-Buch erzählt vom Leben der Buchstaben in einem Lese-Buch, vom Lebendigwerden der Abbildungen, von den Abenteuern des Fibelhahns (Märchen 2, S. 207–213). Die Erzählung Feder und Tintenfaß berichtet von der Unterhaltung zwischen Feder und Tintenfass (ebd., S. 272–275). Die Gestalt von Büchern spiegelt die Beziehung ihrer Besitzer zu diesen Büchern; Bücher haben oft eine Physiognomie – so die leitenden Ideen – in deren Zeichen Andersen Leben und Buch verknüpft. Von einem solchen Lebens-Buch erzählt Das stumme Buch (ebd., S. 171–173). Nicht nur die einzelne Lebensgeschichte, sondern auch das Leben von Gemeinschaften kann sich im Buch, seiner Struktur und Materialität bespiegeln. Bücher sind die Konkretisationen von Historischem. Das Bilderbuch des Paten (Märchen 3, S. 152–187) ist ein solches Buch. Erzählen und Ausschneiden verflechten sich hier aufs engste – und so stellt der Pate eine ganze historische Welt dar. Der Text selbst ist auf eine dem Bilderbuch entsprechende Weise strukturiert – zusammengeschnitten aus Episoden, die als Zitate aus dem Mund des erzählenden Paten wiedergegeben werden, welcher dabei auf Bilder hingedeutet hat. Der Erzähler besitzt mehrere solcher Bilderbücher des Paten; sein liebstes ist „das von dem ‚merkwürdigen Jahre, als Kopenhagen Gas anstatt der alten Tranlaternen bekam‘, und das stand auf dem ersten Blatt geschrieben.“ (Märchen 3, S. 152) Der Pate hat auf dem Einband die Zerlegbarkeit des Buches betont: „‚Zerreiß das Buch, es kommt nicht so genau drauf an,/Andere kleine Freunde haben Schlimmres getan.‘“ (Ebd.) Das vom Erzähler im Folgenden immer wieder praktizierte Zitieren, mittels dessen er seine eigene Erzählung komponiert, ist in übertragenem Sinn ein solches ‚Zerreißen‘; der Zusammenhang des Patenbuchs wird zerstört, ein neuer hergestellt. (Von der Geschichte Kopenhagens ist im Folgenden stets die Rede  























102 Die Hinweise auf die Märchen stützen sich auf folgende deutsche Ausgabe: Andersen, Hans Christian: Märchen. Bd. 1–3. Übers. von Eva-Maria Blühm. Frankfurt a. M. 1975.  



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mit Bezug auf das Buch, das sie darstellt, also als etwas im Buch Dargestelltes. Dabei wird auf die Materialität des Buchs immer wieder hingewiesen; sie korrespondiert dem jeweils erzählten Teil der Geschichte Kopenhagens. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Blättern.) Zwischen den einzelnen Szenen aus der Geschichte der Stadt, die mit dem Toben der Elemente beginnt und durch die Jahrhunderte verläuft, wird immer wieder umgeblättert, immer wieder auf eben neu aufgeblätterte Seiten verwiesen. Papier steht bei Andersen metonymisch für das Buch und für die Literatur. Zugleich bilden sich aus ihm lebendige Papierwesen. Papierenes ist eingebettet in einen Kreislauf des Werdens und Vergehens, der die gesamte körperliche Welt regiert. Alltagsdinge aus Papier beleben sich, so in der Erzählung vom Halskragen (Märchen 2, S. 155–157). Von der „Lebensgeschichte“ des Papiers selbst handelt die Erzählung Der Flachs (Märchen 2, S. 158–163).  



Poetische Schneide(r)-Künste. Illudierung, Illusionsbruch, Desillusionierung. Das Interesse Andersens am Materiellen der Bücher, der zerschneidbaren Materie, dem papiernen ‚Stoff‘ literarischer Werke steht in enger Beziehung zu den Modi seiner Selbstdarstellung und zu Formen literarisch-poetischer Autoreflexion. Seit der Kindheit bestehen für ihn metonymische Beziehungen zwischen dem Geschichten-Erzählen und dem Stoffe-Schneiden. Seine frühe Affinität zu Schere, Papier und zuschneidbaren Stoffen erklärt sich aus den Erinnerungen an den Vater und an die offenbar besonders glücklichen Momente väterlicher Zuwendung, in denen der Sohn von der Kreativität seines Vaters profitieren durfte und von denen Das Märchen meines Lebens erzählt (Märchen 1, S. 9–46). Der Vater habe ihm an Sonntagen „Perspektive, Theater, Bilder, die sich verwandeln konnten“ gemacht – und ihm nicht nur sonntags „aus Holbergs Komödien und Tausendundeiner Nacht“ vorgelesen, sondern auch manches Spielzeug hergestellt. Der Sohn legt selbst eine frühe Neigung zum Schneide(r)n an den Tag; und diese ist mit dem Schauen und Imaginieren eng verknüpft (ebd., S. 14).103 Zusammen mit dem übrigen erzählerischen Werk vermitteln Andersens Lebenserinnerungen eine Poetik des Schneidens und Zusammenfügens, die durch die Schneide- und Klebearbeiten sinnfällig gemacht wird. Grundiert wird diese Poetik durch den melancholischen Gedanken der Fragilität und Zeitlichkeit aller Dinge, des  





103 In Andersens Familie wird geschnitten, geschnitzt, zugeschnitten, genäht: mit Leder (der Vater ist Schuster), mit Holz (der Großvater schnitzt) (Märchen 1, S. 13). Andersens eigene kreative Tätigkeiten beginnen am Arbeitstisch seines Vaters, des Schusters. Früh bildet sich dabei eine Neigung zum Theater aus; Texte entstehen im Kontext der Schneide-Arbeit (ebd., S. 18, 19). Als Heranwachsender versucht Andersen in Kopenhagen, die Theaterlaufbahn einzuschlagen, dabei immer noch den alten Neigungen treu (ebd., S. 30). Für Andersen ist das Phantasieren und Produzieren von Anfang an mit der Erfahrung zerschneidbarer Materialien verbunden. Dass er darüber in seinen Erinnerungen so ausführlich berichtet, unterstreicht die Bedeutung des Umgangs mit Schere, Papier, Nadel, Stoff und Faden. Aus den Schneide- und Näharbeiten der frühen Jahre geht seine künstlerische Produktivität hervor: Dieses Bild vermittelt der autobiografische Bericht, und die bildnerischen Arbeiten Andersens bestätigen es.  





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ephemeren Charakters aller gestaltbaren Substanzen und der Scheinhaftigkeit des Vergänglichen.104 Textilbilder und Papierkünste. Poetik der Schnitte. Andersen hat ein umfangreiches bildkünstlerisches Werk hinterlassen, bestehend aus Arbeiten, die aus der Perspektive seiner Zeit keiner kanonischen Kunstgattung entsprachen und allenfalls als Vorstudien zu ‚richtigen‘ Werken gelten mochten – oder aber als unterhaltende, dekorative, manchmal erinnerungsträchtige Spielereien: Es umfasst Zeichnungen, Scherenschnitte, Collagen (vgl. Heltoft 1969). Manche Papierarbeiten nähern sich abstrakter Bildkunst. Die Herstellung von Schneidebildern und auf Schneideprozessen beruhenden Klebebildern kann als Fortsetzung der frühen Beschäftigung Andersens mit dem Puppentheater gelten, dessen Ausstattung ja ebenfalls maßgeblich ein Zuschneiden und Schneidern gewesen war. Einige wenige Stoffcollagen sind erhalten, die Andersens Geschick im Umgang mit Nadel und Faden belegen. Verloren sind seine Puppenspielfiguren. Die überlieferten Textil- und Papierarbeiten wie auch die Selbst- und Fremdzeugnisse zu Andersens Gestaltungspraktiken deuten auf einen ausgeprägten Sinn für materielle Aspekte. Wichtige Anlässe zu grafischen Arbeiten ergaben sich bei der Beschäftigung mit Kindern. Im Winter 1830 entstehen Bleistiftzeichnungen für den Sohn des Singmeisters am Königlichen Theater, den kleinen Otto Christian Zinck, in dessen Elternhaus Andersen von 1830 bis 1833 regelmäßig zu Gast war. Aus der Beschäftigung mit dem kleinen Otto entstanden 60 Seiten, die heute, auf zwei Hefte verteilt, im Hans-Christian-Andersen-Haus zu Odense verwahrt werden, nachdem sie 1907 versteigert worden waren. Bilderbücher entstehen für diverse Kinder aus dem Kreis befreundeter Familien – geklebte Arrangements aus Scherenschnitten, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten, Eintrittsbillets, Aufklebern, Glanzbildern, lustigen Darstellungen, Porträts, Gedichten – kurz: Sammelsurien, für welche die Phantastik mancher Bildmotive ebenso charakteristisch ist wie ihre an sich schon phantastisch anmutende bunte Mischung.105 Eigenes und Fremdes, Gesammeltes und Selbstgestaltetes, Alltägliches und Wundersames, Schreckliches und Komisches reihen sich aneinander; auffällig ist eine Affinität zu allegorischen Motiven und monströsen Erscheinungen. Auch Klecksografien hat Andersen angefertigt (Heltoft 1969, S. 100), manchmal nachbearbeitet. Ob Andersen Kerners Kleksographien kannte, ist  







104 In der autobiografisch gefärbten Geschichte Der Reisekamerad (zu Beginn verliert der Held, der „arme Johannes“, seinen Vater und zieht dann in die Welt hinaus) spielt die Begegnung mit einem Puppentheater eine zentrale Rolle (ebd., S. 93–115). Die Figuren des Theaters werden in ihrer Zusammensetzung aus verschiedenen Materialien beschrieben; mitten in der Aufführung zerstört ein Hund eine der Hauptfiguren: Die Königin verliert ihren Kopf (ebd., S. 100). Gerade die Zerstörung der Figur macht auf ihre Materialität aufmerksam. Ostentativ lässt Andersen immer wieder Figuren zerfallen. 105 Dreizehn dieser Bücher sind bekannt; noch 1968 wurde ein bis dato unbekanntes wiederentdeckt (Heltoft 1980, S. 104). Die „Agnete-Literatur“ (ab 1854) umfasst fünf Hefte mit Collagen aus verschiedenen Materialien.  





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ungewiss, aber das Klecksen war ja ein darüber hinaus bekanntes Gesellschaftsspiel. Die (zur Nachbearbeitung offenbar einladenden) Klecksografien bilden jedenfalls eine Art Scharnier zwischen dem zeichnerischen Arbeiten und den Schneidearbeiten; wie letztere sind sie ja durch Symmetrien geprägt. Manche der Scherenschnitte sind wie die Klecksografien einfach, manche auch doppelt achsensymmetrisch. Aus doppelt gefalteten Blättern entstanden hochkomplexe Scherenschnitte, deren Figurenreichtum an ein Puppentheater erinnert. Eine Passion fürs Schneiden und fürs Papier erscheint als Schlüssel zu Andersens zentralen Themen Körperlichkeit und Vergänglichkeit, Spaltbarkeit und Fragmentierung. Dies resultiert nicht nur aus der metonymischen Beziehung zwischen dem Schneiden und dem Erzählen, sondern auch aus anderen Konnotationen, die sich mit dem Schneiden verbinden. Visionen der körperlichen Vernichtung, der Verbrennung, des Schmelzens, der radikalen physischen Transformation, durchziehen Andersens Erzählungen (vgl. etwa Der Flachs; Der standhafte Zinnsoldat, Märchen 1, S. 179– 184; Der Schneemann; Märchen 3, S. 367–374). Mit Andersens Papierfiguren-Geschichten motivlich und thematisch eng verbunden sind Erzählungen über Prozesse der Verstümmelung (vgl. etwa Die roten Schuhe; Märchen 2, S. 71–78) und der Verwandlung durch Schnitte (vgl. etwa Die kleine Seejungfrau; Märchen 1, S. 130f.). Der Schnitt oder die Demontage, das Zerschneiden oder das Zerreißen, gehen der wundersamen Verwandlung in eine märchenhafte Wunschgestalt bedingend voraus: das ist bei der zum Tanzen befähigten Seejungfrau ebenso wie bei der Puppenkönigin im Reisekameraden (ebd., S. 93–114). Aber die so entstehenden Gestalten behalten (und sei es unsichtbar) stets die Spur der Schnitte und Risse an sich, denen sie ihr Dasein und ihre Beschaffenheit verdanken. Zwischen den Zeichen-, Schneide- und Klebearbeiten Andersens sowie seinen autobiografischen und literarischen Texten bestehen vielfältige Korrespondenzen. Heltoft weist darauf hin, dass Andersens zeichnerisches Werk in der Zeit vor seiner Märchenproduktion entsteht und bringt damit die These ins Spiel, erstere sei eine vorläufige Ausprägungsform seines Gestaltungsvermögens gewesen, die durch letztere dann abgelöst worden sei, weil Andersen hier sein Darstellungsbedürfnis überzeugender umgesetzt sah; das Bedürfnis nach Phantastischem finde sich in den späteren Scherenschnitten dann allerdings nochmals manifestiert (Heltoft 1980, S. 25). Offenbar entstanden manche der bildnerischen Arbeiten in engem Zusammenhang mit Erzählprozessen: Andersen fertigte Scherenschnitte an, während er erzählte (ebd., S. 101).  













Ein zusammengeschnittenes Dichter-Ich auf seinem unheimlichen Papiertheater. Die Scherenschnitte als fixierte Schatten erinnern an die inhaltlich bei Andersen so bedeutsame Identitätsthematik. Analog dazu lassen auch die Klecksografien eine geister- und schattenhafte Dimension der Wirklichkeit assoziieren. Die Collagen korrespondieren als Genre dem Thema Schneiden, Zersplitterung, Zersetzung, und auch das Schneiden als Bildgestaltungstechnik besitzt eine enge Affinität zu Dopplungen und zur Erzeugung von Figurenreihen bzw. Kettenfiguren. Die in Andersens Texten

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mehrfach begegnenden Rückgriffe und Anspielungen auf das Motiv des ‚abgeschnittenen Schattens‘ lassen es insgesamt plausibel erscheinen, dass er einen Sinn für die Semantik der Bilderzeugungstechniken und Bildtypen besaß; der Schatten als das ‚Abschneidbare‘, sich verselbständigende Alter Ego signalisiert die Fragilität des Ichs. Andersens Papiergestaltungstechniken stehen aber auch hinsichtlich seiner thematischen Vorlieben seinen erzählerischen Arbeiten nahe – durch bevorzugte Bildmotive wie durch deren metaphorische Implikationen: Das Unerwartete, Groteske, Seltsame wird sichtbar – und zugleich auf eine moderate Weise domestiziert: Es erweist sich als faltbar, montierbar, so wie sich die Märchenstoffe in häuslichen Kontexten zur Entfaltung bringen lassen – als das Unheimliche, das auf ambige Weise zum Heim gehört. Wie die Erzählungen, so dienen auch diverse bildnerische Arbeiten einer verfremdenden Selbstdarstellung, dem Entwurf merkwürdiger Spiegelfiguren und Doubles (Heltoft 1980, S. 118f.). Insgesamt fügen sich die Bildmotive zu einem prototypischen phantastischen Kosmos – eben jenem, wie ihn auch die literarischen Texte darstellen. Die Wiederholung der Bildmotive erfolgt analog zur Wiederholung von Figurentypen. Und solche Doppelgängerei ist nicht zuletzt motiviert dadurch, dass alle Figuren als Abspaltungen des Dichter-Ichs deutbar sind. Selbstverdopplungen, Selbstbespiegelungen und Selbstzitate werden in den Papierarbeiten sinnfällig. Tänzerinnen, Elfen, geflügelte Wesen, Ungeheuer, Teufelsfiguren etc. – bevölkern die Schnittarbeiten Andersens ebenso wie die Texte; Zwischen- und Hybridwesen spielen hier wie dort wichtige Rollen. Andersen wiederholt sich als Scherenschneider ebenso, wie sich Figurentypen in seinen Erzählungen wiederholen – und Scherenschnitte und Erzählungen bespiegeln einander wechselseitig. Schon darum sind die Scherenschnitte als Gleichnisse des poetischen Werks deutbar.106  













Eine Metonymie literarischer Arbeit: das Schneiden. Andersens doppeltes Œuvre illustriert beispielhaft die Konvergenzen zwischen literarischen und papiergestalterischen Interessen. Zu beobachten sind auf gleich mehreren Ebenen signifikante Spiegelungsverhältnisse: Zum einen werden Papier und Schere zu Sujets der Erzählungen; zum anderen begegnen dem Betrachter Figuren der Erzählungen als Themen der Schnitt- und Klebebilder. Zum einen präsentieren sich diverse Erzählungen als allego-

106 Insgesamt sind die ausgeschnittenen Figuren als Analoga der Figuren in den Erzählungen zu betrachten. Ihren Repertoirecharakter bestätigt schon der Umstand, dass sie sich in verschiedenen Arbeiten wiederholen. Dass für einen Wandschirm, die Bilderbücher und andere Arbeiten Ausschnitte aus fremden Bildern verwendet werden, entspricht dabei nicht zuletzt einem intertextuellen Leih-Verfahren, das Andersen als Erzähler praktiziert, etwa wenn er Anleihen bei Hoffmann, Jean Paul, Chamisso und anderen macht – und das er in der Sylvesternacht-Geschichte auch explizit thematisiert. In den Schnittarbeiten schafft Andersen ein Bild seines poetischen Kosmos. In den Geschichten ist dafür oft genug vom Schneiden die Rede. Und so sind seine Bilder durch einen ästhetisch-autoreflexiven Zug charakterisiert, der sich schon in der Vorliebe für spiegelsymmetrische Figuren als solcher andeutet. Ein Meta-Bild ist die Collage mit Medusenhaupt und Italienpostkarte (ebd., S. 131).  



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rische Darstellungen von ‚Geschichte‘ im verkleinerten Maßstab; zum anderen übernehmen Schnitt- und Klebebilder analoge Funktionen. Zum einen erscheinen Figuren der Erzählungen als Doubles bzw. als Abspaltungen (insbesondere des Autor-Ichs); zum anderen sind bildnerisch gestaltete Figuren solche Doubles und Alter Egos. Verbindend ist der ästhetisch-reflexive Grundzug erzählerischer und bildkünstlerischer Werke. Geschichte erscheint als Bilder-Bogen: Sie ist konnotiert mit Heterogenität, Unübersichtlichkeit, Vergänglichkeit.107 Andersens Faszination durch Doppelwesen entsprechen die Scherenschnitte als Produktion gedoppelter Bildmotive; ihnen korrespondieren literarische Doppelgänger und Schattenwesen. Der Tod wird als (Ein-) Schnitt vorgestellt; die Erzählungen von zugeschnittener, zerschnittener und zerstörter Materie sind Erzählungen über die Todverfallenheit der Dinge. Als Papiergestaltungskünstler schafft Andersen Papierwesen, die seinen literarischen Figuren gleichen: in ihrer Fragilität und Zerstörbarkeit einerseits, ihrer Unheimlichkeit und Bedrohlichkeit andererseits. Das Leben selbst ist jederzeit von ‚Schnitten‘ bedroht. Andersens literarische Experimente (etwa die Sylvesternacht-Erzählung) und seine Schneide- und Klebebilder erscheinen als Sinnbilder dafür. Schneiden ist aber auch Inbegriff der künstlerischen Gestaltung. Schreib- und Schneidekunst machen die Schattenhaftigkeit und Fragilität des Lebens, die Labilität von Identitäten sinnfällig – letztere durch zarte Klebe-Arrangements, die ihren collagierten Charakter sichtbar machen. Andersens Papiergestaltungskunst erscheint teilweise als ein Erzählen mit nonverbalen Mitteln. Beide Formen der Figurendarstellung dienen der Evokation einer dunklen, phantastischen Seite der Welt sowie des Monströsen im Menschen, aber auch einem spielerischen Ästhetisierungs- und Domestizierungsversuch – der dabei seine eigene Abgründigkeit zu bespiegeln scheint. Vor allem der Tanz fragiler Papierfiguren erscheint als Chiffre einer literarischen und bildnerischen Kunst, bei der Leichtigkeit und Fragilität zwei Seiten einer und derselben Sache sind. Eine Papierskulptur Andersens – ein filigran ausgeschnittener Schaukelstuhl – steht metonymisch für den Erzählprozess und metaphorisch für die Erzählkunst (ebd., S. 4).  









Ein Pop-up-Zinnsoldat von Vojtěch Kubašta. Der Zinnsoldat und seine Brüder werden in Der standhafte Zinnsoldat (Märchen 1, S. 179–184) vor einer Papierkulisse eingeführt, und die große Liebe des Zinnsoldaten ist eine Papierfrau, eine ausgeschnittene Tänzerin. Mit der Beschreibung der Tänzerin aus Papier zu Beginn der Erzählung wird die Zerstörung der Figur bereits angedeutet – was so fragil ist, kann keinen Bestand haben. Der aus dem Fenster geworfene Zinnsoldat wird von zwei Straßenjungen auf ein Papierschiff gesetzt, das ihn durch das strudelnde Wasser des Rinnsteins trägt; als das Papier entzweigeht, stürzt der Zinnsoldat ins Wasser und wird von einem Fisch  



107 Andersens Erzählungen stellen sich – hierzu analog – teilweise dar als Protokolle sprunghafter Ereignisse (etwa in der Sylvesternacht-Geschichte); Brüche und Sprünge erscheinen als Kompositionsprinzip.  



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verschlungen. Er taucht zwar noch einmal auf, wird dann jedoch ins Feuer geworfen. Die Tänzerin wird ins Feuer geweht. Papier ist hier konnotiert mit Leichtigkeit (der Leichtigkeit des Tanzes), Flüchtigkeit (die Tänzerin fliegt infolge eines Luftzugs ins Feuer), Vergänglichkeit. Vojtěch Kubašta hat die Geschichte vom Zinnsoldaten in einem für sein Werk typischen Stil inszeniert: Als Pop-up hinsichtlich seiner Bildsprache und Mechanik konventionell und für Kinder konstruiert, betont sein Arrangement doch besonders, dass in Andersens Welt Wichtiges aus Papier besteht, indem es im Medium Papier Papierobjekte darstellt (Kubašta 1981). Die für Kubašta typische Platzierung eines aufgeschlagenen Buchs im Vordergrund der Pop-up-Konstruktion weist zudem gleichsam szenisch darauf hin, dass die Geschichte und ihre Figuren aus einem ‚Buch‘ stammen und sich, scheinbar dreidimensional, de facto aber aus gefalteten Flächen bestehend, aus diesem Buch erheben. Ein Künstlerbuch zu Andersen. Peter Malutzki: Die Stopfnadel. Hans Christian Andersens Geschichte von der Stopfnadel (Teil einer Märchensammlung, 1862; Märchen 2, S. 51–55) handelt vom Schicksal einer Nadel, die beim Gebrauch zerbricht, sich an der Schürze eines Mädchens vorübergehend zur Schmucknadel befördert wähnt, dann aber in den Rinnstein fällt und dort allerlei Bekanntschaften mit anderen Objekten macht. Einer Flaschenscherbe erzählt sie ihr Leben. Die anthropomorph dargestellten Objekte sind durch ihre Neigung charakterisiert, sich selbst wichtig zu nehmen und als Zentrum der Welt zu betrachten (Andersen suggeriert: wie echte Menschen). Damit kontrastiert ironisch ihre Fragilität und Vergänglichkeit. Peter Malutzkis Künstlerbuch zur Stopfnadel (1985; vgl. dazu Malutzki 2017, S. 18f., Abb. und Beschreibung), das den kompletten Text in deutscher Übersetzung enthält, nutzt zur Darstellung der Geschichte des Arbeitsgeräts Stopfnadel eigene diverse Arbeitsgeräte und -materialien („Satzmaterial, Zink-Klischees, Messinglinien, Draht, Linolschnitte“; vgl. ebd., S. 18) sowie diverse „Fundstücke“ (ebd.); so wird eine Welt der Arbeit, aber auch der dabei anfallenden Relikte und Abfälle gezeigt, wie sie auch Andersens Geschichte prägt. Zu den verwendeten Textmaterialien gehört u. a. ein Stück Zeitung aus Andersens Lebenszeit, ein Papierobjekt, das durch sein Alter, aber auch mit Blick auf seine Provenienz Zeit und Zeitlichkeit assoziieren lässt. Die Nadel als Protagonistin findet sich auf den Buchseiten in verschiedenen Positionen abgebildet, einmal (ebd., S. 14) gleich mehrfach zur simultanen Darstellung ihres Sturzes. In den Einband ist eine echte Stopfnadel eingesteckt. Diese Grenzüberschreitung zwischen konventionellem Buch-Material und echtem Objekt scheint zu suggerieren, dass in Büchern Dargestelltes real werden kann, ähnlich wie (bei Andersen) Dinge zu leben beginnen. Schon Andersens Geschichte hat einen ästhetisch-autoreflexiven Zug, insofern mit dem Motiv der Stopfnadel die Sphäre der Textilien ins Spiel kommt, die oft als Metaphernspender zur Beschreibung literarischer Arbeiten (‚Texte‘) dient – hier unter Akzentuierung der Wiederverwertung durch Flickarbeiten, wie sie analog beim Montieren von Textmaterialien erfolgt. Malutzkis Verfahren und seine Bildersprache greifen den Einfall auf: Die Bildmotive erscheinen isoliert, teils wie auf die Seiten aufmontiert.  











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Körperteile tauchen als einzelne auf (so der Kopf eines Mädchens, das vielleicht das menschliche Gegenstück zur Stopfnadel ist, oder eine separate, die Stopfnadel haltende Hand, vgl. ebd., S. 5, 7); isoliert zeigen sich auch Einzelbuchstaben und reproduzierte Materialien (wie etwa ein Zeitungsausriss; ebd., S. 19). Und so spielt sich erstens die erzählte Geschichte, visuell sinnfällig gemacht, beim Durchblättern des Buchs stückweise ab. Zweitens deuten Materialien und Bearbeitungstechniken auf den sinnbildlichen Horizont hin, auf den schon Andersens Text Bezug nimmt – und schließt insofern an Andersens Allegorik an: Gezeigt werden Bilder der Arbeit, der Nutzung und Abnutzung, der Vergänglichkeit und der Eitelkeit (und dies im doppelten Sinn von Selbstgefälligkeit und Fragilität). MSE  





Abb. A 13: Peter Malutzki: Die Stopfnadel. Flörsheim 1985.  

A 6.4 Klebekunst als Buchgestaltung: Von Justinus Kerners Album zu den Collagewerken Max Ernsts, Ror Wolfs und R. D. Brinkmanns  

Zu Justinus Kerners Hinterlassenschaften gehört ein Bilderalbum, das wohl über einen längeren Zeitraum hinweg in Kooperation mit dem Sohn Theobald entstand, schon weil der während der rekonstruierbaren Entstehungszeit zunehmend schlechter sehende Kerner manche Arbeitsschritte gar nicht selbst ausgeführt haben kann (vgl. Fix 2010, S. 19).  

Zur Poetik von Kerners Klebealbum. Das Album – mittlerweile in einzelne Kartons aufgelöst und nicht vollständig erhalten – bestand aus Seiten, auf welche Bilder und  



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Bildfragmente unterschiedlicher Provenienz ausgeschnitten und geklebt wurden. Hatte Kerner seine Reiseschatten metaphorisch als Kollektion von Fragmenten bezeichnet, so liefert er mit dem Album in ganz konkretem Sinn eine Sammlung ausgeschnittener und zerschnittener Bilder. Auf medial spezifische Weise setzt das Album – das inhaltlich in enger Beziehung zum Freundeskreis in Weinsberg steht – das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit fort:108 Das Leben stellt sich im Spiegel einer Bildersammlung dar, die aber zu weiten Teilen aus übernommenen, ererbten, von anderen andernorts angefertigten Bildern besteht, von historischen Personen, von Gegenständen aus Natur, Geschichte und Kunst. Sich zu erinnern bedeutet immer auch, die vielfältigen Bildreservoirs einer kulturellen Gemeinschaft zu konstellieren. Auch die ‚Bilder‘ des persönlich-privaten Gedächtnisses sind heterogen; das Archiv persönlicher Erinnerungen bietet eine bunte Mischung: Bilder von Freunden und Bekannten, von Wunsch- und Angstvorstellungen – sowie Selbst-Bilder. Zeichnungen und Klecksografien stehen neben Druckgrafiken und Fotos. Wozu das Album diente, ist unklar und entzog sich vielleicht für die beiden Hersteller, Vater und Sohn Kerner, schon der Klärung. Zum einen praktizieren Vater und Sohn Kerner eine für ihre Epoche eigentümliche Praxis des Bildersammelns. Zum anderen deutet die Unordnung der Bildersammlung, das zu Assoziationen einladende Durcheinander, auf den Kunst-Charakter des Projekts hin (und antizipiert moderne Kunstprojekte). Elf Seiten des Albums sind allein mit Klecksografien gefüllt; auf anderen Seiten tauchen sie gemeinsam mit anderen Bildmaterialien auf. Teilweise collagiert Kerner Porträtstiche mit Klecksografien und setzt Bekannten klecksografische Monsterköpfe auf. Als Klecksbild porträtiert ist Friederike Hauffe; über ihr sieht man das ebenfalls klecksografische Bild Mesmers. Die Klecksbilder repräsentieren zum einen die jahrzehntelange Beschäftigung Kerners mit dieser Form der Bilderproduktion, zum anderen stehen sie aber auch für die ‚Geister‘, die die persönliche Erinnerung bevölkern. Das Album stellt insofern wirklich ‚Geister‘ dar – in jedem Fall im übertragenen Sinn. Im Raum dieses Bilderalbums gehen buchstäbliche und metaphorische Bedeutungen ineinander über. Mehrdeutig sind nicht nur die Bilder, sondern auch das Bildmontageverfahren als solches: Sollen Zusammenhänge aufgedeckt werden – wie etwa im Sinn der Einsicht, dass gute alte Bekannte Monster sind? Sollen sie konstruiert werden? Das Album ist die Weiterentwicklung des Klecksbildes. Es entsteht wie dieses aus einem Zusammenwirken von Kontingenz und Intentionalität. Fundstücke werden durchs Arrangieren ‚nachbearbeitet‘. Zufälle und gestalterischer Wille greifen ineinander – und ihr Zusammenwirken kann u. a. als Anspielung auf die Kontroverse um den Erfahrungsprozess als rezeptiven oder produktiven Vorgang gedeutet werden. Maßgeblich für die Klecksografien ist ein visuelles Deutungssubstrat, das zur Interpretation, zur ‚Be 













108 Das Album geklebt, vielleicht sogar initiiert hat nach Fix’ Vermutung Theobald Kerner, der Sohn, der 1842 nach dem Studium ins Elternhaus zurückkehrte. Ein mutmaßliches Selbstporträt des ca. 16jährigen Theobald wurde von Vater und Sohn gemeinsam nachbearbeitet. Vgl. Fix 2010, S. 19.  

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schriftung‘ einlädt, ohne dass diese das Bedeutungspotenzial des Bildes stillzustellen vermöchte. Kerners Klebekunst markiert insgesamt eine Schwelle zwischen bürgerlichem Unterhaltungsspiel und moderner Kunst der Collage; sie ist dabei eng an den Buchraum gebunden. Collagepraktiken, Buchkunst und Buch-Literatur im 20. Jahrhundert. Ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Collage bildet das Œuvre von Max Ernst, dem es erklärtermaßen darum geht, Kontrastierendes miteinander zu verbinden (Wescher 1987 [1974], S. 189–193). Ernst schlägt mit seinen Klebearbeiten insbesondere vielfältige Brücken zwischen der Sphäre des Menschen und der Tiere, der Pflanzen, der Maschinen und anderer anorganischer Objekte. Zugleich spielt er durch seine Bildmaterialien auf diverse Wissenschaften und Wissensdiskurse an, die sich der Kartierung und Beschreibung bestimmter Bereiche der gegenständlichen Welt widmen – und unterläuft auch auf dieser Ebene geläufige Grenzziehungen. So entstehen hybride Bilder von hybriden Objekten (ebd., S. 192). Bildliche Darstellungen von Menschen – vor allem Stiche und Fotografien – werden zur Materialbasis für die Kreation monströser Erscheinungen. Zu den Besonderheiten der Collagekunst Max Ernst gehört sein spezifischer Betitelungsstil. Denn die Titel der Bilder, oft lang, oft handschriftlich auf die Ränder der Bilder gesetzt, erklären nicht, was man sieht, sondern irritieren zusätzlich; sie „verstärken mit den sprachlichen Mitteln von Sinnverkehrung und Würfelung der Worte die Effekte der Verblüffung“ (ebd., S. 193). Solche Betitelungskunst ist ein literarisches Schreibverfahren. Dass Ernst nicht nur einzelne Collagen, sondern ganze Collageromane schafft, rückt ihn noch weiter in die Nähe der Literatur und begründet seine damit zusammenhängende Affinität zum Buch: Romane brauchen (Buch-) Raum. Wegweisende Buchwerke sind Ernsts surrealistische Collageromane La femme 100 têtes (1929), Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel (1930) und Une semaine de bonté (1934; vgl. Spies 1975, S. 171–204; Butor 1974, Wix 1990). Die Titel verheißen Geschichten, die der Betrachter der Bücher in der Bildsequenz suchen wird, wobei der Titel La femme 100 têtes zudem wortspielerisch auf die Homophonie von „sans“ (ohne) und „cent“ (hundert) setzt. Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel verspricht eine Traumerzählung, und Une semaine de bonté den Bericht über einen bestimmten Zeitabschnitt. Ernst verwendet hier wie auch in anderen Collagearbeiten vor allem Bildmaterial aus dem 19. Jahrhundert: Stahlstiche aus Journalen und Büchern, Darstellungen von Personen und Tieren, Landschaften und Interieurs, von unterschiedlichen Wesen und Erscheinungen, deren Teile in den Collagen oft zu merkwürdigen Hybridwesen gefügt erscheinen. Auf irritierende Weise gibt das Buch den Wesen und Erscheinungen, die die Collageromane bevölkern, eine äußere Form, hält die in sich bereits heterogenen Szenerien zusammen, suggeriert durch seine Architektur einen Verlauf – der dabei allerdings eher der Logik von Träumen zu folgen scheint als der einer rational nachvollziehbaren Erfahrung oder einer sinnhaft-teleologischen Märchenerzählung.  



















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Raoul Tranchirer – ein Name als Programm. Ror Wolf hat unter dem Obertitel Enzyklopädie für unerschrockene Leser eine Serie lexikografischer Kompendien verfasst, deren einzelne Bände jeweils aus alphabetisch geordneten Einzelartikeln bestehen, sich dabei aber nicht ergänzen, sondern immer wieder bei A anfangen.109 Parodistisch imitieren diese das Genre des Konversationslexikons und das des Handbuchs zum praktischen Gebrauch. Wolf hat die Tranchirer-Bücher auf der Basis umfangreicher älterer Publikationen aus dem Bereich der populären Sach- und Ratgeberliteratur verfasst, hat vieles zusammen-‚geschnitten‘, was sich so oder ähnlich in Lexika, Zeitschriften, Haus- und Ratgeberbüchern fand, in Büchern über Medizin und Hygiene, über Kochen und Tischsitten, über gutes Benehmen und angemessenes Gesprächsverhalten. Der Lexikograf wendet sich insofern – ähnlich geläufigen Konversationslexika – verschiedenen Wissensbereichen zu, der Biologie, Artenkunde, Geografie, Psychologie, Medizin, Körperpflege, Technik; er gibt vielfältige Erläuterungen zu Tätigkeiten, Gegenständen und Praktiken. Damit verbinden sich (so scheint es zumindest) Anleitungen zu angemessenem oder zweckmäßigem Verhalten. All diese Auskünfte und Anleitungen klingen befremdlich. Seltsames, ja Dinge an der Grenze des Vorstellbaren werden präsentiert. Wolf alias Tranchirer hat seinen Ratgeberbüchern eine Vielzahl von Bildern beigegeben, wiederum in Anlehnung an die Präsentationsweise populärwissenschaftlichen Wissens in Handbüchern des 19. Jahrhunderts. Entsprechend klingen seine Empfehlungen der Bilder: „[…] Die zahlreichen dem Text beigegebenen Abbildungen dienen nicht nur zur Befriedigung der gewiss vorhandenen Augenlust, sondern sollen vor allem den Sinn für das Selbstverständliche wecken, von dem wir umgeben sind.“ (Ror Wolf 1983, S. 6) Die Bilder sind Collagearbeiten Ror Wolfs und wurden im Buch teilweise neben bzw. zwischen Artikeln platziert, teilweise aber auch als separate Einzelseiten oder Faltblätter in die Bände integriert. Das Bildmaterial stammt (wie bei Ernst) aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, und es erinnert an die bürgerliche Lebens- und Wissenskultur: Stahlstiche aus populären oder fachspezifischen Wissenskompendien (Hygienehandbüchern, medizinischen Fachbüchern, Atlanten, Reisebeschreibungen, Tierkundebüchern, Benimmbüchern etc.) sowie aus Zeitschriften; ferner Illustrationen zu unterhaltender Literatur (Kriminalerzählungen, Liebes- und Familiengeschichten).  











109 Die Serie wurde mit einem Band eröffnet, der Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt heißt (Gießen 1983), 1990 folgte Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle (Gießen), 1994 Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens (Gießen), 1997 Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose (Frankfurt a. M.), 1999 eine neue Version des Ratschlägers (Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, Frankfurt a. M.), 2005 dann Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille (Frankfurt a. M.). Eine Selektion von Artikel der früheren Bücher bietet Raoul Tranchirers Taschenkosmos (Berlin 2005).  





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Spiele mit der Ordnung des Buchs. Vordergründig scheinen die Bilder illustrative Funktion zu haben. Doch gerade diese Idee wird subvertiert: Bilder und Texte unterstützen einander nicht. Übrigens handeln viele Artikel ohnehin von Dingen, die sich nicht visualisieren lassen. In vielen Fällen umkreisen sie ihre Gegenstände sogar in einer Weise, die auf deren schließlich erfolgende Auflösung hinausläuft. Gelegentlich finden sich Verweise auf Illustrationen, ohne dass ein Bild an der angegebenen Stelle zu sehen wäre – allenfalls eines, das zum Inhalt des Artikels überhaupt nicht passt. Auch sind die Artikelsequenzen von Paratexten umrahmt, die das Genre der Lesehilfe oder Leseanweisung parodieren. Schon im ersten Band wird ein irritierendes Spiel mit Vorreden zu angeblich aufeinanderfolgenden Auflagen getrieben. Neben Ankündigungen zu Inhalten und Themen des jeweiligen Bandes, wie sie sich in jeweils abgewandelter Form in allen Ratgeberbänden finden, enthalten die paratextuellen Partien der Bücher auch explizite oder implizite Angaben zum Gebrauch, den der Leser von ihnen machen und zum Nutzen, den er aus ihnen ziehen soll. Charakteristisch für diese Paratexte ist stets ein (selbst-)parodistischer Grundzug, verbunden mit Hinweisen auf fiktive Kollegen und Kontrahenten und eklatantem Selbstlob. Die Welt- und Wirklichkeitslehre macht einleitend mehrere „Vorschläge zum Gebrauch dieses Buches“, die mit aufwendigen Absichtserklärungen des Enzyklopädisten verbunden sind. Sie sind nicht nur denkbar praxisfern, sondern teilweise auch kaum verständlich. Die alphabetische Anordnung von Wissensinhalten dient in konventionellen Lexika und Enzyklopädien angesichts einer sonst unüberschaubaren Fülle von Wissensinhalten und Informationen der Orientierung. Dies setzt allerdings einige Spielregeln voraus, an die sich Tranchirer gerade nicht hält, so etwa die, dass Verweise nicht ins Leere führen und dass Abbildungen auf die Artikel beziehbar sein müssen. Tranchirer jedoch zerschneidet auf Text- wie auf Bildebene die Materialien, die er findet, in Stücke und montiert sie zu neuen, seltsamen, vieldeutigen bis abstrusen Konstellationen. Und so gestaltet sich die alphabetische Artikelsequenz nicht als Hilfe bei der Erschließung von Weltwissen, sondern ihr Reiz beruht offenbar auf der relativen Selbständigkeit des Textformats Lexikonartikel. Dass gelegentlich etwas ‚fehlt‘, etwas ‚weggeschnitten‘ wurde, suggerieren Hinweise auf Artikel, die es gar nicht gibt. Auch wenn Bilder erkennbar und gleichsam ostentativ fehlen, so verhält es sich analog: Hier scheint jemand mit der (symbolischen) Schere eingegriffen zu haben. Der Name „Tranchirer“ ist Programm: Dieser Pseudo-Lexikograf präsentiert sich als Meister des Zerlegens und Bastelns mit isolierten Abschnitten ehemaliger Kompositionen und Zusammenhänge. Das Buch, konkret: der Buchtypus des alphabetischen Lexikons, dient als Raum zur Demonstration seiner Schneidekünste. Mit diesen porträtiert er nicht zuletzt sich selbst. Die Vorworte umreißen seine eigene (fiktive) Lebens- und Schaffensgeschichte in Bruchstücken. Punktuell spricht der Lexikograf explizit darüber, dass er es mit einer Welt aus Bruchstücken zu tun hat, dass sich allenthalben Lücken und Leerstellen auftun. Der letzte Artikel der Mitteilungen gilt den „Zwischenräumen“ (Ror Wolf 1997, S. 127f.).  



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Schnitte und Sektionskünste bei Rolf Dieter Brinkmann. Rolf Dieter Brinkmanns Haltung gegenüber der zeitgenössischen Welt, die er registriert und in seinen literarischen Arbeiten thematisiert, ist schon im übertragenen Sinn geprägt durch den Gestus der Zerlegung, der kritischen Analyse, ja des Sezierens: Er vollzieht diagnostische Schnitte, um aufzudecken, wie seine Gegenstände beschaffen sind, nimmt auseinander, was ohnehin nur auf eine scheinhafte und trügerische Weise zusammenhängend und intakt erscheint. Eine Welt des Gerümpels, der Abfälle, der Objekte nachlässiger Abnutzung steht dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie verweist bei Brinkmann metonymisch auf den Weltzustand in seiner Verkommenheit, bietet aber auch einen aussagekräftigen Abdruck, eine Sammlung instruktiver Spuren derjenigen, die diese Welt bewohnen. Zwischen der Zerstückelung, dem Verwahrlosten und Kaputten der Dingwelt und den depravierten Gemüts- und Bewusstseinszuständen der Zeitgenossen bestehen Spiegelungsbezüge. Brinkmanns Werk Rom, Blicke (1986 [1979]; vgl. Teil E 1.19) ist ein autobiografisches Buch. Es entstand 1972/1973 in Form von 448 Din-A-4Seiten, die nur teilweise paginiert und in Hefte geordnet wurden. Die Texte sind in Form von Briefen und tagebuchartigen Notizen verfasst, die Briefe zum überwiegenden Teil an seine Frau Maleen in Köln gerichtet. Die Buchveröffentlichung von 1986 enthält einen gesetzten Text, der das Originaltyposkript Brinkmanns strukturell weitgehend wiederzugeben versucht. Brinkmann hatte seine Textseiten in drei Hefte eingeordnet. Die Original-Hefte enthalten die maschinenschriftlichen Durchschläge von Briefen, ferner Tagebucheinträge sowie Postkarten und fotokopierte Postkarten, selbstgemachte Fotos, fremde Fotos, kopierte Stadtpläne, handschriftliche topografische Skizzen, ferner einzelne andere bedruckte Materialien, Quittungen, Fundstücke, Auszüge aus gelesenen Texten. Die gedruckte Ausgabe bemüht sich um möglichst große Nähe zu den Originalheften; nur Tippfehler und andere Flüchtigkeiten wurden korrigiert, juristisch anfechtbare Einzelpassagen in geringem Umfang eliminiert. Diese Präsentationsform der Texte korrespondiert der ‚Momentaufnahmen‘-Ästhetik der Fotos. Besonders häufig dargestellt wird die Stadtlandschaft Roms; hinzu kommen Reiseimpressionen von der Fahrt von Köln nach Rom, einer Reise zwischen Rom und Salzburg sowie einem Aufenthalt in einem Landhaus im ländlichen Ort Olevano. Rom erscheint vor allem als Ruinen- und Abfallhaufen. Brinkmann sammelt, notiert, dokumentiert Einzelnes in seiner Vereinzelung. Explizit reflektiert er über die Zerrissenheit aller Dinge, die vorzugsweise in Zuständen des Übergangs, der Verfalls, der Verrottung registriert werden. („Ich wünsche mir oft so sehr einen Ort, an dem wir zusammenleben können, ohne diese andauernden Einmischung einer häßlicher werdenden auch psychisch häßlicher und verrotteter werdenden Umwelt.“ Brinkmann 1986, S. 26) Brinkmanns Landschaftsvisionen haben vielfach einen apokalyptischen Zug; sie wirken wie Vorwegnahmen eines Endzeitszenarios, in dem sich die immer unwirtlicher werdende Welt allmählich, aber stetig der Menschen entledigt.  

Erkundungen, Schnitte: Abfall-, Toten- und Traumbücher. Dargestellt werden kann der Zustand der Welt nicht in einem gerundeten Werk; eine Montage wird ihm am

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ehesten gerecht. Das diaristische Buch Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise/Zeit/Magazin (Tagebuch) (Brinkmann 1987) ähnelt Rom, Blicke in Material und Konzeption. Der Band enthält Brinkmannsche Aufzeichnungen, weitgehend maschinenschriftlich, aus dem Jahr 1971, kombiniert mit vielfältigen und disparaten Text- und Bildfundstücken aus der Alltagswelt. Bilder von Gewalt und Tod, von Unfällen, Terror, Verbrechen, von Zerstörung und Pornografie, von Abfällen, Ruinen und Zerrüttungen prägen das Buch, ergänzt um Fotos aus Brinkmanns Privatleben. Die eigenen Textpassagen, auf einer gebrechlichen Maschine getippt und vielfach korrigiert, kontrastieren mit Zeitungsausschnitten und anderen Druckerzeugnissen, die meistenteils die Zerrüttung der Welt dokumentieren. Der Band steht unter zwei Motti. Das erste, von Brinkmann formuliert, spricht von seiner Reise „durch Bilder & Sätze“ und dem dabei erlebten Schrecken (ebd., S. 6). Das zweite stammt aus Karl Philipp Moritz’ autobiografisch geprägtem Roman Anton Reiser. Zitiert wird die Beschreibung von Antons Umgang mit den Figuren eines selbstgebastelten Papiertheaters, die dabei ostentativ aus ihrem Kontext gerissen (oder geschnitten) erscheint und mit dem Verb ‚schnitzen‘ (für ‚schneiden‘) beginnt; Antons Spiel ist Inszenierung von Literatur („Telemach“) mit der Schere und endet in einschneidenden Akten der Zerstörung (ebd.). Wird der Umgang Antons mit dem Papiertheater bei Moritz zum Inbegriff all seiner Spiele, die stets auf „Verderben und Zerstörung“ hinauslaufen (ebd.), so konstruiert Brinkmann hier nicht allein ein Spiegelbild seiner eigenen analytisch-zerschneidenden, fragmentierenden Umgangsweise mit den gesammelten Fundstücken von Welt; er macht die Moritzsche Passage – und damit das Papiertheater – auch zum Modell seiner Buchästhetik: Das Buch ist ein Arrangement von Ephemerem und Zerschnittenem. In Schnitte (Reinbek b. Hamburg 1988) wird das Prinzip der Montage von Fund- und Rest-Stücken dementsprechend titelgebend. Wiederum bestimmen ‚Abfall‘-Bilder, vor allem pornografische, das Bildprogramm, wiederum ergänzt bzw. durchschossen von Textmaterial eigener und fremder Provenienz – wobei die Textanteile oft kurz ausfallen; zerschnitten in Zeilen wirken auch sie dann in besonderem Maße fragmentarisch. Das Cover des Bandes, selbst schon eine erste Collage, versammelt programmatische Stichworte wie „Totenbuch“, „(verrecktes traumbuch)“, „Time“, „Magic and reality“, „Galleria dell’immagine“, „Die letzte Seite“, „Cronache del tempo e dello spazio“ etc. und deutet durch die Stichwörter um Zeit und Zeitlichkeit bereits an, dass es mit dem Ende des Buchs („letzte Seite“) zugleich ums Ende der Welt, mit dem „Totenbuch“ zugleich um den Untergang der Zivilisation gehen wird. MSE  







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A 6.5 Aufbrüche in andere Dimensionen: Papierinduzierte Phantasien bei Lewis Carroll und Beispiele buchgestalterischer Carroll-Rezeption Papier wird normalerweise als Fläche wahrgenommen, aber Flächen können sich biegen. Dann wird aus einem scheinbar zweidimensionalen Gegenstand ein dreidimensionaler – oder auch einer, der sich nicht mehr im Horizont der Euklidischen Geometrie beschreiben lässt. Ein berühmtes Vorstellungsbild, das oft zur Visualisierung paradoxer Strukturen herangezogen wird, ist das Möbiusband: es ist eine Fläche, zugleich aber auch ein räumliches Ding. Papierobjekte wie ein entsprechend gebogener und zum Möbiusband gefügter Streifen eignen sich zur Demonstration mathematischer Fragen.  

Geschichten zwischen Fläche und Raum. Der Mathematiker Lewis Carroll (Charles Lutwidge Dodgson) hat der Euklidischen Geometrie samt zeitgenössischen Versuchen, diese durch neue Geometrien abzulösen, eine eigene Publikation gewidmet, in der er sich konservativ auf die Seite Euklids schlägt (vgl. Dodgson [=Carrol] 1973 und Kleinspehn 1997, S. 37). Er lebt als Mathematiker gleichsam noch in einem Raum, in dem sich Parallelen im Unendlichen schneiden – oder, nicht-mathematisch gesagt: in dem sie sich gar nicht schneiden, weil sie in einer zweidimensionalen Fläche unendlich nebeneinander her laufen. Doch er weiß eben als Euklidianer besonders gut, dass es andere Mathematiken gibt: Welten aus gekrümmten Flächen, in denen die Regeln der Euklidischen Geometrie nicht mehr gelten und die Linien andere Dinge treiben als bei Euklid. In Alice in Wonderland und Through the Looking-Glass spielen Flächen eine wichtige Rolle (Carroll 1965; vgl. Teil E 1.4). Mehrfach arrangiert Carroll dabei Situationen, in denen entweder die Zweidimensionalität von Flächen fragwürdig oder die Vorstellung einer planen Oberfläche zugunsten des Vorstellungsbildes einer gekrümmten, gebogenen Fläche aufgegeben oder aber die (Ober-)Fläche selbst als räumliches Gebilde imaginiert wird. So wichtig ist die Differenz zwischen Ebene und Raum für die Alice-Bücher, dass sie bereits die jeweilige Rahmenkonstruktion des Wunderland- und des Looking-glass-Buches bestimmt. Das Wunderland-Personal aus Spielkarten, die sich wie räumlich-körperliche Wesen durchs Wunderland bewegen, aber auch flach auf den Boden legen können – Wesen an der Schwelle zwischen Zwei- und Dreidimensionalität. Im Spiegellandbuch steigt Alice durch die Oberfläche eines Spiegels. Spiegel sind Flächen, welche die Existenz eines hinter ihnen liegenden Raumes suggerieren – und in diesem Fall eröffnet sich tatsächlich ein solcher Raum. Aber handelt es sich um einen echten Raum (wofür die im Folgenden erzählten Episoden sprechen) oder um eine Fläche, die nur die Illusion von Dreidimensionalität erzeugt? Diese Ambiguität bestimmt den gesamten Text. Auch das Geschehen auf dem Schachbrett ist durch sein Changieren zwischen einer planen und einer nicht-planen Welt bestimmt. Der Weiße Ritter, von vielen Interpreten als romaninternes Alter Ego Carrolls selbst gedeutet, bewegt sich zwischen der Flächenwelt anderer Schachfiguren und Alices  







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räumlicher Welt. Seine Geschichte erinnert an die von Abbott beschriebene flatlandWelt. Bemerkenswerterweise haben die Experimente des Ritters alle etwas mit neuen Raumerfahrungen zu tun. Und seine Erfindungen umspielen die Differenz zwischen Zwei- und Dreidimensionalität. Der Gegensatz von planer und gebogener Fläche hat bei Carroll verschiedene Bedeutungsdimensionen. Seine mathematischen und logischen Texte nehmen auf diese Dichotomie Bezug; seine Texte handeln von Körpern und ihren Oberflächen – und von Problemen, zwei- und dreifach dimensionierte Welten bzw. plane und gekrümmte Welten voneinander zu unterscheiden. Mehr-als-zweidimensionale Oberflächen werden mehrfach zum Anlass von Irritationen.  

Affinitäten zum Format des Pop-ups. Carrolls Alice-Geschichten sind in vielen künstlerischen Formaten und Medien rezipiert worden (vgl. Gaßner/Görgen/Schulz 2012). Auch in der Geschichte künstlerischer Buchgestaltung finden sich verschiedene Beispiele dafür – wobei diese Geschichte der künstlerisch gestalteten Alice-Bücher letztlich bereits mit Carrolls eigenen Manuskripten beginnt, die er mit Zeichnungen ausstattete und auf deren Seitengestaltung er sein besonderes Augenmerk richtete – bevor dann mit John Tenniel der Illustrator der Buchausgabe ins Spiel kam, dessen Bilder in der kreativen Rezeption des Romans von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt haben. Als Episoden, die manches Mal an der Grenze zwischen Zwei- und Dreidimensionalität respektive zwischen Fläche und Raum spielen, weisen die Stationen der Alice-Geschichten besondere Affinitäten zum Pop-up auf. Umspielt doch dessen Konstruktion eine analoge Differenz: die zwischen flachen Buchseiten und solchen, die sich aufklappen, aufbiegen, aufstellen – respektive zwischen dem Buch als einem Stapel plan aufeinandergeschichteter Blätter und dem Buch als einem Konstrukt sich auffaltender Blätter. Wenn sich bei Carroll Szenen plötzlich verwandeln, wenn Flaches räumlich, Räumliches flach, Körperliches zur Oberfläche, eine Oberfläche zum Körper wird, dann geschieht dies überraschend: Veränderungen dieser Art gehören zu den irritierenden, meist plötzlichen Metamorphosen, die Alice im Wunderland erfährt, und zwar an sich selbst und an anderen. Überraschungseffekte sind auch charakteristisch für Pop-ups: Was da vor dem Nutzer aufpoppt, ist (zumindest beim ersten Mal) unvorhersehbar. Anders als im Fall älterer Bewegungsbücher, bei denen man Überraschungen erleben kann, wenn man aktiv die Papiermechanik bedient, ereignet sich die Pop-up-Überraschung ohne weiteres Zutun als das Umblättern der Buchseiten.  





Variationen über Alice: Zur Carroll-Rezeption in Bewegungsbüchern. Alices Wunderland-Abenteuer gehören zu den beliebtesten Vorlagen für Designer von Popups und aktiv zu bedienenden Bewegungsbüchern. Die folgenden Beispiele, technisch unterschiedlich gestaltet, repräsentieren vielfache Strategien, sich auffaltendes, bei zusammengelegtem Buch flaches Papier zur räumlichen Inszenierung zu nutzen. Eine gleichgewichtige Kombination von Pop-up- und Bewegungselementen prägt die von Roger Diaz als Papieringenieur gestaltete, ein Design von John Strejan umsetzen-

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de und von Jenny Thorne bebilderte Version des Macmillan-Verlags, die Carroll selbst als Autor ausweist (Carroll, Lewis: The Macmillan Alice. Alice’s Adventures in Wonderland. A Pop-up Book. London/Basingstoke 1980).110 Auf sämtlichen Doppelseiten klappt zum einen ein Pop-up auf, zum anderen lässt sich durch Laschenzug etwas bewegen. Die Illustratorin Thorne hat die Bilder Tenniels nachgezeichnet und koloriert; der durch eine aufklappende Spirale dargestellte Sturz Alices ins Wunderland und andere Beispiele zeigen, dass dabei Bildelemente in räumlichen Arrangements ganz anders wirken als in der Fläche. J. Otto Seibolds Alice in (Pop-up) Wonderland (New York 2003) enthält neben ausklappenden Papierarchitekturen auffaltbare Klappen und andere aktiv zu bewegende Teile. Hier ist weniger die Papierkonstruktion ungewöhnlich als die Verwendung einer kunterbunt gemischten variantenreichen Typografie: Das turbulente Geschehen um Alice scheint auf die Schrift überzugreifen, die den Erzähltext visuell vermittelt. Die Schrift gerät außer Rand und Band im Traumland. Auch die Bilder Seibolds sind schrill, bunt und irritierend. Nick Denchfield (Papierkonstruktionen) und Alex Vining (Bilder) schließen mit Alice’s Pop-up Wonderland. Make Alice’s dream world come to life! With six amazing pop-up scenes and over 30 press-out pieces (London 2000) an die Tradition des Papiertheaters bzw. der bespielbaren Buchbühne an. Hier entstehen durch das Auseinanderklappen des Buchs große und komplexe Pop-ups, innerhalb derer sich dann Bewegungselemente befinden (die man erst einmal entdecken muss). Die Erzählung findet sich als kurze Romanparaphrase dem Buch vorangestellt. Hier sind herauslösbare Papierfigurinen zu finden, die man in den Pop-ups selbst platzieren kann. Ähnlich konstruiert und ebenfalls nach Tenniel illustriert ist Alice’s Pop-up Theatre Book./Bring Wonderland to Life!/with six amazing pop-up scenes and over 30 press-out pieces von Nick Denchfield und Alex Vining (London 2002. Die Illustrationen stammen von Alex Vining, Angela Edwards und Peter Vining; Nick Denchfield war zuständig für das paper engineering. Als Coverillustrationen wurden Zeichnungen von John Tenniel benutzt, koloriert wurden sie von Diz Wallis). Klappt man das querformatige Buch auf, so öffnet sich ein Bühnenraum; die Innenseiten beider Buchdeckel, senkrecht aufzustellen, bilden die Kulisse. Aufführen lassen sich sechs Szenen. Die Texte, dialogisierte Passagen aus dem Wunderland-Buch, sowie knappe Regieanweisungen liegen als Textbuch bei. Die Figurinen, 30 kolorierte Nachbildungen der Tenniel-Figuren, sind in diesem ebenfalls enthalten. Robert Sabudas Carroll-Pop-up (Alice’s Adventures in Wonderland. A Pop-up Adaptation of Lewis Carroll’s Original Tale by Robert Sabuda. London 2003) stellt die auf den Doppelseiten zu originellen Papierskulpturen aufklappenden Pop-ups in den Vordergrund. Elemente, die auf den ersten Blick einfach aufzuschlagende Hefte und Büchlein zu sein scheinen, erweisen sich beim Öffnen als

110 Weitere Ausgaben folgten; parallel erschien ein analog konstruiertes Buch zu Through the LookingGlass, sowie in Kleinformat eine „Little Alice Edition“ beider Bücher.

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Pop-ups im Pop-up. Der Text folgt Carrolls Vorlage, die Bilder zitieren Tenniels Illustrationen, aber in stark modifiziertem Stil, durch die Pop-up-Konstruktion wird aus Alices Geschichte eine Serie von zweifach gestuften Visionen, eine Art potenziertes Traumbuch. Das Bewegungsbuch von Harriet Castor und Zdenko Bašić fällt durch seine originelle Bebilderung aus dem Rahmen, die, ganz von Tenniel unabhängig, an Bilder animierter PC-Spiele erinnert (Alice’s Adventures in Wonderland. London 2010; ital.: Alice nel paese delle Meraviglie. Novara 2010). Der Text ist eine freie Nacherzählung. Der Nutzer muss hier manches bewegen, andere Effekte ergeben sich von selbst. Die vorletzte Seite zeigt als großes Pop-up, wie Alice die Karten ihrer Traumwelt durcheinanderwirbelt. Soundeffekte integriert Richard Johnson in seine Adaption des ersten Alice-Romans (Carroll, Lewis/Johnson, Richard: Alice in Wonderland. A Classic Story Pop-up Book with Sounds. Retold by Lilly Hamilton. Dorking, Surrey 2010). Eine Nacherzählung durch Lily Hamilton verbindet sich mit Bildern Johnsons. Das Buch enthält diverse große Pop-up-Konstruktionen zu bekannten Szenen sowie eine aktiv zu bewegende Klappe, hinter der die Cheshire Cat steckt. Beim Öffnen der Pop-upDoppelseiten erklingen undifferenzierte, mysteriöse Geräusche. MSE

A 6.6 Buchvision, Entfaltungskunst und Papierbastelei bei Stéphane Mallarmé In Darstellungen zur Geschichte des Künstlerbuchs nimmt Mallarmé eine Schlüsselrolle ein (vgl. Drucker 2004, S. 36). Zusammen mit wenigen anderen Pionieren des Buchwerks entdeckt er das Buch als poetisches Medium. Neben seinen konkreten poetischen Arbeiten begleitete ein in zahlreichen Notizen unscharf profiliertes Projekt unter dem Stichwort Le Livre sein Schaffen. Blanchot bezeichnet Le Livre als „ein vielzähliges Buch, das sich gleichsam aus sich selber heraus vervielfältigt, auf Grund einer ihm eigentümlichen Bewegung“ (Blanchot 1988, S. 305). Den auch dichtungsgeschichtlich epochalen Rang von Un coup de dés haben schon Zeitgenossen und frühe Nachfolger des Dichters betont. Valéry charakterisiert das Werk als innovatorische Synthese aus Textgestalt und Bedeutungsebene; beide seien als simultan entstanden zu denken (Valéry 1989, S. 249f., 252f.). Mallarmés Anliegen sei es gewesen, „endlich eine gedruckte Seite der Macht des gestirnten Himmels entgegenzuhalten“ (ebd., S. 248) – mit dem poetischen Werk also etwas zu schaffen, das etwas Übermenschlichem Widerstand leistet und seine eigene Zeitlichkeit besitzt.  









Fächer, Flügel, Buch: Ästhetik der Entfaltung. Mallarmés Ästhetik steht im Zeichen der Idee der Entfaltung, wobei er die verschiedenen Bedeutungsebenen dieses (Sprach-)Bildes miteinander verbindet: die Idee der physischen Auseinanderfaltung ebenso wie die eines sich sukzessiv entfaltenden Sinnpotenzials von Wörtern und von ganzen Texten. Damit eng verknüpft ist sein Interesse am Buch: Mehr als beliebiger

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Träger von Botschaften, ist dieses durch seine Form selbst dazu bestimmt, seine Falten – die Buchseiten – zu öffnen und dadurch poetische Gebilde zur Entfaltung zu bringen. Motiviert durch die Idee des Sich-Auffaltens ist auch Mallarmés Aufmerksamkeit auf Fächer – und damit auf das Papier als Material (vgl. Ortlieb 2013, 2014, 2015). Unter verschiedenen Akzentuierungen wird der Fächer gerade im 19. Jahrhundert zum Bild der Buchseite, ähnlich dem Flügel. Wie der Flügel ist er zum einen ein materielles Objekt, dessen Dinghaftigkeit und Materialität ins Spiel kommen, sobald er zum Träger oder Modell von Texten wird; zum anderen ist er symbolisch konnotiert und durch seine Gebrauchsweisen semantisiert. In engem Bezug zur Idee, Seitenfolgen von Büchern als Fächer, Fächer als Analoga von Büchern zu betrachten, entstehen Fächergedichte als gedachte oder tatsächliche Beschriftungen von Fächern als solch ‚anderer‘ Bücher. Insofern Fächer selbst auch mit Flügelpaaren assoziiert werden, spezifiziert sich in ihnen auch die traditionsreiche Gleichung des Dichtens mit dem Flug der Vögel. Das Fächergedicht wird im späten 19. Jahrhundert zu einem beliebten Sondertypus des Gelegenheitsgedichts. Der französische Name éventail lässt dabei das Ereignishafte momentaner Begegnungen assoziieren (event). Mallarmé – der Buchseiten mit Flügeln der Vögel vergleicht – verfasst ab 1876 Fächergedichte, die in französischen und amerikanischen Zeitschriften erscheinen. Deren Materialität legt es nahe, bei ihrer Produktion verschiedene Schriften, Farben und Papierqualitäten einzusetzen. Mallarmé – der faltbare Fächer als Flügel interpretiert – beschreibt am liebsten einfache Papierfächer mit roter Tinte. Sein Gedicht Autre Éventail schenkte er seiner Tochter zusammen mit einem Fächer: Das Gedicht selbst ist auf das weiße Fächerblatt geschrieben – in roten und goldenen Buchstaben. Die Form der beschriebenen Fächer bestimmt durch ihr Halbrund die Form des Fächer-Gedichts. Ein dynamisches Moment kommt dadurch ins Spiel, dass sich der Fächer – und damit das Gedicht – auf- und zufalten lässt. Die buchstäbliche ‚Entfaltung‘ des Textes vor den Augen unterstreicht die Prozessualität des Lektüreakts, lässt aber auch den Text selbst als ein ‚Geschehen‘ erscheinen.  























Papierarbeiten: L’Anglais récréatif. Von Beruf Englischlehrer,111 hat sich Mallarmé mit der Frage möglicher Vermittlungsformen englischer Sprachkenntnisse an Schüler auf eine einfallsreiche Weise beschäftigt, die sich in einer Reihe von Papierarbeiten dokumentiert. Mallarmé versammelte unter dem Titel L’Anglais récréatif ou Boîte pour apprendre l’anglais en jouant et seul 16 unterschiedlich gestaltete und bemalte Kartons

111 In den späten 1870er Jahren erschien sein Unterrichtswerk: Petite philologie à l’usage des Classes et du Monde. Les Mots anglais par Mr. Mallarmé, Professeur au Lycée Fontanes. Vgl. Marchal, Bertrand: Mallarmé professeur d’anglais ou les tribulations d’un poète dans l’einseignement. In: ders./Pouly, Marie-Pierre: Mallarmé et l’anglais récréatif. Le poète pédagogue. Paris 2014, S. 15–59, hier S. 39 f. und 53. Zu Mallarmés weiteren Projekten rund um die englische Sprache und Literatur gehören anthologische und sprachwissenschaftlich-grammatikalische Schriften (vgl. ebd., S. 53–57), sowie diverse Übersetzungen aus dem Englischen (vgl. ebd., S. 57–59).  









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in einer Schachtel. Einerseits mit Blick auf mögliche Nutzungsformen gestaltete Bastelwerke, die als typisch für die spielerischen Beschäftigungsformen seiner Zeit mit Papier und Schere erscheinen, sind diese Papierobjekte doch andererseits auch dem dichterischen Œuvre Mallarmés affin. Denn als Objekte für den Englischunterricht nehmen sie die Papierbastelei immerhin in den Dienst der Vermittlung von Wörterund Sprachwissen und stiften so eine Verbindung zwischen formbarer Materie und sprachlichen Gestaltungs- und Artikulationsprozessen, welche Basis und Bezugshorizont auch des dichterischen Sprechens sind. Zudem experimentiert Mallarmé hier mit diversen beweglichen Papierkonstruktionen, also mit papiernen Mechanismen, durch welche sprachliche Elemente (vor allem Vokabeln) ganz konkret in Bewegung gesetzt werden können. Über die (auch im Projekttitel betonte) spielerische Dimension von L’Anglais récréatif besteht ein Bezug zum Coup de dés als einem Buch- und Textprojekt, das das Würfel-Spiel als Modell nutzt. Ist der Würfelwurf eine Spielhandlung, dessen Ergebnis nicht vorhersehbar ist, so setzt auch die Konstruktion der L’Anglaisrécréatif-Kartons auf Überraschungseffekte, wenngleich auf vom Konstrukteur programmierte. Noch der Hinweis darauf, dass es sich beim Erkunden der Boîte pour apprendre l’anglais um ein einsames Spiel handelt, könnte zur spezifischen Einsamkeit poetischer Lektüren in eine Analogiebeziehung gesetzt werden. Mallarmé zielte mit der Konstruktion seiner Boîte pour apprendre l’anglais auf eine Publikation;112 insofern fügt sich das Projekt in die Fülle und Vielgestaltigkeit von Papierkonstruktionen für Kinder, Jugendliche und andere Lerner ein, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Als Einlagen in einem Lehrbuch konzipiert, fügen sich die Kartons in die Sphäre der Bücher ein; als bewegliche Objekte setzen sie in besonderem Maße auf Effekte des physischen Umgangs mit Druckwerken; ihr Design ist (wenngleich auf eine eigenartige Weise) dem Gedanken verpflichtet, dass materiell Auffälliges besondere Eindrücke hinterlässt, über neue sinnliche Eindrücke neue Erfahrungsmöglichkeiten erschließt. Das von Mallarmés Hand geschriebene Titelblatt des Anglais récréatif trägt neben dem Titel der Kartonsammlung anstelle eines Autornamens die (falsche) Angabe „Par un Professeur de l’Université“, wodurch ein fiktionales Moment ins Spiel kommt (obgleich es wohl primär um Reklame ging). Die einzelnen Kartons sind durch den Einsatz verschiedener Papiermechaniken, oft mehrerer gleichzeitig, geprägt. Ein wiederholt genutztes Konstruktionselement ist das der hinter der Karton-Oberfläche situierten beweglichen Papierlasche, die hinter eingeschnittenen Fenstern im Karton erscheint und je nach Positionierung unterschiedliche Wörter oder Buchstaben sichtbar macht. So sind auf dem ersten Karton (der dem „son anglais“ gewidmet ist) die im  

112 Der Verleger Léopold Dauphin erinnert sich 1912 an ein Gespräch, in dem Mallarmé seine Absichten erklärte und um verlegerischen Beistand ersuchte: „‚J’ai imaginé une méthode pratique pour apprendre aux élèves la langue anglaise en dix leçons pouvant tenir chacune sur la couverture d’un cahier d’écolier […]‘“ (Dauphin, Léopold: Regards en arrière, Fragment. Quartre articles sur Stéphane Mallarmé. Béziers 1912, zit. bei Marchal/Pouly 2014, S. 59).  

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Englischen gebräuchlichen Vokale (A, I, O, U, E) jeweils rechts und links von eingeschnittenen quadratischen Fensterchen umgeben, in denen Konsonanten oder Kombinationen mit Konsonanten auftauchen, sodass sich komplette englische Vokabeln bilden. Zugvorrichtungen, wie sie im zeitgenössischen Bewegungsbuch beliebt sind, werden ebenfalls eingesetzt. Karton I („pour prononcer le TH…“; die Nummerierung der in Marchal/Poulys Mallarmé et l’anglais récréatif abgedruckten Kartons ist nicht kohärent) gestattet es, mittels einer ziehbaren Papierlasche den Mund einer gezeichneten Figur so zu öffnen, dass deren Zahnstellung die bei der Artikulation des „th“ wiedergeben soll (Marchal/Pouly 2014, S. 62). Karton III gilt dem Lernthema „Article et Adjectif“ und führt durch Sätze im Singular in den richtigen Gebrauch des Plural-s ein. Hier können durch Züge an hinter dem Karton befestigten Bändern unterlegte Papierstreifen bewegt werden; die Bausteine der Sätze zeigen sich in Fensterchen; ein letztes zeigt dann entweder ein „s“ oder nicht, je nachdem ob das Satzsubjekt im Plural steht. Andere Kartons verwenden ähnliche Zugvorrichtungen und Fensterkonstruktionen zur Einübung weitere grammatikalischer Kenntnisse. Auch mit kombinierbaren losen Papierstücken bekommt es der Nutzer des Anglais récréatif zu tun: Karton II bietet ein „Tableau des Nombres“: Eine tabellarische Übersicht über die Elemente, aus denen die englischen Zahlennamen zusammengesetzt werden (Einer, Zehner, Hunderter), sowie lose Kärtchen mit diesen Elementen bieten die Basis, um entsprechende Zahlennamen-Zusammensetzungen vorzunehmen. Im oberen Feld der Karte ist hinter einem eingeschnittenen Fenster ein Stück Stoff befestigt, auf dem sich die kombinatorisch erzeugten Zahlennamen auslegen lassen (ebd., S. 63). Den Abschluss der Serie bildet, unter der Nummer XII, eine auf einem Karton angebrachte drehbare Scheibe; hier geht es um das Erlernen der richtigen Uhrzeitangaben. Auf der Scheibe sind in römischen Zahlen und in englischen Zahlwörtern die 12 Stunden angegeben; die Viertelstunden sind auf dem umgebenden Papier genannt. Mittels eines doppelten Fadens, der von der Uhr-Mitte an deren Rand aufgespannt werden kann, lassen sich die Zeigerpositionen analoger Uhren imitieren und auf die verbal angegebenen Uhrzeiten abstimmen (ebd., S. 74). Die Kartons erinnern nicht nur an zeitgenössische, sondern auch an ältere Papiergestaltungstechniken, insbesondere solche, die in verschiedenen Bereichen der Wissensvermittlung durch Bewegungsbücher oder bewegliche Papierobjekte eingesetzt worden waren. Aber auch Kinderbücher, Beichtspiegel mit beweglichen Teilen, Spielbretter, Karten für Alphabetlerner, Würfelsets und die Bildprogramme des Orbis pictus können als Vorläufer betrachtet werden (vgl. Pouly in Marchal/Pouly 2014, S. 77–102).  







Prototyp des modernen Buchpoems : Un coup de dés. Mallarmé stellt eine wichtige Schnitt- bzw. Verbindungsstelle zwischen der Geschichte der Dichtung und der Geschichte der typografischen Kunst dar – und ist zugleich ein Visionär des Buchs. Sein bahnbrechendes Werk Un coup de dés erstreckt sich über eine Sequenz von Seiten und erfordert insofern eine größere Einheit als die Einzelseite, idealiter das Buch, als Entfaltungsraum. Es erscheint erstmals 1897 in der Zeitschrift Cosmopolis, allerdings  

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nicht in der Form, die dem Dichter vorschwebte. Das Lesen alltagssprachlicher Texte ist für Mallarmé etwas anderes als das Lesen von Poesie. Schon 1862 betont der zwanzigjährige Dichter, es sei etwas anderes, eine Tageszeitung oder ein poetisches Werk wie das Baudelaires vor sich zu haben. Poesie habe, obwohl sie mit den gleichen Schrifttypen gedruckt sei, die auch für Gebrauchstexte verwendet würden, etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles. Und so trete der zudringliche Leser Gedichten nahe, als handle es sich um triviale Texte. Da wünsche man sich am Ende, die Bücher seien ähnlich verschlossen, wie einst Heilige Bücher Schließen hatten – oder sie seien in einer Geheimschrift („Hieroglyphen“) verfasst. Anlässlich der Differenzierung zwischen alltäglich-trivialen und poetischen Texten verrät diese Passage bereits einen Sinn für die Ausstattung von Büchern, für den Signalwert solcher Ausstattung – und für die spezifische Semantik von Schriftsystemen. Nicht jeder, der einen Text auf der Ebene der Buchstäblichkeit entziffert, hat Zugang zu diesem Text; er gleicht dem Eindringling in ein Mysterium, der dieses profaniert, aber nicht versteht. Alltags- und Feuilleton-Texte sind für den (schnellen) Gebrauch bestimmt. Sie stehen in einer engen Verbindung zur Welt des Kommerzes, des bürgerlichen Zweckdenkens und der Ökonomie. Hier wird die Sprache selbst zum Instrument; sie tritt in den Dienst dessen, was durch sie dargestellt wird oder was man mittels ihrer fordert. Mit solcher alltäglichen Funktionalisierung von Sprache verbindet sich die Forderung nach Ökonomie: Alles soll möglichst schnell verständlich, eindeutig und auf eine effiziente Wirkung hin orientiert sein. All dies ist für Mallarmé dem poetischen Sprachgebrauch fremd, dem Umgang mit Gedichten auch nicht angemessen. Die spezifische Sprechweise des Gedichts unterscheidet sich vom Alltagssprachlichen. Anders als dieses steht sie auch nicht im Dienst der Erfüllung bestimmter Funktionen. Zwar lösen Wörter in poetischen Texten Reaktionen aus, aber keine klaren Vorstellungen. Was durch das poetische Wort aufgerufen wird, ist nicht der konkrete Gegenstand, sondern eine ans Wort gebundene und aus diesem freigesetzte Idee. Sagt der Dichter „Blume“, so steigt aus seinem Wort die Idee einer Blume auf, die von jeder echten Blume zu unterscheiden ist – eine Blume, die man in keinem echten Strauß findet. Durch die Betonung der Einzelvokabel und die Verknappung der Textzusammenhänge erzielt Mallarmé eine Konzentration des Textes, die den Vokabeln Vieldeutigkeit verleiht bzw. deren Vieldeutigkeit wahrnehmbar werden lässt.  





Drucktypen, Textschichten. In Un coup de dés jamais n’abolira le hasard – einem Werk, das zunächst in eher kurzem Abstand in zwei typografisch stark differenten Fassungen 1897 und 1914 (d. h. posthum) erschien –, zieht Mallarmé Konsequenzen aus seinen poetologischen Ideen. Für die Darstellung des Textes werden unterschiedliche Drucktypen eingesetzt. Dadurch gliedert sich der Text in Textschichten, die einander durchdringen. Man kann den Text nicht linear lesen (und ihn folglich auch nicht linear zusammenfassen). Mallarmé arbeitet mit der Räumlichkeit der Sequenz von Seiten, d. h. zumindest im Ansatz mit der Räumlichkeit des Buchs. In der Zeitschriftenfassung von 1897 ist die einzelne Seite als Leseeinheit eingesetzt; in der nach  







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Teil A Aspekte des Buchs

Mallarmés eigenen Anweisungen realisierten Ausgabe von 1914 ist es die Doppelseite, das heißt eine Fläche, die sich jeweils beim Aufklappen bzw. Umblättern des Buchs ergibt. Die Wortsequenzen bzw. Wortkomplexe laufen teilweise über den Bund des Buches. Der Titelsatz Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (näherungsweise: „Ein Würfelwurf wird den Zufall nie auslöschen“) bildet das Rückgrat oder Gerüst des mehrschichtigen Textes. Der Satz ist in einzelne Teile gegliedert, die sich über die Doppelseiten des Buches erstrecken. Die anderen Textsegmente sind um Elemente dieses Text-Gerüsts herum arrangiert. Das Gedicht lässt sich nicht in ‚Normalsprache‘ übersetzen. Jeder Versuch einer Paraphrase bleibt eine Annäherung.113 Der Erstdruck in Cosmopolis (1897) war ein typografischer Kompromiss. Die Erscheinungsformen des Wortes. Mallarmés Interesse an typografischen Mitteln und Gestaltungsweisen leitet sich ab aus seinem Interesse am Wort. Dessen Dynamik soll durch das gedruckte Erscheinungsbild betont bzw. gesteigert werden. Schriftarten und Schriftgrößen sowie die Relationen, die die gedruckten Wörter zueinander einnehmen, sind bedeutungsvolle Dimensionen des Worts. In unterschiedlichen Schriftgrößen auf die weiße Fläche gedruckt, wirken die Einzelwörter und Wortgruppen wie bewegliche Dinge. Sie scheinen auf der Fläche eigene Bahnen zu ziehen, sich einander anzunähern, sich voneinander zu entfernen. Das Bewusstsein für die Bedeutung der typografischen Anordnung und Gestaltung der Wörter verbindet sich bei Mallarmé mit dem Bewusstsein für die den Wörtern komplementäre Fläche. Das Weiß des mit Wörtern bedruckten Papiers ist für ihn Bestandteil des Gedichts – bzw. dessen Komplement. Es korrespondiert in seiner Spannung zu den sichtbaren und lesbaren Wörtern dem Schweigen als dem Pendant des gesprochenen Worts. Weiße Fläche und schwarz gedruckte Wörter sind ebenso dialektisch aufeinander bezogen wie Schweigen und Rede. Wäre die Seite nicht als Kontrastfolie der gedruckten Wörter da, so könnte man nichts lesen, und gäbe es keine Pausen, so wäre Rede bloßes Geräusch. Mallarmé beschreibt die gestaltete Seite als Voraussetzung dafür, dass der Text als ein in einem Raum bewegliches Ganzes wahrgenommen wird, dass der Text  

113 Der Text vermittelt andeutend ein geheimnisvolles Geschehen: Als Figur zeichnet sich die eines graubärtigen Meisters ab, der um Mitternacht an einem vom Sturm umtosten Riff steht und einen Würfel in der Faust hält. Er zögert mit dem Wurf des Würfels in den Abgrund. Das Meer tobt, doch der Meister bleibt unentschlossen. Eine kleine Feder schwebt über dem Abgrund; der Meister ergreift sie und schmückt sich mit ihr. Eine Sirenengestalt erhebt sich aus dem Meer; sie scheint die Vorfahren des Meisters zu repräsentieren, die auf ihn hoffen. Wegen seines anhaltenden Zögerns ergreift sie ihn samt seinem Felsen, treibt ihn vom Riff, und er löst sich im Nebel auf. Aber sein Verzicht auf den Würfelwurf erscheint nicht eindeutig als Versagen; es entsprang – wie angedeutet wird – der Einsicht, dass auch ein glücklicher Würfelwurf den Zufall nicht aufhebt, sondern vielmehr bekräftigt. Am Ende des Gedichts steht das Sternbild des großen Bären; seine vollendete Ordnung scheint dem Zufall entrückt.  



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als beweglich erscheint. Mallarmé, so Johanna Drucker, betrachtet nicht allein den Buchstaben als Grundelement des Buchs, er wünscht sich zudem für den Buchstaben Dynamik und die Möglichkeit eines Ausgreifens in den Raum. Ausgehend vom Vergleich mit musikalischen Kompositionen experimentiert er mit Typografie und Layout – aber die Seite reicht ihm nicht, er will das Buch als Objekt gestalten. Mallarmés Verwendung unterschiedlicher Schriftgrößen lässt mehrere Deutungen zu: Er selbst betont in seinem Vorwort, dass man sie auf unterschiedliche Rezitationslautstärken beziehen kann, der Text also als Partitur lesbar ist. Man kann sich allerdings auch an Darstellungen des Sternenhimmels erinnern, bei denen die entfernteren Sterne (entsprechend unserer physiologischen Sehweise) kleiner, die näheren größer dargestellt sind. Auch das Arrangement der Doppelseiten um den Bund des Buches (der die Doppelseiten in der Buchmitte trennt bzw. verbindet) ist seit der zweiten Druckversion (die Mallarmé selbst vorbereitete) signifikant. Auf der fünften Doppelseite spricht der Text vom Schweben über einem Abgrund; hier ist der Text fast kreisförmig um die Buch-Mittelachse herum arrangiert. Auf der dritten Doppelseite scheinen die beiden Seiten eher auseinanderzutreiben. Die Mittelachse als Falte im Buch macht sich auf jeden Fall bemerkbar. Das wichtige Stichwort „constellation“ selbst ist bereits mehrdeutig mit Blick auf die Frage nach dem ‚mimetischen‘ Charakter von Konstellationen: Was ‚sehen‘ wir, wenn wir Konstellationen (Sternbilder) sehen? Wir sehen nicht ‚wirklich‘ einen Großen Wagen bzw. dessen Abbild, sondern wir sehen eine Ähnlichkeit mit einem solchen Wagen in eine Gruppe von Sternen hinein. Dadurch werden diese zu einer „Konstellation“. Mallarmés Experiment mit der Typografie in Un coup de dés beruht wohl auf intensiven Auseinandersetzungen des Dichters mit der typografischen Gestaltung von Zeitungen, für die er sich – trotz seiner Vorbehalte gegenüber der Massenkultur – sehr interessierte. Zeitungsseiten ‚dynamisieren‘ das Lesen durch unterschiedliche Schriftgrößen; sie laden zu nicht-linearen Lektüren ein und akzentuieren einzelne Wörter durch größere Schrifttypen (vgl. Ardar 2008, S. 14–15).  







Das Livre-Projekt – die Buchvision Mallarmés. In Mallarmés Notizen unter dem Titel Das Buch, Instrument des Geistes steht sein vielleicht meistzitierter Satz: „Ein Vorschlag, der von mir stammt, […] will, daß alles auf der Welt existiert, um in ein Buch zu münden.“ (Mallarmé 1992, S. 299) Zu einem Projekt, das meist das Livre (Buch) genannt wird, haben sich nur vieldeutige Notizen Mallarmés erhalten. Jacques Scherer hat die 202 handschriftlichen Notizen 1957 transkribiert und veröffentlicht. Ob das Livre überhaupt hätte realisiert werden können, oder ob es nur eine Vision war, ist unklar. Die Notizen enthalten u. a. schematische Skizzen, Diagramme, mathematische Kalkulationen. In jedem Fall wird man wohl die Vorstellung des von Mallarmé intendierten Buchs mit der eines Bewegungsraumes in Verbindung bringen können. (In Das Buch, Instrument des Geistes heißt es u. a.: „Das Buch, totale Expansion des Buchstabens, muß direkt aus ihm eine Beweglichkeit beziehen und räumlich, durch Entsprechungen, ein Spiel einführen, wer weiß, das die Fiktion bestätigt.“ Ebd., S. 302)  









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Teil A Aspekte des Buchs

Sofern man aus Mallarmés Notizen etwas über das zu realisierende Livre-Projekt als „Buch“ erschließen kann, war wohl eine noch größere ‚Dynamik‘ und ‚Beweglichkeit‘ intendiert, als sie im Coup de dés realisiert war. Das Livre hätte wohl aus 20 Einzelbänden bzw. Heften bestanden – mit einem Seitenumfang von 320, 384 oder 480 Seiten. Die Hefte hätten vermutlich lose Blätter enthalten. Anna S. Ardar deutet das LivreProjekt als Idee, den Coup de dés zur Aufführung zu bringen (Ardar 2008, S. 21). Un coup de dés hätte als bibliophiles Malerbuch bei Ambroise Vollard erscheinen sollen, wäre dann ein Sammlerstück und nur für wenige bestimmt gewesen. Zur Kompensation habe Mallarmé daran gedacht, das Buch auf die Bühne zu bringen, um es öffentlicher werden zu lassen (ebd.).  



Zur literarisch-poetischen Mallarmé-Rezeption. Das Nachwirken Mallarmés in der Kunst des 20. Jahrhunderts weist viele Facetten auf (vgl. die Beiträge in Folie 2008 sowie Teil A 6.7); nicht minder nachhaltig ist sein Echo in der Literatur. Un coup de dés steht seinerseits in der Tradition der Visualpoesie, wie sie schon in der Antike und im Mittelalter, in der Renaissance und im Barock verfasst wurde. Avantgardistische Dichter des 20. Jahrhunderts knüpfen an die Tradition des Visualgedichts an und schaffen viele neue Typen – nicht zuletzt unter dem Einfluss Mallarmés. Besonders deutlich zeigt sich dieser im Bereich der Konkreten Poesie (vgl. Teil D, Art. „Konkrete Poesie“). Franz Mon beruft sich explizit auf Mallarmé als Wegbereiter. Der Titel von Gomringers Aufsatz vom vers zur konstellation zitiert einen Mallarméschen Begriff bzw. ein Bild: das der Konstellation, des Sternbilds. Gomringer selbst hat zudem einen Gedichtzyklus mit dem Titel konstellationen verfasst und den Ausdruck Konstellation als Genrebezeichnung für Texte verwendet, die aus Einzelwörtern bestehen, welche zueinander in einer ‚räumlichen‘ Beziehung stehen. Neben Visualdichtern nehmen auch Vertreter anderer innovativer Schreibweisen jenseits des geläufigen Gattungsspektrums Anregungen Mallarmés auf, insbesondere unter Nutzung der weißen Fläche als Textgrund. Edmond Jabès’ Interesse am Buch bildet sich aber insbesondere im Kontext seiner Reflexionen über das Judentum heraus, das sich ja als Volk des Buches versteht (vgl. dazu u. a. Drucker 2004, S. 39–41). Seine Bücher tragen mehrfach bereits im Titel programmatisch das Wort „Buch“ (livre)114 und präsentieren sich dadurch als buch-reflexive Werke. Jabès entwickelt in ihnen eine Gestaltung des Buchs durch die Form des rabbinischen Kommentars fort, bezieht aber auch Impulse von Mallarmé ein, ohne diese direkt zu übernehmen (vgl.  









114 Vgl. die deutschen Ausgaben Jabès, Edmond: Das Buch der Fragen. Frankfurt a. M. 1989; Das Gedächtnis und die Hand. Münster 1991; Das kleine unverdächtige Buch der Subversion. München 1985; Der vorbestimmte Weg. Berlin 1993; Die Schrift der Wüste. Gedanken, Gespräche, Gedichte. Berlin 1989; Ein Fremder mit einem kleinen Buch unter dem Arm. München 1993; Es nimmt seinen Lauf. Frankfurt a. M. 1981; Verlangen nach einem Beginn, Entsetzen vor einem einzigen Ende. Stuttgart 1992; Vom Buch zum Buch. München 1989.  



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Erbertz 2000, S. 146–151, insbesondere über die bei Mallarmé und bei Jabès unterschiedliche Konzeption des absoluten Buches, ebd., S. 150). Le Livre des Questions (Paris 1963, dt. Das Buch der Fragen) präsentiert sich inhaltlich wie gestalterisch als Dokument einer Befragung des Buchs selbst. Anlass der Befragung des Buchs (das dabei unter anderem metonymisch für Sprache, Textwelten und Literatur steht) ist unter anderem die nach der Möglichkeit von Literatur nach der Shoah (vgl. ebd., S. 112–119 sowie Schneider 1998; Ingold 2004; Legueil 1994). Die Ebene des Inhalts und die der Textstrukturierung sind in Jabès’ Büchern aus dem französischen Exil nicht – oder doch nur begrifflich und zu heuristischen Zwecken – zu trennen. Ein Modell, das sich auf beiden Ebenen niederschlägt, ist das der Befragung und befragenden Kommentierung eines heiligen Textes durch seine Kommentatoren. Jabès’ Texte sind komponiert aus vielfältigen, teils in Reihen nacheinander sprechenden, teils dialogisch interagierender Stimmen. Diese alle haben Anteil am Befragungsprozess; der Gegenstand der Befragung selbst wird repräsentiert durch das Weiß der Seite und die reine Form des Buchs. Strukturell abgebildet wird der Befragungsprozess durch das wechselvolle Seitenlayout, das die Seitenflächen und Seitensequenzen zum Raum der (Selbst-)Darstellung der verschiedenen Stimmen werden lässt. Aufeinander folgend und miteinander im Dialog, stehen die Stimmen-Textblöcke wie isoliert auf den Seiten, oft als Zitate markiert, analog vor allem zu Kommentaren heiliger Texte. Die Sprecherperspektiven wechseln. Narrative Textpassagen wechseln mit reflexiv-kommentierenden und lyrischen Partien. Kursivierungen von Textteilen, Einrückungen sowie zitatspezifische Formen der Textgestaltung (Kombinationen von Zitat und zugeordnetem Namen) bestimmen das Textbild und lassen das Werk auch visuell zu einem „Buch der Fragen“ werden. In anderen Buchpublikationen verfährt Jabès ähnlich, so in Un Étranger avec, sous le bras, un livre de petit format (Paris 1989). Die Auffaltung des Buchs wird zum Sinnbild und zur Metonymie der Auffaltung von Sinn, der Erschließung von unerschöpflichen Bedeutungsmöglichkeiten, aber auch der Zersplitterung und Fragmentierung scheinbar geschlossener Bedeutungseinheiten – bis hin zur Vokabel.  











Man öffnet ein Wort wie man auch ein Buch öffnet: es ist die gleiche Geste. Und dieses Auftun ist ein Aufbrechen. Wir geben uns Rechenschaft darüber, wie weitgehend der Sinn eines Wortes in der Praxis eine abgekartete Sache ist, und wie wenig verläßlich die einhellige Annahme eines Wortsinns zu sein pflegt. (Jabès 1989, S. 33)  

MSE

A 6.7 Mallarmé-Rezeption im Künstlerbuch Mallarmés Inhalt und Gestaltung aufeinander beziehendes Vorgehen steht am Anfang einer künstlerischen Entwicklung, die die Grenze zwischen Konzeption und Produktion wie auch die zwischen den Kunstgattungen aufhebt. Diese Arbeitsweise wird zum

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Teil A Aspekte des Buchs

Prinzip der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts und kommt bei der Produktion von Büchern zum Tragen. Innerhalb praktisch aller stilistischen Ausprägungen erhält das Buch als grenzüberschreitendes und Innovationen hervorbringendes Medium seinen Stellenwert. In einem auf 1954 datierten Manifest bezeichnet Eugen Gomringer Stéphane Mallarmé als eine der treibenden Kräfte, die die Freisetzung des Wortes aus seinen syntaktischen Zusammenhängen bewirkt hätten. Dem einzelnen Wort wie auch dem Buchstaben wäre damit Raum gegeben, als eigenständiger Ausdruckswert zu wirken (Gomringer 1989, S. 85). Zunehmend Relevanz als aussagekonstituierende Anteile erlangen Räumlichkeit und Objekthaftigkeit des Buches. Der von Mallarmé gesetzte Impuls bekundet sich unter anderem in dem 1965 von Phyllis Johnson begründeten Aspen Magazine, das als erste dreidimensionale Zeitschrift bezeichnet und entsprechend seine Ausgaben in Form von Schachteln ediert wurden. Die Nummer 5–6 von 1967 ist Mallarmé gewidmet.115 Durch die Box ergibt sich eine Ausweitung des Editionskontextes, weil Ton- und Bildträger wie auch andere Beigaben problemlos aufgenommen werden können. Die räumliche Ausweitung erinnert an eine der Vorstellungen, die Mallarmé für das Buch entwickelte. Wiederholt verwendet er in seinen Aufzeichnungen die Bezeichnung „bloc“ und „coffre“ (vgl. Scherer 1957, Blatt 39, 40; S. 53). Die Mallarmé gewidmete Ausgabe des Aspen Magazines vereint Texte, die Überlegungen Mallarmés aufgreifen und fortschreiben, darunter solche von Roland Barthes, Susan Sontag und George Kubler.  





Rezeptionslinien. Die Rezeption Mallarmés ist im Wesentlichen durch zwei miteinander verknüpfte Gedankenstränge motiviert, deren einer sich in der typografischen Form des 1897 erstmals in Cosmopolis abgedruckten Gedichts Un coup de dés manifestiert, und deren anderer sich in Überlegungen ausdrückt, das absolute Buch zu schaffen. Dass Mallarmé für den Abdruck von Un coup de dés genaue Angaben zur Schrift, zum Zeilenfall und der Positionierung der Worte auf der Seite gemacht hatte, prägt das Nachleben seines Werks nachhaltig. Der 1914 in der von Mallarmé gewünschten Form erschienene Text regte zur Appropriation im Künstlerbuch an.116 Maßgeblich wirkt dabei u. a. die Konzeption einer poetischen Form, die ihre klangliche Dimension visuell auszudrücken sucht.117 Die mit den einzelnen Worten assoziierte Intonation  

115 Aspen Magazine, Nr. 5–6, Herbst-Winter, 1967, hg. u. gestaltet von Brian O’Doherty, New York: Roaring Fork Press. Zweiteilige Box, 21 x 21 cm, enthält Essays von Roland Barthes (The Death of the author), George Kubler (Style and the Representation of Historical Times), Susan Sontag (The Aesthetics of Silence) und 28 Gegenstände und Drucke, einschließlich einiger Anzeigen. 116 Bereits im Vorwort der ersten Veröffentlichung von Un coup de dés in der Zeitschrift Cosmopolis im Mai 1897 hatte Mallarmé die von ihm geschaffene neue Lyrik mit der Entstehung von Musik verglichen. Vgl. Mallarmé, Stéphane: Observation relative au poème. Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. In: Cosmopolis 17 (1897), S. 417–427, hier S. 418. 117 „Le vers ne doit pas, là, se composer de mots, mais d’intentions, et toutes les paroles s’effacent devant la sensation.“ Mallarmé im Brief vom 10. Oktober 1864 an Cazalis. In: Mallarmé 1995, S. 206.  













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soll am Schriftbild ablesbar sein, Schriftschnitt, Spationierung, Zeilenfall und Freiräume den Ausdruck tragen. Die Organisation des Schriftbildes erstreckt sich auf die gesamte Fläche der Doppelseite, die, einem sich im Laufe der Aufführung verändernden Szenenbild vergleichbar, auf die vorangehende und nachfolgende Seite bezogen ist. Die typografische Ordnung soll die Linearität des Textes aufbrechen und die Simultanität einzelner Passagen betonen. Textkonzentration, etwa die Formierung von Wortgruppen, und entsprechend unbedruckt belassene Stellen sollen Beschleunigung oder Verlangsamung des Textflusses signalisieren, wobei die freien Stellen gleiches Gewicht erhalten wie die gedruckten Worte. In ihnen manifestiert sich eine die Wirkung der Wortlaute steigernde Stille.118 Die Sprachzeichen sollen, so eine weitere rezeptionsprägende Idee Mallarmés, durch ihre Konstellation eine Ablösung der Worte von der dinghaften Welt ermöglichen, der einzelne Buchstabe auf dem weißen Papier wie ein Stern am Himmel wirken. Insbesondere Mallarmés mehrfach angesprochene Vorstellung von einem absoluten Buch, das in seiner Unergründlichkeit dem kosmischen Raum gleichkäme, stimuliert weitergehende künstlerische Ideen. Dieses gedachte Buch ohne feste Ordnung soll jederzeit weitere Inhalte aufnehmen, und die schon vorhandenen sollen in Korrespondenz zur Lektüre in eine neue Reihenfolge gebracht werden können (Scherer 1959, S. 24). Deshalb soll das Buch nicht gebunden sein, die einzelnen Seiten können lose zusammenliegen. Indem er bewusst darauf verzichtet, Form, Inhalt oder Bedeutungen festzulegen, gibt Mallarmé einer offenen Lektüre Raum, die seiner Auffassung einer totalen Literatur korrespondiert (ebd., S. 81). Auch die in Verbindung mit dem Buch verwendete Terminologie ist nicht eindeutig, vielmehr so weit gefasst, dass sie immer neue Varianten der Konzeption des Buches hervorbringt.  



Buchkünsterische Echos von Un coup de dés. Gerade die gleichermaßen unkonventionellen wie stellenweise auch unklaren Vorstellungen Mallarmés liefern Inspiration für das Künstlerbuch der Gegenwart. Primäre Referenz ist Mallarmés Gedicht Un coup de dés mit der ihm eigentümlichen Typografie. Von Interesse sind die strukturelle Organisation der Seite, die Überwindung der Fläche und das räumliche Kontinuum, das sich von der einzelnen Seite über den Buchraum ausweitet. Appropriation und Adaption stehen neben Transformation und Transgression, sie finden Umsetzung in Modi, die vom gedruckten Buch bis zum E-Book und der temporären Performance reichen. Literarische Praktiken wie ‚Poetry of Punctuation‘ oder ‚Erasure Poetry‘ stellen Vorgehensweisen bereit, die durch Auslöschen oder Unsichtbarmachen den Bestand einer einzelnen Seite auf wenige Elemente reduzieren. In einigen Fällen formieren sich die verbliebenen Elemente zu Ideogrammen, die Konstellationen von Himmels-

118 „L’armature intellectuelle du poëme se dissimule et tient – a lieu – dans l’espace qui isole les strophes et parmi le blanc du papier: significatif silence qu’il n’est pas moins beau de composer que le vers.“ Mallarmé, Stéphane: Sur Poe. In: ders. 1995, S. 872.  





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Teil A Aspekte des Buchs

körpern gleichen und darüber an den von Mallarmé evozierten Vergleich der Typografie mit einer Sternenschrift erinnern. Marcel Broodthaers. Als eine der ersten Appropriationen von Mallarmés Gedicht Un coup de dés ist die des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers zu nennen, unter anderem, weil sich in seinem Konzept verschiedene Ansätze Mallarmés durchdringen und darüber hinaus Einfluss auf die buchkünstlerische Mallarmé-Rezeption nehmen. Zentrale von Mallarmé am Gedicht Un coup de dés entwickelte Gedanken einer raumgreifenden Schrift visualisiert Broodthaers im installativen Zusammenhang seiner Exposition littéraire. Als begehbares Buch gestaltet, finden sich in der Ausstellung Überlegungen Mallarmés konkretisiert, in Formulierungen wie „le livre, expansion totale de la lettre“ eingingen. Bei der Edition seiner Appropriation von Un coup de dés berücksichtigt Broodthaers die Editionsgeschichte von Mallarmés Ausgabe, indem er ebenfalls drei verschiedene Versionen drucken lässt. (Mallarmés 1914 gedruckte Auflage umfasste Exemplare auf Japanpapier, auf Hollandpapier und auf gewöhnlichem Papier, Broodthaers’ Ausgabe 10 Exemplare auf Aluminiumplatten, 90 Buchexemplare auf transparentem und 300 auf gewöhnlichem Papier). Von Mallarmé übernimmt er die Komposition, ersetzt jedoch die Schriftzeilen durch schwarze Balken, die entsprechend der Größe der Typen und der Längen der Zeilen variieren. Kursivdruck ist durch schrägen Anschnitt der Balken kenntlich gemacht. Auf die syntagmatische Auflösung weist er nachdrücklich hin, indem er den Mallarmés Ausgabe kennzeichnenden Titelzusatz „Poème“ durch „Image“ ersetzt. Zusätzlich stellt er seiner Ausgabe den integralen Gehalt von Mallarmés Gedicht voran, doch in einer von ihrem visuellen Erscheinungsbild gelösten, zum Blocksatz komprimierten Weise. Michalis Pichler/Michael Maranda. Metasprachliche Appropriationen kommen in den Arbeiten von Michalis Pichler und Michael Maranda zum Tragen, indem beide die Organisation der Buchseite von Mallarmé übernehmen, aber die an die Sprachzeichen gebundene textliche Determinierung von „poème“ bildkünstlerisch überformen (Pichler, Michalis: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Sculpture. Berlin: „Greatest hits“, 2008, 32 Seiten, 32,5 x 25 cm; vgl. Gilbert 2014, S. 373–376; Maranda, Michael Gerard: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Livre. Toronto: Art Metropole and Parasitic Venture Press, 2008, 32 Seiten, 25 x 33,5 cm). Pichler stanzt Zeilen aus den Seiten aus und wendet somit sowohl auf die Buchseite wie im Weiteren auch den Buchkörper ein dem skulpturalen Arbeiten entsprechendes Vorgehen an, während Maranda zwei ausdrucksrelevante und für das Buch konstitutive Konzepte zusammenführt. In einer doppelten Appropriierung von Mallarmés und Broodthaers’ Konzept gelangt Maranda zu seiner Version, die dem textlichen und bildlichen Ausdruck den Begriff „livre“ hinzufügt. Hatte Mallarmé dem Titel von Un coups de dés um den Zusatz „poème“ spezifiziert, der dann in der Adaption von Broodthaers durch „image“ ersetzt worden war, so fügt Maranda noch „livre“ an. In seiner Umsetzung druckt er die drei den Titel erweiternden und das Konzept konstituierenden Begriffe übereinan 













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der. Ebenso werden auf dem Buchtitel auch die Autorschaften der drei Konzepte zusammengeführt, also die Namen von Mallarmé, Broodthaers und Maranda übereinander gedruckt. Um die Filiation zu Broodthaers wie zu Mallarmé zu betonen, überlagert Maranda weiterhin im Vorwort die originale französische Version mit einer englischen, wobei er letztere mit einer Online-Übersetzungshilfe aus einer Zwischenübersetzung ins Niederländische generiert hat. Die Übersetzung ist mit weißen Lettern über die schwarz gedruckte französische Version gedruckt, so dass die weißen Buchstaben die schwarzen zum Teil verdecken und ein fragmentiertes Textbild provozieren. Beim nachfolgenden Gedicht überdruckt Maranda den französischen Text mit weißen Balken. Durch solche Balken, allerdings schwarz gedruckt, hatte Broodthaers in seiner Adaption von Un coup de dés Mallarmés Text ersetzt. Maranda behält zwar den französischen Text bei, doch tritt er durch das Überdrucken mit den weißen Balken ebenso wenig in Erscheinung wie in Broodthaers’ Version, wobei das Layout von Marandas Buch dem von Broodthaers’ entspricht. Guido Molinar. Auch Guido Molinars Mallarmé-Rezeption erfolgt auf einer Metaebene, indem sie Broodthaers’ Transformation miteinbezieht. Die zu schwarzen Streifen reduzierten Zeilen in Broodthaers’ Version reproduziert er in einer der Grundfarben Rot, Blau oder Gelb und ersetzt auch die weiße Fläche durch einen farbigen Untergrund. Die schriftentbundenen Farbkompositionen wechseln in Molinars Ausgabe mit solchen, die Mallarmés Text in seinem originalen Erscheinungsbild wiedergeben. Der von Molinar für sein Buch gewählte Titel Équivalence hat folglich mehrere Bezüge, weist er doch zum einen auf die Äquivalenz der aus Farbfeldern komponierten Seiten zu den reinen Textseiten hin, zum anderen auf die der Farben, die mit ihrer Tongebung innerhalb der einzelnen Seite gleichberechtig nebeneinanderstehen. Die von Molinar gewählten Kombinationen bilden keine Kontraste mehr und lösen sich somit von der von Mallarmé als konstitutiv für den Ausdruck erachteten Wirkung, die die schwarz gedruckten Lettern auf dem weißen Grund entfalten. Da Molinar Farbe auf Farbe stellt, geht der Unterschied von Vorder- und Hintergrund ebenso verloren wie der von bedruckter und unbedruckter Fläche (Molinar: Équivalence. Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, Montreal 2003, 104 Seiten, 34 x 25,5 cm, 500 Exemplare). Indem nun keine Stelle mehr unbedruckt bleibt, geht auch jener freie Raum verloren, den Mallarmé als Ausdruck des Schweigens definiert hatte, das sich dem Klang der gedruckten Worte entgegenstellt.  





Bennequin, Engramer. Zboya. Downsbrough. Manson. Einem ludischen Ansatz folgt Jérémie Bennequin, der seine Komposition von Un coup de dés jamais n’abolira le hasard in einer Transformation des Titels dem Zufall unterstellt (Bennequin, Jérémie: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Omage. Dé-Composition 1.X. Paris: Selbstverlag, seit 2009, 28 Seiten, 19 x 13,5 cm). In einer auf Partizipation angelegten Aktion legt der Künstler durch Würfelwurf fest, welche Silbe in Mallarmés Poem gelöscht werden soll. Das erwürfelte Ergebnis wird jeweils am Ende einer Performance gedruckt,  





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weshalb die einzelnen Ausgaben von Bennequins Buch unterschiedlich sind. Sammy Engramer berücksichtigt die mediale Transformation, der das Gedicht durch seine Artikulation unterliegt (Engramer, Sammy: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Onde. Tours: Laura Delamonade, 2010, 32 Seiten, 34 x 24 cm, 500 Exemplare). Er zeichnet das Klangbild des mündlich vorgetragenen Gedichtes in Schallwellen-Schwingungsdiagrammen nach, die dann anstelle der Zeilen auf die Seiten gedruckt werden. Die unterschiedlichen Amplituden der Kurven entsprechen den Lauten des mündlichen Vortrags der einzelnen Worte und Zeilen von Mallarmés Gedicht. Einer medialen Ausweitung unterliegt auch Eric Zboyas Mallarmé-Rezeption. Er übersetzt die Schrift von Un coup de dés in dreidimensionale Konstellationen, einmal indem die Buchstaben um ihre Achse gedreht werden, einmal indem die Schrift als stereoskopische Projektion wiedergegeben wird, ein weiteres Mal in der Wiedergabe einer durch einen Computeralgorithmus ermittelten Grafik (Zboya, Eric: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard: Translation in Higher Dimension, E-Book, 2011, 100 Seiten). Peter Downsbrough nimmt in seinem Buch In Passing über Fotografien Bezug zu Mallarmés Gedicht (Downsbrough, Peter: In Passing. Paris: Éric Fabre, 1982, 120 Seiten, 19,5 x 13,7 cm; vgl. Mœglin-Delcroix 2012, S. 287f.). Seiten mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Würfeln wechseln mit solchen, auf denen ein einziges Verb wie „take“, „cut“, „move“, „fix“, „hold“ zu lesen ist. Die Verben verweisen auf Handlungen, die auszuführen sind, nachdem sie ausgewürfelt wurden. Zu diesem Zweck sind die Würfel, die Downsbrough für sein Konzept vorsieht, anstelle von Zahlenzeichen mit Verben versehen. Der sich über die Seitenabfolge entfaltende Wechsel von Fotografien und Worten verweist auf die Aktion, deren einzelne Schritte durch das Auswürfeln festgelegt wurden. Der sich so zwischen Bild und Begriff entfaltende Dialog kommt einer Regieanweisung gleich, durch die die tatsächliche Aktion im Buch nachvollzogen werden kann. Das Blättern der Seiten bindet die zeitliche Dimension ein, die das Spiel mit den Würfeln zugrunde legt, aber auch an den subjektiven Anteil, dem sowohl Spiel wie auch Lektüre unterstehen, wird durch die Abbildung der Würfel erinnert. Über das Motiv fallender Würfel, das seit der Konzeption von In Passing vom Künstler wiederholt aufgegriffen wurde, stellt Downsbrough zudem einen konkreten Bezug zu Mallarmés Gedicht Un coup de dés her. Peter Mansons Auseinandersetzung mit Mallarmé besteht in der Eingrenzung des Textmaterials, die mit der Ablösung vom französischen Original und einer Akzentuierung englischsprachiger Begriffe auf Transferierung in einen anderen textsprachlichen Raum zielt (Manson, Peter: English in Mallarmé, E-Book, 2006 http://ubu.com/ ubu/unpub/Unpub_010_Manson_Mallarme.pdf; Abruf: 20.12.2017). Aus einer Auswahl von 85 Gedichten Mallarmés sucht Manson Wortteile heraus, die ein englisches Wort ergeben (beispielsweise extrahiert er aus „craindre“ „rain“). Mit weißer Farbe eliminiert er alle weiteren Textteile um die vermeintlichen englischen Worte herum. Damit bleibt der Text in seiner ursprünglichen Organisation erhalten, die Wortteile erscheinen an den Stellen, an denen sie auch im vollständigen Textfluss stehen. Es entstehen fragmentarische Gebilde, die in ihrer Gestalt bisweilen an Mallarmés Un  











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coup de dés erinnern. Manson charakterisiert sein Werk als „unsystematischen Einsatz einer Contrainte“, einer Beschränkung des Textmaterials (ebd., S. 269). Durch die Publikation in digitaler Form suggeriert er zugleich eine beständige Wandlungsfähigkeit des Textes, die auch Erweiterungen mitbedenkt.  

Variationen über das absolute Buch. Außerhalb von Un coup de dés werden Mallarmés Vorstellungen vom absoluten Buch zur Referenz buchkünstlerischen Arbeitens, etwa bei dem von Klaus Scherübel 1999 begonnenen Projekt, das im Entwerfen von Umschlägen für das von Mallarmé als Le Livre projektierte, aber niemals publizierte Buch bestehen. Der Künstler reagiert auf die Unmöglichkeit einer Realisierung von Mallarmés absolutem Buch mit einem Umschlag, der sich um einen Styroporblock legt. Das leere Buch liegt in einer deutschen, einer englischen und einer französischen Ausgabe vor (Scherübel, Klaus: Mallarmé, Das Buch/The Book/Le Livre, 1999–2005, drei Buchumschläge, Styropor, Verlag der Buchhandlung Walter König und Printed Matter, New York 2004, Optica et MUDAM = Musée d’art modern Grand Duc Jean, Montreal u. Luxemburg, 2005). Der Umschlag enthält mit ISBN und Klappentext die buchrelevanten Paratexte, obwohl das Buch selbst nicht über die buchkonstituierenden Eigenschaften verfügt. Die ‚Buchhandelsausgaben‘ sind Teil einer größeren Installation, die u. a. eine ‚Salle de lecture‘, eine vergrößerte Kopie des Buchumschlages und eine Serie von Fotografien beinhaltet. Die Fotografien bilden Buchhandlungen und Bibliotheksräume ab, in denen jedes Mal der vom Künstler konzipierte Umschlag für Mallarmés Le Livre zu sehen ist, zugleich aber auch, dass der Umschlag kein Buch enthält. Über die in den Aufnahmen dargestellten Situationen kontrastiert Scherübel typische Praktiken der Distribution und Rezeption von Büchern mit der Leerstelle, die das von Mallarmé nicht publizierte Livre bildet.  

Villers, Barry. Auch Bernard Villers greift bei seinen Übersetzungen von Texten in Abfolgen von Farbstreifen auf Texte Mallarmés zurück. Den Quellentext stellt er an den Beginn seiner farbkompositionellen Ausführungen, die als eigenständige semiotische Sequenz keinen weiteren Text mehr enthalten oder wie in Mallarmé 1897 sich als eine auf wenige Worte reduzierte Linie durchs Buch ziehen (Villers, Bernard: Mallarmé 1897. Bruxelles: Collection du Commerce, 1979, 16 Seiten, 10,5 x 7,3 cm, 100 Exemplare; vgl. Villers 2016, S. 122–125). Wort für Wort und Seite für Seite formiert sich ein den Divagations entnommenes Zitat Mallarmés über die Falzung im Buch. In anderen Fällen erfolgt die Mallarmé-Rezeption vermittelt über einen Dritten, wie beispielsweise in Villers Buch Un Livre sur rien, dessen Titel einem Zitat von Gustave Flaubert entlehnt ist. Flaubert scheint den von Mallarmé um das absolute Buch kreisenden Überlegungen vorzugreifen, als er schrieb: „Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur le rien, […], un livre qui n’aurait presque pas de sujet ou du moins le sujet serait presque invisible.“ (Flaubert 1974, S. 158) Robert Barry knüpft über eine Reihe verbalsprachlicher Äußerungen an die Vorstellung vom absoluten Buch an, indem er buchkonstituierende wie -charakterisieren 









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Teil A Aspekte des Buchs

de Eigenschaften in Wortlisten aufsummiert, die den Inhalt eines zweibändigen von ihm konzipierten Werkes bilden (Barry, Robert: Two pieces. Torino: Sperone Editore – Editarte, 1971, 2 Bücher à 45 Blatt, je 16,5 x 11,3 cm). Barrys zwei Bände umschließendes Werk Two pieces ist so minimalistisch wie sein Titel, der bereits auf die Zweiteiligkeit hinweist und dessen Schlichtheit sich in der übrigen Gestaltung fortsetzt. Beide Bände scheinen nahezu identisch und enthalten nichts weiter als eine Folge einfacher Aussagen, die Satz für Satz jeweils auf den recto-Seiten abgedruckt sind, während die verso-Seiten frei bleiben. Weder das äußere Erscheinungsbild noch der freibleibende Raum lassen ahnen, dass Barrys reduzierte Darstellung eine komplexe Beschreibung dessen liefert, was ein Buch ist, was es erfüllen und was es nicht erfüllen kann. So enthält jeder der lediglich aus einem neutralen Pronomen und dem Hilfsverb „sein“ gebildeten Sätze ein auf die Eigenschaften des Buches bezogenes Adjektiv, wobei die Abfolge eine vollständige Darstellung des Gegenstandes liefert, so etwa „It is varied“, „It is ambitious“, „It is changeable“ etc. Erst im zweiten Band finden sich einige Sätze eingestreut, die mit „It can be“ beginnen, etwa „It can be rejected“. Von diesen nur gelegentlich auftretenden Varianten abgesehen unterscheiden sich die sonst gleichförmigen Sätze, die Seiten und schließlich auch die beiden Bände nur über die von Satz zu Satz wechselnden Adjektive. Und da an keiner Stelle der Begriff ‚Buch‘ auftritt, erschließt sich der Bezug erst über die fortschreitende Lektüre, also den Umgang mit dem Gegenstand, den der Leser in der Hand hält.  







Allusive Mallarmé-Rezeption. Vor dem Hintergrund von Mallarmés Postulat, dass alles in der Welt dazu bestimmt sei, ins Buch einzugehen, erweitert sich der Rahmen für die künstlerische Rezeption insofern, als nun die von Mallarmé mit dem Buch in Verbindung gebrachte Metaphorik als Inspirationsquelle für buchkünstlerische Konzepte aufgegriffen wird. So etwa hat Mallarmé ja seinen Vorstellungen vom absoluten Buch wiederholt Vergleiche gegenübergestellt, die den unendlichen Raum des Kosmos oder den nächtlichen Sternenhimmel einbeziehen. Einen bedeutenden Stellenwert erhalten bei ihm weiterhin der freie Raum, die Abstände und Zwischenräume zwischen den Zeilen und Buchstaben wie überhaupt die unbedruckten Stellen einer Seite. Auf diese Vergleiche reagieren zeitgenössische Künstler mit Buchkonzeptionen, die nicht explizit Mallarmé als Referenz angeben, wohl aber dessen Vorstellungen vom absoluten Buch anklingen lassen. All diese buchkünstlerischen Umsetzungen profitieren davon, dass Mallarmé an keiner Stelle seine Überlegungen zum absoluten Buch zusammengefasst oder je eine eindeutige Definition geliefert hat. Die künstlerische Rezeption von Mallarmés Buchkonzeption erfolgt in erster Linie über eine Auseinandersetzung mit den freien Räumen im Buch und den in ihrer vollen Bedeutung häufig unterschätzten unbedruckten Stellen einer Seite. Relevant ist in diesem Zusammenhang die mit den Leerstellen assoziierte Bedeutungsfülle, die der freie Raum beinhalten kann. Reflektiert wird über die grundsätzliche Möglichkeit, über Worte, Begriffe, Zeichen oder Bilder zu einem den Aussageabsichten adäquaten Ausdruck zu gelangen. Indem eine an Akustik, Optik wie auch physische Verfasstheit orientierte

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Metaphorik einbezogen wird, werden weitere Ausdrucksmöglichkeiten in Aussicht gestellt (vgl. Hirsch, Antonia: Komma (after Dalton Trumbo’s Johnny Got His Gun). Vancouver: Fillip Editions, 2010, 316 Seiten, 20,3 x 14 cm, 500 Exemplare).  





Himmels-Bilder. Einen häufig aufgegriffenen Ansatzpunkt für die künstlerische Rezeption von Mallarmés Buchkonzeption bildet der Vergleich der Buchseite mit dem Sternenhimmel. So etwa beginnt Gerhard Rühm zu Beginn der 1960er Jahre bei seinen Vertuschungen Satzspiegel zu schwärzen und dabei ausgewählte Begriffe auszusparen, so dass aus der schwarzen Fläche Konstellationen hervorgehen, die als Ideogramme der von Mallarmé evozierten Schrift am Himmel gelesen werden können (vgl. Rühm 2006, S. 651–662, insbes. reduzierte zeitung 2 und 3, S. 654f.). „Im zusammenhang gesehen sollten sie eine freischwebende konstellation im sinne der ‚konkreten poesie‘ ergeben.“ (Rühm, in Folie 2008, S. 70) Das einzelne Wort wirkt wie ein „schallereignis, ein zusammenklang“, der assoziationsweckende Empfindungen auslöst. Vor diesem Hintergrund erhalten auch die verwendeten Materialien ihre Bedeutung. Diesen Prozess weitet Rühm über ganze Seitenfolgen aus, wobei vollständig geschwärzte Satzspiegel als Pausen bestimmt sind, die Verzögerungen und Spannung erzeugendes Schweigen andeuten und das Umblättern als zeitstrukturierende Handlung den prozessualen Charakter des Lesens bewusst macht (reduzierte zeitung (neue tageszeitung), 1962; Übermalung von sechs Titelseiten der Österreichischen Neuen Tageszeitung: Dienstag 7.8. bis Sonntag 12.8.1962, in: Folie 2008, S. 70f.). Antonia Hirschs Buch Komma (after Dalton Trumbo’s Johnny Got His Gun) steht zwar in einem formalästhetischen Bezug zu dem von Mallarmé evozierten Vergleich der Textseite mit einem nächtlichen Sternenhimmel, beruht aber auf dem Antikriegsroman Johnny Got His Gun von Dalton Trumbo als Quellentext. Das Buch illustriert die Empfindungen eines schwer verstümmelten Überlebenden des Ersten Weltkriegs. Die über die schwarzen Seiten verteilten, weiß gedruckten Kommata reflektieren akustische Zeichen, die dem Verletzten als einzige Artikulationsform bleiben, gleichzeitig aber auch den vom Schwarz der Seiten aufgesogenen Primärtext. Suggeriert wird, dass die körperliche Versehrtheit des Protagonisten den sinnlichen Zugang zur Welt soweit einschränkt, dass er nur mehr über wenige Punkte überhaupt Kontakt zu ihr aufnehmen kann.  







‚Poetry of Punctuation‘. Die ‚Poetry of Punctuation‘ legt den Schwerpunkt ihrer Aussage auf einen semiotischen Restbestand der Alphabetstruktur und konzentriert sie vorrangig auf Interpunktion und alphabetergänzende Sonderzeichen (vgl. Thurmann-Jajes 2012). Leitende Komponenten sind Sprachverzicht, Akzentuierung von Leerstellen und Neuorganisation der spatialen Struktur. Sie führen zu einer Transformation tradierter Textbilder und verändern die Wahrnehmung der Buchseite, die sich nicht allein in der Fläche konstituiert, sondern die Medialität des Buches mitbedenkt. Aus der in den buchkünstlerischen Kontext eingebrachten Reduktion des Textbildes gehen formalästhetische Konzepte hervor, die an Mallarmés Projektionen anknüpfen.

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Teil A Aspekte des Buchs

So sind sie entweder an der Metaphorik von Mallarmés Buchseite als Sternenbild orientiert oder stellen ein visuelles Äquivalent bereit, das in vergleichbarer Weise auf eine Neukonzeptionierung von Buchraum und -funktion ausgerichtet ist wie Mallarmés Entwurf des absoluten Buches. In anderen Fällen werden auf den Buchraum einwirkende Kontexte assoziiert, wie Restriktionen durch Zensur (beispielsweise in Ritmo D. feeling the blanks von Riccardo Boglione, Montevideo um 2009, 116 Seiten, 19 x 13 cm, Auflage: 200 Exemplare). Die dem freien Raum zuerkannte Bedeutung findet Ausdruck in einer ‚Poetry of Punctuation‘, wie sie bei Carl Fredrik Reuterswärd und Jarosław Kosłowski in den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre Ausdruck erhält. Reuterswärds Buch Prix Nobel enthält nichts weiter als die Interpunktion eines Textes, der selbst nicht mehr in Erscheinung tritt (Reuterswärd, Carl Fredrik: Prix Nobel. Stockholm: Selbstverlag 1960, 96 Seiten, 17 x 12 cm). Für Reuterswärd liegt in der Absenz eines Inhalts die Aussagekraft der Satzzeichen. Aus der stummen Sprache der Zeichen ergeben sich Bezüge zu der Sternensprache Mallarmés, die in ähnlicher Weise ohne konkrete Mitteilung bedeutsam erscheint.  











Kosłowski, Goldsmith, Maranda, Büchler. Auch Jarosław Kosłowski thematisiert Sprachverzicht, wenn auch aus anderem Grund als Reuterswärd, obwohl die auf Satzzeichen reduzierten Seiten seines Buches Reality denen in Reuterswärds Buch fast vollkommen gleichen. Anders als bei Reuterswärd ist in Reality der weggelassene Text sinnstiftend. Zugrunde gelegt ist Kants Kritik der reinen Vernunft: Von dem Grunde der Unterscheidungen aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena, dessen epistemologische Überlegungen eine Form von Wirklichkeit reflektieren, die Kosłowskis Ansatz entspricht. Gezeigt werden soll, dass Sprache nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern diese nur mittels ihrer symbolischen Konstruktion widerspiegelt (Kosłowski, Jarosław: Reality. Poznań 1972, 24 Seiten, 20,4 x 14,7 cm, Offsetdruck). Die Satzzeichen vermitteln, „was sich einer Konfrontation mit der außersprachlichen Wirklichkeit entzieht“ (ebd.). „Sie haben kein Designat, auch wenn sie – zugleich – nicht leer sind; sie sind in Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit neutral.“ (Ebd.) Kenneth Goldsmith artikuliert sich in seinem Buch Gertrude Stein on punctuation über Textlöschung, die er über das Residuum, die übrig gelassenen Satzzeichen kommentiert. Sein Buch enthält den Text einer Vorlesung Steins über Interpunktion, der selbst nicht in Erscheinung tritt, auf den Goldsmith aber über einen kurzen Auszug aus Steins Poetry and Grammar in Lectures in America (1935) verweist (Goldsmith, Kenneth: Gertrude Stein on punctuation. Newton, NJ: Abaton Books, 2000, 5 Seiten, 22 x 14 cm, 250 Exemplare). In dieser Vorlesung äußerte sich Stein zu Funktion und Gebrauch von Satzzeichen und stellte sie in eine hierarchische Ordnung. Goldsmiths Umsetzung reflektiert insofern den Inhalt der Vorlesung, als aus seiner Inszenierung deutlich wird, dass Stein die von ihr gering geschätzten Satzzeichen nicht in ihr Skript aufgenommen hat. Stattdessen beschränkt sich die Interpunktion nahezu auf Punkte und Kommata. Mit Syntactic Analyses 1–100 liefert Maranda eine Folge von Büchern, denen Texte zugrunde liegen, die der Künstler allein über ihre Struktur zu vermitteln  















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sucht, etwa die Interpunktion, die als maßgebliches Strukturelement extrahiert wurde (Maranda, Michael Gerard: Syntactic Analyses 1–100. Toronto: Parasitic Ventures Press, 2005, 10 handgebundene Exemplare, 18 x 14 cm und E-Book). Das Resultat unterscheidet sich formal nicht von denen der Bücher Reuterswärds, Kosłowskis und Goldsmiths, wohl aber konzeptionell. Das Vorgehen des Künstlers erscheint insofern kontrovers, als dass er seine Texte als Saprophage bezeichnet und darüber auf Organismen anspielt, die sich von totem, verwesendem Material ernähren. Seine Konzeptionen visualisieren also „aus Überresten der Textgeschichte“ Hervorgegangenes (Gilbert 2014, S. 264). Ein solcher Ansatz setzt die Einverleibung eines Textes voraus, also zunächst eine Aufnahme des intakten Textes, dessen Überbleibsel das Ergebnis einer Verarbeitung sind. Pavel Büchlers Nodds liegen als Basistexte Samuel Becketts Stücke Theatre I und Radio I zugrunde, die 1973 unter dem Titel Ends and Odds erschienen (Büchler, Pavel: Nodds. Bern: Kunsthalle, 2006, ungebundene, gefaltete Blätter, 19,7 x 11,5 cm, Auflage: 500 Exemplare; vgl. Gilbert 2014, S. 292–294). Anstelle einer Wiedergabe des gesprochenen Textes liefert Büchler ein Bild der für die Regie markierten Pausen. Die Seiten seines Buches sind mit dem in Klammern gesetzten Wort „Pause“ übersät. Dadurch rekurrieren sie zwar auf die Lautsprachlichkeit von Mallarmés Gedicht, jedoch in einer dem Gedanken entgegengesetzten Weise, indem nur die Nichtlaute Ausdruck gewinnen, also das lautlich nicht in Erscheinung Tretende, das aber paradoxerweise im Gedruckten gerade Ausdruck erhält.  















Materie und Raum: Morel. Die Bedeutung, die Mallarmé dem Verhältnis von bedruckten und unbedruckten Stellen auf einer Seite zuweist, macht sich in der Rezeption in Konzepten bemerkbar, die die Materialität gedruckter Schriftzeichen und den ihre Bedeutung konstituierenden freien Raum in ein rein quantitatives Verhältnis setzen, wie etwa in Claire Morels Büchern. Ihrem Buch Sans titre legt sie die 1941 in der Reihe Que sais-je erschienene Einführung in die Relativitätstheorie des französischen Astronomen Paul Couderc zugrunde (Morel, Claire: Sans titre. Mulhoues: Selbstverlag, 2009, 128 Seiten, 17,6 x 11,5 cm, Auflage: 10 Exemplare; vgl. Gilbert 2014, S. 408– 410). Leitend für Morels Interpretation ist die von Coudercs explizit gemachte Konzentration, die von einer auf Verstehen zielenden Lektüre eingefordert wird, wie auch die Spiegelung der Relativitätstheorie, die die Wechselwirkung von Materie, Raum und Zeit thematisiert. In Morels Transformation des 1941 erschienenen Buches ist die für jede Seite verwendete Druckerschwärze am unteren Blattrand in einem Streifen schwarzer Farbe konzentriert. In der Aufteilung von bedrucktem und unbedrucktem Raum tritt zugleich die wechselseitige Abhängigkeit von Materialien und Inhalt in Erscheinung. Erst indem die Druckfarbe der Formierung der Buchstaben und Zeichen dient, dadurch die Buchseite überhaupt erst eine Struktur erhält, werden ihre Inhalte les- und erkennbar. Solche Organisation von Struktur bestimmt auch den Ausdruck von La folie du jour, einer Appropriation eines Textes von Maurice Blanchot, bei dem Morel den Text jeder Seite mit leichten Verschiebungen mehrfach übereinander druckt und den Schriftzeichen damit ihre Lesbarkeit entzieht (Morel, Claire: La folie  







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Teil A Aspekte des Buchs

du jour. Maurice Blanchot. Mulhouse: Selbstverlag, 2007, 32 Seiten, 18,5 x 11,5 cm; vgl. Gilbert 2014, S. 327–330). Ein ähnliches Resultat erzielt sie mit einer groben Rasterung der Buchstaben in Sans titre (Morel, Claire: Sans titre. Mulhouse: Selbstverlag, 2008, 64 Seiten, 20,5 x 12 cm; vgl. Gilbert 2014, S. 338–341). Impliziert ist die Spannung von Schrift als Schrift und Schrift als Bild, also die Schriftbildlichkeit von Texten, auf die sich Mallarmé über die typografische Inszenierung von Un coup de dés bezieht und die in vielfältigen Abwandlungen die Basis der künstlerischen Mallarmé-Rezeption bestimmt. VHS  















Teil B Buch-Geschichten: Funktionen und Konzepte des Buchs aus kultur- und wissensgeschichtlichen Perspektiven

Einleitung Buchwerke sensibilisieren nicht nur für die Materialität, die Architektur, die Räumlichkeit und Beweglichkeit von Büchern; sie erinnern auch an die vielen Funktionen des Buchs in der Buchkulturgeschichte und an vieles, wofür es metonymisch steht. Das Buch als Kult- und Gebrauchsobjekt. Durch besondere buchgestalterische Mittel kann das Buch in seiner Eigenschaft als Kultobjekt gekennzeichnet werden; die Geschichte der Bibelillustrationen und der buchgestalterischen Arbeit für heilige, in religiösen Kontexten kanonische sowie für kultbezogene Texte bietet eine reiche Fülle an Beispielen dafür. Neben der Bibel sind auch liturgische Bücher immer wieder zum Anlass aufwendiger Ausstattung unter Einsatz teils kostbarer Materialien geworden (vgl. zu diesem Gegenstandsfeld u. a.: Steenbock 1965; Ernst 2013). Die religiösen Kulte der großen Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam finden gleichsam ihre Fortsetzung in einem entsprechenden Bücherkult. Das ‚Heilige Buch‘ ist eine für diverse Kulturen prägende Leitidee; vor allem in den Offenbarungsreligionen spielt es eine zentrale Rolle. Buchhistorisch hat die Herausforderung, ‚Heiligen Büchern‘ eine ihnen gemäße äußere Gestalt zu geben, ein vielfältiges Echo gefunden. In der abendländischen Geschichte kostbarer und ästhetisch ambitioniert gestalteter Kodizes spielen Prachtausgaben der Bibel eine entsprechende Sonderrolle. Aber auch Messbücher, Thorarollen, Gebet- und Andachtsbücher haben vielfachen Anlass zu buchgestalterischer Prachtentfaltung geboten. In der Gestaltung von ‚Stundenbüchern‘ durch zeitgenössische Buchkünstler finden sich teilweise Reminiszenzen an die Sorgfalt und den Materialaufwand, der Büchern aus dem religiös-kultischen Umfeld des Mittelalters galt – so etwa in Peter Malutzkis Stundenbuch von 2010. Für die Geschichte künstlerischer Buchausstattung impulsgebend war es u. a., dass Bibeln gerne als kostbare Geschenke produziert wurden und wichtige Stücke in den Sammlungen und Schatzkammern geistlicher wie weltlicher Machthaber bildeten. Die Bedeutung des Heiligen bzw. des kultisch genutzten Buchs wurde im Übrigen nicht nur durch kostbare Materialien und künstlerisch aufwendige Arbeiten signalisiert, sondern manchmal auch schon durch die Größe der Bände (die aber auch mit deren Gebrauchsweisen zu tun haben konnte; vgl. Telesko 2003). Auf Erscheinungsformen und Praktiken des Bücherkults, dem u. a. Jorge Luis Borges einen Essay gewidmet hat (vgl. Borges 2003a), wird in literarischen wie in buchkünstlerischen Arbeiten in vielfältiger Weise Bezug genommen, teils in Anknüpfung an die Idee, durch besonders sorgfältige und mit kostbaren Materialien arbeitende Buchgestaltung der Ehrfurcht vor dem Buch Ausdruck zu verleihen, teils unter parodistischer Akzentuierung. Zu den Spezialfällen in der jüngeren Geschichte des Kultbuchs gehören unter anderem buchgestalterische Realisierungen imaginärer Bücher – wie etwa des von H. P. Lovecraft erfundenen ‚bösen‘ Kultbuchs Necronomicon. Die enge Verknüpfung zwischen dem Buch und dem Kultischen wirkt noch in säkularen und aufgeklärt-nüchternen Kulturen nach. Aleida Assmann etwa erinnert da 











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Teil B Buch-Geschichten

ran, dass Bücher nicht nur zu praktischen Zwecken genutzt werden, sondern uns auch über ihren Nutzwert hinaus etwas ‚bedeuten‘ (vgl. Assmann 2010, S. 156). Darum fällt es uns normalerweise auch schwer, Bücher wegzuwerfen: „Man wirft kein Brot in den Abfalleimer und keine Bücher in den Papiercontainer. Es gibt hier ein kulturelles Tabu, das vielleicht noch ein Nachhall von Miltons Ehrfurcht ist […]“ (ebd., S. 161).  



Das Buch als Speichermedium und Denkhilfe. Bücher dienen der Aufnahme unterschiedlichster Inhalte; schon die zu ihrer Funktionsbeschreibung vielfach verwendete unhintergehbare Doppelmetapher von Behältnis und Inhalt wirkt sich prägend auf die Einschätzung des Buchs und auf seine künstlerische Thematisierung aus. Die Aufnahme von Inhalten dient fast immer deren Speicherung. Bücher dokumentieren, was geschehen ist, sie dienen der Aufhebung von Informationen; sie nehmen insbesondere Wissen auf und halten es verfügbar. Diverse Buchtypen sind primär durch ihre Funktion als Speichermedium von Informationen bestimmt, so die Darstellung von Geschichtlichem, die Chronik, das Historienbuch, der Lebens- und der Reisebericht. Gespeichert werden aber auch naturkundliche und technische Wissensbestände; gespeichert werden Dokumente oder deren Abschriften und Kopien (Faksimiles). Was nicht im Buch steht, ist wie nicht gewesen – so ein Leitgedanke, der sich in vielen buchproduktiven Prozessen niederschlägt. Als Speichermedium übernimmt das Buch zentrale Aufgaben innerhalb von Kulturen und Teilkulturen. Seine Funktion als materialisiertes Gedächtnis, als Informations- und Wissensspeicher, wird von Buchgestaltern und literarischen Autoren genutzt, reflektiert und thematisiert. Besonders evident wird dies anlässlich buchkünstlerischer und literarischer Werke, die auf das Format des Notizbuchs Bezug nehmen, auf das der Chronik oder auf das der Dokumentation. In ihrer Funktion als „Ideenkonserven“ sind Bücher zugleich „Denkmaschinen“ (beide Ausdrücke verwendet u. a. Assmann ebd., S. 156). Indem sie aufheben und verfügbar halten, was andere erfahren, gedacht, gefunden haben oder was der Leser selbst früher erlebt, beobachtet, sich überlegt hat, bilden sie die Grundlage für eine Fortsetzung des Denkprozesses, den ‚Apparat‘, der Gedanken in Bewegung setzt und erhält. Dabei wirkt sich die Gestaltung des Buches auf den Gang des Denkens selbst aus. Seine Architektur und die Anordnung seiner Inhalte beeinflusst nicht nur das Was, sondern auch das Wie der intellektuellen Tätigkeit.  





Wissen und Buchdruck. Die historische Wende vom handgeschriebenen zum gedruckten Text bzw. Buch ist von manchen Buchhistorikern als mindestens ebenso einschneidend wie die zwischen oraler und literaler Kultur betrachtet worden, so etwa von Michael Giesecke (Giesecke 2006). Insbesondere habe die Einführung der Schrift die mündliche Rede ja nicht verdrängt. Weiterhin sei die mündliche Rede besonders prestigeträchtig gewesen, etwa in Form der Predigt; weiterhin sei sie mit Verkündigung assoziiert worden.

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Kultur-und wissensgeschichtliche Perspektiven

Die Einführung der Schrift führte weder praktisch noch im Bewußtsein der Zeitgenossen zur Verdrängung der oralen Formen der Abwicklung sozialer Geschäfte. […] Erst die Durchsetzung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit führte zu anderen, nämlich den bis heute vertrauten Hierarchien. Erst im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert wird die Abwertung oraler Informationen zu einer von breiten Schichten getragenen Erscheinung […]. Diese als ‚Wissen‘ bezeichnete und sowohl der ‚Erfahrung‘ als [auch] der ‚Kunst‘ gegenübergestellte Information ist die ‚Wunschmaschine‘, von der man sich Aufklärung und bürgerliche Wohlfahrt versprach. (Ebd., S. 33)  



Giesecke widmet ein Kapitel der „Wiedergeburt der Wissenschaft als Subsystem des typographischen Informationssystems“ (ebd., S. 665–681); leitend ist die These vom wechselseitigen Bedingungsverhältnis zwischen Buchdruck und spezifisch neuzeitlicher Wissenskultur. Im Abschnitt über „Informationstransformationen in der typographischen Kultur“ (ebd., S. 656–662) finden sich die Folgen des durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelösten „typographische[n] Kreislaufs“ und dessen „Eigendynamik“ dargestellt:  



Immer mehr neue Informationen müssen dem System zugeführt werden, damit es am Laufen bleibt. […] Die Speicher mit den ausgedruckten Informationen wachsen von Jahr zu Jahr, die Bibliotheken und Buchsammlungen verbreitern und vergrößern sich. Nicht mehr das Bewahren von Informationen, wie dies in den oralen und skriptographischen Kulturen der Fall war, sondern ihre Akkumulation und der möglichst rasche Umschlag werden zum Leitprinzip der modernen Kultur./Die Suche nach typographisch verwertbaren Informationen erfaßt […] alle Lebensbereiche. (Ebd., S. 660f.)  

Zu diesen Lebensbereichen gehören auch der Alltag und sein Wissen. Das gedruckte Buch als neues Medium „wird eingesetzt, um den Menschen den Verstand selbst von solchen Dingen und Vorgängen nahe zu bringen, die sie gut kennen“ (ebd., S. 661); praktische Ratgeber und alltagsrelevante Informationsbücher nehmen an Beliebtheit und Verbreitung zu.  

Buch, Zeit und Zeitlichkeit. Gerade weil das Buch etwas relativ Dauerhaftes ist und weil die Inhalte von Büchern – insbesondere Schriften – als Medien gelten, die dabei helfen, sich der Zeit entgegenzustellen, erscheint die Zeitlichkeit des Buchs als ein Thema, das Buchkünstler und literarische Autoren verbindet. Buchkünstlerisch wird die Beziehung zwischen Buch und Zeitlichkeit auf verschiedenen Ebenen inszeniert und unter verschiedenen Aspekten reflektiert; Analoges gilt für die Literatur, etwa für die im Buch dargestellte und dokumentierte Zeitlichkeit bestimmter Objekte, für Prozesse und Geschichten, es gilt für die Produktionszeit, aber auch für die Zeit der Rezeption, zumal wenn diese sich als Rekonstruktion oder sogar als Konstruktion gestaltet. Als eine neue Tendenz im Kontext der ‚Buch-Literatur‘ erscheint insbesondere die Akzentuierung von ‚Bearbeitungsprozessen‘ und ‚Bearbeitungsphasen‘ des Buchs, sei es, dass der Nutzer zu Praktiken aktiver Gestaltung aufgerufen wird, sei es auch, dass – wie in Abrams’ und Dorsts Ship of Theseus – der Eingriff von Lesern ins Buch buchgestalterisch nur simuliert wird. Bücher erscheinen im Spiegel ihrer literarischen und künstlerischen Gestaltung als Medien der Darstellung von Zeitlichem,  







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Teil B Buch-Geschichten

aber auch selbst als etwas Zeitliches. Als Buchobjekte, Buchskulpturen, buchförmige Behälter organischer Materie machen sie oft Vergänglichkeit sinnfällig; als Orte der Fixierung temporärer Spuren leisten sie dem Verschwinden und Vergessen Widerstand. Sie dokumentieren und materialisieren ‚Geschichtliches‘: große und private Geschichte, manchmal auch die Geschichte des Kosmos, der Natur, der Erde. Die folgenden Beispielserien illustrieren an mehreren für die Buchkulturgeschichte wichtigen Themenfeldern, wie sich Buch-Reflexivität konkret als Reflexion über historische Buchtypen manifestiert – als Auseinandersetzung mit der Geschichte spezifischer Gestaltungs- und Nutzungsformen des Kodex. Konzepte und praktische Funktionen, so zeigt sich innerhalb dieser Themenfelder auf verschiedene Weisen, prägen die Gestalt des Buchs und werden durch diese geprägt. MSE  

B 1 Historische Buchtypen als Anlässe künstlerisch-literarischer Buchwerke Wenn für viele Buchkünstler historische Buchtypen zum Anlass künstlerischer Erkundungen des Kodexformats und seiner Derivate werden, so spielen sie auf deren Gebrauchsformen zumindest an, transformieren sie manchmal ins Zeitgenössische. Das Spektrum der künstlerischen Intentionen reicht vom Versuch, in den Spuren historischer Buchtypen jeweils moderne Pendants oder Nachfolger zu schaffen, bis zum zitathaften, manchmal gar parodistischen Spiel mit alten Formaten und Gebrauchsformen des Buchs. Materialien, Farben, Formen, Bilder, Bildprogramme, Typografisches und Layout spielen dabei tragende Rollen, aber auch Texte, Schreibweisen und Diskurse. MSE

B 1.1 Die Bibel in Buchgestaltung und Künstlerbuch Historischer Abriss gestalterischer Auseinandersetzung mit Texten der Bibel. Kaum ein Text hat so viele Anlässe zu künstlerischer Gestaltung gegeben wie die Bibel mit ihren verschiedenen Büchern. Über das gesamte Mittelalter hinweg liefert sie die Grundlage für illuminierte Capitulare, Epistolare, Evangeliare, Lektionare, Missale, Perikopen und Psalterien. Die Anwendungsfelder der jeweiligen Texte bedingten Gestaltung und Ausstattung der Manuskripte und Bücher, so dass sich für die verschiedenen Bibeltypen wie Biblia pauperum oder Bible moralisée eigene ikonografische Konzepte entwickelten und neben einfachen Volksausgaben auch Prachtausgaben entstanden.1 Gerade bei den Bibelausgaben, die nicht primär liturgisch gebraucht wurden, sondern sich eher an eine Gemeinde wandten, bei deren Mitgliedern Lesefähigkeiten nicht vorausgesetzt werden konnten, erfüllten Bild und Ausstattung nicht bloß eine schmückende Funktion im Dienste der Verehrung Gottes; vielmehr unterstützten die Bilder das Verstehen der textlichen Inhalte, hatten kommentierende und ergänzende Funktion. Innerhalb der einzelnen Themenkomplexe entwickelten sich eigene Traditionsstränge, die auf die Ausdeutung und damit auch auf die Verbildlichung Einfluss nahmen. Zudem waren auch Format und Einband signifikant, wiesen sie doch auf Bestimmung und Anwendungszusammenhang der einzelnen Ausgaben hin. Waren

1 Für beide Bibeltypen ist die Gegenüberstellung von Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament typisch, so dass Begebenheiten und Prophezeiungen aus den Anfängen der Christenheit als Analogien zu solchen erkannt werden, die auf das ewige Friedensreich Christi hinweisen. Die als Biblia pauperum verbreiteten Ausgaben bestanden durchweg in einfachen Holzschnitten, die zu Blockbüchern zusammengefasst wurden, während von der Bible moralisée illuminierte Ausgaben in hochwertiger Ausstattung bekannt sind, wie beispielsweise der in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrte Codex Vindobonensis 2554, der zwischen 1220 und 1230 ausgeführt worden sein dürfte (vgl. Haussherr 1992, S. 7).  

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Teil B Buch-Geschichten

kleine, handliche Formate in der Regel für den privaten Gebrauch bestimmt, weil sie sich zur Mitnahme auf Reisen oder für die häusliche Andacht eigneten, dienten große Formate der Repräsentation, sei es im liturgischen Kontext, sei es zur Beeindruckung der Kirchengemeinde. Oft unterstrich allein die Größe des Buches die Macht seines Besitzers oder Benutzers. In letzterem Zusammenhang stehen als ‚Riesenbibeln‘ die als bibbie atlantiche bezeichneten Bibeln von St. Florian, die Admonter und die Merseburger Bibel (zu den Riesenbibeln vgl. Togni 2010). Die Bezeichnung als ‚Riesenbibel‘ signalisiert zudem, dass die meist zweibändig angelegten Ausgaben die gesamte Heilige Schrift enthalten, also sämtliche Bücher des Alten wie auch Neuen Testaments. Durch sie sollte das Studium der ganzen Heiligen Schrift unterstützt und die Zusammengehörigkeit der beiden Testamente herausgestellt werden. Hergestellt wurden sie ab der Mitte des 11. Jahrhunderts in Mittel- und Norditalien, später auch in deutschen und französischen Werkstätten. Der gegenüber den karolingischen Bibeln reduzierte Ausstattungsaufwand ergab sich aus bewusster Reduktion der Prachtentfaltung. Die in Italien entstandenen Riesenbibeln haben einen vergleichsweise einfachen, weitgehend ornamentalen Buchschmuck (vgl. Fingernagel 2001, S. 10 f. Die Admonter Riesenbibel befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek: Cod. Ser. N. 2701 und 2702). Bildlich ausgestattet werden die biblischen Texte in Blockbüchern, in denen Text und Bild in Holzschnitten zusammengefasst wurden. Da es bei diesen vergleichsweise einfachen Ausgaben darum ging, die Inhalte durch Bilder zu veranschaulichen, waren die Holzschnitte oft ohne sonderlichen künstlerischen Anspruch ausgeführt. Die Bilder sollten den Gläubigen die durch Predigt und andere Formen mündlicher Überlieferung vertrauten Inhalte in Erinnerung rufen. Welche Bedeutung Bildern zugemessen wurde, zeigte sich unter anderem darin, dass Luther die für die Ausgabe von 1534 erstellten Bilder mit Lukas Cranach besprach (vgl. Ludwig 1982, S. 73).  







Vorreformatorische Bibelillustrationen von Albrecht Dürer. Erste dezidiert künstlerische Illustrationen der biblischen Geschichten bieten die zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Albrecht Dürer ausgeführten Holzschnitte zur Marienpassion, der Großen Passion und der Apokalypse; drei zentrale Teile der biblischen Geschichte, die nur wenige Jahre vor Luthers Thesenanschlag auf den Markt kamen (vgl. Dürer 2001). Jeder der Bildzyklen wurde als Buch mit eigenem Titelblatt und die Motive begleitendem Text konzipiert. Ersichtlich wird die Konzeption als Buch nicht allein daran, dass die unterschiedlich großen Holzstöcke alle auf einheitlich große Bögen im Format von 43,2 x 61,5 cm gedruckt wurden, sondern auch an der gesamten Anlage des Drucks, bei dem die weiteren Schritte der Buchherstellung von Beginn an berücksichtigt werden mussten.2 Das vorbestimmte Text-Bild-Gefüge besteht, solange der Buchverband er 







2 Da die Papierbögen nach dem Druck auf die Hälfte ihres Formates gefaltet wurden, die einander zugehörigen Bilder und Texte aber auf einer Doppelseite als Einheit erscheinen sollten, mussten sie entsprechend platziert werden.

B 1 Historische Buchtypen als Anlässe künstlerisch-literarischer Buchwerke

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halten bleibt. Doch sobald man ihn auflöst, erhält man Holzschnitte, die rückseitig mit einem Text bedruckt sind, der nicht zum Bild gehört, weil er ja für ein nachfolgendes, nicht mehr auf dem Bogen stehendes Bild bestimmt war. Auf den Druckbögen sind außerdem noch die Kustoden zu erkennen, also die Zeichen, die dem Buchbinder die Organisation im Buch anzeigen. Die Darstellungen auf Dürers Holzschnitten unterscheiden sich substanziell von früheren Holzdrucken gleichen Themas, die viel einfacher, flacher und auch weniger erzählerisch ausgefallen waren. Dürers Ausführungen weisen bereits Feinheiten auf, die denen von Kupferstichen entsprechen. Er stellte viele Details aus dem Alltag dar und rückte so die biblische Geschichte in die Nähe der Rezipienten. Dürers Folge von drei Büchern beginnt mit Die heimliche Offenbarung Johanni, die 1498 zuerst mit deutschem, kurz danach mit lateinischem Text erscheint und in mehrerlei Hinsicht von den nachfolgenden Büchern abweicht. Im Unterschied zu der einspaltigen Wiedergabe des Marienlebens und der Passion ist er in zwei Spalten gedruckt. Auch ist die deutsche Fassung der Apokalypse keine Nachdichtung wie die Texte von Marienleben und Passion, sondern sie wurde aus Kobergers deutscher Bibel von 1483 übernommen. Zudem korrespondieren im Druck Bild- und Textinhalte nicht unmittelbar, so dass in den Text Bildhinweise eingefügt wurden. Im Vergleich mit älteren Bildfolgen zur Apokalypse reduzierte Dürer deren Umfang, was eine Komprimierung des Stoffes und damit eine höhere Dichte bedingt. Die Texte zum Marienleben und zur Passion stammen von dem Nürnberger Benediktinermönch Chelidonius, sind in lateinischen Versen abgefasst und eigens auf Dürers Holzschnittzyklen abgestimmt. Anders als die auch an ein illiterates Publikum gerichteten Holzschnitte wenden sich die Texte an ein gebildetes Publikum, doch zusammen mit den Holzschnitten gewannen sie gleichwohl an Publizität. Die Inhalte der Bilder waren den Betrachtern geläufig und mussten nicht eigens kommentiert werden. Dies bot Chelidonius die Möglichkeit, seine Texte in einer dem religiösen Humanismus entsprechenden Weise zu aktualisieren, also Bezüge zur antiken Mythologie herzustellen. Entsprechend wurde der Himmel als Olymp oder auch als Elysium bezeichnet; an anderer Stelle fließen Begriffe wie Orkus und Cerberus ein. Die Verse entfalten sich zu einer Meditation über das Leben der Jungfrau Maria und die Passion Christi. Das Marienleben erschien 1511 unter dem Titel Epitome in divae parthenices Mariae historiam ab alberto Durero norico per figuras digestam cim versibus annexis Chelidonii. Die 18 Bilder wurden durch ein Titel- und ein Schlussblatt abgerundet. Thematisch dominieren die Freuden der Maria; die Leiden werden in den Passionszyklus verlagert, so dass die im gleichen Jahr erscheinenden Bildfolgen keine motivischen Überlagerungen aufweisen. Als Quellen für die Bilder dienten neben dem Neuen Testament die Legenda aurea des Jacobus de Voragine und die Meditationes vitae Christi, möglicherweise auch das Marienleben des Kartäuserbruders Philipp vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Darüber hinaus enthalten die in Holz geschnittenen Motive Verweise auf Volkslieder, wie beispielsweise der Frauenchor in der Wohnstube auf dem Blatt mit der Geburt Mariens (vgl. Hütt 1970, S. 1549). Die Architekturen und  



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Landschaften im Hintergrund fügen sich in den inhaltlichen Zusammenhang, bilden aber auch eine ideale Wirklichkeit ab, die der Renaissancemalerei abgeschaut scheint, die Darstellung aber zugleich modernisiert wie auch nobilitiert. Obwohl die Ausführung sich über mehrere Jahre hinzog, ist doch an der Art und Weise, wie sich von Blatt zu Blatt der Fluchtpunkt verlagert und eine dem Fortgang der Erzählung entsprechende Bewegung suggeriert, zu erkennen, dass die Bilder von Anbeginn an als Folge geplant waren (vgl. den Kommentar in Dürer 2001, S. 2). Die Große Passion umfasst 11 Holzschnitte und ein Titelblatt. Wie auch die Blätter des Marienlebens ist die Folge nicht in einem Stück entstanden, doch geben die einzelnen Darstellungen über ihre motivische Abfolge, die an den Evangelien orientiert ist, zu erkennen, dass sie vom Künstler als Zyklus geplant waren. Wie zu Beginn auf dem Titelblatt vermerkt, dienten als weitere Quellen die Abhandlungen von Chelidonius, Hieronymus von Padua, Dominicus Mancinus, Sedulius und Baptista Mantuanus. Neben den Möglichkeiten, mittels reproduktionstechnischer Verfahren Auflagen zu erstellen und bebilderte Bibeln auf breiter Ebene verfügbar zu machen, findet sich Mitte des 16. Jahrhunderts mit der zweibändigen Hausbibel des Hans Plock aus Halle ein Beispiel individueller Bibelausgestaltung.3 In die in seinem Besitz befindliche Lutherbibel von 1541 ließ Plock unbedruckte Seiten einbinden, um darauf zeitgenössische Drucke, aber auch Zeichnungen einzukleben, darunter solche von Matthias Grünewald, Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Martin Schongauer und anderen. Den Bildern, aber auch den gedruckten Texten fügte Plock handschriftlich Kommentare bei: allgemeine Reflexionen, aber auch tagebuchartige Aufzeichnungen und Erinnerungen. In den Ergänzungen zeichnet sich Plocks laientheologische Auseinandersetzung mit den Schriften der Reformatoren und Humanisten ab; sie sind Indikatoren für die geistlichen, politischen und kulturellen Umbrüche seiner Zeit.  



Bebilderte Bibeln des 19. Jahrhunderts. Nach dem Aufschwung, den illustrierte Bibeln durch Einführung des Buchdrucks erfuhren, erfolgte ein zweiter, vergleichbarer im 19. Jahrhundert, diesmal bedingt durch die Gründung von Bibelgesellschaften, die sich die Verbreitung von Bibeln zum Anliegen gemacht hatten. Groß war die Bedeutung, die dabei der Ausstattung mit Bildern zugemessen wurde (vgl. Fuchs 1986, S. 1ff.). Dies zeigte sich unter anderem an der ersten illustrierten Bibel des Herder-Verlages, deren Veröffentlichung zwischen 1814/1815 und 1818 in mehreren Heftlieferungen und Bänden erfolgte. Zu jedem Heft erschien eine Beilage mit acht losen Kupfern, auf denen die zugehörige Bibelstelle angegeben war. An den Illustrationen waren, obwohl namentlich nur Carl Ludwig Schuler aufgeführt wird, mehrere Künstler beteiligt (vgl. ebd., S. 9ff.). Neben den in hohen Auflagen gedruckten, an ein breites Publi 







3 Plock-Bibel, 1541ff., zwei Bände à 750 S., 37,5 x 25 cm, Druck, Handzeichnungen, Holzschnitte, Kupferstiche, eigenhändige Marginalien des Besitzers, Kreide und Wasserfarben, Stadtmuseum Berlin, Inventar-Nr. XIII 387 (vgl. Körber 1974, auch online).  





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kum adressierten Bibeln kamen auch solche auf den Markt, die im Gegenzug zum Massendruck auf hochwertige Gestaltung setzten; für die Illustrationen wurden zu ihrer Zeit anerkannte Künstler verpflichtet. Im Abstand von nur sechs Jahren erschienen eine von Julius Schnorr von Carolsfeld und eine von Gustave Doré illustrierte Bibel.4 Beide Ausgaben weisen durchweg rund 200 ganzseitige Bilder auf; für beide wurden Holzschnitte verwendet, weil diese am besten dazu geeignet schienen, mit „kräftigen frischen Zügen“ (Vorwort Julius Schnorr von Carolsfelds 1860, zit. nach Schnorr von Carolsfeld 1909, S. 219) dem volkstümlichen Charakter der Bibel zu entsprechen (vgl. Ludwig 1982, S. 73f.). Während Doré neue Motive entwickelte, griff Schnorr von Carolsfeld auf die Fresken der Sixtinischen Kapelle im Vatikan als Vorlage zurück. Auch aus der Jugendstilbewegung gingen namhafte illustrierte Bibeln hervor, darunter die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in England von Herbert Granville Fell und Charles Ricketts und die in Deutschland kurz nach 1900 von Ephraim Mose Lilien gestalteten Exemplare.5 Gemeinsam ist ihnen der programmatisch-kontrastive Einsatz von Schwarz-Weiß-Bildern. Teils umreißen einfache Konturen das Motiv, teils treten die Motive aber auch als weiße Formen aus schwarzem Grund hervor. Doch auch über die Bebilderung hinaus machte sich das Bestreben bemerkbar, die Bibel in besonderer Weise zu gestalten. Melchior Lechter etwa wählte die Materialien für den Einband des von ihm gestalteten Werks Vier Bücher von der Nachfolge Christi so, dass sie Prachtbände aus Kirchenschätzen in Erinnerung riefen.6 Im Gegensatz zu den streng aufeinander abgestimmten Anteilen von Schrift und Bild im Jugendstil waren die Motive in den impressionistischen Ausgaben lose in den Text integriert. Bei den Illustrationen von Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt handelt es sich um lose Blattfolgen, die kaum im funktionalen Kontext der Bibellektüre stehen. Konnten bei den die gesamte Bibel umfassenden Illustrationen keine Schwerpunktsetzungen hervortreten, so begann sich mit dem Expressionismus deutlich eine Vorliebe für eine Bebilderung von Passion und Apokalypse abzuzeichnen, was unter anderem mit den Erfahrungen aus Revolution und Erstem Weltkrieg zu erklären ist. In formaler und technischer Hinsicht knüpften die Künstler an altdeutsche Holzschnitte an, vermittelten aber mittels der alten Technik eigene Erfahrungen.  





4 Schnorr von Carolsfeld, Julius: Die Bibel in Bildern. Leipzig: Georg Wiegand’s Verlag 1860, 38 S., 240 Tafeln mit Holzschnitten; Doré, Gustave: Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments. Aus der Vulgata, übersetzt von Dr. Joseph Franz von Allioli. Stuttgart: Eduard Hallberger um 1870, 1252 Spalten, 230 Holzschnitte. 5 Granville Fell, Herbert: The Book of Job. London 1896, 24 x 19 cm; Lilien, Ephraim Mose: Die Bücher der Bibel. Hg. von Ferdinand Rahlwes. Übersetzt von Eduard Reuss. Braunschweig: Verlag von George Westermann. Bd. 1: Überlieferung und Gesetz: das Fünfbuch Mose und das Buch Josua, 1908, 552 Seiten. 6 Lechter, Melchior: Thomas von Kempen. Die vier Bücher von der Nachfolge Christi. Berlin: EinhornPresse 1922, 334 Seiten, unbeschnitten 39 x 25 cm, Auflage: 1005 Ex. (vgl. Raub 1969, S. 103).  















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Die Bibel als Gegenstand von Malerbüchern und Pressendrucken. Das Interesse an den Inhalten der Bibel als Gegenstand gestalterischer Auseinandersetzung hielt im 20. Jahrhundert uneingeschränkt an. Weitgehend unabhängig von konfessioneller oder nationaler Zugehörigkeit wenden sich Künstler bis in die Gegenwart hinein immer wieder der Bibel zu. Der in Offenbach am Main als Schriftenentwerfer und -gestalter tätige Rudolf Koch hat einem eigenen Verzeichnis zufolge über hundert Handschriften in Buchform abgefasst, zu denen viele Abschriften der Bibel gehören. Bis 1914 lagen diverse Teile in kalligrafisch vollendeten Abschriften vor, etwa die Schöpfungsgeschichte, die Bücher Ruth und Hiob, das Hohelied Salomos, die vier Evangelien, etliche Gleichnisse und Geschichten des Neuen Testaments, Predigten wie die See- und die Bergpredigt, aber auch die Seligpreisung, die Zehn Gebote, verschiedene Psalmen und Gebete. Für jeden Text verwendete Koch eine eigene Schrift, deren Duktus er auf die jeweiligen Inhalte abzustimmen suchte; einige der Texte versah er zusätzlich mit Illuminationen (zur Funktion der Abschriften vgl. Haupt 1936, S. 13). Anregung für sein Vorgehen lieferte Koch neben William Morris und der englischen Arts & Crafts-Bewegung auch das Perikopenbuch Kaiser Heinrichs II., das er in der Münchner Staatsbibliothek eingesehen hatte.7 In diesem Zusammenhang entstand auch der für Siegfried Guggenheim geschriebene und illuminierte Psalter. Doch anders als die aus dem Jugendstil hervorgehenden Bücher oder die Arbeiten von William Morris weist Kochs Psalter kein einheitliches Erscheinungsbild auf. Sowohl die Schrift als auch der Stil der Illustrationen weichen in den einzelnen Abschnitten erheblich voneinander ab.8 Ursprünglich hatte Koch die Abschrift eines einzelnen Psalms als Geburtstagsgeschenk für Guggenheim geplant, die jedoch solchen Anklang fand, dass Guggenheim eine Fortführung beauftrage, in die nun Koch seine Mitarbeiter einbezog. Entsprechend den Schreibern und Illuminatoren änderte sich das Schriftbild; die Bilder orientieren sich an so unterschiedlichen Stilen wie Romanik, Gotik und Jugendstil, grenzen sich teils durch Rahmen gegen das Schriftbild ab oder überziehen die Seite als Teppichornament.9 So gestaltet sich der Psalter zu einem Gemeinschaftswerk, dessen verschiedene Teile für die Individualität der einzelnen Beteiligten stehen und das Buch allein aufgrund seiner heterogenen Gestaltung als singuläres Objekt erscheinen lassen.  



7 Perikopenbuch Heinrich II., Reichenau, ca. 1007–1012. Ca. 206 Bl., Pergament, Bayerische Staatsbibliothek München, Cod. lat. 4452. Zu den hieraus gewonnenen Eindrücken äußert sich Koch in einen Aufsatz, der 1922 vom Antiquar Horst Stobbe in seinem Almanach der Bücherstube veröffentlicht wurde (vgl. Cinamon 2000, S. 84). 8 Koch, Rudolf: Psalter. O. O. 1922–1929, 451 Seiten, 3 Teile, 22,5 x 16 cm, Schweinslederband. 9 Koch selbst setzte die Abschrift bis zu Psalm 35 fort und erstellte auch die Illustrationen dafür, Minni Lerner schrieb die Psalmen 36 bis 50, die dann von Fritz Kredel und Karl Vollmer illuminiert wurden. Die Abschrift der Psalmen 51 bis 100 stammt von Friedrich Heinrichsen, diejenige bis Psalm 150 wiederum von Karl Vollmer, der auch die Bilder für diesen Teil erstellte.  







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Das Interesse moderner Künstler an der Ausgestaltung biblischer Texte dokumentiert sich in Pressendrucken, aber auch in Malerbüchern, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich auf den Markt kamen. Zu Beginn der 1930er Jahre beauftrage Ambroise Vollard Marc Chagall mit der Illustration der Bibel. Geplant war eine fünfbändige Ausgabe, die die Genesis, die Bücher der Könige, die Prophetenbücher, das Hohelied und die Apokalypse enthalten und unter dem Titel Le Livre des Prophètes erscheinen sollte. 1934 waren 40 Radierungen fertig, 1939 dann 66. Doch Vollards Tod, der Krieg und Chagalls Aufenthalt in den USA führten zum Abbruch des Vorhabens. Erst zu Beginn der 1950er Jahre kam der als Kunsthändler und Galerist in Paris ansässige Stratis Eleftheriadis, genannt Tériade, auf Vollards Vorhaben zurück und bat Marc Chagall, die Arbeiten wieder aufzunehmen.10 Chagall führte die restlichen 39 Radierungen aus. Mit ihren frei im Raum schwebenden Personen und dem dialogischen Gegenüber von Mensch und Tier zeigen sämtliche Blätter den für Chagall charakteristischen Stil.  

Biblische Themen im zeitgenössischen Künstlerbuch. Von den illuminierten Bibeln über die Frühdrucke bis hin zu den Malerbüchern liegt der Schwerpunkt der bildlichen Ausstattung von Bibeln auf der Gegenüberstellung von Text und Bild, wobei die Bilder zumeist erhellende oder erläuternde Funktion haben, ohne jedoch etwas grundsätzlich Neues in das Buch einzubringen. Das ändert sich in dem Augenblick, als nicht mehr allein die biblischen Inhalte, sondern darüber hinaus kontextuelle Faktoren in die Aussage der künstlerischen Gestaltung aufgenommen werden. Eine solche Neuinszenierung erfährt die Bibel in der Umsetzung von Lamberto Pignotti, dessen Referenzen das gesellschaftliche Klassengefüge und die Rolle der italienischen liberalen Presse sind.11 Diesem setzt er mit seiner Biblia pauperum eine Publikation mit einem hohen Bildanteil entgegen, dem ein vergleichsweise kleiner Textanteil gegenübersteht, und macht so darauf aufmerksam, dass der als Armenbibel bezeichnete Buchtypus sich primär an eine illiterate Leserschaft richtete und – so der Künstler – eines der ersten Massenkommunikationsmedien darstellte. Und eben diesen Aspekt greift er bei seinen Ausführungen auf. Aus einer italienischen Volksbibelausgabe aus dem Jahre 1851 übernimmt er Bilder, in die er Sprechblasen mit politischen Inhalten der italienischen Tageszeitung Paese sera einfügt. Dass sich Pignotti ausgerechnet auf diese linksliberale Zeitung stützt, geschieht nicht zufällig, sondern mit bewusstem Bezug auf die Adressatengruppe, die im Umland von Rom angesiedelte Bevölkerung, die dem Künstler in etwa jener Gruppe vergleichbar scheint, an die sich einst die Biblia pauperum richtete. Formal knüpft Pignotti an Cartoons oder Comics an; inhaltlich zieht er Parallelen zwischen dem biblischen Stoff und dem gegenwärtigen Alltag, bis 



10 Chagall, Marc: Bible. Paris: Tériade 1956, 105 ganzseitige Radierungen, 44 x 33,6 cm, 2 Bde., Bd. 1: 123 Bl., Bd. 2: 108 Bl., 275 vom Künstler signierte Exemplare und 20 Exemplare hors commerce. 11 Pignotti, Lamberto: Biblia pauperum, Rom: Edizioni Elle Ci 1977, 114 Seiten, 22 x 23 cm, Auflage: 1500 Exemplare.  















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weilen auch ironisch gebrochen oder persiflierend. Alltäglich sind auch die einfachen Kopien, mit denen Pignotti arbeitet, gleichsam ‚ärmliche Materialien‘, die ebenfalls Zeitungen und einfache Publikationsformen wie Groschen- und Comicheftchen assoziieren lassen. Die vom Künstler ausgewählten Bibel-Stoffe konzentrieren sich auf Protagonisten, die sich Anweisungen, zumeist den göttlichen Geboten, beugen müssen. Doch durch die ihnen in den Mund gelegten Zeitungszitate werden sie zu zeitgenössischen Vertretern einer Schicht, die in vergleichbarer Weise politischen Richtlinien untersteht, aber dagegen aufbegehrt. Die Figuren stellen die Unsinnigkeit der Befehle in Frage oder protestieren gegen die mit ihnen verbundene Ungerechtigkeit. Gleichzeitig wird darüber der Blick auf Fakten gelenkt, die den Alltag der Menschen weit mehr bestimmen als die großen Ereignisse. Sein Buch enthalte, wie der Künstler abschließend vermerkt, eine „Erzählung zum Anschauen und Bilder zum Lesen, die ideologisch anecken“ (siehe den Text der letzten Seite von Lamberto Pignottis Biblia pauperum). Hatte sich bereits im Expressionismus abgezeichnet, dass biblische Themen zwar aufgegriffen, aber auf individuelle Weise künstlerisch neu erzählt werden, so setzt sich die freie Handhabung biblischer Themen im weiteren 20. und im 21. Jahrhundert fort. Dies zeigt sich insbesondere, als sich im Zuge der Konzeptkunst in den 1960er Jahren mit dem Künstlerbuch ein neuer Buchtypus etabliert. Die buchgestalterische Auseinandersetzung mit den biblischen Stoffen bleibt aktuell und manifestiert sich vor allem in Formen der Übertragung auf zeitnahe oder aktuelle Themen. In erster Linie sind es die Texte des Alten und des Neuen Testaments, vor allem auch die Apokalypse, die zum Gegenstand buchkünstlerischer Auseinandersetzung werden, dabei aber eine Neu- und Uminterpretation erfahren und mit der unmittelbaren Gegenwart entnommenen Inhalten verbunden werden. Milan Knížáks Neues Testament, das aus drei im Lübbe Verlag erschienen Taschenbüchern besteht, referiert mit keinem dieser Titel auf das Neue Testament in seiner ursprünglichen Form.12 Und auch Thomas Hubers Rede zur Schöpfung enthält keine der biblischen Darstellung vergleichbare Schöpfungsgeschichte mehr.13 Die als Neues Testament von Knížák zusammengestellten Titel bestehen in einem Science-fiction-Roman, einem Krimi und einem Trivialroman und greifen damit drei der meistgelesenen Buchtypen auf, wobei sie wesentliche Themenfelder des Neuen Testaments berühren. So werden in Götter der Pastellstadt ein gesellschaftlicher Nie 

12 Knížák, Milan: Neues Testament. Köln: Edition Hundertmark 1989, 18,1 x 12,5 cm, Klebebeindung, fester Einband. Enthält drei Taschenbücher: Harrsion, Michael John: Die Götter der Pastellstadt. Bergisch Gladbach 1985; Stuart, Jan: Todeshiebe. Rastatt 1988; Percha, Igor von: Vergangen ist der Traum. Bergisch Gladbach 1985. 13 Vgl. Huber, Thomas: Rede zur Schöpfung. Bern: Kunsthalle Bern 1983, 44 Seiten, davon 26 Seiten mit Abbildungen und als Anlage eine Farbreproduktion des Bildes, 21 x 14 cm, Schwarzweiß- und Farboffset, Satz, Klebebindung (anlässlich der Ausstellung „Konstruierte Orte“ in der Kunsthalle Bern vom 29.10. bis 27.11.1983 erschien diese Rede in gedruckter Form).  











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dergang, in Todeshiebe ein kriminelles Delikt und in Vergangenheit ist der Traum die politisch motivierte Veränderung eines Lebens thematisiert. Von konkreten Bezugnahmen auf die Inhalte der Bibel losgelöst, umreißen die drei Literaturtypen Lebensfelder, die auch in der Bibel zur Sprache kommen. Mit der implizierten Parallelisierung der neutestamentarischen Bücher mit Beispielen von in hohen Auflagen verbreiteten Literaturgenres erinnert Knížák, ähnlich wie Pignotti, daran, dass die Bibel einst zu den meistgelesenen Büchern gehörte. Dass sich dabei die Prioritäten der Lektürewahl verschoben haben, ist zum einen dem Angebot geschuldet, wie es beispielsweise der Lübbe Verlag mit seinen in hohen Auflagen und entsprechend preisgünstig produzierten Büchern bereitstellt, zum anderen, dass neben die der Erbauung dienende Lektüre der Bibel andere Lesestoffe getreten sind, die der Bibel Konkurrenz machen. Ähnlich locker wie in Knížáks Neuem Testament ist auch in Hubers Rede zur Schöpfung die Beziehung zum biblischen Prätext. Das Buch kombiniert die Eröffnungsrede zu einer Ausstellung in der Kunstakademie mit Fotografien und Bildern des Künstlers. Die Rede thematisiert eine Reise ins Gebirge, die als Metapher für die Annäherung an das künstlerische Arbeiten fungiert. Das Schaffen des Künstlers wird so in eine Analogie zum göttlichen Wirken gesetzt, das sich in Kreation, aber auch Destruktion zeigt. Der Bezug zur biblischen Schöpfungsgeschichte bleibt bei Huber weitgehend unspezifisch, wird bestenfalls durch einen über den Titel angedeuteten Zusammenhang zur Rede über die Sintflut gestützt, die als erste Rede innerhalb einer vom Künstler angestrebten Trilogie der Rede zur Schöpfung vorangegangen ist (vgl. Huber 1983, S. 41). Die Auseinandersetzung mit der Bibel bestimmt auch Arnulf Rainers Bibelübermalungen, geschaffen 1995 bis 1998 auf Anregung eines Verlages (Rainer 1998a; zu den Bibelübermalungen vgl. Catoir 1989; Rainer 2000). Die 1998 erschienene Bibelausgabe enthält 140 der insgesamt 400 vom Künstler erstellten Übermalungen, denen Darstellungen aus der Kunst zu biblischen Themen zugrunde liegen. Das Spektrum reicht von der frühen Buchmalerei bis zur Kunst des 19. Jahrhunderts; ausgespart werden also die moderne und die zeitgenössische Kunst.14 Die Bildvorlagen entnimmt Rainer Büchern, um sie auf eigene Weise zu verdichten und sich an ihnen abzuarbeiten.15  



14 Von wenigen nicht mehr zu identifizierenden Vorbildern abgesehen, stammen Rainers Vorlagen vor allem von Cimabue, Giotto, Fra Angelico, Andrea Mantegna, Piero de la Francesca, Sandro Botticelli, Jacques-Louis David, William Blake und Gustave Doré. Auch romanische Deckenfresken, das Große Zittauer Fastentuch von 1472 und vom Künstler als „Schultafeln“ bezeichnete Abbildungen gehören dazu. 15 „Es war mein Versuch, dem scheinbar Erkannten eine größere und weitergefasste Wahrheit hinzuzufügen. Das Verborgene, Unaussprechliche führte mich. Die Bilder traten dabei hervor, und ich ließ sie zurücktreten. Das hieß zurücktreten zur Bestimmung, zum Rätsel“ (Arnulf Rainer im Gespräch mit Friedrich Mennekes. In: Stimmen der Zeit 218,7 (2000), S. 482); „Das Verdecken mit Farben, Strichen, graphischen Gerüsten und Farbverläufen erlebte ich als aktives Ringen mit dem Thema, ein Schwanken zwischen Niederlage und Hoffnung“ (Rainer 1998b, o. S. [S. 4]).  





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Otto Mauer spricht von „Vorhängen“, mit denen Rainer die vorgefundenen Gemälde zuhängt.16 Damit umschreibt er eine Formsuche, die mit Transformation und Bedeutungswandel verbunden ist und danach strebt, den Bildern ihre verlorengegangenen Geheimnisse zurückzugeben.17 Form und Inhalt durchdringen einander, stellen einander in Frage und ergeben ein Ensemble, bei dem weder formale noch inhaltliche Qualitäten dominieren. Vielmehr konzentriert sich der Künstler mit den Übermalungen auf eine Vorgehensweise, die er seit 1953 praktiziert und seither zu seinem Stilmerkmal entwickelt hat. Anders als Rainer verbirgt Michael Bensman seine Auseinandersetzung mit Stellen aus der Thora und dem Neuen Testament unter einem Titel, der keine Erwartung biblischer Bezüge weckt. Die Auswahl der Bezugsstellen ist vom Motiv des Fisches geleitet, das auch im Titel der Arbeit genannt wird: Akte Nr. 3 – vom Fischer und dem Fischlein.18 Die Bezeichnung als „Akte“ verweist auf einen Werkkomplex, der aus mehreren Künstlerbüchern besteht und vornehmlich Erfahrungen mit der sowjetischen Administration aufgreift, die er vor seiner Übersiedlung in den Westen in der Sowjetunion kennengelernt hat. Vom Fischer und dem Fischlein mit seinen Bibelzitaten scheint nun mit den in politischen Akten aufbewahrten Materialien nichts gemein zu haben, fügt sich aber insofern in die Werkgruppe der Akten, als die Zitate Teile der göttlichen Gebote enthalten oder auf Zusammenhänge hinführen, die einem göttlichen Gebot unterstehen. Darüber wird eine Machtstruktur aufgerufen, der sich der Einzelne widerspruchslos zu fügen hat. Dieses sich in den biblischen Geboten artikulierende Machtpotenzial parallelisiert Bensman in seiner Akte mit jenem in der Sowjetunion herrschenden. Über den an ein Märchenmotiv angelehnten Titel stellt Bensman seine Akte weiterhin in den Zusammenhang der Lubki, einer volkstümlichen Bilderform, die mit teils didaktischem Unterton soziale Konstellationen ins Auge fasst und Kritik übt. Auch über das Format seiner Arbeit und die Zusammenführung von Text und Bild greift Bensman den Zusammenhang zu den Lubki auf. Alle Darstellungen sind nach dem gleichen Prinzip ausgeführt. Das Bildmotiv ist in einen Rahmen gestellt, der von dem als Schriftband gestalteten Text gebildet wird. Im Gegensatz zu dem biblischen Text und seiner sorgfältigen Inszenierung stehen die Bildinhalte aus Fundstücken, von denen etliche, wie Wegwerfbestecke, Pappteller, Flaschenver 



16 Der Ausdruck geht auf den Wiener Domprediger Otto Mauer zurück, der in einem Text Rainers Übermalungen als „Vorhänge des Bleibenden, welche das Besondere, Zufällige zudecken“ charakterisierte. Vgl. Rombold 1993, S. 241. 17 „Eine Form kristallisiert sich erst allmählich. Sie hängt auch von meinen Malerwerkzeugen ab. Später plagen mich dann bald Gefühle des Ungenügens. Ich muß wiederholt Transformationen bzw. Bedeutungswandlungen vornehmen. Manchmal verlangt das Bild einen Vorhang, ein Rinnsal oder eine Nacht“ (Arnulf Rainer in Mennekes/Röhrig 1995, S. 114). „Mit meinen Übermalungen versuche ich, den Bildern das zurückzugeben, was sie verloren haben – ihr Geheimnis“ (Arnulf Rainer in einem Interview, abgedruckt in der Pressemappe des Verlages zum Erscheinen der Bibel, zit. nach Mennekes 2000, S. 21). 18 Bensman, Michael: Akte Nr. 3 – vom Fischer und dem Fischlein. Berlin: MichaelBenzRecyclingPress 2007, Materialdruck, 12 Seiten, 60 x 40 x 0, 8 cm, Auflage: 15 Exemplare.  





















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schlüsse, Getränkedosen, Konservenbüchsen, direkt von der Straße aufgesammelt wurden. Neben diesen Relikten einer Wegwerfkultur sind auch organische Substanzen integriert, darunter Vogelfedern, Fischgräten, Muscheln. Alle Blätter in Bensmans Akte sind Materialdrucke, d. h. die im Druck wiedergegebenen Gegenstände haben auch als Druckvorlage gedient, was unmittelbar am Papier sichtbar wird, da sie sich hier zusätzlich zum Druckbild in einer reliefartigen Struktur abzeichnen. So erhalten die Papierbögen eine Plastizität, die der gesamten Akte einen objekthaften Charakter verleiht und die Bedeutung des Materials als Ausdrucksmittel hervorhebt. Die Darstellungen folgen der Chronologie der Thora, beginnend mit der Schöpfung, die noch durch eine friedliche Idylle dargestellt ist. Doch bereits mit dem folgenden Blatt, das mit der Schöpfung des Menschen auch die Herrschaft des Menschen „über die Fische des Meeres“ thematisiert (Gen 1, 26), tritt der satirisch-kritische Zug der Akte hervor. Der Mensch hat sich der Fische bemächtigt, sie in Konserven zum billigen Konsum aufbereitet, wie Fisch, Konservendose und Preisschild deutlich machen. Weiterer Müll im nächsten Bild signalisiert gleichermaßen den Ausdruck des göttlichen Zorns und die Kritik an der Störung des ökologischen Gleichgewichts.19 Anlässlich weiterer Stellen der Thora werden immer wieder Zerstörungsprozesse infolge menschlicher Gier dargestellt. Beispielhaft ist ein Bild, das einen auf einer Platte arrangierten Karpfen zeigt, in dessen Innerem neben dem Verschluss einer Bierflasche eine menschliche Figur kauert. So wird zum einen daran erinnert, dass in verschmutzten Gewässern die Fische alles Mögliche schlucken, zum anderen verweist der umlaufende Text auf die Jonasgeschichte der Prophetenbücher, die davon berichtet, dass Jonas drei Tage in einem Fischleib ausharren musste, bevor er wieder ausgespien wurde (vgl. Jona 2, 1–2). Hinzu kommt eine Anspielung auf den ‚gefilte(n) Fisch‘ der jüdischen Kultur, also auf ein Gericht für den Sabbat und die Feiertage. Der Fisch ist aber nicht nur ein jüdisch konnotiertes Bild, sondern auch ein christliches Symbol, Chiffre für den Erlöser Christus. Wollen die Bilder andeuten, dass Religion und Glauben dem Konsum gewichen, dass sie wie Fischreste auf dem Abfallhaufen der Gesellschaft gelandet sind?  

19 „Daran sollst du erkennen, daß ich Jahwe bin: […] und das Wasser im Nil wird sich in Blut verwandeln. Die Fische werden sterben.“ Ex 7, 17–18.

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Abb. B 1: Michael Bensman: Akte Nr. 3 – vom Fischer und dem Fischlein. Berlin 2007.  





Das Hohelied. In einer historischen Zeit, in der die Bedeutung der Bibel als Hausbuch abnimmt, wird eine umfassende Illustrierung weniger interessant. Stattdessen rücken einzelne Themenfelder in den Fokus künstlerischer Auseinandersetzung. Neben der Schöpfungsgeschichte und der Offenbarung des Johannes nimmt hier das Hohelied oder das Lied der Lieder einen hohen Rang ein. In vielen Fällen werden davon nur einige Passagen zur künstlerischen Umsetzung ausgewählt; diese erfolgt auf individuelle und ausdifferenzierte Weisen. Ronald King legt den Akzent ganz auf ein Spiel aus Farben und Formen ohne einen über ein Stimmungsbild hinausgehenden spezifischen Bezug.20 Die Formen schweben frei vor hellem Grund. Dabei ist jedes Blatt auf ein spezifisches Farbenspektrum abgestimmt, das nie mehr als drei Farben miteinander kombiniert, wobei sich die Zusammenstellung von Seite zu Seite neu formiert und weitere Nuancen aus der Überlagerung zweier Farben hervorgehen können. Text und Bild verbinden sich so zu einem Wechselspiel aus Farben, Formen und Worten, das durch Klang und Rhythmus dominiert wird. Susan Allix versieht The Song of Salomon mit Farbradierungen, die stilistisch an Matisse angelehnte lineare Zeichnungen konkreter Gegenstände, wie Körper und Figuren, mit floralen, sich zum Teil in farbigen

20 King, Ronald: The Song of Solomon from the Old Testament. Guildford: Circle Press Publications, 1968, Mappe in Schuber, 72 S., 30 x 40 cm, Auflage: 150 Exemplare.  





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Flächen auflösenden Ornamenten kombinieren.21 Paul Wunderlich löst sich von der geschlossenen Buchform und fügt dem Text zehn Lithografien in surrealem Stil bei, deren Motive von Formandeutungen in schillernden Farbverläufen bis zu biomorphen monochromen Gebilden reichen, die keinen konkreten Bezug zu Textstellen der Bibel zeigen.22 Die Schöpfungsgeschichte in der modernen Buchgestaltung. Ein Beispiel für eine Fokussierung auf den Text und dessen Visualisierung bietet Adrian Frutigers zwar abbildende, dabei aber vollkommen ungegenständliche Bezugnahme auf die Schöpfungsgeschichte. In einer Sequenz von 15 Holzschnitten mit Text veranschaulicht er das göttliche Sechstagewerk als einen Vorgang, der bei grundlegenden gestalterischen Formeinheiten beginnt, um sukzessive zu zunehmend komplexeren Formen zu gelangen.23 Leitendes Prinzip ist das Zusammenwirken von Form und Gegenform. Den Anfang bildet der Abdruck des quadratischen Holzstocks, der nichts weiter zeigt als eine Maserung. Die dunkle Fläche wird nun von Schnitt zu Schnitt weiter aufgebrochen und zeigt Formationen, die – eher als Symbole denn als Abbilder – die einzelnen Schritte der Schöpfung nachvollziehen. Ein erstes solches Motiv ist ein schmales Dreieck, das die anfängliche quadratische Fläche durchschneidet. Das Dreieck als in der Ikonografie allgemein anerkanntes Symbol Gottes kann entsprechend als ein erster ordnender Eingriff in das noch ungeordnete Chaos gedeutet werden. In ähnlich reduzierter Weise werden nacheinander die weiteren Schöpfungswerke angedeutet. So wird etwa die Trennung der Wasser von den Festen des Himmels und der Erde lediglich über eine als Wellenlinie durch eine dunkle Fläche fließende Form aufgezeigt. Über geometrische und florale Motivschnitte setzt sich die Entwicklung fort, um schließlich in einer Labyrinthstruktur zur Menschenschöpfung zu gelangen. Wie in den illuminierten Handschriften des Mittelalters, die der Schöpfungsgeschichte oft eine dichte Abfolge von ganzseitigen Illuminationen widmen und so dem Schöpfungsverlauf über die Buchstruktur Ausdruck verleihen, betont auch Frutiger die sequenzielle Form. Von einer Ausnahme abgesehen, bei der einer seiner Holzschnitte eine Doppelseite füllt, ist bis zum Schluss der regelmäßige Wechsel von Bild und Text formbestimmend. Die biblische Schöpfungsgeschichte regt Frutiger zu einer Gestaltung an, die sich unmittelbar mit den entsprechenden Passagen aus der Genesis verknüpft.  



21 Allix, Susan: The song of Salomon. London: Willow Press 1977, 41 einseitig bedruckte Blätter, 34 x 26 cm. 22 Wunderlich, Paul: Das Hohelied Salomons, 10 Originallithographien, 13 lose Doppelbl. + 10 lose Bl., 65, 3 x 50,7 cm, Baltimore: Aquarius Press/Hannover: Dieter Brusberg. 23 Frutiger, Adrian: Genesis. O. O. 1962, 18 Blatt, 15 Holzschnitte, Auflage: 140 Exemplare.  











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Abb. B 2: Adrian Frutiger: Genesis. Zürich 1969.  

Um Schöpfungsprozesse im übertragenen Sinn geht es bei Jun Suzuki, die lediglich als Titel ihrer Arbeit die Anfangsworte des Genesis-Textes verwendet und diese mit der Thematik des Schöpfungsprozesses verknüpft; durch die Materialwahl wird letzterer veranschaulicht.24 Anstelle von Papier verwendet Suzuki dünne Zinkbleche, die sie mit Säuren behandelt und der Erosion aussetzt. Auf den Zinkblechen sind Wörter wie „Schreien“, „Zuhören“, „Knurren“, „Lachen“, „Rufen“, „Singen“ wiedergegeben, Ausdrücke für verschiedene Weisen der Artikulation, die einmal als negative Formen aus den Seiten gestanzt, und ein weiteres Mal in japanischen Schriftzeichen auf die einzelnen Seiten aufgedruckt sind. Auf der letzten Platte wird mit der Aufforderung „Tell me your name please“ an zwei grundsätzlich unterschiedliche Situationen erinnert, die einen schöpferischen Prozess einleiten: zum einen an die Aufforderung Gottes, der Mensch möge die Tiere benennen, wie sie die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt, zum anderen an einen Satz aus einem Werk, das als ältestes der japanischen Literatur gilt (vgl. Lucius/Kaldewey 1998, S. 45).  

Die Apokalypse in der zeitgenössischen Buchgestaltung. Das Pendant zur Schöpfungsgeschichte ist die Offenbarung des Johannes, die am Schluss des Neuen Testaments den Weltuntergang verkündet. Doch die apokalyptischen Visionen erweisen sich als ebenso anregend für buchkünstlerische Interpretationen. Dies zeigt exemplarisch der Vergleich von zwei so unterschiedlichen Ansätzen wie den Holzschnitten von Jim Dine und der Arbeit von Fritz Best und John Gerard. Den Ausgangspunkt für Dines Umsetzung liefert die Offenbarung des Johannes aus der King-James-Bi-

24 Suzuki, Jun: In the beginning. Poestenkill/New York: Kaldewey Press, 1984, 30 x 30 cm, 12 Zinkbleche mit Ausstanzungen, Siebdruck, Auflage: 35 Exemplare.  





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ble.25 Der Text ist in zwei unterschiedlichen Schriftgrößen wiedergegeben (zu Dines Apokalypse-Zyklus vgl. Rudzicka 2002, S. 11f., 37f.; D’Oench/Feinberg 1985, S. 128– 131; Kat. Ausst. 1992a, S. 265). Bis auf vier Doppelseiten, die gänzlich von einem Holzschnitt vereinnahmt sind, verteilen sich Text und Bild in gleichförmigem Wechsel, wobei jeweils verso das Bild, recto der Text erscheint. Sämtliche Bilder sind mit Titeln versehen, die Stichworte oder Formulierungen aus dem Apokalypsetext aufgreifen, doch auch wenn etliche Motive in deutlichem Bezug zum Textinhalt stehen (wie etwa der als Evangelistensymbol geltende Adler), sind andere eher metaphorisch geprägt. Dies etwa gilt für eine Halbfigur im Bademantel, welche die Schutzlosigkeit göttlicher Willkür ausgesetzter menschlicher Existenz repräsentiert. Andere Motive machen Formulierungen wie „the bottomless pit“ oder „the smoke from the Glory of God“ sinnfällig. Die Idee der Zerstörung dominiert in den meisten Bildern.26 Sie konkretisiert sich in den nur fragmentarisch wiedergegebenen Olivenbäumen, in Schädelformen, im Kopf eines behelmten Soldaten. Auf Szenen und narrative Darstellung verzichtet Dine. Menschköpfe und -glieder erscheinen vergegenständlicht, Gegenstände erhalten organische Körperlichkeit. Als Frontispiz des Zyklus dient ein Selbstporträt mit dem Titel The Artist as Narrator, der den Künstler in eine Beziehung zum den Offenbarungstext aufzeichnenden Johannes setzt. Den Abschluss bildet eine Wiedergabe des Antlitzes Christi, und auch dieses trägt die Züge des Künstlers selbst. Eine Anregung für seine Reinszenierung der Apokalypse lieferte Dine das 1977 in Tokyo erschienene Buch Unforgettable Fire: Pictures Drawn by Atomic Bomb Survivors, das eine Auswahl von Bilder enthält, die von Überlebenden der Atombombenexplosion in Hiroshima stammen.27 Dines Apokalypse ist also eine Reaktion auf ein Buch, das ein zeitgeschichtliches apokalyptisches Ereignis wiedergibt. Die aus den publizierten japanischen Bildern sprechende persönliche Betroffenheit überträgt er auf seine eigene Version von Apokalypse. Das von John Gerard und Fritz Best konzipierte Buch Last Judgement ist nur locker mit der Offenbarung des Johannes verbunden; allerdings lässt neben dem Titel auch seine Struktur Bezüge erkennen.28 Dominant ist die Siebenzahl; sie bestimmt über die Einteilung in sieben Kapitel oder Abschnitte, prägt aber auch die eingangs aufgeführte Aufzählung der sieben Dämonen sowie der sieben Tugenden und der sieben Todsün 





25 Dine, Jim: The Apocalypse. The Revelation of Saint John the Divine. The Last Book of the New Testament from the King James Version of the Bible, 1611, with twenty-nine Prints from Woodblocks cut by Jim Dine. San Francisco: Arion Press, 1982, 29 Holzschnitte, 2 Bl. + 64 Seiten, + 2 Bl., 38 x 28 cm, Auflage: 150 Ex. und 15 Ex. hors commerce. 26 Vgl. Gerard, John/Best, Fritz: Last Judgement. O. O. 2010, Büttenpapier, 86 Seiten, 21,1 x 15,5 cm, o. S. 27 Anlass für die Publikation war eine erste 1974 an die japanische Fernsehgesellschaft gesandte Darstellung gewesen. 104 von beinahe 1000 Bildern wurden vom japanischen Verlag Nippon Hoso Shuppan Kyokai in einem Buch publiziert, von dem 1977 die englische Ausgabe bei Random House erschien. 28 Best, Fritz/Gerard, John: Last judgement. O. O. 2010, Buch in Schuber, 86 Seiten, 21,2 x 15,5 cm, Büttenpapier mit zwischengehefteten Doppelseiten aus braunem Pergamin.  



















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den. Zudem suggeriert der von Rat- und Ausweglosigkeit geprägte Schluss ein bevorstehendes Desaster. Wiedergegeben ist im Wesentlichen die Geschichte eines Familienalltags, erweitert um Einblicke in die abgründige Gedanken- und Empfindungswelt der Figuren. Mit der Enthüllung, als Begriff das wörtliche Äquivalent zu ‚Apokalypse‘, lässt sich wiederum ein Bogen schlagen zum Jüngsten Gericht, das mit Last Judgement auch im Titel der Arbeit aufscheint. Das Jüngste Gericht steht am Ende der christlichen Eschatologie, wie sie die Offenbarung des Johannes mit ihren visionären Bildern entwirft. Es fällt zusammen mit einer ersten Wiederkunft des Messias, dessen tausendjährige Herrschaft mit einem endgültigen Sieg über Satan endet (vgl. Offb 20, 5 und Offb 20, 7–10). Bests und Gerards Darstellung beginnt mit einer tabellarischen Übersicht, die die Mitglieder einer Familie, die Wochentage, die sieben Todsünden und die sieben Tugenden, Haushaltstätigkeiten, schließlich die sieben Dämonen Lucifer, Mammon, Leviathan, Satan, Asmodeus, Beelzebub, Belphegor sowie die sieben Planeten nebeneinanderstellt. Durch die Hinzufügung der Schemazeichnung eines Familienhauses wird deutlich, dass die in der Tabelle zusammengestellten Aspekte auf häusliches Leben verweisen. Die nachfolgenden Kapitel schließen an die Begriffe der Tabelle an. Jedes Kapitel enthält zudem verschiedene Texttypen, die auktoriale und personale Erzählperspektiven einander gegenüberstellen, durchmischt mit rein deskriptiven Stellen, die sich wie Regieanweisungen ausnehmen. Das Ende des Buches führt zugleich wieder an den Anfang zurück. Die Seite mit dem Impressum enthält eine Vorausschau auf die nachfolgende Woche, wobei ein abschließender Gedankenstrich ahnen lässt, dass sich das schon Dargestellte wiederholen wird. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass der künstlerische Zugriff auf die Bibel zu keiner Zeit festen Regeln unterstand. Ansonsten entschied der funktionale Zusammenhang, ob die ganze Bibel oder nur Auszüge mit Bildern versehen wurden. In der Gegenwart zeigt sich auch eine neuartige Auseinandersetzung mit den biblischen Stoffen, die zunehmend aus der künstlereigenen Situation heraus gedeutet und neu gelesen, manchmal auch auf zeitgeschichtliche Begebenheiten bezogen werden. VHS

B 1.2 Buch und Tod: Ars moriendi, Totentanz und ihre moderne buchkünstlerische Rezeption Vergänglichkeit und Tod werden früh in Literatur und Kunst thematisiert, Vanitasidee und Meditatio mortis bzw. Memento mori prägen eine Literaturform aus, die seit dem Spätmittelalter in der Ars moriendi mit einem eigenen Buchtypus zusammenfällt. Mit dem Hinweis auf die Vergänglichkeit wollen diese Bücher zu einer rechtmäßigen, auf das Seelenheil ausgerichteten Lebensweise veranlassen. Solche Anweisungen beschränken sich nicht allein auf die Ars moriendi, finden sich vielmehr in Dichtung, Legenden, Predigten und anderen Textformen, die das Repertoire der Erbauungsliteratur bilden. Da die Auseinandersetzung mit dem Tod im Blick auf das diesseitige

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Leben erfolgte, lassen sich die Sterbebücher nicht scharf gegen ihr Gegenstück, die Ars vivendi, abgrenzen. Die Entstehung von Sterbeliteratur und Totentänzen erlangte Konjunktur in Zeiten, in denen Kriege, Hungersnöte und Krankheiten die Sterbeziffern steigen ließen und die Evidenz des Todes vor Augen stellten. Der Tod als elementarer Einschnitt im Leben behält als Thema in Kunst und Literatur seine Aktualität über die Jahrhunderte hin bei und findet unter unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Ausdruck in der modernen und zeitgenössischen Buchgestaltung. Unterschiede zeigen sich in der Darstellung des Todes, die situationsgebunden wie in den Sterbebüchern sein kann, oder eine allgemeine Vorstellung von Tod aufgreift, die sich in Skeletten, verwesenden Körpern, Schädeln oder in einer auf Zeichen reduzierten Emblematik manifestiert. Solche Unterschiede liefern neben stilistischen Merkmalen Hinweise auf kulturelle oder kontextuelle Gepflogenheiten. In der Konfrontation mit dem Tod entfaltet sich ein quasi dialogisches Prinzip, das aus einer geschilderten Begegnung von Mensch und Tod, aus einem Frage- und Antwortkatalog oder Verhaltensanweisungen hervorgehen kann. Die Gegenüberstellung von Leben und Tod ist auch leitendes Prinzip der Totentanzdarstellung, die gerade dann, wenn sie nicht als geschlossener Tanzreigen erscheint, umso deutlicher hervortritt und für die die Abfolge der Seiten im Buch, ob unmittelbar aufeinanderfolgend oder eingestreut in einen Text, eine geeignete Darstellungsform bildet. Tod im Buch: Mittelalter. Die von unterschiedlichen Motiven des Todes durchdrungene Bildwelt des Mittelalters in Darstellungen des Weltgerichts oder der Martyrien von Heiligen ist zunächst architekturgebunden, die Begegnung mit dem Tod im Buch erfolgt über Texte, wie den Vado-mori-Gedichten und der Legende von den drei Toten und den drei Lebenden oder derjenigen der dankbaren und helfenden Toten. Ausgehend von einer an ein Bild anknüpfenden Bußpredigt im 12. Jahrhundert richteten sich diese Legenden an breite Kreise und lieferten den Stoff für die Vado-mori-Gedichte, die den jedermann plötzlich erfassenden Tod thematisieren und mit einem Bekenntnis der Weltverachtung und einem Gebet um göttliches Erbarmen enden und sich im 13. Jahrhundert im französischsprachigen Raum auszubreiten begannen. Allerdings enthält keine der die Verse überliefernden Handschriften eine bildliche Umsetzung. Erst im 15. Jahrhundert finden sich in wenigen englischen Handschriften einige Motive, die, wenn auch nur mit losem inhaltlichen Bezug, als Bebilderung der Texte aufzufassen sind. Auch die Vado-mori-Verse mit Totentanzmotiven kombinierende Ausgabe des Danse macabre (1485) des Guyot Marchant wie auch eine ihr folgende lateinische Handschrift liefern keine eigene Motivik für den Text, geben aber eine inhaltliche Nähe zwischen Vado mori und Totentanz zu erkennen (vgl. Rosenfeld 1974, S. 43). Eine aus der Vergegenwärtigung des Todes abgeleitete Kunst des heilsamen Lebens findet sich in den Schriften der Kirchenväter Augustinus (De immortalitate animae, 387, De doctrina christiana, 397) und Cyprian (De mortalitate, ca. 3. Jahrhundert  









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n. Chr.) oder bei Hildegard von Bingen, etwa in der christlichen Sittenlehre (Liber vitae meritorum, 1158–1163) oder dem Buch über Schöpfung und Erlösung der Welt (Liber divinorum, 1163–1170). Eine weitere Darstellungsform bildet die Contemptus-mundiLiteratur, die über die Hervorkehrung der Schrecknisse des Todes zu Weltverzicht anleiten will. Hierunter fallen die Vado-mori-Gedichte, die, auch wenn sie selbst nicht in Bilder umgesetzt wurden, durch ihre an den Tod adressierten Texte eine Struktur aufweisen, die den im Totentanz sichtbar werdenden Dialog zwischen Tod und Lebendem vorwegnimmt.  

Tod im Buch: Spätmittelalter. Der Dialog bot die Möglichkeit, im Buch Für und Wider von Leben und Tod zu verhandeln. Der Tod tritt dem Menschen gegenüber und sucht ihn von der Unerlässlichkeit des Sterbens zu überzeugen, während der Mensch sein noch unerfülltes Leben dagegen hält, die Zeit des Sterbens als zu früh erachtet oder aber in einem Streitgespräch dem Tod Ungerechtigkeit vorwirft, wie etwa in dem um 1400 abgefassten Gespräch Der Ackermann von Böhmen des Johannes Tepl, in dem der Autor seinem Schmerz über den frühen Tod seiner Ehefrau Ausdruck verleiht. Der Disput erstreckt sich über 32 Kapitel, in denen jeweils einer der Gesprächspartner das Wort hat. Im letzten Kapitel fällt Gott einen Richtschluss, dem sich ein Gebet anschließt. Über die Anfangsbuchstaben der Verse, die sich zum Namen „Johannes“ zusammenfügen, verweist so auch der Gebetstext auf Johannes von Tepl als Autor. Der Text des Ackermann von Böhmen ist in 16 bzw. 17 sowohl fragmentarischen als auch vollständigen Handschriften überliefert, die hauptsächlich aus dem oberdeutschen Sprachraum stammen und von denen wenige mit Illustrationen ausgestattet sind, wie der mit 35 kolorierten Federzeichnungen versehene Cod. Pal. germ. 76.29 Die Ackermann und Tod im Disput wiedergebenden Zeichnungen finden sich am Anfang eines jeden Kapitels, wobei das 34. Kapitel eine zusätzliche Illustration enthält. Die weitgehend gleichförmigen Darstellungen unterscheiden sich lediglich durch den Wechsel der Positionen von Tod und Ackermann und einige geringfügige Unterschiede in den Personen, wesentlich hingegen durch die wechselnden Hintergründe. Ein weiteres Beispiel einer illustrierten Ausgabe des Ackermann von Böhmen ist ein 1462/ 1463 bei Albrecht Pfister in Bamberg erschienener Typendruck mit fünf kolorierten Holzschnitten.30 Das in den Ausgaben anklingende dialogische Prinzip liegt auch den in Büchern aufgenommenen Totentanzfolgen zugrunde, wobei sich der Text auf wenige Argumente verkürzen kann und dem gegenüber das Bild an Dominanz gewinnt. Die einzelnen Motive zeigen Vertreter der Stände, die sich willig oder unwillig vom Tod fortfüh-

29 Heidelberger Bilderhandschrift des Ackermanns aus Böhmen, Stuttgart, um 1470; Frühdruck mit fünf Holzschnitten, Bamberg um 1463, 30 x 19,5 cm (Blatt), Bibliotheka Palatina, Heidelberg, Cod. Pal. germ. 76. Zu den Frühdrucken vgl. Clifton-Everest 2006/2007, S. 361–376. 30 30 x 19,5 cm, Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ident.Nr. Sign. 2616.  













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ren lassen. Die im Bild thematisierte Haltung gegenüber dem Tod zusammen mit den vorgebrachten Argumenten beinhaltet zumeist eine Kritik an den einzelnen Ständen und Professionen. Ars moriendi. Als eigene Buchgattung etablierte sich die Ars moriendi im Spätmittelalter. Gründe sind das Aufstreben des Bürgertums, das gegenüber Adel und Rittertum an Bedeutung gewann und einen Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Struktur bedingte, in dem sich durch Epidemien und Kriege ausgelöste Krisen bemerkbar machten. Mehrere Pestepidemien, aber auch Zunftfehden und Kriegszüge ließen die Sterbeziffern steigen und die Angst vor dem unvorbereiteten Tod eklatant werden. Die Notwendigkeit, sich auf den Tod vorzubereiten, klang bereits seit Ende des 14. Jahrhunderts in den Predigten über die letzten Dinge der Dominikaner und Franziskaner an und leitete darüber zu den Anleitungen zum Sterben über. Die Sterbebüchlein waren zunächst als Hilfe und Anleitung für Priester bestimmt, die sich um das Seelenheil der Gesunden bemühten und sie beizeiten auf den Tod vorzubereiten suchten. Um dem zunehmend steigenden Bedarf an Sterbehilfen nachzukommen, wurden die auf Latein verfassten Bücher in die Volkssprachen übertragen, um so vom Volk selbst genutzt zu werden. Dabei zeichneten sich verschiedene Typen ab, die sich inhaltlich, vor allem aber in der Untergliederung unterscheiden. Die Bücher konnten drei, fünf oder sechs Abschnitte aufweisen. Eine Aufteilung in drei Teile erfolgte in einer Betrachtung dessen, was dem Tod vorausgeht, was den Tod begleitet und was auf den Tod folgt. Eine andere der Ars moriendi zuzurechnende Darstellungsform fokussiert eine Kunst des heilsamen Lebens, die Todesbetrachtung und Darstellung verschiedener Tode (leiblich, seelisch, asketisch) sowie eine Betrachtung über den Ursprung des Todes in der Sünde der Stammeltern beinhaltet und angesichts der Ungewissheit der Todesstunde als Vorbereitung darauf Weltverzicht propagiert. Ein weiterer Typus weist jene Untergliederung in mehrere Teile auf, dem ein Großteil der Sterbehilfen zugrunde gelegt wurde, beginnend mit (1.) einer Mahnung, wobei deutlich gemacht wird, dass das rechte Sterben von aller Sünde befreit. Es folgen (2.) Fragen, mit denen die entsprechende Disposition ermittelt werden soll, darauf folgt die große Mahnung, an die sich (3.) Gebete an Gott Vater, Christus, Maria, die Heiligen, Schutzpatrone und Engel schließen, um schließlich (4.) Anweisungen an die Sterbehelfer zu erteilen. Beim dritten Typus stehen die Nachahmung des Sterbens Christi und die Versenkung in dessen Leiden als Mittel der Überwindung der Anfechtungen im Vordergrund. Die ersten Ars-moriendi-Texte sind in die komplexeren Zusammenhänge von Predigtsammlungen eingebunden und bilden noch keine eigene Buchform. Die Admonitio morienti et de peccatis suis nimium formidanti, die dem Anselm von Canterbury zugeschrieben wird, besteht in einem Fragenkatalog für Mönche und Laien mit eindringlicher Mahnung zur Buße. Die frühesten und auch späterhin häufigsten Sterbetraktate entstanden, wahrscheinlich unter dem Einfluss antiklerikaler Ansprüche der Hussiten, in Böhmen und Österreich, etwa Thomas Peuntners Kunst des heilsamen  

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Sterbens, die auf einer Predigt über das Jüngste Gericht fußt und mit Anfechtung, Ermahnung, Fragen, Gebeten und Vorschriften für den Sterbenden und die Sterbebegleiter die fünf Teile enthält, die für die Buchform charakteristisch sind. Bisweilen weiteten sich die Sterbebücher aber auch zu umfangreichen Kompendien aus, wie beispielsweise der Tractatus de morte nec non de praeparatione ad mortem sive speculum mortis, in dem Bernhard von Waging alles, was die Theologen des Mittelalters über Tod und die arte bene vivendi et moriendi geschrieben hatten, zusammengefasst und mit Kenntnissen aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter zu einem umfangreichen Traktat verarbeitet hatte. Eine Ars moriendi enthält auch das letzte Kapitel des Lehrgedichtes Floretus (1478), das entweder von Johannes von Clairvaux oder von Johannes von Garlande stammt. Dieser Text diente wiederum Jean Gerson als Grundlage für seine Sterbehilfe. Sie findet sich im dritten Teil seiner Schrift Opus tripartitum (ca. 1480) und liefert mit ihrer Aufteilung in einen Abschnitt mit vier Ermahnungen (exhortationes), sechs Fragen (interrogationes), Gebeten und Vorschriften für den Sterbenden (observationes) die Vorlage für die der Ars moriendi typischen und wesentlichen Inhalte. Auf Gersons Sterbehilfe folgt 1452, ebenfalls auf Latein abgefasst, das Speculum artis bene moriendi des Domenico Kardinal Caprianica, von dem 1473 eine deutsche Übersetzung erschien. Deutschsprachig sind auch die beiden von Johann Geiler von Kaysersberg verfassten Bücher Wie man sich halten soll by eym sterbenden Menschen (1481), die eine Übersetzung von Gersons Sterbehilfe ist, und das ABC, wie man sich schicken sol, zu einem köstlichen seligen Tod (1497). Diese Bücher enthalten eine Zusammenstellung von Texten, in denen der Sterbende zur Bekehrung seiner Sünden aufgerufen wird. In der Hinwendung an Heilige kann er Fürsprache für sich selbst, aber auch für bereits Verstorbene erbitten und darauf hoffen, auf diese Weise den Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen (vgl. Reinis 2007; zum Totentanz vgl. Koller 1980). Solche Fürbitten verbanden sich mit der Vorstellung von einem individualisierten Endgericht, wie sie von der mittelalterlichen Dogmatik vorgegeben und durch eine entsprechende Verlautbarung Papst Benedikts XII. noch einmal bekräftigt worden war (vgl. Sörries 1998a, S. 18). Aufgeführt werden Sünden, für die der Sterbende um Vergebung bitten soll, ihnen gegenübergestellt als Muster vorbildlichen Lebens finden sich die Tugenden. Diese Gegenüberstellung von gottseligem und verwerflichem Verhalten bezeugt, dass die Sterbebücher nicht erst im Augenblick des Sterbens zum Einsatz kamen, vielmehr schon im Vorfeld Richtlinien für das Leben geben sollten. Bebildert sind die frühen Sterbelehren nicht und ebenso wenig sind Anzahl der aufzuführenden Sünden wie deren Reihenfolgen festgelegt; erst die Schrift Scire bene mori (ca. 1410) des Johannes von Kastl lieferte mit ihren fünf Anfechtungen eine Vorstufe der Bilder-Ars, war selbst aber noch ohne Bilder. Die Ars moriendi der fünf Anfechtungen, auch als Bilder-Ars bezeichnet, die zwischen 1408 und 1430 entstand, bestand ursprünglich aus 24 Blättern, von denen elf Bilder zeigen und elf Texte, die jeweils die Bilder erläutern. Die Bilder zeigen fünf Anfechtungen durch den Teufel und fünf Entgegenstellungen durch Engel. Jedes Mo 

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tiv visualisiert eine der Sünden im Wechsel mit der ihr entgegengesetzten Tugend. In einem gleichförmigen, für alle Blätter einheitlich gehandhabten Arrangement wird der Sterbende im Bett gezeigt, umgeben von Teufeln und Engeln, die den Streit um seine Seele austragen. Die entsprechenden Worte der Versuchung oder der Tröstung sind in Spruchbändern explizit gemacht. Den Engeln tritt unterstützend eine Gefolgschaft von Heiligen bei, die Aufstellung hinter dem Bett nehmen, während vor dem Bett die Teufel lagern. Die Teufel versuchen, den Sterbenden in seinen letzten Stunden zu Unglauben, Verzweiflung, Ungeduld, Hoffart und Weltsinn zu verleiten, die Engel dagegen weisen ihn auf den rechten Glauben im Vertrauen auf die sündenvergebende Gnade Gottes hin. Im Schlussbild werden die Teufel durch den Gekreuzigten vertrieben und die Seele von Engeln in den Himmel geleitet. Bei aller Unterschiedlichkeit zielen sämtliche Darstellungen auf Anleitung zu einem tugendhaften Lebenswandel, dem gleichnishaft Anfechtung und Verirrung der Seele vorangestellt werden, auf die Bußfertigkeit und Glückseligkeit folgen. Gelegentlich bildet den Schluss einer solchen Bildfolge eine Darstellung Christi als Fürsprecher oder eine von der Erschaffung der Eva und dem Sündenfall, begleitet vom Erzengel Michael als Seelenwäger. Mit der von Gerson vorgegebenen Struktur und dem Bildrepertoire der Bilder-Ars lagen jene Teile vor, die im weiteren einen als Ars moriendi verbreiteten, sich an ein Laienpublikum richtenden Buchtypus bestimmten, wie etwa das Speculum artis bene moriendi aus dem Wiener Umkreis, das Verbreitung im gesamten süddeutschen Raum fand und vermutlich von Nikolaus von Dinkelsbühl verfasst wurde. Die durchweg in Holz geschnittenen Blockbücher geben eine klare, Sünden und Tugenden einander gegenüberstellende Einteilung vor, was über die Motivik hinaus auch über die in das Bild integrierten Spruchbänder unterstrichen wird.31 Der Totentanz im Buch. Die für die Ars moriendi konzipierten Bildfolgen der Totentanzdarstellungen unterscheiden sich grundsätzlich von den in Bücher aufgenommenen, doch stehen die Bücher insofern miteinander in einem Zusammenhang, als sie dem Mememto mori und darüber der Vorbereitung auf den Tod dienen sollen. Anders als die Bilder der Ars moriendi sind die der Totentänze nicht immer für eine Publikation im Buch konzipiert, sondern häufig Reproduktionen von Monumentalwerken, als Einzeldarstellungen auch Gegenstand von Chroniken.32 Während der monumentale

31 Weitere Sterbebücher im deutschen Sprachraum erscheinen in lateinischer und deutscher Sprache, darunter: Johannes von Mies: Tractatus de bono ordine moriendi (1407), enthält 3 Teile: de domo temporali et transitoria, de domo spirituali et eterna, de domo vermiculosa et fetida. Jacob von Jüterborg: De arte bene moriendi. Die Sterbekunst nimmt auch in den Erbauungsbüchern einen Platz ein: Gersons Opus tripartitum nimmt Einfluss auf Johann Geiler von Kaysersberg: Wie man sich halten soll bey eym sterbenden Menschen, 1482; Dreieckicht Spiegel; De dispositione ad morte, In: Sermones praestantissimi, 1496; Ein ABC, wie man sich schicken soll zu einem köstlich, seligen Tod. 32 Im Kapitel Das sibend alter der Schedelschen Weltchronik (1493) ist dem tanzenden Tod eine fast seitenfüllende Darstellung eingeräumt.

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Totentanz an Friedhofsmauern, Beinhäusern, Kirchen oder anderen Plätzen im öffentlichen Raum jedermann adressierte, erreichten Totentanzdarstellungen in Büchern nur diejenigen, die sich Bücher leisten konnten. In ihrer Ikonografie unterscheiden sich die beiden Formen nicht wesentlich, wohl jedoch in der Form, die im Buch eine Aufteilung der Paare nach Seiten bedingt und darüber die Tanzfolge aufbricht, das dialogische Prinzip hingegen stärker hervortreten lässt. Weite Verbreitung in Holzschnitten mit begleitenden Texten erlangte der Totentanz durch den Buchdruck, wobei nicht jede Totentanzfolge eigens für die Publikation im Buch erstellt wurde. Bei etlichen handelt es sich um Reproduktionen von Totentänzen im öffentlichen Raum, wie etwa bei der 1485 bei Guyot Marchant in Paris unter dem Titel Danse macabre erschienenen Holzschnittfolge, die den 1424 entstandenen Totentanz am Beinhaus des Franziskanerklosters Aux SS Innocents wiedergibt. Einen sich über Medaillons erstreckenden Totentanz enthält auch das Stundenbuch Croy-Arenberg, das vermutlich zwischen 1480 und 1500 in einer Brügger Werkstatt entstand.33 Die Szenen begleiten den Text des Totenoffiziums, dem eine ganzseitige Illumination vorangestellt ist, die die Szene mit dem im Bett ausgestreckten Sterbenden wiedergibt. Die Medaillons mit den Totentanzszenen, beginnend auf Folio 143 und sich fortsetzend bis Folio 180, stehen jeweils unterhalb des Textes am unteren Blattrand. Zwischen 1415 und 1450, etwa in dem Zeitraum des Aufkommens der ersten Bilder-Ars, führte Meister E. S. Kupferstiche mit Darstellungen des Todes aus, die für eine Ars moriendi bestimmt waren und von deutschen, französischen, spanischen und niederländischen Block- und Buchdruckausgaben übernommen wurden. Das Werk erschien in einer langen (1415) und einer kurzen (1450) Version. Im zweiten Kapitel der älteren Version werden fünf Versuchungen beschrieben, die einen Menschen in seiner letzten Stunde bedrängen. Mit ihren 11 Holzschnitten, die fünf Versuchungen und fünf Tröstungen abbilden, steht die Ars moriendi des Meisters E. S. in unmittelbarem Zusammenhang mit Johannes von Kastls Schrift. Ein Gegenmodell zur Todesthematik liefert das Figurenalphabet des Meisters E. S., in das er Heilige als Verweisung auf Erlösung integrierte.34 Prägend für die Aufnahme des Totentanzes im Buch war auch Hans Holbeins 1526 erstellte, 1538 in Lyon erschienene Holzschnittfolge, die bis ins 17. Jahrhundert viel 







33 Pergament, 204 Blatt, 21 x 15,2 cm. Das Kalendarium zeigt, dass das Stundenbuch ursprünglich für den englischen Raum bestimmt war, dann aber in den Besitz der Familie Croy gelangte, deren Wappen sich auf Folio 2 findet, um 1600 dann durch die Eheschließung der Anne de Croy mit Charles de Arenberg in den Besitz der Arenbergs gelangte, deren Wappen dann auf Folio 2 hinzugefügt wurde (zu dem Manuskript vgl. Valvekens 2012). 34 Im Buchstaben D erscheint Johannes der Täufer, der auf das Buch des Lebens hindeutet und darüber an die Endlichkeit des irdischen Seins gemahnt, gleichzeitig aber auch mit einer Verweisung auf das Lamm Gottes die Erlösung zum ewigen Leben durch den Opfertod Christi in Aussicht stellt, im Buchstaben Y sind die Heiligen Margarethe und Georg und im V der Heilige Christophorus zu sehen.  





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fach nachgestochen wurde (vgl. Ströle 1999, S. 37; Petersmann 1983, S. 96f.). Holbeins Imagines mortis (1538) umfasst eine Folge von zunächst 41, dann 58 kleinformatigen Motiven, die, von Hans Lützelberger in Holz geschnitten, auf eine Verbreitung im Buch angelegt waren. Allein schon die Auflösung der Tanzbewegung und das explizite Hervorkehren der Interaktion einer einzelnen Person mit dem Tod, scheint auf eine seitenweise Abfolge abgestimmt zu sein. Den Begegnungen der einzelnen Ständevertreter mit dem Tod sind fünf Szenen aus der Schöpfungsgeschichte vorangestellt, eine Weltgerichtsszene und ein Wappen des Todes nachgeordnet. In dieser Reihung erschienen die Motive 1583 erstmals in Lyon, wurden aber bis ins 16. Jahrhundert hinein wiederholt aufgelegt (Sörries 1998b, S. 131f.). Mit Holbeins Bildfolge löste sich der bis dahin noch geläufige Tanz der Toten endgültig auf, zugleich zeichnen sich Anklänge an die Reformation ab, die in Motiven wie Christus vera lux oder einer unterschwelligen Kritik am Ablasshandel sinnfällig werden. In dieser Veränderung drückt sich auch ein gewandeltes Verhältnis von Lebenden und Tod aus. Der Tod wird individualisiert erlebt, jedem Standesvertreter begegnet sein persönlicher Tod, der nun als Knochenmann in Erscheinung tritt und nicht mehr, wie noch bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts als ein von Haut überzogenes Skelett oder als von Spuren der Verwesung gezeichneter Körper.  









Tod im Buch nach der Reformation. Nach der Reformation verringerte sich die Bedeutung von Sterbehilfen als eigenständige Buchgattung, die stattdessen Aufnahme in Erbauungsbücher fanden. Dieser Bedeutungsverschiebung lag eine im reformatorischen Kontext veränderte Haltung gegenüber dem Tod zugrunde. Luther folgend wurde die Sterbestunde als exemplarisch für das Verhältnis von Mensch und Gott gesehen, die Anfechtungen als Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit. Für die Sterbebücher wurden Sündenerkenntnis und Buße im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes wesentlich. Da zur Absolution ein Geistlicher nicht notwendig war, entwickelten sich die protestantischen Ars moriendi zu kurzgefassten Laiendogmatiken, deren Schwerpunkt auf die Rechtfertigungslehre gesetzt wurde. Die lehrhafte Intention der Sterbeschriften bedingte die Einbindung von Teilen des Katechismus sowie eine Glaubensbefragung am Sterbebett, wobei sich in der Zusammenstellung von Anrede, Ermahnung, Gebeten und Sprüchen eine Rezeption bestimmter Stücke aus den mittelalterlichen Sterbebüchern abzeichnete. Gleichzeitig verloren die Sterbebücher mit der Aufnahme weiterer Inhalte, wie Bibelsprüche, apostolischem Glaubensbekenntnis und dessen Auslegung, Dank an den Ehegefährten, Ermahnungen, für die Kinder zu sorgen und die Erbangelegenheiten zu regeln, Trostbriefe und -gedichte für die Hinterbliebenen, die einerseits der Ehrung des Verstorbenen, andererseits der Vorbereitung auf das eigene Sterben dienen, den Charakter eines selbstständigen theologischen Traktats. Tod im Buch: 17. und 18. Jahrhundert. Wie kaum in einem anderen Zeitraum bestimmen Tod und Vergänglichkeit die Motivik des Buches im Barock, wobei an erster  

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Stelle Dichtung und Emblematik stehen. Hinzu treten Kippbilder und Trompe-l’oeil, über die Leben und Tod als eine zwei Seiten aufweisende, untrennbare Einheit sinnfällig werden. Diese Ausrichtung zeigt sich in dem von Matthäus Merian 1649 publizierten Totentanz von Basel, der mehrere Auflagen erlebte.35 Eingebunden in Predigtund Lehrtexte mit Verweisen auf Bibelstellen liefert Merian ein Handbuch, das weit über eine Beschreibung lokaler Gegebenheiten hinausgeht. Auch die Wiedergabe des Totentanzes ist dem praktischen Gebrauch angepasst. Entgegen der Malerei an der Friedhofsmauer ist das Kupfer mit dem Sündenfall an den Schluss der Bildfolge gestellt. Damit wird das im Totentanz ausgesprochene irdische Ende gleichsam auf seine Anfänge zurückgeführt und gleichzeitig eine Begründung der menschlichen Endlichkeit gegeben. Die Geschlossenheit des Reigens, der bei seiner Übernahme ins Buch und die notwendige Aufspaltung in Paare aufgebrochen worden war, wird so durch die abschließende Darstellung wiederhergestellt. Tod, Auferstehung und Jüngstes Gericht, die Merian im Titel anspricht, werden hier sinnträchtig zusammengeführt. Ein letztes und den Band beschließendes Kupfer zeigt ein Vexierbild, in dem zunächst das Porträt einer weltlichen Person aufscheint, das sich jedoch zu einem Totenschädel wandelt, sobald man es um 180 Grad dreht. Barocke Bußpredigt und Volksbelehrung, die sich auch gegen die ausschweifende Prachtentfaltung des Hoflebens richteten, erinnerten an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, die sich in Kriegen und Krankheiten bekundeten und Anlass zur Mahnung boten. Auf die Pestepidemie in Wien 1679 reagierte Abraham a Sancta Clara mit Merck’s Wienn (1679), einer eindrücklichen Beschreibung der Auswirkungen der Seuche, die sich wie ein Totentanz in Bildern gestaltete und deren Publikation er mit der Todten=Capelle/Oder Allgemeinen Toten-Spiegel eine nicht minder opulente Darstellung folgen ließ.36 Das Buch fand weite Verbreitung, wurde auch ins Niederländische übersetzt und enthielt neben einem Titelkupfer 68 Illustrationen, die der Ikonografie des Totentanzes folgen. Teils sind die Motive an die Paare bei Holbein angelehnt, teils aber treten Sinn- und Rätselbilder in Erscheinung, die die Interaktion von Mensch und Tod auflösen, um den Tod als Sinnbild der Vergänglichkeit zu akzentuieren. Einen dritten Bildtypus bilden die emblematischen Sinnbilder, die auf allgemeine Sicht- oder Erkenntnisweisen Bezug nehmen. Sie setzen sich zusammen aus einem Lemma in Form eines lateinischen Wahlspruchs, dem Ikon, das das Rätselbild

35 Todten-Tanz wie derselbe in der löblichen und weitberühmten Stadt Basel als ein Spiegel Menschlicher Beschaffenheit ganz künstlich gemahlet und zu sehen ist. Mit beygefügten und aus H. Schrift und denen alten Kirchen-Lehrern gezogenen Erinnerungen vom Todt, Auferstehung, Jüngsten Gericht, Verdammnis der Gottlosen, und dem ewigen Leben. Nach Originalkupffern gebracht von Matth Merian sel. Frankfurt am Main 1725. Bey Joh. B. Andreä und H. Hort. 36 Abraham a Sancta Clara: Besonders meublirt-und gezierte Todten=Capelle/Oder Allgemeiner Todten=Spiegel/Darinnen Alle Menschen/wes Standes sie sind/sich beschauen/an denen mannigfaeltigen Sinnreichen Gemälden das MEMENTO MORI zu studieren/und die Nichtigkeit und Eitelkeit dieses Lebens Democriticè oder Heracliticè… Nürnberg bei Christoph Weigel, 1710.

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zeigt, und dem Epigramm, das den Sinn der Darstellung auflöst. Weiterhin enthält die Todten-Capelle Darstellungen des Sündenfalls und solche zum Schicksal der sündigen Seelen. In dieser Zusammenstellung vereint Abraham a Santa Claras Buch tradierte Motive mit emblematischen, wodurch die Omnipräsenz des Todes deutlicher denn je hervortritt. Auch Salomon von Rusting(h)s Schauplatz des Todes oder Todten-Tanz (1736) enthält einen über rund 30 Bildtafeln verteilten Totentanz, dessen Motive vor Augen stellen, wie der Tod die einzelnen Standesvertreter aus dem Leben führt.37 In Johann Nikolaus Weislingers Vado Mori Das ist: Bereitschaft zum Tod, Oder Der Weg alles Fleisches, Durch eine ordentliche Todten-Procession (1744) reduziert sich die Todesdarstellung auf das Frontispiz, das im Wesentlichen ein an die Heraldik angelehntes Wappenschild zeigt, in dem ein Kindersarg dominiert und als dessen Träger eine weibliche und eine männliche Personifikation des Todes dienen, während ein mit Pfeil und Bogen bewehrter Tod die Bekrönung liefert. Spruchbänder zu beiden Seiten des Wappens akzentuieren das Memento mori.38 Tod im Buch: 19. Jahrhundert. In Sterbeliedern in Gesangbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts leben Anklänge der mittelalterlichen Ars moriendi fort, wenngleich sie nicht mehr in eine Auflistung der Sünden, der Aufforderung zur Buße und Anweisungen für das Verhalten in der Sterbestunde eingebunden sind. In der Traktatenund Erbauungsliteratur werden die erbaulichen und die den Lebenden auf das Sterben vorbereitenden Aussagen theosophisch, okkultistisch und spiritistisch überformt, etwa in Büchern wie dem Kalender für Zeit und Ewigkeit (1843) oder dem Kompaß für Leben und Sterben (1875) des katholischen Geistlichen Alban Stolz, Das Leben nach dem Tod (1915) von Herrmann Rudolph oder dem Die Kunst, dem Tode seine Schrecken zu rauben oder wie kann man sich als Mensch auf den Tod vorbereiten (1889) von G. Hauffe. Der Todten-Tanz oder Spiegel menschlicher Hinfälligkeit besteht in einer lithografierten Folge von Umrisszeichnungen K. M. Eglins, die ein Gemälde von Jacob von Wyl (1586–1620) wiedergeben.39 Alle Darstellungen werden von erläuternden Texten in Deutsch und Französisch begleitet. Die insgesamt acht Blätter erfassen den gesamten Totentanz, inklusive den Maler, der in dem Ausschnitt auf dem sechsten Blatt im Buch erscheint. Das Frontispiz ist wie ein Sanktuarium gestaltet, lediglich umschließt es statt einer Reliquie den Buchtitel. Viele der im 19. Jahrhundert entstehenden Totentänze sind nicht explizit für eine Publikation im Buch bestimmt, wie beispielsweise  





37 Salomon von Rusting: Schauplatz des Todes oder Todten-Tanz. Nürnberg 1736, 375 Seiten, 30 Tafeln; Abb. bei Sörries 1998a, S. 10. 38 Weislinger, Johann Nikolaus: Vado Mori Das ist: Bereitschaft zum Tod, Oder Der Weg alles Fleisches, Durch eine ordentliche Todten-Procession…, herausgegeben von Johanne Nicolao Weislinger, Definitoren des Hochwürdigen Ottersweyerischen Rural-Capituls, Straßburg/Augsburg/Oberammergau 1744. 39 Todten-Tanz oder Spiegel menschlicher Hinfälligkeit = La danse des morts exposante le néant du genre humain/in acht Abb., welche von Von Wyl gemalt. Luzern 1838.  

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Alfred Rethels Auch ein Totentanz (1849) oder Max Klingers Vom Tode. Erster Teil, Opus XI (1889), wenngleich sie in späteren Reproduktionen doch in Buchform erscheinen. Tod im Buch: 20. Jahrhundert. Darstellungen des Todes erhalten im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt unter dem Einfluss zweier Weltkriege, ein anderes Gepräge als in den Jahrhunderten davor, da sie nun weniger im Zusammenhang eines Memento mori als in dem einer allgemeinen Warnung vor der vom Menschen selbst verursachten Zerstörung stehen. Tröstende oder versöhnliche Anteile treten entsprechend zurück und geben einer Kritik an Politik und Gesellschaft Raum. Eine Ars moriendi lebt bestenfalls in Traktaten der Kirche fort, bildet aber keinen eigenen Buchtypus mehr. Die überwiegende Zahl der Totentänze ist Gegenstand von Grafikzyklen, die nur zum Teil für eine Publikation in Buchform konzipiert sind. Die Darstellung des Todes wird überformt von zivilisatorischer Implikation, zeigt sich eingebunden in den durch Unfall oder übermäßigen Drogenkonsum ausgelösten Tod. Im Künstlerbuch gelangen entweder Motive des Totentanzes zur Darstellung oder aber es wird eine mit Symbolen des Todes arbeitende Bildsprache verwendet, die bisweilen nur durch einzelne Begrifflichkeiten angestoßen ist. Häufig dominieren die gestalterischen Elemente die textlichen Passagen oder aber sie kommen wie im Falle von Frans Masereel ganz ohne Text aus. Darüber hinaus erhält die Auseinandersetzung mit Tod, Sterben und Vergänglichkeit Formen, die sich von der tradierten Ikonografie des Todes lösen, über Abstraktion oder Ungegenständlichkeit das zerstörerische Moment des Todes erfassen und dabei auch zeitgenössische Elemente einbeziehen, wie die todbringende Explosion von Bomben oder den durch Verkehrsunfälle ausgelösten Tod. In Robert Schwarz’ Buch Himmelslust, dessen textliche Grundlage das Sonett. Vergänglichkeit der Schönheit (1695) von Christian Hofmann von Hofmannswaldau sowie An das leydende Angesicht Jesu Christi von Paul Gerhardt (1656) bilden, lösen Seiten mit und ohne Text einander in regelmäßigem Rhythmus ab.40 Die sich in kurze Abschnitte, bisweilen auch einzelne Verse auflösenden Texte, von denen einer die irdische Zeitlichkeit, der andere Erlösung im Jenseits heraufbeschwört, hat der Künstler mit einem reichen Repertoire an Bildern aus dem klassischen Kunstkanon wie auch der Pop- und Zeitschriftenliteratur unterlegt. Motiven aus dem christlichen Kontext wie Kreuzigung, Kreuzabnahme oder Christi Grablegung stehen solche mit betont lustvollen Komponenten gegenüber, die verführerische Frauentypen ebenso beinhalten wie im Kuss vereinte gleichgeschlechtliche Paare, zu denen Verkörperungen von Tod und Vergänglichkeit hinzutreten, mal in Gestalt eines Skeletts, mal als Totenschädel. Der Wechsel von christlich konnotierter Erlösungsthematik und irdische Lustbar 



40 Schwarz, Robert: Himmelslust. Mainz 1995/1996, 63 x 44 cm, Auflage: 5 Exemplare Vorzug, 20 Exemplare Normalausgabe. Hofmann von Hofmannswaldau, Christian: Sonett. Vergänglichkeit der Schönheit/Gerhardi, Paul: Geistliche Andacht, bestehend in hundert und zwanzig Liedern; deutsche Übersetzung und Gedichte.  





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keit betonenden Motiven erinnert an die Gegenüberstellung der tentatio diaboli und inspiratio angeli der Ars moriendi. Die bei Schwarz dem irdischen Dasein als Gegenpol gegenübergestellte Vergänglichkeit tritt weit dominanter in Büchern in Erscheinung, die Totentänze in ihren Mittelpunkt stellen. Alfred Kubins Blätter mit dem Tod, die in zwei Auflagen 1918 und 1925 bei Bruno Cassirer in Berlin erschienen, wie auch die 1938 ausgeführten, 1947 vom Wiener Verlag in Wien unter dem Titel Ein neuer Totentanz herausgegebenen Tuschezeichnungen sind eine kritische, bisweilen satirische Züge annehmende Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgesellschaft.41 Unmittelbare Kritik am Krieg enthalten auch die beiden Totentänze von Frans Masereel. Der eine besteht in einer Folge von Zeichnungen, die 1940/1941 während des Zweiten Weltkriegs entstanden und im Druck als Danse macabre bei Herbert Lang in Bern erschienen. Beim zweiten handelt es sich um eine Holzschnittfolge, die unter dem gleichen Titel wie zuvor die Zeichnungen von Kurt Wolff in New York publiziert wurde.42 Auch der 1966 von HAP Grieshaber in einer Folge von Holzschnitten ausgeführte Totentanz kehrt den Tod nicht im Gedenken an die Endlichkeit des irdischen Lebens mit moralischer Absicht hervor. Vielmehr interessieren den Künstler Adaption und Reform der tradierten Bildsprache, die er modernisiert und entsprechend auch die Inhalte verändert.43 Anregung erhielt er durch den Baseler Totentanz, der einst eine zwischen Laienfriedhof und Dominikanerkloster verlaufende Mauer geziert hatte, zur Zeit von Grieshabers Ausführung aber nur mehr in Reproduktionen vorlag. Grieshaber plante für seine Totentanzdarstellung eine Erweiterung, indem er Berufe aus seinem Umfeld aufzunehmen und die Folge um „Drucker, Ätzer, Buchbinder, Setzer, Papiermacher, Schreiner und Lithographen“ (Brief von Grieshaber an Ulrich Herbst 1965, in Fürst 1967, S. 185) zu ergänzen dachte. Doch blieb dieses Vorhaben unausgeführt. Dafür jedoch wurden von der historischen Darstellung übernommene Vertreter der einzelnen Stände und Berufsgruppen durch zeitgenössische Bezüge modernisiert, sodass anders als bei Merian oder dessen Nachfolger weniger der Memento-mori-Gedanke hervortrat, als vielmehr die Individualität der durch die einzelnen Figuren verkörper 

41 Die Bestimmung zum Buch zeigt sich in dem vom Künstler mitgestalteten Titelblatt wie auch der Schlussvignette, während beispielsweise Alfred Rethels ein halbes Jahrhundert zuvor erstellte Holzschnittfolge Auch ein Totentanz (1850) keine solchen Hinweise enthält, die auf ihre Bestimmung zum Buch hinführten. Kubin, Alfred: Blätter mit dem Tod. Berlin 1918; ders.: Ein neuer Totentanz. Wien 1947, 42 x 29,5 cm (Blatt). 42 Masereel, Frans: Danse macabre. New York: Pantheon Books 1942, 28 Blatt, 34,8 x 24,9 cm; ders.: Danse macabre. Bern: Herbert Lang 1941, 33 Blatt, 34,3 x 24,7 cm. 43 Grieshaber, HAP: Totentanz von Basel. Mit den Dialogen des mittelalterlichen Wandbildes. La Danse des Morts à Bâle. The Dance of Death at Basle. Mit 40 Original-Farbholzschnitten. Dresden 1966. Folio, Druck der Holzschnitte von den Originalstöcken in den Werkstätten der Hochschule für Graphik und Buchkunst, Leipzig. Die Schriften für den deutschen Text wurden nach Entwürfen von Albert Kapr in Holz geschnitten. Text in Deutsch, Englisch und Französisch, 4. Druck der Leipziger Presse, Dresden 1966.  

















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ten Stände und Berufe. Sie erscheinen gleichermaßen raum- wie zeitlos und damit universal. Nicht zuletzt wurde im Vorwort von Grieshabers Ausgabe der gestalterische Wandel aus einer veränderten Todesauffassung heraus begründet. Neben den farbigen Holzschnitten war von Anbeginn eine Ausgabe geplant, bei der die Darstellungen ganz auf den Schwarzdruck reduziert sein und als günstigere Variante der Nachfrage entsprechen sollte, die Grieshabers Neuinterpretation des Totentanzmotives erzielte. Auch Tobias E. Ellmanns Buch Totenwache verfolgt keine erbaulichen Absichten, kann aber durch seine Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit und Tod in einen losen Zusammenhang zur Ars moriendi gestellt werden.44 Totenwache gestaltet sich als ein Monolog, der sich an den Verstorben richtet und die Vergangenheit der Gegenwart gegenüberstellt. Das Vergangene wird jedoch nicht als endgültig abschlossen oder gar unwiederbringlich verloren erinnert, erscheint vielmehr in der Gegenwart widergespiegelt. Entsprechend greift Ellmann über die Gestaltung seiner Texte, mehr noch als die der Bilder, die Inhalte auf. Das geschieht über starke Kontraste, bei denen die Buchstaben mal hell auf dunklen Grund, mal dunkel auf farbige Flächen gestellt sind, und durch die ausdrucksstarke Formierung der Textblöcke, die sich aus unterschiedlichen Zeilenlängen und den daraus resultierenden spitzen Winkel ergeben. Die so formatierten Textblöcke werden als seitengestaltende Elemente genutzt. Da sich zudem die Zeilenausrichtung von Textfeld zu Textfeld verändert, muss auch das Lesen mal vertikal, mal horizontal zur Buchseite erfolgen, und weil die Textbilder sich nicht auf eine einzelne Seite konzentrieren, vielmehr ganze Doppelseiten vereinnahmen, wobei sie die formale Struktur der Bilder aufgreifen, verbinden sich Text und Bild zu einer geschlossenen Einheit, die ebenso wenig illustratives Beiwerk ist wie der Text nur eine inhaltliche Vorlage für die Bilder liefert. Eine durch den Titel ausgewiesene Anknüpfung an die Sterbebüchlein zeigt Gernot Cepls Überarbeitung eines kleinen Inselbandes, die er als Unikat unter der Bezeichnung Ars moriendi vorlegt und sie darüber in unmittelbaren Bezug zu jenem Literaturtypus stellt, der als Sterbebüchlein seit dem 16. Jahrhundert in Blockbüchern Verbreitung gefunden hatte. Textliche Grundlage ist der Gedichtzyklus In hora mortis von Thomas Bernhard. Der Titel ist dem Ave Maria entlehnt, das in einem zweiten, dem ursprünglichen Text später hinzugefügten Teil die Todesstunde thematisiert. Hierauf bezieht sich auch Bernhard in Form eines direkt an Gott gerichteten Ausrufs, um daran anschließend die Qualen des Sterbens zu schildern. Tod und die Relativierung materieller oder irdisch ausgerichteter Werte angesichts des bevorstehenden Endes sind leitendes Thema des Zyklus. Dem Gedicht Bernhards fügt Cepl handschriftlich weitere Texte hinzu, die offensichtlich nur ein Auszug aus einem größeren Zusammenhang sind. Den Eindruck des Fragmentarischen lösen unvermittelte Einstiege inmitten von Sätzen und plötzliche Abbrüche am Ende der Seiten aus. Der gleichzeitig  

44 Ellmann, Tobias E.: Totenwache. Leipzig 1987. 10 Blatt, Siebdruck, Leporellofaltung in Pappschuber 41,9 x 28,2 cm, Auflage: 50 Exemplare.  





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bei der Niederschrift bekundete Platzmangel signalisiert, dass keine Ausdrucksform den um Leben und Tod, Ewigkeit und Unendlichkeit kreisenden Überlegungen entsprechen kann. Seine handschriftlichen Ausführungen ergänzt Cepl um Zeichen wie Kreis, Kreuz und Schädel als Symbole von Ewigkeit, Glauben und Tod, vor allem aber um eine sich in bloße Farbstrukturen, Spritzer und informelle Kompositionen auflösende Bildsprache, die sich leitmotivisch über die gesamte Darstellung ausbreitet, um stellenweise mit Gebeten oder kurzen Auszügen aus der Bibel überschrieben zu werden. Jean Delvaux kombiniert in seiner kleinformatigen Ars moriendi Motive aus Totentanz und Sterbebüchlein.45 Auf fünf vorder- und rückseitig bedruckten, zu einem Leporello vereinten Doppelseiten finden sich im Siebdruck reproduzierte Zeichnungen, in die aus einer Zeitung gerissene Textstücke collagiert sind. An erster Stelle steht ein Schädel, gefolgt von den Bildnissen von Toten, die in der Gegenüberstellung von Alt und Jung den Lauf des Lebens und den damit verbundenen Verfall andeuten, im Weiteren verschiedene Lebensformen wie auch Tiere einbinden und so wesentliche Momente von Leben und Tod umreißen, die sich zur untrennbaren Einheit des Seins aller irdischen Existenz formieren. Die Schilderung vom Leben, die immer ihre Grenzen im Auge behält, findet ihre Ergänzung und Abrundung in der Farbgebung, einer konsequenten Beschränkung auf Grau und Beige in Assoziation zum Reich der Schatten, sodass die sich in den Bildern zeigenden Handlungen nur mehr als Abbilder des Lebens erscheinen. In diesem Sinne sind auch die Zeitungsfetzen zu lesen, die zwar Buchstaben zu erkennen geben, deren Inhalte aber nicht mehr zu erschließen sind. Nur ein einziges Mal ist „La mort, l’ange, l’homme, le diable et la bête“ zu lesen, womit die Programmatik des Totentanzes evident wird. Angesichts der Thematik muss auch die Entscheidung für die Leporelloform als nicht zufällig erscheinen, fasst sie doch ebenso in fortlaufenden Streifen den Lebenslauf zusammen, wie sie mit Vorder- und Rückseite die Dualität von Leben und Tod konfrontiert. Dem gegenüber findet sich der Gedanke an die Unendlichkeit im Blau der Holztäfelchen ausgedrückt, die den Einband des Leporellos bilden. VHS

B 1.3 Zeitgenössische Buchwerke in der Tradition alter Handschriften und früher Drucke Vom Manuskript bis zum digitalen Druck unterlag das Buch technischen und technologischen Entwicklungen, hier vor allem zunächst der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wie im Weiteren Verfahren der Digitalisierung, die für seine Re-

45 Delvaux, Jean: Ars moriendi, Leporello mit 5 Doppelseiten, vorder- und rückseitig bedruckt, Siebdruck, Auflage: 50 Ex. Ateliers de Redfoxpress en Irland 2003.

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zeption Konsequenzen haben und sich auf die Konzeption und die Qualität auswirken. Ein handgeschriebener Kodex, ein gedrucktes und ein digitalisiertes Buch können folglich nicht nach gleichen Kriterien bemessen werden; gleichwohl lassen sich, auch wenn die jeweiligen Formen unterschiedlich kontextualisiert und motiviert sind, einige formale und strukturelle Analogien benennen. Sie zeigen sich unter anderem im Aufbau einzelner Seiten, intentional festgelegten Strukturierungselementen sowie beim Gebrauch und der Verarbeitung von Materialien. Palimpseste zeugen beispielsweise von ökonomischen Überlegungen, die eine Wiederverwertung von bereits beschriebenem Pergament notwendig erscheinen ließen, weil der Rohstoff knapp und kostbar war. Materialmangel bedingte die Wiederverwertung von gebrauchten, bereits beschriebenen oder bedruckten Papieren bei der Erstellung von Büchern in der russischen Avantgarde oder bei Samisdat-Ausgaben der Sowjetzeit. Gleichzeitig kann das Recyceln aber auch ästhetisches Prinzip sein. Palimpsestartiges Überarbeiten erfolgt intentional als gezielt künstlerischer Gestus, um beispielsweise die Überlagerung von Zeit- oder Bewusstseinsschichten zum Ausdruck zu bringen oder auf arkane Botschaften anzuspielen, die dem Material – so die Suggestion – eingeschrieben sind. Jenseits produktionstechnischer und konzeptioneller Veränderungen haben sich dem Buch eingeschriebene Merkmale behauptet, die in unterschiedlichen Ausdifferenzierungen strukturell und gestalterisch auf die künstlerische Rezeption einwirken. Explizit werden sie in der Pressendruckbewegung, die als Auswirkung des herkömmlichen maschinellen Drucks eine verminderte Buchqualität identifiziert und somit gezielt ihre Vorbilder in einer vom Handwerk bestimmten Herstellung sucht. Die Gestaltung von Büchern der Kelmscott Press von William Morris orientiert sich konsequent an einer mittelalterlichen Buchgestaltung, die von Schmuckinitialen und seitenfüllenden ornamentalen Strukturen getragen ist. Der Einfluss von ganzseitiger Teppichornamentik mittelalterlicher Handschriften zeigt sich beispielsweise auch in Buchentwürfen von Henry van de Velde. Formale und strukturelle Analogien zwischen früher und jüngerer Buchproduktion sind ferner bei der Strukturierung von Texten, bei der Organisation der einzelnen Buchseite wie auch mit Blick auf seitenübergreifende, den ganzen Buchkörper prägende Konzepte zu beobachten.  



Schriftform und Schriftbild. Das sich in Überschreibung und Formdurchdringung bekundende Bewusstsein für die Bildgestalt von Schrift und Schriftbildern zeigt sich epochenübergreifend, wobei dekorative und auf sachliche Vermittlung zielende Ansprüche einander in einem beständigen Spannungsverhältnis begegnen. Eine Verwendung von Schrift, bei der dekorative Absichten über den Wunsch nach guter Lesbarkeit dominieren, lässt sich bei Handschriften ebenso wie bei gedruckten Büchern beobachten und wirkt weiterhin als künstlerisches Prinzip im Künstlerbuch. Die Übergänge zwischen Schrift und Bild können fließend sein, den einzelnen Buchstaben wie ganze Textseiten betreffen. Zu seitenfüllenden Ornamenten ausgestaltete Schriftbilder, wie etwa in illuminierten Evangeliaren, dienten der Gliederung wie auch als ein

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den Inhalt glorifizierendes und schmückendes Beiwerk.46 In dieser Form hat sich die seitenfüllende Ornamentik auf den Buchdruck übertragen. Zu einem komplexen BildText-Gefüge ausgestaltet findet sie sich in Titelkupfern wieder. Einem bildhaften Gebrauch unterwirft beispielsweise Roswitha Quadflieg die Buchstaben in ihrem Buch Traumalphabet.47 Jedem der dreizehn Kapitel, in denen sie die Träume von Persönlichkeiten der Antike bis zur Gegenwart wiedergibt, stellt sie eine aus Lettern gefügte Schmuckseite voran. Die ornamentale Verwendung der Schrift führt sie auf den nachfolgenden Textseiten in einem spiegelsymmetrischen Formsatz fort. Entsprechend dem im Konzept der Künstlerin festgelegten Schriftgebrauch dienen die auf den Titelseiten verwendeten Schrifttypen zusammen mit den im Fließtext verwendeten Schriften der Spezifizierung der Träume wie auch der Charakterisierung der Träumenden, ohne dabei die Lesbarkeit durch den dekorativen Anspruch der Konzeption einzuschränken. Der Drucktype als Ausdruckselement bedient sich Johanna Drucker in ihrem Buch From A to Z (vgl. Drucker 1995a, S. 166 ff. sowie Drucker: Project Statement online).48 Sie verwendet 48 verschiedene Schriften, um eine Folge von Gedichten zu setzen, die Personen aus ihrem Umfeld charakterisieren sollen. Jeder Buchstabe repräsentiert eine Person und die Beziehung der Personen zueinander soll durch die der Buchstaben im Schriftbild reflektiert werden. Durch den Wechsel der Schrifttypen und -schnitte von Seite zu Seite erhält die visuelle Form des Textes eine verstärkte Akzentuierung und die Textseite erscheint ebenso als Bild wie als Lesetext. Die Verwendung von Schrift als seitendominierende, zum Bild ausgestaltete Komposition findet sich auch in Handschriften, die wie theologische oder juristische Texte bereits bei ihrer Niederschrift als Gesamtkomposition angelegt wurden, die eine Fortsetzung/Erweiterung des Basistextes in Form von Kommentaren berücksichtigte. Beispielhaft ist eine in der Stiftsbibliothek in St. Gallen aufbewahrte Abschrift der 1234 verkündeten Dekretalen Papst Gregors IX., bei der die Glossen einen geschlossenen Rahmen um den Haupttext bilden.49 Der Haupt- oder Quellentext konzentriert sich auf zwei im Verhältnis zum Seitenformat schmale Spalten, die so viel Raum lassen, dass sich der in einem zweiten Schritt angefügte Kommentar wiederum zweispaltig so  



46 Ein Beispiel ist die Anfangsseite des Matthäusevangeliums im Book of Kells, auf dem die Buchstaben XIP den Stammbaum Christi markieren. Vgl. Book of Kells, Iona/Schottland um 800. Dublin: Trinity College Library, MS 58, 339 Blatt, 33 x 25 cm, fol. 29r. 47 Quadflieg, Roswitha: Traumalphabet. Hamburg: Raamin-Presse 1986, 75 Seiten, 195 arabisch nummerierte und signierte, sowie fünf römisch nummerierte Exemplare. 48 Drucker, Johanna: From A to Z our an (Collective Specifics) an impartial bibliography. Incidents in a non-Relationship or: how I came to know who is. O. O.: Chased Press 1977, 62 Seiten, 29,7 x 21 cm. Das gesamte Werk ist hier einsehbar: https://archive.org/details/FromAToZ_201510 (18.10.2016). 49 Decretales Gregorii IX. cum glossa ordinaria Novellae Innocentii IV. cum apparatu, Italien und Frankreich, 2. Hälfte 13. Jh., Pergament, 594 Seiten, 45,5 x 28 cm, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang 724. Die den Textrahmen bildenden Glossen enthalten den juristischen Kommentar des Kanonisten Bernardus de Botone aus Parma († 1266).  



















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auf der Seite ausbreiten kann, dass er im Zentrum die erste Aufzeichnung aufnimmt. Im Pentateuch mit Targum Onqelos hingegen, einer Übersetzung der Thora aus dem Hebräischen ins Aramäische, formen Thoratext und Kommentar zwei unterschiedliche Textkörper, deren einer dem Umriss einer Sanduhr gleicht, der andere der Silhouette einer bauchigen Säule. Beide Texte sind zudem durch die Schriftgrößen unterschieden.50 Die formale Aufteilung und Unterscheidung der Texte beider Beispiele entspricht einer bei Bibel- und Rechtskommentaren üblichen Praktik, die sich auf die typografische Gestaltung früher Inkunabeln überträgt und bis in textkritische Ausgaben, wenn auch weniger dekorativ, weiterwirkt (vgl. L’Engle/Gibbs 2001, S. 55–57). Analog der Glossierung in den Handschriften unterscheidet Roswitha Quadflieg in den von ihr für die Raamin-Presse konzipierten Ausgaben die einander ergänzenden Texte im Layout einerseits durch den Satz, andererseits durch die Positionierung auf der Seite. In 21 Kapitel aus der Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler grenzt sie die aus unterschiedlichen Quellen stammenden Texte zudem auch farblich gegeneinander ab.51 Bei dem Märchen Van den Machandelboom unterscheidet sie die in Kolumnen nebeneinander gestellten Varianten des Textes durch divergierende Schrifttypen.52  

Bildraum und Buchkörper I. Das Verständnis vom Buch als gestaltbarem Raum wirkt sich bei der Gestaltung einzelner Seiten und Bildmotive ebenso aus wie bei der Konzeption mehrerer Seiten, die beispielsweise durch Bildsequenzen oder strukturierende Elemente zueinander in Beziehung treten. Eine Illusion von Räumlichkeit macht sich ebenfalls in der Vielzahl ineinander geschachtelter Bild- und Textfelder bemerkbar, wie sie u. a. als prägnantes Kompositionsprinzip in gotischen Illuminationen auftreten. Ebenso kann sich ein Bewusstsein für den Raum an Figuren bekunden, die sich einer nachfolgenden Darstellung im Buch zuwenden oder deren Gesten über den motivischen Zusammenhang hinausweisend das Umfeld der Seite oder des ganzen Buches einbeziehen. Auch über den Bildrahmen hinausweisende strukturelle Elemente können eine Vorstellung von Räumlichkeit zum Ausdruck bringen, so über den Bildrand ausgreifende Inhalte. Im Buch erfasste Architektur, die sich mit der Architektur des Buches verbindet, beispielsweise eine Gebäudefront mit der Buchseite gleich 

50 Pentateuch mit Targum Onqelos; Raschi-Kommentar, Deutschland 13. Jh., Pergament, 372 Blatt, 36 x 27,5 cm, Bibliotheka Palatina Heidelberg, Cod. Vat. Ebr. 18, fol. 187 (vgl. Mittler 1986, Bildband S. 55, Textband, S. 89). 51 Quadflieg, Roswitha: 21 Kapitel aus der Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler. Dazu Auszüge aus dem ersten und zweiten Teil des ‚Faust‘ von Johann Wolfgang Goethe. Hamburg: Raamin-Presse 1992, 77 Seiten. 52 Quadflieg, Roswitha: Van den Machandelboom. Ein Märchen; zur Einleitung einiges aus dem ‚Physiologus‘ über den Vogel Phoenix. Dazu das ‚Lied des Vogels‘ und 5 verwandte Märchen = Vom Machandelbaum = The Juniper/aufgeschrieben von Philipp Otto Runge. [Die Übertr. ins Hochdt. besorgte Günther Lange]. Hamburg: Raamin Presse 1982, 41 Seiten.  











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setzt und Durchbrüche faktual oder visuell für den Ausblick auf nachfolgende Seiten nutzt, bindet ebenfalls den Raum des Buches ein. Eine Auffassung von der Seite als Raum zeigen die beiden an unterschiedlichen Stellen platzierten, zueinander in Korrespondenz gesetzten Figuren in einem niederländisch-katalanischen Gebetbuch.53 Am unteren Rand ist der Eigentümer des Buches als singuläre kniende Figur ohne kontextuelles Rahmenwerk wiedergegeben, während am seitlichen Rand nach oben versetzt eine von einem Ehrentuch hinterfangene Muttergottes zu sehen ist. Durch ihre Anordnung auf der Seite sind die beiden Figuren in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gestellt, durch die Ausrichtung ihrer Blicke zugleich aufeinander bezogen. Der freie, die beiden Bildfelder voneinander abtrennende Raum wird zu einer zwischen den Sphären vermittelnden Projektionsfläche. Einen Eindruck von Räumlichkeit löst die Durchfensterung gotischer Miniaturen aus, bei denen Bild- und Textfelder in weitere Motivfelder eingeschlossen sind und es zu einer wechselseitigen Durchdringung der Modi kommt. Beispiele enthält u. a. eine dreibändige Bibel, die Ende des 15. Jahrhunderts für den ungarischen König Matthias Corvinus angefertigt wurde.54 Eine an den Beginn des Psalters gestellte Bildseite zeigt eine Unterteilung in drei Felder, die jeweils eigene von Schmuckleisten gerahmte Sinneinheiten bilden und gleichzeitig von einem reich ornamentierten, mit Wappen und emblematischen Motiven versehenen Rahmenwerk zusammengehalten werden. Die zentralen Felder kombinieren Bild und Text in unterschiedlicher Gewichtung und mit einer je eigenen Raumgesetzlichkeit. Eine Möglichkeit, den Bildraum auf den Buchinhalt zu beziehen, zeigt eine Illumination im Stundenbuch der Maria von Burgund.55 Auf ihr ist im Vordergrund die in einem Buch lesende Besitzerin des Stundenbuches zu sehen, während den Mittelgrund ein geöffnetes Fenster bildet, durch das der Blick auf eine von einem gotischen Kirchenschiff umfangene Madonnenfigur gelenkt wird. Dieses Motiv korrespondiert in doppelter Weise mit dem Buch. So steht es in unmittelbarem Zusammenhang mit dem mariologischen Text des Stundenbuches, reflektiert aber auch die Lektüre der in der Illumination wiedergegebenen Leserin. Die Zusammenführung unterschiedlicher Raum- und Zeitbezüge innerhalb der Seitenfolge ist auch für ein jüngeres Beispiel der Buchgestaltung zu belegen. Als einen den Betrachter einbeziehenden Raum hat etwa Michael Snow sein Buch Cover to Cover  



53 Südniederländisch-katalanisches Gebetbuch, Ende 14. Jh. geschrieben in Brügge, illuminiert in Katalonien, Pergament, 168 Blatt, 14 x 9,8 cm, Handschriftensammlung Renate König, fol. 24v (vgl. Kat. Ausst. 2001, S. 30, S. 226–239). 54 Bibel des Matthias Corvinus, 1489–1490, Italien, Pergament, 278 Blatt, 36 x 53 cm, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz, MS Plut. 15. 17. 55 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 1857, Stundenbuch der Maria von Burgund. Vgl. Unterkirchner 1993.  

















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konzipiert.56 Es besteht in einer Folge von seitenfüllenden Fotografien, die in unmittelbarer Abfolge ein und dasselbe Motiv aus zwei entgegengesetzten Richtungen erfassen. Ein Umschlagen der Buchseite fällt für den Betrachter mit einem Blickwechsel zusammen, der ihm das zuvor frontal erfasste Motiv nun mit seiner Rückseite vor Augen stellt. Die Durchdringung der Seiten nimmt konkrete Formen an, wenn in Ausstanzungen oder Perforierungen Teile von nachfolgenden Seiten sichtbar werden. Dieter Roth stanzt und locht die Seiten einiger seiner Bücher, um die sukzessive Abfolge der Darstellung durch die simultane Durchdringung der Motivik zu unterlaufen. Jonathan Safran Foer löst in seinem Buch Tree of Codes einzelne Zeilenpartien aus einer Seite, um Worte und Begriffe dahinterliegender Seiten freizulegen, so dass die auf unterschiedlichen Seiten liegenden Inhalte zu einem neuen Text verschmelzen, der sich im Weiterblättern durch immer neu freigelegte Ausschnitte beständig wandelt (Foer 2010; vgl. Teil E 1.44). Agnes Wartners Buchseiten aus Zeit für die Bombe zeigen kreisrunde, den Buchkörper unterschiedlich tief durchdringende Ausstanzungen. Sie sind von der Künstlerin dazu bestimmt, die Hypertextfunktion des für eine Publikation im Internet bestimmten Textes in den Raum des gedruckten Buches zu übertragen.57 Die Löcher ersetzen die Verlinkungen des elektronischen Textes. An den durch sie bezeichneten Stellen kann die Lektüre unterbrochen und an der Stelle weitergeführt werden, die mit der Ausstanzung markiert ist. Dass die so gegebene Verlinkung nicht beliebig ist, ergibt sich aus der Seitendurchdringung, die festlegt, wie viele Seiten beim Blättern gleichzeitig gefasst werden können. Verändern die Eingriffe in die Seitenstruktur bei Foer und Wartner die Lektüre, so nutzt umgekehrt Veronika Schäpers das Zusammenspiel aufeinanderfolgender Seiten, um eine dem Text implizierte Darstellungsform zu visualisieren. Ihr Buch Triumph eines Hosenverkäufers umfasst 20 Seiten aus durchsichtigen Polyäthylen-Folien, deren jede schemenhaft Facetten einer Szene im Boxring andeutet. Deutlich werden sie aber erst in der Überlagerung aller Seiten.58 Mit der Zergliederung greift die Künstlerin die Eigenart des Erzählens von Heiko Michael Hartmann auf, der, obwohl es auf narratologischer Ebene lediglich um den Kauf einer Hose geht, durch seine Erzähltechnik die Schilderung eines Boxkampfes suggeriert.

56 Snow, Michael: Cover to Cover. Halifax, Nova Scotia College of Art & Design and New York University Press, 1975. 57 Wartner, Agnes: Zeit für die Bombe. Basel: Hochschule für Gestaltung und Kunst, 2007, 200 Seiten, 19 x 26 cm. Zum Hypertext von Susanne Berkenheger, der Wartner als Quelle diente, vgl. http://www. wargla.de/zeit.htm (21.10.2016). 58 Schäpers, Veronika: Triumph eines Hosenverkäufers. Tokio 2001, 20 Seiten, 23,5 x 21 cm, 1. Auflage: 10 arabisch u. 3 römisch nummerierte Exemplare, 2. Auflage 2002: 15 arabisch u. 3 römisch nummerierte Exemplare.  











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Buchkörper II. Auch eine den Buchblock als geschlossene Einheit erfassenden Gestaltung, die über den Einband hinaus den Schnitt einschließt, akzentuiert die Körperlichkeit des Buches. In dieser Weise hat der Buchbinder die Verzierungen auf dem Ledereinband von zwei Lyrikbänden aus der Bibliothek des Ulrich Fugger im Buchschnitt fortgeführt.59 Ein jüngeres Beispiel liefert Jan Voss mit seinem Buch Détour. Eine sich über sämtliche Seiten erstreckende Zeichnung tritt aus dem Buchblock heraus und setzt sich nahtlos über den Einband, den Schnitt und den Buchrücken fort, so dass ihr Ende an den Anfang anschließt und die Darstellung zur Endlosschleife wird.60 Ein auf das Buchäußere ausgreifender Reflex der Inhalte sind auch farbige, gemusterte oder sogar mit Bildern versehene Schnitte, die in einigen Fällen abhängig von der Blickrichtung unterschiedliche Motive zeigen, wenn der Buchblock bewegt wird und darüber die Seitenlagen um wenige Millimeter auseinander gleiten. Die im Ansatz des Blätterns in Erscheinung tretende Polyfokalität der Motivik zeigt, dass die Gestaltung die Räumlichkeit des Buches berücksichtigt. Formwiederholung. Serielle Abfolgen erzeugen zunächst Gleichförmigkeit, die auf Äquivalenz hinführen, wie die Reihung von Heiligen im Allerheiligenbild eines Lektionars aus Heilig Kreuz.61 Fast unterschiedslos in eine Reihe gefügt, weist ihnen die Darstellung gleiche Bedeutung zu. Eine analoge Einförmigkeit sucht Sol LeWitt mit der Abfolge von quadratischen Motiven in seinem Buch Photogrids zu vermitteln.62 Zwar unterscheiden sich die Bildinhalte, nicht aber ihre formale Struktur. In der unverändert oder nur geringfügig variierten Wiederholung eines gleichen Formschemas bekundet sich ein Gestaltungsprinzip, das auf Spezifizierung von Ausgangs- und Endpunkt verzichtet und durch seine Gleichförmigkeit tendenziell unbegrenzt fortsetzbar scheint. Ein sich wiederholendes Formprinzip suggeriert bisweilen auch einen zeitlichen Verlauf, wie beispielsweise in der Darstellung in einem Hebräischen Pentateuch, wo die Repetition der Figur in die Motivik der Übergabe der Gesetzestafeln eingebunden ist und mit ihren veränderten Gesten der Beschreibung einer Handlung dient.63 Einer Darstellung von Zeitlichkeit unterliegt ebenfalls die Abfolge von drei in ihrer Komposition gleichen Miniaturen in einem Stundenbuch des Museu Calouste Gulben-

59 Henricus Stephanus, Genf 1560, zwei Bände einer Ausgabe griechischer Lyriker des Stephanus, Pergament, 13 x 6 cm, Bibliotheka Palatina Heidelberg, Membr VI 1+2, (vgl. Mittler 1986, Textband S. 392f., Bildband S. 262). 60 Voss, Jan: Détour. Amsterdam: Boekie Woekie 1989, 358 Seiten, 25 x 17 cm. 61 Regensburg, zwischen 1267 und 1276, Pergament, 308 Blatt, ca. 40,2 x 30,5 cm, Oxford, Keble College, Ms. 49, fol. 235v (vgl. Kat. Ausst. 1987, Nr. 61 S. 84, Tafel 49). 62 LeWitt, Sol: Photogrids. New York: Paul David Press, Rizzoli 1977, 52 Seiten, 26 x 26,5 cm. 63 Moses empfängt die Gesetzestafeln, Hebräischer Pentateuch, Regensburg um 1280, Pergament, Deckfarbe, 24,5 x 18,5 cm, Jerusalem, Israel Museum, Ms. 180/52, fol. 154v (vgl. Kat. Ausst. 1987, Nr. 68 S. 87f., Tafel 51).  









































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kian.64 Sie zeigen, in offenkundiger Anlehnung an das Stundenbuch der Maria von Burgund, eine Leserin vor einem Hintergrund, der in Korrespondenz zum Inhalt der Lektüre der Lesenden steht. Die Szene im Hintergrund unterscheidet die drei Miniaturen, während der Vordergrund mit der Leserin nahezu gleich bleibt. Darüber ist der Akt des Lesens als eine fortdauernde gleichförmige Handlung hervorgekehrt, wobei gleichzeitig das Fortschreiten in der Lektüre durch den Wechsel der Hintergrundmotive belegt wird. Auch ein neben der Leserin platzierter Hund kann durch seine von Bild zu Bild veränderte Position als Anzeichen fortschreitender Zeit gedeutet werden. Ein die Zeitlichkeit hervorkehrendes zeitgenössisches Äquivalent zeigt das Buch Le message von John Crombie und Sheila Bourne, die unter dem Namen Kickshaws kooperieren. In einer Folge einfacher Strichzeichnungen wird das vergebliche Warten auf einen Telefonanruf erzählt.65 Die gleichförmigen Zeichnungen wiederholen das Motiv einer Figur, deren Warten lediglich durch veränderte Handlung und den geringfügigen Wechsel von Details umrissen wird. Eine von der auf Zeitlichkeit verweisende Motivreihung grundsätzlich unterschiedene Form der Wiederholung findet sich in dem 1493 in Nürnberg erschienenen Liber chronicarum, das nach seinem Redakteur Hartmann Schedel als Schedelsche Weltchronik Verbreitung findet und in dichter Abfolge in einer lateinischen wie auch einer deutschen Fassung erscheint.66 Innerhalb einer Fassung kommt es zu Wiederholungen ein und desselben Motivs. Die hier deutlich erkennbare Mehrfachverwendung eines Holzstocks untersteht einerseits ökonomischen Prinzipien, andererseits einer typisierenden Darstellung, die einer schematischen Vorstellung überlieferter Ereignisund Situationsschilderung entspricht. So wird die Topografie verschiedener Städte in einem Holzschnitt erfasst, der lediglich durch divergierende Kolorierung eine Modifikation erfährt. Ähnlich verhält es sich bei der Abbildung bestimmter Szenen, die aus einer für Chroniken dieser Zeit typischen Mischung aus Heilsgeschichte und mündlicher Überlieferung hervorgehen. Bei Peter Malutzki ist die wiederholte Verwendung desselben Linolschnitts in seinem Buch Atlas, einem Band aus Die zweite Enzyklopädie von Tlön, ästhetisches Prinzip.67 Der Linoldruck liefert eine Pseudo-Landkarte, die anschließend mit Farbflächen so abgewandelt wird, dass aus den ursprünglich gleich angelegten Topografien eine Vielzahl von Landschaftsformen hervortritt, über die der Künstler auf eine subjektiven Sichten unterliegende Kartografie aufmerksam machen will.

64 Stundenbuch, Museu Calouste Gulbenkian, Lissabon, Ms. LA 144 (zur Lissaboner Handschrift vgl. auch Clark 2006). 65 Crombie, John/Bourne, Sheila: Le message. La Charité-sur-Loire: Kickshaws 2006, 32 Seiten, 19 cm (vgl. Capelleveen 2016, S. 58). 66 buch der Chroniken und geschichten mit figuren und pildnissen von anbeginn der welt bis auf dise unsere Zeit, Nürnberg 1493, 288 Blatt, 48 x 32,5 cm. Die lateinische Ausgabe erschien am 14. Juli 1493, die deutsche Übersetzung von Georg Alt folgte am 23. Dezember des gleichen Jahres. 67 Malutzki, Peter: Atlas. Lahnstein 1997, 56 Seiten, 20 x 12,5 cm.  















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Zum Selbstverständnis von Verfasser, Produzent und Auftraggeber. Gehören Angaben über den Autor und den Verleger heute zum festen Bestandteil des paratextuellen Apparats eines Buches, treten sie in frühen Buchformen nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit in Erscheinung (vgl. Genette 1989; zu Autorenporträts vgl. Brinkervon der Heyde 2007). Die Reflexion der an der Produktion wie auch der Rezeption des Buches Beteiligten ist abhängig von einem sich im Laufe der Jahrhunderte verändernden Werkbegriff, der auch Formen der Autorschaft in den Blick nimmt. Das Bewusstsein für den individuellen Anteil an der Entstehung eines Werkes findet gelegentlich Ausdruck in der bildlichen Darstellung, wie beispielsweise in der Schmuckinitiale eines Homiliars aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, wo im Binnenraum des Buchstabens die Halbfigur einer Nonne zu sehen ist, die sich als Autorin und Illustratorin ausweist.68 Auf dem illuminierten Blatt einer Handschrift der Divina Commedia wird Dantes Bedeutung als Autor des Textes vom Illuminator unterstrichen, indem er ihn zweifach erfasst, einmal in der Initiale am Textbeginn und ein weiteres Mal im Schmuckstreifen unterhalb des Textes.69 Neben den Produzenten suchten auch Auftraggeber und Besitzer ihren Anteil an der Entstehung einer Handschrift zum Ausdruck zu bringen, was durch Integration der eigenen Person in den kontextuellen Zusammenhang eines Motives oder separat davon in einem eigenen Bildnis geschehen konnte. Das persönliche Verhältnis des Besitzers zum Buch findet häufig Ausdruck in Stundenbüchern. Beispielsweise zeigt eine Miniatur des Pariser Stundenbuches der Margarete von York die Eigentümerin der Handschrift im Dialog mit dem auferstandenen Christus, der sie in ihrer religiösen Andacht bestätigt.70 Eine vergleichbare Dokumentation der Bezüge von Buch und Besitzer liefert das Abbild der Herzogin in dem von ihr bei Nicolas Finet in Auftrag gegebenen Andachtsbuch Dialogue de la duchesse de Bourgogne à Jesus Christ (vgl. Plotzke 2001, S. 26). In die dem Text Benois seront les miséricordieux beigefügte Miniatur ist Margarete von York als aktive Teilnehmerin in die Motivik der Sieben Werke der Barmherzigkeit integriert.71 Der Eigentümer eines Holländischen Passionsgebetbuches ist als Augenzeuge in die Wiedergabe der Gregor-Messe aufgenommen, der Besitzer eines Brügger Stundenbuches beim Gebet in seinen privaten Räumlichkeiten erfasst.72 Wie  



68 Guda-Homiliar, 1250–1300, Mittelrhein, Pergament, I + 285 Blatt, 36,5 x 24 cm, Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Ms. Barth. 42, fol. 110 v. Die im Redegestus gehobene Hand greift ein Schriftband, in dem deutlich „Guda peccatrix mulier scripsit et pinxit hunv librum“ zu lesen ist. 69 Dante Alighieri: Divina Commedia, um 1350, Oberitalien, Pergament, 222 Blatt, 35 x 24 cm, Ms.lat. qu.57, fol. 58r (vgl. Lehmann 1985, Tafelband, o. S., Tafel 17). 70 Stundenbuch der Margarete von York, zwischen 1468 und 1477, Niederlande, Pergament, 142 Blatt, 20 x 14 cm, British Library, London, Add.Ms.7970, fol. Iv (vgl. Plotzke 2001, S. 26). 71 Andachtsbuch der Margarete von York, 15. Jh., Niederlande, Pergament, Bibliothèque Royale, Brüssel, Ms. 9296 (vgl. Plotzke 2001, S. 27). 72 Holländisches Passionsgebetbuch, um 1500, Pergament, 51 Blatt, 14 x 10,1 cm, fol. 38v (vgl. auch Kat. Ausst. 2001, S. 465); Brügger Stundenbuch, lat. Stundenbuch für den Gebrauch in Tournai od. Reims, Brügge, um 1475–1480, Pergament, 205 Blatt, 14,1 x 10 cm, fol. 183v (vgl. auch Kat. Ausst. 2001, S. 350).  











































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bei den Leserinnen am Fenster in den Stundenbüchern aus Lissabon und Wien ist die unmittelbare Einbindung der Buchbesitzer in den religiösen Kontext Ausdruck für die Verschmelzung der durch Lektüre und Kontemplation motivierten Imagination mit der realen Gegenwart. Die gleichwertige Behandlung von Lektüreinhalt, -raum und Glaubensvorstellung bekundet, dass die durch Gebet und Andacht beschworenen Inhalte für die Betenden zur Realität werden (vgl. ebd., S. 25). Im Stundenbuch der Herzogin von Clarence wohnt die Eigentümerin dem Tempelgang Mariens bei.73 Da die Herzogin das Buch vermutlich nach ihrem Eintritt in das Londoner Kloster Saint-Saviour in Auftrag gab, steht das Motiv des Tempelgangs in Parallele zu ihrem eigenen Rückzug aus der Welt (vgl. ebd., S. 19). Die Porträts von Stiftern, Auftraggebern und Autoren bekunden Selbstbewusstsein, Repräsentationswillen und Legitimierung von Macht, in Verbindung mit dem vorzeigbaren Buch dienen sie der erinnernden Vergegenwärtigung ihrer Teilhabe an der Buchentstehung und sichern den Nachruhm. In ähnlicher Weise belegen auch in Bücher integrierte Wappen Bezüge zwischen Buch und Eigentümer. Die Emblematik dient als Hinweis auf Auftraggeber und Besitzer, in weiterer Ausdifferenzierung, etwa wenn die Wappenelemente verändert wurden, Wappenfelder unausgeführt blieben oder die für ein Wappen vorgesehene Stelle frei blieb, geben sie auch Auskunft über kontextuelle Veränderungen, etwa wechselnde Besitzverhältnisse durch Heirat, Vererbung oder Schenkung. Einen Bezug zur Emblematik des Auftraggebers greift François Righi in seinem Buch Un livre muet pour Jean Lallemant le Jeune auf. Aus dem heute in der niederländischen Nationalbibliothek aufbewahrten, um 1540 für Jean Lallemant angefertigten Stundenbuch übernimmt Righi zwölf ganzseitige Miniaturen, die Lallemant als Beobachter einer biblischen Szene zeigen. In seiner Übernahme ersetzt der Künstler die Bildmotive durch schraffierte Flächen, deren Strichausrichtung die Musterung der Kleidung des in Andacht versunkenen Besitzers reflektiert. Obwohl damit der Besitzer förmlich aus dem Bild gedrängt scheint, bleibt er in seiner Andacht dennoch präsent, da aus dem Strichverlauf der schraffierten Flächen die Haltung abzulesen ist, die er in den einzelnen Szenen einnimmt.74  



73 Stundenbuch der Herzogin von Clarence, um 1462, London, Pergament, 120 Blatt, 24,4 x 17,2 cm, fol. 65v (vgl. Kat. Ausst. 2001, S. 264). 74 Righi, François: Un livre muet pour Jean Lallemant. Ivoy-le-Pré: Dailleurs-l’image u. Orléans: Tant & Temps 2005, 12 Blatt, 22,5 x 13,5 cm.  















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Abb. B 3: François Righi: Un livre muet pour Jean Lallemant. Ivoy-le-Pré/Orléans 2005.  

Während Righi als Außenstehender seinen Blick auf das Verhältnis von Buch und Auftraggeber richtet, demonstriert die Buchkünstlerin Ines von Ketelhodt ihren Anteil an der Genese des Buches Die bessere Hälfte, in dessen Mittelpunkt ihre eigene Person steht. Die zentrale Position überträgt sich buchstäblich auf das Buch.75 Als Galerie konzipiert, treffen in der Buchmitte im Bild der Künstlerin die väterliche und die mütterliche Ahnenreihe aufeinander. Selbstreflexivität des Buches. Formen der Selbstreflexivität des Buches bekunden ein Bewusstsein für eine dem Buch eigene Materialität und Medialität und nehmen darüber Bezug auf konzeptionelle und produktionsbezogene Aspekte. Ein frühes Beispiel buchbezogener Selbstreflexivität liefert eine Illumination in einer Mitte des 12. Jahrhunderts in Bamberg erstellten Abschrift von Ambrosius’ De officiis ministrorum. In insgesamt zehn um ein Hauptbild angeordneten Medaillons werden die verschiedenen zur Produktion der Handschrift notwendigen Arbeitsschritte aufgeführt.76 Ganz auf buchkonstituierende Faktoren bezogen drückt sich die Selbstreflexivität des Buches in jüngeren Beispielen aus, wie in George Brechts Book oder Fritz Balthaus’ Nichtssagender Titel. Bei Brecht werden alle buchrelevanten Elemente verbalisiert und an jener Stelle abgedruckt, an der ihre Konkretisierung zu erwarten wäre.77 Gelegentlich fallen Benennung und Benanntes auch zusammen. So steht auf dem Umschlag „This is the cover of the book“, während auf den einzelnen Seiten zu lesen ist,  

75 Ketelhodt, Ines von: Die bessere Hälfte. Eine Ahnengalerie. Flörsheim a. M. 2010, 104 Seiten, Auflage: 50 Exemplare. 76 Ambrosius: Opera varia, Mitte 12. Jh., Kloster Michelberg, Bamberg, Pergament, 117 Blatt, 28,5 x 20,5 cm, Staatsbibliothek Bamberg, Ms. Patr. 5, fol. 1v. 77 Brecht, George: Book. Köln: Michael Werner 1972, 24 Seiten, nicht paginiert, 30,5 x 21,8 x 1,2 cm, Satz, Klebebindung, fester Einband, Auflage: 50 Exemplare (vgl. Kat. Ausst. 1994, S. 26; Fischer 2005; Schulz 2008).  





















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welche Funktion sie im Buchzusammenhang erfüllen oder welche Inhalte sie aufnehmen könnten. Seite für Seite folgen autoreflexive Angaben wie „This is the page before the title page/of the book that tells what the/title is, or was, or is going to be“, „This is the title page“, „This is the other side of the/title page that gives you information/like who published it and when,/if it’s copyrighted or not, and where, or when maybe, and perhaps a/reference number, if not more“.78 Bei Balthaus’ Buch bekundet der Titel Nichtssagender Titel, der sich als Tautologie erweist, das Prinzip des Buches.79 Wie bei Brecht sind die buchrelevanten Informationen und buchkonstitutiven Elemente lediglich bezeichnet. Auf der Titelseite sind anstelle von Titel, Autoren- und Verlagsname nur die äquivalenten, sich wie Platzhalter ausnehmenden Begriffe wiedergegeben. Im Weiteren werden dann nicht mehr strukturelle, sondern qualitative Faktoren aufgeführt, so Qualität und Gewicht des Papieres sowie verschiedene zum Einsatz kommende Techniken wie beispielsweise „radieren“ oder „Stempel“ benannt. Gleichzeitig sind die Begriffe in genau der Technik wiedergeben, die sie bezeichnen. Weitere Inhalte sind eine Tabelle mit Buchstaben, aus denen sich „buchstabieren“ fügen lässt. Auch der Hinweis auf „Lesezeichen“ fehlt nicht.80 Der Text der letzten Seite „undredundanzund“ erinnert daran, dass das Buch mit seinen sich wiederholenden Buchstaben, Worten und Begriffen Redundanzen in sich birgt (vgl. Mœglin-Delcroix 2011a, S. 374). Richard Tuttles 1974 konzipiertes Book wiederum suggeriert, dass zur Buchgenese allein Papier und Buchstaben genügen.81 Die einzelnen Seiten enthalten nichts weiter als einen singulären Buchstaben des Alphabets, das in der Summe im Buch komplett enthalten ist. Diesen und anderen buchkünstlerischen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie, indem sie in erster Linie den Buchkörper mit seinen Möglichkeiten losgelöst von spezifischen Inhalten reflektieren, das Buch als einen Raum konzeptionieren, der sich aus einzelnen Elementen fügt. VHS  

78 Weitere Seiten enthalten Informationen wie „This could be the content page“, „This is the page with the text on it“, „This is the first page of the book“ und so fort. 79 Balthaus, Fritz: Nichtssagender Titel. Berlin: Vogelsang o. J., 29,7 x 20,8 cm, 46 Seiten, Privatsammlung (vgl. Mœglin-Delcroix 2011a, S. 374). 80 „Hammerschlag“ verweist auf die Möglichkeit der Prägung, der auf eine reflektierende Folie gedruckte Begriff „Spiegelbild“ darauf, dass der Leser sich im Buch wiederfindet, möglicherweise in Fortsetzung von Roland Barthes’ Diktum, dass jeder Text das Produkt seines Lesers ist. Auf das Buch übertragen ließe sich ausführen, dass es erst durch Lektüre und Handhabung desjenigen, der sich in ihm spiegelt, zur Wirklichkeit gelange. 81 Tuttle, Richard: Book. Lausanne, Paul Bianchini Books, Éditions des Massons, Paris, Yvon Lambert, 1974, 25 x 16,5 cm, 28 Seiten (vgl. Mœglin-Delcroix 2011a, S. 376).  















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B 1.4 Buch und Zeit. Ältere und neuere Stunden- und Zeitbücher Unterschiedliche Typen und Formate des Buchs sind der Zeit gewidmet, stellen Zeit dar, helfen dabei, sie zu strukturieren und zu füllen – oder reflektieren von einer übergeordneten Beobachtungsebene aus über Zeit und Zeitlichkeit. Eine facettenreiche Tradition verknüpft die älteren Bücher dieses Typs mit rezenteren Beispielen; gerade hier liegen evidente und explizite (etwa schon durch Titel signalisierte) Fälle von Anknüpfungen an die Buchgeschichte vor. Wo in neuen Buchgestaltungsprojekten an ältere Formen des Buchs angeknüpft wird (an ältere Formate, Gestaltungsformen, Textsorten, Bildprogramme und Buchfunktionen), da liegt zumindest implizit ein Moment der Reflexivität vor: Als Zitat eines älteren Buchtypus ist das ‚Zeit-Buch‘ selbstbezüglich. (Von ‚Zeit-Büchern‘ sei im Folgenden die Rede, um die neueren so genannten Buchwerke gegenüber den älteren abzuheben.) Das traditionelle Stundenbuch trägt maßgeblich dazu bei, eine Konzeption von Zeitlichkeit und einen Umgang mit Zeit zu etablieren, der dann in den neueren ‚Zeit-Büchern‘ – in Büchern, die sich „Stundenbuch“ nennen, aber auch in anderen buchkünstlerischen Auseinandersetzungen mit Zeit – kritisch reflektiert wird. Insgesamt ist die vom frühen Stundenbuch repräsentierte Kultur des Umgangs mit Zeit besonders dazu geeignet, die Wechselbezüge zwischen Buchtypen und Lebensformen zu beobachten – und Formen der Reflexion über diese Bezüge. Entscheidend sind erstens Praktiken der Gliederung und Einteilung von Zeit, die seit den Anfängen der Zeitmessung an Verfahren schriftlicher Notation gebunden sind und im auf mehreren Ebenen strukturierten Buch eine mehrfach geschichtete Zeitvorstellung begründen, in der verschiedene Dimensionen von Zeit einander überlagern. Zweitens besteht ein enger, oft metonymischer Zusammenhang zwischen Buchführungspraktiken (im engeren und weiteren Sinn) und der Füllung von Zeit, dem Umgang mit Zeitintervallen, der Erfahrung und Gestaltung von Lebens-Zeit. Das traditionelle Stundenbuch hat eine performative Dimension: Integriert ins Alltagsleben, leitet es dazu an, dieses zu strukturieren, und prägt dadurch das Leben seiner Benutzer. Stundenbücher im historisch begründeten Sinn des Wortes sind die experimentellen künstlerischen Arbeiten moderner Buchkünstler und Buchliteraten nicht mehr, aber sie nehmen Bezug auf deren Funktionen und kulturell-semantische Sinnhorizonte. Letztlich sind buchliterarische und buchgestalterische Anknüpfungen an die Stundenbuch-Tradition ein besonders markantes Beispiel der Neukonzeption eines alten Buchtypus. Gerade dieser Typus und seine spätzeitlichen Ableitungen verweisen dabei auf den engen wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen kulturellen Praktiken, Lebensformen und Denkhorizonten hier, der Gestaltung und Büchern dort.  







Das mittelalterliche Leben mit Stundenbüchern. Die am weitesten verbreitete mittelalterliche Buchform war das Stundenbuch (Horarium, Livre d’Heure; im englischen Raum auch: primer), das in der Regel im privaten, häuslichen Bereich gelesen wurde. Im 13. Jahrhundert bildet sich dieser Buchtypus heraus, der nicht nur eine religiös 

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meditative, sondern auch eine kalendarische Funktion hat. Seine Blütezeit liegt (qualitativ und quantitativ) im 14. und 15. Jahrhundert; das Stundenbuch entsteht zunächst vor allem in Frankreich und Flandern; auch in Italien setzt etwas später eine entsprechende Produktion ein. Die einzelnen Abschnitte eines Stundenbuchs sollen zu bestimmten festgelegten Stunden konsultiert werden. Der einzelne Besitzer liest dabei in seinem eigenen Exemplar (bzw. in dem seiner Familie) und meditiert über das Gelesene. Als Gebet- und Andachtsbuch konzipiert, dient das Stundenbuch vielfach auch dem Lese-Unterricht und damit der Einführung in die Welt der Texte überhaupt. Frauen nutzen Stundenbücher gerne. Vor allem von Adligen und wohlhabenden Stadtbewohnern geschätzt, erreicht dieser Buchtypus neben Laien schließlich auch Kleriker; sein umfangreicheres, funktional aber analoges Pendant ist das Brevier des römisch-katholischen Klerus. Mit seiner Einbürgerung übernimmt das Stundenbuch insbesondere die Funktion des Psalters, der bis dahin die wichtigste Form des Gebetbuchs war. Die Texte im Stundenbuch sind meist lateinisch; es gibt aber auch Beispiele, die teilweise oder ganz in einer der europäischen Volkssprachen verfasst wurden; das Niederländische ist hier besonders gut vertreten. Ihre Inhalte beziehen sich auf die Passionsgeschichte, das Marienleben, die Lebensgeschichten von Heiligen und die Heilsgeschichte insgesamt, und durch die Integration von Kalendarien werden Tages- und Weltzeit mit dem Rhythmus der Jahreszeiten verknüpft. Durch ihre Inhalte und deren Anordnung gliedern die Stundenbücher den jeweiligen Tagesablauf der Benutzer.  

Kerntexte. Wichtig sind in erster Linie die Gebete, die sich als Handlungsanweisungen zu regelmäßigem Gebet verstehen. Die Tageszeitgebete sind in dreistündigem Rhythmus zu bestimmten Stunden zu lesen: um Mitternacht zunächst die Matutin; dann die Laudes (3 Uhr morgens), mit denen die Matutin später zusammengefasst wurde, um 6 Uhr morgens wird die Prim gebetet, dann in dreistündigen Abständen die Terz, die Sext, die Non, die Vesper und die Komplet. Als typisch für Stundenbücher können ferner, vor allem im 15. Jahrhundert, diverse weitere Texte bzw. Texttypen gelten: Auszüge aus den vier Evangelien, das kleine Offizium der Heiligen Jungfrau Maria (eine Marienliturgie), Stufenpsalmen, Bußpsalmen, eine Heiligenlitanei, Gebete, die als Stunden des Heiligen Geistes bezeichnet wurden, Texte zu den Passionsstunden, ein Totenoffizium. Beliebt sind die Mariengebete Obsecro te und O Intemerata. Selten enthalten Stundenbücher auch Gedichte, die eigens für die Besitzer verfasst wurden. Oft aber werden bestehende Texte in einer Weise modifiziert, die auf den vorgesehenen Besitzer abgestimmt war, etwa durch Aufnahme von deren Namen in Gebete. Litanei und Bußpsalmen sowie das Totenoffizium entsprechen dem intensiven Interesse des Mittelalters am Thema Tod, an der Endlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Lebens. Neben Andachts- und Gebetstexten ist der kalendarische Teil ein Kernstück der Stundenbücher. Ergänzt wird der liturgische Kalender hier durch sogenannte Cisiojanus-Merkverse, welche die Datierung der beweglichen Feiertage leichter memorierbar machen.  

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Bebilderungen. Vielfach, aber keineswegs immer, werden die Texte durch bildliche Darstellungen ergänzt;82 diese zeigen biblische Episoden, aber auch Szenen aus der zeitgenössischen Alltagswelt. Illuminierte Stundenbücher enthalten typischerweise jeweils eine größere Miniatur zu Beginn jedes Hauptabschnitts der Texte; die Bilder strukturieren die Bücher also bzw. machen deren Struktur sichtbar. Die Illustrationen zum kleinen Gottesdienst bezogen sich meist auf die Weihnachts- oder die Passionsgeschichte, letzteres vor allem in England. Die Kalendarien stellen oft die typischen Arbeiten der einzelnen Monate dar. Manche der schönsten Stundenbücher, die für höfische Rezipienten angefertigt wurden, spiegeln deren Interessen im Kalendarium wider. Das Totenoffizium hat Anlass zu originellen Miniaturdarstellungen gegeben, in denen sich die Faszination durch den Tod und durch allerlei Katastrophen ausdrückt. Stundenbücher für wohlhabende Besitzer sind manchmal opulent geschmückt. Dies gilt vor allem für Fürstengebetbücher; aus der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit sind verschiedene wichtige Beispiele erhalten: das Gebetbuch Kaiser Ludwigs des Bayern (gest. 1347), das Herzog Leopolds IV. von Österreich (gest. 1411), das Kaiser Friedrichs II. (gest. 1493) sowie die Gebetbücher Kaiser Maximilians I. (gest. 1519). Aber auch in bescheideneren Stundenbüchern, die keine illustrativen Elemente enthalten, spielen visuelle Anteile eine Rolle, insbesondere Verfahren visueller Textgestaltung, die das Lesen erleichtern sollen (z. B. hervorgehobene Initialen zu Beginn der Gebets- und Psalmentexte), und grafische Textrahmung (z. B. Seitendekoration durch Ornamente). Insgesamt bilden die textliche, bildliche und grafische Dimension eine Einheit. Der Nennung von Besitzernamen auf der Textebene entspricht im bildlichen Bereich die Verwendung persönlicher Wappen. Manchmal werden auch Porträts der Besitzer in die Bilder eingefügt. Zwar sind in den bebilderten Stundenbüchern die Texte und die Bilder als Bestandteile des Buchinhalts voneinander zu unterscheiden. Aber sie bilden doch eine Funktionseinheit, und oft finden sich gerade in den illustrierten Stundenbüchern Bildtypen, in denen sich Schrift und bildliche Darstellung eng durchdringen.  











Formate, Produktionsformen, Rezeption. Im 15. Jahrhundert kommt es zu einer weiten Verbreitung kleiner, nicht oder nur wenig illuminierter Stundenbücher, die wenig kosten und auch von weniger wohlhabenden Bürgern, ja selbst von Dienern erworben werden können.83 Nur selten sind die Stundenbücher von ihren Produzenten signiert. Auch die aufwendigeren Exemplare geben oft keine oder nur wenige Anhaltspunkte zu ihrer Entstehung. Als Illuminatoren konnten mehrere Künstler an ei 

82 Das wohl älteste erhaltene englische Stundenbuch entstand um 1240 für eine Frau aus dem Raum Oxford. Es enthält viele illuminierte Initialen, aber keine ganzseitigen Bilder. 83 Vor allem in den Niederlanden und in Frankreich etablieren sich bis zum 15. Jahrhundert verschiedene Werkstätten zur Produktion von Stundenbüchern. Diese werden zunehmend effizienter arbeitsteilig hergestellt und professionell vertrieben; Schreiber verfassen an einem Ort den Text; Maler schaffen dann die Illustrationen an einem anderen Ort; der Buchbinder fügt beides zusammen.  

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nem Exemplar arbeiten. In solchen Fällen finden sich dann verschiedene Stile der Illumination. Die aufgrund ihrer Stile identifizierbaren Meister sind darum meist nicht namentlich bekannt, sondern werden nach wichtigen Werken genannt. Offenbar gab es für die Standardszenen, wie sie in vielen Stundenbüchern malerisch dargestellt wurden, Vorlagenblätter. Vielfach ähneln sich die Miniaturen in den Stundenbüchern. Bei der Arbeit nach Bildvorlagen konnte es geschehen, dass die Vorlagen für die Bilder verschiedener Gegenstände verwendet wurden: Darstellungen von Monaten konnten als Hintergründe für biblische Szenen wie die Flucht aus Ägypten dienen. Vielfach entstanden die Illustrationen der Stundenbücher weitgehend als Kopien früherer Bilder. In Flandern wurden viele Miniaturen für Stundenbücher auf separate Einzelblätter gemalt und anschließend von Buchhändlern aufgekauft, um sie in Stundenbücher einbinden zu lassen (De Hamel 1986, S. 185). Das Stundenbuch wird bereits früh als ästhetisches Objekt geschätzt. Im späten 14. Jahrhundert beginnen wohlhabende Adlige und Herrscher, Stundenbücher zu sammeln; im 15. Jahrhundert kann der Besitz kostbarer Stundenbücher förmlich als Statussymbol gelten. Stundenbücher werden bereits im Verlauf ihrer mittelalterlichen Geschichte nicht nur als Gebrauchsobjekte, sondern auch (manchmal primär) als Kunstwerke produziert, und dies setzt sich in die Frühe Neuzeit hinein fort. Auch protestantische Fürsten sammeln manchmal Stundenbücher, wenngleich als ‚papistische‘ Objekte, aber doch in Anerkennung ihres künstlerischen Werts. Dass viele Stundenbücher eher für Sammler als für fromme Beter geschaffen wurden, lässt sich u. a. aus ihrem guten Erhaltungszustand erschließen. Die weitaus häufigeren schlichteren zum Gebrauch bestimmten Exemplare hingegen sind vielfach gar nicht mehr erhalten. Philipp der Gute von Burgund (1396–1467) ist als Sammler besonders bedeutend.  







Gedruckte Stundenbücher. Entstehen die aufwendigsten handgefertigten Stundenbücher auch im frühen 15. Jahrhundert, so bringt man nach Einführung des Buchdrucks diesem Buchtypus doch wieder ein neues Interesse entgegen (vgl. Janzin/ Güntner 2007). Die Gegenreformation verleiht ihnen in den katholischen Ländern auch und gerade in der Frühen Neuzeit anhaltende Beliebtheit, und so kommt es zur teils aufwendigen Ausstattung mit Druckgrafiken. Jetzt in größeren Stückzahlen produzierbar und durch neue druckmedienspezifische Text-Bild-Verbindungen geprägt, sprechen die Stundenbücher in verschiedensten Gestaltungsformen ein insgesamt breiteres Publikum an. Dabei bemühen sich Buchdrucker teilweise um eine Gestaltung der Stundenbücher, welche diese den handschriftlichen Werken möglichst ähnlich erscheinen lässt.84 Seit dem späten 15. Jahrhundert werden zur Ausstattung von  



84 Gedruckte Stundenbücher, die den handschriftlichen ähneln, schaffen etwa Adriaen van Liesfelt (Horarium secundum usum Romanae curiae – mit Holzstöcken des Druckers Gerard Leeu, erschienen am 22. Juni 1494 in Antwerpen) und Lucantonio Giunta (Officium Beatae Mariae Virginis secundum consuetudine romane curie, erschienen 4. Mai 1506 in Venedig).  

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Stundenbüchern Holzschnitte verwendet, was größere Auflagen ermöglicht. Manchmal sind die Stundenbücher die einzigen Bücher im Haushalt, und neben ihren im engeren Sinn frommen Zwecken dienten sie auch dazu, die Kinder im Lesen zu unterrichten. Darum enthalten manche eine Seite mit dem Alphabet. Bis zum späten 16. Jahrhundert verliert das Stundenbuch allmählich seine Bedeutung als Andachtsbuch. In England behält jedoch der Primer seine Bedeutung, dessen Name sich vielleicht von der Prim ableitet; er belehrt über das, was ein guter Christ wissen muss und dient insbesondere als Unterrichtsbuch für Kinder, auch bei der religiösen Erziehung. Das von Giulio Clovio im Jahr 1546 für den römischen Kardinal Alessandro Farnese geschaffene sogenannte Farnese-Stundenbuch ist eines der letzten bedeutenden illuminierten Stundenbücher, die die mittelalterliche Tradition fortsetzen. Im Bereich des russisch-orthodoxen Glaubens werden Stundenbücher noch in großer Zahl geschaffen und verwendet, als sie im Westen bereits ihre Blütezeit hinter sich haben.  

Kunstgeschichtliche Bedeutung. Hinsichtlich seiner Bedeutung für die Geschichte der Kunst und der ästhetischen Erfahrung ist gerade das Stundenbuch unter mehreren Aspekten als Brücke vom Mittelalter zur Neuzeit beschreibbar. Die Kunst wendet sich hier besonders deutlich neuen Gegenstandsbereichen zu. Damit verbunden sind neue Funktionen der Kunst: die der Selbstdarstellung der kulturtragenden sozialen Schichten, die der Repräsentation ihrer Lebensformen. In einem Stundenbuch wie dem des Herzogs von Berry stellt sich vor allem die Welt des Rezipienten selbst stilisiert, semantisch aufgeladen und ästhetisch verklärt dar. Im Spiegel der Kunst sieht sich der Besitzer selbst als Objekt künstlerischer Darstellung. Man wird wohl mit Blick auf die berühmtesten Stundenbücher sagen dürfen, dass die ästhetisch motivierte Freude am wertvollen Kunstobjekt sich gegenüber der religiös-spirituellen Nutzungspraxis emanzipiert. Als Darstellung alltäglicher Szenen geben Stundenbuch-Illuminationen vielfach Aufschluss über das Leben im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, aber auch über kollektive Vorstellungsbilder, insbesondere aus dem Bereich christlicher Ikonografie. Bildzyklen gelten etwa dem Leben der Jungfrau Maria oder der Passion Christi, den acht Stunden Mariae, den Arbeiten der verschiedenen Kalendermonate oder den Tierkreiszeichen. Tages- und Jahreszeiten sind durch die Form des Stundenbuchs zu wichtigen Sujets bildkünstlerischer Darstellung geworden. Abbildungen alltäglicher säkularer Gegenstände und Handlungen in Kalender-Bildzyklen haben auf die Geschichte der Landschaftsmalerei prägenden Einfluss genommen. Seit dem 14. Jahrhundert bürgern sich ornamentale Umrahmungen, manchmal auch nur einzelner Seiten, ein. Bis zum frühen 15. Jahrhundert werden sie meist einfach auf die Seiten gesetzt, doch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts breiten sich zumindest im Bereich der aufwendigeren Stundenbücher farbige und gemusterte Hintergründe aus, die Bilder verschiedener Gegenstände enthalten.  



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Die Très Riches Heures du Duc de Berry und ihre Kommentierung durch Umberto Eco. Von den Brüdern Limburg geschaffen wurden die Très Riches Heures du Duc de Berry, entstanden zwischen 1410 und 1416 im Auftrag des Herzogs von Berry (1340– 1416), eines Sammlers wertvoller Stundenbücher. Das Projekt blieb zu Lebzeiten der Künstler unvollendet. Charles I., der Herzog von Savoyen, beauftragte Jean Colombe zwischen 1485 und 1489 mit der Fortsetzung. Von den mehr als 200 Blättern zeigt etwa die Hälfte ganzseitige Bilder. Die Seiten zu den Kalendermonaten bieten facettenreiche Darstellungen des mittelalterlichen Alltagslebens: das Leben der Adligen wie das der Bauern wird entsprechend dem Zyklus der Jahreszeiten visuell nacherzählt. Umberto Eco (dessen Roman Il nome della rosa von 1980 durch seine Kapitelaufteilung an die Strukturierung eines Breviers respektive an den klösterlichen Tagesverlauf und seine Gebetszeiten erinnert; siehe Eco 1980) hat im Vorwort zu einer Ausgabe der Très Riches Heures die Bedeutung dieser Spielform des ästhetisch aufwendig gestalteten Andachtsbuchs für die Herausbildung eines Weltbezugs betont, wie er für die Neuzeit charakteristisch ist: Die Sinne werden durch die Kunstwerke im Buch dazu eingeladen, die Welt zu betrachten, deren Details wahrzunehmen, sich also der Empirie zuzuwenden, dem Diesseits und seinen Reizen – der ursprünglichen Funktion der Stundenbücher eher zum Trotz (Cazelles/Rathofer o. J., S. 8–12). Eco, der das illuminierte Stundenbuch des Herzogs mit Kino, Fernsehen sowie mit erzählenden Bildfolgen insgesamt analogisiert, interessiert sich vor allem dafür, welche bildlichen Konkretisierungen die Imaginationen der Künstler bereits in dieser noch dem Mittelalter zugerechneten Kunst erfuhren. Wie er selbst sich für Monster und Fabelwesen in anderen Spielformen mittelalterlicher Malerei interessiert (vgl. neben Il nome della rosa insbesondere Ecos Buch über „legendäre Länder und Städte“ (Eco 2013) und seine Storia della bruttezza (Eco 2007)), so entdeckt er auch monströse Figuren in den scheinbar marginalen Zonen des berühmten Stundenbuchs: im Bereich der Initialen (Cazelles/Rathofer o. J., S. 9). Wie im Roman Il nome della rosa dient der Hinweis auf diese phantastischen Fabelwesen zur Plausibilisierung eines modernespezifischen Blicks auf Kunst: Diese, so Ecos implizite These, wird zwar in den Dienst von Ideologien und Dogmen genommen (in diesem Fall: der christlichen Gedankenwelt), aber sie geht in dieser Funktion nicht auf, lässt sich nicht perfekt disziplinieren. Wie die kleinen Monster, die der fiktive Buchmaler Adelmus von Otranto an den Rändern von Manuskripten anbringt (nach dem Eco wohlbekannten Muster realer mittelalterlicher Buchmalereien), so haben die monströsen Wesen, die sich im ansonsten einem ganz anderen Bildprogramm verpflichteten Stundenbuch des Herzogs von Berry tummeln, einen subversiven Zug.85  









85 Für Eco ist es dabei wohl besonders interessant, dass Initialenmalereien dem Monströsen einen gern genutzten Spiel-Raum bieten. Denn für ihn ist Kunst – in der Malerei wie in der Literatur – gleichbedeutend mit der Etablierung und der Nutzung eines Spiel-Raums, einer antidogmatischen Freiheit der Gestaltung von Ungesehenem, Unerhörtem. Bachtins Karnevalsästhetik, von diesem selbst an der Literatur der Frühen Neuzeit exemplifiziert, wird von dem Mediävisten Eco auf die mittelalterliche Kunst der Buchmalerei zurückprojiziert – zugleich aber als wegweisend für die ästhetische Moderne verstanden.  





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Stundenbuch, Welt- und Heilszeit. Mittelalterliches Zeitverständnis. Für das mittelalterliche Denken ist eine doppelte Zeitordnung prägend: die von Gotteszeit und Menschenzeit. Beide müssen aufeinander abgestimmt werden. Das menschliche Alltagsleben soll konsequent in einer gottgefälligen, dem Seelenheil zuträglichen Weise genutzt werden (vgl. dazu Gendolla 1992, S. 35). Man beginnt, den Tag entsprechend einzuteilen – und nach der Uhr zu leben. Diese auch praktisch folgenreiche Reform des Umgangs mit Zeit geht im frühen Mittelalter von den Klöstern aus. Die Tageszeit wird genau eingeteilt, den einzelnen Tages-Phasen werden Aufgaben (Beschäftigungen) zugeordnet (vgl. dazu Wendorff 1980). Die Klöster und die Uhren gehören zusammen: In den sich bildenden Klostergemeinschaften regeln Ablaufpläne die Lebenszeit – um der Heilszeit willen. Schon von der ersten klosterähnlichen Gemeinschaft, die sich im 4. Jahrhundert in der Thebais bildet, ist „eine Art Klosterregel überliefert, d. h. ein Zeitplan, nach dem Arbeit, Gebet, Essen, Fasten und Schlafen organisiert wurden“ (Gendolla 1992, S. 38). Aurelius Augustinus schafft ein Regelwerk für das mönchische Leben; Benedikt von Nursias Regeln sind besonders wirkungsmächtig. Sie halten die Klosterinsassen zum tätigen Leben an: sie sollen regelmäßig arbeiten.86 Die Einteilung nach Stunden, bis weit ins Mittelalter nicht besonders signifikant, etabliert sich, und der Alltag organisiert sich infolgedessen in entsprechendem Takt. Vor allem der klösterliche Lebensrhythmus sollte im Stundentakt reguliert werden. Die zunehmende Perfektionierung der Uhren macht dies möglich. Insbesondere wird die Hemmung erfunden; sie ist ein wichtiges technisches Hilfsmittel zur Strukturierung einer abstrakten Zeit. Die neue Kultur des Umgangs mit und der Interpretation von Zeit ist für den Gebrauch des Stundenbuchs von großer Bedeutung; es verknüpft ja Welt- und Heilszeit mit individueller Lebenszeit, und gerade die Bildprogramme beziehen sich auf die Heilsgeschichte ebenso wie auf die Jahreszeiten (zur Kontinuität der Stundenbuchtradition sowie zur Darstellung der Zeit in Stundenbüchern vgl. Dal/Skårup 1980). Aber es stellt gegliederte Zeit nicht nur dar, es trägt auch zu ihrer Gliederung bei; seine Lektüre dient dazu, das Leben des einzelnen Laien mit dem allgemeinen Zeittakt zu synchronisieren. Brevier und Stundenbuch erfüllen eine ähnliche Aufgabe wie die Uhr: Durch Gliederung des Tageslaufs bewirken sie, dass die Phasen des irdischen Alltags nach einem festgelegten Rhythmus von Phasen der religiösen Besinnung und  











86 „Unter Augustinus’ Prämisse, dass ‚Zeit nur darum sei, weil sie zum Nichtsein strebt‘ (Confessiones, 11. Buch, XIV, 17), also der wesentlichen Abhängigkeit oder eigenen Wertlosigkeit der irdischen Zeit, gilt es, sie sinnvoll zu machen, etwas für die künftige Existenz Bedeutendes beizutragen. […] Entsprechend wird nicht nur der Tag, sondern das ganze Jahr in eine Arbeitsregel gefasst […]. Das mönchische Leben wird so systematisch nach einem Zeitschema gegliedert – zunächst drei-, mit dem 7. Jh. siebenmal täglich läutet die Klosterglocke –, die Zeit wird reguliert und damit qualifiziert. Der Wert des Tuns wird meßbar. […] Aus der möglichen Erlösung […] wird ein Heilsplan. Um ihn so genau wie möglich zu erfüllen, müssen seine Etappen genauer bestimmt werden. Pünktlichkeit wird zu einem neuen Ideal.“ (Gendolla 1992, S. 38)  







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der Hinwendung zur Ewigkeit unterbrochen werden. Rudolf Wendorff hat die verschiedenen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit einander überlagernden „Arten des Zeitbewusstseins“ prägnant charakterisiert (vgl. insbes. Wendorff 1980, S. 173f.). Die mittelalterliche Vorstellung einer Heilsgeschichte tritt allmählich zurück; dafür wird die Gliederung nach Jahreszeiten ein künstlerisch vielbearbeitetes Thema; das Kirchenjahr wird vom ‚bürgerlichen Jahr‘ abgelöst (ebd., S. 184). Die heute gebräuchliche Jahrhundertrechnung entsteht – und die Vorstellung einer gleichförmig verlaufenden Zeit, die mechanisch gegliedert werden muss, gewinnt prägende Bedeutung für das öffentliche und private Leben. Mit all dem vollzieht sich eine Entwicklung, auf welche wichtige Stundenbücher des 20. Jahrhunderts Bezug nehmen (s. u.).  









Leben nach der Uhr. Die mittelalterlich-christliche Kultur etabliert das ‚Leben nach der Uhr‘ zwar zunächst, um den diesseitigen Menschen regelmäßig an die Ewigkeit zu mahnen, zumindest ist dies die ideologische Begründung der neuen Zeitmessungsund Zeitnutzungspraxis. De facto wird mit der strikt regulierten Zeit aber ein wichtiges Dispositiv für ökonomische, also ‚weltliche‘ Effizienz geschaffen: Regulierte Arbeitszeiten begründen eine Disziplin, die der sich modernisierten Ökonomie zugutekommt. Nur wer seine Zeit ordnet, ist verlässlich; diese Überzeugung prägt vor allem den Umgang der die neuzeitliche Gesellschaft prägenden Kaufleute mit der Tageszeit. Im weiteren Verlauf der Neuzeit etablieren sich – gerade im kaufmännischen Umfeld – ‚Stunden-Bücher‘ anderer Art: Tagesplaner, in denen über die einzelnen Beschäftigungen des Tages Buch geführt wird und mit denen sich die ‚Buchführer‘ über die eigene Tageszeit Rechenschaft geben, zur Disziplin im Umgang mit der Zeit rufen. Noch in der Epoche der Kaufleute ist dabei allerdings das christlich-ideologische Argument im Spiel, es gelte, die dem Menschen von Gott zugemessene Zeit adäquat und fruchtbringend zu nutzen. Und noch bis weit in die Neuzeit hinein ist neben der ökonomisch effizient zu nutzenden Arbeitszeit auch die Meditations- und Gebetszeit im Tagesplan des Christen (etwa des christlichen Kaufmanns) vorgesehen. Aber als Dispositiv arbeitet der regulierte Tagesplan, die buchförmige Anweisung zur Nutzung der Tagesstunden, die Anleitung zu einem regelmäßigen disziplinierten Leben dann doch der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer spezifischen Rationalität in besonderem Maße zu (vgl. Sombart 1924). Eine das Dispositiv des Buchs nutzende Strategie, dem Transzendenten seinen Anteil am menschlichen Leben zu sichern, hat langfristig der Säkularisierung durch Rationalisierung Vorschub geleistet. Die Zeit des homo oeconomicus und ihre Verwaltung sind wichtiger geworden als die Zeit Gottes. In gewissem Sinn ist die Geschichte der modernen Gesellschaft eine Geschichte der Buchführung über die im Takt der Stunden (später: der Minuten und Sekunden) segmentierten Zeit. Kalender und Diarien gewinnen zunehmend an Signifikanz.  



Vom Stundenbuch zur Buchführung. Schreibpraktiken und Zeitmodelle in der Neuzeit. Zum Leben nach der Uhr gehört – und damit kommt ein ganz anderer Buchtypus ins Spiel – auch die Buchführung im engeren kaufmännischen Sinn. Werner  



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Sombart hat in seiner Studie zur Geschichte des modernen Kapitalismus (erstmals 1916) dargelegt, inwiefern die Geschichte des Kapitalismus (als Geschichte der modernen Welt) auch und gerade eine Geschichte der Buchführung ist, wobei er die kaufmännische Buchhaltung meint. Im Zusammenhang seiner Rekonstruktion von Praktiken des Frühkapitalismus und deren mentalitätsgeschichtlichen Begleiterscheinungen zeichnet Sombart auch die Geschichte des Geschäftsbuchs, insbesondere Genese und Funktionen der doppelten Buchführung nach. Im privaten Geschäftsleben führen laut Sombart vermutlich die Bankiers die systematische Buchführung ein. Die Kontenbildung entwickelt sich, den von Sombart konsultierten Quellen zufolge, im 13. Jahrhundert in Italien. Hier wird auch die Terminologie geprägt, die das Handelswesen und die Tätigkeit des Verstandes (der ratio) in eine Äquivalenzbeziehung setzt.87 Die Einführung komplexerer Verfahren der Buchführung leistet seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dem Handelswesen wichtige Dienste. Dazu gehört vor allem die Einführung paralleler Gewinn- und Verlustkonten. Das Kapitalkonto wird im 15. Jahrhundert eingeführt. Ende des 15. Jahrhunderts (1495) entsteht Luca Paciolis Schrift über Buchführung. Sombart rekonstruiert nicht nur, wie die doppelte Buchführung entstand, er semantisiert sie auch: als Inbegriff der Ordnung und als Gipfelpunkt intellektueller Leistungen und kultureller Errungenschaften (Sombart 1924, S. 118). Im System der doppelten Buchführung konkretisiert sich die Idee des Bemessbaren, des Endlichen, des Einzuordnenden und gegeneinander Verrechenbaren. Auf der Basis dieser Schreibpraxis entsteht eine symbolische Ordnung, die maßgebliche Folgen für die abendländische Welt hat. In Kontobüchern materialisiert sich nicht nur der rationale (quantifizierende, berechnende) Umgang mit den Dingen, sondern auch mit der Zeit. Zeit ist Geld; die Kaufleute rechnen mit beidem. Es gehört zu den christlich-ideologischen Verbrämungen, die effiziente Nutzung von Zeit durch den Kaufmann als moralische, verantwortungsvolle Nutzung der Zeit als Gottesgabe zu interpretieren; tatsächlich wird die Zeit in der Neuzeit selbst zum Kapital, mit dem ganz säkular gewirtschaftet wird.88  









In Büchern verwaltete und berechnete Zeit. Das Kaufmannstagebuch als spezifische Textform ist eine logische Konsequenz aus diesem merkantil-rationalen Blick auf die Zeit – und es gehört zu den Vorläufern späterer Diaristik. Benjamin Franklin (dem die Gleichung von Zeit und Geld zugeschrieben wird) führte eine Art Tagebuch, mit dem er sich selbst der Ordnung einer primär als nutzbar interpretierten Zeit unterwarf und schreibend kontrollierte. ‚Zeit ist Geld‘ – im Zeichen dieser Gleichung wird der Umgang mit Lebenszeit ein Akt der rationalen Buchführung. Franklin, der von der  



87 Zum Wortfeld ratio – ragione – raison vgl. Sombart 1924, S. 125. 88 Insbesondere der Zinshandel – im Mittelalter verpönt – bindet das Handelswesen eng an die Zeit; hier ist Zeit (des Geldleihens und -verleihens) in ganz evidentem Sinn ‚Geld‘. Zinsen sind materialisierte Zeit. Max Webers Studien zur ‚protestantischen Ethik‘ haben den von Kaufleuten (zuerst und wegweisend in England) geführten „Kampf um die Zeit“ beleuchtet (Gendolla 1992, S. 56).  











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Vereinbarkeit, ja inneren Zusammengehörigkeit merkantilen Erfolgs und christlicher Tugendhaftigkeit überzeugt ist und der u. a. hofft, durch die Tugenden der Genügsamkeit und des Fleißes schuldenfrei und wohlhabend zu werden, berichtet über die Erfindung der ‚Methode‘ täglicher Selbstprüfung durch Buchführung über die Bezüge seines Handelns zu katalogisierten Tugenden und Werten.89 Franklins Buchführung über sein eigenes Innenleben und Handeln hat einen mehrfachen Zeitindex: Erstens ist die Beobachtung ja chronologisch angelegt; beobachtet und notiert wird tageweise. Zweitens soll dieses Verfahren über einen gewissen Zeitraum (zunächst eine Woche) praktiziert werden, um so eine Überschau zu gewinnen. Und drittens erhofft sich der Buchführer von seiner Notations- und Auswertungspraxis eine sukzessive Besserung (Franklin 1954, S. 152). Gerhard Dohrn-van Rossum weist anhand verschiedener Beispiele darauf hin, dass zwischen der merkantilen modernen Einstellung zur Zeit und dem Führen privater Aufzeichnungsbücher ein enger Zusammenhang besteht.90  



Der Diarist als Buchhalter seines Lebens. Ein Pionierwerk der Romangeschichte nimmt Bezug auf das Format des Kaufmannstagebuchs als eines Rechnungsbuchs, das der Darstellung, Interpretation und Verwaltung von Zeit dient – hier von Lebensund Erfahrungszeit: Daniel Defoes Geschichte des Robinson Crusoe. Bald nach seinem Schiffbruch zieht Robinson eine erste Bilanz, wägt Schlechtes und Gutes seiner gegenwärtigen Lage ab, legt je eine Liste von Positiva und Negativa an. Was er dabei als Strafe, was er als Gnade oder Chance begreift, ist jeweils praktisch Relevantes; so etwa erscheint die Verfügbarkeit von Nahrungs- und Hilfsmitteln als Positivum, die Abgelegenheit der Insel als Negativum. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation manifestiert sich bei diesem gestrandeten Kaufmann als Buchhaltung der Übel und der positiven Umstände, die gegeneinander abgewogen werden. Kontobuch und Tagebuch gehören zusammen – um der Selbstbesinnung und Selbstverständigung eher als um der Nachwelt willen.  



89 „Ich machte mir ein kleines Buch, worin ich jeder der Tugenden eine Seite anwies, liniierte jede Seite mit roter Tinte, so dass sie sieben Felder hatte, für jeden Tag der Woche eines, und bezeichnete jedes Feld mit den Anfangsbuchstaben des Tages. Diese Felder kreuzte ich mit dreizehn roten Querlinien und setzte an den Anfang jeder Linie die Anfangsbuchstaben von einer der Tugenden, um auf dieser Linie und in dem betreffenden Felde durch ein schwarzes Kreuzchen jeden Fehler anzumerken, den ich mir, nach genauer Prüfung meinerseits, an jenem Tag hatte zu Schulden kommen lassen.“ (Franklin 1954, S. 151) Franklin schreibt weiter: „Da die Vorschrift der Ordnung verlangte, dass jeder Teil meines Geschäftes seine zugewiesene Zeit habe, so enthielt eine Seite in meinem Büchlein einen Stundenplan für die Verwendung der vierundzwanzig Stunden des natürlichen Tages“ (ebd., S. 155). 90 Angesichts der als wertvoll, weil knapp wahrgenommenen Zeit ist, wie er berichtet, „eine ganze Reihe von Tagebüchern überliefert, deren Autoren sich unter Angabe der Uhrzeit Rechenschaft über ihren Tageslauf geben. Tagebuchführung wird […] Mode, und 1712 empfiehlt der Spectator die Führung von Tagebüchern, damit die Leute sich der ungeheuren Zeitverschwendung in ihrem alltäglichen Dasein bewußt werden“ (Dohrn-van Rossum 1981, S. 70).  





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Schriftdiskurse, Kulturtheorie und Anthropologie. Kulturphilosophische und -anthropologische Theorien konvergieren in der Idee, dass Schreibpraxis und Zeiterfahrung historisch und sachlich eng zusammenhängen. Eine rudimentär strukturierte ‚Zeit‘ und die Schrift als Medium dieser Strukturierung entstehen miteinander, in wechselseitiger Abhängigkeit. Die erste Zeiterfahrung ist kulturanthropologischen bzw. -historischen Thesen zufolge noch ganz an konkrete rhythmische Vorfälle bzw. Erfahrungen gebunden. Und deren Erfahrung verbindet sich mit der Entstehung rhythmischer Muster, ja sie wird durch die Fähigkeit zur Herstellung solcher Muster bedingt. Am Anfang der Geschichte der Schrift stehen entsprechende regelmäßig angeordnete Einkerbungen: „kufenförmige Linien oder Folgen von in Knochen oder Stein eingegrabenen Kerben, kleine, im gleichen Abstand angeordnete Einschnitte“ (Leroi-Gourhan 1985, S. 238). (‚Schrift‘, ‚scribere‘ und ‚Einkerbung‘, ‚Ritzung‘ hängen etymologisch zusammen.) Ernst Cassirer wendet sich im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen der Frage nach dem Ursprung der Zeichen und nach ihren ursprünglichen Funktionen zu. Seiner Überzeugung zufolge sind im mythischen Denken Zeit- und Raumvorstellungen zunächst nicht getrennt.91 Aber wie geht „diese mythische ‚Urzeit‘ allmählich in die ‚eigentliche‘ Zeit“, in „das Bewusstsein der Folge“ über? Der „Ausdruck der einzelnen Zeitverhältnisse“, so Cassirers These, entwickle sich in Anlehnung an den der „Raumverhältnisse“ (Cassirer 1964/2, S. 131). Grundlegend seien Verfahren der Unterteilung, des Abschneidens. Sie machten das Geschieden-Sein eines Hier/Dort, eines Vorher/Nachher sinnfällig, indem sie entsprechende Schnitte vornähmen; sie ließen dadurch Räume entstehen, in denen man sich anhand von Differenzierungen orientieren könne, und sie segmentierten Zeit in einer Weise, die temporale Orientierung ermögliche. In den europäischen Namen für Zeit (tempus, tempo, tiempo, temps, time, tid, tijd, Zeit) ist etymologisch die Idee des ‚Abgeteilten‘, des ‚Abschnitts‘ enthalten (vgl. Usinger 1948, S. 191f.; Cassirer 1964/2, S. 133; Gendolla 1992, S. 19). Raum und Zeit werden durch Differenzierungen strukturiert und dadurch ‚geschaffen‘ (vgl. Gendolla 1992, S. 21). Der Prähistoriker und Kulturanthropologe André Leroi-Gourhan hat seine Forschungen zur Frühgeschichte der Schrift mit anthropologisch-kulturtheoretischen Erörterungen verknüpft. Die frühen Ritzungen bzw. Kerbungen auf Stäben zeugen (wie er sagt), „viele Jahrtausende vor den ersten Maßsystemen, von der frühesten Wahrnehmung regelmäßiger rhythmischer Intervalle. […]“ (Leroi-Gourhan 1985, S. 391). Den ‚Anfängen‘ menschlicher Zeiteinteilung korrespondieren den kulturphilosophischen Theorien Cassirers und Leroi-Gourhans zufolge die Anfänge der Schrift; die erste Markierung setzt eine Zäsur, die zugleich eine zwischen Hier und Dort und zwischen Vorher und Nachher ist. Die Gliederung von Raum und Zeit ist an Notationspraktiken gebunden. Eine Kunst, die daran erinnert, versteht  













91 „Zwischen beiden besteht zunächst keine scharfe Absonderung. […] Es ist ein und dieselbe konkrete Grundanschauung, es ist der Wechsel von Licht und Dunkel, von Tag und Nacht, worauf die primäre Anschauung des Raumes wie die primäre Gliederung der Zeit beruht.“ (Cassirer 1964/2, S. 132)  

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sich als ‚elementare‘ Kunst. Sie macht sinnfällig, dass die Segmentierung und Rhythmisierung von Zeit und Raum zwei Seiten ein und desselben Gliederungs- und Markierungsprozesses sind: Der Raum der einander im Buch überlagernden Seiten korrespondiert einem Zeit-Raum, den er jeweils darstellt. Die Idee einer Quantifizierung von Zeit und die damit verbundene Abstraktion ist späteren Kulturen vorbehalten, setzt aber die gliedernde Einteilung von Zeit als solche natürlich voraus (Cassirer 1964/2, S. 145).  

Ästhetische ‚Stundenbücher‘ als Zeitbücher im 20. Jahrhundert. Im 20. und 21. Jahrhundert wird an die verschiedenen Semantiken und Bedeutungskontexte des Stundenbuchs angeknüpft. Die ‚Stundenbücher‘ der künstlerisch-literarischen Moderne haben sehr verschiedene Gesichter, und es scheint hier kaum Verbindendes zu geben. Und doch lassen sich abstrahierend Tendenzen benennen, die die sehr diversen Ausprägungsformen des modernen Stundenbuchs miteinander verbinden. Zwei berühmte ‚Stundenbuch‘-Werke, ein Gedichtzyklus und eine Bildergeschichte in Form von Holzschnitten, tragen in der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts zum Interesse an diesem Buchtypus maßgeblich bei: die Stundenbücher Rilkes und Masereels. Weder Rilkes noch Masereels Stundenbuch ist wirklich ein Stundenbuch in dem Sinn, dass ihnen Form und Funktion der mittelalterlichen, frühneuzeitlichen (und übrigens in der katholischen Welt bis heute gebräuchlichen) Stundenbücher zugrunde lägen; Analoges gilt für Gomringers stundenbuch. Aber was verbindet diese Werke mit dem Buchtypus, dessen Namen sie tragen? Gerade die Nicht-Erfüllung von Gattungskriterien hat – wenn man denn unterstellt, die Betitelung der fraglichen Werke sei bewusst erfolgt und kein nominalistisch motiviertes Spiel – ein reflexives Moment. Sie stimuliert zur Besinnung darauf, was ein Stundenbuch eigentlich ist – und darüber, was ein Buch, das kein Stundenbuch ist, aber „Stundenbuch“ heißt, mit einem echten Stundenbuch gemeinsam haben kann. Bei allen Unterschieden stehen die Zeit-Bücher des 20. Jahrhunderts jeweils im Zeichen reflexiver Auseinandersetzung mit der Zeit. Was sie von den älteren Stundenbüchern unterscheidet, ist wohl vor allem das prägende Bewusstsein von der Historizität von Zeitkonzepten.  













Ein poetisches Memento mori: Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch (1905). Zwischen 1899 und 1903 entstand Rilkes erster durchkomponierter Zyklus von Gedichten, der 1905 unter dem Titel Das Stunden-Buch erschien; das erste Buch des Zyklus heißt in der Erstfassung Die Gebete. Den inneren Zusammenhang der Gedichte untereinander hat Rilke nachdrücklich bekräftigt: Sie bilden einen Gesang, sind ein einziges Gedicht, in dem keine Strophe von ihrem Platz gerückt werden kann. Rilkes StundenBuch ist dreigliedrig, was als Verweis auf einen analogen Verlauf des Lebenswegs hin zum Tod gedeutet werden kann, zumal der Titel des mittleren Teils auf das Bild vom Leben als Pilgerreise anspielt: Das Buch vom mönchischen Leben (erstes Buch, 1899),

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Das Buch von der Pilgerschaft (zweites Buch, 1901), Das Buch von der Armuth und vom Tode (drittes Buch, 1903). Die einzelnen Gedichte sind von großem Formenreichtum. Auf mikro- und makrostruktureller Ebene ist die Idee des Zyklischen prägend; auch inhaltlich werden kreisförmige Bewegungen evoziert. Der Gott des Stunden-Buchs ist Gegenstand der Suche, etwas Unfassliches, das ‚umkreist‘ wird; das Buch insgesamt ist Dokument einer Rückwendung auf eine als ursprünglich gedeutete vormoderne Welt, in der die alten sozialen Werte und Tugenden noch zu bestehen scheinen – Reisen zurück hinter die individualisierte und moderne Kultur Westeuropas. Zu Inhalt und Duktus der Texte passt es, dass Rilke ihre Entstehung in einer Weise beschreibt, die sie als Eingebungen transzendenter Provenienz erscheinen lässt. Zugleich deuten andere Aussagen Rilkes aber darauf hin, dass er sich des artifiziellen Gestaltungsprozesses bewusst ist, als der sich seine Auseinandersetzung mit Glauben, Religion und Gott vollzieht. Wenn die Gedichte des Stunden-Buchs Ausdruck der Frömmigkeit sind, so einer durch und durch persönlichen Frömmigkeit. Wie auch in seinen späteren Werken betrachtet und interpretiert Rilke im Stunden-Buch das Leben vom Tod her; der Zyklus ist ein großangelegtes Memento mori.92  

Ein Lebenszyklus im Spiegel eines Bildzyklus: Frans Masereel: Mon livre d’heures (1919). Masereels livre d’heures erschien auch unter dem Titel Mein Stundenbuch bzw. My Book of Hours (München 1920, 167 Holzschnitte), später auch als Passionate Journey (ein Nachdruck wurde bei Zweitausendeins 1978 publiziert). Masereel schafft eine Reihe von Holzschnitt-Sequenzen, die Geschichten ohne Worte erzählen und als Vorläufer der Graphic Novel betrachtet worden sind (vgl. u. a. Beronä 2008; Schulz 2013). Am Holzschnitt mit seinen harten Schwarz-Weiß-Kontrasten sind die Expressionisten nachhaltig interessiert, denen Masereel zwar nicht einfach zugeordnet werden kann, aber doch in vielem nahesteht. Expressionistisch wirken auch die Themen, die in seinen Bildgeschichten behandelt werden: „the social ills of a technological culture“ (Beronä 2008, S. 11). Einer der Zyklen heißt Mein Stundenbuch. Er besteht aus 167 Bildern und erzählt ein durch Bildsprache und Inhalt expressionistisch stilisiertes Schicksal: Ein junger Mann kommt in eine große Stadt und lernt ihre unterhaltsam-komischen wie ihre tragischen Seiten kennen. Wichtig für seine Geschichte sind vor allem seine Beziehungen zu zwei Frauen: zu einer Prostituierten, in die er sich verliebt, die ihn aber zurückweist und zu einer Frau, die erkrankt und stirbt. Der Held erlebt eine ganze Reihe von Abenteuern, er verhält sich vielfach respektlos – so etwa, indem er von einem hohen Gebäude herunter auf die Stadt uriniert; er stellt die  





92 Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch/enthaltend die drei Bücher/Vom mönchischen Leben/Von der Pilgerschaft/Von der Armuth und vom Tode. Leipzig 1905; vgl. Schulz 2013.

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scheinhafte und heuchlerische Welt bloß, in der er sich bewegt. Dabei ist er kein besonderer Held, sondern ein alltäglicher Mensch, ein Jedermann. Zuletzt geht er in einen Wald, erlebt emphatisch die Natur, legt sich nieder, um zu ruhen – und stirbt. Sein Skelett ersteht mit dynamisch wirkenden Gebärden wieder auf: ein rätselhaftes Bild, das die Frage nach einem Leben nach dem Tod zwar stellt, aber nicht eindeutig beantwortet. So repräsentiert der Bildzyklus einen Lebenszyklus; Landschaft- und Naturmotive erinnern an die zyklische Zeit der Natur, die mit der historisch-zivilisatorischen Zeit kontrastiert.  

Ein Gedicht in Buchform: Eugen Gomringers das stundenbuch (1965). Schließen Rilke und Masereel an die Tradition des Stundenbuchs an, ohne dabei die Form des Buchs selbst in besonderer Weise einzukalkulieren (Rilkes Stunden-Buch ist in verschiedenen Buchausgaben erschienen, und für Masereels Mein Stundenbuch ist letztlich die Sequenzialtät der Bilder wichtiger als deren Integration in ein Buch), so ist Eugen Gomringers stundenbuch (Gomringer 1965; vgl. dazu u. a. Nickel 2015) aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts demgegenüber ein ans Trägermedium Buch gebundenes Werk. Gomringer ist ein ausgesprochen Buch-bewusster Autor. Unter anderem stellt er sich das Gedicht in Buchform vor. Bei dessen Beschreibung berücksichtigt er die konkreten Verwendungspraktiken von Büchern, vor allem das Blättern in Seitensequenzen, die Parallelität zwischen physischer und intellektueller Lese-Bewegung, mit denen jeweils eine ‚innere Zeit‘ des Gedichts aktualisiert wird. Die Idee des Zyklischen verbindet die ästhetischen Forminteressen des Lyrikers mit dem Interesse am Thema Zeitlichkeit (vgl. Gomringer 1972b; Schulz 2013). Als einen Gedichtzyklus in Buchform realisiert Gomringer selbst 1965 sein stundenbuch (allerdings ist dieses teilweise zusammen mit anderen Publikationen, also nicht in autonomer Buchform, erschienen). Es ist zugleich ein programmatisches Beispiel Konkreter Poesie.93 In theoretischen Reflexionen und Manifesten tritt Gomringer für eine radikale Erneuerung der poetischen Ausdrucksmittel ein, die im Zeichen der Verknappung, Ökonomisierung und Internationalisierung steht. Seine Texte – für die Gomringer gelegentlich den Begriff der ‚Konstellation‘ verwendet – sind vielfach nur aus (sich oft wiederholenden) Einzelwörtern komponiert, manche suggerieren dabei Bewegungsabläufe.  







93 Im Bereich der Konkreten Poesie finden sich verschiedene Beispiele für eine Thematisierung der Zeit und ihres Verlaufs, die zugleich für die Textstruktur prägend ist. Dabei wird zum einen an die Tradition des Umrissgedichts angeschlossen; zum anderen wird der Verlauf der Zeit aber auch durch andere typografische Mittel sinnfällig gemacht. Gomringer selbst popularisierte 1955 den Begriff Konkrete Poesie. Nicht nur die Zusammenarbeit mit Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung prägte seine Arbeit als Theoretiker und Repräsentant Konkreter Poesie, sondern auch die Verbindung zu Decio Pignatari, der der brasilianischen Noigandres-Gruppe angehörte, wo man Konkrete Texte verfasste. Vgl. dazu u. a. Gomringer 1969a.  

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Werden die Einzelwörter durch ihre Herauslösung aus syntaktischen Zusammenhängen auf eine zur Meditation einladende Weise in den Blick gerückt (Gomringer versteht seine Texte als Denk-Spielzeuge, in deren Wörter der Leser sich meditativ versenken soll), so verweisen die Konstellationen komplementär dazu manchmal auch auf das Schweigen als das Pendant der Wörter, das Ungesagte, das Geheimnis. Dass der Dichter zum Schweigen eine intensive Beziehung unterhalte, betont Gomringer ausdrücklich – u. a. in einem Text, dessen repetitive Struktur ihm selbst meditativen Charakter verleiht (vgl. Gomringer 1988a). Wilhelm Gössmann erinnert in einer Einleitung zu Gomringers Zyklus stundenbuch an die Gattung der Andachtsbücher, und er sieht die Texte in der doppelten Tradition der modernen Lyrik und der Andachtslektüre, als deren Gemeinsamkeit er eine Tendenz zur Verdichtung und Konzentration begreift – ganz im Sinne Gomringers.94 Ihr meditativer Charakter begründe eine Affinität zu verschiedenen spirituellen Welten, auch zu der des Zen-Buddhismus. Konstitutiv für den Textzyklus sei vor allem seine Beziehung zur Zeit, die Gomringer in Kenntnis der ‚klösterlichen Tradition‘ intendiert habe.95 Ein Zeit-Bezug liegt schon darin, dass Gomringer seinen Zyklus (in Analogie zum 24-Stundenzyklus) auf genau 24 Worten aufbaut, deren Anordnung einem regelmäßigen Muster folgt: Die Vokabeln werden jeweils mit den Wörtern „mein“ und „dein“ kombiniert – tragendes Variationsprinzip ist das der Alternation. Die 24 Vokabeln (gegliedert in vier Sechsergruppen: Geist, Wort, Frage, Antwort, Lied, Gedicht; Leib, Blick, Kraft, Freude, Trauer, Schweigen; Herkunft, Anfang, Weg, Ziel, Tod, Traum; Baum, Blühen, Gabe, Haus, Jahr, Stunde) korrespondieren der Idee einer Meditation über Leben und Zeit; ihre Bedeutung bleibt dabei betont unbestimmt. Gomringers zur Meditation einladendes Stundenbuch ist insbesondere vor dem Hintergrund einer Zeitwahrnehmung zu lesen, die durch den Eindruck permanenter Beschleunigung geprägt wird. Und es suggeriert, dass es insbesondere der Meditation über Wörter bedarf, um die Zeit zu entschleunigen und dem Sog der Akzeleration die Idee des Immer-wieder-Zurückkommens auf Leitwörter und Leitvorstellungen entgegenzusetzen. In Erweiterung dieses Ansatzes, für den eben auch die sinnlich-visuelle Dimension jener Leitwörter maßgeblich ist, wurde das stundenbuch Gomringers inzwischen auch als Landschaftsinstallation rea 







94 Mit Blick auf Schreib- und Leseprozesse könne man von meditativen Konstellationen sprechen; auch assoziiert er die alte sakrale Form des litaneihaften Sprechens. Durch den Begriff Stundenbuch werden die so bezeichneten Texte laut Wilhelm Gössmann hinübergeführt aus der reinen Vorstellungswelt der Lyrik in einen gewissen Gebrauchswert für das tägliche Leben (Gomringer 1965, S. 103). Allerdings legt er doch Wert auf eine Abgrenzung zur christlichen Kunst und widerspricht einer Deutung des stundenbuchs als geistliche Dichtung (ebd.). 95 „Das Stundenbuch im herkömmlichen Sinne geht von der Voraussetzung aus, dass die Zeit mit allen ihren Stunden zum immerwährenden Gebet drängt. Der Tageslauf und die Nacht bringen einen Rhythmus immer wiederkehrender Gedanken und Formulierungen mit sich. Stundenbücher dieser Art sind deshalb in gewisser Hinsicht dem klösterlichen Leben nahe. Eugen Gomringer […] wandelt […] die alte Thematik um ein Vielfaches ab.“ (Gössmann in Gomringer 1965, S. 103)  



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lisiert: Tafeln mit den Texten umgeben einen See und laden so zu einer Meditation im Gehen ein, die an religiöse Meditationswege erinnert. 1980 erschien Gomringers stundenbuch als mehrsprachige Ausgabe (in fünf Sprachen), übersetzt von Dichter-Kollegen: Jerome Rothenberg (englisch), Pierre Garnier (französisch), Jaime Romagosa (spanisch) und Jan Östergren (norwegisch).96 Später veröffentlicht wurde eine deutsch-japanische Version des stundenbuchs, in die eine Auseinandersetzung Gomringers mit dem Zenmeister Sengai integriert ist (Gomringer/Lischinger 2005). Experimente mit der Notation von Zeit: Künstlerbücher und Buchobjekte als Zeit-Schreib-Bücher. Der Begriff ‚Stundenbuch‘ findet sich als Titel verschiedener künstlerischer Arbeiten gerade im Bereich der buchkünstlerischen Avantgarde. Damit verbunden sind automatisch Reminiszenzen ans traditionelle Stundenbuch, aber die Akzentuierung kann doch ganz anders ausfallen. Während der Titel der älteren Stundenbücher auf die suggerierte Konsultation durch einen Rezipienten zu bestimmten Stunden hinweist, stellen zeitgenössische ‚Stundenbücher‘ oft eher den Zeitverlauf im Leben der Produzenten dar oder machen andere Zeitverläufe sinnfällig. In ihrer Abstraktheit, ihrem ‚elementar‘ wirkenden Notationscharakter erinnern wichtige moderne Stundenbücher an die phylogenetischen Anfänge und die ontogenetischen Ursprünge kalendarischer Notation. Und damit erinnern sie an die Anfänge der ‚Zeit‘, die es für den Menschen nur insofern gibt, als er sie gliedert, rhythmisiert, skandiert – was wiederum an Notationsverfahren gebunden ist. Bei den Stunden- und Zeitbüchern von Hanne Darboven, von Barbara und Gabriele Schmidt-Heins wird u. a. an Formen der Grafie angeknüpft, die vor der visuellen Fixierung von Rede liegen – an kalendarisches Schreiben als Zeiteinteilung, an Schrift-Bilder.  





Spielformen systematischer Notation: Hanne Darbovens Zeit-Bücher. Hanne Darboven spezialisiert sich vor allem darauf, größere Zeitintervalle durch regelmäßige, einem bestimmten System unterworfene Notationsverfahren in Buchform sinnfällig zu machen.97 Sie stellt eine homogenisierte, abstrakte Zeit dar. Aber ihre Notationsverfahren sind selbsterfunden und insofern ‚individuell‘; sie wechseln und demonstrieren dadurch ihre Bindung an den zeitmessenden Menschen. Je nachdem,

96 das stundenbuch – the book of hours – le livre d’heures – el libro de las horas – timbok (die Leinenausgabe dieses mehrsprachigen Buchs ist zudem um eine CD mit Chormusik von Werner Heider erweitert). 97 Verwiesen sei insbesondere auf folgende Werke: Darboven, Hanne (Hg): R. M. Rilke – Das Stundenbuch. Leo Castelli, Feb. 1.1957–Feb. 1.1987 NYC (1987). 64 Seiten, 32 Farbtafeln Offsetdruck, 1500 nummerierte Exemplare./dies.: Die stundenbücher, 1990–1993. 1 Exemplar. 80 Bände, 4.80 Blätter, Pergamentpapier, eingeklebte Fotografie, Klebebindung, eingelegte Zwischenpappen, schwarze und rote Leineneinbände, Etiketten auf Buchdeckeln und -rücken./dies.: Stundenbuch (1991). 160 Seiten, grüner Leinenrücken, schwarzmarmorierter Pappdeckel, Etikett auf Deckel, roter und schwarzer Stift.  













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wie Zeit notiert wird, ergeben sich andere Zeit-Bilder. (Welche Bilder der Zeit wir uns machen, welche sprachlichen Formen der Darstellung von Temporalität wir wählen, wie wir Bildliches und Sprachliches verbinden, um Zeit, Zeiterfahrung, Zeitordnungen und das Bewusstsein eigener Zeitlichkeit sinnfällig zu machen – das ist keine nachträgliche Entscheidung, sondern dem Umgang mit Zeit immer schon bedingend voraus.) Darbovens Zeit-Bücher bieten u. a. Sequenzen von Zahlen, ausgeschrieben in Wörtern, an den Zeilengrenzen ohne Rücksicht auf Teilungsregeln getrennt. Bestandteil der Darstellung von Zeit sind in Darbovens Œuvre insbesondere auf den ersten Blick rätselhafte, aber systematische Berechnungen, ausgehend von den Datenangaben; sie entwickelt ein eigenes Verfahren systematischer Additionen der Zahlzeichen, die dann zu Werten führen, mit denen die Tage bezeichnet werden. Ihr auf Kalendertagen beruhendes Zahlensystem entwickelt Darboven bei einem New-York-Aufenthalt in den 1960er Jahren im Ausgang von geometrischen Darstellungen. Die zu diesen Kalenderdaten gehörigen Ziffern werden jeweils zur Quersumme addiert, und daraus resultieren zum einen Expansions- zum anderen Reduktionsprozesse; die Zeit wird durch diese visualisiert. Das Notationssystem für die Zeit wird vor allem für Bücher genutzt, Darboven stellt nach der Reise nach New York 1968 ihr erstes Buch her (in wenigen Exemplaren); das Format Buch gestattet eine Publikation der Arbeiten unabhängig von Galerien. 1968–77 New York präsentiert das in New York entwickelte Darstellungsverfahren von Zeit. Im Titel eines Projekts von 1976 – Ein Jahrhundert (der Titel liest sich ausführlicher: 00 → 99 Ein Jahrhundert I → XII eins plus eins ist einszwei zwei ist einszwei e.t.c.) – wird der Prozess des Zählens deutlich akzentuiert. Schon 1971 wird Ein Jahrhundert 1970–1971 ausgestellt: Aktenordner stehen in Holzregalen; in den Ordnern finden sich Blätter, die das Darbovensche System der Zeitdarstellung repräsentieren. Die Dauer der Ausstellung entspricht dem Titel des Projekts; sie beträgt ein Jahr; die Ordner werden sukzessiv in die Galerie gebracht.98 Eine Hommage an Rilke ist Darbovens Arbeit R.M. Rilke – Das Stunden-Buch (1991). Das Buch enthält 160 Seiten, weist einen grünen Leinenrücken und einen schwarzmarmorierten Pappdeckeleinband mit Etikett auf dem Deckel auf; geschrieben wurde mit rotem und schwarzem Stift. Darbovens Galerist Leo Castelli hatte bei seiner Emigration aus Italien in den 1930er Jahren Rilkes Stundenbuch bei sich; das Buch Darbovens ist zum 30-jährigen Jubiläum der Galerie hergestellt worden.99 Die stundenbücher (1990–1993) setzen das Zeit-Schreib-Projekt fort. Sie basieren – wie auch andere Arbeiten – auf zu Büchern mit Leineneinband gebundenen Schreibheften. Eine Gruppe gestalterisch ähnlicher Objekte bilden die Kalenderbücher (Existenz, 1966–1999;  











98 Die Berechnung des jeweiligen Tages wurde im ihr entsprechenden Tagesrhythmus sichtbar gemacht. Regale, Ordner und Tische erlaubten aber auch die Konsultation der Darstellungen bereits vergangener Daten. 99 Vgl. die Katalogbeschreibung zu Darbovens R. M. Rilke – Das Stundenbuch in Bippus/Westheider 2002, S. 88.  







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Diaries, 1990–1999; Wochenaufzeichnungen, 1993–1996). Je zwei Bände stellen jeweils zehn Jahre dar. ‚Funktionszeit‘ versus subjektive Zeit bei Barbara und Gabriele Schmidt-Heins. Die Schwestern Barbara und Gabriele Schmidt-Heins arbeiten teils gemeinsam, teils selbstständig mit dem Format des Buchs, das sie künstlerisch gestalten (SchmidtHeins/Schmidt-Heins 1979, unpag.). Ihre Arbeit mit dem Format des Buchs steht maßgeblich im Zeichen der Auseinandersetzung mit Zeit; Wiederholungsstrukturen spielen eine tragende Rolle.100 In den Stundenbüchern implizit reflektiert wird die Diskrepanz zwischen mechanisch-gleichmäßiger Uhren-Zeit und subjektivem Zeitempfinden,101 zwischen abstrakter Zeit und (persönlich) gestalteter Zeit, wie sie an den Spuren körperlicher Gesten ablesbar ist. Die Sequenz von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Jahren bildet seit Einführung der exakt die Zeit einteilenden Uhr ein abstraktes Gerüst. Eine Aneignung dieser abstrakten Zeit erfolgt insbesondere durch Schreib-Gesten, die Zeit nachvollziehbar machen. Mit der Hand vorgenommene Minuten-Notationen machen sinnfällig, dass die Taktung der Zeit beim Einzelnen trotz aller Orientierung an kalendarischen und Uhren-Zeiten individuellen Parametern unterliegt; jeder hat ein eigenes Zeit-Gefühl. Gabriele Schmidt-Heins: Stundenbuch.102 Stundenbuch von Gabriele Schmidt-Heins besteht aus 24 Seiten, Rot auf Weiß bedruckt (nur auf der Recto-Seite). Die Seiten tragen jeweils eine Kopfzeile: „5 Minuten“, dann fünf Zeilen mit senkrechten Strichen von ca. 2 cm Höhe, die Zeilen sind ähnlich, aber nicht gleich lang. Die Striche sind sorgfältig gezogen, per Hand. Unten auf der Seite steht eine Zeitangabe, wie z. B.: „4′ 41″“. Die Angabe bezieht sich auf das Zeitintervall, das zur Anfertigung der Striche gebraucht wurde, jeweils in Minuten und Sekunden angegeben; sie ist nicht deckungsgleich mit der oben auf der Seite, kommt ihr allerdings nahe. Am Ende erfolgt ein Hinweis für den Leser: Es handle sich um 12 mal 5 Minuten; es gehe darum, die Zeit zu ‚zeichnen‘ und die Zeit zu ‚messen‘.103 Und: Es sei versucht worden, pro Sekunde einen senkrechten Strich zu machen; unterdessen sei eine Minute dahingegangen, die ‚5 Minuten‘ seien jeweils entsprechend dem persönlichen Zeitgefühl fixiert worden (vgl. Mœglin-Delcroix 1997a, S. 263). Auf jeder Seite konfrontiert finden sich – so auch Anne Mœglin-Delcroix – die ‚objektive‘ und konstante Zeit der Uhr einerseits, die ‚subjektive‘ Zeit des Spurenziehens andererseits (ebd.).  









100 Zur Beziehungen zwischen Buch und Zeit in den Schmidt-Heinsschen Buchwerken vgl. auch Mœglin-Delcroix 1997a, S. 261, 264. 101 Verwiesen sei insbesondere auf folgende Arbeiten: Schmidt-Heins, Gabriele: Stundenbuch, ca. 1980, 120 Ex., Hamburg, 27 Seiten; Schmidt-Heins, Barbara: Gezeiten. Hamburg 1981. 150 Ex., 30 Seiten; Schmidt-Heins, Barbara: Gedenkminute für die Zeit (1980). 102 120 Exemplare, Hamburg ca. 1980; Abb. bei Mœglin-Delcroix 1997a, S. 261. 103 In Mœglin-Delcroix’ frz. Übersetzung: „12 fois 5 minutes. Dessiner le temps, mesurer le temps“.  



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Barbara Schmidt-Heins: Gezeiten (1981).104 Zu Beginn des Buchs steht das Foto einer Welle; das Wort „Gezeiten“ ist so gedruckt, dass „Zeit“ herausgehoben ist. Damit verbindet sich die Erinnerung daran, dass der Wechsel der Gezeiten seit jeher als Zeitmaß (Chronometer) gedient habe. Das Buch insgesamt besteht aus 15 Doppelseiten, jede Doppelseite entspricht einem Tag der ersten Augusthälfte 1978. Rechts sind jeweils die Angaben zu den täglichen Gezeiten der Elbe zu sehen, links stehen handschriftliche Wörterpaare, die auf Zeiterfahrung hinweisen, auf Tagesrhythmen des Wachens und Schlafens, auf Aufgang und Untergang der Sonne, auf Einatmen und Ausatmen. So stehen die Angaben des hydrografischen Instituts Hinweisen auf die Zyklik des Lebens gegenüber.105 Sinnfällig gemacht wird aber weniger eine Gegensätzlichkeit als eine Komplementarität der differenten Rhythmen – durch entsprechende Gegenüberstellungen. Auf der linken Seitenhälfte sichtbar sind so etwa die per Hand geschriebenen Wörter „Vergangenheit“ und „Zukunft“, auf der rechten Doppelseite ein Ausschnitt aus einer Hamburger Tageszeitung mit Angaben zu den Ebbeund Flut-Terminen (Hochwasser, Niedrigwasser) der Elbe von „Heute“ und „Morgen“ (ebd.).  

Barbara Schmidt-Heins: Gedenkminute für die Zeit (1980). Gegenstand des Gedenkens ist der 12. August 1978, und die genau angegebene Zeit an diesem Tag: 17.26.00. Von dort ausgehend wird Blatt für Blatt sekundenweise die Zeit dargestellt bis zum Termin: 17.27.00 – insgesamt also die sechzig Sekunden einer Minute. Die Sekunden sind rot, die Stunden schwarz angegeben. Insofern motiviert das Buch den Leser zu einer „Gedenkminute für die Zeit“. Es sensibilisiert für die Dauer einer Minute, indem es dazu stimuliert, diese durch Umblättern der Seiten zu füllen; dabei kommt natürlich keine präzise Minute heraus. Es ist aber möglich, die Seiten in etwa im Sekundenrhythmus zu wenden – so dass das 60-seitige Buch in etwa 60 Sekunden gelesen wird. Dargestellte Zeit und Rezeptionszeit kommen dann in etwa zur Deckung; das Buch ist eine ‚Minuten-Uhr‘. In ihrer grafischen Schlichtheit wirken die Stundenbücher der Schwestern Schmidt-Heins und Darbovens fast atavistisch. Eine Beziehung zum mittelalterlichen Stundenbuch besteht gleichwohl. Denn hier wie dort wird das Buch zum Medium der Darstellung gegliederter Zeit, zum ‚Stunden-Buch‘, das eine (jeweils unterschiedlich akzentuierte) Beziehung zwischen der Lebenszeit des einzelnen Benutzers und der allgemeinen, abstrakten Zeit stiftet. Lebenszeit und Weltzeit werden miteinander verknüpft, dabei aber auch in ihrer Unterschiedlichkeit bewusst gemacht. In der Moderne verschiebt sich die Akzentuierung: Die Zeit der mechanischen Uhren ist nicht die der Natur, nicht die des lebendigen Körpers. Die mit dem ausgehenden Mittelalter einsetzende rigide Regulierung der Zeit, durch die neuzeitliche Uhrentechnik  



104 150 Exemplare, 30 Seiten, Hamburg; Abb. bei Mœglin-Delcroix 1997a, S. 263: Doppelseite, gestempelt „4. Aug. 1978“. 105 Mœglin-Delcroix spricht von einer „confrontation du temps chiffré et du temps vécu“, einer „temps de la nature“ und einer „temps humain“ (ebd., S. 263).  



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bekräftigt, hat die Diskrepanz zwischen ‚gemessener‘ und ‚empfundener‘, ‚technischer‘ und ‚natürlicher‘ Zeit erfahrbar gemacht. Materialisierte Zeit und Handlungsanweisung: Michael Lingners Zeitbücher. Die Affinität zwischen Zeit-Thematik und Buchform betonen auch diverse Arbeiten des Buchkünstlers Michael Lingner. Lingner hat 1972 erste ‚Zeitbücher‘ geschaffen; 1977 entstand der Buchzyklus Die Zeitkreise (Kat. Ausst. 1977). Durch die Betonung der Materialität des Buchs weist Lingner u. a. darauf hin, dass Bücher nicht nur Zeit gliedern, sondern selbst der Zeitlichkeit unterworfen sind: als konkret-sinnliche und verfallsbedrohte Objekte. Die Jahreszeiten I von 1973 besteht aus vier zweiteiligen Buchblöcken zu den vier Jahreszeiten (ebd., S. 326, Abb. S. 327). Unterschiedlich gestaltet sich in den vier Bänden die Proportion der beiden Buchteile (deren Seiten sich insgesamt jeweils auf 365 summieren).106 Der Bruch zwischen den beiden Bandhälften steht jeweils für den Tag, von dem an die neue Jahreszeit datiert, die erste der angegebenen Zahlen für die Zahl der Tage, die bis dahin im Jahr bereits verstrichen ist, die zweite für die Zahl der Tage, die bis zum Jahresende noch folgt.107 Auf dem oben platzierten Buchteil ist jeweils ein Kalenderblatt vom 1. Januar aufgeklebt, auf dem unteren das jeweilige Kalenderblatt des Jahreszeitenwechsels (Frühlingsanfang etc.). Dem Thema Zeit verbunden bleibt Lingner auch mit Die Zeiten I (1973), vier gelumbeckten Büchern zu den verschiedenen Einheiten der Zeitmessung im Alltag respektive zur Füllung der Zeit mit Handlungen. Das nach Leinöl riechende Objekt Stundenbuch I (1973; vgl. Kat. Ausst. 1977, S. 326) ist eine Hommage an die 24 Stunden und verweist auf „Handlung als Exerzitium“ (ebd.): Es lädt dazu ein, „[a]us der gegebenen Geruchsempfindung ihre synästhetische Erweiterung stündlich [zu] ersinnen“ (ebd.). Lingners Bucharbeiten verstehen sich in erster Linie als Einladungen an den Rezipienten, über die Zeit durch regelmäßig wiederkehrende, vom Buchwerk stimulierte Handlungsabläufe zu meditieren.  







Meditation über die Differenz zwischen subjektiver und gemessener Zeit: Miranda Mahers Redbook. A Book of Hours. Meditativen Charakter hat Miranda Mahers Book of Hours. Hier geht es allerdings nicht darum, sich meditierend der Transzendenz zuzuwenden, sondern auf bewusst provokante Weise wird Diesseitiges zum Gegenstand des Verweises: Die Gewalt, die unablässig, im Fünfminutentakt, gegen Frauen ausgeübt wird. Auch hier geht es, anders gesagt, um die Diskrepanz zwischen gemessener, quantifizierter, statistisch verwertbarer Zeit – und subjektiver, erlebter Zeit. Maher hybridisiert für ihr Book of Hours mehrere Texttypen: Das Stundenbuch  

106 „Der Frühling“: 79 : 286 = 365 Seiten/Tage; „Der Sommer“: 172 : 193 = 365 Seiten/Tage; „Der Herbst“: 266 : 99 = 365 Seiten/Tage; „Der Winter“: 356 : 9 = 365 Seiten/Tage. 107 Der Winter etwa beginnt am 22. Dezember, bis dahin sind 356 Tage des Jahres vorbei – und weitere 9 stehen noch bevor.  

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als einen Buchtypus, der den Ablauf von Zeit darstellt (a), einen Kalender (b), eine Verbrechensstatistik über Vergewaltigungen, derzufolge alle fünf Minuten eine Frau vergewaltigt wird (c), sowie ein alphabetisches Verzeichnis von Frauennamen (d). In Monatsabschnitte eingeteilt und hier wiederum nach einander folgenden Tagen gegliedert, besteht das ‚Stundenbuch‘ aus Listen von Einträgen mit Zeitangaben im Fünfminutentakt. Vor den einzelnen Zeitangaben steht jeweils ein Frauenname; die Sequenz der Frauennamen entstammt der alphabetischen Namensliste („January 1/ Abbey 12:00 am/Abigail 12:05 am …“). Das Vorwort thematisiert Statistik als eine Form der Darstellung von Zeit, welche den Schrecken abstrahiere und neutralisiere.108 Eine Einführung erinnert an die Form des christlichen Stundenbuchs. Zu den Stundenzyklus-Angaben werden jeweils Erläuterungen gesetzt, die sich auf die moderne Tageszeiteinteilung beziehen. Ein Bilder-Stundenbuch: Herman de Vries’ les très riches heures de herman de vries (1982). Das ‚mimetisch‘ bebilderte Stundenbuch existiert neben diesen bilderlosen Beispielen auch noch, wie das Beispiel von Herman de Vries belegt.109 Es entstand (dem Paratext zufolge) als Dokumentation einer bewusst subjektiv erlebten Stunde, einer ‚Auszeit‘, die sich aus dem Takt der gemessenen Zeit abkoppelte, um eine Stunde lang allein der Produktion von Bildern gewidmet zu sein. Das querformatige Buch besteht aus einer Sequenz von 131 Fotos, aufgenommen in einem Wald, sie zeigen Details von Pflanzlichem (von Gräsern, Blättern, Stängeln, Ranken, Beeren…), das letzte Bild zeigt zudem schemenhaft eine Frau im Wald. Dem Paratext zufolge wurde der Einfall, einfach selbst ebenfalls ein ‚Stundenbuch‘ zu produzieren, durch die Lektüre eines Artikels über das Stundenbuch des Duc de Berry ausgelöst. Indirekt erklärt sich damit dieses ‚Stundenbuch‘ zu einem Meta-Stundenbuch. Wie die Beschränkung auf eine Bildsequenz als Beute einer einzigen Stunde eine reflexive Dimension besitzt, so auch der Verzicht auf jeden Kalender, jede schriftliche Notation von Zeit. Auszeiten – so die implizite reflexive Botschaft – sind wort-los. Das Bildprogramm des de Vries’schen ‚Stundenbuchs‘ hat in den Stundenbüchern aus der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit erkennbare Vorläufer: Die Hinwendung zur sichtbaren Welt, zum Kleinen, Unscheinbaren, vom oberflächlichen Blick Übergangenen drückt sich in Darstellungen kleiner Pflanzen und Pflanzenteile programmatisch aus.  



108 „Preface./Even within the fluid contemporary field of meaning [meaninglessness], statistics are especially malleable. Despite awareness of how they easily justify contradictory positions, statistics mascarade as insight into casualties, opinions and trends. When the numbers are counting victims (as they often do), they create a space for apathy – a gap between arithmetic and horror that is difficult to cross except with a great effort of the imagination.“ (Maher 1992, unpag.) 109 Herman de Vries: les très riches heures de herman de vries (Künstlerbuch, 1982), ausgestellt u. a. im Seedamm Kulturzentrum Pfäffikon 2004, 330 Exemplare. Vgl. dazu Mœglin-Delcroix 2015, S. 29f.  





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Anknüpfung an die buchgestalterische Tradition: Peter Malutzkis Stundenbuch (2010). Der Künstler charakterisiert das Werk als ‚Remake‘ eines älteren Stundenbuchs. Einst, so Malutzki, habe es strenge Regeln gegeben, in der Buchkunst der Gegenwart herrsche hingegen das ‚anything goes‘. Dennoch habe er versucht, den Textund Bildinhalt eines ca. 500 Jahre alten Buchs in eine zeitgenössische Form zu bringen und daraus ein Objekt heutiger Buchkunst zu machen. Als Vorlage diente ein Werk des frühen 16. Jahrhunderts, eine Handschrift aus der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: das Stundenbuch Herzog Augusts des Jüngeren (1579–1666), verfasst in damaligem Niederdeutsch. Das Format ist doppelt so groß wie das der Vorlage. Die Texte sind handgesetzt, die Vergoldungen mit Blattgold ausgeführt. Bei Malutzki fungieren bestimmte Bildmotive – insbesondere der Davidsstern – als Anlässe der Erinnerung und der Besinnung auf Historisches; das Stundenbuch wird im doppelten Sinn säkularisiert.  





Abb. B 4: Peter Malutzki: Stundenbuch. Flörsheim a. M. 2010.  



Ein Kalenderbuch: Sarah McKillop: 1 Day Diary (2011). Sarah McKillop reduziert das Bildliche auf das immer wiederkehrende Logo einer Uhr. Ihr Büchlein ähnelt einem Taschenkalender und scheint dazu zu motivieren, die Lebenszeit eines Tages in seine Spalten einzutragen. Was das ‚pocket size‘ 1 Day Diary von einem konventionellen Taschenkalender unterscheidet, ist die Wandelbarkeit der Seitengestaltung: Verschiedene Gestaltungsoptionen eines Kalenders lösen einander ab. Wiederum entsteht dadurch ein reflexiver Zug: Das kleine Diary ist kein Tage-Buch, sondern ein Meta-Tagebuch – eine Reflexion über die Beziehung (und d. h. die Spannung) zwischen normiertem Kalender und der Möglichkeit subjektiver Einträge in ein Kalendarium. Fast wortlos macht es Zeit sinnfällig (übrigens ist es selbst nicht datiert).  



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Tendenzen in der Geschichte des Zeit-Buchs. Die Zeit erweist sich als ein zentrales Thema vieler buchkünstlerischer Arbeiten.110 Warum die Bezugnahme moderner Kunst und Literatur auf das Stundenbuch? Am Phänomenkomplex der ‚Stundenbücher‘ und Bücher über die Zeit ablesbar ist der historische Wandel von Zeitkonzeptionen, die Verschiebung von einer durch transzendente Bezüge gegliederten göttlichen oder Heils-Zeit zu einer vom Menschen selbst gefüllten und gegliederten Zeit. Darbovens abstrakte Notationen machen dies sinnfällig; Mahers Arbeit erinnert daran, dass sich jenes Füllen und Gliedern von Zeit nicht zuletzt im Takt der Gewalt vollzieht. Der Verlauf von Zeit wird reflektiert als ausdifferenziert in individuelle Taktungen oder auch als durch differente Taktungen geprägt (Schmidt-Heins); nostalgisch wirkt der Rekurs auf die Zeit der ‚Natur‘ als ‚natürliche‘ Zeit (de Vries). Modernespezifisch an den neueren Zeitbüchern ist vor allem das Wissen um die Historizität von Zeitkonzepten als solches – und vor diesem Hintergrund der historisierende, zugleich den konstruktiven Gestus von Notationsformen betonende Blick auf Darstellungsverfahren von Zeit. Dass und inwiefern das mittelalterliche Stundenbuch die Neuzeit vorbereitet, wird gerade dadurch sichtbar: es antizipiert eine regelmäßig segmentierte, quantifizierte, ‚vermessene‘ Zeit – als den temporalen Rahmen des individuellen und kollektiven Lebens. Aber es repräsentiert sie nicht nur, es verhilft diesem Verhältnis des Menschen zur Zeitlichkeit auch performativ zum Durchbruch. Damit bahnt es den Weg für neuzeitliches Zeitmanagement. Erfahrungs-‚Zeit‘ entsteht kulturphilosophischen Modellen zufolge durch die segmentierende Untergliederung eines Verlaufs in Abschnitte, durch Markierungen – und die avantgardistischen Stundenbücher des 20. Jahrhunderts (Hanne Darboven, Gabriele und Barbara Schmidt-Heins) knüpfen indirekt an diese Idee ebenso an wie bereits diverse Vertreter der frühen Avantgarden mit ihren Elementarzeichen-Komplexen, ihrer Faszination durch Rhythmen, ihrer Vertiefung in früh- und fremdkulturelle Markierungsverfahren. Als Reflexionen über den Entwurf von Zeitlichkeit durch Praktiken der Zeitdarstellung nehmen moderne Stundenbücher implizit, aber deutlich Bezug auf die frühneuzeitlichen Verschiebungen in der Formung und Interpretation von Zeit. Akzentuiert werden insgesamt erstens Modi der Gliederung von Zeit als Formation von Zeitlichkeit, also Jahres-, Tages-, Stunden- oder Minuten-‚Taktung‘ als Produkte einer (jeweils kulturspezifischen) aktiven Strukturierungsleistung, zweitens Praktiken und Medien der Quantifizierung und Berechnung von Zeit; drittens die Spannung zwischen Uhrenzeit (abstrakter Zeit) und erlebter Zeit (subjektiver Zeit), viertens Formen der Polychronie, des Konflikts oder der Überlagerung differenter Zeitmodelle. Die modernen Stundenbücher unterscheiden sich von den älteren dadurch, dass sie nicht einfach eine als vorgegeben angenommene Ordnung der Zeit (oder auch mehrere) Ordnungsmuster syn 







110 Timm Ulrichs hat ein Buchobjekt mit dem Titel 24 Stunden geschaffen (Kat. Ausst. 1978, S. 167): Das leporelloförmige Objekt ist der Katalog zu einer Serie von Happenings im Juni 1965. In den Buchkörper eingeschnitten findet sich ein kubusförmiger Hohlraum. In diesem liegt ein Plastiksäckchen mit Mehl.  

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chronisierend zur Darstellung bringen, sondern im Bewusstsein der Historizität und Kontingenz von Zeitordnungen entstehen. Ein Bewusstsein hiervon bildet sich heraus, prägt die ins Zeichen immer rigideren Rechnens mit der Zeit tretende Frühe Neuzeit und macht sich heute, in einer Epoche ubiquitärer Beschleunigung, besonders nachdrücklich geltend. Stundenbücher reflektieren den Takt der gemessenen Zeit, manchmal unter Kontrastierung mit der erlebten Zeit, manchmal als ein implizites Votum für die subjektiv erlebte Zeit, manchmal auch im Sinn eines Votums für Entschleunigung. Das Aufschreiben von Lebenszeit als Thema und Projekt. Bücher werden nicht nur dazu genutzt, dem Leben seinen Takt vorzugeben, sondern sie dienen auch seiner Darstellung – insbesondere im Tagebuch oder im persönlichen Kalender: durch möglichst regelmäßige Aufzeichnung, durch eine Buchführung über den Ablauf von Stunden und Tagen, die der kaufmännischen Buchführung viele Impulse verdankt und teilweise aus ihr hervorgegangen ist. Der moderne Roman reflektiert in vielerlei Hinsicht über das Projekt der Aufzeichnung von Lebenszeit – vor allem dort, wo er die Form der (fingierten) Autobiografie annimmt – und betont dabei die Subjektivität des Zeiterlebens ebenso wie der eingesetzten Notationspraktiken. Tagebücher, authentische wie fiktive, aber auch Arbeitstagebücher, Notizbücher, Sudelbücher und andere Formate lenken den Blick – über Inhaltliches hinaus – auch auf die Praktiken des Notierens selbst. Autoren-Notiz- und Tagebücher (echte und fingierte) verklammern dabei den Ablauf eines jeweils dargestellten Lebens mit Prozessen der Produktion und Reflexion von Literatur. Analoges gilt für Künstlertagebücher und Werkstattberichte. Auch sie stellen durch ihre Datierung und ihre Chronologie die verfließende Zeit und deren Gliederung dar. Arbeits-, Lebens-, Protokoll- und Tagebücher sind literarisch vielfach (oft auch experimentell) genutzte Formate; vor allem das fiktive Tagebuch bietet viele Gestaltungsmöglichkeiten. Tagebücher sind chronologisch strukturiert. In literarischen Konstruktionen kann mit dieser Chronologie aber auch gespielt werden, um etwa (wie in Michel Butors Roman L’emploi du temps) die Relativität zeitlicher Ordnungsmuster sinnfällig zu machen. Hauptzweck des Tagebuchs ist neben der chronikalischen Fixierung von Erlebnissen und äußeren Ereignissen die Selbsterforschung. Beschreibungen äußerer Gegenstände und Beobachtungen dominieren oft im Reisetagebuch; eher intime persönliche Tagebücher enthalten manchmal lyrische Einlagen. Verglichen mit anderen Texten bildet das Tagebuch die Zeitverläufe, die es darstellt, durch seine Form ab; es wird gleichsam parallel zum Erleben geschrieben; Datierungen strukturieren den Text analog zu den Segmenten der Zeit (vgl. zum Tagebuch: Boerner 1969; Dusini 2005; Görner 1986). Auch buchgestalterisch bieten Tagebücher vielfache Anknüpfungsmöglichkeiten.111  









111 Vgl. den Abschnitt: „The Book as Private Archive“ in Drucker 2004, S. 96 f. über Künstlerbücher nach dem Modell von Tagebüchern, Reisetagebücher, Notizbüchern; ferner: Moldehn 1996, Kapitel: „Die Tagebücher“. Hier Abschnitt „Chroniken und Kalender“, S. 30–38. Vgl. auch Dittmar 1977a, S. 296f.  







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Faktuale und fiktionale Tagebücher als Buch-Literatur. Diarien, dies gilt für faktuale wie für fiktionale (literarische), stellen temporale Strukturen dar. Sie beziehen sich in der Regel auf explizite Daten, machen deren Abfolge transparent, und zwar sowohl auf der Ebene der dargestellten Ereignisse (die sich in mehrere Handlungsebenen untergliedern kann) als auch auf der Ebene der Einträge, also des diaristischen Schreibprozesses selbst. Tagebücher sind einerseits der Kalenderzeit verpflichtet, deren Datierungen sie meist übernehmen; sie dokumentieren andererseits eine persönliche Taktung der Zeit, bedingt durch äußere und innere Erfahrungen und Erlebnisse. Wie die Briefkollektion, so ist auch das Tagebuch ein in der Literatur gern genutztes Modell narrativer Darstellung. In Buchform gebracht, weisen solche Tagebücher meist eine Strukturierung und ein Layout auf, das ihren Tagebuchcharakter unterstreicht; die Segmentierung der Zeit wird durch seitengestalterische, typografische und paratextuelle Mittel sinnfällig gemacht, etwa durch Datums- und Ortsangaben, manchmal auch durch grafisch-typografische Simulation der Optik echter Tagebücher. Auch Tagebuch-Literatur ist insofern Buch-Literatur. Dies gilt auch für Spezialtagebücher wie für Reise- oder Forschungstagebücher, die manchmal neben dem Text-Teil auch grafische Elemente enthalten, welche zur Modellierung des dargestellten Zeitverlaufs beitragen. Der Übergang zwischen literarischer Buchgestaltung und Buchwerk ist hier fließend. Buchwerke als Diarien. Diary 1 und Diary 2 nennt Michael Buthe zwei seiner Buchobjekte (Kat. Ausst. 1978, S. 42f.). Das erste Tagebuch entstand zwischen November 1973 und März 1975 in Deutschland (Köln) und Persien; das zweite zwischen April 1975 und April 1976 in Spanien, Italien (Rom), Tunesien und Deutschland (Köln). In beiden Fällen wurden die Seiten eines Tagebuch-Heftes gefüllt: beschriftet, mit Stiften und anderen Farben bearbeitet, mit Bildmaterial (Zeitungsschnitten, Fotos, Zeitungsartikeln) beklebt; hinzu kommen textile Elemente (Stücke von Kleidung, Stoffstücke). Die Elemente der beiden ‚Tagebücher‘ wirken wie Erinnerungsstücke, und ihre Mehrfachmedialität verdeutlicht, dass Erinnerung nicht nur an Texte gebunden ist. Vincenzo Ferrari nennt ein Buchobjekt von 1976 Diario: Die Seiten eines Tagebuchs wurden zwischen dem 5. Dezember 1976 und dem 27. November 1977 vom Künstler datiert, perforiert und signiert. Der Leser wird angewiesen, eine Seite zu entfernen und selbst namentlich zu signieren (ebd., S. 76). Milan Molzer realisiert 1976 ein Travel-Notebook und ein Travellog (ebd., S. 64). Im ersten Beispiel präsentiert sich die Dokumentation einer Zugreise von Darmstadt nach Köln am 25. April 1976 aus horizontalen, aber wegen der Zugbewegung leicht gewellten Linien, die während der Reise zeilenweise mit einem Bleistift auf die zuvor weißen Seiten des Buchs gezeichnet wurden. Für das zweite Objekt wurde anlässlich einer Reise von Darmstadt nach Düsseldorf in analoger Weise ein Filzstift benutzt. Das ‚Reisetagebuch‘ reduziert sich hier auf die Notation einer Bewegung, die ihrerseits allerdings kontinuierlich und gleichsam akribisch dargestellt ist. Mit den Stundenbüchern gemeinsam haben solche Protokolle erlebter Zeit, dass das Buch den Verlauf und die Gliederung von Zeit sinnfällig macht. Im Fall des  





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eigentlichen Stundenbuchs leitet es zur Strukturierung der Lebenszeit an; im Fall des Tagebuchs, des Erinnerungsbuchs, des Notizbuchs stellt es diese nachträglich dar – oft in ihrer Diskrepanz zu den Rastern abstrakter Einteilung und Messung von Zeit, gebunden an individuelle Körper, ihre Gesten, ihre Empfindungen. Die jeweils besondere, individuelle Beziehung des Benutzers zum Buch rückt insgesamt vom Mittelalter bis zur Moderne stärker in den Vordergrund – und damit die Eigenheit persönlicher Erfahrung von Zeit und (Lebens-)Geschichte. Wie eine Reminiszenz an das täglich genutzte Buch nehmen sich im Übrigen sogar manche Nutzungs- und Handlungsanweisungen in den To-do-Büchern von Keri Smith aus: Aufgaben, die eine gewisse Regelmäßigkeit des Tuns implizieren, zu dem der Buchleser angeleitet wird (vgl. Teil D, Art. „Gebrauchsbücher“). MSE  



B 1.5 Buch-Literatur, Handschrift und Handschriftlichkeit Die neuere Buch-Literatur wendet sich oft zurück auf frühere Phasen der Buchgeschichte, orientiert sich an älteren Mustern der Buch- oder Manuskriptgestaltung, wenn es darum geht, Geschichten zu erzählen, Figuren zu charakterisieren und Themen zu entfalten. Zitiert oder simuliert werden etwa historische Praktiken des Schreibens und der Gestaltung von Textträgern. Das Schreiben, gerade das in persönlich geführte Bücher, und das Sammeln persönlicher Textdokumente sind wichtige Spielformen einer schrift- und buchgebundenen privat-intimen Kommunikation und ebenso wichtige Praktiken der Selbstsorge. Bedeutungsaspekte von Handschriftlichkeit. Aus der Perspektive von Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturtheorie eröffnet die Reflexion über Handschriftliches und Handschriftlichkeit ein breites Spektrum an Anschlussstellen. So prägt das Schreiben mit der Hand zumindest bis zum Zeitalter der Nutzung von Schreibmaschinen den Prozess literarischer Textproduktion maßgeblich, und bis in die Gegenwart hinein verfassen manche Autoren ihre Texte zumindest zunächst per Hand. Diese Produktionsform erscheint dabei den Schreibenden wie auch ihren späteren Interpreten oft als prägend für den literarischen Arbeitsprozess und für dessen Resultate. Mit der Hand zu schreiben gilt aus mehreren Gründen als etwas qualitativ anderes gegenüber dem Gebrauch maschineller Schreibgeräte, sei es, weil es den Schreibenden von diesen unabhängig erscheinen lässt, sei es, dass die körperliche Schreibgeste als textund sinnkonstitutiv verstanden wird, sei es auch aus sonstigen Gründen. Die daraus resultierende Aufmerksamkeit auf das manuelle Schreiben mit Stift, Federhalter, Kugelschreiber oder ähnlichen Geräten sollte allerdings nicht vergessen lassen, dass das Tippen an der Schreibmaschine ebenfalls ein Hand-Werk ist. Auch typografisches Schreiben wird unter diesem Aspekt (und mit Blick auf seinen prägenden Effekt auf die Arbeitsresultate, die Texte selbst) zum Thema literaturwissenschaftlicher und

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-theoretischer, insbesondere produktionsästhetischer, aber auch literarischer Reflexion. In den Blick rückt das Hand-Werkliche literarischer Produktion dann auch anlässlich eher ungewöhnlicher Textkonstitutionspraktiken wie etwa dem Collagieren (manuell) ausgeschnittener Textelemente. In literarischen Texten sowie in autorenpoetologischen Reflexionen wird das Schreiben mit der Hand, aber auch das mit der Maschine, oft thematisiert. So gibt es für die Erzählerinstanzen vieler Romane manchen Anlass, daran zu erinnern, dass sie ‚die Feder ergreifen‘, ‚Manuskripte anfertigen‘ oder auch die Texte anderer manuell ‚abschreiben‘. Das Erzählen literarischer Texte von ihrer eigenen Genese (sei es in Werkstattberichten, sei es in fingierten Rahmengeschichten) betont den Prozess des Schreibens mit der Hand unter verschiedenen Akzentuierungen. Gedruckte ‚Handschrift‘. Wenn literarische Texte zunächst per Hand entstehen, so stellt ihre Drucklegung die zuständigen Text- und Buchgestalter vor nicht immer einfache Entscheidungen. Insbesondere Editionsphilologen, welche einen möglichst komplexen Eindruck der edierten Manuskripte vermitteln wollen, können dabei verschiedene Wege einschlagen, bei denen in jedem Fall ‚Handschriftliches‘ durch seine Repräsentation gebrochen und verfremdet wird. Dies gilt selbst im relativ handschriftennahen Fall der Faksimilierung. Analoge Darstellungsmittel, wie die Herausgeber von Manuskripten sie verwenden, finden sich gelegentlich für fiktionale Zwecke genutzt. Faksimiles historischer Quellen ergänzen gerade in neuerer Literatur oftmals den gedruckten Erzählerbericht, und manchmal präsentiert sich dieser selbst als Faksimile einer Handschrift oder aber als Pseudo-Faksimile. Gerade die neueren Technologien zur Gestaltung von Texten mithilfe von Computerprogrammen und digital bereitgestellten Schriftfonts bieten viele Möglichkeiten, Handschrift digital und in der Folge auch gedruckt zu simulieren. Die Funktionen solcher Praktiken sind verschieden. Neben rein dekorativ-ornamentalen Funktionen kann das (scheinbar) Handschriftliche auch thematisch signifikant sein, etwa als Spur eines (simulierten) Schreibprozesses und seiner Gesten, sei es als Insistenz auf dem Willen zur Dokumentation von Geschichtlichem, von Quellen und Zeitzeugnissen, sei es als Andeutung der Subjektivität und Besonderheit des stattgehabten Schreibprozesses, sei es als Einladung an den Leser, Einblick in handschriftliche als in besonderer Weise ‚privater‘ und auratischer Unikate zu nehmen – was bei gedruckten Büchern nie ohne Brechung möglich ist, insofern Privatheit und Unikatstatus hier verlorengehen.  

Handschrift, Semantisierung und spielerische Inszenierung. Verschiedene Wissensdiskurse haben zur Semantisierung von ‚Handschrift‘ und ‚Handschriftlichkeit‘ auf (jeweils durchaus verschiedene) Weisen beigetragen, so die Historiografie und Quellenkunde, die Schrift- und Schreibgeschichte (auch mit Blick auf differente Schriftkulturen), die Editionsphilologie, die Psychologie, die Grafologie sowie Erörterungen kalligrafischer Praktiken. Diese und andere Diskurse finden in literarischen

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Texten ihr Echo – gerade in Beispielen neuerer Literatur auch oft auf der Ebene der Text- und Buchgestaltung. Dabei werden die in den Wissensdiskursen explizit oder implizit vorgenommenen Semantisierungen zwar einerseits oftmals literarisch aufgenommen und für die Zwecke des jeweiligen Textes funktionalisiert. Andererseits werden sie aber vielfach auch spielerisch (zu Fiktionszwecken) eingesetzt und dekonstruiert. Eine literarisch fingierte und gestalterisch im Buch ‚inszenierte‘ Handschrift ist weder die Spur einer realen Schreibgeste, noch lässt sie sich als Medium der ‚Authentifizierung‘ nutzen; erscheint sie altertümlich oder exotisch, fragmentiert oder palimpsestiert, so kann dies ein künstliches Arrangement sein. ‚Handschriftliches‘ kann als Dokument präsentiert werden – oder Dokumentationspraktiken unterlaufen, ihr Scheitern vorführen oder sie spielerisch parodieren.  



Das (angeblich) Charakteristische der Handschrift. Handschrift und Handschriftliches präsentieren sich in der neueren Buch-Literatur als ein gestaltungs- und variationsfähiges Konzept; oft werden sie zum Zitat, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Gern zitieren literarische Texte Handschriftliches durch Verfahren technischer Wiedergabe, sei es, dass sie ganz, sei es, dass sie teilweise aus Faksimiles bestehen (vgl. Neef 2008). ‚Zitieren‘ lassen sich Handschriften aber auch im Sinn grafischer Simulation – durch Verwendung von Schrifttypen, die an Handschriften erinnern. Zudem spielen Vorstellungen über und angebliche Rekurse auf Handschriftliches in vielen literarischen Texten eine Rolle. Zum literarischen Thema wird das Schreiben mit der Hand unter anderem oftmals, wenn es um Selbstdarstellungen des literarischen Arbeitsprozesses geht, der lange Zeit ja notwendig ein manueller Arbeitsprozess war und dies auch heute oft noch ist. Das Themenfeld Handschriftlichkeit besitzt insofern eine (zumindest latent) literarisch-autoreferenzielle Dimension, zumal da es sich seit langem eingebürgert hat, für die Arbeit des Dichters oder Schriftstellers das Verb ‚schreiben‘ zu verwenden (vgl. Barthes 2012). Mit Handschriftlichkeit konnotiert ist seit Ausbildung spezifischer Handschriften im 16. Jahrhundert (vgl. dazu Barthes 2006, S. 19) insbesondere die Idee eines Abdrucks von individueller Eigenart; der Schriftduktus gilt als Schlüssel zu einer spezifischen körperlichen und seelischen Disposition.112 Dies basiert auf der Annahme eines engen Wechselbezugs zwischen Körperlichem und Seelischem. Die Handschrift individueller Personen ist als ‚physiognomisches‘ Dokument betrachtet worden, das deren Charakter lesbar werden lässt und Typisierungen wie klassifikatorische Zuordnungen gestattet. Roland Barthes’ Abhandlung Variations sur l’écriture akzentuiert die „Körperlichkeit“ von Schrift. Entsprechende Aufmerksamkeit gilt auch der Handschrift und ihren Semantiken. Er benutze, so Barthes, den Ausdruck „Schrift“ (écriture) in seiner Ab 





112 Noch immer knüpfe sich an die Idee des Privatbriefs die der Handschriftlichkeit, vgl. Kammer 2008, S. 82f.  

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handlung in einem körperbezogenen, ‚manuellen‘ Sinn, spreche vom physischen Schreibakt selbst, vom „Gestus, mit dem die Hand ein Werkzeug ergreift“ („ce geste par lequel la main prend un outil“), sich bewege und dadurch Formen auf einer Oberfläche hervorbringe (ebd., S. 6f.). Barthes erinnert an diverse historische Diskurse über Handschrift und Handschriftlichkeit, bietet ‚Variationen über die Handschrift‘ als einen Gegenstand, der im Durchgang durch seine Diskursivierungen immer wieder neu konstituiert wird.113 Er kommentiert u. a. die „Paläografie“, ihre Prämissen und ihre Neigung zu projektiven Deutungen: Wo die Wissenschaft hier über physikalische Befunde hinausgehe, konstruiere sie ihren Gegenstand, die Schrift der frühen Kulturen (ebd., S. 41–43). Die Grundzüge des grafologischen Diskurses und seine Prämissen werden bei Barthes aus kritischer Distanz nachgezeichnet (vgl. ebd., S. 45). Insbesondere versteht er die Aufmerksamkeit auf ‚individualisierende‘ Handschriftlichkeit als Folge der Entstehung von Druckschriftlichkeit. Hinzu komme als weitere Voraussetzung natürlich die diskursive Erfindung des individuellen Subjekts als Träger des schriftlichen Ausdrucks. Literarische Figuren über die Beschreibung ihrer Handschriften zu charakterisieren, ist im Roman ein durchaus vertrautes (und effektvolles) Verfahren.  







Das Manuskript als literarisches Motiv. Aber mit dem Stichwort Handschrift ist nicht nur die persönliche Handschrift angesprochen, sondern auch das Manuskript als materieller Textträger. Auch dieses spielt als Konzept in vielen literarischen Werken eine Rolle, etwa im Motiv des Handschriftenfundes in Cervantes’ Don Quijote. Fingierte handschriftliche Quellen sind beliebte Ausgangsmotive in Rahmenkonstruktionen von Romanen; gern präsentieren diese sich als Transkriptionen oder Drucke alter Manuskripte.114 Basiert eine Romanerzählung ihrer Rahmenkonstruktion zufolge auf einer ‚alten Handschrift‘, so scheint dies die Authentizität des Mitgeteilten zu bekräftigen – und damit die historische Wahrheit und Signifikanz des Romaninhalts selbst zu plausibilisieren. Tatsächlich handelt es sich aber um eine fiktionale Begründungsfigur, die von Autoren als solche bewusst eingesetzt und von ihren Lesern auch entsprechend verstanden wird. Als ein solcher Topos wird das Modell der ‚alten Handschrift‘ in Umberto Ecos Roman Il nome della rosa (1980) zitiert und in Ecos Selbstkommentaren (den postille) reflektiert. „Natürlich, eine alte Handschrift“ steht insbesondere als Titel über dem einleitenden fiktionalen Herausgeberbericht, der – wieder einmal – die Geschichte eines Manuskriptfundes mitteilt, welche (angeblich) dem gegenwärtigen gedruckten Buch zugrunde liegt. Viele andere Romanautoren nutzen bis in die Gegenwart hinein  





113 Barthes’ Interesse ist insgesamt breit gefächert; es gilt nicht nur der körperlichen Dimension des Schreibaktes („der Beziehung der skripturalen Geste zum Körper“, Barthes 2006, S. 9), sondern auch der Beziehung zwischen den so beobachteten Erscheinungsformen von Schrift zum Wissen – zum Wissen, das sie auf je spezifische Weise vermitteln – und zum Wissen über sie. 114 Dies gilt besonders für den Schauerroman, der für die ‚alte Handschrift‘ besondere Vorlieben hegt.  



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das Motiv der ‚alten Handschrift‘ in der Funktion einer fingierten Quelle; neben Schauerromanen sind auch Historische Romane hier wichtige Modell-Lieferanten,115 ferner Romane, die vorgeben, auf persönlichen Aufzeichnungen zu beruhen, also auf Tagebüchern, Briefsammlungen und sonstigen Notizen, wie sie meist per Hand entstehen. Manuskripten wird in literarischen Kontexten oft eine spezifische Aura des Altertümlichen, historisch Bedeutsamen, womöglich Schicksalhaften zugeschrieben, sei es ernsthaft, sei es eher spielerisch zitathaft. Auch dies kann ein Motiv für die Rahmenkonstruktion der Nutzung einer alten Handschrift als Quelle sein. Vom Auratischen oder Pseudo-Auratischen des ‚alten Textfundes‘ profitieren auch MysteryThriller und Schauerromane. Rekurrieren literarische Texte, insbesondere Romane, auf den Topos der ‚alten Handschrift‘ nicht nur als auf ein bloßes spannungsträchtiges Motiv unter anderen, sondern als Teil einer fiktionalen Rahmenkonstruktion und toposhaften Selbst-‚Authentifizierung‘, so hat dies in der Regel text- und buchgestalterische Konsequenzen: Die Geschichte des angeblichen Manuskriptfundes und dessen Auswertung nimmt als relativ selbstständige Teilgeschichte meist prägenden Einfluss auf die Gesamtstruktur des Romans; typisch erscheint etwa die Beifügung eines entsprechenden Vorworts, oft auch von pseudo-editorischen, zur Fiktion gehörigen Fußnoten oder anderen scheinbaren Paratexten. Liegt der Rahmenfiktion zufolge das Ausgangsmanuskript nur in Teilen vor, so schlägt sich auch dies in der Textpräsentation des angeblich auf ihnen basierenden Erzählerberichts nieder; dieser wirkt fragmentarisch – oder er wird von ‚überbrückenden‘ Kommentaren unterbrochen, gliedert sich also in ‚manuskriptbasierte‘ und ‚ergänzende‘ Passagen. Eine komplexe Konstruktion, welche sich als partielle Wiedergabe eines Manuskripts, verbunden mit Resten eines gedruckten Vorgängertextes ausgibt, schafft schon E. T. A. Hoffmann mit seinem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr (vgl. Teil E 1.3).  





Suggestionen des Schreibens mit der Hand. Im Briefroman wie in anderen Werken, die ihrer fiktiven Konstruktion nach auf persönlich-autobiografischen Zeugnissen beruhen, ist Handschriftlichkeit vor allem mit Intimität konnotiert. Der manuelle Schriftzug des Protagonisten selbst ist zwar im gedruckten Roman nicht mehr sichtbar, aber dieser ist doch der Platzhalter jenes Schriftzugs – und als Abdruck eines Manuskripts gleichsam die Metapher einer Metonymie des schreibenden Ichs. Der Briefroman erlebt seine Blütezeit im Zeitalter der Empfindsamkeit, einer prägenden Phase der Geschichte moderner Subjektivität, das sich mit besonderem Nachdruck für Anlässe und Formen der Selbstverständigung des Subjekts interessiert. Für sich selbst und für die  

115 Neben Handschriften können auch gedruckte Quellen entsprechende Funktionen übernehmen; manchmal wird hier nicht genau spezifiziert. Alessandro Manzonis Historischer Roman I Promessi Sposi. Storia milanese del secolo XVII, scoperta e rifatta da Alessandro Manzoni (dt. Die Brautleute/Die Verlobten. Mailändische Geschichte aus dem 17. Jahrhundert, entdeckt und neu eingerichtet von Alessandro Manzoni), in einer Erstfassung 1827 erschienen, basiert der Rahmenfiktion nach auf einer alten Quelle.  

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engsten Vertrauten zu schreiben – insbesondere Tagebücher, persönliche Lebensbeichten oder Briefe –, erscheint seitdem als Inbegriff solcher Selbstverständigung. In der neueren Buch-Literatur wird an die Semantisierungen sowohl der ‚persönlichen‘ Handschrift als auch des ‚alten‘ Manuskripts als eines (oft geheimnisvollen) Fundes angeknüpft. Nick Bantocks Buchserie zu den Figuren Griffin und Sabine ist eine buchliterarische Variation des Briefromans. Die Bände der Reihe bestehen aus Folgen von Briefen und Karten, welche Protagonisten miteinander wechseln – nebst kurzen (pseudo-)paratextuellen Anteilen, die eine Herausgeberschaft suggerieren.116 Die Briefe und Karten werden dabei nicht, wie im klassischen Briefroman, durch gedruckte Briefe wiedergegeben, sondern als Faksimiles sowie – im Fall der Briefe – in Form realer Briefumschläge, in welche die faksimilierten Briefbögen eingelegt sind, die der Leser herausnehmen muss, um sie zu lesen (vgl. Teil E 1.27). Typografische Simulationen von Handschriftlichkeit treten vielfach an die Stelle ‚echter‘ bzw. faksimilierter Handschriften. Reif Larsens fiktives autobiografisches Tagebuch The Selected Works of T. S. Spivet kombiniert verschiedene Formen der Typografie, darunter eine, die für ‚Handschrift‘ steht (Larsen 2009). Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der sein Umfeld habituell aus einer protowissenschaftlichen Einstellung heraus beobachtet, skizziert und kartiert. Er macht sich ständig Notizen, in denen er seine Beobachtungen zu Topografischem, Statistischem, Funktionszusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten festhält – und diese Notizen sind dem autobiografischen Erzählerbericht beigefügt. Während der autobiografische Haupttext als konventionell gedruckter Text dargeboten wird, sind die Notate des Helden T. S. Spivet als grafische Elemente in Handschriftoptik in den Roman integriert; hinzu kommen ebenfalls (der Suggestion nach) manuell angefertigte Zeichnungen und Diagramme (vgl. Teil E 1).  



















‚Handschriften‘-Konstruktionen in den Romanen Umberto Ecos. Umberto Eco hat in seinen Romanen das Konzept einer dem Erzählerbericht zugrundeliegenden ‚alten Handschrift‘ einfallsreich variiert und dabei dessen unterschiedliche Semantisierungsoptionen genutzt. Dies verbindet sich jeweils mit Reflexionen über die Spannung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, über Schreib- und Leseprozesse, über Empirie und Imagination, Wahrheit und Interpretation. Il nome della rosa (1980) ba-

116 Bantock, Nick: Griffin & Sabine. An Extraordinary Correspondence. San Francisco 1991; Sabine’s Notebook. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Continues. San Francisco 1992; The Golden Mean. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Continues. San Francisco 1993. [The Morning Star-Trilogy (= Fortsetzung des ersten Zyklus)]: The Gryphon. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Is Rediscovered. San Francisco 2001; Alexandria. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Unfolds. San Francisco 2002; The Morning Star. In which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine is Illuminated. San Francisco 2003; The Pharos Gate. Griffin & Sabine’s Lost Correspondence. San Francisco 2016.

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siert nicht allein seiner Rahmenkonstruktion nach auf einer ‚alten Handschrift‘ (s. o.). Auch innerhalb der Hauptgeschichte des Romans geht es um eine alte Handschrift, passend zur Situierung des Geschehens im Mittelalter. Die Ereignisse kreisen letztlich um das Verstecken und die Suche einer Handschrift mit einem Aristoteles-Text. Dieser wird vom detektivischen Protagonisten Guglielmo (William von Baskerville) zwar zuletzt aufgespürt, aber nicht gänzlich gelesen – und was der Roman über den Inhalt des Manuskripts mitteilt, basiert im Wesentlichen auf den hypothetischen Rekonstruktionen dieses Inhalts durch den sehr belesenen Detektiv. Diese Haupt-Erzählung wird dann als Inhalt eines Erzählerberichts präsentiert, der zunächst handschriftlich (immer noch im Mittelalter) fixiert wurde, dann aber verschiedenen Transformationen, insbesondere der in einen gedruckten Text, unterlag. Der Leser liest, der Rahmenfiktion nach, nicht den Originaltext, den der Erzähler Adson von Melk mit der Hand aufgeschrieben hat, sondern einen gedruckten Text, der auf den Aufzeichnungen des Rahmenerzählers sowie auf anderen gedruckten Texten basiert. Sowohl auf der Ebene der Haupt- als auch auf der der Rahmenhandlung (um den Manuskriptfund) wird der Topos von der Authentizität einer ‚alten Quelle‘ zwar verwendet, zugleich aber gebrochen: Die Quelle selbst, die ‚alte Handschrift‘ entzieht sich – und sie ist in eben dieser Funktion die Metonymie einer (immer nur hypothetisch und vermittelt greifbaren) ‚historischen Wahrheit‘. Ecos Roman steht zum einen in der Tradition des Don Quijote: Er thematisiert Fiktionen, insbesondere unter dem Aspekt ihres Charakters als Konstrukte möglicher Geschichten und als ‚Vorahnungen‘ späterer Wirklichkeit. Zwischen dieser (wie bei Cervantes durch die Romanhandlung entfalteten) Thematik und dem Handschrifttopos als einem für Fiktionalitätsreflexionen einsetzbaren Verbürgungstopos besteht eine deutliche Korrespondenz. Il nome della rosa ist zweitens aber auch eine kritische Reflexion über ‚Autoritäten‘, Hierarchien, Ursprünge und andere im traditionellen metaphysischen Diskurs verankerte Leitkonzepte. Dem Handschriftmotiv korrespondiert dies insofern, als der autoritative Gestus vorgeblicher Quellen demontiert und stattdessen das Abschreiben von Vorgängertexten (mit der Hand!) zur zentralen Geste wird. Buchgestalterisch verfährt Eco mit der fingierten Begründung der Geschichte durch ältere Quellen recht konventionell und in Anlehnungen an Praktiken des historischen Romans: Er schaltet der Hauptnarration den Bericht eines (angeblichen) Nutzers der alten Quellen vor, in dem von deren Beschaffenheit und Provenienz berichtet wird. Baudolino (2000) ist hinsichtlich der hier ebenfalls verwendeten Manuskriptfiktion raffinierter angelegt. Wieder konstruiert Eco verschiedene Erzählebenen: eine erste repräsentiert Ereignisse in Byzanz, vor allem Gespräche zwischen den Figuren Niketas Choniates und Baudolino, eine zweite bietet die von Baudolino vor Niketas erzählte Geschichte seines Lebens. Diese Ebene ist in die Gespräche auf der ersten Ebene integriert bzw. wird von diesen Gesprächen und den weiteren Ereignissen gerahmt. So hat der Roman eine auch buchgestalterisch komplexe Struktur. Das Motiv der ‚alten Handschrift‘ (hier wiederum: der ‚mittelalterlichen‘ Quelle) taucht insbesondere innerhalb von Baudolinos Erzählerbericht auf, indem der Held solche Quel 





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len konsultiert (und zitiert), aber auch mit ‚Zitaten‘ aus eigenen, älteren ‚autobiografischen‘ Aufzeichnungen arbeitet. Das erste Kapitel, in dem sich Baudolino zu Wort meldet, ist (orthografisch fehlerhaft) in einer (Pseudo-)mittelalterlichen Sprache verfasst. Zudem wird inhaltlich und durch typografische Mittel suggeriert, es handle sich um ein Palimpsest; ein älterer Text sei überschrieben worden, aber partiell noch sichtbar. Durchstreichungen suggerieren ferner, Baudolinos Text liege als Handschrift mit vorgenommenen Streichungen vor. Typografisch abgehoben sind verwendete Fremdwörter. Eine Reminiszenz an mittelalterliche Texte, aber auch ein ‚Signal‘ orthografischer Schwäche ist das weitgehende Fehlen von Interpunktionszeichen. Mit diesen und anderen Mitteln inszeniert Baudolinos Bericht auch typografisch seine eigene fingierte Entstehungsgeschichte. Die typografisch suggerierte Verwendung eines palimpsestierten Schriftträgers steht metonymisch für den intertextuellen ‚Palimpsest‘Charakter von Baudolinos Lebensbericht, aber auch von Ecos Roman selbst; differente Erscheinungsformen von Handschrift werden durch differente Drucktypen signifiziert. Gerade diese Repräsentation des Handschriftlichen durch gezielt ausgewählte Formen des Druckbildes weist einmal mehr darauf hin, dass ‚Authentizität‘ ein letztlich artifizielles, diskursives, schriftliterarisches Konstrukt ist. Davon, dass ‚Manuskripte‘ sich gut für Fälschungen eignen, handelt Baudolinos Geschichte ohnehin immer wieder. In Il cimitero di Praga (Der Friedhof in Prag) von 2010 erzählt Eco wiederum die Geschichte eines Fälschers vorgeblich authentischer Texte; wiederum übernehmen auch Manuskripte verbürgende Funktionen. Der Protagonist (und Fälscher) Simone Simonini ist eine gespaltene Persönlichkeit, die abwechselnd als Simonini und als abgespaltenes Alter Ego, als Abbé Dalla Piccola, ihre Erinnerungen aufschreibt. Diese Niederschrift soll dem verwirrten Protagonisten dabei helfen, sich selbst wieder zu finden und gleichsam zu ‚authentifizieren‘. Doch zwischen die (handschriftlichen) Resultate seiner eigenen Schreibphasen schalten sich immer wieder Textabschnitte seines Doppelgängers Dalla Piccola ein; analog zu psychoanalytischen Fallgeschichten über gespaltene Persönlichkeiten mit mehreren Handschriften, hat auch Ecos Hauptfigur zwei handschriftliche ‚Physiognomien‘. Dies wird im Druck durch den Einsatz verschiedener Schriftfonts wiedergegeben (wobei eine dritte, typografisch wiederum anders dargestellte Berichterstatter-Instanz hinzukommt). Erneut wird die Suggestion des ‚Handschriftlichen‘ typografisch-buchgestalterisch betont, die Idee der Handschrift als Medium der Identifikation und der Authentifizierung aber, gerade indem sie als Topos zitiert wird, spielerisch dekonstruiert. Raymond Murray Schafer: Dicamus et Labyrinthos (1984): Das Konzept der ‚alten Quelle‘. Eingeleitet durch einen fiktiven Forschungsbericht, in dem von einem inzwischen verschwundenen Philologen berichtet wird, präsentiert sich Murray Schafers Dicamus et Labyrinthos als das Faksimile des Notizbuches eben dieses Philologen (Schafer 1984). Es handelt sich um ein fingiertes, von Schafer selbst angefertigtes ‚Notizbuch‘, wie auch die im Tagebuch nebst Einleitung dargestellte Ge-

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schichte des Philologen eine (für den Leser erkennbar) fingierte Geschichte ist. Fingiert ist schließlich auch der Gegenstand der intensiven Bemühungen des Philologen, deren Dokumentation das Notizbuch enthält: Er hat sich mit einem archäologischen Fund beschäftigt, einer Serie von Tontafeln, die in einem unbekannten Schriftsystem verfasste und von der Forschung bisher nicht entzifferte Inschriften tragen. Im mühseligen Durchgang durch verschiedene Stadien der Hypothesenbildung ist es dem Philologen nach eigener Überzeugung gelungen, die Inschriften zu entziffern, und sein Notizbuch dokumentiert diesen Weg, so wie es auch zunächst eine grafische Wiedergabe der Inschriften und abschließend dann die vom Philologen erstellte Übersetzung zeigt. Der Entzifferungsweg vollzog sich über mehrere Stufen hinweg, die allesamt dokumentiert sind – nebst Reflexionen darüber, Assoziationen zu verwandten Vorstellungsbereichen, dem Protokoll von Träumen und Imaginationen – und Verweisen auf die Forschungssituation und widersprechende Forschungsmeinungen. Schafer bedient sich bezogen auf den ‚Forschungskontext‘ eines Borgesianischen Verfahrens: Die Tafeln wie auch ihre Forschungsgeschichte sind erfunden, gliedern sich aber einem realen Stück Forschungsgeschichte an: dem der archäologischen Entdeckungen und Deutungen von Zeugnissen der minoischen Kultur, insbesondere der Bemühung um die minoischen Schriftsysteme und die Entzifferung von Linear B durch Michael Ventris (1955). Darauf wird Bezug genommen, um die Geschichte der ‚ektokretisch‘ genannten Inschrift im „Notebook“ zu modellieren. Schafers „Philologe“ hat (hypothetisch) zunächst erschlossen, auf welcher Art von Schriftsystem der unlesbare Text beruht; genau genommen sind es zwei: Elemente einer Bilderschrift verbinden sich mit denen einer einer Lautschrift. Beide werden (in einem langen Durchgang durch entworfene und wieder verworfene Erwägungen und Hypothesen) durch Hypothesenbildung entschlüsselt und in einen ihren Lautwert wiedergebenden Text in lateinischen Buchstaben transkribiert. Das Ergebnis ist aber noch unverständlich – was auch nicht überrascht, handelt es sich der Rahmenfiktion nach doch um einen Text aus dem ektokretischen Sprachraum. Auf der Basis einer weiteren Zusatzhypothese gelingt dem Philologen dann die Überführung des erstellten Textes in einen verständlichen Text, und für ihn ist das die endgültige Entschlüsselung. Er geht nämlich davon aus, dass der mysteriöse Verfasser des Textes diesen nicht in konventioneller Weise geschrieben, sondern kryptografisch verschlüsselt hat. Die Auflösung dieser Verschlüsselung ist möglich, so der Philologe, weil nach einem festen System jeweils bestimmte Lautzeichen durch bestimmte andere Zeichen ersetzt wurden. Er macht die Ersetzung der (nun lateinisch geschriebenen) Lautzeichen also rückgängig – und das Resultat ist ein englischer Text in Dialogform, in dem sich Theseus, Ariadne, Minos und Pasiphae unterhalten. Als den Autor des Textes betrachtet der Philologe den künstlerisch vielseitigen Dädalus. Zunehmend identifiziert er sich selbst mit dieser mythischen Gestalt (wodurch Schafers Buch in die lange Tradition literarischer Werke einrückt, in denen Dädalus als Leitfigur des Künstlertums und als Reflexionsfigur von Autorschaft herbeizitiert wird). Ein Traum, den er nach seiner Entzifferung und vor seinem Verschwinden im Notizbuch  







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aufzeichnet, suggeriert sein Eintauchen in eine mythisch-mystische Sphäre, aus der man ihn ruft.117 Das „Notebook“ macht den Leser durch seine Gestaltung als fingiertes Faksimile eines Forschertagebuchs zum Zeugen eines Entzifferungsgeschehens, bei dem u. a. mythische Gestalten herbeizitiert werden. Um Handschriften geht es in mehr als einem Sinn und unter verschiedenen Akzentuierungen. Erstens sind die Tontafeln selbst von Hand beschriftet; sie repräsentieren gleichsam ein frühes historisches Stadium des Schreibens mit der Hand. Die Idee eines individuellen Schreibduktus ergibt bezogen auf para-minoische Inschriften zwar keinen Sinn, aber die (hypothetisch erschlossene) Verwendung eines kryptografischen Systems macht die Inschrift dann doch zu einem Stück Privatschrift. Mit der Hand geschrieben ist auch das Notizbuch selbst, ja das eigentlich dargestellte Geschehen dokumentiert sich als manueller Schreibprozess, wenn es nicht sogar im Wesentlichen aus diesem besteht. ‚Handschrift‘ ist also die Hauptakteurin im „Notebook“. Und Schafer zieht diverse Register, um sie zu semantisieren: Erstens spielt er auf eine Weise mit Authentifizierungsstrategien, die seine Prägung durch die Romangeschichte seit Cervantes belegt – als dessen Erbe Borges auch und gerade für Schafer wohl eine wichtige Vermittlerrolle spielt. Der ‚ektokretische‘ Text ist ebenso ein in Mimikry an entsprechende Textsorten erfundener und gestalteter Text wie das Notizbuch des Philologen. Die Grenze zwischen realer Früh- und realer Wissenschaftsgeschichte einerseits, einer erfundenen ektokretischen Geschichte nebst erfundener Spezialforschung andererseits wird durchlässig. Und das scheinbar authentifizierende Faksimile eines echten Notizbuchs ist ein Fake. Zweitens alludiert Schafers visuell-grafisch-literarisches Konstrukt auf die Idee der Mitteilung von genuin Persönlichem: Der Philologe vertraut das, was ihn beschäftigt, seinem Notizbuch als einem privaten Tagebuch an (Träume und Phantasmen, Obsessionen und Größenwahn eingeschlossen), und wir werden durch seine manuell angefertigten Schriftzüge zum Beobachter seiner Privatsphäre. Drittens präsentiert sich das faksimilierte „Notebook“ als die reproduzierte Wiedergabe von Spuren: Spuren physischer Schreibbewegungen, die ihrerseits Spuren eines Entzifferungsprozesses sind – der sich seinerseits auf den Spuren einer verschwundenen Kultur bewegt. Spurensuche wird inszeniert – als Schreib- und Transkriptionsprozess. Die scheinbare (fingierte) Handschriftlichkeit des Notebooks, insbesondere der teilweise sehr prägnante Schriftduktus, das Durcheinander der Schriftzüge und ihre wechselseitige Überlagerung, suggerieren viertens eine quasi physiognomische Darstellung des Inneren des Philologen. Seine offenbar von Obsessionen getriebene, latent oder aktuell gespaltene ‚Persönlichkeit‘ wird unter Anspielung auf populärgrafologische Vorstellungsmuster inszeniert. Seine wechselnden seelischen Befindlichkeiten, ja sei 







117 Kollegen und Herausgeber der Aufzeichnungen betrachten die Arbeit des Philologen nicht als akzeptablen Forschungsbeitrag. Weil man nicht weiß, was man damit anfangen soll, wird der Text einfach als Faksimile publiziert, so die Suggestion.

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ne Neigung zur Ich-Dissoziation, werden am manchmal drastischen Wechsel des Schriftduktus sinnfällig gemacht. Der Dädalus, den der Philologe in sich selbst entdeckt, indem er sich mit dem mythischen Szenario und seinen Figuren einlässt, findet in kunstvollen skripturalen Figuren sein schriftgestisches Pendant; ebenso der penible Philologe, der passionierte Kryptograf sowie der cholerische Eigenbrötler;118 jedes dieser Teil-Ichs zeigt sich in ‚seiner‘ Schrift. Dicamus et Labyrinthos ist nicht zuletzt die zitathafte Aktualisierung eines schauerromantischen Erbteils: Über die mysteriöse Schrift scheint etwas Unkontrollierbares auf den Philologen zu wirken. Scheinbare symbolische, vielleicht gar indexikalische Verbindungen zwischen der alten Quelle und einem alten Mysterium ziehen den zeitgenössischen Forscher in ihren Sog. Dass fast schwarze Seiten das Notizbuch beschließen, ist eine in ihrer sinnfälligen Symbolik schon fast ironische Pointe. Zum kontextualisierenden Vergleich ein weiterer Blick auf Barthes’ Variationen: Barthes hält es, wie erwähnt, für eine Perspektivenverengung der Linguisten, Sprache und Schrift auf ihre Kommunikations-Funktion zu reduzieren, habe Geschriebenes einst doch auch Geheimnisse geborgen (Barthes 2006, S. 23), und immer noch seien manche Schriften gewollt geheimnisvoll, die Schrift in ihrer Grundfunktion kryptografisch.119 Es sei ein abendländisch-rationalistisches Vorurteil, sie primär als funktionales Instrument der Information zu betrachten (vgl. ebd., S. 31). Man wird bei diesen Ausführungen gut daran tun, nicht darüber zu streiten, ob sie zutreffend sind. Entscheidend ist, wie und als was Schrift hier modelliert wird und als was sie sich in der Folge davon darstellt.  

Ein seltsames und unleserliches Manuskript. Luigi Serafinis Codex Seraphinianus. Der Codex Seraphinianus des Architekten Luigi Serafini erschien als voluminöses Buch in Anlehnung an das Format eines einbändigen bebilderten Nachschlagewerks erstmals 1981 und wurde 2006 neu aufgelegt, ergänzt um eine kleine Broschüre (betitelt Decodex) mit Artikeln verschiedener Autoren zu Entstehung, Inhalt und Wirkungsgeschichte des Codex. Allerdings ermöglicht der Decodex keine Decodierung des Codex. Dieser ist nicht allein in keiner geläufigen und identifizierbaren Schrift verfasst; zudem fehlen mögliche Ansatzpunkte für eine Entzifferung als Kryptogramm. Von einem ‚Text‘ kann daher nur vorbehaltlich die Rede sein. Als ein aus zumindest scheinbaren Grafiken und Bildern bestehendes Buch weist der Codex Seraphinianus formal große Ähnlichkeiten mit einem enzyklopädischen Kompendium auf, das verschiedene Arten von Objekten und verschiedene Bereiche und Disziplinen des Wissens im Überblick systematisch erschließt und in dem die Textteile durch zahlreiche Illustrationen sowie tabellarische und andere textgrafische

118 Zu den für letzteren charakteristischen Merkmalen seiner Manuskripte gehören heftige Ausstreichungen und verschüttete Tinte. Ein mad scientist ‚materialisiert‘ sich in einem streckenweise chaotischen Geschmiere. 119 Vgl. dazu Barthes 2006, S. 23–25, Kap. „Illusions/Illusionen“, Abschnitt „Cacher/Verbergen“.  

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Darstellungen ergänzt werden. Doch seine Bilder irritieren nicht weniger als der ‚Text‘, obwohl sie durchaus am Stil sachkundlicher, populärer Wissensformate orientiert sind. Sie zeigen seltsame, fremdartige und rätselhafte Wesen und Objekte, Schauplätze, Gebäude, Maschinen, Situationen und Prozesse. Bezogen auf die ‚Texte‘ ist nicht einmal sicher, dass ihnen ein codiertes Zeichensystem zugrunde liegt; es könnte sich auch um bloße Ornamente handeln. Vage erinnert der Duktus an orientalische (insbesondere an arabische) Manuskripte. Die Paginierung der Buchseiten entspricht nicht dem Einsatz eines konsistenten Zahlensystems, zumindest nicht einem sinnvollen Einsatz. Die zwischen die einzelnen bebilderten Abschnitte eingeschobenen tabellarisch wirkenden Übersichten lassen keinen Rückschluss auf ein ihnen zugrunde liegendes Ordnungssystem zu. Die Bilder zeigen phantastische Objekte und Welten, wirken mimetisch, werfen aber viele unlösbare Rätsel hinsichtlich der Kategorisierung, des Funktionierens und des Zusammenhangs dieser Objekte und Weltausschnitte auf. Unentscheidbar bleibt so, ob die Bilder angemessen als Abbildungen zu interpretieren sind. Durch Analogiebildungen lassen sich auf der Basis der Bildmotive allerdings Wissensbereiche benennen, welche hier bildlich und grafisch repräsentiert zu werden scheinen. Dazu gehören Biologie (Artenkunde, Physiologie, etc.), Chemie, Geografie und andere (zumindest normalerweise) empirisch basierte Wissenschaften; dazu gehören aber auch kulturwissenschaftliche und ästhetische Disziplinen, künstlerisch-gestaltende Praktiken (etwa die Architektur, Landschaftsgestaltung, Gartenbau, Mode und Design etc.) sowie Formen performativer Kunst (wie Tanz, Feste, Spiele). Gut vertreten sind technische Gegenstände (wobei die Grenzziehung zwischen natürlichen Wesen und Artefakten unterlaufen wird); diverse Bilder repräsentieren unterschiedliche anthropomorphe oder teilanthropomorphe Wesen, offenbar nach Rassen und Kulturen ausdifferenziert. Auf Prozesse des Schreibens und dazu eingesetzte Hilfsmittel verweisen diverse Bilder; auch lässt sich die ornamental wirkende Schrift als eine faksimilierte Form von Handschrift interpretieren. Beschlossen wird der Codex Seraphinianus durch ein Bild, das auf dem Ende einer (ihrerseits abgebildeten) Schriftrolle zu sehen ist. Unterhalb des Schriftträgers ist eine skelettierte Hand zu sehen; dieses Bildmotiv deutet eine (allerdings wiederum rätselhafte) Rahmengeschichte des Codex an. Wie verhält sich hier die Rolle zum Kodex? Ist sie als seine historische Vorläuferin ins Bild gesetzt oder als seine Alternativoption in einer Parallelwelt? Vielleicht hat ja ein Enzyklopädist die einzelnen Wissensbereiche zusammenfassend dargestellt, die zu einer sei es fernen, sei es imaginären Welt gehören, und ist dann gestorben; vielleicht also ist der Codex Seraphinianus ein altes, womöglich geheimes und darum kryptografisch angelegtes Kompendium. Aber wer hat dann die Seite mit der Knochenhand des Enzyklopädisten gestaltet? Die Ambiguität dieser angedeuteten Rahmengeschichte eines Schreibprozesses erinnert an die der Erzählung La Biblioteca de Babel von Jorge Luis Borges. Diese enthält neben dem Erzählerbericht über die das ganze Universum füllende Bibliothek mehrere Fußnoten, welche den (damit unvereinbaren) Rückschluss auf eine Welt außerhalb der Bibliothek nahelegen; zuschreiben lassen sich die Fußnoten niemandem,

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und es gibt Indizien dafür, dass sie gar nicht einer einheitlichen Perspektive auf den Text entsprechen. Aber auch an eine andere Borgesianische Erzählung erinnert der Codex Seraphinianus: an Tlön, Uqbar, Orbis tertius, den Bericht über das kollektive Projekt der Abfassung der Enzyklopädie einer imaginären Welt. MSE

Abb. B 5: Luigi Serafini: Codex Seraphinianus. Mailand 1981/2006.  

B 2 Buchkultur, Wissensgeschichte und die Rezeption wissensgeschichtlich bedeutsamer Buchtypen in Buchkunst und Buch-Literatur Die Geschichtlichkeit und die medialen Prägungen des Wissens rücken gerade seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert verstärkt in den Blick verschiedener Wissensdiskurse – nicht zuletzt im Sinn einer Poetik des Wissens, die den produktiven Zug aller Darstellung, auch und gerade der wissenschaftlichen, betont und die strikte Differenzierung zwischen Konstruktion und Abbildung verabschiedet. In diesem Zusammenhang werden zusammen mit der Geschichte der Darstellungsformen wissenschaftlichen und kulturellen Wissens auch Typen und Funktionen des Buchs eingehend erörtert. Und wieder sind Literatur und Künstlerbuch gleichermaßen, teilweise sogar gemeinsam involviert: Literarische Texte setzen sich mit den Wechselbezügen zwischen Wissen und Darstellung auseinander, indem sie (unter anderem) buchgestalterische Mimikry an wissensvermittelnde Darstellungsverfahren betreiben. Künstlerbücher schließen ebenfalls an die Geschichte des Buchs als Vermittlungsmedium vielfältiger Wissensformen an und machen dadurch den Zusammenhang zwischen Wissen und sinnlich-konkreter Präsentation deutlich. Gerade die Akzentuierung der Funktionen und Gestaltungsoptionen des Buchs für die Darstellung, Speicherung und Vermittlung von Wissen führt zu manchen Brückenschlägen zwischen literarischer und buchgestalterischer Auseinandersetzung mit dem Kodex. So sind, beispielsweise, literarische Rekurse auf das Format des Lexikons, der Enzyklopädie, des Bestiariums, des biologischen, medizinischen, geografischen oder sonstigen ‚Atlas‘, des topografischen oder historiografischen Wissenskompendiums etc. vielfach auch Anlässe zur artifiziellen Buchgestaltung. Künstlerbücher, die auf die Geschichte des Buchs als Darstellungs- und Präsentationsform von Wissen Bezug nehmen (wie die beiden Zweiten Enzyklopädien von Tlön von Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki sowie von Barbara Fahrner und Markus Fahrner), weisen vielfach einen sprachlich-literarischen Anteil auf oder beziehen sich auf einen bestimmten literarischen Text (hier: auf die Tlön-Erzählung von Borges; vgl. Teil D, „Borges im Spiegel der Buchkunst“). Komplementärthema des literarisch und buchkünstlerisch inszenierten Wissens ist – in unterschiedlicher Form und Intensität – das Nichtwissen: Buch-Artefakte und im Buch inszenierte Texte machen auch die Geschichtlichkeit und Begrenztheit, die Kontingenz und Relativität von Wissenskulturen, Theorien und Gegenständen sinnfällig. MSE  







https://doi.org/10.1515/9783110528299-010

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Abb. B 6: Barbara Fahrner/Markus Fahrner: Zweite Enzyklopädie von Tlön. Frankfurt a. M.: Selbstverlag, 1997–2002. Detail [Faltblatt].  



B 2.1 Tierbücher und Bestiarien in der Buchkunst Zweifellos bietet die Geschichte des Tierbuches von den illuminierten Handschriften bis hin zum Fotoband der Gegenwart ein weites Themenfeld und ein breites Spektrum an Darstellungsmodi für künstlerische Buchgestalter. Tiere sind Gegenstand der religiösen und moralischen Ausdeutung und der naturkundlichen Forschung, werden als Metaphern in Kontexten sozialer und politischer Kritik eingesetzt, erscheinen in legendären und phantastischen Konstellationen und befriedigen nicht zuletzt die Schaulust und das Bedürfnis nach Unterhaltung. Die Art und Weise, wie Tiere wiedergegeben und in einen kontextuellen Rahmen eingebunden werden, ist durch den Anwendungsbezug des jeweiligen Buchtypus vorgegeben. Einfluss auf die Darstellung nimmt auch das Sachwissen, denn umso mehr über eine Spezies und ihre Lebensweisen bekannt ist, umso genauer und detaillierter können Beschreibung und Abbildung ausfallen. Eine naturgetreue Wiedergabe wurde nicht zu allen Zeiten im gleichen Sinne angestrebt, doch seit die Tierbücher in den Dienst des naturwissenschaftlichen Wissens traten und zu Bestimmungszwecken herangezogen wurden, gewann die Präzision der Abbildungen an Bedeutung. Verschiedene Tierbucharten sind auch in der Gegenwart zu unterscheiden, wenn auch mit teilweise verändertem Anwendungsbezug und Stellenwert. An die Stelle von Tierdarstellungen im Zeichen mittelalterlicher Allegorese oder eines biologischen Klassifizierungsstrebens können gesellschaftskritische oder satirische Tierdarstellungen treten; hier dienen Tiere zur Veranschaulichung sozialer Verhaltensweisen sowie zur Charakterisierung von Individuen oder Menschentypen. Faktuale wie fiktionale Texte, naturwissenschaftliche Werke, Fabeln und Kinderbücher bieten gleichermaßen einen Rahmen, um Tiere umfassend in Text und Bild zu porträtieren. Auch in der Kunst werden Tiere zum Gegenstand, nicht zuletzt im Maler- und Künstlerbuch. Bei allen Unterschieden bestehen hier doch Bezüge zu tradierten Formen des Tierbuches.

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B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

Erinnert sei an Apollinaires Gedichtzyklus Le Bestiaire ou Cortège d’Orphée, illustriert mit Holzschnitten von Raoul Dufy, Max Ernsts aus einer Folge von Frottagen erstellter Histoire naturelle und Marcel Broodthaers’ Aufzeichnungen unter dem Titel Mademoise. Treten in diesen Beispielen Tiere in Anlehnung an die Form des mittelalterlichen Bestiariums in Zyklen auf, so können doch auch einzelne Tierarten zum Gegenstand buchkünstlerischer Darstellung werden, wie etwa der Eisvogel in Hans Waanders’ Kingfishers and related works. Bestiarien und Tierbücher im historischen Überblick. Im 1. Jahrhundert n. Chr. verfasste Gaius Plinius Secundus mit seiner Naturalis historiae eine umfangreiche Abhandlung über die Natur, die zugleich auch eine Lehre vom Weltall, Beiträge zur Länderkunde und Klimatafeln, vor allem aber auch eine Pflanzen- und Tierkunde enthielt. Zur Darstellung gelangen sollte die Natur mit allen ihren Bezügen zum menschlichen Leben. Mit Blick auf Aristoteles’ Historia animalium untergliederte Plinius die Tiere nach ihren Lebensbereichen, behandelte Landtiere, Wassertiere, Vögel und Insekten in eigenen Abschnitten und gab damit eine Struktur vor, die sich auf nachfolgende tierkundliche Werke auswirkte. Dies hatte auch Einfluss auf deren bildliche Ausstattung, wurden doch in späteren Naturgeschichten die einzelnen Abschnitte mit entsprechend auf die jeweilige Tierart konzentrierten Abbildungen eingeleitet. So etwa stellt die in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrte Ausgabe von Konrads von Megenberg Buch der Natur den einzelnen Kapiteln ganzseitige Holzschnitte voran, die jeweils nur Vögel, Fische oder Insekten zeigen.120 Als Teil eines umfassenden enzyklopädischen Werks ist Plinius’ Abhandlung über die Tiere eines der ersten Bestiarien in der europäischen Wissens- und Buchkultur. Die als ‚Bestiarium‘ bezeichnete Literaturform, in der tatsächliche oder vermutete Eigenschaften von Tieren auf Christus, biblische Texte und christliche Heilsvorstellungen hin ausgelegt werden, unterhält enge Affinitäten zu älteren Buchtypen, die Tiere in den Mittelpunkt stellen. Obwohl die Bezeichnung ‚Bestiarium‘ vor allem an Tiere denken lässt, sind in den entsprechenden Werken doch auch Abschnitte zu Pflanzen und Mineralien enthalten, die dem gleichen Deutungsschema unterliegen wie die ‚Bestien‘. Den Ausgangspunkt der Geschichte des Bestiariums bildete ein als Physiologos bezeichnetes Volksbuch christlicher Tradition, das vermutlich Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstand, doch erst durch seine lateinische Übersetzung im 9. Jahrhundert die Entwicklung einer ganzen Buchgattung bestimmte. Die einzelnen Abschnitte des (insgesamt in verschiedenen Varianten überlieferten) Physiologos folgen einem festen Schema. Der verbalen Darstellung vorangestellt ist ein Bibelspruch, in dem das jeweilige Tier eingeführt wird; es folgt eine naturkundliche Erläuterung, meist beginnend mit der Formel „Der Physiologos hat über … gesagt“; es folgen eine  









120 Vgl. von Megenberg: Buch der Natur. Augsburg 1475; Gottfried von Franken: Pelzbuch, 1442, 217 Blatt, 27,5 x 19,9 cm, Bibliothek Heidelberg Cod. Pal. germ. 286.  





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typologische Deutung und schließlich der Satz „Wohlgesprochen hat der Physiologos“. Das im Physiologos entwickelte Muster wird zwar immer wieder variiert – zumal die Ausdeutung der Wesensart der Tiere auch magische Naturvorstellung integrieren und mit der christlichen Dogmatik verknüpfen konnte –, liefert aber insgesamt das Modell für eine ganze Gattung. Diente das im Physiologos beschriebene Wesen der Tiere zunächst als Beleg für Glaubenswahrheiten, so fand es in den späteren Bestiarien breitere Auslegungen, die christologische Züge, mehrfachen Schriftsinn und verstärkt auch moralische Aspekte berücksichtigten. Die mittelalterlichen Bestiarien nahmen Stoffe und Informationen aus den spätantiken und frühmittelalterlichen Schriften zur Natur auf, so von Plinius Secundus, Solinus, Hrabanus Maurus und Isidor von Sevilla sowie aus exegetischen Schriften des Ambrosius und des Gregorius Magnus. Dabei verschob sich die Gewichtung vom religiös-moralischen Anspruch des Physiologos hin zur Integration naturmythischer Elemente, wie sie unter anderem mit der Naturalis historiae des Plinius vorlagen. Die Auslegungstendenzen und ihre Intentionen modifizierten sich. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts legte Petrus Damiani die Tierallegorese nicht mehr als Verweis auf das Leiden Christi aus, sondern als Vorbild für das mönchische Leben. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert diente die Ausdeutung der Natur nahezu ausschließlich der moralischen Erbauung und der lehrhaften Unterweisung. Die extensive Entlehnung von Material, vor allem auch aus der Schrift De animalibus des Isidor von Sevilla, wirkte sich auf den Umfang der Gattung des Bestiariums aus, das in seinen Spätformen auf über 100 Kapitel anwuchs. Auch Anordnung und Gewichtung der Kapitel veränderten sich im Laufe der Zeit. Isidor von Sevilla führte eine Klassifikation des Stoffes nach Tierarten ein, bei der Vögel und Reptilien von den übrigen Tieren geschieden waren; aufgenommen wurden Passagen über Bäume und den Menschen. Tierallegorese und Bestiarienmotivik wurden von der Predigtliteratur und der mittelalterlichen Hermeneutik übernommen, fanden sich aber auch in Dichtung und geistlicher Literatur wieder. Obwohl die mittelalterliche Naturauslegung im 16. Jahrhundert durch das Aufkommen von Emblematik und Hieroglyphik mit überwiegend profaner Symbolik in den Hintergrund gedrängt wurde, wirkt die Bestiarienmotivik bis in die Gegenwart fort. Die meisten Bestiarien waren illustriert, anders als der typische Physiologos, für den nur wenige bebilderte Beispiele nachzuweisen sind. Zu erwähnen ist hier eine als Berner Physiologos bekannte karolingische Handschrift, die in eine 131 Pergamentblätter umfassende Sammelhandschrift eingebunden ist und selbst 15 Blatt umfasst.121 Tatsächlich enthält fast jede Seite ein bis zwei Illuminationen mit Tierdarstellungen,  









121 Codex Bongarsianus 318, um 825–850, Berner Burgerbibliothek, 131 Pergamentblätter, 25,5 × 18 cm, Scan der Handschrift unter: http://www.e-codices.unifr.ch/en/bbb/0318/ (18.02.2017) (zur Handschrift vgl. Homburger 1962; Woodruff 1930).  





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B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

die größtenteils durch einen Rahmen gegen den Text abgegrenzt sind. Stilistisch deutlich davon unterschieden und offensichtlich von einer anderen Hand ausgeführt sind einige wenige Tierdarstellungen unmittelbar in den Textblock eingefügt. Das Aufkommen illuminierter Buch- und Manuskriptausgaben hing mit der allgemeinen Entwicklung monastischer Schreibstuben zusammen, die sich verstärkt auch der Illumination von Texten zuwandten (vgl. Pächt 1962, Kap. 2). Auch der zunehmende Gebrauch des Bestiariums als Instrument moralischer Lehre beförderte das Interesse an illuminierten Büchern, zumal in weitgehend illiteraten Kreisen, in denen die Bilder das Verständnis des Textes erleichtern oder ersetzen sollten. Entsprechend dem jeweiligen Adressatenkreis waren die einzelnen Bestiarien sehr unterschiedlich ausgestattet. In Prachtausgaben wie dem Ashmole Bestiary oder dem Rochester Bestiary waren die Motive vollständig mit Gold unterlegt; dafür fielen die Abbildungen aber relativ klein aus; nur die wenigsten nahmen eine ganze Seite ein. Ein großer Teil der Abbildungen in den Bestiarien war auf die Spaltenbreite der Texte begrenzt, teilweise wurden die Tiere auch nur in den Initialen dargestellt. Das Aviarium des Hugues de Fouilloy wiederum enthält, abgesehen von einer einzigen ganzseitigen Illumination, die eine Taube im Mittelpunkt eines Kreisdiagrammes als Symbol des kontemplativen Lebens zeigt, keine sonstigen Bilder (Fouilloy online). Erst mit dem Buchdruck wurde den Bildern mehr Raum gewährt, verbunden mit einem eher deskriptiven naturkundlichen Duktus der Texte. Diese Ausrichtung trat im 13. und 14. Jahrhundert neben die allegorisch-typologische Ausdeutung, was u. a. in Vincenz de Beauvais’ Speculum naturale oder Albertus Magnus’ De animalibus libri deutlich wird. Albertus Magnus verband die überlieferte aristotelische Wissenskonzeption mit ersten Ansätzen eines Naturstudiums. Ihm folgte Thomas de Cantimprés De natura rerum als ein Werk, auf dem auch Konrads von Megenberg um 1350 vorgelegte Naturgeschichte fußt. Als erste deutsche Übersetzung der lateinischen Bestiarien verknüpft diese naturkundliche Beobachtungen mit moralischen Ausdeutungen. Bis ins 16. Jahrhundert fand Konrads von Megenberg Buch der Natur nicht nur starke Verbreitung, sondern beeinflusste auch die Kompilationen des 15. Jahrhunderts. Stark unterschieden sich die Ausgaben in ihrer Ausstattung. Waren einige, wie die in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrte, sogar mit kolorierten Holzschnitten versehen, blieben andere Ausgaben, wie etwa der in der Bayerischen Staatsbibliothek vorliegende Druck, ganz auf den Text beschränkt.122  







Praxisrelevante Tierbücher. Neben Tierbüchern, die im Zeichen christologischer oder moralischer Ausdeutung Exempla rechter Lebensführung boten, ist mit einer überwiegend zweckgebundenen Darstellung von Tieren, ihren Lebensformen und Ei-

122 Konrand von Megenberg: Buch der Natur, 2. Hälfte 14. Jh., III + 209 Bl., Ill., 23 x 16,5 cm, Bayerische Staatsbibliothek, BSB Cgm 38; Gottfried von Franken: Pelzbuch, 1442, 217 Blatt, 27,5 x 19,9 cm, Bibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 286.  













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Teil B Buch-Geschichten

genschaften schon früh ein weiterer Typus von Tierbüchern belegt. Hierunter fallen solche Wissenskompendien, die sich der Zucht, der Jagd und der Heilkunde zuwenden, wie etwa das aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammende Buch über die Reitkunst des Simon von Athen und des Xenophon,123 ferner eine aus dem 10. Jahrhundert stammende, unter dem Titel Hippiatrica überlieferte Sammelhandschrift zur Pferdekunde oder das Falkenbuch De arte venandi cum avibus des Kaisers Friedrich II. vom Beginn des 13. Jahrhunderts. Die Ausgestaltung der Werke ist so unterschiedlich wie diese selbst. In manchen Exemplaren reduzieren sich die Tierdarstellungen auf Schmuckleisten, in anderen sind ihnen großformatige Darstellungen gewidmet, doch mit Blick auf den Anwendungsbezug der Texte zeigen sich in ihnen insgesamt Naturbeobachtung und genaue Kenntnisse der Anatomie.124 Dies gilt erkennbar etwa für die Illuminationen des Falkenbuchs von Kaiser Friedrich II. (vgl. De arte venandi cum avibus, Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Ms. Pal. Lat. 1071; Georges 2008; Walz 1994). Es ist nicht nur ein in technischer Hinsicht interessantes, sondern auch für die Ornithologie relevantes Handbuch, denn Friedrich war überzeugt, dass nur derjenige ein guter Falkner sein könne, der über die Lebensräume und Verhaltensweisen der Vögel Bescheid wisse. Auf insgesamt 500 Vogelbildern erscheinen 80 Spezies, und beschrieben werden viele nichtraubende Vögel, die bei der Beiz als jagdbare Beute in Frage kommen. Behandelt werden Aussehen, Lebensgewohnheiten, Verteidigungsweisen, Anatomie und Flugtechnik dieser Vögel. Und wo immer eine Vogelart erwähnt wird, erscheint sie auch verbildlicht, und zwar genau in dem im Text aufgeführten Zusammenhang. Ganz offensichtlich sollten die vielen Abbildungen belehren und nicht allein schmücken. Entsprechend wurden alle Vögel bildlich genau erfasst, unter Einbeziehung der für den Vogeltypus charakteristischen Umrisse und der Gefiederfärbung. Ebenso detailliert dokumentiert finden sich die Flugweisen und -ordnungen der Vögel. Das Falkenbuch war zwar ein Objekt der Repräsentation, zeugte aber auch vom Stellenwert, den Friedrich der Falknerei einräumte, die er in all ihren Facetten beschrieb und den Wissenschaften zuordnete.  









123 Xenophōntos Peri Hippikēs Logos. Übersetzung ohne Illustrationen von Friedrich Jacobs. Gotha 1825 (vgl. McCabe 2007; Lazaris 2010, Illumination in Parisinus greacus 2244, fol. 74v). 124 Zeigt die in der Staatsbibliothek in Berlin aufbewahrte byzantinische Sammelhandschrift Hippiatrica aus dem 10. Jahrhundert Tierdarstellungen nur in den Schmuckleisten, widmet die in der Bibliothèque nationale in Paris aufbewahrte Handschrift Cod. gr. 2244, fol. 74v aus dem 14. Jahrhundert der Veranschaulichung der Pferdepflege eine ganze halbe Seite (vgl. McCabe 2007, Abbildungsteil unpag. [S. 15]).  









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B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

Abb. B 7: Xenophōntos Peri Hippikēs Logos, Handschrift 14. Jahrhundert.  



Naturwissenschaftliche Tierbücher und Naturgeschichten. Neben die funktional gebundenen Tierbücher, wie sie zum einen das Bestiarium mit seiner christlichen Botschaft, zum anderen die auf praktische Anwendung ausgerichteten Bücher darstellen, trat im Zuge neuer wissenschaftlicher Erkundungen der Natur in der Renaissance mit der Naturgeschichte eine weitere Buchgattung. An Illustrationspraxis und Buchgestaltung wurden entsprechend neue Anforderungen gestellt. Das Beobachtete sollte möglichst exakt wiedergegeben werden, die Darstellungen insgesamt der Klassifikation und weiteren Forschung dienen. Zunehmend wurden illustrierende Holzschnitte von Kupferstichen abgelöst. Da bis ins 19. Jahrhundert Texte und Bilder mit unterschiedlichen Verfahren gedruckt wurden, erschienen die Bilder auf eigenen Bildtafeln, die entweder erst bei der buchbinderischen Verarbeitung in den Band mit den Texten eingefügt oder aber in eigenen Tafelbänden zusammengefasst wurden, die dann auch nicht mehr an das Format der Textbände gebunden waren. Durch die Drucktechnik bedingt wurden für Bilder und Text unterschiedliche Papierarten verwendet. Erst mit dem Aufkommen der Lithografie kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert wurde es möglich, Bilder und Texte bereits beim Druck zusammenzuführen und das gesamte Buch mit einer Papiersorte herzustellen. Ein mehrbändiges, der modernen Zoologie entsprechendes Werk lieferte der Züricher Polyhistor Conrad Gessner mit seiner Historia animalium, deren vier Bände zwischen 1551 bis 1558 in lateinischer Sprache erschienen, ab 1669/1670 dann unter  



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dem Titel Thierbuch in deutscher Übersetzung, wenn auch in gekürzter Version vorlagen.125 Die Modernität von Gessners Abhandlung bestand vor allem darin, dass er seine eigene Naturbeobachtung den tradierten Erkenntnissen voranstellte, denn in Gliederung und Inhalten erweist sich die Historia animalium erstaunlich antiquiert. Nicht nur folgte Gessner bei der Einteilung seiner Kapitel Aristoteles und Albertus Magnus, auch nahm er Tiere auf, die mehr dem Fabelreich als der Empirie zugehören. Dafür wurden einzelne Tiergattungen in ihrer ganzen Artenvielfalt erfasst (vgl. Gessner 1669) und neben Charakterisierungen der Eigenarten der Tiere auch medizinische Informationen integriert. Gessners Tierbuch fand weite Verbreitung, wurde u. a. ins Englische übersetzt und 1607 von William Jaggard in London gedruckt. Die Ausgaben waren jeweils mit Holzschnitten ausgestattet, die bei aller anatomischen Genauigkeit bei der Wiedergabe der Tierkörper den Details wenig Aufmerksamkeit widmeten. Unterschiedliche Fellarten etwa wurden lediglich durch Schraffuren unterschiedlicher Dichte angedeutet. Anders verhielt es sich mit den Illustrationen des nahezu zeitgleich erschienenen Fischbuchs Aquatilium animalium historiae des Kunstverlegers und Druckers Ippolito Salviani. Es zeigt Kupferstiche, die die technischen Möglichkeiten zur Darstellung von Stofflichkeit und Oberflächenstruktur umfänglich nutzen.126  

125 Die volkssprachliche Gessner-Rezeption setzt bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein (vgl. Friedrich 1995, S. 157f.). 1669/70 erscheint bei Wilhelm Serlin in Frankfurt a. M. Gessners Allgemeines Thier-Buch, das ist: Eigentliche und lebendige Abbildung aller vierfuessigen […] Thieren […], durch den hochberuehmten Herrn Conradum Forerum ins Teutsche uebersetzt […], online unter: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11057950_00005.html (20.02.2017). 126 Vgl. Aquatilium animalium historiae, liber primus, Romae: Apud eundem Hippolytum Saluianum, mense Ianuario, MDLVIII [i.e. 1554–1558].  





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Abb. B 8: Conrad Gessner: Von den Hunden und dem Wolff, in: ders: Allgemeines Thier-Buch, das ist: Eigentliche und lebendige Abbildung aller vierfuessigen […] Thieren […], durch den hochberuehmten Herrn Conradum Forerum ins Teutsche uebersetzt […], Frankfurt a. Main: Serlin, 1670. (online: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11057950_00005.html (20.02.2017). Regensburg, Staatliche Bibliothek.  

Auch wenn Holzschnitte in tierkundlichen Büchern weiterhin eingesetzt wurden, gewann für die naturwissenschaftliche Illustration doch der Kupferstich mehr und mehr an Bedeutung. In diesem Zusammenhang sind auch die Insekten- und Schmetterlingsillustrationen von Maria Sibylla Merian zu sehen, die die Tiere nicht nur in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien darstellen, sondern auch in unmittelbaren Zusammenhang mit den Pflanzen, die ihnen als Nahrung und Habitat dienen. In Frankreich erschien 1749 der erste Band einer Histoire naturelle générale et particulière, einer als Wissenschaftsgeschichte der Natur geplanten Enzyklopädie, in der vor allem die Pflanzen- und Tierwelt ausführlich behandelt wird (vgl. Buffon 1749– 1804). Besonderen Wert legte Georges Louis Le Clerc de Buffon, der maßgebliche Initiator und Hauptautor des Werkes, auf die Illustrationen, weshalb er für die Ausführung zu jedem Gebiet ausgewiesene Spezialisten engagierte. Die erste Edition war auf 44 Bände mit rund 1.000 Bildtafeln angelegt, doch zeitgleich erschienen weitere, in

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Umfang und Format anders konzipierte Ausgaben, unter anderem eine Luxusausgabe der Histoire naturelle des oiseaux mit kolorierten Kupferstichen und Aquarellen.127 In jedem Fall waren die Darstellungen detailgetreu; die Tiere wurden teils in ihrem natürlichen, teils in einem idealisierten, aber auf ihre jeweilige Wesensart abgestimmten Lebensumfeld gezeigt. Doch längst nicht alle Naturgeschichten, die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts erschienen, sind so reich mit Bildern ausgestattet. Angesichts der aufwändigen Herstellung bleibt der Bildanteil in vielen Ausgaben relativ gering. Selbst die mehr als 700 Seiten umfassende Naturgeschichte für Kinder von Georg Christian Raff von 1787 weist insgesamt nur elf Kupfertafeln auf, einschließlich des Titelkupfers (vgl. Raff 1787). Innerhalb des Textes finden sich lediglich an den Kapitelanfängen oder -enden Vignetten. Die ganzseitigen Abbildungen wurden ans Ende des Bandes gestellt, und nur über eine durchlaufende Nummerierung der Motive wurde eine Zuordnung zu den Textstellen ermöglicht. Ganz offensichtlich waren sie lediglich zur Veranschaulichung bestimmt und ohne besondere ästhetische Ambitionen; die Bilder wurden nach Platzkriterien zusammengestellt und unterlagen keinem einheitlichen Layout. So fanden sich auf einer Seite mal vier, mal drei Motive, mal zu einer Szene zusammengefasst, mal lose über die Tafel verstreut. Ebenso standen Naturansichten neben Bildern von Gerätschaften zur Bienen- oder Seidenraupenzucht. Neben den Naturgeschichten bot auch die Reiseliteratur Gelegenheit, Tiere und ihre Lebensräume ausführlich zu beschreiben, vor allem anlässlich neu entdeckter Arten.128 Hatte sich bereits in Gessners Historia animalium eine Spezialisierung auf bestimmte Tierarten abgezeichnet, so wurden im 18. Jahrhundert mehr und mehr Bücher publiziert, die sich ganz mit einer einzelnen Tierart befassten, also ausdrücklich als ‚Vogelbuch‘, ‚Schmetterlingsbuch‘, ‚Insektenbuch‘ konzipiert waren. In Deutschland erschienen zwischen 1783 und 1806 das Natursystem aller bekannten in- und ausländischen Insekten von Carl Gustav Jablonsky und Johann Friedrich Wilhelm Herbst sowie Marcus Elieser Blochs Allgemeine Naturgeschichte der Fische (Jablonsky/Herbst 1783–1806; Bloch 1784). Diese Werke sind umfänglich illustriert; die seitenfüllenden Abbildungen sollten eigenständig wirken. Zur Kolorierung von Hand traten weitere Verfahren, mit denen farbige Abbildungen in hoher Qualität erzielt werden konnten, so beispielsweise über Druckplatten, die entweder mehrfach nacheinander eingefärbt wurden oder auf die bereits für einen einzelnen Druckdurchlauf mehrere Farben nebeneinander aufgetragen wurden. Anwendung fand dieses als ‚englischer Farbstich‘ bezeichnete Verfahren etwa für Jean-Baptiste Audeberts Ausgabe der Histoire naturelle des singes et des makis von 1799 (vgl. Audebert 1799–1800) und für die Oiseaux  



127 Die 44- wie auch 36-bändigen Ausgaben von 1749–1804 haben Quartformat, zwei weitere 71 und 90 Bände umfassende Ausgaben sind im Octav-Format angelegt. 128 Beispiele sind Pierre Sonnerats Voyage aux Indes orientales et à la Chine mit Stichen von J.-B. S. F. Desmoulins von 1782 oder Lucio Ferdinando de Marsiglis Danubius Pannonico-Mysicus von 1726 mit Illustrationen u. a. von Raimondo Manzini und Francesco Maria Francia.  







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dorés von 1802 (vgl. Audebert/Viellot 1802). Bei beiden Büchern waren die Farbstiche direkt in den Buchblock eingebunden und nicht mehr in einem eigenen Tafelband vom übrigen Teil der Darstellung separiert. Anders noch als in Buffons Histoire naturelle oder auch bei Merians Raupen- und Schmetterlingsdarstellungen waren alle Motive isoliert und zeigten sich sachlich vor dem neutralen Grund des Blattes. In England kam mit dem von Thomas Bewick entwickelten Holzstich ein neues Illustrationsverfahren zum Einsatz, so in der General history of quadrupeds von 1790 und in der zweibändigen History of British Birds (1801–1805). Der Holzstich, bei dem das Motiv nicht in die Maserung eingeschnitten wurde, sondern in das Hirnholz, ermöglichte die gleiche Präzision bei der Wiedergabe von Details wie der Kupferstich und garantierte auch bei hohen Auflagen eine gleichbleibende Qualität. Die Entwicklung englischer Tierbücher, die sich parallel zu derjenigen in anderen europäischen Ländern, vornehmlich Frankreich und Deutschland, vollzog, setzte sich u. a. mit William Swainsons dreibändigen Zoological illustrations von 1820–1823 und Edward Donovans Tierbüchern fort. Die Darstellung von Tieren und eine ihr entsprechende Publikationstätigkeit profitierte insgesamt nicht nur von den Fortschritten der beschreibenden Zoologie, die sich ihrerseits durch Expeditionen und detaillierte Erforschung der Tierwelt fortentwickelt hatte, sondern ebenso von den Fortschritten bei Druck- und Reproduktionsverfahren. Eine Neuerung auf diesem Gebiet brachte unter anderem der von den Gebrüdern Jacob und Jan L’Admiral entwickelte Farbdruck, der die Handkolorierung ersetzte. Mehrfarbendruck und Lithografie, später dann auch foto-chemigrafische Reproduktionsverfahren ermöglichten zudem immer höhere Auflagen, wodurch die Kosten der einzelnen Ausgaben gesenkt und die Tierbücher einem größeren Interessentenkreis zugeführt werden konnten. Werke wie Brehms Tierleben erreichten eine weit über Spezialisten, Sammler und Bibliophile hinausgehende Leserschaft. Dem populären Geschmack folgte auch die Ausstattung. Gehörten zu den Illustratoren der Erstausgabe von 1896–1905 noch Tiermaler wie Anton Göring und Friedrich Specht, so wurde die 1981 von Theo Jahn edierte Ausgabe Brehms Neue Tierenzyklopädie in zwölf Bänden mit farbigen Großfotos versehen (vgl. Jahn 1981). Vermehrt ersetzten in jüngerer Zeit Fotografien die Zeichnungen und Stiche früherer Ausgaben. Das weite auf Tiere und ihre Lebensformen konzentrierte Themenfeld der Tierbücher wie auch die im Laufe der Jahrhunderte wechselnden Darstellungsmodi und Techniken lieferten im 20. Jahrhundert verstärkt Anregung für eine Buchproduktion, die nur mehr lose mit dem Tierbuch der Vergangenheit verbunden war. Unter den Stichpunkten ‚Bestiarium‘ oder ‚Naturkundebuch‘ finden unterschiedlichste Buchtypen mit unterschiedlichsten Anliegen zusammen. Während Werke wie Apollinaires Bestiaire ou Cortège d’Orphée noch deutlich die Anknüpfung an mittelalterliche Bestiarien zu erkennen geben (vgl. Apollinaire 1965, S. 33), thematisieren andere kaum noch das Tier, beziehen sich aber dennoch auf die Tradition der Tier- und Naturkundebücher. Den Surrealisten bot das Bestiarium Gelegenheit, losgelöst von jeglichem Naturalismus und ohne moralische Implikationen Anthropomorphes mit Animalischem und  





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Vegetabilem zu verschmelzen (vgl. Maillard-Chary 1994).129 Das Tier galt als Ausgeburt des Unbewussten, als Ausdruck einer Vorstellungswelt, in der sich die geläufigen Kategorien auflösten. Dem entsprachen neue Techniken wie Décalcomanie, Frottage, Collage und Montage, die dem Zufälligen, Ungesteuerten Ausdruck geben sollten. Ausdrückliche Zuwendung galt auch dem Parasitären; Mikroben und Bakterien wurden zum Gegenstand der Tierbücher. Eine aus dem Surrealismus hervorgehende Histoire naturelle ist die 1926 von Jeanne Boucher in kleiner Auflage publizierte Folge von Frottagen Max Ernsts mit einer Einleitung von Hans Arp und begleitet von Gedichten Paul Éluards.130 Texte und Bilder bleiben hier mehr oder weniger unvermittelt nebeneinanderstehen; beide eröffnen Assoziationsräume, ohne sich notwendig zu verschränken. Als ‚Naturkundebuch‘ edierte Judith Schalansky eine Buchreihe, die unter anderem auch ein explizit als ‚Bestiarium‘ betiteltes Werk aufweist. Der Bezug zu den Eigenschaften, die den Tieren in mittelalterlichen Bestiarien zugesprochen werden, ist hier locker: die von Caspar Henderson vorgestellten Tiere haben, weil sie an unzugänglichen Orten oder unter extremen Bedingungen leben, merkwürdige Eigenschaften ausgeprägt, welche sie ebenso phantastisch erscheinen lassen wie die Fabelwesen alter Bestiarien (vgl. Henderson 2012, dt. 2014). Ihre Darstellung ist jedoch sehr präzise, was durch den beigefügten Textapparat unterstrichen wird. Kommentare, Marginalien, Quellenangaben und Register ergänzen die Ausführungen. Auf das Phantastische an den Tieren verweisen aber die Bildcollagen von Schalansky, in denen sich naturalistische Motive mit freien künstlerischen Einfällen verbinden. In unmittelbarem Rückgriff auf die Bestiarienliteratur hat Matthias Bumiller sein 2007 erschienenes Bestiarium kompiliert, das nicht nur Textauszüge aus frühneuzeitlichen Bestiarien verwendet, sondern auch die Tierabbildungen, genauer gesagt: Holzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts aus der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (vgl. Bumiller 2007). Der Band ist eher ein Buch über Bestiarien als ein Bestiarium. ‚Bestiarium‘ heißen manchmal auch solche Publikationen, die unterschiedlichste Materialien zum Thema Tier in Buchform zusammenstellen. Die Inhalte dieser Bücher sind so unterschiedlich wie die als Feuilletons verfassten Tierbeobachtungen aus dem Zoo. Manche sind illustriert mit Reproduktionen der Kupferstiche aus Buffons Histoire naturelle, andere ähneln einem als Spielanleitung konzipierten Band der Fantasy-Literatur, der die Kreaturen eines imaginären Landes vorstellt, damit sie während des Spiels schnell identifiziert und dem Spielverlauf zugeordnet werden können. Als Bestiarium wurden auch die Essays eines Galeristen für zeitgenössische Kunst publiziert;  

129 Aus der tabellarischen Zusammenstellung auf den S. 324–326 geht hervor, wo die Tiere als Bildmotiv in einem textlichen Zusammenhang erscheinen. 130 Ernst, Max: Histoire naturelle, dt. Ausgabe: 86 Tafeln in Schwarz-Weiß aus d. Jahr 1925, 5 Farbtafeln aus d. Jahr 1917, unveröffentl. Gedicht von Paul Éluard aus d. Jahr 1926, Einf. von Hans Arp [1926] und ein Leitfaden von Max Ernst.  

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es gibt als Tiergeschichten verbrämte Literatenporträts sowie aus Karikaturen, satirischen Zeichnungen und Aphorismen komponierte ‚Bestiarien‘ (vgl. Riechelmann 2003; Dever/Pearce 2012; Schöttle 1995; Raddatz 2012; Kahl 1999; Desblache 2002). Komplementär dazu finden sich konzeptionelle Rekurse auf das Bestiarium in Büchern, die diesen Titel zwar nicht tragen, doch an diesen Typus des Tierbuches anknüpfen, indem sie Tiere zum Vergleich für menschliches Verhalten oder als dessen allegorische Repräsentationen heranziehen. In anderen Fällen lösen sich die künstlerischen Varianten des ‚Bestiariums‘ aber auch von dieser Darstellungsform, um das Verhalten von Tieren mit Prozessen des Sprachwandels oder mit Veränderungen textlicher oder bildhafter Strukturen in Verbindung zu bringen, wie etwa Hartmut Andryczuk in seinem gemeinsam mit Valeri Scherstjanoi konzipierten Buch Tiergarten (2004). Das Tier im Künstlerbuch als Allegorie. Carola Willbrand bedient sich gezielt der Bezeichnung ‚Bestiarium‘, um eine Gruppe von Freunden, aber auch weitläufige Bekannte darzustellen. 2008 entsteht ihr Buch Eckernförder Bestiarium (vgl. Willbrand 2008). Wie in den mittelalterlichen Tierbüchern liefern auch hier äußere Merkmale und Verhaltensweisen der Dargestellten den Anlass der Ausdeutung. Das Eckernförder Bestiarium ‚beschreibt‘ – so die Formulierung der Künstlerin – Eckernförder Bürger ausgehend von ihren Kleidungsstücken. Dabei kombiniert die Künstlerin kurze Informationen zur Person mit Zeichnungen, Fotografien und kurzen, wissenschaftlichen Abhandlungen entnommenen Auszügen, deren Inhalte mit der jeweils porträtierten Person in Verbindung gebracht werden. In der weitläufigen und unterschiedlich auslegbaren Zusammenstellung treten die Bezüge zum mittelalterlichen Bestiarium hervor. Wie dort, so werden auch bei Willbrand mehrere Eigenschaften nebeneinandergestellt und ausgedeutet. Wird im mittelalterlichen Bestiarium je nach Zusammenhang ein und dasselbe Tier zum Inbegriff des Bösen wie auch des Guten, so bleibt auch bei Willbrand die Interpretation der Eigenschaften offen. Eingangs werden die Personen über einen textilen Gegenstand aus ihrem Besitz charakterisiert: über Teile der Berufskleidung oder solche, die auf ihre Herkunft oder Denkweisen schließen lassen.131 Ausgehend von einem Stichpunkt aus der Personencharakterisierung werden als weitere Beschreibungsmodi Facetten von Texten zur Kunst angeführt, um über die darin angeführte Kunstform eine Analogie zur Person zu benennen und somit einen weiteren Aspekt zu ihrer Darstellung zu liefern. Bei allen im Bestiarium vorgestellten Personen folgen die Beschreibungen einem ähnlichen Prinzip. Auch die regelmäßig eingefügten Fotografien dienen der Personencharakterisierung, lassen sie doch deren ‚tierisches Selbst‘ aufscheinen. Dieses  



131 „Ich ließ sie in ihr tierisches Selbst mutieren, das sowohl das Sternbild zeigen konnte, oder aber eine spezifische Wesensart“ (Statement der Künstlerin zum Eckernförder Bestiarium auf ihrer Homepage, vgl. Willbrand online).

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wird dann von der Künstlerin durch eine Zeichnung präzisiert, in der sie das jeweils Charakteristische betont. Die Zeichnungen, für die als Vorlage die für Willbrand so charakteristischen Nähzeichnungen, also mit der Nähmaschine erstellte Motive, gedient haben, sind sämtlich auf einem durch feine Punkte gerasterten Papier ausgeführt, das technische Entwürfe assoziieren lässt und damit auch auf den konstruktiven Charakter einer Übertragung tierischer Merkmale auf den Menschen hinweist. Anders als das mittelalterliche Tierbuch, das der Naturdarstellung gilt, verortet sich Willbrands Bestiarium in einem zeitgenössischen Kontext und verweist auf den Alltag und eigene Beobachtungen. In diesem Zusammenhang steht auch das Projekt, aus dem das Eckernförder Bestiarium hervorgegangen ist. Der gesamte Materialbestand, der genutzt wurde, bildet gleichsam ein weiteres Bestiarium, allerdings nur als Unikat. Aus ihm erschließen sich die von der Künstlerin gezogenen Verbindungen zwischen Tieren und Menschen ausführlicher als aus dem Endprodukt des Auflagendrucks.

Abb. B 9: Carola Willbrand: Das Eckernförder Bestiarium. Köln/Eckernförde 2008.  

Kein Tierbuch im Sinne eines Bestiariums oder Naturkundebuches ist Rosemarie Trockels Buch Jedes Tier ist eine Künstlerin, das insgesamt kaum an eine Tradition funktionaler, faktualer oder fiktionaler Darstellungen anknüpft. Es enthält keinerlei Text, die Tiere treten über großformatige Fotografien in Erscheinung.132 Dabei sind die Wiedergaben so unterschiedlich wie die aufgeführten Tierarten. Jeweils eigene kleine Serien bildend, folgen aufeinander Spinne, Hund, Raupe und ein nicht näher zu identifizierendes Pelztier. Jedem Tier ist eine sich über mehrere Seiten ziehende Bildsequenz gewidmet. Die Spinnen sind in seitenfüllenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen wiedergegeben, an die sich Hundeporträts anschließen, auf denen nur die Köpfe zu sehen sind, frontal wie auch im Profil, alle gleichermaßen in Farbe, freigestellt auf weißem Grund wiedergegeben. Die Serie der Raupen ist charakterisiert durch die qua132 Vgl. Trockel 1993. In der Anlage findet sich das Buch Footnotes, das Materialien und die Werkabbildungen zum Tier bei Rosemarie Trockel versammelt. Das Hauptbuch zeigt Abbildungen aus den Werkkomplexen Natural Isolation, I love him as much as children, Rallip re tc, Parade, Ich kann nicht sagen, was das war was ich gesehen habe, Out of the kitchen into the fire.

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si grafischen Formationen der ‚Kolonien‘ und ‚Prozessionen‘ (vgl. Gäbler, Hellmuth: Die Prozessionsspinner. Wittenberg 1954, S. 20–30, zit. im Beilagenband von Trockel 1993), die sich aus den Raupenkörpern bilden. Das letzte Tier des Bandes zeigt sich lediglich als amorphes Gebilde aus Fell. Die Künstlerin hat die zum Bestiarium vereinten Tiere ihrer gestaltenden Fähigkeiten wegen ausgewählt und diese auch mit ihren Aufnahmen in Szene gesetzt. So hebt sie bei den Spinnen das Filigrane der Netze durch einen dunklen Untergrund hervor, beim Hund hingegen legt sie den Akzent auf dessen Spiel mit den Ohren und kehrt es durch die unterschiedlichen Aufnahmewinkel hervor. Ohne weitere Erläuterung, lediglich durch den ein Beuys-Zitat persiflierenden Titel, inszeniert Trockel so die Tiere ihres Bestiariums als schöpferische Gestalter. Solcher Vergleich zwischen Mensch und Tier lässt an die Analogien denken, mit denen frühneuzeitliche Bestiarien Verhalten und Neigungen des Menschen zu Eigenarten der Tiere in Beziehung setzen. Die Analogiebildung setzt sich schließlich auch am Buchkörper fort: das braune Lesebändchen soll an einen Rattenschwanz erinnern.  

Abb. B 10: Rosemarie Trockel: Jedes Tier ist eine Künstlerin. Lund 1993.  

Ein Vogelbestimmungsbuch als Künstlerbuch. Hans Waanders’ im Jahre 2000 konzipiertes Buch Kingfishers and related works knüpft an Tierbücher an, die einzelnen Gattungen gewidmet sind (vgl. Waanders 2000). Es ist ein Bestimmungsbuch, bei dem es nicht um naturwissenschaftliche Auskünfte geht, sondern um das Wiedererkennen einer Vogelart in unterschiedlichen Kontexten. Nicht ‚Artenvielfalt‘ wird inszeniert, sondern die Vielfalt der im Buch zusammengetragen und kompilierten Materialien. Dem Bildteil vorangestellt sind Angaben zu Klassifizierung, Aussehen, Vorkommen, Lebensgepflogenheiten des Eisvogels und ähnliches mehr. Es folgt eine Übersicht, die vorgibt eine Klassifizierung vorzunehmen, sich aber aufgrund der von Abschnitt zu Abschnitt wechselnden Sprachen nur teilweise erschließt. Sprachvielfalt prägt den gesamten Band; sie korrespondiert mit dem heterogenen Layout, den unterschiedlichen Abbildungstypen und weiteren Inkohärenzen im Erscheinungsbild des Buchs. Wie das gesamte Material aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen ist, sind auch die Textseiten verschiedenen Büchern entnommen. Der Eisvogel, um den es da-

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bei stets geht, wird insofern weniger in einer biologischen Umwelt verortet als vielmehr in einem wissensgeschichtlichen und kultursoziologischen Zusammenhang. Losgelöst von seinem natürlichen Habitat wird er in Kontexten aufgespürt, die nichts mehr mit Naturkunde zu tun haben. Er erscheint als Motiv auf Drucksachen, etwa auf Briefmarken oder Spielkarten, sowie in unterschiedlichen Darstellungsmodi, etwa als Flächenornament, als Umrissfigur, als Silhouette. Der Eisvogel bedient verschiedene Sammlerinteressen, woran nicht zuletzt der in das Buch eingebundene Umschlag eines Briefmarkenalbums erinnert. Bei aller Heterogenität des Materials weist Waanders’ Buch den gesamten Apparat auf, der von einem Bestimmungsbuch zu erwarten ist: neben einer enzyklopädischen Zusammenstellung dessen, was im Umfeld des Eisvogels an Wissenswertem vorliegt, sind dies Stichwortregister, Quellenverzeichnis und Bibliografie. Dennoch will Waanders’ Buch weder ein wissenschaftliches Werk imitieren noch das Konzept wissenschaftlicher Werke ad absurdum führen. Vielmehr möchte es als alternative ‚Vogelkunde‘ eine Bestimmung des Eisvogels außerhalb seines natürlichen Lebensraums vornehmen. Das in Waanders’ Buch für die Erkundung zur Verfügung stehende Terrain ist das des Buches, des Bildes, der druck- und reproduktionstechnischen Wiedergabe. Das Bestiarium im transformativen Kontext. Auch wenn auf die Bezeichnung als ‚Bestiarium‘ verzichtet wird, zeichnen sich in der Zusammenführung von Text und Bild, Gestaltung und Buch Züge des Bestiariums ab, wenn als Hauptakteure Tiere auftreten. In einem seiner früheren, allerdings erst posthum veröffentlichten Texte bezieht sich Marcel Broodthaers auf das Verhalten von Tieren, um massive Eingriffe in die Textstruktur zu erklären (vgl. Broodthaers 1986). Unter dem Titel Mademoise stellt er in einem einfachen Schulheft Texte zusammen, die an der Schnittstelle schriftstellerischer und künstlerischer Tätigkeit stehen und eben jenen Übergang bezeichnen, den Broodthaers zu Beginn der 1960er Jahre vom Schreiben zur bildenden Kunst vollzieht. Ein großer Teil der Seiten des Heftes bleibt gänzlich oder beinahe unbeschrieben, obwohl die Inhaltsübersicht zu Beginn eine Folge von Texten in Aussicht stellt. Doch erst am Schluss findet sich ein Text, der – von wenigen eingestreuten Notizen abgesehen – auch der einzige im Heft bleibt. Beschrieben wird, welches Tier in welcher Weise Einfluss auf die Struktur der Aufzeichnungen genommen hat, die offensichtlich als Brief geplant waren. So hat sich das Krokodil von Seite 5 schlafend gestellt, um unerwartet die Seite 6 zu verschlingen; die Biene ist von Seite 7 zu Seite 14 geflogen; eine Fliege hat die Seitenangabe auf Seite 2 verdeckt; die Boa ist über die Seite 3 gekrochen und durch ein Loch entschwunden, das die Maus in Seite 4 gefressen hat. „C’est un livre, qui est écrit par des animaux“, wird lakonisch auf Seite 6 erläutert. Der Begriff des Schreibens ist hier weit gefasst – im Sinne eines Hinterlassens von Spuren. Durch die (angeblichen) Interventionen der Tiere wird der ursprüngliche Text verdeckt, wenn nicht gar ausgelöscht, was dazu führt, dass der kleine Band Mademoise durch Leerstellen geprägt ist und mehr durch Abwesendes als Anwesendes wirkt.  





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Worttransformationen bestimmen das Buch Tiergarten, eine Konzeption von Valeri Scherstjanoi und Hartmut Andryczuk, die mit einer Performance verbunden ist, bei der Scherstjanoi Tieren im Zoo ein Poem von Velimir Chlebnikov in Russisch und Deutsch vorliest (vgl. Scherstjanoi/Andryczuk 2004). Das Gedicht bildet auch die textliche Grundlage des Buches, dessen surreale Anmutung durch die Lesung unterstrichen wird. Unter dem Titel, der eine Tiergeschichte vermuten lässt, findet sich tatsächlich ein scharf gezeichnetes Gesellschaftsbild, das auf Konkurrenzverhalten, Korruption und Macht hinweist. In Analogie hierzu stehen die Tiere im Zoo, die, in ihre Käfige gesperrt, aus einer unfreiwilligen Nachbarschaft heraus Verhaltensformen entwickeln, die denen des Menschen nicht fern sind. Bei Scherstjanoi werden bei Tier und Mensch gleichermaßen charakterisierende Eigenschaften durch hybride Fabelwesen wiedergegeben, die ihre Zähne und Klauen zeigen. Gefangen sind sie in einem Netz aus Zeichen, die sich bisweilen gitterartig verdichten, vereinzelt Wörter erkennen lassen, die an Tierlaute erinnern, aber auch Assoziationen zu tierischen Verhaltensmerkmalen aufrufen. Wie die Tierwesen bleiben auch die Zeichen im Unbestimmten. Die wechselweise Übertragung der Verhaltensweisen von Mensch und Tier ebnet entsprechende Unterscheidungen ein; die textlichen wie bildlichen Erfassungen bleiben vage und gelangen nicht über eine ‚scribentische‘ Annäherung hinaus.133 Erfüllten die alten Bestiarien spezifische religiös-didaktische und wissensvermittelnde Funktionen, so kann das Bestiarium von Andryczuk und Scherstjanoi nur mehr Fakten konstatieren. Naturgeschichte im Künstlerbuch. Wie sich zwischen der Allegorik mittelalterlicher Bestiarien und zeitgenössischen Künstlerbüchern Bezüge entdecken lassen, so lässt sich auch zwischen Naturgeschichte, Naturkunde- oder Naturbestimmungsbuch ein Bogen zur kreativen Auslegung im Künstlerbuch schlagen. Naturwissenschaftliche Beobachtung liegt dem Buch 26°57,3′N, 142°16,8′E von Veronika Schäpers zugrunde, in dem die Künstlerin dem Vorkommen eines Architeuthis, eines Riesenkalmars, nachspürt, dessen Existenz bislang nur vermutet, aber nicht bewiesen werden konnte (vgl. Schäpers 2007). Anstoß und Ausgangspunkt für Schäpers’ Arbeit bildet eine Zeitungsnotiz, in der von einem japanischen Wissenschaftler berichtet wird, der ein solches Tier gesichtet haben will. Das mit der Erkundung in Verbindung stehende Material fasst Schäpers in einem Dossier zusammen. Es sind nautische Diagramme und Seekarten der Region, die dem Tier als Habitat dient, sowie einige wissenschaftliche Daten, die seine Lebensweise belegen. Alles in allem bleiben die Angaben spärlich, zudem sind sie durchweg schlecht einzusehen, weil sie von dem tiefblauen Farbton des dünnen Papiers, auf das sie gedruckt sind, nahezu geschluckt werden. Mit der Überlagerung der einzelnen Seiten beim Blättern des Buches verdichtet sich die Einfärbung, so dass der Eindruck entsteht, allmählich in die Tiefsee vorzudringen, wo

133 Vom „scribentischen Gedicht“ sprechen die beiden Autoren im Impressum ihres Buches.

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das Licht zunehmend abnimmt und das Vorhandensein des Tieres nur mehr geahnt werden kann. Der Architeuthis jedoch wird an keiner Stelle abgebildet. Die Situation, mit der das Buch den Leser konfrontiert, simuliert die Situation des Forschers, der zwar von der Existenz des Architeuthis weiß, ihn aber nicht finden kann, da er in Tiefen von 600 bis 1.000 Metern lebt. Augenzeugenberichte sind nur durch Erzählungen überliefert; so etwa wird berichtet, dass Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Fischmarkt in der Bucht von Tokio ein solcher Riesenkalmar zu sehen war. Obwohl in Schäpers’ Buch der Architeuthis im Mittelpunkt steht, geht es doch nur indirekt um das Tier. Die künstlerische Inszenierung reagiert auf eine Forschung, der es mit neuen Methoden und Technologien möglich geworden ist, das für das menschliche Auge ohne Hilfsmittel Unsichtbare aufzuspüren, also in Regionen vorzudringen, die lange unzugänglich waren, und etwa auch Organismen aufzuzeigen, die nur mit den Vergrößerungen eines Elektronenmikroskops sichtbar gemacht werden. Doch das, was schließlich zu sehen ist, ist oft wenig anschaulich und nur dem verständlich, der die Bilddaten zu entschlüsseln versteht. Das nicht erkennbare Bild oder der nicht sichtbare Gegenstand auf dem Bild ersetzen in gewisser Weise das Phantasiewesen, das in Reise- und Expeditionsberichten der Vergangenheit oftmals dort in Erscheinung trat, wo keine genauen Angaben vorlagen oder man nur auf das mündlich Tradierte angewiesen war. Ein im Hinblick auf die indirekte Beschäftigung mit dem Tier vergleichbares Tierbuch ist Musashimaru, ebenfalls von Veronika Schäpers (vgl. Schäpers 2013). In diesem Buch geht es um einen Nashornkäfer, der nicht in freier Natur lebt, sondern als Haustier gehalten wird. Seine Schilderung erfolgt deshalb auch aus der Sicht des Besitzers. Wiederum sind die Verhaltensweisen des Tiers nicht das eigentliche Thema, denn tatsächlich dienen sie dem Erzähler vor allem dazu, seine eigene Lebensgeschichte auszubreiten. Allerdings nimmt Schäpers Bezug auf die Koleopterologie, die Lehre von Käfern. Die Seiten des Buches sind so konzipiert, dass sie Hohlräume bilden, die die Aufnahme von feinteiligen Präparaten nahelegen. An die bei Insektensammlern übliche Praxis, Tierpräparate in entsprechenden Papierbehältnissen aufzubewahren, wird von der Künstlerin über Fragmente einer im Kupferstich gedruckten Nashornkäferabbildung erinnert. Auch die Schatulle, die das Buch umhüllt, erinnert an einen Schaukasten, wie er in Naturkundemuseen zur Aufbewahrung von Käfersammlungen zum Einsatz kommt. Gleichzeitig unterstreicht diese Hülle aber auch den Wert, der dem Nashornkäfer zugesprochen wird. Auch wenn diverse Dinge zur Sprache kommen, die nur indirekt mit der Spezies des Nashornkäfers zu tun haben, ist Musashimaru doch ein Tierbuch. Über die Analogie, die sich zwischen Käferhalter und Tier auftut, lässt es sich wiederum zu frühen Bestiarien in Bezug setzen. Im Künstlerbuch erhalten, wie die Beispiele zeigen, tradierte Formen des Tierbuches eine neue Ausrichtung. Aber auch wenn Titel wie ‚Bestiarium‘ dies zu suggerieren scheinen, sind bei den zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Tier im Buch keine Naturkundebücher angestrebt. VHS  

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B 2.2 Buch-Literatur und Bestiarien Bestiarien tragen ihrem eigenen Selbstverständnis gemäß in Spätantike und Mittelalter dazu bei, die Welt selbst lesbar zu machen, die natürlichen Erscheinungen also nicht nur zu verzeichnen und zu charakterisieren, sondern auch zu interpretieren – respektive: zu ihrer Deutung anzuleiten. Insofern sind sie konzeptuell der Vorstellung vom Buch der Natur affin und lassen sich in dessen Vorstellungshorizont als MetaBücher zum Naturbuch beschreiben. Sie enthalten in ihrer frühen Form Übersichtsdarstellungen zu verschiedenen (oft zahlreichen) Lebewesen – nicht nur zu Tieren, sondern auch zu Menschentypen sowie zu Fabelwesen, wobei die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Fabelhaften gerade in diesem Bereich starken historischen Verschiebungen unterliegt.134 Analoges gilt für die Unterscheidung zwischen dem, was zum Bereich der Lebewesen und zu dem der unbelebten Natur gehört. Zunächst einmal dient ein Bestiarium der Vermittlung von Wissen. Aber auch bezogen auf diesen Primärzweck verschieben sich im Lauf der Zeit sowohl oftmals die Intentionen der Kompilation von Bestiarien als auch die Vorstellungen darüber, was überhaupt zum Wissen gehört. Textförmige Bestiarien sind teils unbebildert, teils bebildert. In der modernen Literatur finden sich beide Varianten, und die moderne Kunst modifiziert das Format des Bestiariums u. a. mit Blick auf Text-Bild-Relationen. Der Titel „Bestarium“ spielt in buchliterarischen Werken, aber auch in Einzeltexten (Gedichten, Erzählungen, Essaysammlungen etc.) auf das historische Konzept eines Wissenskompendiums an, das über die Welt der Lebewesen belehrt, auch wenn mit dem jeweiligen Werk andere – etwa satirische – Absichten verfolgt werden. Insofern buchliterarische moderne Bestiarien zumindest implizit auf einen historischen Buchtypus anspielen, sind sie buchreflexiv. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive ist das mittelalterliche Bestiarium durch die Verschmelzung von naturkundlicher Information und theologisch fundierter allegorischer Interpretation charakterisiert; es fügt sich in den Kontext eines Denkens, das die natürliche Welt insgesamt als zeichenhaft deutet, die Welt also als ein ‚Buch‘ betrachtet – und damit das Buch als ein potenzielles Analogon der Welt.135 Spätere  











134 Zur Geschichte des Bestiariums vgl. Teil B 2.1 sowie u. a.: Effinger/Zimmermann 2009; Febel/Maag 1997, S. 7–14; Neumeyer 1997; Grosse 1997; Jauß 1968; Simonis 2017. 135 Der um 200 n. Chr. in Alexandria entstandene sogenannte Physiologus (auch Physiologos) stellt den Prototypus dar. Er basiert auf einem naturkundlichen Werk, das von einem theologisch gebildeten und primär theologisch interessierten Bearbeiter ausgewertet wurde. Er zitiert und paraphrasiert die Beschreibungen seines naturkundigen Gewährsmanns, der als der Physiologus (der Naturkundige) bezeichnet wird und verbindet mit den so gewonnenen Informationen über die einzelnen Wesen jeweils allegorische Interpretationen. In zunächst knapp 50 Artikeln werden neben Tieren auch Fabelwesen, vereinzelt auch Pflanzen und Steine behandelt. Die Artikel folgen einem weitgehend einheitlichen Schema: An ein Bibelzitat, das sich auf das fragliche Wesen bezieht, schließen sich Informationen über dessen Aussehen und Beschaffenheit bzw. Verhalten an. Die folgende allegorische Deutung bezieht neuerlich Bibelzitate ein. Ab dem 5. Jahrhundert verbreitete sich der Physiologus als Naturkundebuch, vom  







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Kompendien über die Tierwelt distanzieren sich von mittelalterlich-allegorischen Darstellungsformen und verstehen sich als rein naturkundliche Informationen.136 Literarisch-künstlerisch gestaltete Bestiarien. Neuere literarische und künstlerisch gestaltete Bestiarien verhalten sich teils schon durch die Titelwahl, teils auch durch Anknüpfung an Konzeption und Aufbau von Bestiarien reflexiv zu ihren älteren Vorläufern, deren Ideen und Formen sie zitieren, dabei aber spezifischen Brechungen unterliegen.137 Literarische ‚Bestiarien‘ differenzieren sich in mehrere Textformen (wie Erzählsammlungen, Gedichtzyklen und Essays) aus und sind verschiedenen Schreibweisen verpflichtet, darunter humoristischen und satirischen. Satirische Bestiarien, in diversen Varianten verfasst, zielen teils auf Individuen, teils auf Berufsgruppen oder Charaktertypen (vgl. Blei 1924; Anonym 1976; Raddatz 2012). Ein für Bestiarien typisches Thema ergibt sich aus der Darstellung des Menschlichen im Kontext von Animalischem, zugespitzt zur Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier respektive zur Eingliederung des Menschen in die Tierwelt. Literarische Tierdarstellungen dienen unter verschiedenen Rahmenbedingungen der Reflexion über den Menschen, seine Kultur und seine natürlichen Dispositionen (Scheuer/Vedder 2015; Klinger/ Krass 2017). Satirische Bestiarien können den Akzent auf die Tierähnlichkeit oder Tierhaftigkeit von Menschen legen, wobei diese Tier-Analogien durchaus humoristisch gemeint sein können. Franz Blei hat mit seinem Bändchen Das große Bestiarium der Literatur (auch: Bestiarium literaricum, 1920/1924) eine Serie satirischer Porträts zeitgenössischer Schriftsteller vorgelegt. Andere Satiriker sind diesem Muster gefolgt, so der sich „Nonnescius nemo“ nennende, also anonyme Verfasser eines Physiologus alter, betitelt Bestiarium Philosophicum (1976). Mit karikaturistischen Illustrationen ver-

Griechischen ins Lateinische sowie in mehrere Volkssprachen übersetzt. Die lateinische Übersetzung ging mit Systematisierungsversuchen einher (vgl. Neumeyer 1997, S. 17). In Anknüpfung an den Physiologus (der bedingt durch Übersetzungen und Bearbeitungen in diversen Varianten vorlag) entstanden im weiteren Verlauf des Mittelalters diverse lateinische Lehrbücher zur Naturkunde, welche zugleich Wissensbestände aus anderen gelehrten Schriften naturkundlicher, enzyklopädischer und theologischer Art auswerteten. Auch volkssprachliche Bestarien beruhten auf dem Physiologus, so der versifizierte altfranzösische Bestiaire des Phillipe de Thaon, die ebenfalls versifizierten Bestiarien von Gervaise und von Guillaume le Clerc und die Prosaübertragung von Pierre de Beauvais. 136 Bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts setzt eine Ausdifferenzierung zwischen naturkundlichem Wissen und allegorischer Weltdeutung ein. Später wird das allegorische Wissen des Mittelalters abgelöst durch einen aristotelisch fundierten, empiriebezogenen Wissensbegriff. Bestiarien entstehen auch weiterhin, allerdings unter entsprechend verschobenen epistemischen Vorzeichen. Verfasser wie Brunetto Latini (Le livre des animaux) und Richard de Fournival (Le bestiare d’amour) sichten das überlieferte Wissen kritisch und distanzieren sich von einer Deutung der Naturerscheinungen als Zeichen Gottes. Die tierkundlichen Bücher werden insgesamt enttheologisiert (vgl. Albert 1997, S. 91), ihre Inhalte gehen aber in das Vorstellungsrepertoire der Emblematik ein, wo Tiere vielfach als Zeichen fungieren. 137 Gisela Febel und Georg Maag möchten nicht jede Sequenz von Tierdarstellungen als ‚Bestiarium‘ verstanden wissen, sondern nur solche, die in irgendeiner Weise an die Tradition des mittelalterlichen Bestiariums anknüpfen, und sei es spielerisch bzw. parodistisch. Vgl. Febel/Maag 1997, S. 7–14.  







B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

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sehen, wird hier eine Serie satirischer Philosophenporträts zusammengestellt. Einer analogen Idee verpflichtet ist Fritz J. Raddatz’ (unbebildertes) Bestiarium der deutschen Literatur (2012). Finden sich in den historisch frühen Bestiarien neben alltagsweltlich vertrauten Tieren auch exotische Tiere und fabelhafte Wesen porträtiert, so ist das Format des Bestiariums auch in seinen spätzeitlich-reflektierten Varianten besonders dazu disponiert, Fremdes, Unbekanntes, Sagenhaftes, Phantastisches darzustellen. Daher wird das Bestiarium in der Literatur und Kunst der Moderne unter anderem zu einer Darstellungsform des Imaginären, zum Medium der Dokumentation und der Stimulation kreativer Phantasie (vgl. Benni/Cuniberti 1984). In Bilderbüchern für Kinder und Erwachsene entfalten sich vielfältige Sammlungen von erfundenen Wesen, so etwa in Stefano Bennis (Text) und Pirro Cunibertis (Bilder) Band I meravigliosi animali di Stranalandia (1984). Literarisch-fiktionale Arbeiten sind auch Kompendien von Tier- und Fabelwesen, die in Romanen (insbesondere der Fantasy-Literatur) vorkommen und diese analog zu den Gegenständen zoologischen Wissens behandeln (vgl. Scamander (=Rowling) 2001, S. 22). Kompendien, welche die semantischen Potenziale von Tierarten im Kontext verschiedener Wissensdiskurse und mit literarisch-künstlerischen Mitteln darstellen, sind Meta-Bestiarien. Sind sie bebildert, so ergänzen sie die Übersicht über diskursive Semantisierungen der Tiere und tierbezogene Denkfiguren um kollektiv wirksame visuelle Vorstellungsbilder (vgl. Bühler/Rieger 2006, unbebildert; Kassung/Mersmann/Rader 2012, bebildert).  

Borges’ Handbuch der phantastischen Zoologie. Eine Art Meta-Bestiarium (das im Folgenden viele Künstler und Schriftsteller inspiriert hat) bietet Jorge Luis Borges’ in Kooperation mit anderen entstandenes und in mehreren Varianten publiziertes Handbuch der phantastischen Wesen.138 Hier wird zwar der Duktus mittelalterlicher Bestiarien, etwa des Physiologus, imitiert, nicht zuletzt durch Inhaltsparaphrasen und Rekurse auf eine große Zahl einschlägiger Zitate, aber als Kompendium des 20. Jahrhunderts versteht sich das Manual doch nicht als Darstellung einer primären Wirklichkeit, sondern als Kompilation von historischen Vorstellungen über phantastische Wesen und deren Bedeutung. Auch wenn Borges und seine Mitarbeiter für das Handbuch nur Passagen aus alten Bestiarien und anderen Quellen kompiliert haben, ist ihr Buch als ein solches intertextuell montiertes Werk des 20. Jahrhunderts doch etwas kategorial Anderes als ein Bestiarium des alten Typus. Denn die gebotenen Beschreibungen von  



138 Borges, Jorge Luis/Guerrero, Margarita: Manual de zoología fantástica. México 1957; Borges, Jorge Luis/Guerrero, Margarita: El libro de los seres imaginarios. Ilustrado de Baldessari. Buenos Aires 1967; Borges, Jorge Luis/Guerrero, Margarita: The Book of Imaginary Beings. Revised, enlarged and translated by Norman Thomas di Giovanni in collaboration with the author. New York 1969 (Text- aber nicht seitenidentisch: Penguin-Ausgabe Harmondsworth 1974); Borges, Jorge Luis: Einhorn, Sphinx und Salamander. Das Buch der imaginären Wesen. Übers. von Ulla de Herrera, Edith Aron und Gisbert Haefs. Frankfurt a. M. 1993.  

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Tier- und Fabelwesen wirken nicht mehr zeitgemäß, sondern als absichtsvolle Sammlung historischer Zitate, und die Kompilation als solche lässt das Buch zum MetaBuch, zur Reminiszenz an einen historischen Buchtypus werden. Porträtiert werden nicht ‚Tiere‘, sondern Diskurse über und Vorstellungsbilder von Tieren – und zwar solche, die in Büchern (in Bestiarien) Profil angenommen haben. Dies hat sowohl buchbewusste literarische Autoren als auch Künstler (Buchillustratoren) dazu stimuliert, an Borges’ Kompendium der Tier-Vorstellungen anzuknüpfen. Francisco Toledo hat unter dem Titel Fantastic Zoology einen Bildband publiziert, der die in Borges’ Manual vorgestellten Wesen in Zeichnungen und Aquarellen porträtiert (Toledo 1999). Der Band kombiniert wie ein naturkundliches Lehrbuch jeweils ein bis zwei Bilder mit Auszügen aus dem Borgesianischen Manual-Artikel (in englischer Übersetzung von Norman Thomas di Giovanni).  

Literarisch-künstlerische Bestiarien. Künstler und Dichter greifen das Format des Bestiariums im 20. Jahrhundert wiederholt auf. Als Gemeinschaftsarbeit von Guillaume Apollinaire und Raoul Dufy erscheint 1911 der Band Le Bestiaire ou Cortège d’Orphée (Apollinaire 1911; vgl. dazu Simonis 2017, S. 32–55). Ein Kernmotiv moderner Rekurse auf das Format des Bestiariums ist wohl das (historische und ästhetische) Interesse an der Idee einer zeichenhaft verfassten Natur, die wie ein Text gelesen werden muss – und eventuell ebenso wie Texte mehrere Deutungen zulässt. Hieran lässt sich insbesondere mit illustrierten poetischen Bestiarien und mit vieldeutigen verbalen Tierdarstellungen anknüpfen (vgl. Celli 1990). Dieter Roths Bucharbeit Mundunculum (1975; vgl. Mœglin-Delcroix 2012, S. 33) weist ungewöhnliche Figurationen auf, deren Bildlegenden die vage Suggestion erzeugen, es könne sich um seltene Tierarten handeln. Werden faktuale naturkundliche Darstellungen unter den altertümlichen Titel „Bestiarium“ gestellt, so akzentuieren sie damit das Staunenswerte der (noch weitgehend unbekannten) Tierarten (vgl. Henderson 2012). Darstellungen erfundener Geschöpfe wirken vielfach humoristisch-verspielt. Leo Lionni hat seine Botanica parallela (1976) in einem illustrierten Lehrbuch dargestellt (vgl. Lionni 1976, dt. 1978). Hier finden sich, in Text und Bild dargestellt, phantastische Lebewesen porträtiert, teils ganze Arten, teils Individuen. Der Übergang zwischen pflanzlichen und tierischen Wesen erscheint dabei fließend; teils sind die dargestellten Wesen Hybridbildungen. Einzelne von ihnen entstammen tradierten kollektiven Phantasien, die meisten gehen auf Lionnis eigene Phantasie zurück.  







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Abb. B 11: Leo Lionni: Botanica parallela. Mailand 1976. S. 172f.  



Unter dem Titel Die Nixen von Estland führt ein älteres, von Enn Vetemaa verfasstes und von Kat Menschik nachträglich (2002) illustriertes Kompendium spielerisch-humoristisch in die Bestände estländischer Nixen ein, in deren Aussehen und Konstitution, in Arten und Unterarten, in Lebensformen, kulturelle Praktiken und Gebrauchsgegenstände.139

139 Die Nixen von Estland. Ein Bestimmungsbuch. Frei nach Enn Vetemaa bearbeitet und illustriert von Kat Menschik. Nach dem russischen Übersetzungsmanuskript ins Deutsche übertragen von Günter Jäniche. Mit 684 naturwissenschaftlichen, geographischen und najadologischen Abbildungen sowie sechzehn Farbtafeln. Frankfurt a. M. 2002.  

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Abb. B 12: Enn Vetemaa/Kat Menschik: Die Nixen von Estland. Ein Bestimmungsbuch, Frankfurt a. M.: Eichborn 2002 (Orig.: Eesti näkiliste välimääraja. Talinn: Eesti Ramaat 1983), S. 52–53.  





So phantastisch manche Artenkunde-Bücher wirken, so fließend ist doch manchmal der Übergang von szientifischer Darstellung zum Spiel mit Ideen und Vorstellungsbildern. Dougal Dixons Bilderbuch Geschöpfe der Zukunft. Die Tierwelt in 50 Millionen Jahren präsentiert sich, ausgehend von einer Darstellung der bisherigen Evolution der Arten in wechselnden Biotopen, als Antizipation der künftigen Evolutionsgeschichte (Dixon 1999). Dixon orientiert sich an den Bildprogrammen und Schreibweisen geläufiger Fach- und Unterrichtsbücher: Bildtafeln und Diagramme übernehmen neben dem erläuternden Text wichtige Informationsfunktionen. Unter dem Titel wesen1 (2007) dokumentiert Reiner Matysik seine Bildimaginationen künftiger postevolutionärer Lebewesen in computertechnisch generierten Bildern und stellt diese in einem kommentierten Katalog zusammen, verbunden mit Katalogeinträgen zu artenkundlichen Daten (Matysik 2007). Zum Bildprogramm dieser futuristischen Artenkunde gehören neben Einzeldarstellungen der imaginären künftigen (oder, als Produkte postevolutionären Designs: potenziellen) Wesen auch Schautafeln und Diagramme.

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Poetiken des Bestiariums in der Literatur. Der Buchtypus Bestiarium bietet auf verschiedenen Ebenen und unter verschiedenen Akzentuierungen wichtige Anschlussmöglichkeiten für literarische Texte und die Entfaltung ihrer Themen. So sind Bestiarien oder an Bestiarien erinnernde Texte ein besonders naheliegender Anlass zur Reflexion über und zum Spiel mit Ordnungssystemen des Wissens. Aus einer Perspektive, die solche Ordnungssysteme als historisch und kontingent begreift und ihren Setzungscharakter hervorhebt, lassen sich Bestiarienformate etwa parodieren, um den Konstruktcharakter artenkundlicher Ordnungssysteme deutlich zu machen. Borges’ erwähntes Handbuch der phantastischen Zoologie (s. o.) bietet dafür ein prototypisches Beispiel. Gerade indem Borges den Duktus des mittelalterlichen Naturkundebuchs auf der Basis weitläufiger Textlektüren imitiert, parodiert sein Handbuch den Ordnungsanspruch tradierter Bestiarien. Moderne Theorien zur Geschichtlichkeit der natürlichen Arten haben der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Naturkunde ebenso den Boden entzogen wie noch älteren Ansätzen einer symbolisch-allegorischen Ausdeutung der verschiedenen Tierarten.  

Fiktionales und Faktuales. Die zitathaft-‚historistische‘ Nutzung des Bestiarienformats zielt aber nicht allein auf eine Reflexion über die Geschichtlichkeit und den diskursiven Setzungscharakter jeder Systematik der natürlichen Arten, sondern zugleich oft auch (und wiederum ist Borges’ Handbuch der Zoologie prototypisch dafür) auf die Unterscheidung zwischen realen und imaginären Wesen – und damit auf die poetologisch zentrale Frage nach Fiktionalem und Nichtfiktionalem. Literarische Bestiarien, welche unter die Porträts bekannter und als faktual akzeptierter Tierarten auch solche mischen, die sich der kollektiven oder individuellen Imagination verdanken, unterlaufen die Differenzierung zwischen Fiktionalem und Faktualem – und verdeutlichen oft die Geschichtlichkeit und Kulturspezifik entsprechender Differenzierungsversuche. Eine produktive Verunsicherung geht von Kompendien wie Caspar Hendersons The Book of Barely Imagined Beigns. A 21st Century Bestiary (2012) aus, in dem faktuale Porträts natürlicher Tierarten sich wegen deren Seltsamkeit und Exotik wie eine Serie phantastischer Tierporträts ausnehmen. Komplementär dazu bietet Enn Vetemaas und Kat Menschiks Bestimmungsbuch der Nixen von Estland eindeutig ‚tierkundliche‘ Informationen über fiktionale Wesen. Allerdings ist der Band als parodistisch-verfremdende Darstellung von Phänomenen und Verhaltensweisen in der Menschenwelt, also als verschlüsselte Satire, lesbar, die letztlich auf Faktisches zielt – auf reale Frauen und ihre Lebensgewohnheiten.  





Tier-Zeichen und ihre Interpretationen. Literarische Anknüpfungen an die Bedeutungsstrukturen, die für mittelalterliche und frühneuzeitliche Tierkundebücher prägend sind – an Symboliken, an emblematische Strukturen, an Modi der Verknüpfung beschriebener (und oft bildlich dargestellter) Phänomene mit Bedeutungen, an ihre Interpretation als komplexe ‚Zeichen‘ – stehen in der Moderne per se im Zeichen historisch-diskursiver Brechung. So lässt sich vor dem Hintergrund moderner Wissens 



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diskurse ein ‚Bestiarium‘ wie das von Apollinaire und Dufy nicht mehr wie ein mittelalterliches Naturkundebuch lesen. Wichtige Hinweise darauf, dass dies sowohl dem Dichter Apollinaire als auch dem Künstler Dufy auch bewusst war, bieten die Gestaltungen der Texte und Bilder. In Apollinaires Gedichten sind die einzelnen Tiere selbst oft ein Anlass zu ausgeprägt subjektiven Reflexionen, Wünschen und Imaginationen, zum Selbstvergleich eines lyrischen Ichs mit dem Tier, zur Thematisierung eigener Wünsche, Eigenschaften, Stärken und Schwächen. Die Holzschnitte Dufys zeigen die Tiere jeweils gerahmt – und allein dadurch schon ‚interpretiert‘ durch die Motive und Konfigurationen der Rahmen.  

Text-Bild-Ensembles. Sowohl dezidiert buchkünstlerische Werke wie das Buch Apollinaires und Dufys als auch satirische Bestiarien wie das pseudonym publizierte Bestiarium Philosophicum (1976) oder literarisch-parodistische Kompendien wie Vetemaas und Menschiks Nixen-Bestimmungsbuch bieten über ihre (mehr oder weniger ausgeprägte) Beziehung zu historischen Zeichenkonzepten und Hermeneutiken hinaus insgesamt willkommene und facettenreich nutzbare Anlässe zur Kombination von Texten und Bildern. Hier wiederum gilt es zu differenzieren – etwa zwischen (a) ‚Bestiarien‘ und Tierkundebüchern, die als bebilderte Neuausgaben bereits existierender Texte entstehen, (b) Büchern, bei denen fiktionale Texte mit vorliegendem Bildmaterial kombiniert und ‚illustriert‘ werden, und (c) Büchern, bei denen Texte und Bilder parallel im Rahmen eines einzigen Buchprojekts entstehen, sei es durch einen einzigen Urheber, sei es in Kooperation.  

Tierkundliches im Kinderbuch. Im Bereich der Kinderbuchliteratur, insbesondere der bebilderten Bücher für Kinder, ist das Tierkunde-Buch ein besonders attraktives und vielgestaltiges Format. Mit den älteren Naturkundebüchern verbunden zeigen neuere Kinderbücher oft (allerdings nicht grundsätzlich) einen informativen, belehrenden Grundgestus: Mit der Darstellung der vertrauten oder exotischen Tiere sollen auch Informationen verbunden, Wissensgehalte vermittelt werden. Der Übergang zwischen der Vermittlung kodifizierten Wissens und phantasievollen Zutaten ist allerdings gerade hier fließend. Gelegentlich reduziert sich, zusammen mit dem Text, der ‚faktuale‘ Informationsgehalt auf ein Minimum, wie etwa in Bruno Munaris Kinderbuch Bruno Munari’s Zoo (zuerst 1963, später 2005). (Diskurs-)Historische Kompendien des ‚Tierwissens‘. Einen Bestiarientypus eigener Art repräsentieren solche Kompendien, die historisches und kulturspezifisches Tierwissen sowie mit Tieren verknüpfte Topoi, Theorien und Diskurse darstellen. Hier geht es nicht darum, Wissen über die Tiere selbst und ihre Ordnungen zu vermitteln, sondern die Historizität und Vermitteltheit dieses Wissens deutlich zu machen. Hierzu können auch reproduzierte Illustrationen beitragen, welche bestimmte Stadien und Spielformen der Tier-Imagologie, aber auch die unterschiedlichen Bildprogramme und Bilderzeugungstechniken zugleich mit ihren Gegenständen zur Darstellung brin-

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gen. Christian Kassung, Jasmin Mersmann und Olaf B. Rader präsentieren in Zoologicon. Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere (2012) Kapitel aus der Diskursgeschichte des Tier-Wissens; Caspar Henderson macht mit The Book of Barely Imagined Beigns. A 21th Century Bestiary (2012) unter anderem deutlich, dass die bloße Wahrnehmung bestimmter Wesen schon diskursiven und medientechnischen Vorbedingungen unterliegt. Benjamin Bühler und Stefan Rieger fassen in Vom Übertier: Ein Bestiarium des Wissens (2006) Denkfiguren zusammen, die sich an bestimmte Tierbilder knüpfen. Monster-Bücher. Einen spezifischen thematischen Reiz hat das Format des Bestiariums in literarischen Kontexten deshalb, weil es zur Darstellung von Hybridem und Monströsem Anlass gibt. Monster im Sinne hybrider oder von der Norm abweichender Wesen beschäftigen die literarische Imagination von der Antike bis zur Gegenwart, sei es anlässlich einzelner ‚monströser‘ Wesen, sei es anlässlich kulturell kodierter Monster-Klassen (wie etwa Werwölfen, Nixen, Vampiren etc.). Die Literatur der Moderne arbeitet mit historischen und kulturspezifischen, aber auch mit gegenwärtigen und kulturübergreifenden Monsterkonzepten, nimmt Bezug auf Monsterdiskurse, profitiert von deren Semantisierungen der ‚Monster‘, rückt aber auch auf reflexive Distanz. ‚Bestiarien‘ sind ein Rahmen, in dem ‚Monster‘ arrangiert und präsentiert werden können, schriftlich, bildlich oder in kombiniert-medialer Form. Das Spektrum reicht hier von scherzhaft-verspielten Kollektionen vertraut anmutender Monster bis zu dekonstruktiver Kritik an den diskursiven Grenzziehungen und Bewertungen, welche mit Monster-Vorstellungen meist verbunden sind. Vor dem Hintergrund moderner naturkundlicher Wissensgeschichte, insbesondere des Evolutionismus, erscheinen Mischund Übergangsformen zwischen Tierischem und Menschlichem nicht zuletzt als Anlass, nach der Identifizierbarkeit des Menschlichen, nach seiner Abgrenzbarkeit zum Animalischen zu fragen. Reminiszenzen ans Format des ‚Bestiariums‘ verknüpfen sich aber auch jenseits artenkundlich-evolutionistischer Diskurse und Fragen vielfach mit Schreibintentionen, die darauf zielen, den Menschen und Spielformen menschlichen Verhaltens zu porträtieren. Dies gilt etwa für Javier Tomeos Erzähltext Zwanzig Tiere, dessen einzelne Abschnitte jeweils Anlässe zur Beobachtung von und Reflexion über Menschliches bieten (Tomeo 1988, S. 51–71), oder auch für den ‚bestiarischen‘ Teil in Federigo Tozzis Tiere, Dinge, Menschen (Tozzi 1997). Auch Giorgio Cellis Bestiario postmoderno (1990) zielt nicht auf Tierkundliches, sondern auf die Gegenwartskultur und ihre Gestalter. Buchgestalterische Mittel wie räumliche Textverteilung, Textstrukturierung, Typografie und ggf. Bebilderung haben an dieser modifizierenden Konzeptualisierung des modernen und postmodernen Bestiariums oft tragenden Anteil. MSE  

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B 2.3 Der Atlas und seine Nutzung als buchkünstlerisches Medium Begriff und Bedeutung. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bezeichnet ‚Atlas‘ eine buchförmige Sammlung von Land- und Himmelskarten. Darüber hinaus findet der Begriff jedoch auch Anwendung auf Werke, die anhand von Schautafeln, Kartogrammen, Diagrammen, Piktogrammen und Texten einen Überblick über ein anderes Themengebiet geben; so gibt es etwa Atlanten zur Anatomie des menschlichen Körpers, zur Geschichte der Philosophie, zu Daten der Weltgeschichte, zur Phonetik, Biologie und anderen Wissensdisziplinen. Je nach Thematik erweisen sich eine chronologische Gliederung oder eine nach Stichpunkten als sinnvoll, meist bieten Atlanten jedoch eine Mischung aus beidem. Ihre Gliederung und Struktur sollen die Orientierung über ein weitgefasstes Thema in seiner vollen Komplexität ermöglichen. Deshalb werden die textlichen Informationen in der Regel knapp gehalten, durch grafische Darstellungen jedoch verdichtet, ergänzt und zusammengefasst. Da die grafischen Darstellungen keinen festen Vorgaben oder gar einer Vereinheitlichung unterliegen, interagieren Symbole, ikonische und indexikalische Zeichen miteinander; ihre Bedeutung wird in Bildlegenden festgelegt. Die verwendeten Zeichen sind nicht mimetisch, müssen aber dennoch die Gegebenheiten abbilden und das jeweilige Wissensfeld im Raum des Buches verfügbar machen. Die abstrahierenden Darstellungen auf Karten und Schautafeln fassen nicht nur viele komplexe Informationen in reduzierter Form auf überschaubare Weise zusammen, sondern übertragen auch das ihnen zugrundeliegende Konzept von Natur oder Geschichte in eine handhabbare Form. Der Atlas repräsentiert in seiner Gesamtheit Modelle der Raum- und Wissensorganisation. Daran bindet sich die Tendenz der Ausschnitthaftigkeit im Überblick, die stets durch die Spezifik der Fokuslegung impliziert ist. Entsprechend beschränken sich die Aufgaben des Atlas nicht auf die Darstellung des geografischen Raums, sondern betreffen auch Räume im übertragenen Sinne, Räume des Wissens und der Imagination. So können die in Atlanten zusammengefassten Karten auch auf Vorstellungen Bezug nehmen, imaginäre Räume und Territorien abbilden, etwa solche, wie sie Literatur und Kunst hervorbringen. In jedem Fall geht es darum, einen Überblick über ein Gebiet zu vermitteln, das nicht unmittelbar vor Augen liegt. Manche Atlanten sind auch Ausdruck eines individuellen Weltbildes. Die Bezeichnung umfassender Überblickswerke als ‚Atlanten‘ geht zurück auf einen Titanen der griechischen Mythologie namens Atlas, der manchmal als Personifikation der Weltachse, manchmal auch als Astronom und König von Atlantis vorgestellt wird.140 In Kupfer gestochen schmückt eine Abbildung des die Weltkugel vermessenden Atlas das Titelblatt einer um 1594 von Gerhard Mercator erstellten Kosmografie. Unter dem Titel Atlas, sive Cosmographicae Meditationes de Fabrica Mundi et fabricati  

140 Zur Sage vgl. Wissowa 1894ff., II, Sp. 2127 und 2129; zum mauretanischen König vgl. Diodorus Siculus: Διόδωρου τοῦ Σικελιώτου Βιβλιοθήκη Ἱστορική, Buch 3, 60 und Buch 4, 27.  

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figura (dt.: Atlas oder kosmografische Meditationen über die Schöpfung der Welt und die Form der Schöpfung) fasste Mercator seine Schriften über die Schöpfung der Welt und die Herstellung von Büchern (Mundi Creatione et Fabrica Liber) zusammen, ergänzt um eine Sammlung geografischer Karten der damals bekannten Weltgegenden. Diese Kartensammlung verselbstständigte sich in späteren Auflagen zum eigenständigen Buchtypus.141 Der prototypische Atlas Mercators zielt als Landkartensammlung auf einen möglichst umfassenden Überblick über die Geografie der Erde. In Form einiger astronomischer Karten finden sich auch Teile des Weltalls berücksichtigt. Atlas, zum einen Träger des Weltgebäudes, zum anderen eine mythologische Figur, die über komplexes Wissen verfügt, gibt seinen Namen solchen Büchern, die beanspruchen, Träger eines solchen Wissens zu sein. Ein solches Anliegen verfolgten auch schon Mercators Atlas vorangegangene, konzeptuell ähnliche Publikationen. 1570 erschien in Antwerpen mit dem Theatrum Orbis Terrarum von Abraham Ortelius ein Werk, für das eigens 70 einheitliche Karten gefertigt worden waren. Es ersetzte die bis dahin geläufige Kompilation von Karten in unterschiedlichen Formaten, die häufig auch auf unterschiedliche Materialien gedruckt waren. Ihm folgte 1587 mit dem Speculum Orbis Terrarum ein vergleichbares, lediglich im Umfang erweitertes Werk. Beide Bücher, komplexe Wissensvermittlung und Abbildungen des geografischen Raums verbindend, gingen einer im 17. Jahrhundert gesteigerten Produktion von Atlanten voraus. Maßgeblich dafür waren nicht nur die wachsenden Kenntnisse zur Erdgeografie, sondern ebenso die Entwicklung und Professionalisierung der Kartografie. 1662 hatte der Atlas Maior des Janszoon Blaeu, der aus dem 1635 erschienenen Theatrum orbis terrarum, sive Atlas novus hervorgegangen war, einen Umfang von elf Bänden mit Landkarten und einem weiteren Band mit Seekarten erreicht. Dieser Atlas galt als das umfangreichste und teuerste Buch des 17. Jahrhunderts. Die nicht nur teuren, sondern auch großformatigen Bände entsprachen repräsentativen Ansprüchen und waren deshalb als Staatsgeschenke beliebt. Das große Format demonstrierte Macht, doch mehr noch als durch Format und hohen materiellen Wert drückte sich der Machtanspruch im hier materiell dokumentierten Wissen um die geografische Beschaffenheit der Länder und Erdteile aus. Im 19. Jahrhundert kam schließlich mit sogenannten Handatlanten eine einfachere Form in Gebrauch. Die Karten waren weniger mit Zierrat, Schmuckleisten und Kartuschen versehen als ihre Vorläufer, zudem durch eine gemeinsame Ausrichtung nach Norden vereinheitlicht und damit leichter verständlich. Auch die topografische Darstellungsform wurde präzisiert, die Zeichen wurden grafisch konkretisiert und formalisiert; so ersetzte man etwa die für die kartografische Darstellung von Gebirgsketten  





141 In seiner Einleitung zur Kosmografie wie auch auf einer eigens beigefügten Stammtafel führt Mercator den bei Diodorus erwähnten König und Kenner der Gestirne, Atlas von Mauretanien, als Stammvater des Titanen an. Auf dem Titelkupfer der von Mercators Sohn 1595 publizierten Ausgabe der Kosmografie ist Atlas in der Pose eines creator mundi, eines Schöpfergottes wiedergegeben. Zu seinen Füßen ruht die Weltkugel, während er mit den Händen den Himmelsglobus vermisst.

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gebräuchlichen ‚Maulwurfshügel‘ durch Bergschraffen, die den Verlauf von Graten und Bergkämmen wiedergeben.142 Fortschritte in der topografischen Vermessungspraxis trugen zur inhaltlichen Verbesserung der Karten bei, neue Druck- und Herstellungsverfahren beförderten höhere Auflagen und entsprechend die Verbreitung von Atlanten für den allgemeinen Gebrauch. Insgesamt entsprach die Forderung nach methodisch-konzeptioneller Geschlossenheit und Präzision dem allgemeinen Wissensfortschritt, insbesondere der zunehmenden Kenntnisse über die Erde. Die Themen-, Strukturierungs- und Gestaltungsvielfalt von Atlanten bedingt, dass diese als Buchtypus auch für die buchkünstlerische Aneignung ein breites Feld an Möglichkeiten bieten. Indem der jeweilige Künstler sich der Form und Konzeption des Atlas auf spezifische Weise nähert und die aus seiner Sicht relevanten Eigenschaften reflektiert, werden Eigenarten und Handhabungsweisen des Buchtypus hervorgekehrt, modifiziert oder neu ausgelegt. Als besondere Merkmale des Atlas erkundet werden das Format, die Vielfalt der Zeichen-, Bild- und Projektionsformen, die technischen Verfahren der Reproduktion sowie der Anspruch, ein Themenfeld möglichst umfassend abzubilden, wie er auch durch das oft überdurchschnittlich große Format signalisiert wird. Oft wird das Format von Atlanten durch ausfaltbare Tafeln verdoppelt oder verdreifacht. Ebenso können einzelne ausklappbare Teile Einblicke in weitere Darstellungsschichten bieten. Zu denken ist nicht nur an den ‚homo anatomicus‘ in anatomischen Werken, sondern auch an die Überlagerung von Zeitschichten innerhalb geografischer Felder. In die Auseinandersetzung mit dem Atlas eingebunden sind Überlegungen zur Vermessung des geografischen Raumes und seiner maßstabsgetreuen Wiedergabe wie auch zur Frage, was in welcher Weise wiedergegeben wird. In der Art und Weise, wie damit die Geografie selbst als Wissensdiskurs abgebildet wird, liegt zugleich auch eine Bewertung; die Verknüpfung des Raumes und seiner visuellen Repräsentation kann zum Abbild geopolitischer Machtstrukturen werden (Schneider 2004). So kann sich eine eurozentristische Sicht innerhalb von Weltatlanten darin widerspiegeln, dass die europäischen Länder am Anfang des Atlas stehen. Neben Fragen der Gestaltung sind auch solche zum Einfluss von Auftrag- und Geldgebern einer Produktion signifikante Gegenstände künstlerischer Reflexion. Künstlerisch anregend kann auch die mit dem Atlas verknüpfte Metaphorik wirken, etwa die Vorstellung, der Atlas biete ein ‚Abbild der Welt‘ oder fasse ‚die Welt zwischen zwei Buchdeckel‘. Konzentriert sich der Atlas im engeren Sinne auf die Wiedergabe geografischer Räume, ihrer Bodenbeschaffenheiten, klimatischer Einflüsse und demografischer Strukturen, so enthalten andere Atlanten Bilder- und Materialsammlungen. Ein Beispiel sind die zwischen 1923 und 1929 von dem Kunstwissenschaftler Aby Warburg

142 Das Zeichnen von Karten etablierte sich als eigene Disziplin, zu der Anleitungen und Handbücher vorlagen (vgl. Ruete ca. 1817, S. 12).  

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zusammengetragenen Illustrationen, Zeitungsausschnitte und Fotografien von Kunstwerken der Welt, anhand derer Warburg die Entwicklung von Bildmotiven von der Antike bis in die Gegenwart sinnfällig machen wollte. Die rund 1000 Einzelstücke beinhaltende, auf 63 Tafeln zusammengefasste Sammlung wurde 1993, mehr als 60 Jahre nach dem Tode Warburgs, unter dem Titel Der Bilderatlas Mnemosyne veröffentlicht (Warburg 2000). Neben Bildwerken erfasste Warburg auch Kulturgegenstände wie Teppiche, Vasen, Kultfiguren – bis hin zu Reklametafeln. Mit seiner Vorstellung, „eine komplexe Geschichte anhand von Bildern zu erzählen“ (Gombrich 1992, S. 377) und in der Form eines Atlas zu veranschaulichen, folgte er Adolf Bastian, der seiner Abhandlung über Die Welt in ihren Spiegelungen unter dem Wandel des Völkergedankens (1887) einen Atlas mit ethnologischem Bildmaterial beigefügt hatte. Auch wenn Warburgs Atlas zu seinen Lebzeiten noch nicht in gebundener Form vorlag, war er doch geordnet. Die drei als Einleitung bestimmten Tafeln hatte Warburg mit Buchstaben versehen, im Weiteren schließt sich eine chronologische Ordnung mit Nummerierung an (zu Warburgs Mnemosyne-Projekt vgl. Warburg 2001, insbes. Juli/August 1979; vgl. Warburg 1979).  



Der Atlas als offene Struktur. Atlanten präsentieren das in ihnen zusammengefasste Wissen nicht unbedingt in gebundener Form. So waren auch die 13 handgezeichneten und 35 gedruckten Karten des Blathwayt Atlas von 1683 nicht gebunden, um jederzeit durch weitere Karten ergänzt werden zu können.143 Auch für Aby Warburg behaupteten sich die Bildtafeln, die den Grundstein des Atlas liefern sollten, im praktischen Gebrauch gerade durch ihre lose Form, die es ermöglichte, das Material immer wieder anders zu kombinieren und so neu erkannte Zusammenhänge zu veranschaulichen. Dieser lockeren Ordnung ist der 1932 in Dresden geborene Künstler Gerhard Richter gefolgt, als er 1972 seine Bildersammlung unter dem Titel Atlas erstmals ausstellte. Auch er beließ, um seinen Atlas ständig ergänzen zu können, dessen Form lange flexibel; eine Publikation in Buchform erfolgte erst 2015 (Richter 2015). Mit so unterschiedlichen Bild- und Materialtypen wie Fotografien, Zeitungsauschnitten, Skizzen, Studien und Reproduktionen der eigenen Malerei nimmt Richters Atlas eine ebenso heterogene Sammlung auf wie Warburgs Konvolut. Nach den Worten des Künstlers handelte es sich um Material, das „zwischen Kunst und Müll lag“, ihm wichtig erschien und vor der Vernichtung bewahrt werden sollte (Interview mit Dieter Schwarz von 1999 in Elger 2008, S. 344). Mit der Anordnung der einzelnen Bilder auf Bildtafeln begann der Künstler 1972. Dabei wurden die Bilder nicht nach Themen geordnet, sondern ihre Zusammenstellung entsprach dem Verlauf der Sammeltätigkeit. Dabei ergeben sich innerhalb der heterogenen Abfolge immer wieder Gruppen, die verschiedene Werkphasen widerspiegeln. In der Publikation werden die Zusammenstellungen nicht  

143 So benannt nach dem englischen Verwaltungsbeamten William Blathwayt, aus dessen Besitz der Atlas zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Versteigerung kam (vgl. Schneider 2004, S. 18f.; Black 1968).  



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unter dem Titel ‚Tafel‘ geführt, sondern als ‚Blatt‘ bezeichnet, wodurch ihre Einbindung in den festen Korpus eines Buches unterstrichen wird, obwohl Richters Atlas ebenso wie der Warburgs seinen Anfang mit losen Bildtafeln nahm. Manche der Blätter tragen Bezeichnungen, die auf den Bildtypus oder Fundort hinweisen wie Albumfotos (Blatt 1–4), Zeitungsfotos (Blatt 7–12), Fotos aus Büchern (Blatt 16–20), Fotos aus Magazinen (Blatt 21–23); andere wie Für 48 Porträts (Blatt 30–41) oder Toyoshima-Projekt (Blatt 784–791) verweisen auf weitere künstlerische Vorhaben, wieder andere erwähnen Einzelpersonen wie Heinz Kühn (Blatt 44–45), Volker Bradke (Blatt 24–26), Ella (Blatt 803) oder Theodor (Blatt 804). Ganze Abfolgen stehen unter Ortsbezeichnungen, so Sils Maria (Blatt 769–783), Juist (Blatt 797–798) oder Teneriffa (Blatt 801– 802). Aus wieder anderen Blattbeschriftungen lassen sich künstlerische Arbeitsweisen Richters ablesen. Dies gilt für die Abteilungen Doppelbelichtung (Blatt 58–61), Ausschnittfotos von Farbexperimenten (Blatt 89–90) und Farbproben (Blatt 92–105), letzte wiederum untergliedert nach Raumskizzen oder Entwürfe für BMW. In ihrem Arrangement zusammen mit den Blattbezeichnungen ergeben die Bilder eine Art Werkbiografie, aus der sich Techniken, Motivgruppen und Praktiken des Künstlers ebenso ablesen lassen wie die Übergänge von jeweils einer Werkphase zur nächsten. Der bis zum Zeitpunkt seiner Publikation bis auf 783 Tafeln angewachsene Atlas Richters ist zwar in der aktuell vorliegenden vierbändigen Form für den Augenblick beendet, von seiner Anlage her aber ein work in progress, das erst mit dem Tode des Künstlers zu einem definitiven Abschluss kommen wird. Als fortlaufendes Werk dokumentiert der Atlas eine Sammeltätigkeit, die die Werkgenese vorantreibt. So belegt der Atlas den Arbeitsprozess, dient dem Künstler als Archiv und versteht sich zugleich als eigenständiges Werk, das, obwohl beständig ergänzt und revidiert, zum Zeitpunkt seines jeweiligen Ausstellens als vorläufig abgeschlossen gilt. Prototypische kartografische Atlanten. Neben dem breiten Spektrum an Themen, die ein Atlas repräsentieren kann, bestehen vielfältige Nutzungsoptionen von Zeichen und Strukturen zur Visualisierung der jeweiligen Inhalte. Zeichen und Farben werden in einer Generallegende zusammengefasst, Orte, Verkehrsnetze, Wasserverläufe, Höhenunterschiede und landschaftliche Gegebenheiten durch entsprechende Symbole und Farbgebung gekennzeichnet. Die Symbole sind nach Gruppen geordnet und innerhalb der Gruppen so angeordnet, dass der Rezipient den Varietäten des einzelnen Zeichens weitere Informationen entnehmen kann; so kann etwa aus Durchmesser und Füllung eines Kreises auf die Besiedlungsdichte oder die Größe einer Ortschaft und aus der formalen Ausführung von Linienstrukturen auf die Beschaffenheit von Verkehrswegen und Wasserverläufen geschlossen werden. Erfasst sind ebenso Abkürzungen und Zeichen, die typischerweise kartografische Darstellungen begleiten. Doch das konventionelle Zeichenrepertoire verändert seine Bedeutung, sobald Karten in einem literarischen oder künstlerischen Kontext erscheinen. Das Zeichenrepertoire wird dann zwar gelegentlich weiterhin genutzt, aber mit Bedeutungen belegt, die nur für das jeweilige Werk relevant sind. Auch wenn die künstlerische Aus-

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führung Anhaltspunkte liefert, obliegt die Ausdeutung der Zeichen zu Teilen dem Rezipienten. So nutzt Peter Malutzki das Konzept des Atlas, um zu zeigen, wie sich die vertraute Leseweise geografischer Karten in fiktionalem Zusammenhang verlieren kann. Unter Anspielung auf eine Erzählung von Jorge Luis Borges demonstriert er, dass geografische Schemata keineswegs immer als Darstellung geografischer Gegebenheiten gelesen werden müssen. Malutzkis Atlas ist Teil eines 50 Bände umfassenden Buchprojektes, das auf die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis tertius sowie auf die dort entfaltete Idee der enzyklopädischen Erfassung einer imaginären Welt anspielt: der Zweiten Enzyklopädie von Tlön (vgl. Schmitz-Emans/Fischer/Schulz 2011). Borges thematisiert die Unsicherheit von Wissen, einschließlich des Wissens über Zeit und Raum. Auf eben diesen Aspekt reagiert Malutzki mit seiner Kartografie, die zwar vertraute Zeichen und Strukturen einer Karte aufweist, dabei aber keine bestimmte Region abbildet. Die gegebene Struktur zeigt sich vielmehr als Bild, das auf eine allgemeine Weise veranschaulicht, wie Kartografie beschaffen sein kann. In den Band Atlas aufgenommen wurde Borges’ Text Von der Strenge der Wissenschaft. Und ein an den Anfang des Bandes gestellter Text von Günter Eich liefert gleichsam eine Erläuterung zur Konzeption.144 Die von Malutzki und Ines von Ketelhodt zitierten literarischen Texte weisen darauf hin, dass nicht allein das naturwissenschaftlich Belegte die Wahrnehmung bestimmt; sogar eine scheinbar absurde Kartografie kann sinnvoll erscheinen. Malutzkis Atlas enthält eine vom Linolschnitt gedruckte Landkarte, die über alle 56 Seiten hin repetiert wird, dabei aber unterschiedliche Einfärbungen zeigt, die kartenüblichen Farbstrukturen nicht entsprechen. Stattdessen formieren sich die Farbflächen zu eigentümlichen Gestalten, Köpfen und Gesichtern. Diesen vom Kartenschema gelösten Formen stehen geografische Begriffe gegenüber, die auf jeder Seite typografisch hervorgehoben sind und sich durch das Buch ziehen. Sie finden sich in einer Legende am Anfang des Bandes wieder. Zwischen den Begriffen und der gestalterischen Ausführung der Karten besteht kein erkennbarer Zusammenhang. Was also auf den ersten Blick wie ein komplettes topografisches System erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Simulation einer Geografie. Eichs Äußerung: „Alle Bilder haben Teil an der Wirklichkeit“ kann als Kommentar dazu gelesen werden (Eich, zit. in Ketelhodt/ Malutzki 1997–2006, Band: Atlas, Vorsatzpapier). Die am Schluss des Bandes gebotene Bibliografie bekräftigt das Interesse an Konzepten der Konstitution und Vermessung von Wirklichkeit. Alle von Malutzki genannten Texte verbindet die Auseinandersetzung mit geografischen Karten und Techniken der Vermessung. Zugleich dient der Atlas hier der Veranschaulichung einer literarischen Fiktion, in der ein Universum be-

144 „Alle Bilder haben Teil an der Wirklichkeit, ich rührte an die Stille der Kontinente. Viele Hände bewegen das Ferne, auch uns, auch in diesem Augenblick. Und unter allen ist das Rieseln des Sandes hörbar, der Ton, wenn das Korn zwischen den Rippen sinkt“ (Eich 1991 zit. in Ketelhodt/Malutzki 1997– 2006, Band: Atlas, Vorsatzpapier).

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schrieben wird, das eigenen Gesetzen von Raum und Zeit unterliegt (de Toro 2011, S. 59).  

Abb. B 13: Peter Malutzki: Band „Atlas“, aus: Ines von Ketelhodt/Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön. Flörsheim 1997–2006.  

In Mapamundi, einem weiteren Band der Zweiten Enzyklopädie von Tlön, akzentuiert Malutzki nochmals den Widerspruch, der sich aus dem vermeintlichen Anspruch von Allgemeingültigkeit kartografischer Strukturen und individueller Weltsicht ergibt. Landschafts- und Städteansichten sind hier überlagert von Bildausschnitten, die wie im Fadenkreuz optischer Geräte gefangen scheinen; der unbefangene Blick und die technische Vermessung stehen einander gegenüber. Ein weiterer Abbildungsmodus tritt mit Rastern, Diagrammen, Auf- und Grundrissen hinzu, die bisweilen über die Bildmotive gedruckt sind. Verwendet werden Ortsnamen, die auf die imaginäre Topografie von Tlön verweisen, darüber hinaus aber auch – wie etwa ein Streckenplan des Verkehrsnetzes in der Rhein-Main-Region verdeutlicht – auf das nähere geografische Umfeld des Künstlers. Die heterogene Zusammenstellung verschiedener Bildtypen führt nicht nur verschiedene Realitätsebenen zusammen, sondern ruft auch Abbildungspraktiken in Erinnerung, wie sie sich in den alten ‚mappae mundi‘ finden. Diese verfügen noch nicht über eine einheitliche Systematik; in die geografische Flächen umreißenden Konturen sind oft kleine Abbildungen eingefügt. Mehr als eine ‚Karte der Welt‘, bieten sie eine ‚Weltsicht‘. Ähnlich liefert Mapamundi auch kein auf Objektivität zielendes geografisches ‚Abbild der Welt‘, sondern eine aus individuell ausgewählten Postkartenmotiven und Erinnerungen gefügte Weltsicht.  



Der Atlas als Machtinstrument. Das Kartenmaterial der niederländischen OstindienKompanie galt als geheim und wurde von der Handelsgesellschaft sorgfältig gehütet. Nicht einmal der Kartograf und Verleger Willem Janszoon Blaeu, selbst Mitglied der

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Kompanie, durfte die Karten für seine verlegerische Arbeit verwenden (vgl. Goffart 2003). Die im Atlas dokumentierten geografischen Kenntnisse wurden zur Entdeckung neuer Gegenden, zur Eroberung und Kolonisierung genutzt.145 Auf den Zusammenhang von Macht und Raum haben wiederholt die Surrealisten mit verschiedenen Kartenkonzeptionen hingewiesen.146 Fokussiert wird dieser Aspekt von Marcel Broodthaers anhand eines 1975 von ihm konzipierten Künstlerbuches. Allein dessen Titel, La conquête de l’espace. Atlas à l’usage des artistes et des militaires, weist auf ein vielschichtiges Machtpotenzial hin, das sich mit dem Atlas verbindet.147 Auffälliges Merkmal an Broodthaers Atlas ist sein Format, das mit Seitenlängen von 3,8 x 2,5 cm ungewöhnlich klein ausfällt, während konventionelle Atlanten oft in einem großen Format publiziert werden. Auch die Wiedergabe der Länder erscheint in Broodthaers’ Atlas unkonventionell. Die Länder sind nicht mit ihren geografischen Oberflächenstrukturen erfasst, sondern lediglich als schwarze Schattenrisse, sie werden nicht maßstabsgerecht, sondern in einer einheitlichen, dem Format des Buches angeglichenen Größe abgebildet. Wie durch die Vereinheitlichung in Farbe und Form ländercharakteristische Merkmale entfallen, so auch durch den nur indirekten Rekurs auf Namen. Die schwarzen Silhouetten im Buch sind in eine Abfolge gebracht, die der alphabetischen Ordnung der Ländernamen entspricht, gegenläufig zur vertrauten Form von Atlanten. Weder Flächenausdehnung noch geografische oder politische Strukturen können erkannt und praktisch genutzt werden. Dies impliziert den Verzicht auf eine Benutzung des Atlas zur Stabilisierung von Macht. Broodthaers spielt in seinem Atlas auf einen Wettstreit an, der nach dem ersten Weltkrieg zwischen New York und Paris im Vorrang um die Stellung als internationale Kunstmetropole entbrannte. Dieser Wettstreit galt aber mehr noch der führenden Rolle in der modernen Kunst; der Frage also, ob sie den USA oder Frankreich zukomme (vgl. Buchloh 1980, S. 56). Der Abstrakte Expressionismus in den USA und der Tachismus in Frankreich galten gleichermaßen als wegweisende Kunstrichtungen, beide verzichteten auf mimetischen Realitätsbezug. Die zu Flecken stilisierten Länderdarstellungen lassen sich als Anspielungen auf Abstrakten Expressionismus und Tachismus deuten. Broodthaers’ Atlas ist ein Gegenmodell zum geografischen Atlas, und in dem Maße, in dem er seinen formalen Minimalismus der Komplexität und Informa 







145 Die Geschichte der Kartografie hat die Zusammenhänge von Karte und Macht ausführlich untersucht. Das unter Maria Theresia begonnene systematische Kartenwerk war für militärische Zwecke bestimmt, die Kartierung des Meeresbodens in der Arktis erfolgte im Auftrag von Nato und Warschauer Pakt (vgl. Barth 2015). 146 Auf der Weltkarte in der dem Surrealismus gewidmeten Sonderausgabe der Zeitschrift Variété fehlt der amerikanische Kontinent. Vgl. Numéro spécial de la revue Variété, consacrée au surréalisme en 1929 et composé par les soins d’André Breton et de Louis Aragon. Textes de Freud, Éluard, Péret, Nouvel, Nougé, Desnos, Breton, Aragon, etc. Illustrations de Ernst, Tanguy, Man Ray, Picabia, Magritte, etc. Brüssel 1929, unpag. 147 Broodthaers, Marcel: La conquête de l’espace. Atlas à l’usage des artistes et des militaires. Brüssel 1975, 3,8 x 2,5 cm, 38 Seiten, Offsetdruck, Schuber.  





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tionsdichte herkömmlicher Atlanten entgegenhält, ein paradox wirkendes Objekt. Alles, was Atlanten in funktionaler Hinsicht auszeichnet, ist hier ins Gegenteil verkehrt. Das zeigt sich am Miniaturformat, in der absoluten Beschränkung der Zeichen auf ein formales Minimum und in der Zurücknahme der textlichen Annotationen. Dem formalen Minimalismus steht aber eine komplexe Aussage entgegen, die den geografischen Bezug mit kulturpolitischen Praktiken verknüpft. Der Atlas als Modell von Raum und Zeit. Die für Atlanten typischen Übersichten können räumlich und zeitlich strukturiert sein; beides kann sich auch überlagern. Ein Beispiel für eine Ordnung, in der sich Chronologie und Diachronie durchdringen, bietet der Geschichtsatlas. Ebenso wenig wie dieser sich auf die Darstellung chronologischer Abfolgen beschränkt, beschränken sich geografische Karten ausschließlich auf räumliche Übersichten. Topografische Karten können dynamisches Verhalten erfassen, etwa demografische Veränderungen, Strukturentwicklungen von Regionen, Verkehrsströme und ähnliches mehr. Die grundsätzlich durch den Atlas gegebenen Möglichkeiten, räumliche und zeitliche Gegebenheiten synthetisch zu erfassen, prägen auch die künstlerische Nutzung dieses Buchtypus. Dabei werden Modelle einer Raumund Zeiterfahrung entworfen und über die Buchform zur Anschauung gebracht. Edmund Kuppel etwa macht sich die Überlagerung von Bildern aus unterschiedlichen Zeiträumen zunutze, Nicole Six und Paul Petritsch nutzen das Format Atlas als eine Art Logbuch, in dem sie ihre Erfahrung von Raum und Zeit verzeichnen. Edmund Kuppels Atlas (L’homme du Cantal) enthält Aufnahmen einer Gebirgslandschaft in Südfrankreich.148 Die Fotografien eröffnen über die Doppelseiten des Atlas panoramatische Ansichten, die an einer Stelle von einer rund ein Jahrhundert zuvor aufgenommenen Postkartenansicht in schwarz-weiß überlagert werden. Die Postkartenmotive fügen sich in Kuppels Landschaftsfotografien ein, da der Künstler für seine Aufnahmen die gleiche Perspektive wählt. Kuppel führt Ansichten von ein und demselben Ort so zusammen, dass sich in ihnen buchstäblich zwei Zeiten überlagern. Die Postkarten sind im Atlas reproduziert, beim Blättern können gleichermaßen ihre Vorder- und Rückseite sowie der durch sie verdeckte Ausschnitt der farbigen Aufnahme separat betrachtet werden: Die zeitlich versetzt aufgenommenen Landschaftsausschnitte sind identisch. Das aktuelle Farbbild und die historische schwarzweiß-Aufnahme wirken wie Schichten eines Sediments und verweisen auf die Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit in die Landschaft eingeschrieben haben. Zeitlichkeit wird dabei auf doppelte Weise ins Bild gesetzt: zum einen durch die Motive, zum anderen durch das Medium und die Aufnahmetechnik. Auch die Linse des Fotoapparates rückt ins Bild: Nur auf der ersten Doppelseite im Atlas nimmt die Landschaft die komplette Doppelseite ein, auf den nachfolgenden Seiten verengt sich der Blick im

148 Kuppel, Edmund: Atlas/Musée d’Art et d’Archéologie d’Aurillac, 32 Blatt, Aurillac 1991 (vgl. Thurmann-Jajes 2002a, S. 132–138, 169).  

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runden Ausschnitt des Objektivs. Auf der letzten Seite setzt sich durch seinen Schattenwurf zudem noch der fotografierende Künstler ins Bild. Indem Kuppel sowohl die Kamera als auch den Fotografen ins Motiv integriert, thematisiert er das Verhältnis zwischen Aufnahmegegenstand und Aufnehmendem und verweist nachdrücklich auf den Standpunkt, von welchem aus der Bildgegenstand inszeniert und interpretiert wird. Zwar weist Fotografie die Tendenz auf, Dinge und Sachverhalte vermeintlich objektiv darzustellen, doch Kuppels Fotografien verdeutlichen, wie jede Aufnahme auch durch subjektive Parameter bestimmt ist. Hierauf verweist auch das Umschlagmotiv, das den Erdball wiedergibt, wodurch Kuppels Buch äußerlich einem einfachen Taschenatlas gleicht. Doch das Rund des vermeintlichen Globus erweist sich als Kameraauge: was wie die Erdoberfläche aussieht, ist tatsächlich das Laubwerk von Bäumen, die aus einer steil nach oben gerichteten Froschperspektive erfasst wurde. Kuppels Werk erinnert an die Funktion von Atlanten, Zeit und Raum abzubilden, aber auch daran, wie hierbei der jeweilige Blickpunkt eine individuelle Interpretation der Welt stimuliert. Die Vorstellung, Atlanten beinhalteten die objektive Wiedergabe geografischer Gegebenheiten, wird somit dekonstruiert.

Abb. B 14: Edmund Kuppel: Atlas (L‘homme du Cantal). Aurillac 1991.  

Um raum-zeitliche Erfahrung geht es auch in dem 2010 entstandenen Atlas des Künstlerduos Nicole Six und Paul Petritsch.149 Er verzeichnet Raum- und Zeiterfahrungen, welche die Künstler im Rahmen einer sich über 81 Tage erstreckenden Performance gewonnen haben. In diesem Zeitraum haben Six und Petritsch auf dem Motorrad eine in etwa dem Erdumfang entsprechende Strecke von 40.000 km auf einer nicht mehr genutzten Rennbahn zurückgelegt. Die Wahl des Ortes versprach stabile Witterungsbedingungen; die ständige Wiederholung des immer gleichen Streckenverlaufs verhinderte wechselnde Landschaftseindrücke und Begegnungen mit anderen Men-

149 Six, Nicole/Petritsch, Paul: Atlas, 720 Seiten ohne Paginierung, 1 Beilage, 11,4 x 16,5 cm. Wien 2010 [anlässlich der Ausstellung Nicole Six & Paul Petritsch: Atlas in der Secession, 19.02. bis 18.04.2010].  





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schen. Die einzigen Veränderungen vollzogen sich innerhalb eines abgemessenen Raums mit dem Wechsel von Tag und Nacht. Streckenlänge, Ort und Dauer der Aktion waren im Konzept festgelegt, ging es doch um die Simulation einer Erdumrundung, die ihren Anfang wie auch ihr Ende am Nullmeridian haben sollte, also an jener imaginären Linie, die die Erdkugel in eine West- und eine Osthälfte teilt. In Anlehnung an Jules Vernes Roman Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873) wurde die Dauer der Aktion auf 81 Tage angesetzt (denn zog man eine Zeitverschiebung von einem Tag in Betracht, die dadurch zustande kam, dass die Künstler ihre Fahrt nach Osten ausrichteten, hatten sie ihr Ziel nach 80 Tagen erreicht). Jules Vernes Roman feiert die Beschleunigung des Reisetempos durch moderne Fortbewegungsmittel. Vernes bis ins Detail festgelegtem Reisekonzept entspricht auch die im Atlas niedergelegte Dokumentation. Ihre täglich absolvierten Runden mit dem Motorrad dokumentierten die Künstler in Strichlisten, deren Duktus Auskunft über ihre Befindlichkeit gibt. Vermerkt wurden außerdem Zeitpunkte und Zeitspannen. Eingebunden in den Atlas sind ausklappbare, teils mit Kartogrammen, teils mit Fotografien versehene Tafeln. Bei den Aufnahmen handelte es sich um Langzeitbelichtungen, so dass außer Sonnen- und Mondverlauf wenig zu erkennen ist, vermerkt wurde als geografischer Anhaltspunkt der Standpunkt der Kamera im Verhältnis zum Breitengrad. Beigelegt ist zudem eine Weltkarte, auf der die Erdteile mit allen Inseln und Archipelen in Umrissen erfasst sind. Das Zentrum der Karte liegt im Pazifik, einem Ort, der aufgrund des Mangels an Festland von nationalen Territorien losgelöst scheint. Die in Six’ und Petritschs Atlas dargestellte Erfahrung von Raum sollte umfassend und allgemein sein, weshalb die Erfahrungsberichte der Künstler auch auf Strichlisten und nummerische Notate beschränkt bleiben. Allerdings wurden Zitate von Paul Auster, Franz Xaver Baier und Steven Brower aufgenommen, in denen die Autoren Existenzformen des Raumes und Erfahrungen mit Raum reflektieren. Es geht Six und Petritsch nicht nur um den fassbaren Raum, sondern mindestens ebenso um Raumkonzepte und -relationen, um inneren und äußeren Raum, Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum. Dem entsprechen auch die im Atlas freigelassenen Seiten, lassen sie sich doch als bewusste Auslassungen all dessen lesen, worüber keine Erfahrung vorliegen. Solch „kartographisches Schweigen“ (Schneider 2004, S. 112) ging auch in der Vergangenheit auf bewusste Entscheidungen der Kartografen zurück. So finden sich etwa auf Portolanen die für die Seefahrt relevanten Seewege und Küstenverläufe verzeichnet, während die weiten Landmassen überwiegend weiß bleiben, weil sie für die Orientierung auf See belanglos sind.  

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Abb. B 15: Nicole Six und Paul Petritsch: Atlas. Wien 2010.  

Individuelle Kartierung im historischen Spannungsfeld. Atlanten als komplexe Zusammenstellungen informativen Materials, die einen Überblick über ein Wissensgebiet geben sollen, sind durchweg von rationalen Überlegungen, festgelegten Strukturen und Konzeptionen geprägt. Schon der Anspruch, ‚die Welt zwischen zwei Buchdeckeln‘ zu fassen, setzt eine Auswahl wie Ordnung des Materials voraus. Gleichwohl findet sich die Bezeichnung ‚Atlas‘ auch in künstlerischen Konzepten wieder, die sich einer objektivierenden Tendenz offensichtlich entgegenstellen und stattdessen absichtsvoll vom Zufall oder von der Intuition bestimmt sind. Auch der subjektive Blick kann eine ‚mappa mundi‘, ein Weltbild begründen. Individuelle Konzeptionen können auf einen Überblick über den geografischen Raum und seine Wissenslandschaft zielen, auf den Wissens- und Erfahrungsraum ihrer Produzenten. Nach eigenem ‚Ermessen‘ konzipierte Atlanten sind etwa die des 1975 in Südafrika geborenen Schwarzafrikaners Moshekwa Langa (Abbildung in Bianchi/Folie 1997, S. 106–113; zu Langa vgl. auch Kat. Ausst. 1996a; Kat. Ausst. 2014). Sie tragen Titel wie New Visual Atlas oder auch einfach nur Journal. In ihnen verzeichnet Langa umfassend, wenn auch durch individuelle Sicht geprägt, Erfahrungen aus einem von Apartheid und Exil geprägten Lebensumfeld. Als Atlanten charakterisierbar sind seine Bücher wegen des in ihnen verarbeiteten Kartenmaterials. Teils sind es von ihm selbst gezeichnete Karten, teils solche aus konventionellen Atlanten; auch werden intakte Atlanten transformiert. Ein solcher Eingriff erzeugt etwa eine Collage, die Langa über die Karte des südamerikanischen Kontinents legt. Zwei Schwarzweiß-Fotografien mit Motiven aus dem gegenwärtigen afrikanischen Alltagsleben sind mit dem geografischen Bild verbunden. Mit dieser Kombination bezieht sich Langa auf historische Geschehnisse, wie die unfreiwillige Übersiedlung von Afrikanern nach Südamerika im Zuge des Sklavenhandels. Die über die Karte geklebten Bilder verweisen auf die im Verlauf der Zeit erfolgte Durchmischung diverser Völker; auch Menschen mit afrikanischen Wurzeln haben dem Kontinent ‚ein neues Gesicht aufgeprägt‘. Indem Motive der Gegenwart mit Blick auf die Geschichte von einem geografischen Raum in einen anderen verschoben werden, bringt Langa erstens allgemein die räumliche und zeitliche Dimension von Erfahrung zum Ausdruck, zweitens aber auch die besondere Bedeutung, die Karten in seiner persönlichen Erfahrung einnehmen. In Kombination mit  

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anderem Bildmaterial zeigt er, dass der geografische Raum keineswegs immer so stabil ist, wie er auf Karten erscheint. Im Laufe der Geschichte wurden die Grenzen in seiner südafrikanischen Heimat immer wieder verändert; dies visualisieren Eingriffe in die Kartenstruktur seiner Bücher. In vorliegende Karten werden neue Gebiete eingezeichnet, durch Übermalen ganze Regionen ausgelöscht; Langa zieht mit einem Stift neue Grenzen oder verändert die Konturen der Länder. Durch die künstlerische Veränderung führt er vor Augen, wie durch politische Beschlüsse bestehende Strukturen zerschlagen werden und Geografie neu geordnet wird. Langa selbst spricht von „Processing“ und weist auf die Diskrepanz zwischen dem Anspruch von Kartografie und der Veränderlichkeit hin, der diese unterliegt: „Karten scheinen etwas Logisches und Willkürliches zugleich an sich zu haben. Mit ihnen lässt sich nicht gut verhandeln. Hinter der Kulisse der Ausgeglichenheit schmoren unsichtbare Auseinandersetzungen. Mich interessieren die Distanz, der Maßstab und die Projektion von Karten, der Umgang mit diesem logisch-unlogischen Feld“ (Moshekwa Langa zit. in Bianchi/ Folie 1997, S. 106). Einen besonderen Stellenwert erhalten Langas Annotationen. Über Fußnoten, Diagramme und Indizes spielt er Querverweise ein und erschließt die Beziehungen, die er zwischen den Motiven und Ereignissen aufzeigen will. Langas Eingriffe in die Kartografie formieren sich zur Kritik am re-mapping und un-mapping, wie es sich auf politischer Ebene in der Vergangenheit vollzog und auch gegenwärtig immer wieder zur Praxis gehört. In Erinnerung gerufen wird, wie sehr gerade Afrika spätestens seit der Kolonialisierung von einer interkontinentalen Ausbeutungspolitik beherrscht wird.  

Kartografie abseitiger Realität. Ein gegenüber herkömmlichen Atlanten neues Konzept legt Judith Schalanskys mit ihrem Atlas der abgelegenen Inseln vor, in dem sie fünfzig Inseln vorstellt, die sie niemals besucht hat und auch niemals besuchen wird (Schalansky 2009). Wie im Titel angedeutet, beabsichtigt die Autorin keine umfassende Erddarstellung, sondern verzeichnet stattdessen Orte, die wenig bekannt sind und in vielen Atlanten auch nicht verzeichnet werden, weil sie in der jeweiligen Sicht auf die Umwelt eine nicht ausreichend signifikante Position einnehmen. Ihre geografische Lage ist auf den Weltkarten erfasst, die auf die Vorsatzpapiere des Buches gedruckt sind. Als winzige weiße Punkte treten sie wie ferne Sternschnuppen aus der weiten Fläche der Meere hervor und behaupten ihre Existenz in der Welt der Geografie. Jede Insel ist darüber hinaus ausführlich auf einer Doppelseite in Text und Bild vorgestellt: Einer Inselkarte sind die geografischen Strukturen zu entnehmen, der Text beschreibt Vorkommnisse und Gegebenheiten, die mit dem Ort verbunden sind. Eine weit im Norden gelegene Insel beispielsweise gibt Anlass zur Schilderung einer verlassenen Wetterstation. Andere Texte berichten von kulturellen Praktiken, die sich aufgrund der Isolation der jeweiligen Insel von der übrigen Welt ausprägen konnten. Manchmal handelt es sich um Geschehnisse, die charakteristisch genug waren, um sich auf die Namensgebung der Insel auszuwirken. Dabei erscheinen manche Geschichten absurd bis zur Unglaubwürdigkeit. Idyllische Eindrücke werden nicht ver-

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mittelt. Mit ihren Berichten knüpft Schalansky an das Genre der Reiseliteratur an. Reiseberichte früherer Zeiten erschienen oft ebenso unglaublich wie die in Schalanskys Atlas skizzierten Geschichten, weil sie nur schwer mit den bekannten Erfahrungen in Einklang zu bringen waren. Konnten solche Reisen einerseits mit Hilfe von Atlanten durchgeführt werden, so dienten die Reiseberichte andererseits selbst dazu, das in den Atlanten verzeichnete Wissen zu präzisieren und auszuweiten. Die Autorin betont aber auch eine Analogie zwischen den abgelegenen Inseln und dem Leben des einzelnen Menschen: Ein jeder, so Schalansky, sei wie eine kleine Insel (vgl. Willemsen 2009, auch online).

Abb. B 16: Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich niemals war und auf denen ich niemals sein werde. Hamburg 2009.  

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln (2009).150 Schalanskys Atlas erfasst mit den abgelegenen Inseln all jene Orte, die in herkömmlichen Atlanten nicht zur Darstellung kommen, weil sie zu klein und politisch wie strategisch zu unbedeu-

150 Schalansky, Judith: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. Hamburg: mare Verlag 2009, 144 Seiten, fünffarbiger Druck in Sonderfarben (schwarz, grau, blassblau, orange, weiß), Halbleineneinband.

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tend sind. Diese sonst nicht weiter erwähnten Orte erschließt Schalansky dem Leser über eine geografisch exakte Karte und einen Text mit geschichtlichen und kulturellen Fakten. Die Ordnung der abgelegenen Inseln erfolgt nach einer geografischen Ausrichtung von Norden nach Süden und Osten nach Westen. Anhaltspunkte sind die großen Ozeane, beginnend mit dem Arktischen und dem Antarktischen Ozean. Es folgen Beschreibungen von Inseln im Atlantik, im Indischen Ozean und im Pazifik. Die Anzahl der den einzelnen Gewässern zukommenden Inseln ist höchst unterschiedlich, die größte Gruppe mit 27 Inseln findet sich im Pazifischen Ozeans, die kleinste im Arktischen Ozean, sie umfasst nur drei Inseln. Doch alle Inseln werden konsequent auf einer Doppelseite vorgestellt, wobei die Karte immer die linke, der Text die rechte Seite einnimmt. Damit wird der Konzeption eine Sachlichkeit verliehen, die den Atlas der abgelegenen Inseln unter geografische Sach- oder gar Fachbücher einreiht. Weniger sachlich erscheinen die Texte, da die hier geschilderten Begebenheiten oft so merkwürdig sind, als wären sie ganz der Fantasie entsprungen. Tatsächlich aber beruhen sie auf Fakten, die von der Autorin recherchiert wurden. Sie sind nicht weniger exakt als die Karten, die maßstabsgerecht mit Gebirgszügen, Flussläufen, Ortschaften und Straßen wiedergegeben sind. Die teils reduzierte Darstellung erklärt sich aus den natürlichen Gegebenheiten, so etwa wenn auf einer Insel nur eine einzige Ortschaft und ein einziger Straßenzug verzeichnet sind. Kartografie als Beschreibungsmodus einer individuellen Weltsicht. Bezieht sich Judith Schalansky auf reale geografische Gegebenheiten, so simuliert Stephan Huber solche Gegebenheiten. So sehr die Karten seines Weltatlas auch denen eines herkömmlichen Schulatlas ähneln – sie verzeichnen doch keine realen Orte, zumindest keine, die von der allgemein bekannten Geografie erfasst sind. Hubers Atlas folgt in seinem gesamten Erscheinungsbild Dierckes Weltatlas, wie er bis in die 1970er Jahre vom Westermann Verlag publiziert wurde: Wie dieser hat Hubers Weltatlas einen braunen Leineneinband mit goldgeprägtem Titel, und der durch den Diercke-Atlas vorgegebenen Aufmachung folgt Huber auch im Innenteil. Titelei, Kartenverzeichnis, Kartenabfolge und Stichwortregister weisen das vom Schulatlas her vertraute Layout auf. Anders hingegen sind die Inhalte: Was wie eine Abfolge geografischer Karten erscheint, repräsentiert tatsächlich die Erfahrungswelt des Künstlers selbst. Er folgt dabei dem Code von Karten; Faktuales verbindet sich mit ästhetischen Fiktionen (zur individuellen Kartografie vgl. auch Harmon 2004 und die Ausstellung „Mapping the Imagination“ des Victoria and Albert Museum London 2016 unter http://www.vam.ac. uk/content/articles/m/mapping-the-imagination). Zwar unterscheidet das vorangestellte Verzeichnis der Karten auf konventionelle Weise zwischen Darstellungen der Erde, der Kontinente und Länder, zwischen Regional-, Städte- und politischen Karten, doch die jeweils gebildeten Unterkategorien entziehen sich der kartografischen Systematik. Neben Namen, die aus Belletristik, Film oder Geschichte bekannt sind, tauchen hier auch Neologismen und Fantasiebegriffe auf. Ihnen ordnet Huber fiktionale Topo 

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grafien bzw. „psychohistorische Landschaften“ zu (vgl. Krieger 2015, S. 177). Das jeweils verzeichnete geografische Territorium wird dabei immer enger gefasst und die anfänglich noch erfolgende Orientierung am tatsächlichen geografischen Raum weicht zunehmend individuellen Interessen, die Ausdruck finden in ‚Personalkarten‘ oder ‚Karten zur Kunst‘. Den Abschluss bilden politische Karten, Wissenschaftskarten und Karten, die nur mehr vorgeben, Faktisches abzubilden. Die individuelle Akzentuierung der Karten wird verstärkt durch Bezeichnungen, die Vornamen, Personalund Possessivpronomina enthalten, wie etwa Jens und Katja Rid’s Zeitreisen ins Reich der Antike oder Mypersonalartsystem. Ebenfalls auftauchende Begriffe wie „Eugenik“ oder „Arisierung“, „Fremdenphobie“ oder „Indifferenz“ erinnern an historische Diskurse und verleihen insofern der Kartensammlung eine zeitliche Dimension. Ein weiteres auffälliges Element der Karten stellen Silhouetten von Pflanzen, Architekturen oder auch literarischen Figuren dar. Als Orientierungshilfe für den Rezipienten, aber auch in Anlehnung an Dierckes Weltatlas, sind jeder Karteneinheit Textpassagen zugeordnet, die das kartografisch Dargestellte präzisieren. Die Karten mit ihrer räumlichen Ausdehnung liefern in einer visuellen Gesamtschau einen Überblick über das, was die Texte sukzessiv erfassen. Mittels des Atlas stellt der Künstler seine individuelle Erfahrungswelt und seine subjektive Sicht in den Zusammenhang globaler Entwicklung, wenn auch „phantasmagorisch vermengt“ (ebd.). Kartografie – so zeigt sich – homogenisiert heterogenes Material. Sie bildet eine Oberfläche, in die sich Bildtypen und Bildprogramme aus Kunst, Literatur und Alltagskultur einschreiben. Bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte verbindet die aufgeführten Beispiele, dass sie auf das Buchformat des Atlas Bezug nehmen – entweder ausdrücklich über ihre Titel oder als Sammlungen geografischer Karten und durch kartografische Strukturen. Die Karten dienen dabei etwa der Orientierung in sozial-historischen Welten, aber auch künstlerischen Positionsbestimmungen oder der Selbstdarstellung der Künstler. Dabei zielen die Atlanten der Künstler nicht auf Wissensvermittlung und unterwerfen sich keinem normierenden Darstellungsverfahren. Atlanten bilden darüber hinaus auch das Ausgangssubstrat für Buchobjekte und Buchskulpturen. Genutzt wird hierbei insbesondere die dreidimensionale Gestalt des Buchkörpers. Aus ihm können Karten herausgeschält, geografische Strukturen durch die Seiten hindurch plastisch abgebildet werden. Die einzelnen Karten präsentieren sich dann als Sedimentschichten, und die Erde rückt nicht allein als Gegenstand flächenbezogener Vermessung, sondern auch als Ausgangspunkt geologischer Erschließung in den Blick. Solche Buchwerke werden nicht seitenweise gelesen – und manchmal geht es überhaupt kaum mehr ums Lesen. Bei Steven Cortrights Buchobjekt Canyon etwa finden sich canyonartige Vertiefungen in den Buchkörper selbst eingeschnitten. Von dem Erdkundebuch, das bearbeitet wurde, lassen sich dementsprechend nur mehr Teile lesen; dafür werden Canyons haptisch erfahrbar. VHS  









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B 2.4 Atlanten, Literatur, Buch-Literatur Die Geschichte des Atlas bildet ein wichtiges Spezialkapitel in der Geschichte des Buchs.151 Dieser Zusammenhang ist zum einen zum Gegenstand historischer Forschungen zur Wissensgeschichte und Wissenspoetik geworden, hat zum anderen aber auch buchkünstlerische und buchliterarische Arbeiten stimuliert (vgl. Teil B 2.3). Atlanten sind Wissenskompendien, die unter dezidierter Adressierung des Sehsinns insbesondere, aber nicht ausschließlich topografisches Wissen vermitteln;152 so gibt es auch anatomische und naturkundliche Atlanten. Aber selbst topografische Atlanten können mehr als nur Topografisches darstellen. Sie geben u. a. Auskunft über natürliche, soziologische und historische Gegebenheiten und Zusammenhänge, und ihre spezifische Gestaltung lässt Rückschlüsse auf kulturelle Vorstellungshorizonte, Denkweisen, Interessen und Bewertungsmodi zu. Wenn Atlanten auch keine im strikten Sinn narrativen Darstellungsformen sind, so können sie doch narrative Potenziale entfalten. Über ihre informative Funktion hinaus haben sie zudem andere Effekte; so können sich in Ihnen Machtphantasien konkretisieren, und manchmal stimulieren sie Erinnerungen und Imaginationen. Über ihre jeweils konkrete Informationsleistung hinaus schulen sie den Blick, bieten in wörtlichem wie im übertragenen Sinn Übersichten und geben Anlass zur Erprobung neuer Bildprogramme und Visualisierungspraktiken (vgl. Daston/Galison 2007, S. 22f.). Mit der Gestaltung von Atlanten verbunden sind neben dem Einsatz von Bildtypen auch Formen der Schriftbildlichkeit, und sie dienen anlässlich topografischer wie auch anderer Gegenstände der begrifflichen und visuellen Orientierung des Lesers in der Welt oder einem spezifischen Wissensfeld. Zu solcher Orientierung, die im jeweils historischen Horizont unterschiedlicher Episteme jeweils unterschiedlichen Leitvorstellungen folgt,153 tragen nicht nur die in Atlanten versammelten einzelnen Karten oder  



151 Es gibt inzwischen zwar auch elektronische Atlanten und ‚Audio-Atlanten‘. Aber die weiterhin geläufige Differenzierung zwischen Atlanten und ‚Taschenatlanten‘ verweist auf die prägende Bindung der ‚Atlas‘-Idee ans Buchformat. Zum Atlas vgl. Marwinski 2006. 152 Der Ausdruck ‚Atlas‘ als Bezeichnung topografischer Kompendien erinnert an Gerhard Mercator und seinen Atlas sive cosmographicae meditationes de fabrica mundi et fabricanti figura (1595). Verwiesen wird hier auf den Titanen Atlas, auf dessen Schultern die Erde nach antik-mythischer Vorstellung ruhte. Vgl. dazu Daston/Galison 2007, S. 23. 153 Peter Galison charakterisiert den Atlas als eine „spektakuläre [hier: sichtbezogene] Literaturgattung“, mit dem es um „eine objektive bildliche Wiedergabe der natürlichen Welt“ gehe, handle es sich nun um „Fossilien, Wolken, Sterne, Elementarteilchen, Knochen oder die elektrische Aktivität des Gehirns“: „Es gibt Anatomieatlanten, Wundatlanten, Zellatlanten, Wolkenatlanten, Elementarteilchenatlanten, Köpfeatlanten, Völkeratlanten, Sternatlanten – ja, es gibt Atlanten für nahezu jede Sammlung wissenschaftlicher Studienobjekte. Viele dieser Sammlungen werden explizit als Atlanten bezeichnet, andere als Handbücher, Leitfäden oder Kataloge. Aber ihnen allen ist das Ziel gemeinsam, die grundlegenden Gattungen eines Forschungsfeldes darzustellen, wobei sie sich gewöhnlich an den Praktiker richten, dem sie bei der Kodifizierung der existierenden Daten helfen und als Grundlage für die weiterführende Forschungsarbeit dienen sollen“ (Galison 2003, S. 385). Lorraine Daston und Peter Galison  





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Schautafeln bei, sondern auch deren Anordnung, d. h. die Struktur des Atlas insgesamt. Schon darum kann atlasvermitteltes Wissen dezidiert als ‚Buch‘-Wissen gelten. Buchgestalterische Mittel tragen insgesamt zu Konzeption, Produktions- und Rezeptionsoptionen von Atlanten maßgeblich bei. Dies gilt etwa auch für die paratextuelle Rahmung visueller Darstellungen (Karten, Schaubilder etc.) und für Spielformen der Schriftbildlichkeit, wie sie sich insbesondere in der Buchgeschichte herausgebildet haben. Ein verstärktes Interesse an raumbezogenen Themen, an Raumordnungen, ihren historischen und kulturspezifischen Ausprägungsformen, an Raumdarstellungen und Raumwissen, das unter dem Stichwort ‚topographical turn‘ zusammengefasst worden ist, hat die wissenschaftliche, künstlerische und literarische Auseinandersetzung mit Atlanten gerade in jüngerer Zeit angeregt. Dabei entstanden neben literarischen und buchkünstlerischen Atlanten im Grenz- und Übergangsbereich zwischen wissensvermittelnder und ästhetischer Gestaltung auch Meta-Atlanten: Kompendien, die dem Atlas-Wissen und der Topografie als historischer Darstellungspraxis oder aber dem Atlas als Katalysator topografischer Imaginationen gewidmet sind. Umberto Ecos Bildband über die Geschichte der imaginären Länder, welche die kollektiven Phantasien des Abendlandes seit der Antike beschäftigt haben (Eco 2013), ist ein Meta-Atlas, der nicht nur als Wissenskompendium rezipiert werden kann, sondern auch als ästhetisch ansprechendes Arrangement. Die Inhalte dieses Bildbandes sind mit Ecos Romanen vernetzt, insbesondere mit Baudolino, in dessen Buchausstattung zudem kartografische Elemente einbezogen werden. Ecos wissensgeschichtliche, kulturwissenschaftliche und semiotische Perspektive auf Karten und Atlanten akzentuiert insgesamt den Anteil der Imagination an Gegenständen und Ordnungen historischen Wissens. Deutlich wird an seinen Bildbeispielen aber auch, dass historische Atlanten auf der Ebene der Buchgestaltung Regeln und Codes folgen, für die sich Phantastisches oft nicht eindeutig dem Realen oder dem Mythologisch-Imaginären zuordnen ließ. Riesenhafte Ungeheuer und mythische Fabelwesen bevölkern auch noch neuzeitliche Atlanten. Eine Verwissenschaftlichung kartografischer Darstellungsmittel im modernen Sinn erfolgte erst spät (vgl. Marwinski 2006, S. 23). Literarische Rekurse auf das Darstellungsformat des Atlas, wie sie gerade in jüngerer Zeit wiederholt erfolgen, bedienen sich in unterschiedlichem Maße spezifischer buchgestalterischer Mittel; das Spektrum reicht hier von gestalterisch unauffälligen  



erörtern in ihrer Monografie zur Geschichte der Konzeptualisierungen von Objektivität ebenfalls den Atlas: „Atlanten schulen die Blicke der Eingeweihten wie der Neulinge so, daß bestimmte Arten von Gegenständen als exemplarisch verstanden (zum Beispiel diese ‚typische‘ gesunde Leber und nicht die andere, von Zirrhose zerfressene) und auf eine bestimmte Weise betrachtet werden […]. Die Atlanten schulen das Auge des Anfängers und schärfen den Blick des Erfahrenen neu. Wenn Atlanten Bilder präsentieren, die von neuen Instrumenten hergestellt wurden, wie es bei den bakteriologischen Atlanten am Ende des neunzehnten und den Röntgenbildatlanten Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall war, muß jeder fachkundige Nutzer des Atlas neu ‚sehen‘ lernen“ (Daston/Galison 2007, S. 22f.).  



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Werken (vgl. z. B. Ransmayr 2012 und Mitchell 2004) bis zu buchliterarischen Publikationen, die konventionellen Atlanten ähnlich sehen oder sich als Hybridkonstruktionen aus atlasspezifischen und literarischen Elementen präsentieren. Literarische Atlanten nutzen die Gestaltungsoptionen historischer und zeitgenössischer Atlanten, um sie in den Dienst genuin literarischer thematischer Interessen zu nehmen. Bezüge auf das Format des topografischen Atlas signalisieren evidenterweise stets ein Interesse an topografischen Gegebenheiten, Strukturen und Ordnungsmustern. In diesem Rahmen legen gerade buchliterarische ‚Atlanten‘ vorzugsweise den Akzent auf Sonderphänomene und Abweichendes, sei es auf besondere Beziehungen des Produzenten (sowie des impliziten Rezipienten) zu den Gegenständen der Darstellung, sei es auf die Besonderheit der Gegenstände selbst. Literarische Atlanten sind vielfach seltsame, ungewöhnliche Atlanten bezogen auf Inhalte und Auswahlkriterien. So kann die Darstellung unbekannten, fast oder gänzlich unzugänglichen Orten und Regionen gelten, die aber immerhin als reale Orte verstanden werden (wie bei Judith Schalansky: Schalansky 2009, 2012), sie kann aber auch über Orte und Länder informieren, die die kollektive oder individuelle Phantasie produziert hat – etwa die Vorstellungskraft bestimmter Romanautoren, die fiktionale Welten auch in topografischer Hinsicht konsequent ausgestattet haben (wie etwa John R. R. Tolkien).154 Im Übergangsbereich zwischen diesen beiden Möglichkeiten finden sich vielfältige Darstellungen topografischer Gegenstände, die zwischen Realem und Imaginärem changieren, weil räumliche Gegenstände der Erfahrung stark imaginativ überformt erscheinen. Schon durch ihre Titel spielen manche ‚Atlanten‘ auf das Spannungsfeld zwischen Faktischem und Fiktionalem an, so etwa Judyth A. McLeods The Atlas of Legendary Lands (dt.: Atlas der legendären Länder) und Werner Nells Atlas der fiktiven Orte, indirekt auch Stefan und Wiebke Porombkas Atlas der inspirierenden Orte (McLeod 2009; Nell 2012; Porombka/Porombka 2013). Frank Jacobs’ Buch Strange Maps (dt.: Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten) bietet eine kommentierte Sammlung von historischen Karten (Jacobs 2009, dt. 2012); diese machen, zusammen mit dem Paratext, deutlich, wie eng Kartografie und Imagination zusammengehören. Demonstriert werden aber auch verschiedene Spielformen der Schriftbildlichkeit. Bei McLeod haben Karten einen prägenden Anteil an der Buchgestaltung; bei Nell sind Orte der literarischen Imagination in Text und Bild repräsentiert:155 Porombka und Porombka kombinieren bildlich-grafische und verbal-essayistische Darstellungsformen. Schalansky bietet zu den in ihrem Atlas der abgelegenen Inseln kartografisch erfassten Inseln jeweils einige geografische und statistische Informationen  









154 Vgl. Fonstadt 2016. Der Band enthält kartografische Darstellungen zur Welt J. R. R. Tolkiens. 155 Die Abschnitte gelten Orten der kollektiven Imagination, teils auch der literarischen Fiktion: Adistan und Dschinnistan – Atlantis – Auenland – Avalon – Camelot – Eldorado – Entenhausen – Gondor – Insel der Flasche – Lilliput – Lummerland – Mahagonny – Metropolis – Mittelerde – Niflheim – Nimmerland – Olymp – Oz – Paradies – Phantásien – Robinson Crusoes Insel – Schatzinsel – Schilda – Schlaraffenland – Sonnenstadt – Springfield – Utopia – Walhall – Xanadu – Zauberberg.  































































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sowie einen Textabschnitt, der an Einträge in Wissenskompendien erinnert, dabei aber erkennbar selektiv und oft pointierend informiert. Schalansky möchte sich für die Wahrheit des Mitgeteilten nicht verbürgen.156 Anders als viele konventionelle wissensvermittelnde Atlanten versteht sich ihr Atlas auch nicht als Hilfsmittel zur Ermöglichung realer Erfahrungen (durch Reisen). Vielmehr konkretisiert sich in ihm die Idee, die eigentlich interessanten Reisen fänden in der Vorstellung statt. Dazu will der Atlas beitragen: „Dieser Atlas ist […] vor allem ein poetisches Projekt. Wenn der Globus rundum bereisbar ist, besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu Hause zu bleiben und die Welt von dort aus zu entdecken“ (Schalansky 2012, S. 9). Literarisch-essayistische Darstellungen zu ausgefallenen, unheimlichen, entlegenen oder mit spezifischen Vorstellungen besetzten Orten werden in jüngerer Zeit wiederholt als ‚Atlanten‘ oder ähnliche topografische Kompendien publiziert; indirekt dokumentieren sie ein verstärktes Interesse an der Konstitution von Räumlichkeit durch Darstellungen, aber auch am Anteil von Erzählungen am topografischen Wissen.157 Geht es mit Atlanten imaginärer Räume implizit zugleich um das Subjekt des Imaginierens, so kann das Subjekt der Beobachtung und der Vorstellung sogar noch dezidierter zum Zentralthema von Atlanten werden – vor allem anlässlich des Ichs der Schriftsteller und Künstler selbst. Katharine Harmon akzentuiert in ihrem Kartenwerk You are here. Personal Geographies and Other Maps of the Imagination (2004) die Prägung von Raumimaginationen durch persönliche Interessen und Sichtweisen. Gemessen an wissenschaftlichen Karten sind die Bestandteile dieses Atlas Produkte der ‚Erfindung‘. Doch geben sie auf Karten Vorstellungswelten wieder, die sich an erfahrene oder erfahrbare Räume knüpfen.  



You are here is a wide-ranging collection of […] inventive maps. These are charts of places you are not expected to find, taking you on a voyage of the mind: an exploration of the ideal country estate from a dog’s perspective; a guide to buried treasure; a trip down the road to success; or the imaginary world of an inmate of a mental institution. With over hundred maps from artists, cartographers, and explorers, You are here gives the reader a breathtaking view of worlds, both real and imaginary. (Harmon 2004, Klappentext)

156 „Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Texte ist irreführend. Es kann darauf keine eindeutige Antwort geben. Ich habe nichts erfunden. Aber ich habe alles gefunden, diese Geschichten entdeckt und sie mir so zu eigen gemacht wie die Seefahrer das von ihnen entdeckte Land. Alle Texte in diesem Buch sind recherchiert […]. Ob sich all jenes genauso zugetragen hat, ist schon allein deshalb nicht zu klären, weil Inseln jenseits ihrer tatsächlichen geographischen Koordinaten immer Projektionsflächen bleiben, derer wir nicht mit wissenschaftlichen Methoden, sondern nur mit literarischen Mitteln habhaft werden können.“ (Schalansky 2012, S. 8f.) 157 Vgl. Bonnett 2014, dt. 2015; Le Carrer/Le Carrer 2013, engl. 2015; Gastmann 2016 (über entlegene, unbekannte, ‚magische‘, aber reale Orte); Middleton 2015, dt. 2016 (das Buch informiert über fünfzig nicht anerkannte und weithin unbekannte Staaten); Tocqueville 2016.  

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Gerhard Richters Atlas stellt zwar – in Form von Fotos – verschiedene Gegenstände und Gegenstandsbereiche dar, ist dabei aber auch eine Darstellung der künstlerischen Interessen und Schaffensphasen Richters (Richter 2015). Gerhard Roths Atlas der Stille (Roth 2007) ist zwar einerseits eine Bildersammlung, die einer historisch-kulturellen dörflichen Teilwelt in der Steiermark gewidmet ist. Aber die Bilder haben zugleich den Romancier Roth zur Ausgestaltung seiner fiktionalen Romanwelten stimuliert und sind insofern auch Beiträge zur Dokumentation der Arbeit eines Schriftsteller-Ichs. Vor allem wegen ihrer Beziehung zu Prozessen der Imagination sowie der intentionalen kreativen Arbeit sind literarische Atlanten Buchwerke mit einer literarisch-selbstreflexiven Dimension. Formen der visuellen Gestaltung katalysieren hier Imaginationsprozesse und umgekehrt. Dazu gehören visuelle Elemente und Codes, Formen der Textbildlichkeit, aber auch Schreibweisen. Visuelles wird auf verschiedene Weisen mit Formen sprachlicher Darstellung und Narration verbunden. Auch Romane über Kartografen thematisieren das Zusammenspiel von Raum-Erfahrung und Raum-Imagination. Reif Larsens Buchroman The Selected Works of T. S. Spivet (2009) enthält neben zahlreichen anderen Spielformen visueller Darstellung wie Tabellen, Diagrammen, Listen etc. auch eine ganze Reihe von Karten. Diese stellen teils als real geltende, teils vorgestellte topografische Gegebenheiten dar, vor allem aber solche, die einem Grenzbereich zwischen beiden zuzurechnen sind. Mit Blick auf diese Karten-Serie ähnelt das Buch einem Atlas, zumal Atlanten ja neben Karten oft auch Diagramme, Tabellen, Listen und schriftsprachliche Bildlegenden enthalten. Der verbal-narrative Anteil an diesem Atlas ist besonders groß, aber auch auf dieser Ebene geht es um Räume, Raumerfahrungen, Schauplätze und raumbezogene Ordnungsmodelle. In buchliterarischen Atlanten konvergiert ein metaliterarisches Interesse an Imaginationen und Fiktionen mit einem Interesse an Buchgeschichte und bookness, wie es sich u. a. in der Geschichte der Atlanten und ihrer Ausstattung manifestiert. Atlanten, in denen fiktive Welten und imaginäre Länder kartiert werden, bedienen sich ja analoger Mittel wie Atlanten, die sich als Wissenskompendien verstehen. Gerade manche buchliterarischen Atlanten machen deutlich, dass die Konstitution fiktionaler Welten nicht allein mit sprachlichen Mitteln erfolgen muss. Wenn historische Atlanten die räumliche Welt gelegentlich so darstellen, dass für den heutigen Betrachter der Anteil der Imagination an der Konstruktion dieser Welt deutlich wird, so lässt sich dies erstens im Sinn einer Wissenspoetik verstehen, welche sich für Modi der Wissensproduktion interessiert, zweitens aber auch als Beitrag zur Geschichte der Imaginationen, zu denen auch die möglichen Welten der Literatur gehören. Gerade literarische Atlanten machen sinnfällig, dass der Raum, in dem sich solche möglichen Welten konfigurieren können, zunächst einmal das Buch ist. Bücher in der Tradition des Atlas tragen auch dazu bei, die Problematik einer begrifflichen Differenzierung zwischen Faktischem und Fiktivem sinnfällig zu machen (vgl. dazu u. a. Manguel/Guadalupi 1980, dt. 1981). Schalansky optiert daher für eine neue Evaluierung der Atlanten und Karten: „DIE KARTOGRAPHIE sollte endlich zu den poetischen Gattungen und der  









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Atlas selbst zur schönen Literatur gezählt werden, schließlich wird er seiner ursprünglichen Bezeichnung Theatrum orbis terrarum – ‚Theater der Welt‘ – mehr als gerecht“ (Schalansky 2009, S. 23). MSE  





B 2.5 Enzyklopädien, Lexika und Buch-Literatur Geschichtlichkeit enzyklopädischer Darstellungsmodi. Die Geschichte des enzyklopädischen Schreibens beginnt lange vor Anbruch der Ära des Kodex (zum Thema Enzyklopädie vgl. u. a. Michel/Herren/Rüesch 2007, auch online; Tomkowiak 2002). Obwohl mit dem Stichwort ‚Enzyklopädie‘ heute meist ein alphabetisches Wissenskompendium assoziiert wird, sind Enzyklopädien nicht grundsätzlich alphabetisch organisiert. Die mittelalterlichen Enzyklopädien folgen einer anderen Formidee, die Vorstellungen über die Ordnung der dargestellten Welt selbst entspricht, welche sich in der Ordnung des Buchs gespiegelt finden sollte.158 Allerdings finden sich in mittelalterlichen Wissenskompendien, auch in solchen enzyklopädischen Zuschnitts, bereits Ansätze, die Orientierung in den dargebotenen Informationen durch alphabetische Anteile (Stichwortverzeichnisse) zu erleichtern. Dieser Rekurs auf die alphabetische Form vereinfacht das Auffinden spezifischer Auskünfte, physisch gesehen: den Quereinstieg ins Buch, das nicht von Anfang an gelesen werden muss, wenn nach etwas Bestimmtem gesucht wird. In der Neuzeit etabliert sich die abecedarische Struktur als Form enzyklopädischer Wissenskompendien, die in der Ära des Buches kodexförmig waren, mit Zunahme der Wissensbestände dann aber oft aus mehreren oder vielen Bänden bestanden. Wie eng die Form der alphabetischen Enzyklopädie an die Gestaltungs- und Nutzungsoptionen des Buchs gebunden ist, wird daraus ersichtlich, dass in den jüngeren Hypertext-Enzyklopädien das Alphabet als Orientierungshilfe nicht mehr benötigt wird. Schon vor diesem Hintergrund sind literarische und buchgestalterische Arbeiten, die in der Ära des Hypertextes auf die Form der alphabetischen Enzyklopädie Bezug nehmen, zumindest implizit buchbewusste Arbeiten. Seit Anbruch der Ära des Bücherlesens repräsentieren enzyklopädische Kompendien die Buchkultur exemplarisch; damit vergleichbar (und gelegentlich auch als Pendant oder Konkurrentin der Enzyklopädie wahrgenommen) ist wohl nur die Bibel. Enzyklopädien verweisen metonymisch auf die Wissenskultur der Büchernutzer, die sie in verkleinertem Maßstab und unter Prägung durch die jeweiligen Wissensordnungen darbieten. Dass man Enzyklopädien und Lexika auch ‚Nachschlagewerke‘ nennt, ver 

158 „Das ‚Ordnen‘ ist die Verinnerlichung jener kosmisch-symbolischen Harmonie, die Gott mit dem Akt der Schöpfung entstehen ließ. Ordnen bedeutet nicht, Wissen nach vorgegebenen Themen zu organisieren und zu systematisieren […]. Die Geschichte wird nicht der Ordnung des Lesers unterworfen, sondern er muß sich in ihre Ordnung fügen.“ (Illich 1991, S. 35)  

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deutlicht den Anteil, den kodexspezifische Eigenschaften an ihrer Nutzung haben; hier wird das Umschlagen der Seiten zur Metonymie der Informationsaufnahme. Zwischen Enzyklopädien und Lexika besteht in der historischen Ära der alphabetischen Enzyklopädistik keine trennscharfe Differenz. Zwar ist im Begriff der Enzyklopädie die Idee eines umfassenden Wissens angelegt, aber es gibt auch Enzyklopädien zu einzelnen Teilbereichen des Wissens, Fachenzyklopädien oder Enzyklopädien zu bestimmten historisch-kulturellen Einzelbereichen. Lexika enthalten zwar oft eher kürzere Artikel als manche Enzyklopädien, es gibt aber auch lexikografische Artikel von erheblichem Umfang. Neuzeitliche Episteme und Alphabet. Wenn in der Neuzeit gegenüber dem Mittelalter eine dezidierte Wende hin zu enzyklopädischen Darstellungen in Form alphabetisch gereihter Artikel erfolgte, so geschah dies vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden epistemischen Wende, die u. a. Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge erörtert (Foucault 1974). Die neuzeitliche Enzyklopädie stellt – die Gestaltungs- und Nutzungsoptionen des Kodex aufgreifend – ein Wissen dar, dessen Ordnung nicht mehr als absolut begriffen wird, sondern das an Repräsentationen gebunden ist.159 Diese unterliegen historischen und wissensgeschichtlichen Modifikationen. Diderots und d’Alemberts Encyclopédie entspricht dieser Konzeption der Enzyklopädie auf modellhafte Weise (zur Encyclopédie vgl. u. a. Blom 2005; Selg/Wieland 2001). Den Zusammenhang zwischen den Einzelartikeln, in welche die Enzyklopädie mit Anbruch der ‚alphabetischen‘ Ära zerfällt, sichern in der Regel Verweise der einzelnen Artikel untereinander. Auch diese Verweisstruktur ist evidenterweise kodexspezifisch: Sie verknüpft einzelne Teile des Kodex untereinander und basiert auf der spezifischen Kodex-Struktur, die es ja erlaubt, mühelos und schnell durch Blättern von einem Ort des Buchs an einen anderen zu gelangen (vgl. Kilcher 2012). Eine Spezialform der Enzyklopädie mit eigenen Materialsemantiken bildet die illustrierte Enzyklopädie. Die Bildbeigaben können dabei, wie bei Diderots Encyclopédie, in eigenen Teilen der Gesamtenzyklopädie zusammengestellt werden, oder aber in der Nähe der von ihnen jeweils illustrierten Artikel platziert werden. Letzteres wird erleichtert durch technische Möglichkeiten der Buchillustration, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausbilden und ausdifferenzieren. Bebilderte Enzyklopädien stellen in ihrer Eigenschaft als Kombination visuell-grafischer und verbaler Darstellungsteile für literarische, bildkünstlerische und buchkünstlerische Arbeiten ein besonders gestaltungsfähiges Grundformat und (ausgehend von konkreten historischen Beispielen) ein besonders variationsfähiges Bezugsrelat dar.  









159 „[…] der Versuch, eine neue Ordnung über die Welt zu stülpen, brachte den Enzyklopädisten die Willkürlichkeit jeglichen Ordnens zu Bewußtsein. Was der eine Philosoph zusammengefügt hatte, konnte der andere trennen.“ (Darnton 1998, S. 214)  

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Buch-Literatur und Enzyklopädistik. In Buch-Literatur und buchgestaltender Kunst wird das Formspektrum der Enzyklopädien und Lexika unter verschiedenen Akzentuierungen zum Ausgangspunkt genommen, erkundet, zitiert, imitiert, parodiert und modifiziert. Als ein an Repräsentationen gebundenes, in Artikel aufgeteiltes Wissen erscheint nicht nur die jeweilige historische Menge an Wissensbeständen fragmentiert, sondern in ihrem Spiegel auch die Welt, die da enzyklopädisch bzw. lexikografisch beschrieben wird. Mit fragmentiertem, zu Häppchen verarbeitetem Wissen lässt sich spielen wie mit einem Set von Bausteinen. Die alphabetische Form kann als Reihung heterogener und disparater Themen oder Diskurse genutzt werden und dazu dienen, Brüche, Kontraste, Inkompatibilitäten, Heterologien zu inszenieren oder sichtbar zu machen. Sie kann aber auch im Zeichen der Suggestion stehen, alles Mögliche ‚von A bis Z‘ zu behandeln, wobei diese Suggestion auch ironisch-parodistischen Charakter haben kann. Gerade das Format des Wissenskompendiums kann auch dazu genutzt werden, mit der Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Wissensbeständen zu spielen und sie zu destabilisieren. Artikel und Informationen über als real geltende Gegenstände können mit fingierten Informationen durchmischt oder hybridisiert werden. Zumindest implizit haben entsprechende Schreib- und Darstellungsformen einen fiktionsreflexiven und damit insbesondere literaturreflexiven Zug. Metaliterarisches und Buchreflexion verbinden sich damit aufs Engste. Lexikonromane. Der Lexikonroman bildet sich unter dem Einfluss anderer lexikografisch-literarischer Schreibweisen in den 1960er Jahren als literarisches Spezialgenre heraus.160 Zeitgleich entstehen in den USA (mit Richard Horns Encyclopedia) und Österreich (mit Andreas Okopenkos Lexikon. Roman sowie bald darauf mit Meteoriten) erste Beispiele. Verknüpft werden dabei jeweils fiktionale Anteile mit Deskriptionen und Reflexionen, die sich auf die historisch-kulturelle Wirklichkeit der Gegenwart beziehen. Entsprechende Verbindungen prägen auch spätere Lexikonromane, die teilweise in der Tradition des historischen Romans stehen; Anteile an fiktionalen, teils phantastischen Elementen können in Lexikonromanen unterschiedlich gewichtet sein. Konstitutiv für den Lexikonroman sind stets sein Erscheinungsbild und sein Aufbau in Artikeln, also der Rekurs auf ein spezifisches Buchformat sowie die damit verknüpften Konnotationen.161 Richard Horns Roman Encyclopedia erzählt in Form einer alphabetischen Artikelsequenz von einer Gruppe männlicher und weiblicher Figuren aus den USA der 1960er Jahre, deren Geschichten netzwerkartig miteinander verknüpft sind (Horn 1969; vgl. Malmgren 1985; Tyrkkö 2008). Ihre in teils sehr kurzen, teils langen Artikeln mitgeteilten Personalia sowie ihre Lebensläufe lassen sie als typische Zeitgenossen erschei160 Dazu gehören insbesondere das satirische Wörterbuch, der literarisch-ästhetische ‚Dictionnaire‘ im Stil der Surrealisten sowie alphabetisierte Texte aus dem Bereich literarischer Essayistik. 161 Signifikant sind diese auch für teillexikografische Romane, nur ist hier ja nicht die Gestalt des Gesamtbuchs betroffen. Vgl. als Beispiele etwa Sebestyén 1999; Senkel 2012.

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nen; die Artikelserie bietet ein Bild der zeitgenössischen US-amerikanischen Gesellschaft in repräsentativen Momentaufnahmen. Die Strukturierung des Romans in Einzelartikel unterläuft jede chronologische Ordnung; die Geschichten der Figuren ergeben keine linearen Sequenzen. Die typografische Gestaltung der Textteile als Lexikonartikel sowie Querverweise zwischen den Artikeln bestimmen das Erscheinungsbild und entsprechen dem insgesamt lakonisch-nüchternen, an Sachliteratur geschulten Darstellungsstil des Textes. Gleichwohl spielt Horn erkennbar mit der lexikografischen Form, etwa durch Wahl skurril erscheinender Lemmata oder durch Brüskierung der Erwartungen, die sich mit bestimmten Lemmata verbinden. Andreas Okopenkos Lexikon. Roman (1970) bietet als roten Faden durch eine nicht-chronologisch dargebotene, vom Leser allenfalls rekonstruierbare Fabel die Geschichte einer Dampferfahrt des Protagonisten J. auf der Donau. Der Romantext gliedert sich in alphabetisch gereihte Artikel zu den Bausteinen, aus denen die von J. wahrgenommene und vorgestellte Welt zusammengesetzt ist. Dazu gehören neben Personen und Ereignissen auf dem Schiff und in den durchreisten Landschaften auch Erinnerungen und Imaginationen – insbesondere Phantasien, die um eine Geliebte namens Barbara kreisen. Mit der fragmentarischen Geschichte seines durchschnittlichen Helden verknüpft Okopenko ein lexikografisches Porträt der Gegenwartswelt mit humoristischen und satirischen Elementen. Okopenkos Roman Meteoriten ist ebenfalls als lexikografische Artikelfolge gestaltet, die aber in stärkerem Maße als die des Vorgängerromans den Anschein einer alphabetisch arrangierten Materialsammlung erweckt. Der Band bietet fiktionale und faktuale Informationen zu einer Fülle von Gegenständen. Zwar tauchen manche Figuren wiederholt auf, aber vom Erzählen der Geschichte eines oder mehrerer Protagonisten entfernt sich dieser Text noch mehr. Dafür liegt ein Akzent auf der Vermittlung kulturellen, sachkundlichen, technischen und sonstigen Bildungswissens, das in Bruchstücken einfließt – ebenso wie eine Fülle von Zitaten und Quasizitaten aus unterschiedlichem Schrifttum. Gelegentlich einmontierte Materialien in Faksimile-Optik verstärken die Suggestion des Informationsmediums. Die von den oft kurzen Artikeln gespiegelte Zersplitterung der Welt in Einzelinformationen wird durch die Form des lexikografischen Buchs nicht aufgehoben, sondern eher zur Schau gestellt. Auch die Querverweise können den Verlust von Zusammenhängen nicht kompensieren. Milorad Pavić erzählt in seinem Lexikonroman Das chasarische Wörterbuch vom Volk der Chasaren, das zwar bereits vom Schauplatz der Geschichte verschwunden ist, dessen Spuren aber zu verschiedenen Zeiten von diversen Personen aufgenommen wurden (Pavić 1984, dt. 1988). Auch die Geschichten dieser Personen gehören zum Lexikon. Dieses gliedert sich in drei Teillexika und wird von fiktionalen Paratexten gerahmt, welche u. a. die Geschichte des Lexikons selbst skizzieren und Anleitungen zur Nutzung geben. Pavić nutzt die Form des Lexikons, um eine nicht nur in Teilgeschichten zersplitterte, sondern auch unterschiedlich interpretierte historische Welt zu modellieren. Als Lexikon aufgemacht, verdeutlich Das chasarische Wörterbuch die Perspektiven- und Interpretationsabhängigkeit auch vermeintlich faktualer Informa 





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tionen. Allerdings setzt sich mit der Akzentuierung der subjektiven Prägung und Perspektivik enzyklopädischer Wissensbestände eine Selbstkritik der Enzyklopädie fort, die bereits bei Diderot einsetzte. Spielformen und Themen literarischer Lexikontexte. Neben lexikografisch organisierten Romanen und gegen diese nicht trennscharf abgrenzbar, bietet gerade die Literatur der letzten rund 50 Jahre ein ganzes Spektrum an lexikografisch inspirierten, alphabetisch organisierten Schreibweisen und Textformen. Zu diesen gehören Werke in Form alphabetisch gereihter Artikel, die unter dem jeweiligen Stichwort reflexive, aber auch deskriptive Ausführungen zum jeweils evozierten Thema enthalten oder aber das Stichwort selbst erläutern und kommentieren. Dem Bauprinzip der alphabetischen Artikelreihung folgen auch diverse Werke, in denen sich essayistische und faktografische Anteile mit autobiografischen und selbstreflexiven Schreibweisen verbinden. Fließend ist der Übergang zum Textformat des literarischen Wörterbuchs. Lexikografische Texte, die auf die Realitäten, zumal auf soziale und politische, Bezug nehmen, sind durch einen Grundgestus des Ausstellens, Wahrnehmbarmachens und Diskursivierens bestimmt, der ein aufklärerisch-kritisches Potenzial hat, auch wenn er sich mit humoristischen oder subjektiv-persönlichen Zügen verbindet. Kurt Marti breitet 1971 in seinem lexikografischen Buch Abratzky oder Die kleine Brockhütte. Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens. Lexikon in einem Band (Marti 1971) heterogene, aber weitgehend skurril wirkende Wissensbestände aus einem Grenz- und Übergangsbereich zwischen Faktualem und Phantastisch-Spekulativem aus. Sozial-, zeit- und kulturkritische Akzente verbinden sich dabei mit einem Sinn für Entlegenes und Abseitiges. Der Titel des lexikografisch aufgebauten Kompendiums spielt nicht allein mit den Wörtern ‚Brockhaus‘ und ‚Blockhütte‘, sondern verweist auch auf das „Brockenhaus“, das laut eigener Definition eine „Sammelstätte nicht mehr verwendeter oder schadhafter Gegenstände“ ist (ebd., S. 21). Als Produkt der Kompilation anachronistisch-obsoleter und marginal-spezialistischer Informationen von teils fragwürdigem Sachgehalt präsentiert sich das Buch Martis als ein Brockenhaus im Kleinformat. In dieser Brock(en)hütte findet sich, verteilt auf die nicht systematisch angeordneten Schubfächer des Alphabets, manches, was sich recyceln lässt. Han Shaogongs Roman A Dictionary of Maqiao schildert das Leben der Bewohner eines Dorfes in der chinesischen Provinz über einen Zeitraum von der Kulturrevolution bis in die jüngere Vergangenheit (Han 1996, engl. 2003). Die Artikel nehmen ihren Ausgang jeweils von Vokabeln oder Ausdrücken, die zum Wortschatz der Dorfbewohner gehören und in dieser Eigenschaft deren Vorstellungswelten widerspiegeln – Welten, in denen sich reale historische Erfahrungen mit Imaginationen und Träumen mischen. Zeitkritisch wendet sich der Roman gegen normierende Tendenzen in Politik und Sprachgebrauch und optiert für das Eigenrecht peripherer Lebenswelten und Diskursgemeinschaften. Dazu gehört insbesondere auch das der Lesekultur, die sich auch angesichts drastischer Eingriffe der Kulturrevolution ins chinesische Schriftsystem ihrer  



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Tradition und der ausdifferenzierten Möglichkeiten der traditionellen Schriftsprache bewusst ist. Ann Marlow erzählt in einem lexikografischen Buch unter dem Titel how to stop time. heroin from A to Z (2000) die Geschichte ihrer eigenen Drogenkarriere und verbindet dabei autobiografische Informationen mit Insiderkenntnissen aus der Drogenkultur, aber auch mit Beobachtungen zu der zeitgenössischen Kultur, auf deren Boden Drogenkarrieren entstehen (Marlow 2000). Die Nutzung der alphabetischen Form lässt verschiedene Deutungen zu: Zum einen wird sie gehandhabt als Parodie der bürgerlichen Wissenskultur, deren Kehrseite das Wissen der Drogenkonsumenten darstellt; zum anderen erscheint sie angesichts eines fragmentierten, in Episoden und Erinnerungsbruchstücke zerfallenden Lebens als ein Hilfsmittel, um Form ins Durcheinander zu bringen und so gründlich wie möglich (‚von A bis Z‘) zusammenzutragen, was zum Thema Heroin (und zum eigenen autobiografischen Ich) gehört. Juri Rytchëu porträtiert in seinem Doroshny lexikon (Rytchëu 2008, dt. 2012) anlässlich der Erinnerung an eigene Lebensstationen die tschuktschische Kultur seiner Heimatregion in ihrem spannungsvollen Verhältnis zur russisch-sowjetischen Welt seiner Jugend. Das Buch, das die zu einer allmählich verschwindenden Welt gehörenden Informationen, Episoden, Kommentare aufnimmt, erscheint als Metonymie einer russisch-kyrillischen schriftkulturellen Sphäre, die den Tschuktschen als etwas Fremdes, aber auch als ein Medium der Konservierung transitorischen Wissens gegenübertritt. In ihren diversen Spielformen sind Lexikonromane und andere literarische Lexikontexte stets Buch-Literatur: Sie gehören zu den literarischen Genres, welche auf Form und Gestalt des Buchs in besonderem Maße aufmerksam machen, durch diese konstituiert und unauflöslich an sie gebunden sind. Kodexspezifische Organisationsmuster und Darstellungsformen sind für den Lexikonroman konstitutiv, bestimmen über die Perspektiven, aus denen sich Inhaltliches darstellt, Themen entfaltet werden, und sie prägen seine Rezeption. Durch Layoutgestaltung und typografische Mittel, ggf. auch durch illustrative Anteile und paratextuell wirkende Elemente kann die Beziehung zum Buchtypus Enzyklopädie bzw. Lexikon eigens hervorgehoben werden, so etwa durch dezidierte Gruppierung der Artikel entsprechend den Buchstaben des Alphabets (die typografisch hervorgehoben werden können), durch angefügte Glossare oder durch rahmende Vorworte. Bilder-Enzyklopädien als Anlässe der Buch-Reflexion. Das Spezialformat der bebilderten Enzyklopädie bietet besonders facettenreiche Möglichkeiten, buchgestalterische Mittel aus dem breiten Spektrum zwischen Wort und Bild, verbalen und visuellen Codes künstlerisch-reflexiv zu nutzen. Als Projekte der Buch-Literatur und der Buchkunst sind bebilderte Enzyklopädien ein ergiebiger Anlass, über den Anteil von Bebilderungen am enzyklopädischen Buch zu reflektieren – und damit über das Buch als Inszenierungsraum sprachlich und visuell vermittelten Wissens. Dies gilt sowohl für lexikografisch-buchliterarische Werke, die sich (unbeschadet einzelner phantastischer Anteile) vor allem der historischen Welt und geläufigen Erfahrungsgegenstän 

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den zuwenden, als auch für solche, die im Medium Buch neue Welten konstruieren und ausstatten, welche mit der Erfahrungswelt deutlich kontrastieren. Gerade insofern dabei dann kryptografische Formen, fremdartig wirkende Zeichen und Codes, Schriftsysteme und Bildprogramme zum Einsatz kommen, liegt ein Akzent auf Ebenen und Modi der Buchgestaltung. Solche Wissenskompendien über fingierte Welten haben Anteil an deren Fremdheit, weil sie in deren Codes verfasst sind, deren (rätselhafte) Ordnungssysteme in der Struktur des Buchs selbst materialisieren. Ein für diverse literarische Lexikografen und Buchkünstler wichtiger Impulstext, der von der Genese einer neuen Welt auf der Basis einer Enzyklopädie mit fingierten Informationen erzählt, ist die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis tertius von Jorge Luis Borges. Zunächst ausgehend von einem verbindenden Plan, realisierten Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki162 sowie Barbara und Markus Fahrner,163 letztere unter Mitarbeit anderer Beteiligter, in parallel verlaufender Projektarbeit jeweils eine Zweite Enzyklopädie von Tlön (vgl. dazu Teil B 2.6 sowie Teil D „Borges und die Buchkunst“). So unterschiedlich Bildprogramme und Bildmotive in beiden Projekten sind, sie verdeutlichen jeweils auf eigene Weise, über Borges hinausgehend, die konstitutive Bedeutung visueller Darstellungen für enzyklopädische Unternehmen.

Abb. B 17: Barbara Fahrner/Markus Fahrner: Zweite Enzyklopädie von Tlön. 1998–2002. Rückenansicht.  

Eine Enzyklopädie für unerschrockene Leser. Ror Wolfs Enzyklopädie für unerschrockene Leser, publiziert unter dem sprechenden Pseudonym „Raoul Tranchirer“,164 be-

162 Ketelhodt, Ines von/Malutzki, Peter: Zweite Enzyklopädie von Tlön. 50 Bde. Aufl.: 40 Exemplare. Frankfurt a. M. 1997–2006 (Künstlerbuch-Serie). 163 Fahrner, Barbara/Fahrner, Markus: Die zweite Enzyklopädie von Tlön. 5 Ringbuchordner. Aufl.: 10 Exemplare. Frankfurt a. M. 1997–2002. 164 Ror Wolf: Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser. Band 1: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt. 1983; erw. Neuausgabe Schöffling & Co. 1999. Band 2: Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose. 1988; erw. Neuausgabe 1997. Band 3: Raoul Tranchi 



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handelt in Form einer Serie von bebilderten, aber nicht im konventionellen Sinn ‚illustrierten‘ Lexikon-Bänden eine enzyklopädische Fülle an Gegenständen, die teilweise auf unheimliche Weise vertraut wirken. Erörtert werden rätselhafte, seltsame, in keinen Vertrautheitshorizont einzuordnende Themen, Objekte und Verhaltensweisen. Größer noch als die Fremdheitsanmutung mancher Lemmata und Beschreibungsobjekte ist die des Arrangements. Die alphabetische Struktur wirkt wie ein Netz, das sich über Heterogenes spannt, ohne es wirklich zusammenzuhalten. Als (relativ) stabilisierend wirkt nur die häufige Bezugnahme auf wiederkehrende Vorstellungsfelder: Gastronomie, Ess- und Tischsitten, Hygiene, Medizin, Sport und Körperlichkeit, gesellschaftliche Verhaltensmuster. Verweist diese Heterogenität auf parodistisch-überzeichnende Weise auch noch auf eine Grundeigenschaft alphabetischer Enzyklopädien – eben auf deren Eignung zur Aufnahme verschiedenster Informationen –, so nutzt „Tranchirer“ andere Strukturierungsmaßnahmen und -ebenen doch gegen den konventionellen Gebrauch (und macht insofern auf diesen Gebrauch als einen Aspekt der Buchkultur aufmerksam): (a) Seine alphabetisch gereihten Artikel enthalten zwar vielfache Verweise auf andere Artikel, aber diese sind nicht immer vorhanden. Die Idee einer buchinternen Vernetzung von Wissensbeständen wird schon durch solche Formspiele ad absurdum geführt, vom irritierenden bis abstrusen Inhalt der Artikel einmal abgesehen. Auch kommt es zu reziproken und dabei leeren Verweisen, etwa wenn unter dem Lemma „Ordnung“ auf „Unordnung“ verwiesen wird und vice versa – in beiden Artikeln ohne weitere Erläuterung. (b) Obwohl die Textseiten vielfach Bildelemente enthalten und zudem ganzseitige Bilder, vereinzelt auch Falttafeln mit Bildern in die Bände integriert sind, kann von einem illustrativen und explikativen Bezug der Bilder zum Text nicht die Rede sein. Oft lassen sich die Bilder kaum in einen sachlichen Bezug zu den benachbarten Artikeln setzen, und wo dies immerhin möglich ist, erscheint ihr Informationswert fraglich. Damit wird ein fundamentales Konstruktionsprinzip bebilderter Enzyklopädien ad absurdum geführt. (c) Nicht nur auf der Ebene der Einzelbandgestaltung verstößt „Tranchirers“ Projekt gegen die für konventionelle Enzyklopädien konstitutiven Anordnungs- und Relationierungsmuster, sondern auch mit Blick auf die Serie der Bände. Wiewohl unter dem Sammeltitel Enzyklopädie für unerschrockene Leser zusammengefasst, sind die Einzelbände unterschiedlich betitelt und nicht als Teile einer Serie ausgewiesen. Sie sind weder ein Set von Teilenzyklopädien zu spezifischen Themengebieten, noch schließen sie aneinander an; jeder Band vollzieht einen eigenen Durchlauf durchs Alphabet. Auf der Ebene der Collagebilder kommt es zur Wiederholung von Bildmotiven. (d) Parodistisch-dysfunktional gestalten sich die paratextuell wirkenden Teile  





rers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle. 1990. Band 4: Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens. 1994. Band 5: Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser & ihre überschaubaren Folgen. 2002. Band 6: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille. 2005. Band 7: Raoul Tranchirers Notizen aus dem zerschnetzelten Leben. 2014. Vgl. zu dem Gesamtprojekt und seinen Teilbänden auch Teil A 6.4.

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der Bände. In mehrfachen Vorwort-Teilen werden rätselhafte Anspielungen auf die (fingierte) Entstehungsgeschichte der Enzyklopädie gemacht, fiktive Gewährsleute, Autoren und Gegner genannt, irritierende Hinweise für den Leser gegeben. „Tranchirer“ nutzt via negationis den Hinweischarakter von Paratexten auf das von ihnen begleitete Buch: Inkonsistente und dysfunktionale Paratext-Bausteine verunklären bei ihm Identität, Funktion und Geschichte des Buchs. Ein verfremdetes Kinder-Bilderlexikon. Péter Zilahys bebildertes Lexikon Az utolsó ablakzsiráf. Öt éven Felülieknek (1998) entstand auf der Basis eines ungarischen Kinderlexikons (Zilahy 1998, dt. 2004), dessen Stichworte und Bilder teilweise verwendet wurden; im Original bilden die Stichwörter „ablak“ (Fenster) und „zsiráf“ (Giraffe) den Anfang und das Ende der Artikelreihe. Die Lemmata-Reihe und das Bildprogramm dieses Hypotextes, der eine heile sozialistische Kinderwelt beschwört, in der alles seine Funktion und seinen richtigen Platz hat, vernünftig erklärt und gelernt werden kann, überlagern Bilder aus einer anderen Welt, autobiografische Erinnerungsberichte und historische Informationen über Geschichte und Zeitgeschichte. Ein Großteil der Texte und der Bilder verweist auf die wechselvolle Geschichte Jugoslawiens sowie auf den Balkankrieg und die Zersplitterung des jugoslawischen Vielvölkerstaates in der Post-Tito-Ära; der Bericht des ungarischen Autors beruht teils auf eigenen Erfahrungen und eigenen Fotos. Die Idee der Fragmentierung kommt zudem in der inhaltlichen Diversität der (über die des Kinderlexikons hinausgehenden) Lemmata sowie in den Kontrasten der verwendeten Bildprogramme zum Ausdruck. Reflexiv gegenüber dem Format des enzyklopädischen Buchs verhält sich Zilahys Lexikon vor allem durch Akzentuierung des Moments von Disparatheit und Zersplitterung: Lexika bieten ‚Welten‘ in Bruchstücken – und erscheinen insofern dazu disponiert, zerbrechende Welten darzustellen. Ein weiterer buch-reflexiver Aspekt ergibt sich aus dem hypertextuellen Charakter des Projekts: So wie konventionelle Lexika auf der Kompilation bereits vorliegender Informationen beruhen und oft wiederholen, was bereits in Vorgängerlexika steht, so wie lexikonfähiges Wissen eben gerade durch solche Wiederholung profiliert wird – so wiederholt Zilahys Kompendium Bestände des Kinderlexikons. Dass dieses dabei bis zur annähernden Unkenntlichkeit verfremdet wird, korrespondiert der radikalen Veränderung der Welt durch die politischen Ereignisse des späteren 20. Jahrhunderts, vor allem in Jugoslawien. Die heile politisch-ideologische Kinderwelt, metonymisch durch das Kinderlexikon repräsentiert, ist unter ihrer Überarbeitung fast verschwunden.  





Parodie eines illustrierten Taschenlexikons. Jim Avignon nimmt in seinem spielerisch aufgemachten Bilderbuchlexikon Welt und Wissen. Band 1 (Avignon 2003) Bezug auf einen spezifischen Typus des Lexikons und seine Gebrauchsweisen: auf das Wissenskompendium in Taschenformat zur Vermittlung von Grundlagen- und Übersichtswissen, gegliedert in einzelne Wissensbereiche, wie es gern von Schülern für Prüfungsvorbereitungen genutzt wird. Die grafische und buchgestalterische Aufma-

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Teil B Buch-Geschichten

chung ist auf diesen Lexikontypus abgestimmt, doch mit der vom Format verheißenen Erwartung einer Grundorientierung wird gespielt: Die Texte sind zu weiten Teilen eher narrativ als deskriptiv; sie bieten kein ‚Schulwissen‘; ihre disziplinäre Zuordnung erscheint unklar. Die Bilder und Bildseiten sind keine Illustrationen, und auch sie werfen eher Fragen auf als Auskünfte zu bieten. Dabei nutzt Avignon ein Bildprogramm, das in seiner vereinfachenden Formensprache zwar für (schüler-)lexikografische Zwecke passend erscheinen könnte, integriert Logos, Diagramme und andere grafische Elemente in die Bildseiten – aber der Bezug dieser Buchelemente zur gegenständlichen Welt erscheint rätselhaft. Angesichts der an Baukästen erinnernden Bilder- und Textwelt wird der Leser eher zum Weltenbauen aus den gebotenen Text- und BildBausteinen aufgefordert (und zur Selbst-Konstruktion), als dass man etwas über die Wirklichkeit erführe. Der orientierende Effekt paratextueller Buchelemente wird konsequent parodiert und unterlaufen, beginnend mit dem Titel, der von „Band 1“ spricht, ohne dass es Folgebände gäbe.  

Enzyklopädie einer imaginären Welt. In den Bänden seiner Ancestors-Trilogie (The Case for the Burial of Ancestors) hat Paul Zelevansky die Enzyklopädie einer imaginären Welt vorgelegt (Zelevansky 1981, 1986, 1991). Buch I gilt vor allem der Geografie, Buch II der „Genealogy“, Buch III kulturspezifischen Wissensgegenständen und Themen („The History of the H Tabernacle in Exile“). Der Buchkünstler verwendet eine Fülle an Symbolen und Zeichen, spielt auf zahlreiche Mythen an, spielt mit heterogenen kulturellen Beständen, Darstellungsmodi und Wörtern. Beschrieben werden die „Hegemonions“, eine alte Wüstenkultur, zugleich das Volk des Buchs. Dieses Wüstenvolk lebte im mittleren Osten.165 Das Bildprogramm der Ancestors-Bände ist inspiriert durch verschiedene Bild- und Buchquellen: mittelalterliche Manuskripte, Fotos, Druckwerke, Hieroglyphentexte.166 Die Texte sind in englischer Sprache verfasst, wirken aber bedingt durch die Vielfalt an eingesetzten Schriften und grafischen Arrangements vielsprachig. Inszeniert wird ein breites Spektrum schriftbildlicher Mittel; alle Textpassagen und -bausteine haben zugleich stets ein besonderes Aussehen, viele bildlich gestaltete Partien wirken wie aus Logos (und damit aus einer codierten Schrift) zusammengesetzt. Typografisch simuliert werden verschiedenste Praktiken des Schreibens bzw. der Textproduktion: Neben Texten, die ein breites Spektrum an Schriftfonts aus dem Bereich des Buchdrucks repräsentieren, stehen Abschnitte, die an Schreibmaschinen-Typogramme oder an Stempel-Texte erinnern, sowie eine Textcollage aus ausgeschnittenen Wortschnipseln (vgl. Zelevansky 1981, S. 113); grafisch  

165 Zur Beschreibung seiner Kultur sucht Zelevansky nach passenden Motiven und Hinweisen im Alten Testament und in Werken der Weltliteratur wie Herman Melvilles Moby Dick und Thomas Manns Zauberberg. 166 Zu den Büchern I-III gibt es ergänzend ein Computerspiel, eine Floppy Disc, einen transparenten Umschlag mit Briefmarken, auf denen jeweils eine Karte eines tragbaren Kartenspiels aus der AncestorWelt verkleinert wiedergegeben ist.

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zitiert werden Textträgerformen wie Brief, Karteikarte, Formular, Heftseite etc. Als buchreflexiv lässt sich bereits der Titel der Trilogie verstehen: Das Buch selbst ist „The Case for the Burial of Ancestors“, ist das ‚Grab‘ der Vorfahren und der Kultort der Nachfahren, ist der ‚Behälter‘ für das, was die Vergangenheit der Gegenwart vermacht hat. Zelevanskys dreigeteilter Behälter zeigt, was im Buch alles vorkommen kann – und zugleich, welche Anpassung ans Buch dabei erfolgt: Die bildlichen Elemente werden bestimmt von einer starken Stilisierung und deuten auf eine Assimilation der sichtbaren Welt an grafische Codes; die Schriftelemente sind zwar ausnehmend variantenreich, aber eine als Körperspur deutbare Handschrift ist nicht dabei.  

Das Buch als Bilder-Raum: Ein Künstlerbuchprojekt über das Bildprogramm eines Lexikons. John M. Carrera hat mit seinem auf Webster’s Dictionary beruhenden Künstlerbuch Pictorial Webster’s/A Visual Dictionary of Curiosities das Bildmaterial dieses weitverbreiteten lexikografischen Kompendiums recycelt, seine Bildprogramme gewürdigt und damit das besondere Augenmerk auf die grundlegende Signifikanz von Bebilderungsverfahren für Prozesse der Darstellung und Vermittlung von Wissen gelenkt (Carrera 2009; 2012). Das Pictorial Webster’s besteht aus einem neuen, nicht der ursprünglichen Reihenfolge entsprechenden Arrangement der Illustrationen aus dem ursprünglichen Webster, herausgelöst aus ihren Artikelkontexten. Die übernommenen Stiche wurden sorgsam ausgewählt. Analog zum Ausgangsbuch existiert auch Carreras Pictorial Webster’s in einer komprimierten Taschenausgabe. Carrera bietet also (in zwei Varianten) ein Lexikonderivat ohne Text. Er betont aber den Erkenntniswert der Bilderkompilation – lasse sie doch Rückschlüsse darauf zu, was dem 19. Jahrhundert als wissenswert galt und welche Perspektiven dabei zur Geltung kamen. Dies wiederum stehe im Kontext umfassender epistemischer Voraussetzungen. Kernprojekt des 19. Jahrhunderts sei es gewesen, die Weltdinge nach Kategorien zu erfassen, um sie auf der Basis dieser Kategorisierung zu verstehen („to make sense of the world through categorization“; Carrera 2009, S. XV). In seinen paratextuellen Erläuterungen erörtert Carrera das Ineinandergreifen ästhetischer und technischer Aspekte bei der Ausprägung und Ausdifferenzierung von Bildkulturen. Ausführlich würdigt er die technische Kunstfertigkeit der Illustratoren, gibt Einblicke in die Technikgeschichte der Buchillustration und in lexikografische Illustrationspraktiken des 19. Jahrhunderts. Illustratoren lexikografischer Kompendien interpretieren die Welt – und schaffen dabei Bilder, an denen sich ihre Kultur orientiert, wenn es darum geht, mit einem bestimmten Begriff eine bildliche Vorstellung zu verbinden. Insofern schaffen gerade solche Illustratoren Surrogate der nicht existenten platonischen Ideen: ein Reservoir an Bildern, die von ihrer Kultur als Urbilder wahrgenommen werden.167 Dabei geht es nicht allein  











167 „Once one depicts something more complex than images of geometry, the decisions of the artist become crucial to our understanding of what is being illustrated. This problem of properly portraying a term can be stated in philosophical terms as an American attempt to illustrate pure forms. Because many of the images in the Webster’s dictionaries were copied widely by other dictionaries, Webster’s images of

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Teil B Buch-Geschichten

um Faktisches, sondern auch um Gegenstände des kollektiven Vorstellungsvermögens, um Fiktionales und Phantastisches.168 Ein Lesikon als Kommunikations-Raum. Ein Meta-Buch, das sich der Materialität des Kodex widmet und ihn auf enzyklopädische Weise beschreibt, hat Juli Gudehus mit ihrem voluminösen Kompendium Das Lesikon der visuellen Kommunikation. Eine Collage (2010) vorgelegt (Gudehus 2010). Das Gegenstandsfeld umfasst zahlreiche Formen, Medien und Prozesse der Kommunikation; der Band informiert über Praktiken der Text- und Bildgestaltung, über Satz, Typografie und Druck von Büchern, über deren Herstellung und Vertrieb. Buchreflexiv ist das Lesikon auch durch seine eigene physisch-materielle Beschaffenheit, auf die es durch diverse ungewöhnliche Eigenschaften aufmerksam macht: Genau 3.000 Seiten auf dünnem Papier umfassend, ist das in einem Schuber vertriebene Buch inhaltlich wie physisch ein ‚gewichtiges‘ Werk. Zwar nicht bebildert, arbeitet das Lesikon doch mit stark ausdifferenzierten Spielformen der Schriftbildlichkeit, die zudem für viele Artikel inhaltlich prägend ist. Die Gestaltung der schriftlichen Dimension des Bandes steht, unbeschadet des dichten sachbezogenen Informationsgehalts, teilweise im Zeichen spielerischer Experimente, so bereits durch die Verfremdung des Namens ‚Lexikon‘ zu Lesikon und durch die gelegentliche Verwendung einer winzig kleinen Schrift an der Grenze des Lesbaren auf dem Buchschuber. Durch seinen ungewöhnlichen Umfang von 3.000 Seiten demonstriert das Lesikon an und durch sich selbst, wie viel an Inhalten ein Buch fassen kann. Alles hier – in 508 Kapiteln und insgesamt 9.704 Stichworten – ausgebreitete Wissen ist direkt oder indirekt buchbezogen. Der Band ist nicht alphabetisch aufgebaut; die Artikel sind weder insgesamt noch innerhalb der einzelnen Buchteile alphabetisch gereiht. Sie gruppieren sich zu kapitelartigen Clustern. Bei der Orientierung in den 508 Kapiteln hilft ein immerhin dreiseitiges Inhaltsverzeichnis. Wenn ‚Buchwissen‘ mit Fülle und Breite assoziiert wird, dann bietet das Lesikon in mindestens doppeltem Sinn ‚Buchwissen‘. Es basiert unter anderem auf der Lektüre vieler Bücher, die konsultiert wurden, um das Buch, seine Genese und sein Umfeld weitläufig zu erkunden. Das Lesikon enthält eine unüberschaubare Fülle von Zitaten, hat daher – wie für eine umfangreiche Enzyklopädie nicht ungewöhnlich – viele ‚Autoren‘. Ein alphabetisches Register der zitierten Autoren ist dem Band angehängt: auf 68 Seiten werden 3.512 Lesikon-Beiträger genannt. Der Band präsentiert sich als „Collage“ aus Sprachmaterialien sowie (mittelbar) aus Diskursen (vgl. ebd., S. 8). Als Titel der Kapitel fungieren teils Begriffe und Stichworte aus dem Praxis- und Wissensbereich  









things such as an anchor, an anvil, or Atlas have become iconic to our culture. Lacking consensus in what the Platonic ideal of any individual thing would look like, artists were entrusted with the responsibility of rendering acceptable representatives of an entry.“ (Carrera 2009, S. XV) 168 „The ‚Pictorial Webster’s‘ is in effect a Wonder Cabinet of the Nineteenth Century. It is filled with both the Factual and the Fantastic.“ (Ebd., S. XIX)  



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visueller Kommunikation. Hinzu kommen Redewendungen, Sprachspiele und Fragen; auch Adjektive und Partizipien tauchen als Kapitelnamen auf. Obwohl das Buch ein sachlich fundiertes, informatives Kompendium zu einem spezifischen Wissensbereich ist, hat es doch auch spielerische Anteile, ja es lässt oft an Romanhaftes und Phantastisches denken: Die Artikelserie enthält eine Vielzahl von Anspielungen auf Frühling, ‚Frühlingsgefühle‘ und erotische Beziehungen. Gestalten aus der jüngeren Geschichte visueller Kommunikation wie die ‚Mainzelmännchen‘, der ‚Michelinmann‘ und die ‚Ampelmännchen‘ erscheinen als Grenzgänger zwischen realer historischer Welt und einer Sphäre kollektiver Imaginationen (vgl. ebd., S. 97–107). Das Lesikon lässt sich auf unterschiedliche Weisen lesen – und die Unterschiede zwischen Lesestrategien an sich selbst zu demonstrieren, ist ein wichtiges buchreflexives Teilprojekt des Bandes. Erstens kann man systematisch nach gewünschten Informationen suchen. Dies ist möglich, aber mühsam, da man angesichts des Verzichts auf eine alphabetische Gesamtordnung zunächst die umfangreichen und insofern selbst anstrengenden Paratexte (Register, Inhaltsverzeichnis) studieren muss. Eine zweite Möglichkeit, nämlich die, den Band von vorn nach hinten durchzulesen, um nichts zu übersehen, wird durch den schieren Umfang des Buchs erschwert. Es bleibt als dritte Option ein Herumstreifen im Buch aus Entdeckerfreude an dem, was sich dabei unversehens an Informationen ergibt. Das Lesikon lädt zu randonnistischem Durchstreifen des Buchraums ein, in diesem Punkt nicht unähnlich manch umfangreicher Enzyklopädie. MSE  



B 2.6 Enzyklopädie-Konzepte und ihre Aufnahme durch das Künstlerbuch Ein enzyklopädisches Anliegen scheint vielen Buchtypen geradezu eingeschrieben, bietet doch gerade die Struktur des Buches die Voraussetzungen, Themengebiete zu gliedern und über die Abfolge von Seiten in eine handhabbare Ordnung zu bringen, die unter anderem mittels Inhaltsverzeichnis und Register nachvollziehbar und nutzbar wird. Solch übergeordnete Strukturen sind inhaltlich wie formal flexibel, lassen sich beliebig ausweiten und auf einzelne Bände ebenso anwenden wie auf Bandreihen. ‚Enzyklopädische‘ Bücher im engeren Sinne sind Lexika aller Art, in einem weiteren aber auch Sammelwerke zur Pflanzen- und Tierwelt, naturgeschichtliche Kompendien und Atlanten. Zu unterscheiden sind Spezial- und Universalenzyklopädien. Gelegentlich deutet sich das Anliegen umfassender Wissensvermittlung in Titeln wie etwa „Liber Floridus“, „Hortus Deliciarum“, „Gemma gemmarum“ oder „Schatzkammer“ an, die auf die summarische Fülle ihrer Gegenstände hinweisen. Metaphorische und metonymische Hinweise auf enzyklopädische Intentionen geben auch Titel wie „Theatrum“, „Speculum“, „imago mundi“ und „Historia“. Enzyklopädische Kompendien werden oft auch als „Realenzyklopädie“, „Real-“ oder „Konversationslexikon“

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Teil B Buch-Geschichten

bezeichnet oder sind unter den Eigennamen ihrer Herausgeber oder Verlage etwa als Duden oder Brockhaus etc. bekannt. Merkmale enzyklopädischer Bücher. Charakteristisch für moderne Enzyklopädien sind inhaltliche Ausdifferenzierung und eine die Einzelabschnitte verknüpfende Verweisstruktur. Die Artikel zielen auf begriffliche Definitionen und Beschreibungen, die das Wesentliche zu den jeweiligen Themengebieten mitteilen. Dabei unterscheiden sich enzyklopädische Werke in ihrer Ausführlichkeit wie auch in der Strukturierung. Konversationslexika beschränken sich in der Regel auf möglichst knappe deskriptive Zusammenfassungen, Fachlexika hingegen widmen sich spezifischen Wissensbereichen und Termini, häufig verbunden mit Literaturhinweisen und Quellenangaben. Ergänzend können in die Texte Abbildungen integriert oder dem Korpus Schautafeln, Schemata und Pläne beigefügt sein, die eine visuelle Orientierung ermöglichen. Die enzyklopädischen Zusammenstellungen bedingen eine Informationsdichte, die sich mehr für eine konsultierende und informierende als für eine extensive Lektüre eignet, eine Lektüre, die nicht auf Linearität angelegt ist und über Querverweise wie ergänzende Quellenangaben ihr enzyklopädisches Anliegen unterstreicht. Historische Stationen. Als ,,Enkyklos paideia“ wurde zunächst das unter die Artes liberales fallende Wissen bezeichnet, das in der griechischen Antike als grundlegend für die Bildung eines freien Griechen galt, um im Weiteren auf ein Wissenssystem ausgeweitet zu werden, das in systematischem Zusammenhang die verschiedenen Wissenschaften und Künste zusammenfasste (vgl. Henningsen 1966, insb. S. 310; Jäger 1954, insb. S. 23ff.). Dazu gehörten unter anderem Werke wie Francis Bacons Novum organum scientiarum von 1620, Johann Friedrich Wilhelm Hegels Enzyklopädie der Wissenschaften von 1817, Johann Georg Sulzers Kurze Begriffe aller Wissenschaften von 1745 und umfangreiche, über viele Jahre hin zusammengestellte Wissenssammlungen, für die in erster Linie Denis Diderots und Jean-Baptiste le Rond d’Alemberts Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres zu nennen ist, dessen 28 Bände von 1751 bis 1780 erschienen. Die mehrbändigen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts bildeten den Auftakt für eine Flut von Konversationslexika, die im 19. Jahrhundert in den Handel kamen, wie etwa Brockhaus’ Conversations-Lexicon oder Allgemeines deutsches Conversations-Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes.169 Das Interesse an Enzyklopädien und Wörterbüchern war seit dem 18. Jahrhundert so angewachsen, dass Dom Calmet, Verfasser des 1730 erschienenen Dictionnaire historique, critique, chronologique, géographique et littéral de la Bible vom Jahrhundert der Enzyklopädien sprach, das es nahelege, ein Dictionnaire des dictionnaires zu verfassen (vgl. Mervaud 2008, S. 10).  











169 Brockhaus Conversations-Lexicon, Erste Aufl. Leipzig 1796–1809/1811; Allgemeines deutsches Conversations-Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes. Leipzig 1839.

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Die Encyclopédie. Diderots und d’Alemberts Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, entstanden zwischen 1751 und 1780, umfasste 17 Textbände mit rund tausend Seiten Umfang und elf Bände mit Abbildungen; 1776 und 1777 erschien ein Supplement mit vier weiteren Textbänden und einem Abbildungsband. Basis für die Wissenseinteilung war eine bereits von Francis Bacon genutzte Ordnung, der gemäß sich die natürlichen und menschlichen Erscheinungen empirisch erschlössen und auf gesetzmäßige Zusammenhänge geschlossen werden könne. In den Artikeln der Encyclopédie wird der aktuelle Kenntnisstand erfasst, durch die Benennung von Lücken aber auch die Endlichkeit von Wissen thematisiert. Aus ständig fortschreitenden Erweiterungen und Aktualisierungen gingen immer neue Ergänzungsbände hervor. Die Encyclopédie enthielt nicht nur die Summe des Wissens, das sich seit der Renaissance angesammelt hatte, sie suchte darüber hinaus auch ein Programm zur praktischen Umsetzung der theoretischen Kenntnisse bereitzustellen – ein Anliegen, das den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, der beginnenden Industrialisierung und dem damit verbundenen Machtpotenzial des Bürgertums entsprach. Deutlich wird das unter anderem an der Bedeutung, die die Herausgeber der Produktion von Gütern zumaßen, indem sie Handwerkstechniken, Maschinen und Manufakturen ausführlich darstellten und auch bei den Künsten einen deutlichen Akzent auf Techniken und Herstellungsverfahren legten. Um Authentizität und Praxisbezug zu gewährleisten, suchten die Verfasser der entsprechenden Artikel Werkstätten auf, ließen sich von den Handwerkern die Arbeitsschritte vorstellen, Fachausdrücke erläutern und die Werkzeuge mit ihrer Anwendung beschreiben (vgl. Diderot 1750). An den mehrbändigen Editionen arbeiteten ganze Teams von Spezialisten, Redakteuren und Übersetzern, die sich bei ihrer Arbeit auf bereits vorhandene Fachbücher und Sammelwerke stützten. Bekannt sind die Namen von 160 Personen, die, auf der Grundlage bereits vorliegender enzyklopädischer Werke aus dem englischen und deutschen Sprachraum, kompilierten, überarbeiteten, ergänzten und neu schrieben.170 Diverse Werke lieferten Material für die französische Enzyklopädie.171  

170 Als Basis hatten unter anderem die Cyclopaedia von Ephraim Chambers, das Lexicon-Technicum von John Harris, das New General English Dictionary von Thomas Dyche, das von Fontenelle überarbeitete Dictionnaire des termes des arts et des sciences von Thomas Corneille, das Dictionnaire universel de commerce von Jacque Savary des Brûlons und Louis-Philémon Savary sowie die Elementa Physicæ Conscripta in usus Academicos von Pieter van Musschenbroek gedient. Bei den Schautafeln, die in eigenen Bänden zusammengestellt wurden, hatten als Vorlage das 1724 in Leipzig verlegte Theatrum Machinarum Generale. Oder Schauplatz Des Grundes Mechanischer Wissenschafften von Jacob Leupold sowie die 1704 erschienene Description et perfection des arts et métiers als Vorbilder gedient. Letzteres war, neben dem Novum organum von Francis Bacon auch für die Darstellung der Künste verwendet worden. Für den philosophischen Teil hatten Jacob Bruckers Historia critica philosophiae von 1744 und Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique als Vorlage gedient. Doch waren alle Quellen einer gründlichen Revision unterzogen worden, so dass im Resultat die Bezüge kaum noch zu erkennen sind. 171 Die von Ephraim Chambers 1728 in London veröffentlichte Cyclopaedia war eine der ersten Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, die den Versuch unternahmen, Überblick über die wichtigsten Bereiche  

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Instruktiv ist ein Vergleich der Abbildungen mit der einbändigen Cyclopaedia von Ephraim Chambers, die von den französischen Enzyklopädisten ausgewertet wurde und nur acht über den ganzen Band verteilte Tafeln enthält. Die von Chambers im Vorwort abgebildete Baumstruktur der Wissensfelder macht deren Aufgliederung und die Konzeption des Werkes deutlich. Die Wissensgebiete sind zunächst in zwei große Gruppen unterteilt, von denen die eine das natürliche und wissenschaftliche, die andere das handwerkliche und technische Wissen enthält. Das Zusammenspiel aller Wissensbereiche visualisiert eine an den Beginn des Bandes gestellte, in Kupfer gestochene Darstellung der Propyläen. Sie zeigt die Vertreter der verschiedenen Wissenschaften, die den Zirkel des Wissens, die cyclopaedia, personifizieren. Leupolds Theatrum Machinarum, ein wegweisendes Kompendium zur Maschinenkunde, war für Diderot und d’Alembert wichtig, weil ihnen die hier auf 20 Tafeln zusammengestellten Konstruktionszeichnungen von Maschinen und Maschinenteilen ein Beispiel dafür lieferten, wie die schriftlichen Ausführungen durch Schaubilder nicht nur ergänzend veranschaulicht, sondern auch in ihrer Funktionsweise erläutert werden konnten. Den Abbildungen gilt in Diderots und d’Alemberts Enzyklopädie große Aufmerksamkeit. Ihren Schautafeln sind eigene Bände mit ganzseitigen Darstellungen gewidmet, die der Spezifik der Themenfelder entsprechend strukturiert sind und dabei sowohl Übersichts- als auch Detaildarstellungen bieten, häufig übergehend vom Allgemeinen zum Besonderen.172 Die Anzahl der Schautafeln weicht innerhalb der einzelnen Gebiete stark voneinander ab. Techniken sind allgemein ausführlich erfasst.

aus Wissenschaft, Kunst und Philosophie zu geben, hierin eingeschlossen Fragen der Wirtschaft, Religion und praktische Anliegen des täglichen Lebens; doch bestand sie nur aus zwei Bänden. Das dennoch umfassende Anliegen bekundet der volle Titel von Chambers’ Werk: Cyclopædia, or, An universal dictionary of arts and sciences: containing the definitions of the terms, and accounts of the things signify’d thereby, in the several arts, both liberal and mechanical, and the several sciences, human and divine: the figures, kinds, properties, productions, preparations, and uses, of things natural and artificial: the rise, progress, and state of things ecclesiastical, civil, military, and commercial: with the several systems, sects, opinions, &c : among philosophers, divines, mathematicians, physicians, antiquaries, criticks, &c : the whole intended as a course of ancient and modern learning. London 1728. Allerdings hatte auch Chambers auf vorhandene Werke zurückgegriffen, wie John Harris’ Lexicon-Technicum, das wiederum auch von den französischen Enzyklopädisten herangezogen wurde. 172 Das Kapitel „Schrift und Buch“ beispielsweise gibt anhand von 25 Tafeln zunächst einen Überblick über die verschiedenen Alphabete, die mit Mustern zur Schreibschrift enden, um dann auf den nachfolgenden Tafeln Situationen und Werkzeuge des Schreibens zu visualisieren, etwa die Körperhaltung und das Führen der Schreibfeder. Es folgen Abbildungen mit detaillierten Hinweisen, wie die Schreibfeder zuzuschneiden sei, um einen bestimmten Duktus zu erzielen, was unmittelbar auf der nachfolgenden Schautafel vor Augen gestellt wird. So ergibt sich eine Abfolge, die von der Tätigkeit des Schreibens über das Schreibgerät zum Schriftbild führt. Die Ausführungen zum Schreiben leiten über zum Thema Papierherstellung, das mit der Aufbereitung der Bütten beginnt, von hier zu Gebäudegrundrissen und zur Ansicht einer Manufaktur überleitend. Es folgt eine detaillierte Aufstellung der in einer Papiermanufaktur notwendigen Gerätschaften. Die verschiedenen Produktionsschritte werden anlässlich der Maschinen abgehandelt, deren Konstruktionsweisen erläutert werden.

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Diderot und d’Alemberts Enzyklopädie gab den Anstoß für ähnliche Vorhaben. So verfasste Voltaire mit dem Dictionnaire philosophique ou La Raison par alphabet ein eigenes Lexikon, das 1764 in einer ersten Auflage vorlag, der aber bald schon erweiterte Neuauflagen folgten.173 In den Folgejahren nahm Voltaire mit Questions sur l’Encyclopédie ein weiteres alphabetisches Kompendium in Angriff, das zwischen 1770 und 1772 in neun Oktavbänden bei Cramer in Genf erschien (vgl. Mervaud 2008, S. 233). Von den 440 Artikeln waren 50 Wiederaufnahmen der bereits im Dictionnaire philosophique publizierten Artikel, die ihrerseits wiederum wieder in neue Zusammenhänge aufgenommen und weiterverbreitet wurden. So wurde das ursprüngliche Dictionnaire philosophique permanent reorganisiert. Die Artikel der alphabetisch strukturierten Enzyklopädien konnten unabhängig voneinander gelesen, die Schautafeln losgelöst von den Texten nach Bedarf konsultiert werden. Diese Flexibilität der Nutzung, aber auch der enzyklopädisch-umfassende Informationsanspruch sowie die Vielfalt der Gegenstände liefern Anregungen für Künstler, die sich mit dem Buch als Ausdrucksmedium beschäftigen. Auch die Zusammenführung verschiedener Zeichensysteme und Strukturen kommt Interessen der Buchkünstler entgegen.  

Enzyklopädie-Reminiszenzen im Künstlerbuch. Auf das Genre des Lexikons verweist das Dictionaire grapho grammatico von Klaus-Peter Dienst, ein einbändiges Werk, dessen geläufiges Schriftbild durch Überzeichnungen transformiert ist.174 Basis der Texturen sind die in Fraktur gesetzten Seiten von historischen Romanen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Indem Dienst die Texte mit seitenweise wechselnden Netzen aus Linien und Pseudoschriftzeichen überzieht, macht er zwar den ursprünglichen Text unlesbar, liefert zugleich aber eine Abbildung, die eine eigene Weise der Erfassung erfordert. Jede Seite wirft erneut die Frage auf, wo das (vermeintliche) Schriftbild aufhört und wo eine nicht mehr als Schrift zu betrachtende Darstellung beginnt. Die Grenze zwischen Text und Bild wird in Diensts Buch als fließend beschrieben. So zeigt die Titelseite zwar ein heterogenes, aber aus eindeutigen Schriftzeichen gefügtes Bild. Doch bereits mit den gebrochenen Schriften im Innenteil wird das Leseverständnis zur Disposition gestellt. Gänzlich aufgelöst wird es dann mit den von Zeichnungsrastern überzogenen Schrifttypen. Diensts Enzyklopädie wägt gleichsam ab, indem sie den Wandel thematisiert und Seite für Seite neue Beispiele anführt, wo das Lesen vom Betrachten abgelöst wird. L’Analphabeticon. Encyclopédie à l’usage des lettrés et des illettrés ist ein 16 Bände umfassendes Werk von George Brecht und Rudolf Rieser, das 1981 im Verlag Contem 

173 Die Ausgabe von 1769, von Voltaire nun La Raison par alphabet genannt, umfasst bereits 118 Artikel. 1764 erschien eine 352-seitige Oktavausgabe mit 73 kürzer gefassten Artikeln, die, anders als die bisher vorliegenden Werke, vor allem handlich sein sollte. 174 Vgl. Dienst, Klaus-Peter: Dictionaire grapho grammatico. Köln 1968, 93 Seiten, 20,8 x 14,8 x 0,8 cm. Vgl. auch Glasmeier 1987, S. 95, Nr. 161; Gilbert 2014, S. 99–101.  















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pora Libri et Artes in Vaduz erschien.175 Die sich auf den ersten Blick kaum unterscheidenden Bände bilden erkennbar einen Werkkomplex. Auffällig ist allerdings, dass sie keine Bandnummer tragen und auch sonst keine Merkmale zeigen, aus der eine Reihenfolge ersichtlich würde. Lediglich die umseitig auf die Banderolen aufgedruckten Motive variieren. Ein entsprechender Vermerk auf eine Abfolge fehlt auch innerhalb der Bände, zudem gibt es weder ein Titelblatt, noch überhaupt einen im konventionellen Sinn lesbaren Text. Der Inhalt aller Bände besteht in Zeichen, die teils Bildcharakter haben, bisweilen aber auch gänzlich abstrakt bleiben oder aufgrund schlechter Reproduktion unlesbar sind. Die Bildmotive sind sehr unterschiedlich, sie zeigen u. a. Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Politik, darunter Picassos in einem schmalen Ausschnitt erfasstes Gesicht und ein Bildnis von Leonardo da Vinci, ferner als Insignien, Kenn- oder Wahrzeichen dienende Motive wie die römische Wölfin, die Bremer Stadtmusikanten oder das Kolosseum in Rom, Anspielungen auf bekannte Kunstwerke (wie das mit In advance of a broken arm betitelte ready made von Marcel Duchamp oder Albrecht Dürers hockender Hase). Andere Motive scheinen Werbebroschüren oder Warenkatalogen entlehnt zu sein; man sieht Haushaltsgeräte und das Logo der Deutschen Bank, wieder andere Bilder sind unspezifisch wie Ornament, Kreisel oder ägyptische Schriftzeichen. Die Abfolge zeigt größtmögliche Variation, lässt aber kein Prinzip erkennen, also weder eine motivische noch eine formale Ordnung. Manche Darstellungen, häufig an schlechte Kopien erinnernd, fallen zudem so klein aus, dass sie kaum mehr als Punkte oder Kleckse auf der Buchseite zu erkennen sind. Wirklich gut zu erkennen sind nur solche Darstellungen, die von Anfang an auf Linien oder vollflächige Formen angelegt wurden. Auf jeder Seite findet sich immer nur ein einziges Motiv. So entsteht der Eindruck, die Motive befänden sich im Prozess ständiger Neuformatierung oder Auflösung. So ergeben sich Reminiszenzen an die Fluxus-Bewegung, in die Brecht eingebunden war und die als eine ihrer Leitideen die des Unsteten, niemals Dauerhaften propagiert, weshalb jedes Aufscheinen einer Form sofort eine Fülle von Varianten nach sich zieht. Brechts und Riesers gänzlich von Text absehende, nur auf die Zeichen begrenzte Enzyklopädie beansprucht für sich, als Kompendium für Lesekundige und Leseunkundige zu dienen. Doch auch das Verstehen der hier verwendeten Zeichen und Symbole ist nicht voraussetzungslos.  

Enzyklopädien der Linien und Lineaturen. Das Linienbuch der Gruppe usus ließe sich insofern als Enzyklopädie bezeichnen, als es alle in einem Setzkasten vorkomm-

175 Vgl. Brecht, Georges/Rieser, Rudolph: Analphabeticon. Encyclopédie à l’usage des lettrés et des illettrés assemblée par Georges Brecht et Rudolf Rieser. Vaduz u. a. 1981, 16 Bände, zwei Schuber mit jeweils acht Bänden im Pappkarton, mit insgesamt 2.352 Seiten mit handgedruckten Serigrafien auf handgeschöpftem Udagami-Papier, 17,6 x 11,2 cm, drei Auflagen à 27 Exemplaren mit unterschiedlichen Papieren und Einbänden. Vgl. Hernad/Maur 1992, S. 260f.; Sohm 1970, unpag.  









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enden Linienformen berücksichtigt und in ihrer Varietät vorführt.176 Es entsteht, als der Bleisatz als technisch überholtes Medium verworfen und von computergestützten Satztechniken abgelöst wird. Uta Schneider und Ulrike Stoltz erkennen in den alten Bleisatzformen ein über die Lettern hinausgehendes Potenzial, das vor allem in den sonst nicht in Erscheinung tretenden Satzeinheiten liegt, den Stegen und Zwischenräumen zwischen Zeilen und Buchstaben, die durch lange Bleistege bestimmt werden. Diese unsichtbaren Gestaltungseinheiten nutzen sie nun gänzlich als Ausdrucksmittel, der Inhalt des von ihnen konzipierten Buches besteht einzig in Linien und auch das Buch selbst gibt sich durch seine in die Länge ausbreitbare Leporelloform als Linie zu erkennen. Über die Seiten hin entwickeln die beiden Künstlerinnen eine Dramaturgie, die die Vielfalt der Linien, auch mit ihren wechselnden Kombinationen untereinander, zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig konservieren sie so eine im Niedergang begriffene Technik, ganz so, wie auch Enzyklopädien und Lexika historisches Wissen aufbewahren. Ähnlich wie das Linienbuch ein enzyklopädisches Anliegen verfolgt, indem es alle innerhalb des Bleisatzes existierenden Linien aufführt, ist auch das Rimini Note Book aus dem Revolver Verlag in Berlin auf seine spezifische Weise eine Enzyklopädie, liefert es doch einen Überblick über alle möglichen Lineaturen, die in Schulheften vorkommen können.177 Äußerlich unterscheidet sich das schmale broschierte Buch im DIN-A5-Format in nichts von einem gewöhnlichen Schulheft. Das einzige was beim Aufschlagen auffällt, sind die nach einer Anzahl von Seiten wechselnden Lineaturen. Es sind Lineaturen, wie sie sich als Schreibhilfen in Schulheften finden und je nach Art des Schreibens die Höhe von Unter- und Oberlängen der Buchstaben festlegen oder auch nur als Grundlinie für den Schriftzug dienen. Hinzu kommen aber auch in Karos unterteilte Seiten und solche mit längs verlaufenden Linien, die den geläufigen Schreibgepflogenheiten entgegen zu stehen scheinen. Dass es sich jedoch auch hier um Schreibheftseiten handelt, erschließt sich aus einer am Schluss des Heftes eingefügten Inhaltsübersicht, aus der zugleich auch das Konzept des Buches ersichtlich wird, denn hier finden sämtliche Liniensysteme ihre Bezeichnung. Aufgeführt ist, für welche Art von Schreiben die Linien dienen, in welchem Land und in welchem Zeitabschnitt sie auftreten. So werden neben zeitgenössischen ägyptischen, chinesischen, hebräischen und anderen länderspezifischen Schreibweisen für Deutschland beispielsweise nicht nur die Linien nach verschiedenen Klassenstufen unterschieden, sondern auch die über die Jahrzehnte wechselnden Schreibweisen berücksichtigt. Die vertikal verlaufenden Linien erklären sich aus einem von oben nach unten verlaufenden Schreibfluss in ostasiatischen Kulturen, die Konzentration auf Karos oder unterteilte Kästchen aus weniger geläufigen Schriftformen wie der Naskh-Kalligrafie, einer

176 Vgl. Schneider, Uta/Stoltz, Ulrike (usus): Das Linienbuch. Offenbach a. M. 1987, 30 Exemplare, Kassetteninhalt: Leporello, 13,5 x 23,7 x 1,5 cm, Hochdruck/Bleisatz. 177 Vgl. Revolver Publishing: Rimini Note Book. Berlin 2010, 187 Seiten, 21 x 14,8 cm.  

















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eigens zum Kopieren des Korans bestimmten Schönschrift. Die einzelnen Angaben der Auflistung sind mit Seitenzahlen versehen, die eine eindeutige Zuordnung zu den vorangehenden Beispielen ermöglichen. Paginiert sind innerhalb der Abfolge nur jene Seiten, auf denen eine neue Lineatur beginnt. Enzyklopädieprojekte nach Borges. Eine nicht mehr auf ein einzelnes Gebiet begrenzte, vielmehr viele Themenfelder erfassende Enzyklopädie ist die Zweite Enzyklopädie von Tlön von Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki. Das insgesamt 50 Bände umfassende Werk entstand über einen Zeitraum von rund zehn Jahren und ist seit 2006 mit dem Erscheinen des letzten Bandes beendet.178 Ausgangspunkt ist die Erzählung Uqbar, Tlön, Orbis tertius von Jorge Luis Borges, die als Text fast allen Bänden zugrunde liegt und deren Themen vorgibt. Jeder der Bände ist mit einem Begriff versehen, der entweder in direktem Bezug zu Borges’ Erzählung oder an daraus abgeleitete Prinzipien anknüpft. Die aus der Borges-Erzählung stammenden Namen „Uqbar“, „Tlön“ und „Orbis tertius“ sind jeweils als Titel eigener Bände vertreten. Die drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb, denen jeweils ein Band zugeordnet ist, stehen für die Gesamtheit möglicher Farben, die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft repräsentieren die Welt, die Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch dominante Sprachräume. Umfassend werden auch Drucktechniken erfasst, entweder bereits bei der Herstellung der Bände, wie etwa Offset, Buchdruck, Lithografie und Serigrafie, oder durch verweisende Abbildungen, wie Kupfer- und Stahlstich, Holzund Linolschnitt, Radierung und Foto-Offset. Weitere Bezüge werden durch entsprechende Materialwahl aufgerufen. Die mit den Stichworten „Zeit“, „Buch“ und „Imago“ betitelten Bände sind aus recyceltem Papier gefertigt, im Falle von „Zeit“ aus Zeitungen aus aller Welt, im Falle von „Buch“ aus alten Büchern, die so ausgewählt wurden, dass ein möglichst breites Spektrum an Buchtypen abgedeckt ist, darunter Lehr-, Sach- und Fachbuch, Nachschlagewerke, Romane, Gedicht-, Foto- und Kunstbände. Comichefte liefern das Material für den Band „Imago“. Im Band „Flora“ wurden Tortenpapiere mit ihren gestanzten Spitzen verarbeitet, in dem der Musik des Komponisten Hespos gewidmeten Band Transparentpapiere, die beim Blättern Klänge freisetzen sollen. Aus transparenten Papieren wurden auch die Bände „Blau“ und „Wolke“ erstellt. Im ersten Fall wurden die Seiten blau eingefärbt, im zweiten mit Wolkenmotiven versehen. Der

178 Die Zweite Enzyklopädie von Tlön ist ein Doppelprojekt oder vielmehr sind es zwei Projekte, die aus einer gemeinsamen Idee geboren sind, deren Protagonisten einerseits Barbara und Markus Fahrner, andererseits Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki sind. Die Idee stammt von Barbara Fahrner und wird von Malutzki und Ketelhodt mit Interesse aufgegriffen. Weil man sich über Konzept und Ausführung nicht einig werden kann, kommt es zum Bruch. Barbara Fahrner auf der einen Seite und Ketelhodt und Malutzki auf der anderen führen jeweils ihre eigene Enzyklopädie aus. Beide Projekte laufen zeitlich parallel nebeneinander und kommen in etwa zum gleichen Zeitpunkt zum Abschluss, wobei die von Fahrner gewählte Form offen bleibt und tendenziell eine Fortsetzung vorsieht. Vgl. Ketelhodt/Malutzki 1997–2006, S. 11; vgl. auch Teil D „Borges und die Buchkunst“.  

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Band „Erde“ besteht aus Wachspapieren, die mit Ölfarbe überduckt wurden. Für den Band „Espejo“ wurde in die Rückseite ein silbrig verspiegeltes Papier eingesetzt, wie es normalerweise beim Druck von Etiketten für Cognac-Flaschen verwendet wird. Die Festlegung auf ein bestimmtes Papier steht in unmittelbarem Zusammenhang zu den Qualitäten, die sich mit dem Begriff oder mit den durch ihn ausgelösten Assoziationen verbinden. Der Text des Bandes „Fuego“ ist mit zwei unterschiedlichen Techniken erfasst, nämlich einmal über Fotoaufnahmen, die das sich unter der Einwirkung von Flammen krümmende Papier abbilden, ein weiteres Mal als Offsetdruck. Da sich auf den Buchseiten fotografierter und gedruckter Text überlagern, erscheint das Schriftbild unscharf, so als würde das Feuer auch hierauf noch einwirken. Einen das Material verändernden Eingriff visualisiert auch der Band „Virus“, der ein Schriftbild vor Augen stellt, das durch ein in die Textverarbeitung eingedrungenes Störprogramm, im Fachjargon als ‚Virus‘ bezeichnet, zerstört wird.

Abb. B 18: Ines von Ketelhodt/Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Rückenansicht.  

Eine ebenso intensive wie vielseitige Auseinandersetzung mit der Tlön-Erzählung dokumentiert auch das von Barbara Fahrner in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Markus und dessen Frau Fitnat Assibey-Aboagye entwickelte Projekt einer weiteren Zweiten Enzyklopädie von Tlön. Diese besteht aus fünf in grünes Leinen gebundenen Leitzordnern, in welche die einzelnen Beiträge eingeheftet sind. Die Ordnung der einzelnen Stichworte fällt in jeder Ausgabe der fünf Exemplare umfassenden Auflage anders aus. Aufgenommen sind Druckerzeugnisse wie Prospekte, Faltblätter, Kopien, aber auch Originalgrafiken, Unikate, Multiples und Zeichnungen. Als Hülle dienen häufig Gegenstände des Alltagsgebrauchs wie Butterbrottüten, Tee- und Kaffeefilter, Plastikhüllen, Versandtaschen, Umschläge, simple Tüten und viele andere Alltagsobjekte. Die Papiere werden gefaltet, eingeklappt und eingetütet – und erfordern entsprechend differente Herangehensweisen. Fahrner selbst spricht von einer „Werkzeugkiste“ (Fahrner/Fahrner online). Jede Einlage im Ordner enthält ein eigenes Objekt, das in sich wiederum einen eigenen enzyklopädischen Ansatz repräsentieren kann. Meist handelt es sich um kleinere Hefte mit nur wenigen Seiten. Hinzu kommen Daumenkinos und Briefumschläge mit Füllungen unterschiedlicher Art.  

Eine bearbeitete Enzyklopädie. Eine Art Enzyklopädie schafft auch der mexikanische Künstler Félix Luna mit seiner Historia natural de la creación, einem Buch, das

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aus den auf schwarzes Papier kopierten Seiten einer veralteten Enzyklopädie besteht.179 Der Titel des schwarzen Buches wurde von einer zweibändigen Naturgeschichte übernommen, der Historia natural de la creación. Los animales, las plantas y el universo (vgl. Ealand u. a. o. J.). Biologie, Säugetiere, Vögel, Reptilien, Mollusken, Insekten, Pflanzen, Geologie, die Geschichte der Erde und das Sonnensystem sollten hier erfasst werden. Vom Künstler in einem Antiquariat aufgefunden, ist das genutzte Exemplar der Naturgeschichte von Spuren des Alters gezeichnet. Schwarzer, mit Kohle vermischter Staub hat sich auf dem Buch abgelagert, Brandspuren entstellen es, das Papier ist vergilbt, der Einband fleckig, nachgedunkelte Stellen machen die Abbildungen unkenntlich. Es sind Beeinträchtigungen, die den Verfallsprozess des Buches einleiten. Die sich am Buchkörper bemerkbarmachende Vergänglichkeit steht im Gegensatz zum Titel, der vom Entstehen aller Dinge kündet. Da aber Entstehen auch Vergehen einbezieht, sucht der Künstler den auf die Kreation folgenden, nicht ausdrücklich im Buchtitel formulierten Prozess des Verfalls am Material zu demonstrieren. Dazu reproduziert er das alte Buch komplett, benutzt aber für seine Kopien schwarzes Papier, so dass alles, was bislang von den Darstellungen nicht vom Alter genommen wurde, von der Druckfarbe des Kopierers geschluckt wird. So wird im künstlerischen Zugriff der im Schöpfungsprozess bereits eingeschlossene Verfall unmittelbar mit einbezogen und über die schwarzen Seiten der kopierten Bände vor Augen gestellt, wie das Gegenwärtige in ein obskures Nichts abtaucht. Vor allem aber unterlaufen die schwarzen Kopien den Glauben, durch Vervielfältigung Wissen erhalten oder gar vermehren zu können. Bereits während des Kopierens gehen Informationen verloren, was sich insbesondere bei Abbildungen zeigt, deren Detailschärfe, Farbabstufungen und ähnliches in der Reproduktion nicht mehr in gleicher Weise erhalten sind. Der Informationsverlust setzt sich fort, je häufiger die Seiten einem weiteren Kopierprozess ausgesetzt werden und die Bilder alle Nuancen eingebüßt haben und nur mehr schwarze Fläche sind.  



Enzyklopädische Kartografie. Enzyklopädisch geprägt ist auch die aus 366 Büchern bestehende Kartographie einer Reise von Sigrid Sigurdsson, enthalten doch die Bände Geschichten und Gedanken der Künstlerin, die ihr gesamtes Werk durchziehen und so als System von Verweisungen auf alle in die über 300 Bände eingeschriebenen Konzepte fungieren.180 Die enge Verflechtung von Themen und Stichpunkten innerhalb der Kartographie einer Reise drückt sich im Untertitel Wunderknäuel aus. Mit diesem

179 Vgl. Luna, Félix/Juárez, Héctor: Historia natural de la creación. El libro negro. Mexico 2013, 2 Bände, 797 + 687 Seiten, 25 x 17,5 cm, Fotokopien auf schwarzem Papier, schwarz gebunden, Auflage: 3 Exemplare. 180 Vgl. Sigurdsson, Sigrid: Kartographie einer Reise. Das Wunderknäuel, 366 Bände mit Texten und Zeichnungen, ab 1961, überarbeitet ab 2000, redigiert von Lothar Brandt-Sigurdsson, unterschiedliche Formate und unterschiedliche Inhalte innerhalb der Architektur der Erinnerung, Osthaus Museum Hagen, begonnen 1961, seither fortlaufend ergänzt. Zur Architektur der Erinnerung vgl. Pottek 2007.  





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Zusatz liefert die Künstlerin eine Metapher für ihren Werkkomplex, der einem labyrinthischen System gleicht, das zwar Zugang gewährt, aber auch die Gefahr birgt, sich in ihm zu verlieren. Der zum Knäuel aufgewickelte Faden hält die über viele Jahre hin zusammengetragenen Geschichten und Bilder zusammen und liefert zugleich eine Orientierung. Denn folgt man ihm, erschließt sich der Zusammenhang des im Knäuel verborgenen Motivrepertoires. So bildet zwar jedes der 366 Bücher der Kartographie einer Reise eine eigenständige Sinneinheit, steht aber zugleich zu allen übrigen in einem Zusammenhang, der in der Konzeption des Gesamtwerkes angelegt ist und über die Gestaltung zum Ausdruck gebracht wird. Ausgangsmaterial für den Werkkomplex sind vorgefundene Bücher, die von der Künstlerin bearbeitet, oder solche, die gänzlich neu erstellt wurden. In jedem Fall aber sind sie der Erinnerung gewidmet, die durch Fundstücke, Fotografien und Texte aus alten Publikationen gestützt wird. Diese Materialien werden von der Künstlerin überarbeitet und mit eigenen Arbeiten ergänzt. Sigurdssons Kartographie einer Reise summiert nicht nur die Konzepte der Künstlerin, sondern ist zugleich selbst Teil eines enzyklopädischen Kosmos, Teil einer Bibliothek, die als Architektur der Erinnerung einen eigenen Ausstellungsraum im Osthaus Museum Hagen einnimmt. Die 366 Bücher einschließende Kartographie einer Reise ist zugleich auch ein noch nicht ediertes Buchprojekt, das eine Überschau zum Werk von Sigurdsson liefern soll. Ein Phesbuk. Ein als enzyklopädisch zu bezeichnendes Werk ist auch Phesbuk von Bernhard Frue (d. i. Fruehwirth).181 Mit dem Titel Phesbuk spielt der Künstler auf die elektronische Plattform Facebook an, auf die grundsätzlich jeder alles stellen kann. Im Vorspann jedes Bandes benennt Frue seine Quellen und Anregungen, darunter zentrale Vertreter der Konzeptkunst, aber auch des Abstrakten Expressionismus, der Pop Art und des Song- und Showbusiness. Weiterhin finden sich Techniken und Genres angeführt wie japanischer Holzschnitt, Holzintarsien, Skulptur und Architektur, dazwischen Titel von Songs und vollständige Buchnummern. Frues Ausgangsmaterial bilden Massenprintmedien, aus denen er Gesichter von Personen aus Politik, Kultur und Werbung ausschneidet und in Blankobücher klebt. Anschließend bearbeitet er Partien der Gesichter mit einem Kugelschreiber, löscht dabei zumeist die Augenpartien aus. Der Eindruck enzyklopädischer Fülle, den Phesbuk vermittelt, ist mehrfach begründet. Zum einen erscheinen die Gesichter als Stellvertreter der über die Massenmedien populär gewordenen Personen, zum anderen als Repräsentanten kultureller Felder. Anders als die beiden Enzyklopädien von Tlön ist Frues Werk eine Enzyklopädie, bei der Bereiche wie Kunst, Kultur oder Politik nur über Repräsentanten angedeutet werden, die sie repräsentierenden Personen zugleich aber gesichtslos erscheinen,  

181 Frue, Bernhard: Phesbuk, 2011, Folge von Unikatbüchern mit Collagen, Umfang unterschiedlich; vgl. auch Kat. Ausst. 2012.

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da mit dem Auslöschen der Augenpartien auch ihre individuellen Züge verloren gegangen sind. Reminiszenzen an Diderots Kompendium. Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der großen Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert ist Ken Botnicks DiderotProject, ein enzyklopädische Strukturen aufgreifendes Buch.182 Botnick setzt ähnlich wie die Künstler der beiden Zweiten Enzyklopädien von Tlön zahlreiche Materialien und Techniken als aussagerelevante Elemente ein. Dadurch sollen Konzept, Gestaltung und Produktion so aufeinander bezogen werden, dass sie sich wechselseitig erhellen. Jede Gestaltung, so die Leitidee, reagiert auf die Inhalte, wie umgekehrt die unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierungen eine jeweils ihnen entsprechende Gestaltung erhalten. Zu diesem Zweck verarbeitet Botnick in seiner Ausgabe transparente, schwarze und weiße Papiere und nutzt silberne, goldene und transparente Druckfarben. Bei der Gliederung seines Buches in drei Teile, die er in Anlehnung an die mehrbändige Ausgabe Diderots als Bände bezeichnet (vgl. Botnick online), folgt er einem Strukturplan, den Diderot in seinen Vorüberlegungen zur Enzyklopädie zur Sprache bringt: Er wählt die drei als zentral erachteten Aspekte Hand, Gegenstand und Sinne als Themenfelder für seine Bände. Hiervon ausgehend bestimmt er die Abbildungen, die er aus Diderots Enzyklopädie übernimmt. Um etwa für den Sehsinn ein passendes Äquivalent zu wählen, greift er die Abbildung einer durch ein Mikroskop vergrößerten Fliege auf, eines der wenigen Bilder in Diderots Enzyklopädie, das durch ein optisches Instrument seine Ausdruckskraft erhält. In diesem Zusammenhang steht auch die Beobachtung, dass auf den Stichen der französischen Enzyklopädie die Maßstäbe gewissermaßen verkehrt sind, weil sie Räume in vergleichsweise kleinen Bildfeldern wiedergeben, während einzelne Gerätschaften und ihre Details stark vergrößert erfasst werden. Diese Verkehrung der Proportionen veranlasst Botnick zu einer gezielten Auslotung der Freiräume. Sie findet Ausdruck in gänzlich freien Seiten oder solchen, die lediglich einen einzelnen Buchstaben oder ein Wort aufführen. Eine andere Strategie besteht in der buchgestalterischen Inszenierung von Transparenz, die als Metapher für die von Diderot geforderte Transparenz in Gesellschaft und Wissensübermittlung fungiert. Botnick konkretisiert letztere durch transparente Materialien sowie durch Wasserzeichen, deren Motive er von Tafeln aus Diderots Enzyklopädie auswählt. Ein Beispiel bietet das Bildmotiv von zwei Händen, die einen Faden zwirnen. Eben dieses Motiv tritt aus einer der weißen Seiten in Botnicks Buch als Wasserzeichen hervor. Das Motiv der Hände wiederum ist für Botnick signifikant, weil auch Erinnerung an die Hand geknüpft ist. Um zu veranschaulichen, wie Erinnerungen dem Bewusstsein als zeitlich zurückliegende Gegebenheiten zugrunde liegen, werden transparente Blätter eingebunden,

182 Vgl. Botnick, Ken: Diderot-Project. St. Louis 2015, 150 Seiten, 28,5 x 18,4 cm, Auflage: 220 Exemplare. Vgl. auch Botnick online.  





B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

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deren Darstellungen von denjenigen der angrenzenden Seiten durchdrungen werden, wie überhaupt die Transparenz des Materials die palimpsestartige Schichtung von Wissen sinnfällig macht. Auf den sich über die Inszenierung von Transparenz erschließenden Raum weist Botnick gleich zu Beginn seines Buches hin, wo er die Buchstaben von „Diderot“ so über Vorder- und Rückseiten einer Doppelseite fließen lässt, dass die eine Hälfte des Namens durch das Papier hindurch scheinend unter der anderen spiegelverkehrt sichtbar wird; dies macht sinnfällig, wie die Buchstaben zwar die Seite ‚umwandern‘, aber in der Wahrnehmung als ein geschlossener im Raum stehender Schriftzug erscheinen. Anders als die Abbildungen, die Botnick von der französischen Enzyklopädie übernommen hat, handelt es sich bei den Texten teils um eigene, teils um ausgewählte Passagen aus Texten zeitgenössischer Autoren, so etwa von Roland Barthes, Michel Foucault, Orhan Pamuk, Gaston Bachelard und Vilém Flusser. Alle Texte sind typografisch auf die Bildmotive der Enzyklopädie abgestimmt. Die aufgeführten Beispiele repräsentieren differente Strategien, Idee und Projekt des Enzyklopädischen für buchkünstlerisches Arbeiten zu nutzen. Der Übergang von Enzyklopädien zu Wörterbüchern und schließlich auch zu Abecedarien gestaltet sich in der künstlerischen Rezeption fließend, denn auch Wörterbücher enthalten Weltwissen, und Abecedarien beschränken sich nicht auf die Vermittlung von Wörtern, sondern öffnen vielfach den Blick für die Summe der Begriffe, die sich unter einzelnen Buchstaben subsumieren lassen. Hermann Zapfs Blumen-Abc verknüpft Schriftformen und Blumentypen, Malutzkis Figurenalphabet Literaturzitate und vom Künstler geschaffene kleine Objekte aus Draht und alltäglichen Accessoires – wie Kleiderhaken, Schrauben, Knöpfen und ähnlichem mehr.183 VHS  

B 2.7 Schriften zur Astronomie und Astrologie und ihre buchkünstlerische Rezeption Das Themenspektrum astronomischer Schriften. Während sich das moderne astronomische Wissen auf den Raum außerhalb der Erde und des irdischen Lebens konzentriert, war die Spannbreite der Themen astronomischer Schriften in der Vergangenheit größer, fielen unter das einschlägige Schrifttum doch neben wissenschaftlichen Abhandlungen über die Bewegung der Himmelskörper auch solche Werke, die sich mit den aus der Bewegung der Gestirne abgeleiteten Einflüssen auf das irdische Leben beschäftigten und in astrologische Ausdeutungen mündeten. Diese Komponenten 183 Vgl. Zapf, Hermann/Rosenberger, August: Das Blumen-ABC. Frankfurt a. M.: Trajanus-Presse 1962, Auflage: 180 Exemplare, ein Teil der Auflage wurde mit der Hand koloriert, mit Metallfarben ergänzt und poliert; Malutzki, Peter: Von Anton bis Zeppelin. Ein Figurenalphabet, Lahnstein: FlugBlatt-Presse 1995, Leporello gebunden von Ines v. Ketelhodt, Auflage: 100 Exemplare.  

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wurden von Werk zu Werk unterschiedlich gewichtet, doch bestanden sie bis zur Frühen Neuzeit in astronomisch-astrologischen Sammelhandschriften nebeneinander. Waren Himmelsdarstellungen zunächst für den Nachvollzug einer als göttlich begriffenen Ordnung relevant und verbanden sich entsprechend oft mit der Schöpfungsgeschichte, fanden sie losgelöst davon auch Eingang in wissenschaftliche Kontexte; zudem galt das Wissen um die Konstellationen als lebenspraktisch relevant. Es diente u. a. der Festlegung des Kalenders, der Hinweise für den Feldbau lieferte. Aus dem Stand der Sterne konnte aber auch das Datum für Ostern abgelesen und damit der Kalender für das Kirchenjahr erstellt werden. Zudem dienten die Sterne auch der räumlichen Orientierung, was in erster Linie für die Seefahrt, darüber hinaus aber insgesamt für spatiale Vorstellungen von Bedeutung war. Astronomisches Wissen und astrologische Deutung gingen oft nahtlos ineinander über, da man allgemein der Auffassung war, dass der Lauf der Gestirne die Schicksale des Menschen und alle Lebensbereiche bestimme, so dass sich die Sternenkunde mit dem gesamtkosmischen Wissen zu einer homologen Einheit verband – bis hin zum Wissen über Lebewesen und Pflanzen. Unmittelbarer Ausdruck dieser Auffassung war der Homo signorum, eine Darstellung des menschlichen Körpers, in den die Tierkreiszeichen eingetragen sind. Ein prominentes Beispiel ist die Darstellung im Stundenbuch des Duc de Berry.184 Aber auch in den astronomischen Tafeln und Kalenderbildern verbanden sich empirische Beobachtungen und Glaubensvorstellungen, Zahlenskalen, Rechenprozesse und Tierkreiszeichen. Die Planeten wurden in einer Weise personifiziert, welche die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften oder Charakterzüge sinnfällig werden ließen.  



Kalender. Innerhalb astronomischer Schriften hatten auch Kalender ihren Platz. Da in diesen nicht nur die Fest- und Heiligentage verzeichnet waren, sondern auch die Sonntagsbuchstaben, die Goldenen Zahlen und die Mondzeichen, erfüllten sie zugleich die Funktion von Hausbüchern.185 In Tabellen wurden die Ephemeriden, die täglichen Positionen der Gestirne, aufgelistet und daraus die für die Monate relevanten Regeln und Aufgaben abgeleitet; es gab Empfehlungen für die Gesundheit und Warnungen vor bestimmten Tätigkeiten. Auch konnten kosmologische Traktate mit lehrhaften Inhalten in die Kalender aufgenommen sein (vgl. Bien 2009, S. 11f.).  

184 Vgl. Homo signorum. In: Gebrüder Limbourg: Les très riches Heures du Duc de Berry. Musée Condé, Chantilly, Ms. 65, fol. 14v, 1412. Die sich hier abzeichnende Analogie von Mikro- und Makrokosmos korrespondiert der Wiedergabe des Aderlassmännchens, das ähnlich wie der Homo signorum mit den Tierkreiszeichen markiert sein kann, auf dem vor allem aber die für den Aderlass geeigneten Stellen verzeichnet sind, einschließlich des dafür zu favorisierenden Zeitraums. 185 Der Sonntagsbuchstabe kennzeichnete die Sonntage eines Jahres. Festgelegt wurde er, indem die ersten sieben Tage eines Jahres mit einem Buchstaben belegt wurden. Die Goldene Zahl, die die Position eines Kalenderjahres innerhalb eines 19-jährigen Mondzirkels bezeichnet, war zur Errechnung von Ostern, dem wichtigsten Fest im christlichen Kalender, notwendig.  



B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

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Mit dem Buchdruck kam eine einfachere Form des Kalenders auf, der sogenannte Bauernkalender. Für breite Nutzerschichten ohne Leseübung bestimmt, sollten sie anschaulich sein. Die Tage der Woche waren durch jeweils eigene Symbole gekennzeichnet, Mondphasen und Heiligentage wurden mit bildsprachlicher Anschaulichkeit in mehrreihigen Schemata dargestellt. Darüber hinaus konnten die Monatsblätter mit Holzschnittmotiven versehen sein, die an die einfachen Formen von Spielkarten erinnerten, wie etwa im Augsburger Bauernkalender von 1747, der auf einem Blatt in drei motivisch prägnanten Reihen einen Überblick über die Woche liefert, indem er eine häusliche Szene, die Symbole der Heiligen- und die der Wochentage kombiniert.186 Himmelsatlanten. Unter die astronomischen Bücher fielen auch Himmelsatlanten, die sich zwar auf die Darstellung des Himmels beschränkten, aber durch die Integration von Tierkreiszeichen und schematischen Darstellungen der Planetenbahnen wie des Sonnen- und Mondlaufes ein nicht minder breites Spektrum an Bildformen aufwiesen. So zeigten beispielsweise die Tafeln in Johann Bayers Uranometria die klassischen Sternbilder in ihrer ganzen Bildlichkeit, während der nur wenig später entstandene Atlas des Andreas Cellarius auch Schemata des kopernikanischen Sonnensystems aufnahm, sich aber keineswegs darauf beschränkte.187 Neben Abhandlungen und Erläuterungen enthielt er 29 doppelseitige kolorierte Stiche, die neben Sternenkarten auch die Weltmodelle von Ptolemäus, Brahe und Copernicus zeigten. Diese waren überwiegend als Bilder konzipiert; dabei wurden auch in den kopernikanischen Kosmos allegorische Motive eingefügt, unter anderem eine mit menschlichen Gesichtszügen versehene Sonne. Auf der Karte des Nordhimmels traten groß und farbig die Sternbilder hervor, während der Hintergrund als Himmel mit Wolken und Putten ausgeführt war. Auch die Darstellung des Mondes erfolgte in Himmelsatlanten. Ein erster vollständiger Mondatlas lag mit der Selenographie von Johannes Helvelius vor (Hevelius 1647). Abgebildet sind hier die einzelnen Mondphasen wie auch die Mondoberfläche. Die Kupferstiche wurden von Hevelius selbst angefertigt und zeigen außer dem Mond auch die von ihm entwickelten Instrumente. Wenn auch der Kupferstich in den nachfolgenden Jahrhunderten als Technik beibehalten wurde, veränderten sich die Darstellungen bedingt durch neue Inhalte auch in ihrer formalen Konzeption ständig. So verzeichnet Johann Elert Bodes Atlas von 1801 auf 20 Tafeln rund 17.000 Sterne und liefert damit ein weit detaillierteres Bild des Himmels als zuvor zugänglich war (vgl. Bode 1801). Bodes Atlanten stellten bis zum Erscheinen von Friedrich Wilhelm Argelanders Bonner Durchmusterung das wichtigste

186 Vgl. Neuer Bauren-Calender. Aufs Gemein-Jahr Jesu Christi MDCCXXXXVII. Augsburg 1746. Universitätsbibliothek Heidelberg, L 2512-20 RES. 187 Vgl. Bayer, Johann: Uranometria. Onium Asterismorum Continens, Schemata, Nova Methodo Delineata, Aeris Laminis Expressa. Ulm 1648. Universitätsbibliothek Heidelberg, 83 K 84 RES; Cellarius 1661.

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Arbeitsmittel der Astronomen dar (vgl. Appenzeller 2009, S. 28; Argelander/Krueger/ Schönfeld 1863). Mit der Bonner Durchmusterung wurde ein neues Verfahren eingeführt, das auf einer technischen Verfeinerung der Beobachtungsmethode und der grafischen Erfassung beruhte; es wurde möglich, jede Ansicht mit Koordinatensystemen zu unterlegen und die Koordinaten mit genauen Zeitmessungen zu verbinden.188 Mit solch neuen Methoden konnte auch der Mond genauer erfasst werden. Erste für wissenschaftliche Zwecke brauchbare Mondaufnahmen gelangen 1858 Angelo Secchi an der Sternwarte des Collegio Romano in Rom mit Glasnegativen und Abzügen auf Albuminpapier. Auf ihnen erfasste Secchi den Mond in neun verschiedenen Phasen, die in ihrer Abfolge die Grundlage seines Atlas bildeten (vgl. Secchi 1858). Wenige Jahrzehnte später lag dann als Atlas photographique de la lune mit Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichen Ausschnittvergrößerungen eine detaillierte Kartierung der Mondoberfläche vor (Loewy/Puiseux 1897, Bd. I, Blatt IX).  





Lehrbücher. Eine weitere Gruppe astronomisch-astrologischer Bücher bilden Lehrbücher, die sich inhaltlich zwar kaum von den anderen thematisch einschlägigen Kompendien abgrenzen, aber durch ihre formale Aufbereitung ihre didaktische Absicht deutlich machen. So veranschaulicht etwa Caspar Peucers Elementa doctrinae de circulis coelestibus et primo motu anhand vieler in den Text integrierter Schaubilder, Zeichnungen und geometrischer Konstruktionen die Bewegung der Gestirne und die daraus hervorgehenden Phänomene, wie etwa Sonnen- und Mondfinsternis (vgl. Peucer 1551). Auch die Theori[c]ae novae planetarum. Georgii Purbachii Germani (1472) und die Epitome astronomiae, qua brevi explicatione omnia (1593) von Michael Mästlin haben mit ihren veranschaulichenden Darstellungen Lehrbuchcharakter (vgl. Peuerbach 1593). Auf Anschaulichkeit zielte auch Johannes Hevelius mit seiner Publikation Machina Coelestis, in der er sich ganz auf die Beschreibungen von Instrumenten für astronomische Beobachtungen konzentriert, deren Handhabung er in teils genrehaften Szenen darstellt.189 Manche der Werke verfügen über ausfaltbare Seiten, um beispielsweise die Lichtführung in einem Teleskop präzise wiederzugeben (vgl. Newton 1706, Tafel V). Andere Publikationen hingegen enthalten lediglich Tabellen mit den Angaben von Längen- und Breitengraden oder den veränderlichen Sternpositionen. Übersichtsdarstellungen der Inhalte fallen mehr oder weniger anschaulich aus. Auch Darstellungen, die ein konkretes Motiv visualisieren, basieren nicht immer auf empirischen Beobachtungen. Eine solche Abbildung findet sich beispielsweise in Friedrich Wilhelm Herschels Ueber den Bau des Himmels mit der Wiedergabe der Milchstraßen

188 Erst mit dem Aufkommen digitaler Messsteuerung hat der als Bonner Durchmusterung bekannt gewordene Himmelsatlas seine Relevanz als zentrales Mittel zur Orientierung am Himmel eingebüßt. 189 Vgl. Hevelius 1673. Abbildung M zeigt Hevelius und seine Frau beim Vermessen des Himmels.

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(vgl. Herschel 1826, S. 115). Sie enthält mehrere abstrakte, sich einer geometrischen Ornamentik annähernde Formen, mit denen der Autor seine Vorstellung von Nebelflecken wiedergibt; er beschreibt sie als „ausgedehnte, in Zweigen sich verbreitende zusammengesetzte Anhäufungen von vielen Millionen Sternen“ (ebd.), was er über einen aus der Zusammenschau herausgefilterten Ausschnitt mit einer Vergrößerung zu visualisieren sucht (vgl. Herschel 1850, Tafel III, Fig. 1, 2, 4). Weniger schematisch fällt zwar die Abbildung in Karl Schwarzschilds Über das System der Fixsterne: aus populären Vorträgen aus, doch zeigt auch sie kaum mehr als eine vage Kreisformation, die durch helle Punkte auf dunklem Grund gebildet wird und die sich zu Spiralstrukturen verdichtenden Galaxien ausformen (vgl. Schwarzschild 1916, S. 37). Um zu veranschaulichen, wie unermesslich weit die Milchstraße ist und welche Entfernungen zwischen den Sternen liegen, die von der Erde aus als Milchstraße gesehen werden, bedient sich Schwarzschild eines Vergleiches mit Nadelköpfen, die einen Abstand von 100 km haben. Mit den exakten, über das Teleskop erfassten Darstellungen leitet Schwarzschild eine Abbildungsform ein, die für Publikationen astronomischer Inhalte charakteristisch wird.  





Kometenschriften. Neben Kalendern, Himmelsatlanten und Lehrbüchern gehören zu den astronomischen Schriften auch Kometenschriften (zur Kometenliteratur vgl. Meinel 2009). Diese zeugen wissensgeschichtlich von einer Aufwertung der Astronomie als Leitwissenschaft; die durch sie ausgelöste Faszination war nicht frei von Spekulationen und Aberglauben (vgl. Effinger 2009, S. 103). Das Erscheinen von Kometen beschäftigte Fachleute wie Laien gleichermaßen, was dazu führte, dass neben gelehrten lateinischen Abhandlungen spätestens seit der Frühen Neuzeit eine Fülle volksprachlicher Bücher auf den Markt kam. Da ihre Autoren durchweg Astronomen waren, unterschied sich die bildliche Ausstattung der Kometenbücher nicht wesentlich von der sonstiger astronomischer Schriften. Wie diese unterlag sie dem jeweiligen Kenntnisstand und Geschmack der Zeit. Ein besonders reich bebildertes Werk ist das zweiteilige Theatrum cometicum von Stanislaus Lubieniecki aus dem Jahre 1681 (vgl. Lubieniecki 1681). Es enthält Berichte verschiedener Astronomen und Naturwissenschaftler über die Kometen der Jahre 1664 bis 1665, eine allgemeine Geschichte der Kometen, eingebunden in die Ereignisse der Weltgeschichte und eine Abhandlung über die astrologische Bedeutung von Kometen. Alle Teile weisen zahlreiche, größtenteils doppelseitige Kupferstiche auf, welche die Erscheinungen am Himmel darstellen und die damit verbundenen Ereignisse zusammenfassen. Zum Teil lassen sich die Seiten auffalten, um den Horizont der Darstellung zu vergrößern. Die Motivik umschließt figurative Wiedergaben von Sternbildern, schematisch erfasste Instrumente, in Diagrammen zusammengefasste Übersichten und Konstruktionen, anhand derer Blickachsen und Beobachtungspositionen veranschaulicht werden.  

Darstellungsmodi in astronomischen Büchern. Darstellungen zur Beobachtung der Sterne und die daraus abgeleiteten Themenbereiche waren weder innerhalb der

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Sammelschriften noch in den frühen Druckwerken scharf gegeneinander abgegrenzt; astronomische Kenntnisse und astrologische Sichtweisen gingen ineinander über. Es kam zu vielfältigen Visualisierungen, die von zum Teil opulenten Schaubildern der Himmelserscheinungen (Sternenbewegungen, Tierkreiszeichen, Tabellen mit magischen Zahlen- und Zeichenzusammenstellungen) bis hin zu Diagrammen und Schemata reichten und Vorstellungen über den Kosmos vermittelten. Je nach Handschrift, nach deren Herkunft und Bestimmung, dominierten anschauliche Bildlichkeit oder Schemata zur Visualisierung abstrakter Zusammenhänge. Dabei wurden die Darstellungen wie auch die Inhalte oft kopiert und nur teilweise den sich wandelnden Kenntnissen angepasst. In den meisten Fällen ging es darum, das Zusammenspiel kosmischer und irdischer Veränderungen aufzuzeigen. Die Wechselwirkungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos fanden Ausdruck in den anthropomorphen Motiven des Homo stellarum und dem Aderlassmännchen, ebenso aber auch in allegorisierenden und personifizierenden Bildformen, die in die Darstellung der Planeten die Jahreszeiten, die Tugenden oder das Menschenalter einbanden. Beispiele hierfür liefern die Miniaturen in Sebastian Münsters Instrumenta Planetarum.190 In 15 aufeinander folgenden Bildern sind hier die Planeten so typisiert, dass die ihnen zugeschriebenen Charakteristika anhand bestimmter Menschentypen in Szene gesetzt werden. So erscheint etwa Saturn als alter Mann oder Venus als eine mit musischen Talenten ausgestattete Frau. Kreisformen und ein neues Weltbild. Ein kontinuierlich in praktisch allen thematischen Zusammenhängen vorkommendes grundlegendes Gestaltungselement war das des Kreises. Der Kreis gab wieder, was von der Erde aus am Himmel beobachtet werden konnte. Die Bewegung von Sonne, Mond und Planeten wurde im Rund des Kreises abgebildet, kreisförmig waren auch die Tages- und Monatsabläufe in den Kalendarien und kreisförmig angeordnet auch die Symbole um den Homo stellarum. Auch die mittelalterlichen Vorstellungen der Welt fanden Ausdruck in einem Rundbild, bei dem die Erde im Zentrum stand. Um sie herum schlossen sich in Kreisen zunächst die Elemente Wasser, Luft und Feuer, dann die der Erde nahestehenden Planetenbahnen von Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Einen vorletzten Kreis bildete der Fixsternhimmel mit den Tierkreiszeichen, einmal als Octava Sphera, ein anderes Mal als Firmament bezeichnet. Den äußersten Kreis bildete eine neunte Sphäre, das Primum mobile oder die Sphera mobile. Konsequenzen für die Bildtradition hatte der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, vollzogen vor allem durch die Erkenntnisse des Nikolaus

190 Vgl. Astrologisch-astronomischer Sammelband aus Sebastian Münsters Heidelberger Zeit: Münster, Sebastian: Instrumenta Planetarum. Heidelberg/Worms (?) 1426–1522. Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. Lat. 1368, fol. 2v/3r.

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Kopernikus. Angeregt durch antike Überlieferungen konzipierte dieser ein heliozentrisches Weltsystem, das er in einem kurzen Bericht, dem vor 1514 verfassten Commentariolus, vorstellte. Die neue Sicht schlug sich allerdings nur allmählich auf der Abbildungsebene nieder. So findet sich in Tycho Brahes 1588 erschienenem Buch De mundi aetherei recentioribus phaenomenis ein planes heliozentrisches Schema, in dem ptolemäische und kopernikanische Sicht zusammentreffen, während seine ein Jahrzehnt später erschienene Ausgabe von Astronomiae instauratae progymnasmata eine Sternkarte mit der Supernova im Sternbild so zeigte, dass sie durch Schrägstellung auf der Buchseite eine perspektivische Dimension erhielt (vgl. Brahe 1610a, S. 189; 1610b, S. 314).  



Wandel der Vermessungs- und Bebilderungspraxis. Mit zunehmend elaborierten Techniken der Beobachtung und Vermessung veränderten sich die Abbildungen in den Büchern, wenn auch nicht einfach analog dazu. Zwar konnte nun auch bis dahin nicht Sichtbares ins Bild geholt werden, wie Galaxien und Sternenhaufen, aber was letztendlich zu sehen war, waren kaum mehr als helle Spuren auf dunklem Grund in mal mehr oder weniger dichten Formationen. Mehr Anschaulichkeit erhielten die Phänomene, wenn sie in Zeichnungen erfasst und auf zentrale Merkmale hin ausgerichtet wiedergegeben wurden. Die Darstellungen in den astronomischen Schriften und Büchern liefern so keine schlichten ‚Abbilder‘ des Himmels; vielmehr spiegeln sie stets zugleich auch die Sicht derer, die sie erstellt hatten, und gaben Aufschluss über Stand von Forschung und Technik. Gleichzeitig lässt sich ausgehend von den Miniaturen der Handschriften bis hin zu den hochtechnisierten Teleskopaufnahmen ein Wandel der Bildauffassung ablesen, der von der anfänglichen Anschaulichkeit zur minimalistischen Reduktion führt. Obwohl im Lauf der Zeit die Bilder dank verbesserter Technologien weitaus detaillierter ausfallen, kommt es paradoxerweise dazu, dass nun weniger zu sehen ist. So bilden die Sternbilderkataloge mit ihren phantasievollen Ausgestaltungen etwas ab, was so, wie es sich im Bild zeigt, gar nicht am Himmel zu sehen war, während die helle Dunstspirale auf einer sonst schwarzen Fotografie die exakte Wiedergabe dessen ist, was der Blick durchs Teleskop zeigt. Bewegliche Elemente im Abbildungskontext. In einigen Fällen waren die Darstellungen in astronomischen Schriften mit beweglichen Elementen wie Drehscheibe und Zeiger ausgestattet, um die Bewegung der Gestirne und den Lauf der Sternbilder im Jahreszyklus nachzuvollziehen oder die kalendarische Anzeige einzustellen und zukünftige Konstellationen anzuzeigen. Auf diese Weise konnten auch die sonst in Tabellen wiedergegebenen Inhalte visualisiert werden. Eines der wohl prägnantesten Beispiele sind die Drehbilder einer astronomisch-astrologischen Handschrift des Johannes Müller, gen. Regiomontanus, bei denen die Pergamentscheiben und Zeiger so übereinander montiert wurden, dass sich der Stand des Mondes, der Lauf der Sonne und ihre Stellung im Fixsternhimmel mit den Tierkreiszeichen oder auch der Sonnenstand im Verhältnis zu den Wochentagen und den zugehörigen Planeten einstellen

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ließ.191 Sebastian Münsters Beschreibungen der Instrumenta Planetarum weisen mit bis zu drei übereinanderliegenden Scheiben und einem Zeiger Bewegungselemente auf, die mittels eines durch das Zentrum der Darstellung gezogenen Fadens zusammengehalten wurden. Angezeigt werden in Münsters Abhandlung auf insgesamt 15 aufeinanderfolgenden Kreisdiagrammen die Bewegungen der Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur, sowie die von Sonne und Mond für die Zeitspanne von 1522 bis 1590 (vgl. Mittler 1986, Textband S. 32). Im Zentrum der Figuren finden sich kolorierte Miniaturen mit den Personifikationen der Planeten und auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten die ihrer Kinder, so dass die beiden Motive in einen Dialog treten können. Saturn etwa wird als ausgedienter Landsknecht mit Holzbein und Krücke wiedergeben, ihm tritt der Tod als Sensenmann gegenüber. Jupiter erscheint in der Rolle des Gelehrten am Lesepult in Korrespondenz zu drei Scholaren beim Studium. Mars als Landsknecht mit Spieß trifft auf einen Kämpfer mit Schwert und Schild, und der auf einer Kugel stehenden und mit Pfeil und Bogen bewehrten Venus stehen Merkur und Lautenspieler in einem Kranz von Musikinstrumenten gegenüber. Unter buchtechnischen Gesichtspunkten bemerkenswert ist auch das 1540 in Ingolstadt entstandene Astronomicum Caesareum von Peter Bienewitz, genannt Apianus, der als Astronom, Geograf und Buchdrucker wirkte.192 Eine solche Personalunion war indes nicht ungewöhnlich. Gerade die Umsetzung von astronomischen Schriften erwies sich, nicht zuletzt des integrierten sphärisch-trigonometrischen Apparates wegen, als so schwierig, dass etliche Astronomen – zu denken ist hier an Johannes Regiomontanus und Johann Schöner, aber auch an Tycho Brahe oder Johann Kepler – den Druck ihrer Schriften selbst in die Hand nahmen (vgl. ebd., S. 214). Apianus war Autor mehrerer Schriften zur astronomisch-praktischen Beobachtungskunst und hatte sich zudem als Hersteller von astronomischen und geodätischen Beobachtungsinstrumenten einen Namen gemacht. Sein Astronomicum enthielt eine Reihe beweglicher Pappscheiben, von denen man Himmelskonstellationen und Rechenwerte ablesen konnte, darunter ein als vielköpfiger Drache gestaltetes Enunctiatium decimum octavum mit zwei Tabulae. Als Zeiger dienten Drachenschwanz und -kopf, die sich in einer Mondscheibe trafen. Über den Drachenkopfzeiger ließen sich zudem die Mondphasen mit Tagesdaten zusammenführen. Ein weiteres gestalterisch bemerkenswertes Beispiel bietet ein Blatt zu Deß Menschen Circkel und Lauff in Thurneissers gleichnamigem Buch, das bereits im Untertitel auf seine Funktion als Hilfsmittel für Astrologen hinwies.193 Das Blatt bezieht sich auf den Lebenslauf des Menschen zwischen Geburt und Tod und steht am Beginn einer Serie, die dem Lauf der sieben Himmelskörper Sol,  







191 Vgl. ‚Heidelberger Schicksalsbuch‘. Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. Germ. 832, fol. 16r u. fol. 103r. 192 Apian, Peter: Astronomicum Caesareum. Ingolstadt [?] 1540. Bibliotheca Palatina Stamp. Barb. XI.66; Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 2. 193 Vgl. Thurneysser, Leonhard: Dess Menschen Circkel und Lauff, 1575. Das Werk ist Teil von: Thurneysser, Leonhard: Archidoxa.//Dorin der recht war Mutos,//Lauff vnd Gang/auch heimlichkeit…, Uni 





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Luna, Merkur, Saturn, Jupiter, Venus und Mars gewidmet ist. Die Bezugnahme auf die Planeten entsprach wiederum Thurneissers Auffassung, der zufolge der Mensch einen aus den Elementen Erde, Luft, Wasser und Himmel bzw. den paracelsischen Stoffprinzipien Sulphur, Mercurius und Sal zusammengesetzten Mikrokosmos mit Geist, Leib und Seele darstellte (vgl. ebd., Bildband S. 233).  

Aneignung von astronomisch-astrologischen Gestaltungskonzepten in zeitgenössischen Künstlerbüchern. Gerade durch die Integration beweglicher Elemente weisen die astronomischen Schriften eine Vielfalt an Darstellungsmodi auf, welche die anderer Buchgattungen um einiges übertrifft. Das von bildhaften Motiven bis hin zu Diagrammen und Schemata reichende Spektrum liefert entsprechend Inspiration für das zeitgenössische Künstlerbuch. Aus expliziten wie impliziten Bezugnahmen auf astronomische und astrologische Abbildungsmodi gingen unterschiedlichste Adaptionen, Interpretationen und Neukonzeptionen hervor. Kompilieren einige Künstler ein Repertoire an Sternbildminiaturen mittelalterlicher Handschriften, so griffen andere gezielt auf einzelne Wiedergaben aus Inkunabeln zurück; wieder andere verwendeten fotografische Vorlagen der Gegenwart. So wurden alte Zusammenhänge in neue Bezugsrahmen gestellt oder von gezielten Referenzen losgelöste freie künstlerische Umsetzungen geschaffen. Ein Himmelsbuch von Robert Schwarz. Einen expliziten Zugriff auf illuminierte Manuskripte dokumentiert Robert Schwarz’ Della natura di Cieli von 2001/2002. Der Künstler nennt die Bezugsorte für seine Motive und Anregungen nicht, verweist jedoch über seine Bildsprache auf eine Fülle von Quellen, die für sein Werk Pate gestanden haben. Da ist zum einen der tiefblaue Ton, der sein Buch Seite für Seite durchdringt. Das Blau als Grundfarbe, so ist zu vermuten, hat Schwarz nicht zufällig gewählt, erinnert es doch an eine geläufige Gestaltung von Hintergründen in Miniaturen, die Sternbilder wiedergeben, so etwa in denen der um 830/840 entstandenen Leidener Aratea.194 Unter dem Namen Aratea werden Himmelsbeschreibungen unterschiedlicher Art, teils in Versen abgefasst, teils auf sachliche Angaben begrenzt, zusammengefasst. Gemeinsam ist diesen Texten jedoch, dass sie alle auf Aratos von Soloi zurückgehen, der im 3. Jahrhundert v. Chr. Himmelserscheinungen, und zwar in erster Linie Sternbilder, beschrieb. Der von Aratos in Versen verfasste und als Phainomena verbreitete Text war selbst wahrscheinlich bilderlos, lieferte aber bis zum Ende des 12. Jahrhunderts die Grundlage sämtlicher Sternbilddarstellungen (vgl. Blume/ Haffner/Metzger 2012–2016, S. 23f.). Die langanhaltende Rezeption erklärt sich damit, dass Aratos die einzelnen Sternbilder zueinander in Bezug setzte und damit einen Ge 







versitätsbibliothek Heidelberg, Heidelberg, Bibliotheca Palatina Stamp. Pal. II. 89, Blatt 31; Abb. in Mittler 1986, Bildband S. 233. 194 Vgl. Leidener Aratea. Lotharingien um 830-40. Universitätsbibliothek Leiden, Ms. Voss. Lat. Q 79, bspw. fol. 3v.  





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Teil B Buch-Geschichten

samteindruck des Sternenhimmels gab. Eine erste Bebilderung des Sternbildzyklus war eine um 820 in Aachen entstandene Handschrift, die kaum Text enthielt, dafür aber, von zwei Ausnahmen abgesehen, jedes Sternbild in einer ganzseitigen Miniatur erfasste. Dieser ganz auf die Anschaulichkeit des Bildmaterials setzende Himmelsatlas lieferte in der Folgezeit die Vorlage für die Darstellung von Sternbildern (vgl. ebd., S. 47, 53). Auch wenn nicht alle in Schwarz’ Della Natura di Cieli aufgeführten Tierkreiszeichen sich mit denen in der Aratea in Übereinstimmung bringen lassen, ist doch über Form-, Motiv- und Farbübereinstimmungen der Verweis auf eine der zentralen Handschriften gegeben, die über Bild und Text astronomisch-astrologisches Wissen aufbereiten. Neben der Wiedergabe der Tierkreiszeichen, die noch weitgehend auf die mythischen Vorstellungen der Antike verweisen, stellt Schwarz sein Buch über den Himmel gezielt in einen christlichen Kontext. Das gelingt zum einen durch Zitate aus der mittelalterlichen Tafelmalerei, zum anderen durch den Rückgriff auf Stundenbücher, die entsprechend einer christlich determinierten Zeiteinteilung strukturiert waren.195 Auf diese zeitliche Einteilung rekurriert Schwarz durch Abbildungen von Kalenderseiten, die er einem in der Vatikanischen Bibliothek gedruckten Stundenbuch aus dem 18. Jahrhundert und dem Stundenbuch des Herzogs von Berry entnahm. Zu den Erscheinungen am Himmel gehören in Schwarz’ Buch aber auch Vogelmotive aus John James Audubons Birds of America (erstmals gedruckt zwischen 1827 und 1838). Das Bild eines Engelchores wiederum erinnert an Vorstellungen des Weltganzen, wie sie sich in Holzschnitten von Drucken der Frühen Neuzeit finden, die die Erde von konzentrischen Kreisen umschlossen wiedergeben, wobei die Kreise zunächst für die Elemente, dann die Planentenbahnen und schließlich den christlichen Himmel stehen. Letzterer wird durch einen Kreis von Engeln um Gottes Thron verbildlicht. Auf die Kompilation des astronomischen Wissens aus verschiedenen Quellen verweist auch die Zusammenstellung der Materialien. Groß ist die Vielfalt der verschiedenen Bildquellen, Papier- und Farbarten, und zudem sind diese durch eine Mischung aus Collage, Papierschöpftechnik und Kleisterarbeit so miteinander verschmolzen, dass gar nicht mehr zu bestimmen ist, auf welcher Ebene welche Motive liegen. So lagern sich hier Schichten über Schichten, gleichsam die Schichten des sich über die Jahrhunderte ansammelnden astronomischen Wissens im Material abbildend. Dem Vorgehen entspricht auch die Technik der Nitrage, eines Verfahrens, bei dem gedruckte Motive durch Terpentin gelöst und auf einen anderen Bildträger übertragen werden. Da sich dabei die Seiten verkehren, werden die Vorlagen leicht verfremdet und aus ihrem angestammten Bedeutungszusammenhang gelöst. Die verschiedenen Bezugspunkte der Darstellung, in erster Linie Bildquellen aus einem breiten Spektrum von  



195 Die Astronomie erlangte im christlichen Abendland Anerkennung, weil mit ihrer Hilfe das Datum des Osterfestes und davon ausgehend alle weiteren Festtage des Kirchenjahres ermittelt werden konnten; vgl. zu den Stundenbüchern Teil B 1.4.

B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

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Büchern, das vom mittelalterlichen Stundenbuch bis zum enzyklopädischen Werk der Aufklärung reicht, veranschaulichen das bunt gemischte Bild, das in der Zusammenschau von astronomischem und astrologischem Wissen entsteht. Zitate aus Werken der bildenden Kunst appellieren zunächst an das Bildwissen, das mit den über Jahrhunderte tradierten Vorstellungen vom Himmel verbunden ist. Liefert die griechische Mythologie einen Ausgangspunkt für die Formierung der Sternbilder, so suchen spätere Wissensdiskurse mythologische und christologische Weltbilder miteinander in Einklang zu bringen. Da beobachtete Daten auf Glaubensinhalte und Imaginationen stoßen, bleiben Lücken, die sich rational kaum schließen lassen, zwischen denen zu vermitteln sich jedoch die bildende Kunst zum Anliegen gemacht hat. Die in die großformatigen Unikatblätter eingebundenen Motive in Schwarz’ Buch nehmen Bezug auf den Menschen und seinen gesamten Lebensraum. Leitend ist ein Kalendarium, das den Jahreslauf und damit den Rhythmus des in die Natur eingebundenen Menschen vorgibt. Als Grundfarbe bestimmen Blautöne in den unterschiedlichsten Schattierungen das Erscheinungsbild, das an die sphärische Erscheinung erinnert, die der Blick in den Himmel vermittelt, und das in seinen verschiedenen Abstufungen die Tiefe und Weite des Himmelszeltes aufscheinen lässt. Gleichzeitig wechseln komplexe, sich über ganze Doppelseiten erstreckende Gestaltungen mit fragmentarischen Zusammenstellungen.

Abb. B 19: Robert Schwarz: Della natura di cieli. Mainz 1995/1996.  

Max Ernsts Maximiliana. Von Rückgriffen auf die Bildmotivik astronomisch-astrologischer Sammelschriften wie in Schwarz’ Della Natura di Cieli ist in der einige Jahrzehnte früher entstandenen Maximiliana ou l’exercice illégal de l’astronomie von Max Ernst nichts zu spüren.196 Ernsts Referenzrahmen liegt im ausgehenden

196 Herausgegeben von Ilya Zdanevič, genannt Iliazd, 1964, 65 Exemplare. Mappe aus 30 losen Bögen; Lagen von sechs und neun in der Mitte gefalteten Bögen in graugrünen und senffarbenen Bögen aus Bütten eingeschlagen, Schutzumschlag.

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19. Jahrhundert und verweist auf das individuelle Schicksal von Ernst Wilhelm Leberecht Tempel, der als Zeichner und Lithograf seinen Lebensunterhalt verdiente, sich daneben aber als Astronom betätigte. Seine astronomischen Beobachtungen machte er außerhalb des ihm zugewiesenen Aufgabenbereichs heimlich. Ernsts Titel excercice illégal spielt darauf an. Bis 1863 arbeitete Tempel an der Sternwarte in Marseille als Lithograf, dann als Assistent an der Sternwarte Brera in Mailand und erst 10 Jahre später tatsächlich als Astronom in Arcetri bei Florenz. In diesem Zeitraum entdeckte Tempel insgesamt 20 Kometen, sechs Planeten und ca. 60 Nebelhaufen. Obwohl erfolgreich, blieb ihm die Anerkennung der Fachwelt lange versagt. Erst 1881 wurde er in die London Astronomy Society aufgenommen. Tempel mit seinem wechselvollen Lebenslauf dient Max Ernst als Identifikationsfigur. So heißt sein Buch nicht nur deshalb Maximiliana, weil dieser Name einen von Tempel entdeckten Himmelskörper bezeichnete, sondern auch in Anspielung auf den Vornamen des Künstlers. Auf die hybride Existenz Tempels geht Ernst mit der Gestaltung seines Buches ein, indem er nicht mehr zwischen Schrift und Bild trennt. Die Texte sind typografisch so wiedergegeben, dass sie Formen und Strukturen von Motiven aufgreifen, die nebenstehend in einer Radierung erscheinen. Bisweilen sind die Buchstaben so über eine Seite verteilt, dass sie an Himmels-Konstellationen erinnern, bisweilen auch in ein Raster gefügt, das Assoziationen an Sternbilder aufruft. Ähnlich verhält es sich mit den radierten Blättern, auf denen sich planetengleiche Gebilde abzeichnen, die aber auch Elemente des Drippings aufnehmen, dessen gekleckste und gespritzte Ergebnisse den gestirnten Himmel assoziieren lassen. Daneben finden sich Auszüge aus Tempels Aufzeichnungen und Tagebüchern, abgefasst in der Sprache des Landes, in dem er sich jeweils gerade aufhielt, durchmischt mit Texturen einer unbekannten Schrift, hieroglyphisch verschlüsselte Textblöcke aus einer von Max Ernst entwickelten Geheimschrift, die Einblicke in die Unergründlichkeit der außerirdischen Welt zu geben sucht. So erweisen sich die zunächst lesbar scheinenden Zeichen als ornamentales Rätsel. Diesen zum sehenden Lesen auffordernden Zeichen ist eine Aussage Tempels gegenübergestellt, die den Zwiespalt zwischen Sehen und Erkennen thematisiert: „Die Erinnerung ist weniger ausgebildet und geübt als früher, weil sich über die Jahrhunderte hin eine Masse Gedrucktes angehäuft hat, und die Kunst des Sehens ist im Begriff zu verschwinden infolge der Erfindung von allen möglichen optischen Instrumenten“ (Ernst Leberecht Tempel, zit. in: Ernst 1964, unpag.). Dem für Tempels Biografie entscheidenden Ereignis, der Entdeckung der Maximiliana, ist ein eigener Abschnitt im Buch gewidmet. „Maximiliana Planète située entre Mars et Jupiter fut découverte à onze heures le vendredi 1861 sur la terrasse de l’observatoire ancien de Marseille par Ernst Guillaume Leberecht Tempel. Invisible à l’oeil nu elle paraissait dans sa famille entre la plus éloignée du soleil.“ (Ebd.) Der Text formt sich hier zu einer „[…] construction en carré“ (Greet 1982, S. 10), wobei der Zeilenverlauf eine Schrägstellung erhält, durch die eine dritte Dimension suggeriert wird. Mit den über die Seiten gestreuten Buchstaben werden  







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zudem Konstellationen aufgerufen, wie sie Mallarmé in Quant au livre als Vergleich zur Typografie heranzog.197 Die Korrespondenz von Bildmotiv und Inszenierung der Schriftzeichen zieht sich als Grundmotiv durch Ernsts ganzes Buch. Maximiliana ist eine Erzählung, in der die Worte das Enigmatische der Bilder hervorheben und die Bilder die Vielschichtigkeit des Textes vertiefen, ein Buch, in dem Ernst versuchte, die Grenzen des Verstehens aufzuzeigen oder durch einen Blickwechsel auszuweiten. Sterntagebücher. Auf den Sternenhimmel nehmen auch die unter dem Titel Sterntagebücher zusammengestellten Werke Karin Innerlings Bezug,198 doch anders als Robert Schwarz, der sich an illuminierten Manuskripten und Malerei orientiert, greift die Künstlerin nicht auf Handschriften zurück, sondern auf eine Inkunabel, den 1610 erschienenen Druck Sidereus Nuncius, in dem Galileo Galilei die Ergebnisse seiner Himmelsbeobachtungen publizierte. Der vollständige Titel der Abhandlung enthält bereits die wesentlichen Stichworte: der Herold der Sterne, große und höchst bewundernswerte Einsichten liefernd, und dem Blick von Jedermann, besonders aber den Philosophen und Astronomen solches vor Augen stellt, was Galileo Galilei, Bürger von Florenz, Mathematiker an der Universität von Padua, mit Hilfe seines Teleskops, mit dem er kürzlich die Oberfläche des Mondes erkannte, unzählige Sterne, die Milchstraße, wolkengleiche Sterne und die vier Planeten, die den Jupiter umkreisen in ungleichen Intervallen und Perioden, mit wundersamer Leichtigkeit, die, bisher keinem bekannt, der Autor kürzlich zum ersten Mal entdeckt und sich entschlossen hat, sie die Mediceischen Sterne zu nennen.

Karin Innerling bezieht sich in den drei Teilen ihrer Sterntagebücher vor allem auf die Tagebuchaufzeichnungen Galileis sowie die von ihm in Sidereus Nuncius publizierten Abbildungen (Kat. Ausst. 2011, S. 60). So wählt sie für ihre Darstellung auch nicht die einheitliche Kodexform, sondern schafft drei getrennte, in einer flachen Holzkassette zusammengefasste Einheiten, die aufgrund ihrer Handlichkeit und Verarbeitung die Intimität von Tagebüchern aufweisen. Texte enthält jedoch keiner der Teile, und der Hinweis auf Galilei erfolgt nur am Rande, über einen schmalen Streifen, auf dem zu lesen ist: „Jupiter-Konstellation aus Galileo Galilei: Sidereus Nuncius. Ost West Jupiter Monde“ (ebd.).  

197 In dieser Abhandlung entwickelte Mallarmé Überlegungen zu einer Buchform, die durch ihre Offenheit kosmische Dimensionen annehmen sollte. 198 Vgl. Innerling, Karin: Sterntagebücher, 1996, zu: Galilei, Galileo: Sidereus Nuntius. Venedig 1610; dreiteiliges Buchobjekt im Schuber, zwei Bücher, je 25 x 3 cm, beidseitig Nitrage auf Bristolkarton, in Streifen geschnitten, aufgefädelt und verschnürt zwischen Buchdeckeln, Stempel, Styropordruck auf rotem Seidenpapier, gefaltet und verschnürt zwischen losen Buchdeckeln, 25 x 5 cm, 15 signierte Exemplare.  











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Die Sterntagebücher bestehen aus einer Abfolge von Papierstreifen, die wie bei einer Palmblattbindung durch Fäden zusammengehalten werden. Beidseitig bedruckt, zeigen sie eine helle und eine dunkle Seite. Bei einem der beiden Bücher sind auf den Streifen Daten neben skizzenhaft ausgeführten Sternen aufgedruckt. Die Daten entsprechen denen von Galileis Aufzeichnungen, die Skizzen geben die Position der Sterne und des Jupitermondes zueinander wieder, so dass jeder Bildstreifen genau die am Tage gemachten Beobachtungen des Astronomen darstellt. Alle Streifen aneinander gelegt ergeben ein zusammenhängendes ‚Sternbild‘, mit dem die Künstlerin auf die zusammenhängende, übergreifende Idee Galileis hinweist (vgl. ebd.). Neben den beiden in Streifen zerlegten Objekten gibt es ein drittes, das zwar äußerlich den beiden anderen gleicht, sich aber zu einem plakatgroßen Bogen ausfalten lässt und dabei eine das halbe Blatt füllende dunkle Kreisform zeigt. Als Vorlage diente eine Abbildung aus der 1610 in Venedig publizierten Ausgabe des Sidereus Nuncius. Das auf rotem Seidenpapier wiedergegebene Motiv greift mit seiner partiell gebrochenen Struktur die Abbildungen Galileis von der Mondoberfläche auf. Sie findet sich in seiner Abhandlung ganz am Anfang, folgt unmittelbar auf die Erläuterungen zum Teleskop und wird in der Folge mehrfach in leichten Abwandlungen wiederholt. Über die Mondansicht ziehen sich bei Innerling feine gepunktete Linien, mit denen die Künstlerin auf Galileis Beschreibung der Kreisbahnen der Planeten reagiert und damit in ihrer Darstellung zwei Stellen aus Galileis Abhandlung zusammenführt. Die quadratische Einfassung, die sich um den Mondkreis legt, ist ein Reflex auf den Blick durch das Teleskop, der durch das Okular eine Rahmung erhält. Solche Hinweise auf die kontextuellen Gegebenheiten finden sich mehrfach. So sind die beiden gegensätzlichen Seiten der zum Tagebuch zusammengefassten Streifen nicht allein als Abbild von Tag- und Nachtwechsel zu sehen, sondern auch als Hinweis auf die widerstreitenden Ansichten, denen sich Galilei zum Zeitpunkt seiner Entdeckung ausgesetzt sah. Innerling greift Galileo Galileis revolutionierende Aufzeichnungen auf, um sie zu einem persönlichen Dokument zu machen, einer Hommage an Galilei. Damit lässt sich der Titel ihrer Arbeit auf zweierlei Weise lesen: zum einen als Hinweis auf das wissenschaftliche Vorgehen Galileis, das sich in den täglichen Aufzeichnungen seiner Beobachtungen niederschlug, zum anderen als Name für ein persönliches Tagebuch der Künstlerin, die sich schrittweise die Erkenntnisse des Astronomen zu eigen macht und ihnen mit ihren eigenen Mitteln Ausdruck verleiht.

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Abb. B 20: Karin Innerling: Sterntagebücher. 1996 (zu: Galileo Galilei: Sidereus Nuntius).  

Bilder aus Galaxien. Orientieren sich Robert Schwarz, Max Ernst und Karin Innerling an älteren Schriften zur Astronomie, so bietet Kurt Johannessens mit seinem Buch Galaxesamlinga ein Künstlerbuch, das Darstellungsformen jüngerer Astronomiebücher reflektiert.199 Den Ausgangspunkt für Johannessens Leporello bilden Aufnahmen der Internationalen Raumfahrtbehörde, die mit Hilfe des Hubble Space Teleskop erstellt wurden. Sie zeigen eine Sternenansammlung, die so unendlich weit von der Erde entfernt ist, dass sie mit normalen Teleskopen nicht zu sehen ist. Und auf eben dieses Phänomen des ins Bild geholten Nicht-Sichtbaren reagiert der Künstler. Die Seiten seines Buches sind bis auf einen schwarzen Fleck im Zentrum weitgehend leer. Lediglich die Rückseiten sind von feinen schwarzen Punkten überzogen, die sich schließlich auf einem Blatt zu einer dunklen Fläche verdichten. Die dunklen Flecken auf hellem Grund bilden Sterne ab, dies aber in Abweichung von den konventionellen Hell-auf-Dunkel-Darstellungen. So, wie man sie hier sieht, können sie vom menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden. Mit dem Projekt einer Visualisierung des Nicht-Sichtbaren knüpft Johannessen einerseits an eine Tradition an, die bis zu den Sternbildern der Aratea zurückführt, es gibt andererseits aber auch eine wichtige Differenz. Das in alten Himmelskarten Dargestellte entspricht nicht dem, was das Auge sieht, analog zu vielen historischen Himmelsdarstellungen – handelt es sich doch bei den Sternbildern um Motivkonstruktionen bzw. Projektionen. Bei Johannessen nun hat die visuelle Repräsentation des Unsichtbaren gar keinen ‚bildhaften‘ Charakter mehr. Ging es in der älteren Astronomie darum, den Himmelsbeobachtungen nachvollziehbaren Ausdruck zu geben, so entziehen sich die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft einer solchen Vermittlung nahezu gänzlich. Johannessens Buch zeigt nichts als einen kleinen Punkt des hervortretenden Sternennebels auf dunklem Grund. Der Illusionismus mittelalterlicher Illuminationen hat sich hier gänzlich verloren. Die Sterne bleiben abstrakte Ge 

199 Vgl. Johannessen, Kurt: Galaxesamlinga. Bergen 2007, 32 Seiten, 14,5 x 14,5 cm, Auflage 500.  





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bilde und in Johannessens Buch vermitteln sie nicht einmal mehr die Emotionen, die der Blick in den nächtlichen Himmel auslösen kann. Dass trotz hochtechnisierter Instrumente und deren Möglichkeiten, das mit dem Auge nicht Zugängliche zu zeigen, die Darstellung dennoch kein ‚Bild‘ liefert, erscheint paradox. Doch ist eben solche Unanschaulichkeit signifikant für Darstellungen moderner Astronomiebücher. Die Zusammenschau dieser und anderer Beispiele künstlerischer Auseinandersetzung mit astronomischen und astrologischen Handschriften, die Art und Weise, wie Künstler die Thematik des Himmelsbildes aufgreifen und umsetzen, macht unter anderem deutlich, wie Techniken die Beobachtung und damit auch die Vorstellungskraft verändern. In der Geschichte der Himmelsbücher werden immer wieder neue Möglichkeiten der Gestaltung genutzt, bedingt durch neue Materialien oder Techniken. In Künstlerbüchern findet auch dies Berücksichtigung. VHS

B 2.8 Kosmografische Kompendien und Konzepte im Spiegel des Künstlerbuchs Kosmografie und Kosmologie: Begriffsanalogie und -differenzierung. Als ‚Kosmografien‘ wurden bis in die Frühe Neuzeit Lehren sowie konkreter auch Abhandlungen über die Entstehung und Entwicklung des Kosmos bezeichnet. Im Mittelalter war die Bezeichnung ‚Kosmografie‘ synonym für ‚Geografie‘ in Gebrauch, wobei aber die geografischen Darstellungen keineswegs immer klar gegen kosmische Konzepte abgegrenzt erschienen. Gerade in den mittelalterlichen Schriften wurde das antike Wissen häufig mit einer christlich-theologischen Sicht der Weltschöpfung verbunden. Der fließende Übergang von einem antiken Verständnis der Kosmografie als Wissen über den Kosmos, das astronomische Fakten ebenso berücksichtigt wie die Auswirkungen der Himmels-Konstellationen auf die Erde, und dem mittelalterlichen Ansatz, die geografische Raumerschließung mit der Schöpfungsgeschichte zu kombinieren, bedingte, dass in der Folgezeit zwischen Kosmografie und Kosmologie nicht immer klar unterschieden wurde. Bereits das als Geographia bezeichnete Werk des Ptolemäus (2. Jahrhundert n. Chr.), eine Anleitung zur kartografischen Darstellung der Erde, zielt auf ein Abbild der Erde, bei dem jeder Ort gemäß seinen astronomischen Daten bestimmt sein soll, was unweigerlich astronomische Kenntnisse voraussetzte. Ähnlich verbunden zeigen sich Kosmografie und Astronomie in den mittelalterlichen Sammelschriften, in denen astronomische Erkenntnisse mit kalendarischen Daten und den daraus abzuleitenden menschlichen Belangen verknüpft wurden.  



Alte und neue Kosmologie. Die Geschichte der Kosmologie zeigt, dass sich der Ausdruck ‚Kosmos‘ wechselweise auf das ‚Universum‘, die ‚Welt‘ oder den ‚Himmel‘ bezog. Was die älteren ‚Kosmos‘-Begriffe verbindet, ist ihr Bezug zu Alltagsbeobachtungen, die ein empirisches Verständnis von Welt prägten. Im Vordergrund standen

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praktische Erfordernisse der Daseinsbewältigung, soziale und psychologische Themen. Vor allem in der Antike und im Mittelalter fallen schöpfungsgeschichtliche und kosmologische Vorstellungen noch zusammen. Die Theogonie des Hesiod (ca. 700 v. Chr.) ist zugleich auch eine Kosmogonie, die Aufschluss über die Ordnung der Welt gibt. Bis zum Ende des Altertums besteht eine enge Verbindung zwischen Welterforschung und spekulativen Ideen. In antiken Sagen wird Kosmologie immer zugleich auch als Kosmogonie vorgestellt. Leitend ist dabei die Vorstellung, dass der Gestaltvielfalt eine ordnende, von Göttern repräsentierte Kraft zugrunde liegen müsse. Die antike und mittelalterliche Forschung geht von Alltagsbeobachtungen aus, um so eine Vorstellung des Weltganzen zu entwickeln. Im Vordergrund stehen praktische Anliegen des Alltags. In dem Maße jedoch, in dem sich die Kosmologie von diesen Belangen emanzipiert, beginnt sich das Gegenstandsfeld auszuweiten und mit Bezug auf die theoretischen Konzepte der jeweiligen Epoche zunehmend weitere Aspekte der zeitgenössischen Astronomie aufzunehmen (insbesondere zu zeitgenössischen Inhalten der Kosmologie vgl. Kanitscheider 2002, S. 18). Die Theorien der modernen Kosmologie haben mit den alten nur mehr wenig gemein. An die Stelle mythischer Vorstellungen sind Theorien über den Urknall, über Schwarze Löcher und die Entstehung von Materie ex nihilo getreten. Die hier zur Disposition stehenden Themen zeichnen sich auch in den Titeln der Publikationen ab, wie Das neue Bild des Universums – Quantentheorie, Kosmologie und ihre Bedeutung oder Gravitation and cosmology. Principles and applications of the general theory of relativity, die Fragen der Allgemeinen Relativitätstheorie oder der Quantenphysik berühren (vgl. Börner 2009; Weinberg 1972). Die Abhandlungen wenden sich dem expandierenden Universum, dem Alter der Sterne, der Geschwindigkeit des Lichtes, der kosmischen Strahlung und ähnlichen wenig fassbaren Raum-Zeit-Bezügen zu. Waren die frühen Kosmografien respektive Kosmologien darauf angelegt, umfassend alles Mögliche an verfügbarem Wissen über die Welt zusammenzutragen, von Schöpfungsmythen bis zur Naturgeschichte, so lösen sich die Abhandlungen im Laufe der Jahrhunderte von diesem enzyklopädischen Anliegen, um sich mehr auf außerirdische Weltbereiche zu konzentrieren. Zeitgenössische Künstlerbücher beziehen sich auf historische Sammelschriften, Frühdrucke und Bücher, die astronomische und geografische Fakten als analog zum menschlichen Leben interpretieren.  







Kosmografie als Geografie. Auch wenn ältere Werke wie die um 150 n. Chr. erstellte Geographike Hyphegesis des Claudius Ptolemäus oder die Cosmographia sive De situ orbis, die Pomponius Mela um 43–44 n. Chr. verfasste, als Cosmographiae gelten, handelt es sich bei diesen Werken doch vornehmlich um Geografien; sie enthalten Beschreibungen aller zum Zeitpunkt der Abfassung bekannten geografischen Gegenden mit ihren Grenzen und länderkundlichen Informationen, ohne das außerhalb dieser Gebiete Liegende einzubeziehen. Als ältester Text, der tatsächlich eine Kosmografie im engeren Sinne bietet, weil er auch auf die Weltschöpfung eingeht, ist eine unter der  



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Bezeichnung Aethicus in lateinischer Übersetzung überlieferte frühmittelalterliche Abhandlung zu betrachten,200 die ausgehend von den hier verwendeten Quellen auf das ausgehende 8. Jahrhundert datiert wird (vgl. Hillkowitz 1973, S. XVII). Den einleitenden Worten nach fußt sie auf Berichten eines Reisenden namens Aethicus Ister und wurde aufgezeichnet durch den Presbyter Hieronymus. Den Anfang bildet eine Darstellung zur Schöpfung der Welt, von Himmel, Erde und Hölle und vom Fall des bösen Engels; es folgen Beschreibungen der von Aethicus besuchten Länder, einschließlich ihrer Besonderheiten und Bewohner. Die Angaben über Land und Leute sind wunderlich, oft unsinnig, häufig durchsetzt mit fabelhaften, in ihrer Rätselhaftigkeit nur teilweise verständlichen Exkursen über Alexander den Großen, die Eroberung der alten römischen Könige, den Schiffbau und andere Dinge (vgl. Berger 1893). Auffallend sind das keiner bekannten Schrift angehörige Alphabet am Schluss der Aufzeichnungen sowie diverse unbekannte Namen und Bezeichnungen geografischer Regionen und Völker. Zum Teil erweisen sie sich als Abwandlungen bekannter Begriffe, zum Teil sind sie aber auch gänzlich erfunden. Unklar bleiben auch die aufgeführten Quellen (vgl. ebd.).  



Chronik und Etymologie als Kosmologie. Wie wenig Begriff und Inhalte von ‚Kosmologien‘ einander entsprechen, zeigen zum einen verschiedene Schriften und Textsammlungen, die unter diesem Titel stehen, dabei aber nur vage von Vorstellungen über den Kosmos handeln, zum anderen solche, die ‚Kosmologisches‘ enthalten, ohne einen entsprechenden Titel zu führen. So beschränkt sich das von Martinus Oppaviensis zwischen 1277 und 1286 abgefasste Chronicon pontificum et imperatorum nicht auf die Geschichte der Päpste und Kaiser, sondern bringt Beschreibungen von Orten und Ereignissen ein, wie sie auch die unter Cosmographia gefassten Titel charakterisieren.201 Zwar zielt der Autor des lateinischen Textes, auf den Martinus Oppaviensis zurückgreift, auf ein Regelwerk für Theologen und Rechtsgelehrte, dem man die Regierungszeiten der Kaiser und Päpste entnehmen konnte, weshalb im lateinischen Original die Regierungszeiten von Päpsten und den Kaisern in tabellenähnlichen Tafeln einander gegenübergestellt wurden. In Martinus Oppaviensis’ Fassung erinnert jedoch nichts mehr daran, dass seine Vorlage in einer tabellarischen Aufstellung von Regierungs- und Amtszeiten bestand. Diese Informationen sind in seiner Übernahme vollständig in den Fließtext integriert und zusätzlich mit zahlreichen Schilderungen von Fabeln und Wundergeschichten angereichert, was die Herrschaftsgeschichte zu einer Universalchronik werden lässt. Die von Oppaviensis eingebrachten Anekdoten liefern nicht zuletzt Anregungen für Illustrationen. In den beiden um 1450 entstande-

200 Vgl. Wuttke 1854; De cosmographia Ethici libri tres. Scr. K. A. F. Pertz, Berol. 1853; vgl. auch: Hillkowitz 1973. 201 Vgl. Martinus Oppaviensis: Chronicon pontificum et imperatorum. Hagenau: Werkstatt Diebold Lauber um 1450, 345 Bl., 36 x 28,3 cm, mit Wasser- und Deckfarbe kolorierte Federzeichnungen. Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. germ. 149.  







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nen Abschriften aus dem Bestand der Heidelberger Universitätsbibliothek finden sich kolorierte Federzeichnungen. Diese konzentrieren sich auf Szenisches; in einigen Fällen bildet eine Stadt oder ein Gebäude den Hintergrund; einmal wird ein Kirchenbau dargestellt. Abgebildet sind Personen der Geschichte, doch über die Ikonografie werden sie in einen die biblische Geschichte aufgreifenden Zusammenhang gestellt. Abbildungen und ihre Funktion. Die Abbildungen sollen weniger einer exakten Wiedergabe der Realität dienen als Analogien zur biblischen Historie konstruieren. Damit bilden die Federzeichnungen einen eigenen, neben dem Text verlaufenden Erzählstrang. Von einem roten Rahmen umschlossen, werden diese auch optisch gegen den Text abgegrenzt, was besonders dort ins Auge springt, wo sie unmittelbar auf den Text treffen. Ähnliche Motive zeigen die Illustrationen einer zweiten in der Heidelberger Bibliothek aufbewahrten Handschrift der Chronicon pontificum et imperatorum des Martinus Oppaviensis. Allerdings füllen die hier enthaltenen 117 Federzeichnungen eine Seite vollständig und erscheinen ohne Rahmung.202 Dass es um mehr als nur um Herrschaftsdaten und geografische Begebenheiten geht, zeigt eine Beschreibung der Sichtung der Supernova von 1054. Eine Abbildung dazu zeigt Kaiser Heinrich III., wie er bei seinem Besuch der Stadt Tibur diesen Stern sieht (vgl. ebd., fol. 200r). Martinus’ Schrift wurde um eine Descriptio Terrae sanctae ausgeweitet, die die wichtigsten Stätten des Heiligen Landes behandelt. Um die Bedeutung der Geografiekenntnisse zu unterstreichen, wurden sie mit biblischen Szenen illustriert. Ebenso wenig als Kosmografie ausgewiesen wie das Chronicon pontificum et imperatorum ist das in gleicher Weise mittelalterlicher Tradition verhaftete Werk Originum seu etymologiarum libri XX des Isidor von Sevilla. Dieser bemüht sich so umfassend wie möglich um eine Gesamtdarstellung des verfügbaren Wissens. Dabei orientiert er sich an den Artes liberales; Grammatik, Rhetorik und Dialektik, Mathematik, Rechtswissenschaften, Medizin, Musik und Astronomie werden in umfangreichen Abhandlungen behandelt. Einbezogen sind auch Geografie, Theologie, Agronomie und Kriegskunst. Eine erste gedruckte Fassung des Kompendiums lieferte 1472 Günther Zainer in Augsburg. Diese Ausgabe enthält auch eine Weltkarte, durch ihre TForm charakterisiert, welche die großen Weltmeere repräsentiert und die Kontinente Afrika, Asien und Europa, nach den biblischen Stämmen zusätzlich mit den Namen Cham, Sem und Jafeth versehen, gegeneinander abgrenzt. Der sie umschließende, geschlossene Kreis bezeichnet den die Welt begrenzenden Ozean, versinnbildlicht vor allem aber das dem Heilsplan Gottes entsprechende Weltganze, während das aus den Ozeanen gebildete T das Kreuz Christi und die Erlösung symbolisiert. Das Wissen um  

202 Vgl. Martinus Oppaviensis: Chronicon pontificum et imperatorum. Hagenau: Werkstatt Diebold Lauber um 1450, 345 Bl., 36 x 28,3 cm, mit Wasser- und Deckfarbe kolorierte Federzeichnungen. Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. germ. 149.  





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die tatsächlichen geografischen und topografischen Gegebenheiten fand keine Berücksichtigung; die enzyklopädische Zusammenschau christlich-ideologischer Weltsicht hatte Vorrang. Apians Cosmographia. Die nur wenige Jahre später gedruckte, 1524 erschienene Cosmographia des Peter Apian löste sich von solch symbolischem Weltbild und vermittelte, gestützt auf die Cosmographia des Ptolemäus, dessen Schriften Anfang des 15. Jahrhunderts ins Lateinische übertragen wurden und gedruckt weite Verbreitung erlangten, eine geozentrische Weltsicht.203 Auch übernahm Apian die Unterscheidung von Geografie und Topografie bzw. Chorografie. Erstere verstand sich als Lehre von der natürlichen Beschaffenheit der Erde, die sich mit dem Gefüge der Kontinente mit ihren Flüssen, Bergen und Meeren befasste, während letztere sich auf die Beschreibungen von Geländen, Orten, Häfen und Gebäuden konzentrierte. Integriert war auch eine Vermessungslehre, verbunden mit einer Vorstellung der notwendigen Instrumente und länderkundlichen Daten. Damit begründete Apian eine Geowissenschaft, die Geografie und Astronomie verknüpfte (vgl. Krenn 2009, S. 23). Die von Gregorius Bontius 1550 in Antwerpen gedruckte Ausgabe enthält zahlreiche Holzschnitte, denen zu entnehmen ist, welchen Anteil an den kosmografischen Erkenntnissen optische Instrumente bei den Beobachtungen einnehmen (vgl. Methoden der Geografie und der Topografie in Cosmographia, s. Anm. 204, Bl. 1b/2a). Abgebildet sind Instrumente, mit denen Punkte im Raum und deren Verhältnis zum eigenen Standpunkt ermittelt werden konnten; in Tabellen sind Entfernungen von Orten sowie ihre Verortung im Koordinatensystem von Längen- und Breitengraden erfasst, geometrische Entwurfszeichnungen visualisieren räumliche Zusammenhänge. In Diagrammen und Schaubildern werden die verschiedenen Bezüge zwischen der Erdoberfläche und den Gestirnen veranschaulicht, daneben finden sich Karten, teils perspektivisch, teils nur in Aufsicht, ohne die sonst immer wieder üblichen Einsprengsel von Bildmotiven, ausgearbeitet.204 So werden etwa die Temperaturzonen als Streifen untereinander in einem Kreis schematisch erfasst, während der Erdglobus an anderer Stelle in seiner Kugelgestalt wiedergegeben ist. Einige der Schaubilder bestehen aus übereinander montierten Einzelteilen, wie etwa bei dem Instrument, das der theoretischen Bestimmung des Sonnenstandes dient (vgl. ebd., fol. 9v, 11r, 28r). Die Carta cosmographia cum ventor auf fol. 28v lässt sich auf ein Drei 







203 Apian, Peter: Cosmographia Petri Apiani, gemma frisium apud Louanensis, Medicum & Mathematicii insignem, iam demum ab omnibus vinidcata mendis, an non-nullis, quaque locis aucta. Additis eiusdem argumenti libellis ipsisius Gemme Fritsii. Antwerpen: Gregorius Bontius 1550. Universitätsbibliothek Heidelberg, A 218 C RES, Bl. 1b/2a. 204 Darunter die Schemata „praemissae divissonis“, eine Karte mit „Zona frigida“, „temperata“, „torrida“; „tabula arithmeticalis,“ ein „Corrolarium“ (Kompass), mit dem der eigene Standpunkt im Verhältnis zum Horizont gemessen werden kann, eine Darstellung der „oppostium augis, circumferentia terra continent millaria Germanica“, also dem Abstand zwischen Deutschland und Italien.

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faches des Seitenformates ausfalten. Eine weitere Gestaltungskomponente besteht in Schautafeln, die über mehrere aufeinanderfolgende Seiten hin die Mondphasen übersichtlich zusammenfassen. Und immer wieder finden sich Abbildungen von Globen, die mit unterschiedlicher Oberflächengestaltung mal die Erdgeografie, mal die Himmelsgeografie aufzeigen. Dabei durchdringen sich plastische und flächige Ausgestaltung, neben die technisch-sachlichen Motive treten am Ende des Kodex genreartige Szenen, denen die Handhabung einzelner Instrumente zu entnehmen ist. Insgesamt wird eine Darstellung des Kosmos geboten, die mittelalterlicher Vorstellung folgend noch dem ptolemäischen Weltbild verpflichtet ist; die Erde wird im Mittelpunkt eines Kreisschemas gezeigt, deren Ringe zunächst die vier Elemente, dann die Bahnen der Planeten, schließlich die von Sonne und Mond bedeuten. Die äußerste Bahn ist durch ein Schriftband („Coelum empireum habita cuiumdei et ominium electorum“) als Reich Gottes und aller Erwählten ausgewiesen. Kosmologien der Frühen Neuzeit. Ende des 15. Jahrhunderts erschienen weitere kosmologische Werke im Druck, die sich aber durchweg auf antike Schriften stützen, so De proprietatibus rerum des Franziskaners Bartholomäus Anglicus.205 In den 19 Bänden ist alles Wissenswerte vom Aufbau der Schöpfung über die Rangfolge der Wissenschaften bis zu Gott und den Hierarchien der Engel zusammengestellt. Mit dem Ziel, die Erkenntnis Gottes zu fördern, beschreibt Bartholomäus die sichtbare Welt als Widerspieglung der spirituellen. Als Quellen dienten u. a. die Schriften von Aristoteles, Plinius, Dioskurides und Isidor von Sevilla. Auch das Werk Polyhistor, sive De mirabilibus mundi des Gaius Iulius Solinus gehört mit seinem Anspruch, alle Denk- und Merkwürdigkeiten der Welt zu erfassen, zu den Kosmologien.206 Das bereits um die Mitte des 4. Jahrhunderts entstandene Werk greift hauptsächlich auf die Naturgeschichte des Plinius und die Erdbeschreibungen De chorographia libri tres des Pomponius Mela zurück.  





Schedels Weltchronik. Eine Kosmologie im Sinne einer Lehre vom Weltganzen mit seiner Entstehung und seiner Geschichte stellen auch jene Werke dar, die als ‚Weltchronik‘ bezeichnet werden. So weist beispielsweise die Schedelsche Weltchronik (1493) eine Münsters Cosmographie ähnliche thematische Zusammenstellung auf, teils mit veränderter Gewichtung, insofern hier die christliche Heilsgeschichte stärker mit aktuellen Geschehnissen verknüpft wird. Hartmann Schedels Weltchronik erschien in Nürnberg als buch der chroniken und geschichten mit figuren und pildnissen von anbeginn der welt bis auf dise unsere Zeit.207 Die Chronik steht in der Tradition mittelalterlicher Universalchroniken, in die biblische Heilsgeschichte und Berichte von Städte205 Vgl. Bartholomäus Angelicus: De proprietatibus rerum. Nürnberg: Anton Koberger 1483, 268 Bl. 206 Vgl. Solinus, Gaius Iulius: Polyhistor, sive De mirabilibus mundi. Venedig: Johannes Rubeus 1498. 207 Die lateinische Ausgabe erschien am 14. Juli 1493, die deutsche Übersetzung von Georg Alt folgte am 23. Dezember des gleichen Jahres. Neben Hartmann Schedel sind als bedeutende Vertreter des Nürn 

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gründungen ebenso Eingang finden wie die Vitae berühmter Personen, historische und aktuelle Ereignisse. Darüber hinaus liefert sie eine Bestandsaufnahme von Städtetopografien vor 1500. Die Bilder entfalten eine eigene Dynamik, da sie keineswegs immer nur eine bildliche Übersetzung dessen sind, was der Text enthält. Die wenig lesefreundliche Typografie lässt sich damit erklären, dass der Text primär als eine Art Gedankenstütze gedacht war, die schon Bekanntes oder mündlich Tradiertes noch einmal vor Augen stellt. So erklärt sich auch der hohe Bildanteil der Chronik. Im Unterschied zu lateinischen Werken, die sich an lesekundige Rezipienten richteten, sprachen die volkssprachigen Weltchroniken ein illiterates Publikum an, waren also in erster Linie zum Vorlesen gedacht. Ungewöhnlicherweise beginnt die Chronik mit einem Register, die inhaltliche Gliederung der Chronik folgt der biblischen Heilsgeschichte. In Anlehnung an das Sechstagewerk der Schöpfung ist sie in sieben Bücher bzw. gemäß der Augustinischen Lehre in Weltalter unterteilt. Allerdings hatte Schedel der Genesis eine Vorrede vorausgeschickt, in die er die naturwissenschaftlichen Spekulationen zur Schöpfungsgeschichte einfließen ließ. Die der griechischen Antike entnommene These über die Entstehung von Leben und Ewigkeit der Welt findet Ausdruck in einem Holzschnitt, der die Welt in einem Kreisschema wiedergibt, dessen Zentrum mit der Beschriftung „yle“ (Hylae) markiert ist.208 Teilseitige szenische Darstellungen wechseln mit Stadtansichten. Neben den durch Linienrahmen gegen den Text abgegrenzten Bildblöcken gibt es solche, die als Ausschnitt oder Ornament lose in den Text eingestreut sind. Dazu gehören Genealogien oder einfache Aufreihungen von Porträts, aber auch Symbole oder Zeichen, wie beispielsweise ein Regenbogen (vgl. fol. XI r) oder eine Zusammenstellung aus Kronen, Zepter und Reichsapfel (vgl. fol. XVIII v), die als Vignetten einzelne Textabschnitte gegeneinander abgrenzen. So sehr der Chronik das kompilatorische Vorgehen Schedels anzumerken ist und so unterschiedlich sich die Abfolge der verschiedenen Motive und Bildkategorien zeigt, ist doch immer eine logische Verbindung zwischen den disparaten Elementen zu erkennen. Eine Aufzählung von Fabelwesen folgt auf die Vertreibung aus dem Paradies und den Bau der Arche Noah – beides Motive, die die Verbreitung der Menschheit und die Bevölkerung der Weltteile bereits implizieren. Konsequenterweise folgt dann eine Weltkarte, für die, da das kurz vor Edition der Chronik entdeckte Amerika nicht aufgenommen ist, vermutlich ältere Karten als Vorlage dienten, wie die Chorographia des römischen Geografen Pomponius Mela. Schedels Karte entspricht dem ptolemäischen Weltbild. Doch im Gegensatz zu mittelalterlichen Karten, die vorrangig universal ausgerichtet waren, um das Wirken Gottes und seiner Geschöpfe auf der Erde zu illustrieren, liegt hier der Akzent auf geografischen und topografischen Bezügen. Zwar sind auch auf Schedels Karte die für  









berger Humanismus Johannes Löffelholz, Willibald Pirckheimer, Conrad Celtis, Kaiser Friedrich III., Johannes Müller, Martin Behaim und Johannes Werner zu nennen. 208 Schedelsche Weltchronik. Nürnberg: Koberger 1493, fol. IIr.  

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das Heilsgeschehen zentralen Orte bedacht, stehen aber gleichrangig neben Städten, die in wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung waren. An die Karte schließt sich die Beschreibung der drei Erdteile an. Die jeweiligen Abschnitte beginnen mit dem legendären Ursprung des Namens. Es folgen geografische und klimatische Angaben sowie Hinweise auf die jeweiligen Völker, durchmischt mit legendären und phantastischen Einsprengseln. Schedels Weltchronik basiert auf einer Kompilation aus verschiedenen Werken, die alle jeweils danach strebten, das gesamte vorhandene Wissen um die Welt, ihre Entstehung, ihre Geografie und Topografie zu erfassen. Das kompilierende Vorgehen wirkt sich bis in die Bildmotive aus, zeigt sich hier doch die Orientierung an Bildformen in Manuskripten und älteren Schriften. In der Chronik kommt es dabei auch zu einer Wiederholung von Bildtypen und Motiven; zum Teil werden sogar die gleichen Holzschnitte wiederholt eingesetzt, lediglich in ihrer Kolorierung geringfügig verändert. Es sind ja auch keine realen Abbilder beabsichtigt; die Motive haben vielmehr symbolische Funktion. Auf diese Weise erscheinen Städtebilder identisch, aber auch für verschiedene Personen, ob weltliche Herrscher oder Päpste, antike Gottheiten und Sibyllen, wurden nicht immer neue Schnitte gefertigt. Neben den zahlreichen Stammbäumen, Porträts und Stadtansichten stellen Historien- oder Ereignisbilder einen weiteren Bildtypus der Chronik dar. Sie bilden Szenen aus der Heilsgeschichte und aus Heiligenlegenden, aber auch zeitnahe Ereignisse ab. Zwar sind biblische Motive für die Chronik maßgeblich, doch werden auch mythologische Geschehnisse berücksichtigt. Genealogien, Stadtansichten und zeitgeschichtliche Begebenheiten werden in das heilsgeschichtliche Ordnungsschema eingefügt. Dabei zeichnet sich eine Tendenz ab, die Ereignisse in eine chronologische, die Abfolge der Stadtansichten in eine geografische Ordnung zu stellen. Kosmologische Wissenskompendien zu diversen Themen. Verglichen mit der Schedelschen Chronik verfolgt die Mainauer Naturlehre mit ihren Darstellungen von Sonnen- und Mondfinsternis, von Mondphasen, -eklipsen und Planetenkonjunktionen ein anderes Ziel.209 Die Zusammenstellung medizinischer, astronomischer und astrologischer Traktate sowie die Einbindung von Rezepten und Hinweisen zum Aderlass signalisieren einen wissenschaftlichen Anspruch. Dies gilt auch für eine kreisförmige Darstellung zur Bestimmung der Stundenregenten bzw. Chronokratorien, um die Planeten zu erfassen, die die Stunden und die folgenden Wochentage regierten. Ferner findet sich ein frühes Beispiel für die Rezeption der Secretum secretorum, einer aus dem westasiatischen Raum stammenden enzyklopädischen Geheimlehre, die Aristoteles für seine engsten Schüler verfasst haben soll. Das Hauptaugenmerk liegt auf der diätischen Lebensanweisung. So findet sich zu Beginn eine Komplexions-

209 Vgl. Mainauer Naturlehre. Bodenseeraum 1536–38, Papier, 168 Bl., kolorierte Federzeichnungen. Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. germ. 279.  

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lehre, die in Verbindung mit der Säftelehre Auskunft über die Körperverfassung und den Charakter des Menschen erlaubt. Daran schließt sich eine Einführung in die Zeitrechnung, sie macht den mit „Buoch von der zit“ überschriebenen Hauptteil aus. Behandelt werden auch der Aufbau des Kosmos mit den Planeten als Tagesregenten. Über deren Auswirkung auf den Menschen und seine Befindlichkeit führt der Bogen zurück auf die medizinischen Richtlinien. Sebastian Münsters kosmografisches Werk. Die Cosmographei, oder beschreibung aller länder, herschafften, fürnemsten stetten, geschichten, gebreüchen, hantierungen des Sebastian Münster bietet ähnliche Wissensbestände wie die Schedelsche Weltchronik.210 Mit über 900 Holzschnitten und 40 Karten stellt sie eine der umfangreichsten geografisch-historischen Weltbeschreibungen des 16. Jahrhunderts dar, die, auf eine Vielzahl von Quellen gestützt, u. a. Darstellungen von Caesar, Tacitus, Strabo, Seneca, aber auch Marco Polo, aller Länder, Völker, Geschichten und Gebräuche enthält. Dem in sechs Bücher gegliederten Werk sind Einleitung, Register und Übersichtskarten der Erdteile vorangestellt, denen im Text weitere Gebietskarten folgen. Im ersten Buch werden die Grundzüge der physischen und mathematisch-astronomischen Erdkunde dargestellt; die folgenden Bücher enthalten Länderbeschreibungen: Südund Westeuropa (2. Buch), Deutschland (3. Buch), Nord- und Osteuropa (4. Buch), Asien und die neuen Inseln (5. Buch), Afrika (6. Buch). In den Text eingefügt sind zahlreiche Ansichten von Städten und Landschaften, von Begegnungen mit fabelhaften Menschen und Tierwesen; fließend gestalten sich die Übergänge zwischen Faktualem und Imaginärem. Nicht alle bildlichen Darstellungen wurden eigens für Münsters Kosmografie neu gefertigt, viele sind aus schon vorhandenen Beständen der Druckerei übernommen. Die nur elf Jahre später (1548) bei Petri in Basel erschienene Ausgabe des gleichen Textes zeigt ein deutlich verändertes Erscheinungsbild.211 Die Wiedergabe von Personen, Heiligen, Schriftgelehrten wie auch biblischen und mythologischen Szenen konzentriert sich auf breite Schmuckrahmen um Textfelder, die den Beginn eines Kapitels einleiten. Die Ausführung, u. a. die Einbindung von Rankenwerk, der auf Symmetrien angelegte Formsatz und freie Flächen zeigen auch einen Stilwandel, der von der mittelalterlichen Stilisierung, wie sie noch die Federzeichnungen in den Schriften des  





210 Vgl. Münster, Sebastian: Cosmographei. Mappa Evropae, Eygentlich fürgebildet, außgelegt vnnd beschribenn. Vonn aller land vnd Stett ankunfft, Gelegenheyt, sitten, ietziger Handtierung vnd Wesen; Wie weit Stett vnnd Länder inn Europa von einander gelegen, leichtlich zufinden…, Frankfurt a. M.: Egenolff. 1537, 24 Bl. Universitätsbibliothek Heidelberg. A 218-2 RES; siehe auch daselbst A 219 B Folio RES. 211 Vgl. Münster, Sebastian: Cosmographia, Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Munsterum in wölcher begriffen, Aller völcker, Herrschafften, Stetten, vnd namhafftiger, flecken härkommen: Sitten, gebreüch… Basel: Heinrich Petri 1548, Holzschnitt. Universitätsbibliothek Heidelberg. A 219 A Folio RES, fol. XII. Vgl. auch: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/zoom/193079 (28.03.2017).  



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Martinus Oppaviensis zeigen, zu einer Naturbeobachtung, Perspektivkonstruktionen und Goldenen Schnitt einbeziehenden Gestaltung überleitet. Das heterogene Kartenmaterial hingegen scheint aus verschiedenen Zusammenhängen kompiliert zu sein. Eine der beiden vorangestellten Generalkarten der Welt folgt noch dem ptolemäischen Weltbild, die nachfolgenden Karten der einzelnen Länder fallen mehr oder weniger flächig aus, die des Walliserlandes beispielsweise zeigt sich in einem plastisch anmutenden Bergpanorama. Die Verhältnisse zu den Gestirnen, zum Lauf von Sonne und Mond werden in Schaubildern visualisiert, Vermessungswinkel werden angeführt und es wird auf Ptolemäus Bezug genommen – was durch eine Darstellung im Ersten Buch der Cosmographie unterstrichen wird, die den Astronomen mit einem Chorografen in der Hand zeigt, im Begriff, den Winkel des Horizontes zu bestimmen.212 Zusammen mit der zu seinen Füßen liegenden Armillarsphäre sind damit die für geografische Messungen wesentlichen Instrumente ins Bild gesetzt.  

Das Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos. Das zumeist enzyklopädische Bestreben der Kosmologien, Etymologien und Chroniken bedingte die Nutzung einer Vielzahl unterschiedlicher Bildtypen und Schemata. Neben Karten, Tabellen und Diagrammen kamen Städte- und Landschaftsveduten, szenische Darstellungen und solche von Menschen- und Tierarten zum Einsatz. In Sammelabbildungen, einer für mittelalterliche Enzyklopädien charakteristischen Darstellungsform, die sich aber auch noch später findet, etwa in Bernhard von Breydenbachs Peregrinatio in terram sanctam von 1486, wurden Motive zusammengefasst, die im Text nacheinander beschrieben werden.213 Wie bei anderen Buchtypen auch, veränderte sich die bildliche Wiedergabe durch stilistische wie durch technische Einflüsse. Der Kupferstich gestattete eine feinteiligere, präzisere Ausführung, was stilistische Auswirkungen hatte. Infolge der Ausweitung des Wissens wurde spätestens in der Renaissance klar, dass die Welt in ihren sämtlichen astronomischen, geografischen und kulturellen Bezügen nicht mehr umfassend darstellbar war. Gleichwohl blieben leitende Vorstellungen vom Weltganzen erhalten, unter anderem die vom Menschen als Maßstab der Dinge. Sie fand unter anderem Ausdruck in einer Publikation von Johann Baptist Bergmüller, die unter dem Titel Der Maaßstab Gottes oder die Berechnung göttlicher Zahlen in der heiligen Schrift 1778 in Augsburg erschien.214 Bergmüller strebte keine Kosmologie im engeren Sinne mehr an, doch indem er den Menschen über ein Zahlensystem in Beziehung zur göttlichen Schöpfung setzte, griff er auf die alte Analogie von Mikro- und Makrokosmos

212 Vgl. ebd. 213 Vgl. Breydenbach, Bernhard von: Peregrinatio in terram sanctam. Mainz: Erhard Reuwich, 1486, 146 Bl. Eine solche Sammeldarstellung zeigt Blatt 132b. 214 Vgl. Bergmüller, Johann Baptist: Der Maaßstab Gottes oder die Berechnung göttlicher Zahlen in der heiligen Schrift. Augsburg: Bergmüller, 1778. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. 2 Th Ex 31 13192399: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11203271_00027.html?zoom=0.8000 000000000003 (28.03.2017).

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zurück, die ihrerseits in einem kosmologischen Zusammenhang zu sehen ist, da sie irdisches und außerirdisches Dasein in einen Zusammenhang stellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass sich die Proportionen aus göttlichen Gesetzen ableiten lassen, sucht Bergmüller den in der Heiligen Schrift genannten Zahlen eine Bedeutung zuzuweisen und auf die menschlichen Proportionen zu übertragen und im Weiteren in Analogie zum Weltalter zu setzen. Die seinen Figuren beigegebenen Maßstäbe beziehen sich sowohl auf den Mikrokosmos Mensch als auch den Makrokosmos der göttlichen Schöpfung, wobei letzterer nach Altem und Neuem Testament als Vergangenheit und Zukunft unterteilt wurde. Aus den so konzipierten Zeitund Messtabellen sollten Prognosen für die Zukunft erstellt werden können. Seine Überlegungen erläutert Bergmüller auf sechzehn Textseiten, denen zehn Kupferstiche beigefügt worden sind. Das göttliche Maß wird an Mann und Frau angelegt, der Zeitenlauf über die Personifikation des Chronos mit einem als Kalender gestalteten Rad veranschaulicht. Müllers Abhandlung schließt mit einer Karte des Heiligen Landes, mit dessen Einnahme die göttliche Zahl ihre Erfüllung finden sollte.

Abb. B 21: Johann Baptist Bergmüller: Der Maaßstab Gottes oder die Berechnung göttlicher Zahlen in der heiligen Schrift. Augsburg 1778.  

Kosmografisch-kosmologische Dimensionen im Künstlerbuch. Die weitgefasste Verwendung der Bezeichnung ‚Kosmografie‘ bezieht sich auf geografische und astro-

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nomische Abhandlungen sowie auf Beschreibungen der Erde. Empirisch-wissenschaftliche Kenntnisse stehen neben religiös-theologisch fundierten Auffassungen zur Weltschöpfung. Insgesamt dominiert das Bestreben, Bezüge zwischen dem irdischen Dasein und den kosmischen Bewegungen am Himmel darzustellen. Dahinter steht die nach wie vor vorherrschende Auffassung, der menschliche Organismus sei als Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos, verbunden mit den Bewegungen der Gestirne. Eine weitere für Kosmologien wichtige Analogie ist die von historischen Ereignissen und biblischen Geschichten. Auch wenn theologische Bezüge in der gegenwärtigen Buchkunst wenig präsent sind, wirken doch grundlegende Vorstellungen weiter fort. Zwar steht bei den zeitgenössischen Beispielen nicht mehr der Kosmos in seiner mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konzeption im Vordergrund, doch bestehen Verbindungen, insofern es um ein Wissen geht, das sich einem rein rationalen Zugang verschließt, sich aber im künstlerischen Zugriff abbilden lässt. Peter Malutzki, Ines von Ketelhodt und Wolfgang Buchta übertragen anthropometrische Formen auf geografische und topografische Strukturen, was an die Analogie von Mikro- und Makrokosmos denken lässt. Rosa Lachenmeier orientiert sich am Konzept einer Reise, bei der sie den Erdglobus über geografische und räumliche Koordinaten hinaus erschließt und dabei kulturelle und sprachliche Diversitäten berücksichtigt. Ilse Garnier und Jürgen Partenheimer nähern sich kosmografischen Konzepten, indem sie ihren Ausdruck entweder ganz auf Text, Sprache und Laut oder materiale Aspekte reduzieren, während Maurizio Nannucci auf solche sprachlichen wie textlichen Ausdrucksformen gänzlich verzichtet, um stattdessen in einem verschlossenen Buchobjekt auf die Unmöglichkeit anzuspielen, Zugang zu den kosmischen Dimensionen zu finden.

Abb. B 22: Rosa Lachenmeier: Planet. Basel 1990.  

Anthropomorphe Topografie. In dem Buch Unser Landschaftsbericht, dem sie einen Text des Wiener Schriftstellers Peter Rosei zugrunde legen, nimmt das Künstlerduo

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Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki eine Analogisierung von Körper und Natur vor.215 Roseis Text evoziert kaleidoskopartig zwischen Landschaftlichem und Körperlichem changierende Eindrücke, indem er bei der Schilderung der Natur auf ein Vokabular zurückgreift, das sich auf den Körper und seine Empfindungen bezieht. In der Landschaft auftretende Formen werden mit Formen des menschlichen Körpers verglichen, etwa wenn sich Hügel oder Hänge zu einem Rücken runden oder wenn das Sonnenlicht wie ein Auge blitzt. Umgekehrt werden an anderer Stelle Körperteile so beschrieben, als handle es sich um einen landschaftlichen Raum. So wird die Landschaft anthropomorphisiert, während gleichzeitig der Körper in einer Art gegenläufigen Schöpfungsprozesses wieder in die Natur überführt wird. Die künstlerische Gestaltung lässt in ähnlicher Weise Körper und Landschaft verschmelzen. Das Buch scheint Bilder einer hügeligen Landschaft zu zeigen. Tatsächlich aber handelt es sich um Aufnahmen eines weiblichen Körpers, die Ines von Ketelhodt so kontrastreich ausgeleuchtet hat, dass von den Körperformen kaum mehr zu erkennen ist als die äußeren Umrisse; der Makrokosmos Natur und der Mikrokosmos Mensch sind ununterscheidbar. Das Buch ist als Leporello gefaltet, so dass es der Betrachtung buchstäblich zwei Seiten entgegenhält. Die eine Seite gibt die Motive hell auf dunklem, die andere dunkel auf hellem Grund wieder. So werden Tag und Nacht, Weltraum und Erde assoziiert. Der Text auf den dunklen Seiten ist kaum sichtbar. Wie im Titel mit dem Possessivpronomen „unser“ bereits angedeutet, liefert jeder der drei Künstler seine eigene Sicht einer Landschaft. Die Buchdruckfiguren von Malutzki stilisieren die Landschaft zu abstrakten und surrealen Gebilden, die an animalische Formen erinnern. Sie beziehen auch die Paginierung der Seiten mit ein, die als Scharnier zwischen Inhalt und Medium fungieren. Eine vergleichbare Analogie von Körper und Landschaft konstruiert auch Wolfgang Buchta in seinem Buch Unwegsame Gebiete.216 Das Buch umfasst eine Folge von Radierungen zu einer Erzählung von Dylan Thomas. Die insgesamt fünf nebeneinander bestehenden Ausgaben der Edition bilden die Druckzustände der 54 Platten ab, die zwischen 1992 bis 2003 entstanden.217 Setzte Buchta am Anfang ausschließlich Kaltnadelradierung ein, überdruckte er die Grafiken später mit Lithografie und Aquatinta. Jeder Zustand entspricht einem Sichtwandel und bildet so gleichsam einen Entwicklungsprozess ab, der Mensch wie Natur einschließt. Die Radierungen zeigen ineinander verschlungene Formen, aus denen sich Körper und Köpfe herausheben, die

215 Vgl. Rosei, Peter: Unser Landschaftsbericht, 1996, Originalfotografien von Ines von Ketelhodt mit Buchdruckfiguren von Peter Malutzki, Leporello, beidseitig bedruckt, 28,5 x 20,5 cm. 216 Vgl. Buchta, Wolfgang/Thomas, Dylan: Unwegsame Gebiete. 54 Kaltnadelgraphiken von Wolfgang Buchta mit einer Erzählung von Dylan Thomas. Wien: Handpresse Buchta 1993, 7 Exemplare, nummeriert und signiert. 217 Bevor Buchta an der Plattenfolge weiterarbeitete, erstellte er sieben Abzüge. Nur sie geben Zeugnis von dem früheren Arbeitsstadium, während nach Druck des fünften und letzten Zustandes nicht mehr auf die Vorformen zurückgegangen werden kann.  





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an anderer Stelle von einander überlagernden Strukturen geschluckt werden. Auf wieder anderen Seiten erscheinen die Körper wie Sternbilder, aus denen sich konkrete Motive, wie etwa der Kopf eines Tieres, bilden, die aber noch auf dem gleichen Blatt bereits wieder von anthropomorphen und vegetabilen Formationen verdrängt werden. Andere Seiten lassen mit Fabelwesen und Pflanzen bevölkerte Unterwasserlandschaften assoziieren. Stets bleibt es bei Andeutungen, da die Konturen der einzelnen Gebilde ineinanderfließen. Weiche, gerundete Linienverläufe setzen sämtliche Darstellungen in einen organischen Zusammenhang. Ein wichtiges Gestaltungselement der Seiten sind die in eine Art Sprechblasen integrierten Texte, die als helle Stellen aus den dunklen Strukturen hervortreten. An kosmografische Darstellungen erinnert Buchtas Werk, weil grafisch verschiedene Zustände menschlichen Lebens durchgespielt werden. Hinzu kommen Anklänge an die Schöpfungsgeschichte, an den Höllensturz und apokalyptische Phantasien, an Kreuzigung und Jüngstes Gericht. Embryonale Formen lassen an Wiedergeburt und an Urzustände des Seins denken.

Abb. B 23: Wolfgang Buchta/Dylan Thomas: Unwegsame Gebiete. Wien 1993.  

Der Kosmos und das zeitgenössische Künstlerbuch. Dem umfassenden Anspruch kosmologischer Handschriften und Frühdrucke, die Erde mit ihren vielfältigen Bezügen als Gesamtheit zu beschreiben, ist auch die Schweizer Künstlerin Rosa Lachenmeier mit ihrem 1990 beim Baseler Verlag Zeig erschienenen Buch Planet verbunden.218 Die Künstlerin verweist durch Namen von Orten, Sprachen und Laute auf verschiedene Ethnien und Kulturen, ruft über Zeitungsbilder Ereignisse aus allen Ländern der Welt auf und versucht durch deren Zusammenführung im Buch globale Strukturen zu veranschaulichen. Seiten aus Pergamentpapier wechseln mit opaken Seiten, Aufstellungen von Ortsnamen mit geografischen Karten, mit grafischen und malerischen Strukturen und Fotografien. Mit den verschiedenen Zeichensystemen, mit technisch-präziser und freikünstlerischer Wiedergabe und den unterschiedlichen Papieren

218 Vgl. Lachenmeier, Rosa: Planet. Basel: Zeig 1990, Auflage: 500 Exemplare, davon 50 als signierte und nummerierte Sonderausgabe mit einer Originalarbeit der Künstlerin.

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entfaltet sich auf formaler Ebene ein Spektrum, das als Äquivalent inhaltlicher Weite gelten kann. Die aufgelisteten Städtenamen folgen einer Ordnung, die einer in Europa beginnenden Reise nach Osten über Russland und den Pazifik zum amerikanischen Kontinent entspricht. Schreibweisen und Laute verändern sich im Reiseverlauf signifikant. Leitend ist die Vorstellung von einer durch die Wege der Kommunikation grenzenlosen, alle Regionen und Länder verbindenden Gemeinschaft, wie in Anspielung auf Marshall McLuhans 1962 lancierten Begriff des „Global Village“ (The Gutenberg Galaxy). Als Ausgangspunkt für ihr Buch Planet diente der Künstlerin ein US-amerikanischer Atlas. Einen entscheidenden Impuls lieferten der Berliner Mauerfall 1989, das Ende des Kalten Krieges und die Umorganisation ganzer politischer Systeme. Die Aufteilung in eine östliche und eine westliche Hemisphäre schien damit ihre Bedeutung zu verlieren, während gleichzeitig die Länder einer ehemals Dritten Welt einen Bedeutungszuwachs erhielten. Solchen Blickwechseln sucht die Künstlerin über den Wechsel der Bildformen innerhalb ihres Buches zu entsprechen. Von paradigmatischer Bedeutung sind in dieser Hinsicht auch die neuen Medien, die nicht nur andere Möglichkeiten des Abbildens bieten, sondern auch auf Wahrnehmungsmodi zurückwirken. Der eurozentrische Blick, der noch ganz den von der Künstlerin als Ausgangspunkt genutzten Atlas prägt, wird analog zu den Grenzverläufen in Osteuropa und Russland in Frage gestellt. Auf die Instabilität der geografischen Ordnung verweist Lachenmeier mit Abbildungen von Flugzeugen, die sich im Sturzflug befinden oder abstürzen. Über ihre sozialkritische Implikation hinaus sollen die einzelnen Motive bei jedem Betrachter individuelle Assoziationen auslösen, die sich im Laufe der Zeit zudem noch verändern werden. Die in das Buch Planet aufgenommenen Pressebilder erinnern an das Informationspotenzial, das jederzeit an nahezu jedem Ort über die neuen Medien gegeben ist und das suggeriert, über alle Gegebenheiten in der Welt Bescheid zu wissen. Durch die kompromisslose Gegenüberstellung von Motiven und Materialien sucht Lachenmeier die Fragilität der weltübergreifenden Zusammenhänge abzubilden. Einer Kosmologie entspricht Rosa Lachenmeiers Planet nicht allein mit Blick auf die Reise um die Erde, die über Karten, Ortsbezeichnungen und Pressefotos unternommen wird, sondern ebenso durch den Anspruch, das Weltgeschehen möglichst in seinen die menschliche Existenz betreffenden Dimensionen abzubilden. Schriftraum als Landschafts- und Klangraum. In ihrem Buch Transparente Landschaften verwendet Ilse Garnier für alle Seiten transparente Papiere, wodurch der jeweils aufgedruckte Text über die ihm zugewiesene Seite ausbricht und sich seiner Umgebung mitteilt.219 Zu lesen sind Texte, die allein von den klanglichen Qualitäten der Stimme sprechen und, um diesen einen angemessenen Raum zu geben, sich auf wenige Worte auf jeder Seite beschränken. Diese werden dann in einer Art Notation

219 Vgl. Garnier, Ilse: Transparente Landschaften. Köln 2002, 15 Bl., 24 cm x 17 cm, Auflage: 50 Exemplare.  







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durch grafische Linien inszeniert und so in ein Klangbild transformiert, wobei visuelles und klangliches Bild ineinander übergehen. Garniers Transparente Landschaften sind dem Spatialismus verpflichtet, einer Konzeption von Lyrik, die Pierre Garnier 1963 in einem Manifest charakterisiert (vgl. Garnier 1963). Der Spatialismus hebt die Trennung von Wort, Laut, Sprache, Buchstabe und Text insofern auf, als dass das Wort als ein Gegenstand begriffen wird, der sich durch seine Visualisierung im Buchstaben zeigt und bei seiner Verlautung im Raum ausdehnt. Umgekehrt wird Schrift als bildliche Ebene der Wörter, der Buchstabe als eigene Architektur mit individueller Physiognomie gesehen (vgl. Gappmayr 2004, S. 5). Der Titel signalisiert, dass die Künstlerin ihre Darstellungen von Text als Landschaften auffasst. Text und Typografie sprengen ihren Rahmen, indem sie bereits innerhalb der Seite aus dem Gefüge von Zeilen und Zeilenabfolgen ausbrechen und sich zu raumgreifenden Gebilden formieren, dann aber auch über die Einzelseite hinaus vom Buchraum Besitz ergreifen. Über die formale Ausweitung werden auch die klanglichen Anteile der Zeichen sichtbar gemacht. So werden in Transparente Landschaften die Zeichen in einer sinnesübergreifenden Gestalt fassbar, die auch ihre Vergegenständlichung einbezieht, ein Aspekt, auf den Garnier im Manifest des Spatialismus hinweist (vgl. ebd., S. 9). Zu solcher Vergegenständlichung kommt es unter anderem durch Ergänzungen, wie Linien und Kurven, die einzelne Begriffe zu Klangbildern ausweiten. Eine einzelne Wortformation ist nicht auf eine Seite begrenzt, sondern Teil einer Komposition, die sich mit weiteren Klängen und Kompositionen zu einem umfassenden Klangraumkörper verbindet. „Der Raum wird durch Klänge, Töne, Stimmen und Geräusche in Schwingungen versetzt.“ (Ebd., S. 346) Indem Garniers Worte ihre lautliche Bedeutung visualisieren, erfährt der Text eine ungewohnte Ausweitung. Bedeutung erhält auf diese Weise auch der Raum außerhalb der Zeichen, wird er doch zum Resonanzkörper und ermöglicht es der Buchstabenformation zu klingen.  





Das Künstlerbuch als Metapher des Universums. Jürgen Partenheimer legt 1980 ein Buch vor, dessen Titel Universum eine Auseinandersetzung mit dem Kosmos andeutet.220 Papiere, die beim Arbeiten mit Farbe zum Abdecken dienten, wurden in Streifen zerlegt und wie Zeilen eines Texts auf die Seiten aufgeklebt. Der so entstandene Text ist wort-, aber nicht sprachlos, er weist vielmehr die Qualitäten eines gegenstandlosen Bildes auf.221 Er verlangt eine kontemplative Lektüre, die sich auf die Farbspuren einlässt. Den Titel gab Partenheimer seinem Buch erst nachträglich, um zu

220 Vgl. Partenheimer, Jürgen: O. T. [Universum]. Düsseldorf 1980, 30 x 21 cm, Buch mit Papierschnitten und Ölfarbe, Unikat, WVZ 80/12. 221 „Das gegenstandslose Bild ist ein Ereignisraum, es gleicht einem aufgeschriebenen Lied, einem zurückgelegten Weg, ist die Summe der zusammengetragenen Erfahrungen und dadurch frei, uneinnehmbar in seiner Zuneigung. Wie das Gedicht gewinnt es fast unmerklich die Form einer Partitur, ist eine Weltsicht mit bestimmter Einteilung. Eine Hälfte bleibt im Schlamm, eine Hälfte bleibt im Himmel.“ (Partenheimer 1993, S. 162)  









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suggerieren, die Welt des Buches sei eine unendliche. Worte und Bilder können füreinander eintreten und ihre wechselseitige Verbindung einen Umfang entwickeln, wie es keinem der beiden alleine gelingt (Hine 2004, S. 88). Die auf Worte verzichtende Darstellung bedingt, dass es in Universum keine festgelegte Abfolge gibt, keinen Anfang und kein Ende. Die Lektüre kann an jeder Stelle beginnen und einen beliebigen Fortgang nehmen. Universum bleibt ein offenes System, analog zu einer Bemerkung des Künstlers über das All: „Es gibt eine Theorie, daß das Universum ein geschlossenes System ist, aber es gibt auch Theorien, daß es ein offenes System ist. Im All gibt es weiße Zwerge, rote Riesen und schwarze Löcher“ (Partenheimer im Interview mit John Yau, in Kat. Ausst. 1992b, S. 13). Als Universum bezeichnet auch Maurizio Nannucci sein 1976 konzipiertes Buch.222 Doch anders als Partenheimers gleichnamiges Werk verleugnet es seine Qualitäten als Buch, es lässt sich weder blättern noch überhaupt aufschlagen, existiert vornehmlich als Buchkörper, der an seinen beiden Längsseiten einen Bund aufweist. Die doppelte Bindung macht das Buch nicht nur unzugänglich, sondern verdoppelt auch seine Unzugänglichkeit, weil jeder Bund behauptet, einen eigenen Band des Werkes darzustellen. Universum vereint also zwei Bände, die nicht geöffnet werden können und damit auf gleiche Weise unergründlich bleiben. Die Unergründlichkeit des Buchkörpers verweist auf die von Wissen und Welt und erinnert an die Idee vom Buch als universalem Wissensspeicher. Nannuccis Buch kann alles und nichts enthalten. Es bleibt der Vorstellung jedes einzelnen vorbehalten, sich den Inhalt auszumalen. VHS  



B 2.9 Vom Kompendium des Pflanzenwissens zum Künstlerbuch Zur Geschichte der Pflanzendarstellung im Buch. Pflanzenbücher, zumal Kräuterbücher, haben eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition. Hatten das Studium der Pflanzen und deren Darstellung in Text und Bild zunächst heilkundliche Zwecke, so ging es in späteren Jahrhunderten um Ausweitungen und Vertiefungen des Wissens. Die auf Reisen in ferne Länder gewonnenen Erfahrungen mit der Pflanzenwelt und die Entdeckung neuer Arten sollten fixiert und einem Publikum erschlossen werden. Und nicht zuletzt motivierte auch ein ästhetisches Gefallen an pflanzlichen Formen und Farben die Erstellung von Pflanzenbüchern. Die Darstellung wurde unter anderem davon bestimmt, ob es um eine idealtypische oder um eine den Kriterien wissenschaftlicher Systematik entsprechende Wiedergabe gehen solle. So haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Typen von Pflanzenbüchern herausgebildet,

222 Vgl. Nannucci, Maurizio: Universum. Rom: Bianconero Editione 1976, 2 Bände in einem Band, 18,5 x 11,7 cm, Schuber mit marmoriertem Papier überzogen. Vgl. Kat. Ausst.: documenta 6. Bd. 3, Handzeichnungen, Utopisches Design, Bücher. Fridericianum u. a. Kassel 1977. Kassel 1977, S. 330.  











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die nur zu einem Teil in einem Bedingungsverhältnis untereinanderstehen, zu einem anderen Teil auch nur diachron nebeneinander existieren. Stand am Anfang die heilkundliche Nutzbarkeit im Vordergrund, so differenzierte sich im Lauf der Jahrhunderte das Interesse an Pflanzen aus; an deren Wiedergabe in Büchern ist dies ablesbar. Die ausschließlich pharmazeutischen Kompendien wurden von Dokumentationen, Systematiken und Bestimmungsbüchern abgelöst. Neben die Heilpflanzenkunde und die Kräuterbücher traten botanische Bücher, die sich verstärkt den Pflanzen fremder Länder zuwandten, sowie weiterhin die sogenannte ‚Gartenliteratur‘, deren Anliegen der Obstbau und die Kultivierung von Nutz- und Zierpflanzen war. Eine eigene Sorte von Pflanzenbuch bilden Herbarien und Xylotheken, die durch die Integration von Pflanzenteilen eine besondere Materialität aufweisen. Moderne und zeitgenössische Botanikbücher sind oft besonders stark spezialisiert, indem sie sich gezielt der Pflanzenphysiologie, der Fotosynthese, der Funktionsweise einzelner Pflanzenteile oder spezifischen pflanzlichen Stoffwechselprozessen zuwenden. Antike und mittelalterliche Pflanzenbücher. Die Geschichte der botanischen Illustration beginnt sehr wahrscheinlich anlässlich der Schriften von Aristoteles und Theophrast, auch wenn sich dies nur indirekt belegen lässt. Rückgriffe auf andere antike Darstellungen finden sich in jedem Fall in den als De Materia Medica bezeichneten Sammlungen spätantiker populärer Medizintraktate, die ihrerseits als Vorbild für andere Werke ähnlichen Inhalts dienten. Das bekannteste Werk dieser Art ist der sogenannte Dioskurides, eine von dem griechischen Arzt Pedanios Dioskurides kompilierte Schriftensammlung aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Aufgeführt werden hier rund 800 Pflanzenarten. Sieht man davon ab, dass daneben auch Substanzen tierischen und mineralischen Ursprungs als Heilmittel genannt werden, so markiert diese Zusammenstellung doch als thematisch einschlägige Darstellung zu botanischen Objekten einen Anfang in der Geschichte der Kräuter- und Pflanzenbücher. Offensichtlich war bereits Dioskurides’ Schrift mit Abbildungen ausgestattet; Plinius der Ältere erwähnt in seiner Naturgeschichte als Maler Krateus, Dionysos und Metrodorus. Von Krateus findet sich dann auch im Wiener Dioskurides ein Porträt. So zeigt ihn eine der Miniaturen am Reißbrett im Begriff, eine Mandragora, eine Wurzel, der magische Kräfte zugeschrieben wurden, zu zeichnen.223 Der Wiener Dioskurides aus dem frühen 6. Jahrhundert, auch als Anicia Juliana Codex bekannt, versammelt Texte verschiedener Autoren, darunter solche des Pseudo-Musa, des Pseudo-Apuleius, des Sextus Placitus und eben jenes Dioskurides, nach dem die Schriftensammlung benannt ist. In erster Linie an Laien gerichtet, orientieren sich die in dieser Sammlung enthaltenen Schriften überwiegend an magischen Vorstellungen und weniger an gängigen wissenschaftlichen Theorien. Die Pflanzendarstellungen sind jedoch realistisch gestaltet und zeigen, dass sie dazu dienen sollten, die in der Natur gefundenen Gewächse zu bestimmen und zu nutzen.  





223 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. med. gr. 1; 491 Blatt, 36 x 30 cm.  





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Eine weitere frühe pflanzenkundliche Darstellung ist das im 12. Jahrhundert von dem aus Salerno stammenden Arzt Matthaeus Platearius verfasste Liber de simplici medicina. In alphabetischer Ordnung liefert es einen Überblick über Heilpflanzen. Von diesem Werk lagen spätestens in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auch illuminierte Abschriften vor. Als eines der ältesten erhaltenen Beispiele ist das Ms. Egerton 747 des Britischen Museums zu erwähnen, das im ausgehenden 13. oder frühen 14. Jahrhundert in Süd- oder Mittelitalien entstand.224 Die Abbildungen zeigen nicht nur die im Text aufgeführten Pflanzen, sondern veranschaulichen auch in genrehaften Szenen deren Pflege und Ernte.225 In einen solcherart gleichsam erzählerischen Zusammenhang gestellt finden sich auch die Pflanzen und Früchte des Tacuinum sanitatis in medicina in einer reich illuminierten Ausgabe vom Ende des 14. Jahrhunderts.226 Verfasst wurde das Werk als solches bereits im 11. Jahrhundert von dem arabischen Arzt Ibn Botlan; Mitte des 13. Jahrhunderts wurde es ins Lateinische übertragen und zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den Schachtafeln der Gesundheyt rezipiert.227 Bei der deutschsprachigen Übernahme veränderte sich die Struktur des Buchs, indem nun Charakterisierung und Anwendung der Pflanzen in Tabellen zusammengefasst wurden. Zudem entfielen in der gedruckten Variante des ursprünglich reich illuminierten Tacuinum sanitatis in medicina die farbigen Bilder, die Pflanzenbilder wurden nur mehr in Holz geschnitten und einfarbig gedruckt, die dargestellten Pflanzen in den Randleisten unterhalb der Tabellen summarisch aufgeführt.  













Frühneuzeitliche Pflanzenbücher. Ein kontinuierliches Interesse an Kräuterbüchern bezeugen auch die Frühdrucke der Inkunabelnzeit an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, darunter die von Peter Schöffer 1484 und 1485 in Mainz gedruckten Werke Herbarius Moguntinus und Gart der Gesundheit sowie der ebenfalls in Mainz gedruckte Hortus Sanitatis von 1491 des Jacob Meydenbach. Den Grundstock für die Texte und Holzschnitte fand man in früher erschienenen und häufig fortgeschriebenen Quellen.228 In der Phase des Übergangs von der Handschrift zum Druck lieferten die bei Schöffer gedruckten Werke bis ins späte 16. Jahrhundert wichtige Prototypen  

224 Bartholomaei Mini de Senis, Platearius, Nicolaus of Salerno: Tractatus de herbis; De Simplici Medicina; Circa instans; Antidotarium Nicolai, Italien, ca. 1280 und 1310, 147 Bl., 36 x 24 cm (vgl. Pächt 1950, S. 29; Baumann 1974; Collins 2000). 225 Eine gekürzte Fassung dieses Werkes findet sich in der Biblioteca Nazionale in Florenz (Cod. Pal. 586). 226 Tacuinum sanitatis in medica, Oberitalien, Ende 14. Jh., Pergament, 107 Blatt, 19,5 x 13 cm, Codex Vindobonensis, ser. Nov. 2644. 227 Schachtafeln der Gesundheydt, Papier, 252 Seiten, Straßburg: H. Schott 1533. Neudruck Weinheim 1988. 228 Zu denken ist hier an Etymologiae (um 630), Capitulare de Villis (um 800), Hortulus (um 840), Physica (1152), De Vegetabilibus (1256/1257), Buch der Natur (1475), Lateinischer Macer Floridus (1. Hälfte 13. Jahrhundert), Deutscher Macer Floridus (1. Hälfte 15. Jahrhundert), Pseudo-Apuleius-Platonicus (1481/1482) und Promptuarium Medicinae (1483).  























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und Vorbilder für andere bebilderte Kräuter- und Pflanzenbücher, die ihnen (innerhalb weniger Jahre) folgten. Doch in der Ausstattung unterschieden sich diese Bücher erheblich; einige bildeten die Pflanzen in Holzschnittdrucken ab, andere, wie das Herbarius latinus, blieben unbebildert. Bei der Wiedergabe der Pflanzen orientierten sich die Künstler teils an alten Vorlagen, die der Symbolik mehr Bedeutung zumaßen als der Naturtreue; manchmal wurden sogar nur die Holzschnitte von Spielkarten zugrunde gelegt. Teils konzipierten die Hersteller aber auch vollständig neue Abbildungen, bei denen sie sich nach der Natur richteten. Der 1485 bei Peter Schöffer in Mainz gedruckte Gart der Gesundheit des Mainzer Domherrn Bernhard von Breydenbach enthält zu einem Viertel Abbildungen von Erhard Reuwich, die ganz auf eigener Anschauung basieren, während die restlichen Darstellungen Kopien älterer Vorlagen sind. Die 435 alphabetisch geordneten Kapitel führen neben 382 Pflanzen auch tierische und mineralische Arzneien auf (vgl. Kat. Ausst. 2009, S. 32). Breydenbachs Buch gab den Anstoß für eine Reihe von Büchern, die unter Bezeichnungen wie Hortus oder Ortus sanitatis erschienen. Sie waren, wie in den Vorworten häufig ausdrücklich vermerkt, für den „gemeinen Mann“ bestimmt (Heilmann 1964, S. 18).  



Neue Darstellungsformen ab dem 16. Jahrhundert. Wesentliche Veränderungen der Pflanzenbücher zeichneten sich im Laufe des 16. Jahrhunderts ab. Zum einen verloren die antiken Texte ihre Autorität, nicht zuletzt deshalb, weil die in ihnen verzeichneten Pflanzen im mitteleuropäischen Raum nicht aufzufinden waren. Statt der Orientierung an den alten Vorbildern sollten neue Erkenntnisse unmittelbar aus dem Naturstudium gewonnen werden und in die bildlichen Darstellungen einfließen (vgl. ebd., S. 15). So banden auch Otho Brunfels, Hieronymus Bock und Leonhart Fuchs Künstler ein, die sämtliche Darstellungen unmittelbar nach der Natur erstellten. Fuchs’ zunächst unter dem lateinischen Titel De historia stripium commentarii, 1542 dann in Basel als New Kreüterbuch erschienenes Pflanzenbuch, in dem „mehr denn vierthalbhundert Kreüter abkonterfeint seind mit ihren Wurzeln, Stengeln, Blättern, Samen und Blumen“ umfasste über 800 Seiten.229 Die Pflanzen wurden nach Art, Geschlecht, Wesen, Standort, Kraft und Wirkung beschrieben. Die über 400 großformatigen Darstellungen lassen vermuten, dass das Buch für ein breites und eher illiterates Publikum bestimmt war. Außer den Botaniker-Ärzten Brunfels, Bock und Fuchs arbeitete auch Conrad Gessner neben einem Tierbuch an einem gewaltigen Pflanzenbuch. Dieses blieb unvollendet, und die dafür schon ausgeführten Bilder wurden von Joachim Camerarius erworben und im eigenen Werk veröffentlicht (vgl. Heilmann 1964, S. 33).  







229 Fuchs, Leonhart: De historia stirpium commentarii insignes. maximis impensis et vigiliis elaborati, adiectis earundem vivis plusquam quingentis imaginibus, nunquam antea ad naturae imitationem artificiosius effictis & expressis; accessit iis succincta admodum uocum difficilium & obscurarum … Basel 1542 (vgl. auch Franke 1980, S. 146; Heilmann 1964, S. 29f.).  



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Die sich in der Botanik des 16. Jahrhunderts bei der Darstellung von Pflanzen abzeichnenden morphologischen Gesichtspunkte verbanden sich vielfach mit neuen Kenntnissen, die durch exotische, aus den Kolonien mitgebrachte Pflanzen ermöglicht wurden. Zeichner und Maler begleiteten die Forschungsexpeditionen des 17. und 18. Jahrhunderts und erfassten neben den Landschaften und der Tierwelt auch viele Pflanzen als Spezies. In visuellen Darstellungen wurde neben Einzelstudien mehr und mehr auch der gesamte Lebensraum in die Darstellung einbezogen. Neben die Nutzanwendung und das wissenschaftliche Interesse trat seitens der Betrachter ein ästhetisches Vergnügen, das vor allem dem Neuen und Exotischen der von Reisenden importierten oder vor Ort im Bild erfassten Pflanzen galt. Viele fremde Pflanzen wurden in den Gärten des Adels kultiviert, und es entstanden botanische Gärten, die die Möglichkeit eingehender Beobachtung über einen längeren Zeitraum boten, so dass die Pflanzen in ihren verschiedenen Wachstumsphasen erfasst und abgebildet werden konnten. Opulente Tafelwerke entstanden, sogenannte Florilegien, die mit ganzseitigen, häufig auch kolorierten Kupferstichen zugleich ästhetische Ansprüche befriedigten.230 Ein erstes solches Werk war das 1611 von Johann Theodor de Bry publizierte Florilegium novum, an dem sich die nachfolgenden Kompendien orientierten und das selbst bereits 1626 als Anthologia magna in erweiterter Form nachgedruckt wurde (vgl. Kat. Ausst. 2009, S. 47, S. 51). Für de Bry arbeitete seit 1616 auch Matthäus Merian, der schließlich mit dem Florilegium renovatum eine weitere Fassung des Florilegium novum auf den Markt brachte. Sie erschien in lateinischer und deutscher Sprache und enthielt zusätzlich einige gartentechnische Figuren aus Giovanni Baptista Ferraris De florum culta. Zur gleichen Zeit entstand mit dem Hortus Eystettensis des Apothekers Basilius Besler aus Nürnberg ein gewaltiges Schaubuch mit Kupfertafeln, die die Objekte vergrößert wiedergaben und an deren Erstellung sechs Stecher mitwirkten. Einige Exemplare der Auflage wurden auch koloriert. Die Arbeiten erstreckten sich über 10 Jahre, die erste Ausgabe erschien 1613 und wurde wiederholt nachgedruckt, zuletzt 1713. Ein an Pracht und Ausstattung den Florilegien vergleichbares Werk ist das 1773–1778 in fünf Bänden publizierte Florae Austriacae, sive plantarum selectarum in Austriae Archiducatu sponte crescentium, das Ergebnis einer Reise zu den karibischen Inseln, die Nicolaus Joseph Jacquin im Auftrag von Kaiser Franz Stephan von Lothringen unternommen hatte. Die kolorierten Titelkupfer der fünf Bände zeigen Landschaften, die Jacquin besucht hatte, während die Abbildungstafeln im Innenteil sich auf einzelne Pflanzenwiedergaben konzentrieren; Ziffern verweisen auf den jeweils zugehörigen Text.231  







230 Blunt führt als Bezeichnung neben „botanical illustration“ auch „flower portraiture“ an (Blunt 1950, S. 5). 231 Jacquins Fähigkeit, das Gesehene in naturgetreuen Zeichnungen festzuhalten, wurde geschätzt; dank guter Kontakte zum kaiserlichen Hof standen ihm immer wieder Mittel zur Verfügung, um großformatige Prachtbände mit Kupferstichen zu veröffentlichen (vgl. Petz-Grabenbauer 1995).  

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In England publizierten William Curtis mit Flora Londinensis, or, Plates and descriptions of such plants as grow wild in the environs of London und John Sibthorp mit Flora Graece mehrbändige, mit vielen Bildtafeln ausgestattete Pflanzenwerke.232 Galt ersteres der heimischen Flora um London, so ging letzteres aus einer Griechenlandreise hervor. In Frankreich arbeitete Georges-Louis Le Clerc de Buffon an der Histoire naturelle générale et particulière mit ausführlicher Darstellung der Pflanzenwelt. Als Illustratoren waren u. a. die Gebrüder Pierre Joseph und Henri Joseph Redouté tätig, die durch eine Kombination aus Punktierstich und Farbdruck den Naturalismus der Wiedergabe steigerten. Dies prägte auch einige auf eine einzige Pflanzenart konzentrierte Werke wie etwa Les liliacées (1802–1816) und Les rosés (1817–1824). Neben den aufgrund ihrer Bildtafeln bemerkenswerten Kompendien erschienen aber weiterhin solche, die vor allem der Informationsübermittlung dienten und nur sehr spärlich mit Abbildungen versehen waren, wie beispielsweise Charles Darwins On the various contrivances by which British and foreign orchids are fertilised by insects, and on the good effects of intercrossing von 1862.233  

Techniken der Pflanzendarstellung und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Pflanzenbuch. Die jahrhundertelange Geschichte der Pflanzendarstellung weist eine Varietät von Darstellungsweisen sowie von einander ablösenden oder sich ergänzenden Techniken auf. Auch die Absichten der Pflanzenerfassung unterlagen Modifikationen. Bei den auf medizinische Anwendung ausgerichteten Kräuterbüchern standen Pflanzen im Mittelpunkt. Je nach Vermögen des Künstlers sind sie schematisch oder detailliert, mit Ansätzen von Plastizität oder flächig erfasst, bleiben durchweg aber auf Konturen und Formen umreißende Linien beschränkt. Elaborierte Schraffuren, mit denen die Textur hervorgehoben und Räumlichkeit erzielt wurde, fanden verstärkt mit dem Kupferstich Anwendung. Die Einbindung der Pflanze in einen visuellen Rahmen, etwa eine Landschaft oder ein stilllebenartiges Arrangement, bürgerte sich erst ein, als neben dem Anwendungsbezug zunehmend ästhetische Interessen ins Spiel kamen. Stichwerke entstanden, die primär Sammler ansprachen. Gleichzeitig fassten monografische Bände die Typen einzelner Gattungen im Reichtum ihrer Spielformen zusammen, etwa Rosen oder Orchideen, oder auch Sukkulenten, Farne, Algen; die Abhandlungen wurden umfänglich illustriert. Mit wachsender Kenntnis, auch bedingt durch neue Untersuchungs- und Analyseverfahren, speziali-

232 Curtis, William: Flora Londinensis, or, Plates and descriptions of such plants as grow wild in the environs of London, 4 Bde., 1777–78; Sibthorp, John/Smith, James Edward: Florae Graecae prodromus; sive Plantarum omnium enumeratio, 1806–1816. 233 Darwin 1862, dt. 1899. Da Darwin beschreibt, wie die zu befruchtenden Teile von Blüten auf die Anatomie der Insekten abgestimmt sein müssen, waren die Abbildungen auf die entsprechenden Blütenorgane begrenzt, die für die Befruchtung notwendig waren. Dem entsprach die Sachlichkeit der Zeichnungen, die einfach schwarz gedruckt zum Teil in den Text integriert und nur gelegentlich auf Schautafeln zusammengefasst wiedergegeben waren (vgl. Kat. Ausst. 2009, S. 109).  

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sierten sich die Werke weiter, was bisweilen dazu führte, dass Details auf Kosten der Anschaulichkeit stark herausgehoben und aus dem Zusammenhang gelöst wurden. Ferdinand Jakob Heinrich von Müllers Eucalyptographia. A descriptive atlas of the Eucalypts of Australia and the adjoining islands beispielsweise stellt einzelne Blattformen in Ausschnitten so nebeneinander, dass kaum mehr als abstrakte Formen zu sehen sind (Müller 1879–1884). Der Band enthält 110 nicht kolorierte Lithografien, die mikroskopisch die Strukturen der verschiedenen Blattarten zeigen.234 Die eingesetzten Abbildungstechniken waren einerseits vom jeweiligen technischen Stand der Epoche geprägt, andererseits aber auch vom Anspruch der unterschiedlichen Nutzer, dem die Darstellungen zu genügen hatten. Auch lange nachdem die Ausführung per Hand, wie sie für die Illumination der Handschriften relevant gewesen war, durch den Druck abgelöst worden war, bearbeitete man Abbildungen noch manuell, zunächst bei der Kolorierung von Holzstichen, dann bei der von Kupferstichen. Aus dem Kupferstich wiederum entwickelten sich verschiedene Möglichkeiten des Farbdrucks, sei es, dass eine Platte vor dem Druck mit mehreren Farben eingefärbt wurde, sei es, dass für die einzelnen Farben eigene Platten gestochen wurden.235 Herbarien. Unter den Pflanzenbüchern besitzen Herbarien einen eigenen Stellenwert, da hier die Pflanzen nicht durch Abbildungen wiedergegeben, sondern selbst in getrocknetem und gepresstem Zustand präsentiert werden. Bis auf Angaben zur Systematisierung und Nomenklatur enthalten sie in der Regel keine Texte; die Vermittlung konzentriert sich also ganz auf die Pflanze selbst. Diese Präsenz wie auch die Unmittelbarkeit der Materialität reflektiert Irene Wedell in einem Maria Sibylla Merian gewidmeten Buch.236 Hier sind ohne alle didaktischen Absichten getrocknete Blütenblätter eingefügt, um die von Merian zitierten Zeichnungen auf besondere Weise zu ergänzen. Als Form der Darstellung wird das Leporello gewählt; die Texte sind handschriftlich – gleich Briefen an Merian als Formen persönlicher Adressierung. Der subjektive Zugang Wedells korrespondiert ihrer Identifikation mit Merian als Künstlerin und verweist zugleich auf den Hintergrund, vor dem Merians Werk entstand. An der Schwelle zur Herausbildung der modernen Biologie als Naturwissenschaft unterstand dieses noch nicht jenem systematisierenden und taxonomischen Vorgehen, wie es sich im 19. Jahrhundert etablierte (vgl. Wettengl 1997, S. 13). Merians Naturauffassung  





234 Um deutlich zu machen, dass es sich nur um kleine Ausschnitte eines Blattes handeln konnte, waren zudem alle Ansichten in quadratische Felder gefasst, was wiederum bedingte, dass sie noch abstrakter wirkten. 235 In manchen Fällen überarbeitete man auch die Farbdrucke noch einmal zusätzlich farblich von Hand. 236 Wedell, Irene: Maria Sibylla Merian, ca. 2003, Leporello, 10,5 x 13,7 cm, in Papiertasche 13 x 15,5 cm, Collage aus gepressten Pflanzenteilen, handgeschriebene Texte und Reproduktionen von Stichen, Unikat, Klingspor Museum. Offenbach a. M.  













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war noch weitgehend der zu ihrer Zeit geläufigen physikotheologischen Naturgeschichte verhaftet. Dahinter stand die Auffassung, dass die Natur den Menschen über Gottes Herrlichkeit aufkläre und ihn gegenüber den sich hier zeigenden Wundern zu Demut und Bescheidenheit anhalte. Auf die für Merians Darstellungen charakteristische Sinnlichkeit sucht Wedell mittels gepresster Pflanzen und handschriftlicher Eintragungen zu antworten. Ganz auf sinnliche Erfahrung ausgerichtet, rückt ihre Arbeit in die Nähe von Florilegien, die allein das Auge erfreuen sollen; gleichzeitig weist ihr Buch aber auch Züge eines Poesiealbums auf, das durch Blumenmetaphorik Empfindungen und Gefühle umschreibt. Naturselbstdruckverfahren. Doch nicht nur präparierte Pflanzen bieten einen konkret-materiell basierten Zugang zur Beschaffenheit von Pflanzen, ihren Blatt- und Blütenstrukturen. Eine präzise, vom pflanzlichen Material ausgehende Wiedergabe ermöglichen auch Naturselbstdruck und Naturdruck, beides Methoden, bei denen die Pflanzen in Druckprozesse einbezogen werden. Das 2010 entstandene Herbariusum Botanica in Originali von Peter Heckwolf ist dieser Technik verpflichtet.237 Seite für Seite sind hier Pflanzenteile in einem dem Naturselbstdruck verwandten Verfahren wiedergegeben; der Künstler selbst spricht von ‚Materialdruck‘. Abweichend von den überlieferten Naturselbstdrucken zeichnen sich bei Heckwolf die Formen hell gegen dunklen Grund ab. Offensichtlich nutzt der Künstler fotomechanisch unterstützte Umdrucke. Die einzelnen Pflanzenteile sind so über die Seiten verteilt, dass sie kein zusammenhängendes Motiv ergeben, obwohl alle sichtlich einem Pflanzentypus zugehören. Um den Zusammenhang noch weiter aufzubrechen, wurden die einzelnen Pflanzenteile in jeweils eigene Bildfelder gefügt, die sich teils überschneiden, teils durch einen hell aufscheinenden Zwischenraum voneinander getrennt sind. Heckwolf spielt damit auf Formen wissenschaftlicher Analyse an, die auf der Sichtung einzelner Teile beruht. Auf die reine Anschauung konzentriert, verzichtet Heckwolf zudem auf jegliche textliche Ergänzung. Pflanze, Druckverfahren und Seitenordnung sollen für sich ‚sprechen‘. Heckwolfs Arbeit zitiert sehr deutlich eine alte Technik. Das älteste bekannte Beispiel stammt aus einer syrischen Dioskurides-Handschrift aus dem 1. Jahrhundert, ein weiteres, allerdings ein nicht in ein Buch integrierter Druck, ist aus dem Jahre 1425 von Conrad von Butzenbach, heute in der Studienbibliothek in Salzburg aufbewahrt (zum Naturselbstdruck vgl. Desmond 2003, S. 148–158). Auch in Leonardo da Vincis Codex atlanticus, in dem an einer Stelle beschrieben wird, wie Kerzenruß auf ein Blatt aufzubringen und zum Drucken zu verwenden sei, finden sich Hinweise auf den Naturselbstdruck. In Alexis Pedemontanus’ Liber de secreti naturae von 1557 finden sich weitere Ausführungen zur Druckvorbereitung. In der Folgezeit wurde das Verfahren  



237 Heckwolf, Peter: Herbariusum Botanica in Originali, 2010, Materialdruck, 25 Blatt, 53,6 x 38,8 cm, Auflage: 6 Exemplare.  





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weiter verfeinert, bis es schließlich durch den englischen Botaniker William Sherard allgemeine Verbreitung erlangte. In Erfurt taten sich Johannes Hieronymus Kniphof und Johann Michael Funcke zusammen, um mit Botanica in Originali, seu herbarium vivum ein vollständiges Tafelwerk mit Naturselbstdrucken zu erstellen (Kniphof 1757– 1764). Aufgenommen wurden insgesamt 1200 Pflanzen, diese zu Einheiten von 100 Blatt zusammengefasst. Da diese separat in den Handel kamen, die Pflanzen zudem für den Druck nur begrenzt verwendbar waren, weichen die noch vorhandenen Ausgaben von Kniphofs Herbarium voneinander ab. Einen bedeutenden Fortschritt erfuhr das Verfahren, als man die Blätter zu skelettieren begann und von den Blattgerippen Druckformen abnahm, um sich so vom Naturselbstdruck zu lösen und den Schritt zum Naturdruck zu vollziehen (vgl. Desmond 2003 S. 148). In dieser Weise verfuhr Alois Auer in der Kaiserlichen Druck Offizin in Wien, wo 1861 Constantin von Ettingshausens Werk Die Blatt-Skelette der zweikeimblättrigen Pflanzen gedruckt wurde (Ettingshausen 1861), das in seiner Anlage ein unmittelbares Vorbild für Heckwolf gewesen sein könnte, da auch hier auf einem Blatt verschiedene Motive in rechteckigen Ausschnitten zusammengefasst sind. Im Gegensatz zu Heckwolfs textlosem Band sind sie allerdings mit Beschriftungen versehen. Auf die Naturselbstdrucke in Kniphofs Botanica bezog sich 2012 auch Hartmut Andryczuk in einem Werk, dessen Titel Zierpflanzengärtner A.D. Kniphofia obscura bereits den gleichermaßen selbstbezogenen wie auch ironischen Gestus des Künstlerbuchs ahnen lässt.238 Der „Zierpflanzengärtner A.D.“, angeblicher Autor der Kniphofia obscura, identifiziert sich mit dem Erfurter Professor. Im eigens für das Werk geschaffenen Druckerzeichen verwies Andryczuk auf sich selbst, verbindet sich doch in dem hier auftretenden Begriff „Andryczukiensis“ sein eigener Name mit eigenen Werken, in denen er, noch weit mehr als in der Kniphofia obscura, die Welt der Chimären aufleben lässt. Auch der seinem Werk am Schluss beigefügte Dank an alle, die zur Entstehung des Werkes beigetragen hatten, steht im Zeichen der Ironie. Andryczuks Buch basiert auf zwölf ausgewählten Naturselbstdrucken aus einem Exemplar von Kniphofs 1733 in Erfurt erschienenen und heute in der Bibliothek des Residenzschlosses Heidecksburg in Rudolfstadt aufbewahrten Lebendi=officinal-Kräuter-Buch. Die Drucke wurden vom Künstler reproduziert, durch eigene Zeichnungen überarbeitet und mit einer Reihe schriftlicher Kommentare versehen. Text- und Bildebene sind charakterisiert durch Ironie und Persiflage und lassen stellenweise eine spaßhafte Verkehrung anderer wissenschaftlicher Werke anklingen. Das Buch ist zugleich als Hommage an Kniphof gedacht und eine kritisch-witzige Auseinandersetzung mit dem ganzen Genre Kräuterbuch und der mit ihm befassten Zunft. Dabei reproduziert  

238 Andryczuk, Hartmut Robert: Zierpflanzengärtner A.D. Kniphofia obscura. Rudolstadt: Burgart Presse 2012, enthält wechselweise Grafiken von Andryczuk und ausgewählte Naturselbstdrucke aus Lebendi=officinal-Kräuter-Buch, Erfurt 1733 aus der Bibliothek des Residenzschlosses Heidecksburg in Rudolfstadt.

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Andryczuk mitnichten den Naturselbstdruck, sondern bedient sich der weit weniger diffizilen Lithografie.239 Die vom Künstler ergänzten Zeichnungen ziehen sich über die Pflanzenreproduktion und die nebenstehenden Textseiten, sie sind von scheinbar kindlich-naiver Ungelenkigkeit, zeigen Phantasiegebilde und stehen nur teilweise und auch nur lose zur abgebildeten Pflanze in Bezug. Die mit ebenso ungelenken Buchstaben um das Motiv herum ausgeführten Texte enthalten teils sachliche Hinweise zur Wirkung und zum Anwendungsbereich der Pflanze, zum Teil aber auch biografische Andeutungen zur Person des Künstlers.240 Rezeption historischer Pflanzenbücher im Künstlerbuch. Die Vielfalt von Pflanzenbüchern, ihren Techniken und Materialien, blieben nicht ohne Einfluss auf die zeitgenössische Buchkunst. Konzentrieren sich einzelne Künstler, wie etwa Thorsten Baenisch, auf einen einzelnen Pflanzentypus, so wenden sich andere der Genese einer Pflanzensammlung zu, während wieder andere das Konzept des Florilegiums aufgreifen und modifizieren. Rudolf Koch etwa möchte mit seinem Blumenbuch seinen Kindern die Flora des eigenen Lebensumfeldes nahebringen.241 Darüber hinaus sollte sein Buch aber auch als Hauspostille dienen. Jede Pflanzendarstellung ist mit einem Bibelspruch versehen. Zwar folgt Koch mit seinen Blumenwiedergaben den Jahreszeiten und den Standorten der Pflanzen, doch er verzichtet auf Klassifizierungen.242 Handwerkliche Qualität und das Zusammenwirken verschiedener Personen bei der Realisierung rücken Kochs Blumenbuch in die Nähe originalgrafischer Werke wie auch aus Handpressen hervorgehender, als Pressendrucke bezeichneter Produktionen.

239 Mit der für den Titel leitenden Bezeichnung „Kniphofia“ nahm er u. a. Bezug auf den Kasseler Apotheker und Botaniker Conrad Moench, der 1794 als Geste der Ehrerbietung gegenüber Kniphof der Fackellilie den Namen „Kniphofia“ gab. Mit dem Zusatz „obscura“ spielt Andryczuk auf die von ihm vorgenommenen Veränderungen an den Naturselbstdrucken an. 240 Auffällig ist der wiederholte Bezug auf die Nachkriegszeit, in der Pflanzen gesammelt und zu jedwedem Zweck aufbereitet wurden. Sie dienten als Ersatz für nicht erschwingliche oder nicht vorhandene Arzneimittel oder als Nahrungsergänzung. So ist beispielsweise aus Andryczuks Aufzeichnung zu erfahren, dass sich die gelben Blüten des Löwenzahns aufgrund ihrer Süße besonders gut als Brotaufstrich eignen würden. 241 Koch, Rudolf: Das Blumenbuch. Vom Winter ins Frühjahr, mit Bibelstellen, 220 Seiten, 30,5 x 23 cm, handkoloriert vom Künstler selbst, Druck der Ernst-Ludwig-Presse, Darmstadt, hergestellt in den Jahren 1929–1930 für den Freundeskreis der Ernst-Ludwig-Presse, 135 Abzüge. Die Namen der Blumen bestimmte Hans Heil. Das Blumenbuch wird in deutlich reduziertem Umfang bereits 1930 von der Mainzer Presse in einer Auflage von 1000 Exemplaren nachgedruckt. Die Kolorierungen sind hier von Emil Wöllner ausgeführt. 242 Die vom Künstler erstellten Zeichnungen wurden von Fritz Kredel in Holz geschnitten und von Hans Heil mit korrekten Namensbezeichnungen versehen. Gedruckt wurde bei der Kleukens Presse in Mainz und die Zeichnungen anschließend von Hand, wenn auch mit Schablone, von Emil Wöllner in Leipzig koloriert. Die gedruckte Version war für den Freundeskreis der Ernst-Ludwig-Presse bestimmt.  







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Im Stile eines Florilegiums legte auch Hermann Zapf sein für eine Schriftgießerei konzipiertes, als Freundesgabe bestimmtes Schriftmusterbuch an.243 Der Druck erfolgte auf losen Bögen, die von ihren Besitzern zum Buch zusammengefasst oder lose aufbewahrt werden konnten. Jedes Blatt zeigt eine Pflanze, deren Name in einer vom Künstler auf sie abgestimmten Schrift angefügt wurde. Zeichnungen und Schrift wurden von Zapf selbst mit dem Pinsel ausgeführt, dann in Blei geschnitten und gedruckt. Die zur Darstellung bestimmten Pflanzen selbst wurden nach ihren Namen ausgewählt, um einmal alle Buchstaben des Alphabets zu repräsentieren. Die Vielfalt der Pflanzen sollte in einem gleichsam metaphorischen Bezug auf die Vielfalt an Schriften der Schriftgießerei hinweisen. Bereits die dem Pressendruck angehörenden Beispiele zeigen, wie Pflanzenbücher, vor allem solche, die Blüten und Blumen behandeln, im künstlerischen Kontext mit neuen Inhalten aufgeladen wurden. In den wenigsten Fällen sind biologische Kriterien leitend. Von Interesse sind vielmehr die den Pflanzenbüchern unterlegten Ideen und Geschichten der Ausdeutungen der Pflanzen. Barbara Fahrner verweist ebenfalls auf historische Muster. An mittelalterliche Kräuterbücher erinnert die 1990 konzipierte Trilogie Flora, Bluama und Sieben, für welche das Zusammenspiel von Empirie und mythischem Wissen prägend ist.244 Allerdings übernimmt Fahrner keine den alten Vorbildern zugrundeliegende Systematik. Reimlose Poesie, durchsetzt mit den lateinischen Bezeichnungen der Pflanzen, verbindet sich mit wortlosen Zeichen, kleinen Zeichnungen und Texturen. An den mit Schreibmaschine geschriebenen Text fügen sich handschriftliche Ergänzungen, zeilenweise oder in ganzen Blöcken. Die in losem Rhythmus über die Seiten fließenden, durchweg aus wenigen Worten gefügten Zeilen formieren sich wiederholt zu visuellen Gebilden, aus denen Blüten- oder Blattformen hervortreten und die magischen Kräfte der Sprache zu mobilisieren scheinen. So können einzelne Zeichenfolgen als Zauberspruch gelesen werden. Die mit feinen Linien mehr angedeuteten als ausformulierten Zeichnungen lassen nur vage anthropomorphe und pflanzliche Formen ahnen. Nicht selten verbinden sich Blatt- und Körperform zu anthropomorphen Körpern. Plinius ist eine wichtige explizite Referenz, weitere werden über Text- und Sprachduktus angedeutet. Hinzu treten Verweise und Ergänzungen, die kommentieren oder über Sprache und Klang Assoziationen aufrufen. Aufblühen, Wachstum und Welken der Blumen werden mit dem Leben der Menschen gleichgesetzt, viele Analogien von Natur und menschlichem Leben suggeriert. Menschliche Formen verbinden sich mit formlosen Gebilden wie Steinen oder Felsen, aus denen jedoch immer wieder vegetative Prozesse hervorzugehen scheinen. Die Pflanze als Sinnbild natürlich-zirkulärer Abläufe von Entstehen und Vergehen nimmt in den drei Bänden großen Raum ein. Doch keines

243 Zapf, Hermann: Blumen-ABC, im Auftrag der Stempel-AG. Frankfurt a. M. 1962, 30 Blatt, 33 x 19 cm, Auflage: 180 Exemplare. 244 Fahrner, Barbara: Flora, Bluama, Sieben, 1990, Japanpapier, Fadenbindung, unterschiedliche Umfänge, 20 x 10 cm.  













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dieser Bücher ist als Kräuterbuch im engeren Sinne zu bezeichnen; es geht um die Wirkkraft der Natur insgesamt.

Abb. B 24: Barbara Fahrner: Flora, Bluama, Sieben. 1990.  

Ein von praktischen und didaktischen Intentionen freies Blumen-Buch bietet die im Verlag Bartleby & Co. erschienene Edition der Sieben Rosengedichte Friedrich Hölderlins.245 Der Künstler und Verleger Thorsten Baensch präsentiert ein Rosarium, das sich an verschiedene Sinne wendet. Die Edition besteht aus zwei in rosa schillerndes Papier gebundenen Heften, von denen das eine Gedichte, das andere Rosenöl, Rosenstaub und ein Rosenbild enthält – also etwas, das sich an den Intellekt ebenso wie an Seh- und Geruchssinn wendet. Gemeinsam mit einem Kranz künstlicher Stoffrosen in einem Pappkarton aufbewahrt, erinnern die beiden Teile an Poesiealben und Tagebücher. Dass die Texte ebenfalls mit den Sinnen gelesen werden sollen, wird durch die typografische Umsetzung unterstrichen. So steht jedem vollständigen Gedichttext eine Seite gegenüber, auf der sich wenige, aus dem Textfluss herausgelöste Worte verteilen wie einzelne Blumen auf einer freien Rasenfläche – Worte die vom Blühen und von der Natur sprechen. Die materiellen Beigaben sind bei jedem Exemplar andere. Das gilt für die in den Kartondeckel eingeklebte Abbildung, die Stoffrosen und das  



245 Baensch, Thorsten: 7 Rosengedichte, mit Texten von Friedrich Hölderlin. Brüssel: Bartleby & Co. 2000, 15,4 x 21 cm, 14 Blatt + Beilage, Auflage: 6 Exemplare. Die Exemplare unterscheiden sich durch die beigefügten Kunstrosen.  





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beigelegte Rosenbild. Zum Einsatz kommen Poesiealbumbilder, Postkarten, Briefpapier und Briefmarken mit Rosenaufdruck. Die facettenreiche Symbolik der Rose wird in einem breiten Spektrum zwischen romantischem Gedicht und Trivialkultur zitiert. Pflanzenkunde als Farbenspiel. Neben dem mystizistisch geprägten Buchwerk Fahrners und dem eher ironischen Rosenbuch Baenschs repräsentiert Jorinde Voigt mit ihrem 2011 publizierten Buch Botanic Codes eine dritte Variante eines zeitgenössischen künstlerischen Zugangs zum Pflanzenbuch.246 Sie erfasst die Wirkkraft von Pflanzen allein über das Zusammenspiel der Farben, um in einem nächsten Schritt die von ihr ermittelten Ergebnisse in minimalistischen Kompositionen auf den Seiten ihres Buches wiederzugeben. Gegenstand ihrer Untersuchung sind botanische Gärten, die sie zu unterschiedlichen Jahreszeiten aufgesucht hat, interessiert allein an Pflanzenfarben und ihren quantitativen Verhältnissen. Die subjektive Dimension der Farbwirkung sucht sie durch ein vollständig formalisiertes Vorgehen auszuschalten. So wählt sie für die fünf markantesten Werte entsprechende Farbtöne auf einer Skala industriell hergestellter Farben aus, die sie dann in genau den Anteilen, die sie im botanischen Umfeld ermittelt hat, auf Aluminiumstangen überträgt. Jede Stange kann fünf Farbfelder unterschiedlicher Größe aufnehmen, die sich vollständig oder nur anteilig um die Stange legen. Jede Aluminiumstange entspricht einer Pflanzenart, nach deren Statur sich wiederum der Durchmesser der Stange richtet. Die markierten Stangen bilden, nach ihren jeweiligen Orten im botanischen Garten in Gruppen zusammengefasst, die Grundlage für die Darstellung der Vegetation im Buch. Jedem botanischen Garten entspricht eine Doppelseite. Die Pflanzen selbst finden lediglich in schematischen Übersichten schriftliche Erwähnung, werden aber nirgends abgebildet. Sie sind lediglich durch die Farbfelder auf den Stangen vertreten. Die Stangen wiederum werden im Buch seitenweise in serieller Reihung abgebildet, wobei jede Stangenreihe die formalen Eigenschaften der Pflanzen aus einem botanischen Garten repräsentiert. Die jeweils nebenstehenden Texte enthalten die deutschen und lateinischen Bezeichnungen der Pflanzen sowie technische Angaben zu den Aluminiumstangen. Typografisch greifen diese Texte die Komposition der Stangenreihung auf. Die Abbildungen in Voigts Buch vermitteln ein gleichermaßen homogenes wie reduziertes Erscheinungsbild, das zwar dem objektivierten Ansatz des Verfahrens entspricht, aber in nichts an den botanischen Reichtum eines Gartens erinnert. Hier soll deutlich werden, wie die selektive Wahrnehmung von Farbe zwar zu rechnerisch richtigen Resultaten führt, diese aber kein Bild der Objekte selbst liefern. So ist Voigts Intervention auch als Kritik an wissenschaftlichen Praktiken zu verstehen, die über Detailanalyse den Gesamtzusammenhang außer Acht lassen. Voigts Pflanzenbuch impliziert Kritik an botanischer Systematik, mehr noch aber an der reduzierten Wahr-

246 Voigt, Jorinde: Botanic Code. Kienbaum Artist’s Book Edition. Köln: Snoeck Verlagsgesellschaft 2011, 48 S., Farbabbildungen, Beiheft mit erläuterndem Text.  

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B 2 Wissensgeschichte, Künstlerbuch und Buch-Literatur

nehmung, mit der einzelne Gegenstände losgelöst aus ihrem Kontext untersucht werden. Reminiszenzen ans Reise- und ans Kräuterbuch. Basieren die angeführten Beispiele des zeitgenössischen Künstlerbuches mehr oder weniger auf einer Abfolge von Pflanzen, so bietet Herman de Vries’ Buch natural relation I – die marokkanische sammlung eher eine Zusammenstellung, ähnlich den Pflanzendarstellungen in der Reiseliteratur.247 Tatsächlich ging de Vries’ Buch aus einer Reise durch Marokko hervor, ist dabei aber ganz wie ein Herbarium angelegt. In einem umfänglichen Katalogteil werden Pflanzen aufgelistet und abgebildet, jedoch nicht so, wie sie in der Natur auftreten, sondern so, wie de Vries sie während seiner Reise vorfand, nämlich auf Märkten, wo Samen, Blüten, Wurzelstücke und Blätter getrocknet und zum Teil zerkleinert angeboten werden. Die Angaben in seinem Buch folgen weitgehend der in Kräuterbüchern gebräuchlichen Systematik, verknüpfen pharmakologisches Wissen und lokale Gepflogenheiten, wissenschaftliche Erkenntnisse und Volksglauben. Neben der ortsüblichen arabischen Bezeichnung führen sie die lateinische und deutsche auf, benennen Herkunftsort, Anwendungszusammenhang und empfohlene Dosis, Indikationen und Kontraindikationen. Allerdings ist das Vorgehen nicht konsistent, nicht zu allen Substanzen liegen Erläuterungen vor, andere hingegen werden umfänglich kommentiert. Die Inhalte sind aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen, die alte Pflanzenbücher ebenso als Fundstelle nennen wie zeitgenössische Literatur zur arabischen Medizin. Oft sind sie unverändert in der vorgefundenen Schreibweise übernommen, manchmal aber auch mit der Schreibmaschine abgetippt, so dass auch optisch ein heterogenes Bild entsteht. Die Komposition zielt nicht auf Vollständigkeit, sondern ist weitgehend vom Zufall bestimmt. Die vorgebliche Objektivität, die die quasi wissenschaftliche Darstellungsweise suggeriert, wird dadurch unterlaufen und so die Frage nach einer Systematisierbarkeit der Natur aufgeworfen (zu Herman de Vries’ natural relations I – marokkanische sammlung vgl. auch Mœglin-Delcroix 2011a, S. 237). Mehr noch als de Vries’ Buch ist Lothar Baumgartens Buch Die Namen der Bäume an Reiseberichten orientiert, die neu entdeckte Pflanzenarten detailliert beschrieben haben.248 Er kompiliert Auszüge aus entsprechenden Berichten des 16. bis 20. Jahr 







247 1984 von der Galerei d+c mueller-roth/Stuttgart und dem Institut für moderne Kunst in Nürnberg in einer Auflage von 500 Exemplaren, zuzüglich 15 Vorzugsausgaben publiziert. Die Publikation entstand im Rahmen einer Ausstellung in den beiden herausgebenden Institutionen. Die Nennung der Auflagenhöhe, die Vorzugsausgaben und die von Hand eingetragene Nummer zeigen jedoch, dass die Publikation nicht als einfacher Ausstellungskatalog konzipiert, sondern Teil der Kunst von de Vries ist. Ebenfalls ins Impressum aufgenommen ist der Hinweis, dass es sich bei dieser Publikation um einen vorläufigen Bericht an den Minister der Wohlfahrt für Kultur der Niederlande handle. 29 x 21 cm, kalandriertes weißes Papier, ca. 100g/m2, broschiert, Fadenbindung. 248 Baumgarten, Lothar: Die Namen der Bäume, Hylaea, Eindhoven 1982, 424 Seiten, davon 76 Seiten mit Abbildungen, 24,7 x 17 cm, Schwarz-Weiß-Druck mit Farboffset, fester Einband, Gestaltung: Lothar Baumgarten, Walter Nikkels, Auflage: 740 Exemplare, davon 240 nummeriert.  











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Teil B Buch-Geschichten

hunderts. Nahezu übergangslos folgen sie einander, scheinbar ordnungslos, nur durchlaufend nummeriert. Einen weiteren Teil des Buches bilden Abbildungen, die ebenfalls aus verschiedenen Zeiten stammen, mit den Texten aber nur lose in Beziehung stehen. Weitere Informationen zu Texten und Abbildungen liefert der Anhang mit Register, Bibliografie und Abbildungsverzeichnis, die jedoch sämtlich nicht alphabetisch geordnet sind, sondern der Text- und Seitenabfolge entsprechen. Von Baumgarten selbst aufgenommen sind etliche der hier integrierten Fotografien. So stehen Texte und Bilder in mehrfacher Hinsicht unverbunden nebeneinander. Über die Texte nähert sich der Leser den fremden Kulturen. Die Lektüre des Buches bewegt sich auf einer Zeitschiene; wissenschaftlicher Fortschritt und der Umgang mit fremden Kulturen werden allein durch die Art der Naturschilderung und der Pflanzenbeschreibung nachvollziehbar. Von Seite zu Seite wird deutlicher, wie das im Laufe der Jahrhunderte gewonnene Wissen zustande kommt und wirksam wird. Diese Erfahrungen, so zumindest deutet es der Künstler an, seien der Natur eingeschrieben; die Bäume, deren Alter das menschliche bei Weitem zu überschreiten vermag, bewahrten sie auf und berichteten davon. Eine solch gleichsam mystische Ausdeutung wird durch den Rahmen, der sich um den gesamten Inhalt legt, nahegelegt: durch den Titel und die Überschriften, unter die sämtliche Texte gestellt sind. Die Überschrift „Stimmen im Wald“ suggeriert, dass alle Reiseberichte unmittelbar aus dem Naturraum hervorgehen. Den „Stimmen im Wald“ ist der „Tanzplatz der Bäume“ vorangestellt. Er besteht in einer Auflistung von rund 300 Bäumen, die in den Reiseberichten erwähnt werden und sich zum Teil in den Bezeichnungen der einzelnen Exemplare der Auflage wiederfinden. Denn jedes Exemplar trägt den Namen eines Baumes, der handschriftlich im Impressum verzeichnet ist. Die vorgestellten, von Künstlern konzipierten und gestalteten Bücher knüpfen alle – aber auf verschiedene Weisen – an historische Formen des Pflanzenbuches an. Berücksichtigt wird das breite Spektrum vom mittelalterlichen Herbarium bis hin zu Florilegien und Pflanzendarstellungen des Entdeckerzeitalters. Doch so sehr sich bei all den Beispielen ein Bezug zu tradierten Typen des Genres Pflanzenbuch abzeichnet, lösen sich die als Künstlerbücher konzipierten Werke durch die Aufnahme künstlerischer Argumente, die bisweilen einen ironisierenden oder persiflierenden Unterton anschlagen, von den herkömmlichen Pflanzenbüchern. Der Bezug zum Buchtypus Pflanzenbuch dient dazu, Assoziationen zu wecken. Dem wissenschaftlichen Anspruch vollständiger Welterfassung wird Unerwartetes, nicht Kalkulierbares entgegengesetzt, repräsentiert durch natürliche Phänomene und Entwicklungen. VHS  



Teil C Anfänge und Initiationen

Abc-, Kinder-, Bilder- und Spielbücher als Buchwerke Bücher selbst initiieren ihre angehenden Leser in die Welt der Bücher – also insbesondere in die Welt der Texte, der Schriften und der Schriftzeichen, in die der Bilder und grafischen Repräsentationen sowie in die der Buchräume, ihrer Architekturen und Ordnungen (und hiervon ausgehend dann in die Welt des Umgangs mit Büchern). Vor allem das Erlernen der Buchstaben ist in Kulturräumen, die sich einer Buchstabenschrift bedienen, ein zentraler kulturinitiatorischer Prozess: Eine basale Voraussetzung für das Lesen und Schreiben, für das Verstehen und den Gebrauch schriftsprachlicher Darstellungsmittel, für die Teilnahme an vielfältigen Prozessen schriftbasierter Kommunikation sowie für die Einbindung in schriftkulturelle Traditionen, Wissensbestände und Lebensformen.  

Initial-Buchstaben. Das zu erlernende ABC steht metonymisch für diese Initiation in eine ganze kulturelle Welt. Mit der (im Lehnwort Initiation steckenden) Idee des Anfangens ist das ABC aber noch in anderer Hinsicht verknüpft: In Kulturen der Buchstabenschriftlichkeit setzen sich die Wörter aus Buchstaben als ihren Elementen zusammen; im griechischen Wort ‚stocheia‘ kommt der Zusammenhang zwischen Elementarzeichen und Welt-Baustein (‚Element‘) zum Ausdruck, da er beides bedeutet (vgl. Lumpe online; Blumenberg 1981, S. 37). In geschriebener Form fangen die Namen der Dinge mit jeweils einem bestimmten Buchstaben an. Darauf beruht die Möglichkeit, diese Namen nach ihren jeweiligen Anfangsbuchstaben zu sortieren – und nicht nur die Nomina, sondern auch andere Arten von Vokabeln. Die Alphabetreihe, Jahrtausende alt und in verschiedenen Buchstabenschrift-Systemen auf eigene Weise modifiziert, gehört in ihrer an sich kontingenten Reihenfolge zu den fundamentalen und für das einzelne Mitglied einer Schriftkultur frühesten Gegenständen des Wissens: Man lernt die Buchstaben im Rahmen der Alphabetreihe bzw. als eine solche Reihe. Dadurch aber lernt man, die Welt selbst mittels den ihnen zugeordneten Vokabeln zu buchstabieren, das, was sich über die Dinge dieser Welt schreiben lässt, auf eine konventionalisierte Weise anzuordnen und sich angesichts schon bestehender Anordnungen in diesen zu orientieren. Weil alle geschriebenen Wörter mit einem bestimmten Buchstaben, einer Initiale, anfangen, lassen sie sich so gut sortieren und handhaben, wenn es darum geht, Leser in die Welt und die Gegenstände ihres kulturellen Wissens zu initiieren. Novalis’ Vermutung, das „höchste Buch“ gleiche einem „Abcbuch“ (Novalis 1965, S. 610; Teplitzer Fragmente, Nr. 82), aber schon die bis auf die Antike zurückgehende Geschichte des Topos vom „Buch der Natur“ respektive von der „Lesbarkeit der Welt“ (vgl. Blumenberg 1981) verweisen auf diese Idee, die Welt sei von A bis Z auszubuchstabieren. Fließend ist hier der Übergang zur Vorstellung, Welt sei durch die Buchstaben zu beherrschen, ja magisch zu beeinflussen (vgl. Dornseiff 1925). Die Kunstform der Initialengestaltung, wie sie vor allem in der mittelalterlichen Handschriftenkultur kultiviert, aber bis heute praktiziert und auch buchlitera 





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Teil C Anfänge und Initiationen

risch genutzt wird, wirkt wie eine Anspielung auf die mehrschichtige Initiationsfunktion von Anfangsbuchstaben. Elementar- und Initiationsbücher. ABC-Bücher sind also in mehrfachem Sinn ‚Elementar‘-Bücher. Sie initiieren erstens in die Welt der Buchstaben, d. h. des Geschriebenen und Schreibbaren, sowie zweitens in die Welt der Dinge, der natürlichen und kulturellen Tatsachen, der potenziellen und aktuellen Wissensbestände. Drittens ist die Alphabetreihe, an die sie heranführen, das Ordnungsmuster, mittels dessen auch in vielen Wissenskompendien Inhalte arrangiert werden – am Leitfaden alphabetisch gereihter Vokabelbestände, Stichwörter, Begriffe. ABC-Bücher sind insofern gerade auch Initiationsbücher in die Bücherwelt der Lexika, der alphabetischen Enzyklopädien und anderer alphabetisch geordneter Textbestände. Dies gilt auch für solche ABC-Texte, die nicht in erster Linie Weltwissen vermitteln wollen, dies aber im Zusammenhang mit anderen Zielsetzungen (wie etwa dem abecedarischen Spiel mit Vokabeln) immer tun, selbst wenn dieses Wissen vom konventionellen und kodifizierten Wissen abweicht. Neben dem ABC-Buch, der Lesefibel, sind auch andere Bücher für Lese-Anfänger und junge Leser Initiationsbücher. Sie erzählen Geschichten davon, wie die Welt ist oder sein könnte, und sie zeigen Bilder dieser oder einer anderen möglichen Welt. Das von Johann Amos Comenius initiierte Konzept eines Orbis pictus als Lehrbuch drückt einen für die spätere Buchkultur wegweisenden Grundgedanken programmatisch aus: Auch in Bildern findet sich Weltwissen in komprimierter Form dargestellt; auch über Bilder lässt es sich ordnen und vermitteln. Idealiter wirken Schrift und Bild zusammen, wo Bücher in die Welt initiieren sollen. Bilder nehmen dann ebenso wie (geschriebene) Wörter und erzählte Geschichten prägenden Einfluss auf das, was als diese Welt erscheint, wie sie vom Buchnutzer interpretiert, (re-)konstruiert wird. Initiatorisch in vielfacher Hinsicht wirken Bücher für junge Leser auch dann, wenn sie nicht vorrangig dem Lesenlernen dienen. Gerade in der Geschichte des Bilderbuchs haben sich, bedingt durch variantenreiche Bildprogramme und Ordnungsmuster, viele Formen der Weltdarstellung materialisiert.  



Ludistische Initiationen, Spielbücher. Auch Spiele haben ein initiatorisches Moment. Mittels ihrer Regeln definieren sie Spiel-Räume, die sich manchmal explizit als Modelle von Welt präsentieren, implizit aber stets als solche Modelle zu verstehen sind. Spielfläche, Sets aus Spielfiguren, Spielsteine und Puzzleteile haben zumindest latenten Gleichnischarakter; in dieser Eigenschaft werden sie künstlerisch und literarisch thematisiert, gestaltet und semantisiert. Wer sich spielend in solchen ModellSpiel-Räumen bewegt und aus Spielelementen auf der Basis gesetzter Regeln Arrangements schafft, wird initiiert in Modi der Welterfahrung und Weltgestaltung. Bücher, die durch ihre Struktur und ihre Inhalte der Sphäre der Spiele verbunden sind, verweisen – buchreflexiv – auf die Korrespondenzen zwischen der Produktion und der Rezeption von Büchern auf der einen Seite, Spielpartien auf der anderen Seite. Spielverläufe und Spielstein-Arrangements lassen das Buch zum Spiel-Raum von Geschichten werden.  



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Abc-, Kinder-, Bilder- und Spielbücher als Buchwerke

Das Buch als Spielobjekt stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Buch als bewusst gestaltetem ästhetischem Objekt dar, ist es doch an keinen konkret-praktischen Zweck gebunden, sondern zunächst einmal ‚nur‘ zum Spielen da. Dabei ist es – und auch dies macht es zum Analogon des künstlerisch gestalteten Buchs und des buchliterarischen Artefakts – zu diesem Zweck auf physisch auffällige, anregende, Aufmerksamkeit erregende Weise gestaltet. Es bietet besondere Anreize zum Schauen und zur haptischen Erkundung. Es will mit den Sinnen erkundet werden und setzt dabei oft auf Innovation und Überraschung. Es sieht oft anders aus als Bücher, die man schon kennt, stimuliert zu anderen Formen der Handhabung, lässt andere Dinge mit sich machen als konventionelle Bücher. Das gilt beispielsweise für das Daumenkino als besondere Form des Kodex, für das Leporello als eine vom Kodexformat abweichende Buchvariante und für Zettelkästen auf dem Weg zum (oder auch ‚nach dem‘) gebundenen Buch. Diese und andere Formate werden für Spielbücher genutzt, aber auch für Künstlerbücher und für Werke der Buch-Literatur. Nicht alle Spielbücher sind Kinderbücher, und nicht alle Kinderbücher lassen sich darauf reduzieren, als Spielbücher betrachtet zu werden. Dienen sie doch auch dem Lernen, der Vermittlung von Wissen und der Anleitung zu kulturellen Praktiken – allen voran der des Lesens. Immerhin besteht ein breiter Konsens, dass die didaktischen Ziele, die die Produktion von Büchern für Kinder ebenfalls motivieren, sich auf einem spielerischen Weg am effizientesten verfolgen lassen. Dies allerdings ist eine Einsicht, die sich nicht nur die Produzenten von Büchern für Kinder zunutze machen. Auch Lehr- und Lernbücher für Erwachsene setzen oft auf Strategien der Buchgestaltung, die zu spielerischem Lernen einlädt. Die Idee, durch ungewöhnliche, einfallsreiche, an die Sinne appellierende Buchgestaltung den Benutzer zur Interaktion mit dem Buch einzuladen, bildet insofern eine Art Schnittmenge von Kinder-, Spiel-, und Lernbuchkonzepten. Das in diesem Sinn spielerisch nutzbare Buch möchte für Objekte und Materialien sensibilisieren und tritt dadurch in den Dienst der Vermittlung von Wirklichkeit (respektive: von wirklichen und möglichen Welten). Dies gilt für das Sach- und Lernbuch, begonnen beim Lese- und Schreiblernbuch, es gilt aber auch für Beispiele der Buch-Literatur. Wie fließend der Übergang zwischen Kinderbüchern und als ‚Kunst‘ rezipierten Buchwerken ist, zeigt sich daran, dass viele ästhetisch auffällige Buchproduktionen zwar wie Spiel-Bücher aussehen, aber vor allem von Sammlern geschätzt werden, die das Kindesalter hinter sich haben.  





Buch-Spiel-Räume. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur haben gerade in jüngerer Zeit Text-Bild-Bezüge verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Buchgestalterisches erschöpft sich aber nicht im Umgang mit Texten und Bildern, mit Verbalem und Visuellem, mit Textbildlichkeit und gemischtmedialen Arrangements aus Buchstaben, visuellen Formen und Bildstrukturen – es hat auch eine bucharchitektonische Dimension, die allerdings vielfach maßgeblich dadurch beeinflusst wird, wie Text und Bilder aufgefasst und miteinander verbunden werden. Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur sind spezifische Umgangs 

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Teil C Anfänge und Initiationen

formen mit der Räumlichkeit des Buchs – mit konkreter, gleichsam materieller Räumlichkeit, aber auch mit virtueller Räumlichkeit – besonders wichtig.1 Dies hat u. a. dazu geführt, dass die theatrale Inszenierung bzw. die Bühnen-Kunst als ein für die Beschreibung von Bilderbüchern (für Kinder und Jugendliche) ergiebiges Modell betrachtet wurde (vgl. Thiele 2003, S. 48f.). Wie das Kinderbuch des 19. Jahrhunderts stark vom Theater beeinflusst wurde, so ist im 20. Jahrhundert die Papierformungsund Papieringenieurskunst besonders prägend geworden (vgl. Sicard 2010, S. 16). Aber auch Anregungen durch die älteren Typen des beweglichen Buchs wurden wichtig. Kinder-, Spiel-, Bewegungs- und Künstlerbücher beeinflussen sich wechselseitig.2 So gehen von Buchdesignern des 20. Jahrhunderts wie Voitěch Kubašta, Bruno Munari (dem Vertreter eines Kinetismus, der mit schlichten Materialien arbeitet), Robert Sabuda und Matthew Reinhart auch wichtige Impulse auf das Kinderbuch aus. Munari gestaltet Kinderbücher ebenso wie Künstlerbücher; der Übergang ist gerade bei ihm fließend.3 Vor allem ABC-, Lese- und Bilderbücher sind als Bücher, die in die BücherWelt initiieren und zugleich den initiatorischen Charakter der eigenen Darstellungsmittel (zumal des ABCs) sinnfällig machen, wichtige Anlässe buchkünstlerischer Produktivität. Eine evident buchreflexive Dimension haben Kinder-, Bilder- und Spielbücher selbst vor allem dort, wo das Buch als Motiv im Buch erscheint. Künstlerbücher erkunden unter Bezugnahme auf historische Spiel- und Gestaltungsformen des Kinder-, Lese- und Bilderbuchs facettenreich, was alles zur ‚Buchhaftigkeit‘ des Buchs gehört und mit ihr verbunden ist. MSE  















1 Walter Benjamin, der dem Kinderbuch und der Fibel mehrere Essays gewidmet hat, weist zumindest indirekt auch auf räumliche Aspekte des gestaltenden und des lesenden Umgangs mit Büchern hin – etwa, wenn er den von manchen Fibeln ausgehenden Anreiz betont, sich in die Bücher selbst hineinzuschreiben. Vgl. Teil A 5.2. 2 Die frühen kosmografischen Bücher mit ihren Volvellen waren Tristan Tzara bekannt und er ließ sich von ihnen inspirieren. Und Pierre-André Benoit, ebenfalls an der Form des beweglichen Buchs interessiert, schuf auf dieser Basis ein Künstlerbuch (vgl. Pelachaud 2010, S. 37). 3 Katja Deinert hat auf die Nähe zwischen Künstlerbüchern und Kinderbüchern hingewiesen (vgl. Deinert 1995, Kap. A.II.4.5.: „Ähnlichkeiten von Künstler- und Kinderbüchern“). Sie bezieht sich dabei auf die für beide Buchtypen oft charakteristische Verwendung besonderer Formen und Materialien, die Verwendung beweglicher Materialien und den spielerischen Charakter vieler solcher Bücher (vgl. ebd., S. 68). Zu Recht erinnert sie auch daran, dass viele Künstler Kinderbücher gemacht haben und dass manche Kinder- wie auch Künstlerbücher produzieren (vgl. ebd.). Ein prominentes Beispiel ist neben Munari auch Warja Lavater.  







C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben Differente Perspektiven auf das ABC ergeben sich aus seiner doppelten Eigenschaft als Buchstaben-Reihe und als Buchstaben-Reihe. Aus buchgestalterischer Sicht (vgl. dazu auch Teil C2) bietet das entsprechend mehrfache Anschlussstellen: (a) Die Buchstaben selbst sind sichtbare Figuren, die vielseitig gestaltet werden können; die verschiedenen Gestaltungsoptionen betreffen Form, Größe, Farbe und andere Qualitäten, aber auch Provenienz, Herstellungstechnik und kulturtechnische Aspekte (Kalligrafie, Typografie etc.) und sind teilweise auf besondere Weise semantisiert. (b) Die Buchstaben-Reihe ist ein vielfältig genutztes Anordnungsmuster, dessen Funktionalität im Zeitalter des Bücherlesens verschiedene Buchtypen und Modi der Buchgestaltung prägt (vgl. Illich 1991). Alphabetische Strukturen sind wichtige Orientierungshilfen in Büchern, die nicht linear gelesen werden können oder sollen; sie erleichtern (ähnlich wie Nummerierungen) aber auch bei linear-konsekutiv arrangierten Buchinhalten die Orientierung im Buchraum. Die unter anderem durch die alphabetische Anordnung bedingte leichtere Zugänglichkeit komplexer Buchinhalte eröffnet neue Möglichkeiten der Disposition von Inhalten. (c) Das ABC bzw. die Alphabetreihe repräsentieren metonymisch Schrift und Schriftlichkeit – sowie die mit diesen verbundenen kulturellen Praktiken und Denkweisen. Diverse neuere Forschungen gelten der Bedingtheit spezifischer Denkweisen und Erfahrungsmodi durch die Alphabetisierung und deren verschiedene Ausprägungsformen.4 Aus den verschiedenen Bedeutungsebenen des ABCs beziehen Werke der Buchkunst und der Buch-Literatur entsprechend ausdifferenzierte Impulse: (a) Die visuelle Gestaltung und das Arrangement von Buchstaben, etwa von Typogrammen und Buchstabenbildern, prägt in vielen Fällen die Buchgestalt nachhaltig und macht auf den visuell-buchstäblichen Aspekt von bookness aufmerksam. (b) Alphabetische Strukturierungen von Büchern oder Buchteilen verdeutlichen spezifische Handhabungsformen des Kodex. (c) Durch Inszenierung von buchinternen Schrift-Arrangements lassen sich die Grenzen zwischen Text und Bild verwischen und die Buchstaben als Bauelemente von Buchwelten interpretieren.  

C 1.1 Lettern im Schnittfeld bildkünstlerischer und literarischer Interessen Die Verwischung der Grenze zwischen Bild und Schrift ist als eine wichtige Grundtendenz der literarisch-künstlerischen Moderne betrachtet worden. Wolfgang Max Faust betont, welche Rolle dabei insbesondere die Buchstaben spielen. Viele Künstler übten 4 Die „Anordnung von Namen oder Themen in der Reihenfolge dieser Buchstaben [des Alphabets, Anm. d. Verf.]“ ist laut Illich „ein vergleichbarer technischer Durchbruch“ wie die Einführung der Alphabetschrift selbst. So wie eine Art „Wasserscheide“ die präalphabetische Kultur von der alphabetihttps://doi.org/10.1515/9783110528299-012

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Teil C Anfänge und Initiationen

sich „[…] im Erfinden von Bilderschriften und Hieroglyphen. Sie suchen eine Sprache der Zeichen, universal zu verstehen jenseits der natürlichen Sprachen. Das Bild bekommt Beziehung zur Bilder-Schrift, zum Ideogramm“ (Faust 1977, S. 16). Die Integration schriftlicher Elemente in Werke bildender Kunst und die vor allem im Bereich der Lyrik zu beobachtenden Akzentuierungen auf der visuellen Dimension von Texten illustrieren die Annäherungstendenzen von Literatur und Bild exemplarisch. Verschiedene Formen literarischen Schreibens stehen im Zeichen des Spiels mit Buchstaben (ABC-Texte, Texte mit und über besonders herausgehobene Buchstaben, Umsetzungen bestimmter buchstabenbezogener Spielregeln wie etwa im Lipogramm etc.). Prägend ist das Interesse am Buchstaben aber auch für verschiedene Bereiche bildkünstlerischer Gestaltung – sei es, dass es sich um Werke handelt, welche Buchstabenformen in eine Komposition einbeziehen (vgl. Werke von Josua Reichert, etwa Wo ist der Buchstabe von 1993), sei es, dass Buchstaben als solche künstlerisch gestaltet werden (wie in den von Robert Massin umfangreich dokumentierten Bildalphabeten). Im Überschneidungsbereich zwischen diesen literarischen und bildkünstlerischen Gestaltungsverfahren entstehen Werke, die sich nicht eindeutig der Literatur oder der bildenden Kunst zuordnen lassen. Dazu gehören Beispiele der Visuellen Poesie, die ja einerseits literarische Texte sind, andererseits aber als bildhaft wahrgenommen werden müssen; dazu gehören literarische Texte, in denen die Typografie auf besondere Weise eingesetzt wird, um Bildeffekte zu erzielen, dazu gehören Werke der bildenden Kunst, in die Texte einbezogen sind (etwa im Fall von Collagen). Die Buchstaben können insofern als Vermittler oder Scharnierstellen zwischen Literatur und bildender Kunst betrachtet werden, als sie zum einen die Elemente von Texten sind, zum anderen sichtbare Figuren, also Bilder (wenn auch nicht unbedingt im engen Sinn mimetisch-imitierender Abbilder). Insgesamt gibt es ganz verschiedene Wege, die visuelle Dimension von Buchstaben hervorzuheben und gestalterisch zu nutzen: so z. B. durch Gestaltung von Buchstabenbildern (von illuminierten Initialen oder Bildalphabeten), durch die Verwandlung und Verfremdung der Erscheinungsform von Buchstaben, die Verräumlichung von Buchstaben, durch Spiele mit der Oszillation des Buchstabens zwischen Bild und Schriftzeichen oder auch durch literarische Beschreibungen von Buchstaben als sichtbare, räumliche, bewegliche Dinge.  





Initialen und andere Buchstabenbilder seit dem Mittelalter. Initialen schmücken viele mittelalterliche Handschriften.5 Während die mittelalterliche Initial- und Miniaturmalerei ausgesprochen polychrom ist, sind die entsprechenden Darstellungen in

schen trenne (und zwar seit etwa 770 v. Chr. in Griechenland), so gebe es ein „Prä- und Post-Index-Mittelalter“ (vgl. Illich 1991, S. 109). 5 Ein berühmtes Beispiel ist das Book of Kells vom Ende des 8. Jahrhunderts. Auch in der Frühen Neuzeit blieb die Ausschmückung von Texten mit Initialen beliebt; in der Ära des Buchdrucks kam es unter neuen medientechnischen Voraussetzungen zur Erweiterung des Formenspektrums (vgl. Janzin/Güntner 2007, S. 193–195).  







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C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben

gedruckten Büchern zunächst schwarz-weiß. Schon früh experimentieren Drucker mit Verfahren farbiger Gestaltung der buchschmückenden Partien. Initialenbilder zeigen dem Betrachter vielfältige Wesen und kleine Welten, Szenen aus dem Alltag, aus Fabeln und Legenden, aus der Heiligen Schrift und anderen Texten. Im Mittelalter entwickelt sich die Kunst der Buchstabenmalerei; Robert Massin verweist in seiner kommentierten Anthologie La lettre et l’image (1970) auf merowingische und karolingische Buchmalereien als Vorläufer moderner Letternkunst. Abgesehen von dem schmückenden Effekt solcher Buchstabengestaltungen dürften sie wohl im oben skizzierten Sinn als Hommage an die Schriftzeichen zu sehen sein – begegnen sie doch im Umfeld sakraler Schriften und als künstlerisches Kernstück christlich-klerikaler Schrift-Kultur. Massin trägt eine Vielzahl von Beispielen für Buchstabenbilder und Schriftarrangements in Kunst und Alltagskultur zusammen und kommentiert sie – unter Einbeziehung der ostasiatischen Kultur – und im Zeichen wiederholter Brückenschläge zwischen mittelalterlicher und gegenwärtiger Buchstabenwelt (vgl. Massin 1970, S. 20ff.). Mittelalterliche Buchmalereien, Initialen und andere Buchstaben-Bilder nehmen dabei großen Raum ein. In der mittelalterlichen Buchgestaltungskunst finden sich viele Variationen der Grundidee vom vitalen, anthropomorphen und theriomorphen Buchstaben, Gruppen solcher ‚Buchstabenwesen‘, ganze szenische Darstellungen mit ‚lebendigen‘ Wesen, welche sich in der Form von Buchstaben darbieten. Neben dem Gellonischen Sakramentarium ist u. a. der Psalter von Corbie (bei Amiens, um 800) eine wichtige Fundstelle für aufwendig gestaltete szenische, mit menschlichen Figuren geschmückte Initialen.6 In anderen Werken der Buchmalerei zeigen sich vor allem phantastische Wesen (vgl. Massin 1970, S. 43). Manche sind monströs – und antizipieren die vielfältigen Monsterimaginationen späterer Künstler und Schriftsteller; Massin zieht Vergleiche zu Rabelais, Callot, Bosch, Grandville, Lear, Münchhausen. Und er betont die Autonomie vieler bildlicher Darstellungen gegenüber dem Text. Eine Abstimmung von Bild und Wort aufeinander, wie sie später jahrhundertelang die Buchillustration beherrscht, erfolgt in diesen Handschriften noch nicht – im Gegenteil.7 Zu den anthropomorphen Buchstabenbildern gehören neben Monsterbildern, Teufelsfratzen und seltsamen Akrobaten aber auch Darstellungen von Mönchen bei der Alltagsarbeit mit Axt und Dreschflegel. Insofern stellen die Buchstabenbilder nicht nur die ‚andere‘ Welt der Phantasiewesen dar, sondern auch die Alltagswelt.  















6 Vgl. Sacramentarium gelasianum, um 800, Bibliothèque Nationale de France, Département des Manuscrits, Latin 12048; Psautier de Corbie, um 800 (Bibliothèques d’Amiens métropole, Ms. 18). 7 Jedoch lassen sich Wort/Text-Bild-Bezüge im Corbie-Psalter feststellen: „Die D-Initiale zu Psalm 129 [sic], ‚De profundis clamavi‘ (Abb. 5), illustriert den Ruf aus der Tiefe durch die alttestamentliche Geschichte von Jona, der vom Wal verschluckt wird“ (vgl. Rehm 2002, S. 445). Ferner werde laut Rehm das gesprochene Wort – primär die korrekte Aussprache des Textes – in den Figureninitialen thematisiert (vgl. ebd., S. 448–450). Siehe auch Pulliam 2010, S. 97: „Figures that are not engaged in combat stand ready for it, such as at Psalm 34, where an armed figure points to the word pugna […].“  













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Teil C Anfänge und Initiationen

Der Topos belebter Buchstabenwelten. Wer in Buchstaben mehr sieht als bloß abstrakte Zeichen und einen Sinn für ihre Ähnlichkeit mit Dingen entwickelt, wird zugleich für die Buchstabenähnlichkeit der Dinge sensibilisiert. Robert Massins Rekonstruktion einer lettristischen Wahrnehmungsweise führt weit ins 19. Jahrhundert zurück, insbesondere zu Victor Hugo, der bei einer Alpenreise im Jahr 1839 Landschaftsformationen als Buchstaben gelesen hat und die Buchstaben des Alphabets bei dieser Gelegenheit als die Grundformen aller Phänomene interpretierte. Hugos Buchstabenphantasien schlagen eine komplementäre Lektüre vor: Die Elemente der Erscheinungswelt wie Objekte und Landschaften haben den Charakter von Lettern; Buchstaben wiederum sind Objekte; sie haben Physiognomien, sie bewegen sich, sie sind räumlich, Bestandteile von Architekturen; kurz: in ihnen ist die ganze Welt des Menschen in komprimierter Form gegenwärtig (vgl. Massin 1970, S. 86f.). Als Dinge gestaltet, fallen Buchstaben auf. Diesen Effekt machen sich vor allem solche Bücher zunutze, die der Alphabetisierung dienen, das ABC als solches erst einmal einprägen wollen: In ABC-Fibeln sind Buchstaben oft betont figural dargestellt. Daneben haben in der Geschichte des Lese- und Schreibunterrichts auch andere buchstabenförmige Objekte der Vermittlung von Lesekompetenzen gedient: essbare Buchstaben, Spiele und Spielzeuge mit Buchstaben etc. In Umberto Ecos Roman Il nome della rosa (Der Name der Rose) von 1980 wird an die Buchmalereien und Initialengestaltungen der mittelalterlichen Handschriften erinnert, um das Konzept des ‚lebendigen Buchstabens‘ in den Kontext einer Poetik der Imagination zu stellen: Die mit fabelhaften Wesen geschmückten Buchseiten in der Bibliothek des Klosters (vor allem die Arbeiten des Künstlers Adelmo) sind Inbegriff einer Kunst, die über die biedere Nachahmung des Bekannten hinausgeht und imaginierend in neue Dimensionen der Realität vordringt. Ein Buchstabenmaler steht am Anfang der ganzen komplexen Geschichte: der Mönch und Buchillustrator Adelmo, der ausnehmend lebendig wirkende Buchmalereien angefertigt hat, in denen die Lettern eigensinnige, teils provokante und häretische Spiele vollführen. Wahrscheinlich hat Robert Massins Buch über Buchstabenbilder und Bildalphabete Eco als Anregung gedient. Massins Bemerkungen zu den mittelalterlichen Initialenmalereien mit phantastischen Wesen nehmen Ecos Anspielungen auf die Buchgestaltungskunst der Mönche in manchem vorweg.8  



8 Massin deutet bereits diese Buchstaben-Figuren als Produkte einer aus volkstümlichen Phantasien gespeisten Kunst, die eine Gegenwelt entwirft und in Werken der Literatur wie der bildenden Kunst der Neuzeit ihre Fortsetzung findet. Schon er setzt diese fabelhafte Bilderwelt in Bezug zum Konzept der ‚verkehrten‘ Welt, das auch Eco aufgreift: Kunst entwirft ‚verkehrte Welten‘, um der wirklichen Welt einen Zerrspiegel vorzuhalten, auf dass sie sich erkenne. Eco akzentuiert gegenüber Massin stärker (und in der Spur von Michail Bachtin) die emanzipatorische Dimension der Phantasie; Massin legt eine solche Akzentuierung aber immerhin nahe, wenn er darauf hinweist, wie stark sich manchmal die Bilder gegenüber den Texten emanzipieren (denen sie doch eigentlich ‚dienen‘ sollten). Ecos Roman ist gerade anlässlich des Berichts über die Buchgestaltungskunst des toten Adelmo ein Roman über die Freiheit der

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C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben

Neuzeitliche und moderne Buchstaben-Kunst. In die Erfindung und Ausgestaltung anthropo- und theriomorph gestalteter Buchstaben haben seit dem Mittelalter Schriftund Buchkünstler immer wieder neue Phantasien investiert – bis hin zur Gegenwart (wo die Verschmelzung von Buchstabenform und Körperform u. a. oft zu Reklamezwecken eingesetzt wird, aber auch weiterhin künstlerischen Gestaltungsexperimenten zugrunde liegt). Massin vergleicht die Einstellung früherer Zeiten gegenüber den Buchstaben mit der modernen und diagnostiziert dabei eine Säkularisierung: Dem sprachmagischen Denken früherer Zeiten sei eine Tendenz gewichen, Buchstaben in den Dienst der immanenten Weltkonstruktion, insbesondere des Selbstentwurfs und der Selbstdarstellung zu nehmen. Eine wichtige Teil-Geschichte des Konzepts vom lebendigen Buchstaben spielt sich in der lettristischen Kunst der Avantgarden ab: bei Schwitters, den Futuristen, Dadaisten, den Neoavantgardisten der Nachkriegszeit: Hier werden Buchstaben auf auffällige Weise gestaltet und verfremdet, verwandelt, demontiert oder mit anderen Figurationen hybridisiert, um auf den Buchstaben als das künstlerische Material aufmerksam zu machen, um gegen die Regeln konventionellen Gebrauchs von Schrift und Schriftformen zu verstoßen, um Automatismen im Umgang mit Schrift aufzubrechen, Gestaltungspotenziale von Schrift zu entdecken – kurz: um Schriftkunst als Erfindungs- und Entdeckungskunst zu betreiben. Die Vertreter der Avantgarden machen im Zeichen dieses ästhetischen Verfremdungsprogramms Buchstaben oft zu Figuren, Akteuren, Trägern einer Physiognomie.  





Die Buchstabenreihe als Metonymie der Schrift- und Buchkultur. Massins umfangreiche Kollektion von künstlerisch gestalteten Buchstaben demonstriert, dass diese vielfach in der Mehrzahl auftreten. Zwar ist die ausgemalte Initiale als Einzelbuchstabe hervorgehoben, aber viele andere Buchstabenbilder machen gleich die ganze Alphabetreihe sinnfällig: Bildalphabete sind bis heute ein von Künstlern geschätztes Genre (vgl. etwa das ABC-Lehrbuch für Kaiser Maximilian I. Liber in usum et instructionem Maximiliani filii Friderici III. imperatoris alphabetum, oratio dominica, preces latino-germanicae etc., um 1465, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2368, oder das Macclesfield alphabet book, um 1500, London, British Library, Additional ms. 88887). Damit verbindet sich zumindest implizit eine Hommage ans Alphabet als einer kulturellen Institution von großer Tragweite. Das Alphabet wiederum kann als Metonymie der Schrift/Schriftlichkeit fungieren. Und so wird das Alphabet nicht zuletzt zum Anlass der Erinnerung daran, dass (auch) literarische Texte aus ‚Buchstaben‘ gemacht sind. Darstellungen der Alphabetreihe in bildender Kunst und Literatur korrespondieren diversen thematischen Feldern, die mit Alphabetisierung und Schriftlichkeit verbunden sind. So stimulieren sie zur Reflexion über verschiedene mediale  



Kunst und ihr subversives Potenzial. Wichtige Anregungen dafür gehen auf seine Auseinandersetzung mit bildlich gestalteten Initialen zurück, welche lebendige Buchstabenwesen zeigen und als solche Wesen den Rahmen der natürlichen Schöpfung sprengen.

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Teil C Anfänge und Initiationen

Funktionen von Schrift und über diverse Facetten von Schriftlichkeit. Damit verbinden sich u. a. Anspielungen auf die Funktion von Schrift als Wissensvermittlerin, manchmal auch eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Alphabets als Organisationsform von Wissen. Das Erlernen des ABCs als Basis der Alphabetisierung steht am Anfang des Erwerbs jeglicher Form von Lese- und Schreibkompetenz. Schul- und Unterrichtsbücher, wie sie in der Nachfolge des Orbis sensualium pictus von Johann Amos Comenius entstanden, exponieren die Buchstaben oft in besonderer Weise.9  

C 1.2 Fibeln als Initiationsbücher ABC-Bücher, die primär der Vermittlung des Alphabets selbst dienen und dieses entsprechend in den Mittelpunkt rücken, sind die ersten und prägendsten Bücher für lernende Kinder. Die Art und Weise, wie ABC-Bücher Kinder an das Alphabet und damit an die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens heranführen, verrät viel über die Rahmenbedingungen solcher Unterweisung, über anthropologische, psychologische und didaktische Prämissen, über das Selbstverständnis historischer Kulturen, Bildungsinstitutionen und Wissensgesellschaften (vgl. den Überblick im Artikel „Fibel“ in Rautenberg 2015, S. 163–165). Johann Heinrich Campe schafft ein Bilder Abeze, das zuerst in seinem Abeze- und Lesebuch erscheint (1778; vgl. Campe 1975, zum Publikationskontext S. 59–75). Auch Karl Philipp Moritz setzt sich in seinem Neue(n) ABCBuch (1794) engagiert für die Alphabetisierung kleiner Kinder ein und verknüpft die Präsentation der Buchstaben mit vielfachen Belehrungen (vgl. Moritz 1980). Sein ABCBuch versteht sich als ein Schlüssel zur Welt in Buchform. Die einzelnen Buchstaben werden zum Anlass, am Leitfaden des Alphabets Elementares aus verschiedenen Wissensbereichen bildlich und sprachlich zu repräsentieren. Die Welt, so wird suggeriert, lässt sich ‚zusammenbuchstabieren‘, wenn man nur die Buchstaben beherrscht. Auf das Genre des ABC-Buchs, der Lesefibel, des Schreiblernheftes und ähnlicher Hilfsmittel der Alphabetisierung nehmen literarische und bildkünstlerische Werke vielfach Bezug. Erstens werden entsprechende ABC-Texte zum Gegenstand der Darstellung, in der Literatur etwa zum Gegenstand des Erzählens oder Beschreibens, in der bildenden Kunst zum dargestellten Motiv. Zweitens orientieren sich gelegentlich literarische Texte oder bildkünstlerische Arbeiten an der Form des ABC-Textes, der Fibel etc., übernehmen also typische Bildelemente und Kompositionsverfahren. Hinzu kommt das Einmontieren von Elementen aus ABC-Fibeln in literarische oder bildkünstlerische Werke. Im Spiegel literarischer Texte erfährt die ABC-Fibel ganz verschiedene  



9 Johann Amos Comenius’ Orbis sensualium pictus (lat. 1653; dt.-lat. 1658; div. weitere Ausgaben) ist nicht alphabetisch aufgebaut, aber er kombiniert Bilder von Gegenständen mit deren gedruckten Namen – in den mehrsprachigen Ausgaben demnach entsprechend mit mehreren Namen – sowie mit Einzelbuchstaben, über deren Aussprache der Leser belehrt wird. Eine Druckausgabe befindet sich in der Universitätsbibliothek Heidelberg: Comenius 1698 (Signatur: N 699 RES).  



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C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben

Interpretationen bzw. Semantisierungen. Zum einen handeln Texte (u. a. z. B. Autobiografien, Biografien, Bildungsromane) davon, wie sich angehenden Lesern die Welt vom ABC-Buch – und das heißt letztlich: von den Namen, von der Sprache – her erschließt, bzw. wie in ein ABC-Buch kondensiertes Welt-Wissen eingeht, um so an die nächste Generation überliefert zu werden. Zum anderen wird die Form des ABC-Buchs zum Modell für Nonsense-Texte, die mit dem Anspruch des Lesers auf Entschlüsselung irgendeines Sinns zumindest ihr Spiel treiben, wenn sie diesen nicht sogar ganz brüskieren (vgl. Liede 1992, S. 82–90). Die Form des durch die Buchstabenreihe strukturierten Bilderbuchs hat bis heute nicht an Attraktivität verloren; dies belegen etwa Nikolaus Heidelbachs komplementäre ABC-Bilderbücher Was machen die Mädchen? und Was machen die Jungs?, in denen die Namen der nacheinander abgebildeten Kinder jeweils mit den aufeinander folgenden Buchstaben des Alphabets beginnen (Heidelbach 1993; Heidelbach 1999). Auch ist der Abecedarius seit Jahrhunderten gern als Modell für satirische, unterhaltsame, experimentelle Gedichte genutzt und entsprechend in literarisch-poetischen ABC-Büchern realisiert worden. Als Beispiel aus jüngerer Zeit genannt sei Paul Floras Büchlein Das Üble Alphabet: Es enthält, entlang der Buchstabenreihe, jeweils Bilder und Verse zu den einzelnen Buchstaben, in denen „üble“ Dinge genannt und illustriert werden (vgl. Flora 1986).  









Jean Pauls ABC-Buch-Roman: Leben Fibels des Verfassers der Bienrodischen Fibel (1812). In seinem Roman über das Leben Fibels (1812, vgl. Teil E1.2) schreibt Jean Paul seinem Titelhelden die Erfindung und Herstellung eines sächsischen ABC-Buchs vor – und preist diesen Helden dafür humoristisch, als habe dieser die Schrift selbst erfunden. Mittels einer Taschendruckerei druckt Fibel sein Fibelwerk selbst, unterstützt durch einen Magister und einen Koloristen. Den Hauptteil der Fibel bilden illustrierte Verspaare wie der zum A: „Ein Affe gar possirlich ist,/Zumal wenn er vom Appfel frißt“ (Jean Paul 2000b, S. 555). Sie zentrieren sich um Lernwörter, die mit dem jeweiligen Buchstaben beginnen, ergeben aber oft kaum Sinn, wie der Spruch zum H: „Gebratne Haasen sind nicht bös/Der Hammer giebt gar harte Stöß“ (ebd., S. 557). Fibels Biograf lobt das ABC-Buch als ein enzyklopädisches Werk. Dieses sichert Fibel, wie sein Biograf betont, seinen Rang als Lehrer der alphabetisierten Menschheit. Jean Pauls Fibel-Roman enthält vielschichtige Reflexionen über Schrift und Schriftlichkeit, über schriftstellerische Arbeitsprozesse, verschiedene Schriftsysteme, über Voraussetzungen und Formen schriftlicher Kommunikation, aber auch über die Materialien von Texten und Büchern, über physische Arbeitsprozesse und deren Rahmenbedingungen.  





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Teil C Anfänge und Initiationen

Abb. C 1: Jean Paul: Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel (1812). In: ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 6. Hg. von Norbert Miller. Darmstadt 2000, S. 555.  







Walter Benjamin und der Reiz des ABCs. Bei Benjamin rücken die physisch-sinnlichen Erscheinungsbilder der Buchstaben ins Zentrum des Interesses – die ‚Materialität‘ des ABCs in mehrfachem Sinn. Er betont vor allem den Schwellencharakter von Kinderbüchern, die das lesende Kind zum Eintritt in ihre Welt ermuntern (vgl. Benjamin 1980a). Hier sind neuartige, einer anderen als der vertrauten Logik gehorchende Ordnungsbeziehungen zu entdecken. Dieses (subversive) Potenzial der ABC-Bücher entfaltet sich im Zusammenspiel zwischen Lettern und Bildern. Es gebe, so Benjamin in seinem Aufsatz Aussicht ins Kinderbuch, „ABC-Bücher, welche in Bildern ein […] Spiel treiben. Da findet man z. B. auf der Tafel A ein Stilleben aufgetürmt, das sehr rätselhaft wirkt, bis man dahinter kommt, daß hier Aal, ABC-Buch, Adler, Apfel, Affe, Amboß, Ampel, Anker, Armbrust, Arznei, Ast, Aster, Axt sich versammelt haben“ (ebd., S. 610). Gerade solche Bilder stimulieren das Kind zur Beschreibung, zur ‚Erschreibung‘ der Welt. Ein besonderes Faszinosum bilden jene karnevalistisch anmutenden Darstellungen verkehrter Welten, in denen die Buchstaben als Akteure auftreten; sie sind „Maskerade, übermütige Stegreifposse, in welcher Menschen sich auf den Kopf stellen […]“ (ebd., S. 611). Benjamin erinnert an eine Folge von vierundzwanzig Blättern „[…], die die Buchstaben selber vermummt […] vorführten. F tritt in  







C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben

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der Verkleidung eines Franziskaners, K als Kanzlist, T als Träger auf“ (ebd.). Als Protagonisten des Geschehens bilden die Buchstaben in solchen Büchern einen Hof von Gegenständen um sich und sorgen dafür, dass der angehende Leser sein Leben lang diese Gegenstände unter dem Regiment jener Buchstaben stehen sieht. „Die Älteren unter uns haben noch den Hut dienstfertig beim h hängen, die Maus harmlos am m knabbern sehen und das r als den dornigsten Teil der Rose kennen gelernt“ (Benjamin 1980b, S. 619, Hervorhebungen im Original). Benjamins Reflexionen über den weltgestaltenden Eigensinn des ABCs finden anhaltende Resonanz bei Schriftstellern, die sich der Erkundung des Buchstabenuniversums verschrieben haben (vgl. Tawada 2000, S. 157), einer Welt, in der die Lettern den Status von Subjekten besitzen oder doch reklamieren (vgl. ebd., S. 155). Schon in Benjamins Reflexionen über ABC-Bücher deutet sich an, dass das Eigenleben der Buchstabenwelt etwas mit Eigensinn zu tun hat (vgl. Benjamin 1980a, S. 611). Die Art, wie die Buchstaben Dinge um sich scharen, hat etwas Revolutionäres, insofern die entstehenden Gruppierungen sich konventionellen Vorstellungen widersetzen, und im Spiegel der Benjaminschen Schilderung können die Aktionen der Buchstaben auch als Allegorien politischer Praxis gelesen werden. Analoges gilt für die Form des Rebus, die Benjamin ebenfalls kommentiert hat. Er charakterisiert Grandville, den Rebus-Künstler, als Entdecker des subversiven Potenzials solcher Bilder- und Buchstabenrätsel. Grandville habe eine von Buchstaben bewohnte und beherrschte Gegenwelt entworfen (vgl. Benjamin 1980c, S. 623).  









C 1.3 Abecedarische Romane: Michael Ende, Günter Grass Michael Ende: Die unendliche Geschichte (1979). Michael Ende lässt 1979 die Kapitel seines Romans Die unendliche Geschichte konsekutiv mit den verschiedenen Buchstaben des Alphabets beginnen und unterlegt seinem Buch insofern das ABC als Matrix – abgestimmt auf den Inhalt, die Darstellung von Lektüreprozessen und ihren Folgen (vgl. Ende 1979). Die einzelnen Kapitel beginnen mit den verschiedenen Buchstaben des Alphabets in geläufiger Folge; das erste Kapitel beginnt mit einem A, das zweite mit einem B, das dritte mit einem C etc. Diese Buchstaben sind als Bilder gestaltet, ähnlich wie in alten Handschriften die Initialen. Die Welt der Literatur entsteht hier buchstäblich aus den Buchstaben. Endes Thema und sein durch die Buchform konkretisiertes Projekt ist Kontingenzbewältigung; die scheinbar entlegensten Dinge korrespondieren einander in seiner Romanwelt, alles macht ‚Sinn‘, wenn man es im Horizont der Traumlogik des Romans liest. Gerade die abecedarische Struktur hat jedoch – wohl gegen die Intention des Autors – etwas Willkürliches. Sie wirkt schon deshalb konstruiert, weil die Initialen für die Inhalte der jeweiligen Kapitel nicht oder nur gelegentlich relevant, jedenfalls nicht handlungstragend sind. Um überhaupt ein Arrangement zu treffen, das die entsprechende Verwendung der Buchstabenreihe an Kapitelanfängen möglich macht, greift Ende u. a. zu der Lösung, einzelnen Figuren  







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Teil C Anfänge und Initiationen

alphabetisch ‚passende‘ Namen zu geben und mit ihrer Nennung das jeweilige Kapitel anfangen zu lassen. Dabei ist die alphabetische Struktur der Kapitelanfangs-Sequenz eben keine bloß ornamentale Zutat: sie korrespondiert der Bedeutung, die Wörter und Namen auf inhaltlich-thematischer Ebene haben. Günter Grass: Grimms Wörter als ABC-Text. Günter Grass’ Roman Grimms Wörter (2010; vgl. auch Teil D „Sprachen und ihre Bücher“) ist ein Wörterbuch-Text im dreifachen Sinn: ein Text über ein Wörterbuch, ein Text in wörterbuchanaloger Form und aus Wörterbüchern zitierender Text. Die Entstehungsgeschichte des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm wird durch den Erzählerbericht eng mit dem Verlauf der deutschen Geschichte verknüpft: beginnend bei der politischen Maßregelung der Brüder, dem Anlass für die Aufnahme der Arbeit am Wörterbuch – bis hin zur Darstellung der Geschichte des Projekts nach dem Tod der Brüder Grimm vor dem Hintergrund der wechselhaften Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Die paratextuelle Ausstattung von Grimms Wörter bekräftigt die doppelte thematische Zentrierung auf Wörterbuch und jüngere Geschichte: Als Faksimiles reprografiert finden sich das Titelblatt vom ersten Band des Deutschen Wörterbuchs und dessen Anfang (Bd. 1, Sp. 1–4: „A“, „Ä“, „AA“) sowie eine zeitgenössische Abschrift des Protestbriefs der Göttinger Sieben. Auf makrostruktureller Ebene bestehen Korrespondenzen zur dominanten Organisationsform des Wörterbuchs; das Alphabet organisiert den Roman. Davon ist zunächst die Folge der Kapitel betroffen: Die einzelnen Kapitel stehen hinsichtlich des verwendeten (und dabei oft explizit reflektierten) Vokabulars jeweils im Zeichen dominierender Buchstaben, und ihre Sequenz korrespondiert der alphabetischen Folge dieser Buchstaben.10 Die den Kapiteln vorangestellten Buchstaben, die die Funktion von Initialen übernehmen, sind grafisch hervorgehoben wie echte Initialen: Einem flächig gemalten, dabei an Drucktypen erinnernden farbigen Buchstaben zugeordnet ist jeweils sein gleichfarbiger, wenn auch heller getönter Schatten: Dieser besteht aus einer Fläche, in die handschriftlich allerlei Wörter eingetragen sind, die mit dem Buchstaben beginnen, dies aber nicht ordentlich-linear, sondern kreuz und quer, einander überschreibend, manchmal zu Haufen getürmt. So erscheinen die Wörter, ja die Sprache selbst als Schatten der Buchstaben; wo diese statisch und monumental wirken, gestaltet sich das in der Schattenzone Geschriebene als ein lebendiges Gewirr.  







10 Schon die Titel der Einzelkapitel lassen die Orientierung am Alphabet ahnen, auch wenn sich keine vollständige Buchstabenreihe ergibt („Im Asyl“, „Briefverkehr“, „Die Cäsur“, „Däumeling und Daumesdick“, „Der Engel, die Ehe, das Ende“, „Bis die Frucht fiel“, „Vom Friedhof zu endlosen Kriegen“, „Ungezählte Kuckucksrufe“, „Am Ziel“). Auch mikrostrukturell wirken sich die jeweils kapitelbeherrschenden Buchstaben – bedingt durch das jeweils bevorzugte Vokabular – auf den Text aus.  



C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben

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C 1.4 Das ABC als Muster Im 20. Jahrhundert wird das Alphabet auf vielfältige Weisen künstlerisch gestaltet, werden Buchstabenfolgen an oft ungewöhnlichen Orten entdeckt.11 Keith Smith, Maurizio Nannucci, Marcel Broodthaers und andere Buchkünstler nutzen die alphabetische Struktur für ihre Künstlerbücher;12 Hanne Darboven schafft eine abc enzyklopädie/00-99/heute (1988). Wiederholt wurde das ABC in Pop-up-Konstruktionen dargestellt.13 Marion Batailles ABC3D führt diese Tradition fort. Hier poppen auf den Doppelseiten die papierarchitektonisch komplex gestalteten Buchstaben des Alphabets auf sehr abwechslungsreiche Weise auf (Bataille 2008). Manchmal muss man auch zweimal hinsehen, bevor man sie erkennt, das heißt, man muss als Betrachter zunächst einmal das „Lesen“ lernen. Manche Pop-up-Bücher stehen auch in der Tradition des Orbis pictus, so etwa David Pelhams Pop-up-Buch A is for Animals (Pelham 1991). Beim Durchblättern bewegt man sich durch insgesamt 13 Seiten, verteilt auf sieben Doppelseiten (die erste Seite ist leer). Auf jeder Seite sind zwei aufklappbare rechteckige Papierkonstruktionen in Heftchenform montiert, auf deren Oberseite der jeweilige Buchstabe des Alphabets steht, einmal groß-, einmal kleingeschrieben. Klappt man diese Buchstaben-Heftchen auf, so poppen Tierfiguren auf. Sie stellen Tiere dar, deren Name mit dem jeweiligen Buchstaben beginnt – präsentieren insgesamt also ein animiertes Bestiarium. Jean-Marc Fiess hat mit ABC 5 Langues (Fiess 2013, dt. 2014) ein fünfsprachiges Pop-up konstruiert. Blättert man das Buch durch, so begegnet man auf den insgesamt 14 Doppelseiten, die man aufklappt, nacheinander den Buchstaben des Alphabets, und zwar jeweils paarweise. Doppelseite 1 ist dem A und dem B gewidmet, Doppelseite 2 dem C und dem D. etc. Auf den Doppelseiten finden sich, den einzelnen Buchstaben zugeordnet, jeweils Vokabelgruppen, gebildet mit Vokabeln aus fünf Sprachen (Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch). Diese Wörter bedeuten dabei jeweils dasselbe. Beim A etwa stehen die Gruppen „ADVENTURE/AVENTURE/ABENTEUER/AVENTURA/AVVENTURA“ und „ANCHOR/ANCRE/ANKER/ANCLA/ANCORA“; beim B dann „BOAT/BATEAU/BOOT/  



11 Max Liebermann etwa schafft Ein ABC in Bildern (mit begleitenden Worten von Richard Graul. Berlin 1908). Karl Bloßfeldt entdeckt in pflanzlichen Figurationen buchstabenähnliche Formen (vgl. Bloßfeldt 2007). 12 Vgl. Smith, Keith 1985a: Das Alphabet verschwindet hier sukzessiv, Buchstabe für Buchstabe, aus dem Buch. Auf den jeweiligen Rückseiten der Einzelseiten sind die vorne ‚verschwundenen‘ Buchstaben zu sehen. Maurizio Nannuccis M40/1967 (1976) ist ebenfalls auf das Alphabet gegründet (vgl. Drucker 1995a, S. 180f.). Vgl. auch Dieter Roths Ohne Titel (Alphabet, Stempelzeichnung zu Mundunculum) (1965) und Mundunculum (1967), in Vischer/Walter 2003, S. 86–89. 13 Trebbi nennt in seiner illustrierten Darstellung zur Geschichte des Pop-ups eine Reihe von Beispielen: The Daily express ABC, London (Daily Express) um 1930; Multiplan Alphabet, ABC, Frankreich (Albums du Gai Moulin), um 1950; Jo Zagula: ABC, Mulhouse (Lugos) um 1950; Lucie Atwell’s Pop-up-Book, ABC, 1979 (Dean) sowie Robert Crowthers The Most Amazing Hide-an-Seek Alphabet Book“, New York (Kestrel Books/Viking Press) 1977.  



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Teil C Anfänge und Initiationen

BARCO/BARCA“ und „BUOY/BUÉE/BOJE/BOYA/BOA“. Auf den Doppelseiten poppen jeweils Papierkonstruktionen mit Objekten auf, die zu den Vokabeln passen, so zeigt die A/B-Seite ein Schiff, einen Anker und eine Boje. Das Alphabet als Ordnungssystem. Dass in alphabetischen Wissenskompendien die Gegenstände in der alphabetischen Folge ihrer Namen präsentiert werden, erzeugt eine große Disponibilität: Mehr als den Namen eines Gegenstandes bzw. mehr als eine Vokabel selbst braucht man nicht zu kennen, um im alphabetischen Buch die gewünschten Informationen über Gegenstand bzw. Vokabel zu finden. Andererseits ist die alphabetische Ordnung von Wissensbeständen aber beliebig (kontingent, nichtsachgegründet); streng genommen ist sie willkürlich – was u. a. dann evident wird, wenn man z. B. ein deutsches und ein englisches Konversationslexikon vergleicht: Die gebotenen Informationen folgen einer ganz anderen Anordnung, weil die Namen der Dinge andere sind. Die einzelnen Artikel eines alphabetisch strukturierten Lexikons sind selbstständige Einheiten; ihre Nachbarschaft ist allenfalls von beschränkter Bedeutung (dann nämlich, wenn die Inhalte in der Umgebung des Artikels unter aus sachlichen Gründen verwandten Namen vorgestellt werden). Generell beruht die alphabetische Präsentation von Wissen jedenfalls auf einer Fragmentierung des Wissens (dieses wird in Segmente aufgeteilt, in ‚Häppchen‘), und sie bekräftigt diese Fragmentierung, insofern sie Wissensbruchstücke liefert. Alphabetisch aufbereitete Informationsträger spielen das Alphabet gegen alle anderen Ordnungssysteme aus: gegen das chronologische, gegen das sachsystematische – und gegen die Anordnung nach Prioritäten. Die alphabetische Ordnung ist antihierarchisch, antikausal und achronologisch. Lädt die Form einer Darstellung von A bis Z dazu ein, Unterschiedliches miteinander zu kreuzen, verschiedenartige Dinge und Themen nebeneinander zu platzieren, Diskurse zu hybridisieren, so lassen sich Kontrasteffekte auf inhaltlicher wie auf diskursiver Ebene erzeugen. Wegen der Möglichkeit, sachlich und diskursiv Disparates zu verkuppeln, besteht eine Affinität zu satirischen und parodistischen Schreibweisen: Die erzeugten Kontraste können entlarvend wirken, das scheinbar vermittelte Wissen kann sich als abstrus erweisen. Alphabetisch organisierte Texte erinnern an Formen sachlicher Wissensvermittlung, an Wörterbücher – und gerade darum können sie subversiv eingesetzt werden, etwa als Medien eines unnützen, alternativen oder fragwürdigen Wissens. Die (Schein-)Ordnung des Alphabets erinnert nicht zuletzt an die Kontingenz, Geschichtlichkeit und Kulturspezifik aller Organisationsformen von Wissen. Die Einsicht in die Kontingenz des Alphabetischen kann zum einen negativ akzentuiert werden (als Einsicht in die Nichtexistenz irgendeiner verbindlichen Ordnung), sie kann neutral als Inbegriff für die Geschichtlichkeit und Kulturspezifik von Ordnungen reflektiert werden – und sie kann positiv akzentuiert werden: als Voraussetzung eines freien, experimentellen Spiels mit fragmentierten Inhalten.  











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C 1 ABC, Alphabet, Buchstaben

Paul Mersmanns ABC-Bücher. Paul Mersmanns ABC-Bücher (vgl. 26 Blätter zur Förderung der Legendenbildung um Gutenberg (2004); La doux Marmelade (2004); Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst (1989); Das ikonographische A.B.C (1988); Tautognomisches A.B.C. (1988); Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper (1988)) entstanden in den späten 1980er Jahren und 2004, konfrontieren den Betrachter mit Gegenwelten, welche der (scheinbar) vertrauten Welt manchmal auf eine Weise ähneln, die grotesk-komisch, aber auch fatal wirken kann. Aus Bild- und Textanteilen komponiert, die oft an das Zusammenspiel von Sinnbild und Bildlegende erinnern, lassen die Blätter der ABC-Bücher an emblematische Strukturen denken, brüskieren aber das Begehren nach Entschlüsselung. Die einzelnen Blätter sind handbeschriftet; die Textanteile unterscheiden sich vielfach in Schriftgröße, Farbe und Schriftduktus – so, als stammten die Textpassagen von verschiedenen Instanzen oder seien doch in zeitlichen Abständen voneinander verfasst worden. Kombiniert finden sich verschiedene Texttypen: Titel, Erläuterungen zu einzelnen Bildmotiven, auf die Gesamtkomposition bezogene Bildlegenden, narrative Passagen, Zitate, reflexive Kommentare, alphanumerische Angaben, Signaturen, Stempel etc. Alle diese Textelemente sind Bestandteile der Bildkompositionen, keine vom Malerischen separierbare Texte zum Bild. Ihre Beziehung zu den malerischen Darstellungen sowie untereinander ist spannungsreich, oft auch rätselhaft. MSE  

C 2 ABC-Bücher In ihrer ursprünglichen Verwendung als Elementarlehrbücher gehören ABC-Bücher seit Jahrhunderten zum Grundbestand der Kinderliteratur, die ältesten an Kinder adressierten Drucke stammen bereits aus dem 16. Jahrhundert.14 Das Genre des ABCBuchs ist schwer einzugrenzen, da es sich um einen „Sammelbegriff für verschiedene Typen nach dem Alphabet geordneter, elementarer Buchstabier- und Leselern-, Lehr-, Unterweisungs- und Unterhaltungsbücher für das Leseanfangsstadium der Kinder“ handelt (Brüggemann 1977, S. 1), zu denen auch Bücher gehören, die das Alphabet als Ordnungsschema des Wissens nutzen (vgl. auch Teil C 1), wie beispielsweise alphabetisch geordnete Ausgaben des Orbis pictus.15 Während bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ABC-Bücher für die Selbstbeschäftigung zu Hause oft nicht eindeutig von Fibeln abgegrenzt werden können, die im Unterricht eingesetzt werden (um Schulbücher werden hier nicht behandelt), hat sich seitdem eine separate Entwicklung vollzogen.  





Variable Funktionen. Als Leseeinstiegsbücher bilden ABC-Bücher die Grundvoraussetzung für den Umgang mit Literatur. Sie haben damit eine Schlüsselfunktion im Prozess des Lesen- und Schreibenlernens und sind prinzipiell darauf angelegt, mehrfach und intensiv rezipiert zu werden. Inhaltlich sind sie – je nach spezifischer Ausrichtung – an den Schnittstellen zwischen Sachbuch, Bilderbuch und literarischem Text zu verorten, die Übergänge sind fließend. Im Lauf der historischen Entwicklung haben sich ABC-Bücher von ihrer ursprünglichen Aufgabe, der Alphabetisierung, entfernt und andere Funktionen übernommen: Thematische ABC-Bücher vermitteln alphabetisch geordnetes Allgemein- oder Spezialwissen, mehrsprachige bieten Unterstützung beim Erlernen von Fremdsprachen, ABC-Bücher regen mit Rätseln, Nonsensversen und Sprachspielen zur Beschäftigung mit Sprache und Literatur an, künstlerisch und typografisch anspruchsvoll gestaltete ABCs leisten einen wichtigen Beitrag zur Kunsterziehung, Spiel- und Verwandlungsbücher laden zur Erkundung von Büchern als mehrdimensionalen Objekten ein, auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtete ABC-Bücher führen in die Brailleschrift und die Gebärdensprache ein. Der Rahmen des ABC-Buchs ist durch das Alphabet festgelegt, aber innerhalb dieser formalen Ordnung bietet sich eine Vielzahl von Variations 



14 Der 1527 in Erfurt erschienene Band Die rechte weis aufs kurtzist lesen zu lernen von Valentin Ickelsamer gilt als eine der ersten methodischen Anweisungen zum Elementarunterricht in deutscher Sprache. 15 Während der Orbis sensualium pictus von Johann Amos Comenius systematisch in 150 Kapitel unterteilt ist und somit keinen Bezug zum ABC hat, wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts der Name Orbis pictus zunehmend als Titel für alphabetisch geordnete Bildwörterbücher unterschiedlichster Art verwendet, bei denen oft lediglich Begriffe aus verschiedenen Themengebieten, die mit dem gleichen Anfangsbuchstaben beginnen, auf einer Tafel zusammengefasst werden.  

https://doi.org/10.1515/9783110528299-013

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Teil C Anfänge und Initiationen

möglichkeiten. Häufig ergibt sich der Reiz von ABC-Büchern gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem durch die Buchstabenfolge vorgegebenen festen Ordnungsprinzip und der Freiheit, diese Ordnung durch phantasievolle Bild-TextKombinationen, ungewöhnliche Typografie, humoristische Einfälle, überraschende Zuordnungen, Sprachspiele oder Abweichungen von der korrekten Schreibweise zu brechen.16

C 2.1 Geschichte des ABC-Buchs Im Lauf ihrer Entwicklung waren ABC-Bücher, die zu den ältesten Kinderschriften überhaupt gehören, Wandlungsprozessen unterworfen, die zu formalen und inhaltlichen Änderungen führten und auch ihre Funktion erweitert haben. Frühe ABC-Bücher aus dem 16. Jahrhundert hatten „ganz allgemein die Funktion nicht spezialisierter Elementarlehrwerke“ (Brunken 1987, Sp. 67), in denen neben dem Alphabet und Leseübungen auch Ziffern, Rechenanleitungen und der Katechismus enthalten waren. Besondere Verbreitung erlangte diese Form des Kinderbuchs in der Zeit der Reformation, mehrere Reformatoren verfassten selbst Kinderkatechismen mit ABC-Tafeln. Besonders bekannt und verbreitet waren Philipp Melanchthons Handbüchlein wie man die kinder zu der geschrifft und lere halten sol (Wittenberg 1524) und der Parvus catechismus pro pueris in schola von Martin Luther (Wittenberg 1529). Im 17. Jahrhundert erschienen zunehmend ABC-Bücher, die vorrangig oder ausschließlich für den Schriftspracherwerb bestimmt waren. Als Anreiz zum Lernen wurden bereits gezielt mnemotechnische Hilfen wie Bilder, Rätsel und Spiele eingesetzt. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wurden einige besonders reich illustrierte ABC-Bücher im Stil des Barock verlegt. Solche aufwendig gestalteten Drucke waren allerdings nur Kindern aus dem Adel oder dem höheren Bürgertum zugedacht und zugänglich. In der Zeit der Spätaufklärung Ende des 18. Jahrhunderts bemühten sich unter dem Einfluss des Philanthropismus viele Autoren von ABC- und Lesebüchern um altersgemäße Darstellung und kinderfreundliche Gestaltung, die das ‚lustbetonte Lesen‘ unterstützen sollten. Bei den philanthropischen Pädagogen hatte die tätige Wissensvermittlung durch Hand- und Bastelarbeiten sowie durch Spiele einen hohen Stellenwert. Zum Erlernen des ABCs wurden deshalb häufig Leselernspiele eingesetzt. Diese ABC-Bücher und Fibeln enthielten entweder Faltblätter, aus denen die Buchstabenkarten selbst ausgeschnitten und koloriert werden konnten, oder den Texten wurden bereits fertige Karten beigegeben (vgl. Voit um 1800).  









16 Letzteres wird vor allem für die in den jeweiligen Sprachen selten vorkommenden Buchstaben angewendet, zu denen nur wenige passende Begriffe gefunden werden können, im Deutschen beispielsweise für X und Y.

C 2 ABC-Bücher

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Gesteigerte Nachfrage und Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert. Im Zuge der allgemeinen Alphabetisierung stieg die Nachfrage nach Kinderbüchern zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich an. Durch den Ausbau des Schulwesens wurde die Herausbildung von Schulbüchern gefördert, die ausschließlich im Unterricht eingesetzt wurden. Es setzte eine Trennung zwischen der Fibel als Schullektüre und dem ABC-Buch für die häusliche Beschäftigung ein. Das von seiner ursprünglichen Funktion als elementarem Lehrbuch befreite ABC-Buch entwickelte sich damit zu einer Gattung des Bilderbuchs, die Illustratoren Anreiz zu künstlerischer Gestaltung bot. Einige der bedeutendsten deutschen Illustratoren schufen ABC-Bücher, darunter Ludwig Richter,17 Franz Pocci (vgl. Pocci 1855/1856 und 1860), Oscar Pletsch (vgl. Pletsch 1861), Rudolf Geißler (vgl. Geißler 1872) und der Scherenschnitt-Künstler Karl Fröhlich (Fröhlich 1855). Parallel zu den ABC-Büchern erschienen Alphabete auch in Form von Bilderbogen genannten Einblattdrucken, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet waren und auch als Kinderschriften vertrieben wurden. Als Bilderbogen wurde sowohl das ganze ABC in typografischer Gestaltung auf einem Blatt angeboten, wie ein bei Renner herausgegebener Alphabet-Bogen zeigt,18 der in Golddruck das ABC und die Zahlenfolge bis 24 abbildet, als auch in Form von Einzelbogen, die jeweils einem Buchstaben gewidmet waren, wie ein 1828 bei Winckelmann in Berlin erschienener Buchstabenbogen.19 Mit der zunehmenden Verbreitung von Spiel- und Verwandlungsbüchern Ende des 19. Jahrhunderts entstanden auch ABC-Bücher mit Bewegungsmechanismen, wie Lothar Meggendorfers Drehbilder-ABC (Meggendorfer 1898). Die zunehmende Akzeptanz von Humor und Komik im deutschen Kinderbuch in der Nachfolge von Wilhelm Busch und die freiere künstlerische Interpretation des Modells ABC-Buch brachten auch karikierende und humoristische Varianten hervor (vgl. Busch 1864/1865 und Meggendorfer 1914). Um die Jahrhundertwende erhielt das ABC-Buch durch die buchkünstlerische Entwicklung im Jugendstil wichtige Impulse, die Illustration, Typografie und Text zu einer kompositorischen Einheit verbinden, nach dem Ersten Weltkrieg entstanden einige berühmte ABC-Bücher und Fibeln, die durch den Expressionismus (vgl. Felixmüller 1925) bzw. durch die Neue Sachlichkeit (vgl. Seidmann-Freud 1930) beeinflusst wurden.  







17 Ludwig Richter schuf neben Robert Reinick, Eduard Bendemann, Ernst Rietschel u. a. mehrere Illustrationen in dem sehr erfolgreichen Band Reinick 1845. 18 Renner, Nürnberg: Alphabet, ca. 1840. 19 Winckelmann, Berlin: Bilderbogen zum Buchstaben A, 1828.  

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Teil C Anfänge und Initiationen

C 2.2 Gestaltungskonzepte von ABC-Büchern im 20. und 21. Jahrhundert  

Kinderbücher sind seit jeher ein buchkünstlerisches Experimentierfeld, das Modell des ABC-Buchs hat sich dabei als besonders produktiv für künstlerische Innovationen erwiesen. Die inhaltliche und formale Ausrichtung der ABC-Bücher wird durch ihre Funktion (Einführungen in das Alphabet, ABC-Bücher zum Erlernen des Lesens und Schreibens, ABC-Bücher mit Sprachrätseln und Sprachspielen, thematische ABC-Bücher), die Zielgruppen, für die sie bestimmt sind (Kleinkinder, Leseanfänger, ältere Kinder), den Buchtyp (Bilderbuch, Spiel- und Verwandlungsbuch, Sachbuch) sowie durch den Zeit- und Personalstil geprägt. Inhaltliche Konzepte. Einführungen in das Alphabet für kleine Kinder. ABC-Bücher für Kindergarten- und Vorschulkinder sollen diese an das Alphabet heranführen und erste Vorstellungen über die Zusammenhänge zwischen dem durch die Abbildung repräsentierten ‚Ding‘, dem dafür verwendeten Begriff und dem Schriftzeichen vermitteln. Die Gegenstände entstammen meist dem kindlichen Alltag (Ball, Katze, Tasse), die Zahl der dem Buchstaben zugeordneten Worte und Bilder ist i. d. R. klein. Dass diese Einfachheit nicht Einfalt bedeutet, zeigt das Bilderbuch B is een beer des niederländischen Autors und Grafikdesigners Dick Bruna, der mit seinen minimalistischen Illustrationen beispielgebend für das Kleinkindbilderbuch der 1970er Jahre wurde (Bruna 1967). Brunas ABC, das heute zu den Klassikern des ABC-Buchs für die jüngste Zielgruppe gehört, ist ein Meisterwerk der Reduktion: den in schwarzer Schrift auf der linken Buchseite abgedruckten Buchstaben wird rechts die stark vereinfachte Abbildung eines mit ihm anlautenden Begriffs gegenübergestellt. Die Auswahl der Gegenstände orientiert sich an der Erfahrungswelt kleiner Kinder (Apfel, Bär, Matrose, Schaf). Die von kräftigen schwarzen Umrisslinien umgebenen Farbillustrationen stehen in deutlichem Kontrast auf dem weißen Fond und gehen mit den ihnen zugeordneten Buchstaben eine zeichenhafte Verbindung ein.  



Kreativitätsförderung. Diesem kindgemäßen, aber traditionell-didaktischen Modell des ABC-Buchs stehen Veröffentlichungen gegenüber, die vorrangig die Kreativität der Kinder fördern sollen, wie Das ABC für Vorschulkinder von Christine E. Gottschalk-Batschkus und Christiane Krieger, das zum Entdecken des Alphabets einlädt (Gottschalk-Batschkus/Krieger 1994). Auch hier ist jedem Schriftzeichen eine Doppelseite gewidmet, neben dem Buchstaben ist das Foto eines Kindes abgebildet, das ihn ausspricht. Einfache Mal- oder Zuordnungsaufgaben regen zur kreativen Beschäftigung an, auf den Seiten ist genügend Platz für eigene Zeichnungen und erste Schreibübungen. ABC-Bücher zum Erlernen des Lesens und Schreibens. Für ABC-Bücher, die vorrangig dem Erlernen des Lesens und Schreibens dienen, wurden schon in der Früh-

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zeit der Kinder- und Jugendliteratur buchgestalterisch anspruchsvolle Konzepte entwickelt, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu wecken und zu erhalten. Durch den Einsatz mnemotechnischer Hilfsmittel wie Reime, Merksätze, symbolhafte Abbildungen und Spiele sollte das Einprägen der Schriftzeichen erleichtert werden.20 Besonders überzeugende Beispiele kindgemäßer Gestaltung im frühen 20. Jahrhundert stellen Tom Seidmann-Freuds Fibeln Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben! (SeidmannFreud 1930) und ihre Spielfibel (Seidmann-Freud 1931) dar, in der Kinder spielerisch an das Erlernen des Alphabets herangeführt werden, indem die Autorin beispielsweise dazu auffordert, Buchstaben mit unterschiedlichen Farben auszustreichen oder in einem völlig unverständlich wirkenden Text einzelne Buchstaben gegeneinander auszutauschen und auf diese Weise eine lesbare Geschichte zu erzeugen. Walter Benjamin hat Tom Seidmann-Freuds Fibeln in mehreren Rezensionen ausdrücklich gewürdigt.21 Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der italienische Architekt und Buchkünstler Bruno Munari dem Kinderbuch neue ästhetische Impulse. In seinem in den USA erschienenen ABC setzt er großformatige farbige Illustrationen kontrastreich vor einen weißen Hintergrund. Munari beschränkt sich in seinem Alphabet nicht allein auf die Verbindung von Abbildungen und Wörtern, sondern ordnet diese zu Begriffspaaren und bezieht dabei auch den Sprachklang in sein künstlerisches Gesamtkonzept ein, („a Crow on a Cup“, „No bird in the Nest“, „a Rose and a Red Ribbon“, Munari 1960a, Texte zu den Buchstaben C, N und R).  

Einbeziehung variabler Elemente. Die aktuelle Entwicklung bei den ABC-Büchern für Leseanfänger ist (im Vergleich zu älteren Publikationen mit vordergründig didaktischem Akzent) durch die Einbeziehung von Spielelementen und durch humorvolle Darstellung geprägt. Cornelia Boeses Mein allerbestes ABC knüpft an die Tradition von Merksprüchen im Paarreim an und frischt diese durch originelle Verse auf: „Das Ferkel quengelt, quäkt und quiekt, bis es quietschrosa Kleider kriegt.“ (Boese 2017, Text zum Buchstaben Q) Dem behandelten Buchstaben ist jeweils eine Farbe zugeordnet, in der die mit ihm anlautenden Wörter im sonst schwarzen Text farbig ausgezeichnet werden und die zugleich den Grundton der zugeordneten Illustration bildet. In Ro-

20 So enthält Johannes Bunos Neues und also eingerichtetes ABC und Lesebüchlein (Danzig 1650), das in der Tradition der Ars memorativa steht, eine Bau- und Spielanleitung zu einem Deutscher Michel genannten Würfelspiel für Buchstabierübungen sowie eine Tafel mit Vokalen, Konsonanten und Buchstabenverbindungen, denen aussagekräftige Bildzeichen zugeordnet werden. Beispielsweise wird das „w“ mit einem Jungen veranschaulicht, der auf den Knien eines Mannes liegend von diesem mit der Rute geschlagen wird und dabei den „Weh-Laut“ von sich gibt. 21 In einem im Jahr 1930 zuerst in der Frankfurter Zeitung erschienenen Aufsatz zu Tom SeidmannFreuds Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben! Eine Spielfibel hob er „die seltene Vereinigung gründlichsten Geistes mit der leichtesten Hand“ hervor (Benjamin 1991a, S. 267). Ein Jahr später wurde die Fortsetzung der Fibel von Benjamin erneut positiv besprochen (vgl. Benjamin 1991b).  

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traut Susanne Berners ABC SpieleBuch werden auf 26 Doppelseiten links die Großbuchstaben als phantasievolle Buchstabenbilder aus einer Katze, deren Körper das Schriftzeichen bildet, und einer Maus gezeigt und mit einem passenden Spruch kommentiert (Berner 2010). Auf der rechten Seite wird die Textaussage durch eine humorvolle Zeichnung interpretiert. Sprech- und Schreibspiele am Ende des Buchs regen zur weiteren Beschäftigung mit dem Lese- und Lernstoff an. Sonderformen. Sonderformen des ABC-Buchs stellen Publikationen für Kinder und Jugendliche mit Seh- oder Hörbehinderungen dar, in denen die Brailleschrift und die Zeichensprache vermittelt werden. Die aquarellierten Zeichnungen in Laura Rankins The handmade Alphabet zeigen Hände, die das Zeichen formen, dazu wird ein Gegenstand abgebildet, der mit diesem Buchstaben beginnt (Rankin 1991). 2007 wurde einem Buch „für blinde und sehende Kinder“ der Preis der Jugendjury auf der Kinderbuchmesse in Bologna verliehen. Das Buch El libro negro de los colores besteht komplett aus schwarzen Seiten (Cottin/Faría 2007). Der Text ist in Brailleschrift gedruckt und tastbar, ebenso wie die Bilder, auf denen die in Lack gedruckten Motive als Schwarz-auf-Schwarz-Bilder gesehen, aber auch ertastet werden können. Das Buch enthält ein Alphabet der Brailleschrift und regt sowohl blinde als auch sehende Kinder zur Beschäftigung mit diesem Zeichensystem an.

C 2.3 Das ABC als Sprachspielbuch Im 20. und 21. Jahrhundert haben ABC-Bücher, die zum kreativen und spielerischen Umgang mit Sprache anregen, an Bedeutung gewonnen und bilden eine fast unüberschaubar scheinende Gruppe. Bemerkenswerte literarische ABC-Bücher haben Eric Carle (Carle 1974), Edward Lear (Lear 1965) und John Updike (Updike 1995) verfasst. Einer der wichtigsten Vertreter dieses Genres in Deutschland war James Krüss, der in mehreren seiner Kinderbücher die Sprache selbst zum Gegenstand der Handlung macht. In sein literarisches Spielbuch Mein Urgroßvater und ich hat Krüss allein acht unterschiedliche ABCs integriert, darunter das Räuber-ABC (Krüss 1959a, S. 61) und Das moralische Alphabet (ebd., S. 242ff.). Zum Thema ABC erschienen von Krüss auch eigenständige Publikationen wie das Bilderbuch ABC, ABC, Arche Noah sticht in See! (Krüss 1959b), in dem Wörter mit gleichen Anfangsbuchstaben kunstvoll zu längeren Reimen verwoben werden und das alphabetisch geordnete Versbuch Duden, von Apfelbaum bis Zirkuszelt (Krüss 1994). Ein ostdeutsches Pendant zu den Büchern von James Krüss stellen die Sprachexperimente des Schriftstellers Franz Fühmann dar. Sein 1962 erstmals erschienenes Lustiges Tier-ABC (Fühmann 1962) in Stabreimen wurde 1992 mit neuen Illustrationen von Egberth Herfurth herausgegeben (Fühmann 1992). Auch in der aktuellen Kinderliteratur stellt das auf Humor, Ironie und Sprachwitz ausgerichtete ABC-Buch ein populäres Konzept dar. Ein originelles Kunst-BilderABC für fortgeschrittene Leserinnen und Leser veröffentlichte Nadia Budde mit Trau 





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riger Tiger toastet Tomaten (Budde 2000). Die absurden ABC-Geschichten im Stabreim werden von farbenfrohen unkonventionell-kritzeligen Bildern begleitet. Dem Thema Anagramme ist das Bilderbuch Die Amsel heisst Selma gewidmet, das zum Vertauschen von Buchstaben und zum kreativen Entdecken neuer Wortschöpfungen anregt (Spinner 2000).

C 2.4 Thematische ABC-Bücher Eine Sonderform der Gattung stellen alphabetisch geordnete ABC-Bücher zu einzelnen Themen dar, die je nach Ausrichtung entweder Sach- oder Bilderbuchcharakter haben und für verschiedene Altersgruppen herausgegeben werden. Die umfangreichste Gruppe bilden Tieralphabete in unterschiedlichen künstlerischen Techniken (Schwarz-Weiß-Zeichnungen, Holzschnitte, Collagen, Aquarelle und Fotos). Ein ästhetisch überzeugendes Beispiel ist Katharina Lausches Bilderbuch T wie Tukan, das eindrucksvolle Tierporträts enthält (Lausche 2000). Die farbigen Zeichnungen stehen auf weißem Grund, ihnen ist lediglich der Anfangsbuchstabe zugeordnet, die Tiernamen sind auf einer lose beiliegenden Liste aufgeführt. Am Ende des Buchs informieren kurze Steckbriefe über die Lebensweise der Tiere. Bemerkenswert ist, wie souverän die Buchseiten genutzt werden, Schriftzeichen und Bilder haben keinen fest vorgegebenen Platz, sondern variieren in ihrer Position auf der Doppelseite, wodurch beim Blättern überraschende Bildfolgen entstehen, fast als würden die Tiere sich kriechend, flatternd oder fliegend durch das Buch bewegen. Eine weitere große Gruppe bilden ABC-Bücher zu Ländern, Regionen oder Ethnien, wie das Prairie Alphabet von Jo Bannatyne-Cugnet und Yvette Moore (Bannatyne-Cugnet 1992) und das Fotobilderbuch A is for Africa, das in alphabetischer Reihenfolge zentrale Begriffe aus Lebenswelten von Afrikanerinnen und Afrikanern vorstellt (Onyefulu 1993). Ein besonders stimmungsvolles thematisches ABC-Bilderbuch legte Linda Wolfsgruber mit Das Nacht-ABC vor (Wolfsgruber 2006). Der Text besteht aus einem Satz, der sich durch das gesamte Buch zieht und den Flug des Leuchtkäfers Conrad durch die Nacht beschreibt. Die Abbildungen wurden als Collagen aus gerissenen Papieren, Scherenschnitten, Zeichnungen, Aquarellen und Fotos gefertigt.

C 2.5 Typografische ABC-Bücher Die Typografie bildet in ABC-Büchern ein zentrales Gestaltungselement und spielt damit im Vergleich zu anderen Genres eine besonders wichtige Rolle. Ein Ziel typografisch ausgerichteter ABC-Bücher kann es sein, Kinder mit unterschiedlichen Schriftarten vertraut zu machen. Deshalb werden oft verschiedene Schriften verwendet: In historischen Alphabeten wurden meist Fraktur- und Antiquaschriften miteinander kombiniert, in aktuellen ABC-Büchern werden unterschiedliche Drucktypen sowie

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Schreibschriften gemeinsam eingesetzt, mehrsprachige ABC-Bücher können neben den lateinischen Buchstaben auch griechische, kyrillische u. a. Schriftzeichen enthalten. Allerdings sind ausschließlich typografisch gestaltete ABC-Bücher für Kinder selten, diese werden vorrangig als bibliophile Ausgaben für Erwachsene herausgegeben. In Kinderbüchern werden meist Kombinationen aus Buchstaben und Bildern verwendet, beispielsweise Bilder in Form von Schriftzeichen. Der italienische Buchkünstler Bruno Munari, der über Jahrzehnte mit dem ABC experimentierte, hat in Alfabetiere Buchstaben als Legespiel typografisch gestaltet (Munari 1960b). Der US-amerikanische Künstler Stephen T. Johnson wurde durch buchstabenähnliche Formen im Stadtbild zu seinem Buch Alphabet City angeregt (Johnson 1995), für das er in fotorealistischer Malweise Stadträume porträtierte und diese zu einem textlosen typografischen ABC zusammenstellte. Diese Idee wurde inzwischen in zahlreichen ABC-Büchern aufgegriffen, darunter auch (als eines von mehreren Gestaltungselementen) in Das tolle ABC-Buch von Joke van Leeuwen (Leeuwen 2016). Phantasievolle Kombinationen aus Buchstaben und Tierfiguren zeigt das in kleiner Auflage veröffentlichte bibliophile Hühneralphabet (Hähle 2007). Die zweifarbigen rot und schwarz gedruckten Umrisszeichnungen stellen Hühner dar, die unterschiedliche Posen einnehmen und dadurch Buchstaben nachbilden.  

C 2.6 Das ABC als Bilderbuch Eine zentrale Aufgabe bei der Gestaltung von ABC-Bilderbüchern besteht darin, im Zusammenspiel von Schriftzeichen, Bild und Text eine tragfähige Leitidee zu entwickeln, mit der heterogene Gegenstände, deren einzige Gemeinsamkeit ihr Anfangsbuchstabe ist, überzeugend miteinander verbunden werden können. In illustrierten ABC-Büchern, in denen dem Buchstaben nicht nur ein, sondern mehrere Begriffe zugeordnet sind, gibt es eine lange Tradition, Objekte in phantasievollen Kombinationen miteinander in Beziehung zu setzen.22 Ein inhaltlich komplexes und abwechslungsreich gestaltetes Kinderkunstbuch, das zum Entdecken und Assoziieren einlädt, hat die polnische Illustratorin Iwona Chmielewska mit abc.de geschaffen (Chmielewska 2015). Die auf Doppelseiten dargestellten alphabetisch geordneten Gegenstände erfüllen die Erwartungen an ein gewöhnliches – wenn auch besonders kunstvoll ausgeführtes – ABC-Buch, verweisen aber darüber hinaus auf komplexe Wissenszusammenhänge, indem Informationen aus unterschiedlichen Themenbereichen der deutschen Kulturgeschichte subtil miteinander verwoben werden. Die Begriffe werden jeweils in Deutsch, Englisch, Franzö 



22 So werden auf der Tafel „E“ in dem 1838 in Nürnberg erschienenen Bilder-Alphabet zur Erweckung des Scharfsinns oder viele Original-Darstellungen nach jedem Buchstaben in 24 Gemälden, dessen Vorlagen von dem Illustrator Johann Michael Voltz geschaffen wurden, u. a. Edelmann, Esel, Eremit, Enten, Erker und Eule zu einem surrealen Gemälde vereint.  

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sisch und Polnisch aufgeführt und machen auf Ähnlichkeiten und Unterschiede der Bezeichnungen in den verschiedenen Sprachen aufmerksam. Im Jahr 2000 brachte der Kunstmann-Verlag eine von Wolf Erlbruch illustrierte Neuausgabe des Neuen ABCBuchs des Aufklärers Karl Philipp Moritz heraus (Moritz 2000). Der komplexe Text, der nicht nur zum Lesen anregen, sondern Kindern auch Ansätze philosophischen Denkens vermitteln sollte, schreitet von der Vorstellung der Sinne über das in mehreren Abschnitten behandelte Thema „Mensch und Tier“ bis zu abstrakten Begriffen wie „Genügsamkeit“, „Pracht und Überfluss“ und „Vergänglichkeit“ fort und beschreibt damit den Zyklus des Lebens. Wolf Erlbruch hat den für heutige kindliche Leseerwartungen anspruchsvollen und teilweise rätselhaft wirkenden Text behutsam ins Bild gesetzt. Für jede Doppelseite findet er ebenso überraschende wie überzeugende Interpretationen, die helfen, dem ungewohnten Sprachduktus von Moritz zu folgen. Fast schon eine eigene Kategorie stellen die ABC-Bücher Was machen die Jungs? (Heidelbach 1999) und Was machen die Mädchen? von Nikolaus Heidelbach dar (Heidelbach 1993), die durch die 2014 erschienenen Bände Was machen die Jungs heute? (Heidelbach 2014a) bzw. Was machen die Mädchen heute? (Heidelbach 2014b) fortgesetzt wurden. Heidelbach zeigt versteckte Ängste, Aggressionen und Wünsche der Mädchen und Jungen, die er in alphabetisch geordneten Porträts bei geheimnisvollen, gefährlichen, vergnüglichen, in jedem Fall aber ihr Innerstes offenbarenden Tätigkeiten zeigt. Ihre Spannung gewinnen die Darstellungen aus dem Zusammenspiel zwischen dem scheinbar lapidaren, stets nur aus einem Satz bestehenden Text auf der linken Buchseite, der eine Tätigkeit benennt, und dem mit subtiler Zeichenkunst ausgeführten Bild auf der rechten, das den Text in fantasievoller, teils verblüffender, teils sogar verstörender Weise kommentiert.

C 2.7 ABC-Bücher als Spiel- und Kunstobjekte Der Wunsch nach räumlicher Inszenierung und haptischer Erfahrbarkeit des Alphabets hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche ABC-Legespiele, Spielbilderbücher und Pop-ups hervorgebracht. 1977 erschien Robert Crowthers Ziehbilderbuch The most amazing Hide-and-Seek Alphabet Book (Crowther 1977). Hinter den zunächst auf der Seite sichtbaren Buchstaben sind Tierfiguren verborgen, die zum Vorschein kommen, sobald die Ziehmechanik betätigt wird. Dieses Prinzip des ‚Entdeckens‘ wurde auch von David Pelham in seinem Tier-ABC A is for Animals (Pelham 1991) verwendet. Der erfindungsreiche Buchkünstler David A. Carter verbindet in seinem originellen Spielbilderbuch Alpha Bugs (Carter 1994) Klapp- und Ziehmechanismen mit der Pop-upTechnik. Abstrakte Formen wählte die tschechische Illustratorin Květa Pacovská für ihr 1996 erschienenes ABC-Kunst-Bilderbuch (Pacovská 1996). Der Band in Ringheftung vereinigt unterschiedliche Falt-, Klapp- und Stanztechniken, mit denen das Alphabet dreidimensional erfahrbar wird. Das Thema Alphabet inspiriert Illustratorinnen und Illustratoren auch zu buchkünstlerischen Versuchen für ein erwachsenes  

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Publikum, die als bibliophile Drucke oder Unikate herausgegeben werden. Das als das „kleinste Buch der Welt im Auflagendruck“ bezeichnete Büchlein ist ein ABC: Josua Reicherts Bilder-ABC misst lediglich 2,9 x 2,4 mm (Reichert 2000). Da die Seiten des in Leder gebundenen Blockbuchs nur schwer und zu lesen sind, liegen dem Band ein Faltblatt mit einer vergrößerten Wiedergabe der Buchstaben und eine Lupe bei. Wieweit die künstlerische Experimentierfreude gehen kann, beweist Maccheronibaum, ein „Nudelalphabet“ des russischen Künstlers Michael Bensman (Bensman 2003). Das Unikat besteht aus Lasagneblättern, auf denen die Namen italienischer Nudelsorten in alphabetischer Reihenfolge mit Buchstabennudeln aufgeklebt wurden.  





C 2.8 Das ABC-Buch als buchkünstlerisches Experimentierfeld Für ABC-Bücher ist der durch die Buchstabenfolge vorgegebene Rahmen konstitutiv. Als ‚Programm‘ determiniert er die Schreib- und Gestaltungsprozesse, die durch weitere Faktoren wie Buchtyp, Zielgruppe und Funktion mitbestimmt werden. Innerhalb dieses Gefüges gibt es nahezu unerschöpfliche Variations- und Kombinationsmöglichkeiten der vier Grundbausteine Inhalt/Thema/Text, Bild/Illustration, Typografie und Material. Das wichtigste Element im ABC-Buch ist die Schrift, ein Verzicht auf sie ist (nahezu) nicht möglich, da der Zweck des ABC-Buchs in der Wiedergabe von Buchstaben besteht. Damit hat die Typografie für das ABC-Buch eine herausragende Bedeutung und muss nach Karin Vach neben Text und Bild als „dritte ästhetische Kategorie“ (Vach 2014, S. 247) angesehen werden. (Vach weist zudem darauf hin, dass die Typografie ein wichtiges Mittel zur Lesemotivation darstellt; vgl. ebd., S. 253) Im Lauf seiner Entwicklung wurde (und wird) das ABC-Buch stark von didaktischen und ästhetischen Normen geprägt, die Erwartungen induziert und manifestiert haben. Innovationen im ABC-Buch stellen diesen Erwartungshaltungen etwas Neues, Unkonventionelles entgegen, deshalb ist die Geschichte des ABC-Buchs zugleich eine Geschichte der Normverletzungen und Konventionsbrüche. Alle Ebenen des ABCBuchs bieten Potenzial für Innovationen: Die didaktische Ebene durch die Einbeziehung der Rezipientinnen und Rezipienten in die ‚Fertigstellung‘ des ABC-Buchs, indem in das Buch hineingeschrieben oder -gemalt werden kann, Buchstaben ausgeschnitten werden können etc.; die Textebene mit der Auswahl ungewöhnlicher Themen, mit Nonsensalphabeten oder humorvollen Reimen; die Bild-Text-Ebene mit unkonventionellen, irritierenden oder verstörenden Zuordnungen von Begriffen und Beschreibungen zu den Abbildungen; die Bildebene durch die Verwendung von für das Kinderbuch neuartigen Techniken und Stilmitteln sowie die Ebene der Materialität durch das Experimentieren mit Formaten, Materialien, Oberflächen, beweglichen und Pop-up-Elementen. Essenziell für das Ergebnis der buchkünstlerischen Umsetzung ist dabei stets die Leitidee, das Gesamtkonzept, das die einzelnen Elemente miteinander verbindet.  



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ABC-Bücher des 20. und 21. Jahrhunderts wie Conrad Felixmüllers ABC, Tom Seidmann-Freuds Spielfibeln, Was machen die Jungs? und Was machen die Mädchen? von Nikolaus Heidelbach und Iwona Chmielewskas abc.de bieten dafür im jeweiligen zeitlichen Kontext eindrucksvolle Beispiele. CP  

C 3 Alphabet und Künstlerbücher Das Alphabet liefert diverse Ansatzpunkte für die Konzeption und die Strukturierung von Künstlerbüchern. Die gestalterische Orientierung an der alphabetischen Ordnung legt bisweilen den Vergleich mit Abecedarien oder Fibeln nahe.23 Im Einzelfall mögen solche tatsächlich als Anregung gedient haben; zwingend ist dies nicht. In Künstlerbüchern können fibeltypische Strukturen metaphorisch genutzt werden, etwa im Sinn der impliziten Idee, das Künstlerbuch sei ein Buch, das auf spezifische Weise auf Vermittlung von Lesefähigkeit zielt, analog zur Alphabetisierungsfunktion von Fibeln. Wo sich Künstlerbücher an Fibeln oder Abecedarien orientieren, zeichnen sich im Wesentlichen zwei Tendenzen ab: Die eine konzentriert sich auf die Wiedergabe der einzelnen Buchstaben des Alphabets, wobei die einzelnen Buchstaben bildlich ausgeschmückt, mit kurzen Texten versehen oder mit Bildern kombiniert sein können, die einen Bezug zum jeweiligen Buchstaben aufweisen. Die andere Gestaltungsform basiert auf Texten, die auf ihre Bestandteile hin untersucht werden, um diese dann gesondert, zumeist in alphabetischer Ordnung, zur Anschauung zu bringen. Die alphabetische Organisation von Büchern, bei denen der einzelne Buchstabe akzentuiert wird, reicht von Formen, die an Figurenalphabete grenzen, bis hin zu fibelartigen Strukturen, welche die Einzelbuchstaben um Sätze ergänzen. Die Buchinhalte können dabei auf soziale, politische oder künstlerische Kontexte verweisen. Dem Typus des Figurenalphabets nahe stehen etwa Karl Fröhlichs fröhliches ABC-Buch (Fröhlich ca. 1919), Norman Messengers An Artist’s Alphabet (Messenger 2016) und William Wegmans Hundealphabet (Wegman 1994).

C 3.1 Nachbarschaften von Künstler- und Kinderbüchern In gestalterischer Hinsicht ist der Übergang von Künstlerbüchern zu vorrangig für Kinder konzipierten Büchern fließend. So weisen die Alphabete in den Künstlerbüchern von Ronald King mit ihren teils aus den Seiten gelösten Buchstaben Pop-upElemente auf, ähnlich dem von Marion Bataille für Kinder gestalteten Pop-up-Buch zum ABC.24 Bruno Munari und Květa Pacovská gehen in ihren Alphabeten von flächigen Wiedergaben der Buchstaben aus und betonen deren Grundelemente (Munari 1942). Im Sinn der Idee einer ästhetischen Erziehung wendet sich das von Sonia Delaunay konzipierte Alphabet in erster Linie an Kinder (Delaunay 1970). Die 1968 entstandenen Schablonendrucke von Buchstaben stehen dem Orphischen Kubismus

23 Zu Fibeln und Abecedarien vgl. Müller, Helmut online (27.02.2018). 24 Bataille, Marion: Op-Up. Paris: Les Trois Ourses, 2006, roter Siebdruck auf schwarzem Papier, Spiegel, Vinyl, und Scherenschnitte, 36 Seiten, Auflage: 30 Exemplare. https://doi.org/10.1515/9783110528299-014

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nahe, als dessen Vertreterin Delaunay gilt. Abweichend von der Dekonstruktion plastischer Formen und einem collagenartigen Nebeneinander von Bild- und Textfragmenten basieren die Kompositionen des Orphischen Kubismus vornehmlich auf dem Zusammenspiel von Farbflächen. Delaunays ABC-Buch beigefügt sind Verse von Béatrice Fontanel, in denen die wichtigen Buchstaben farbig hervorgehoben wurden. Auf die konzeptionelle Nähe von Künstler- und Kinderbüchern verweisen auch solche buchkünstlerischen Alphabete, welche die Buchstaben durch Verse, Kommentare und andere textliche Elemente ergänzen. Walter Cranes 1874 erschienenes Absurd A.B.C. kombiniert die Buchstaben mit Kinderversen (Crane 1874).25 Dabei verändert der Künstler die Kombination von Buchstaben, Text- und Bildfeld von Seite zu Seite. Dem abwechslungsreichen Layout liegt Cranes Beobachtung zugrunde, dass gutes Design nicht nur den Zugang zum Buch, sondern das gesamte Lernverhalten stimuliere. Diesen Ansatz demonstriert er in seinem Buch bereits über das Motiv im Vorsatz, in dem er neben einem Überblick über alle Buchstaben des Alphabets eine Szene einbindet, die einen Vater zeigt, der seinem Kind die Buchstaben nahebringt. Avantgardistische Abecedarien. Für die an Abecedarien orientierten Bücher von Künstlern der Avantgarde charakteristisch ist ihre themenspezifische, manchmal politische, soziale oder zeitkritische Ausrichtung. Francesco Cangiullo gestaltet in Cafféconcerto die Buchstaben wie Kabarettauftritte von Tänzern und Jongleuren (Cangiullo 1919), Milča Mayerová übersetzt die Buchstaben in Tanzformationen, die in Fotoaufnahmen von Karel Paspa in Abeceda Eingang erhalten.26 Beide Künstler verknüpfen darstellende und angewandte Kunst. Mayerovás Abeceda gründet im Poetismus, einer von der tschechischen Künstlergruppe Devětsil von 1920 bis 1930 vertretenen Stilrichtung, geprägt durch die Kombination verbaler und visueller Zeichen, analog zu Werbeanzeigen und Plakaten. Das 1926 erschienene Abeceda kombiniert Quartette von Vítězslav Nezval über Jongleure, Tänzer und Cowboys mit Typografie und Fotografie. Der fotografisch erfassten, einen Buchstaben vorstellenden Tanzpose Mayerovás ist ihr typografisches Äquivalent in Form eines gesetzten Buchstabens beigefügt. Die Seitenabfolge des Abeceda zeigt die gesamte Choreografie Mayerovás zu Nezvals Texten (vgl. Nezval 2001, S. 114; Witkovski 2004). Obwohl auf das gleiche Jahr datiert wie Cangiullos Caffé-concerto, versteht sich das von Vladimir Majakovskij konzipierte Alphabet Sowjetskaja asbuka weniger als Reflexion avantgardistischer Stilprinzipien denn als sozial-politisches Statement (vgl. Majakovskij 1919; Rowell/Wye 2002,  

25 Bryan Holme vermerkt im Vorwort von Cranes Alphabet, dass dieses Bilderbuch die besten Voraussetzungen zum Lesenlernen böte. Da Crane davon ausging, dass Kinder noch kein Gespür für Perspektive und plastische Gestalt hätten, legte er seine Bilder flächig an. 26 Nezval, Vítězslav: Abeceda, Prag: Otto, 1926, Tanzkompositionen von Milča Mayerová, grafische Ausstattung von Karel Teige, Fotos von Karel Paspa, 58 Seiten, 30 x 23 cm. Vgl. http://indexgrafik.fr/ abeceda-karel-teige-1926/ (12.01.2018).  





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Nr. 237). Die Karikaturen gleichenden Buchstabenbilder sind mit Vierzeilern kombiniert, die Bezug auf die aktuellen Geschehnisse des Bürgerkrieges nehmen.  

Abb. C 2: Francesco Cangiullo: Caffé-concerto: Alfabeto a sorpresa. Mailand 1919.  

C 3.2 Alphabet-Konzepte seit der Pop Art Sind in den Abecedarien von Cangiullo, Mayerová oder Majakovskij die Buchstaben jeweils einem Themenfeld zugeordnet, so erfüllen sie in den beiden Alphabeten von Andy Warhol eine rein gliedernde Funktion. Beide Abecedarien sind vom Duktus der Pop Art bestimmt.27 A is an Alphabet ist am Modus einer Alphabetfolge orientiert, wie sie sich u. a. in Kate Greenaways A – Apple Pie und dem ABC des Lyrikers Charles Henri Ford finden, von denen sich je ein Exemplar im Nachlass Warhols fand (vgl. Rühl 2013, S. 150). In A is an Alphabet kombiniert Warhol die Silhouettenrisse von ein oder zwei als Ganz- oder Halbfigur erfassten Personen mit einem in Schreibschrift  





27 Ward, Ralph T./Warhol, Andy: Alphabet Manuskript. Um 1953, 17 Zeichnungen, unvollständig, unveröffentlicht, Tusche auf weißem Papier, 27,9 x 21,6 cm u. 21,6 x 27,9 cm, The Andy Warhol Museum, Pittsburg, Pennsylvania; Warhol, Andy: A is an Alphabet, 1953, 26 Drucke in Wachspapiereinband, Offsetdruck, je 24 x 15,2 cm, Auflage: vermutlich 100 Exemplare.  

















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wiedergegebenen Dreizeiler. Diese Texte, in denen durchweg Tiere beschrieben werden, stehen in einem beliebigen Bezug zu den Bildmotiven und nur gelegentlich auftretende Partikel wie „this“ oder „these“ suggerieren eine Verbindung zwischen Text und Zeichnung. Einem ähnlichen Schema folgt Warhols zweites Alphabet, das bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich Frauen zeigt. Auch diese Figuren sind als Umrisszeichnungen wiedergegeben; Warhol verbindet das traditionelle Schema der ABCKinderverse mit einem Vokabular aus Modemagazinen und Reklame (vgl. ebd., S. 151). Verglichen mit den locker verbundenen Motiven in Warhols Abecedarien wirken die in Moussa Kones The Abecedarium of the Artist’s Death geschlossener (Kone 2014). Das Buch warnt spielerisch vor den Gefahren künstlerischer Arbeit, und zwar in alphabetischer Folge von „A ist for Anna who was struck by her work“ bis zu „Z is for Zacharias who in the end thought his art was pure crap“; jedem Buchstaben ist eine Seite mit Bild und kurzem Text zugeordnet. An Abecedarien orientiert ist auch Victor Burgins Künstlerbuch Family. Seine Inhalte sind alphabetisch geordnet, doch ergibt sich kein vollständiges Alphabet (Burgin 1977). Den vom Künstler als Gebrauchsbilder bezeichneten Abbildungen sind knappe lexikalische Texte, Begriffe und Buchstaben zugeordnet. Verwiesen wird auf soziale Zusammenhänge zwischen Individuum und Familie, Gesellschaft und Staat.28 Die motivisch heterogenen Bilder stehen in nur losem Bezug zu den Texten. Doch fügen sich die sechs auf den Seiten herausgestellten Buchstaben, die jeweils der Initiale eines Textblocks entsprechen, zum Titel des Buches Family. Gleichzeitig lassen sie sich Begriffen zuordnen wie „flag“, „advertisement“, „media“, „interior“, „life“, „yielding“, die den Bildern korrespondieren. Insgesamt vermeidet der Künstler eindeutige Codierungen und weigert sich, eine vermeintlich vorgegebene Ordnung von Familie und Staat didaktisch zu vermitteln. Vielmehr soll deutlich werden, dass jede, auch die soziale Ordnung, kontingent ist (vgl. Dickel 2008b, S. 86).  



Textzerlegungen in Buchstaben. Ein zweiter am Alphabet orientierter Typus von Künstlerbüchern besteht in der Auflösung vollständiger Texte in einzelne Buchstaben und deren Hervorkehrung als textkonstituierende Elemente. Dabei werden Buchstaben oder Satzzeichen über die Seitenfolgen hin isoliert und inszeniert. Beispiele finden sich bei Paul Heimbach und bei Ines von Ketelhodt, die sich aber trotz ähnlicher Erscheinungsbilder konzeptuell wesentlich unterscheiden. In Textbetrachtung löst Heimbach die deutsche Übersetzung von Søren Kierkegaards Text Enten – Eller. Et Livs-Fragment so auf, dass die einzelnen Buchstaben des Alphabets auf einzelnen Sei 

28 Die sechs Textblöcke nennen: (1.) die ländliche Kleinfamilie, die durch kulturell archaische Mythen gefestigt wird, (2.) die durch Handelswege wirtschaftlich, sozial und kulturell geöffnete Familie, (3.) die auf der Basis technologischer Zivilisation medial und mental ausgeweitete, aber auch aufgelöste Familie, (4.) die kompensatorisch zur industriellen Arbeitswelt entstehende Privatsphäre der Familie, (5.) die Entwicklung von Freizeit und Konsum, (6.) die Funktion der Familie als Erziehungsinstanz im Hinblick auf Normen und Erwartungen der Arbeitswelt.

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ten zu stehen kommen. Sie werden in alphabetischer Reihenfolge seitenweise wiedergegeben, behalten aber auf den Seiten jene Position bei, die sie im vollständigen Text eingenommen haben. Da der so aufgelöste Text auf transparentes Papier gedruckt ist, zeigt er sich durch die Seiten hindurch vollständig. Dabei erscheint er als eine Art räumliches Konstrukt. Beim Blättern gerät der Text scheinbar in Bewegung, denn jedes Umblättern führt auf der einen Seite seine sukzessive Auflösung herbei, während er sich auf der anderen Seite, wenn auch spiegelverkehrt, neu konstituiert (Heimbach 1998). Heimbach opponiert gegen Kierkegaards Auffassung, der zufolge das Sinnliche der Sprache untergeordnet sei und unbemerkt bleiben müsse (vgl. Gilbert 2014, S. 204). In seinem Buch Das Alphabet nach R. W. macht Heimbach die allmähliche Entstehung eines Textes sinnfällig (vgl. Heimbach 1999; Gilbert 2014, S. 205–207). Den Ausgangpunkt bildet Robert Walsers Text Das Alphabet (1921), in dem einige Buchstaben nacheinander, jeweils mit einem eigenen Satz versehen, auftreten. Jedem dieser Sätze ordnet Heimbach in seinem Buch eine vollständige Seite zu. Wie in Textbetrachtung der Buchstabe, so behält in Das Alphabet nach R. W. der Satz die Position, die er im geschlossenen Textzusammenhang eingenommen hätte. Die quantitativen Verhältnisse der Buchstaben zueinander und deren relative Verteilung in einem durchschnittlichen Text werden anschaulich gemacht. Heimbachs typografische Umsetzung von Walsers Erzählung verweist auf den schöpferischen Prozess der Textgenese. Ines von Ketelhodt zergliedert einen Ausgangstext, um diesen als räumliches Konstrukt sinnfällig zu machen. So stellt sie in den beiden Bänden ihres Buches Alpha Beta der französischen Originalfassung eines Textes von Michel Butor die deutsche Übersetzung gegenüber.29 Es handelt sich um den mit Les Bibliothèques überschriebenen Abschnitt aus Fenêtres sur le passage intérieur, in dem Butor die Stimmung in einer Bibliothek schildert. Dem Eindruck, dass sich die Bezüge zu den Büchern mehr und mehr auflösen, sucht Ines von Ketelhodt typografisch zu entsprechen, indem sie den Text in seine Buchstaben zerlegt, um diese dann in alphabetischer Reihenfolge auf die einzelnen Seiten verteilt wiederzugeben. Wie in Heimbachs Das Alphabet nach R. W. behalten auch hier die einzelnen Buchstaben ihre Position auf der Seite bei, die sie im geschlossenen Text eingenommen hätten. Die Transparenz des von der Künstlerin verwendeten Zellophan-Papiers macht den Text als Ganzes in seiner Räumlichkeit wahrnehmbar. Der visuelle Eindruck korrespondiert Butors Text. Da die Künstlerin für die französische und die deutsche Version je einen eigenen Band konzipiert hat, zeigt sich im Nebeneinander beider die unterschiedliche Gewichtung der Buchstaben. In der französischen Version entfallen eigene Seiten für die Buchstaben W und Z, in der deutschen die für den Buchstaben X. Markant treten die Unterschiede bei den Vokalen mit ihren Umlauten und Akzenten hervor. VHS  









29 Ketelhodt, Ines von: Alpha Beta. Flörsheim 2017, 2 Bde., im Plexiglasschuber 28,6 x 20,3 cm, je 48 Seiten, Auflage: 35 Exemplare.  





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Abb. C 3: Ines von Ketelhodt: Alpha Beta. Flörsheim 2017. 2 Bde. im Plexiglasschuber.  

C 4 Bilder/Buch/Literatur „Ogni libro è letto ma ogni letto non è anche un libro“ (Bruno Munari, in: Domus n.760, 1994) Das Bilderbuch, so besagt eine Definition des Kunstwissenschaftlers Jens Thiele, bezieht sein Potenzial als künstlerische Gattung aus der Spannung von Text und Bild: „Die beiden unterschiedlichen, aber doch untrennbaren Ebenen stellen zusammen ein komplexes symbolisches Gebilde dar, in dem in der Regel Stoffe fiktionalen Charakters erzählt werden.“30 In dieser Begriffsbestimmung unberücksichtigt bleibt, dass große Teile der Bilderbuchproduktion sich immer schon Sachthemen gewidmet haben – rechnet man Andachtsbücher, bebilderte Fibeln und ABC-Bücher zu den Sachbüchern, liegt in diesem Bereich sogar der Ursprung des Bilderbuchs.  

C 4.1 Kinder-Bücher, Bilder-Bücher: Aspekte der Betrachtung An der Verschiebung des Themenspektrums über den großen Zeitraum zwischen dem als Frühform zu deutenden Orbis pictus des Johann Amos Comenius von 165831 und den Bilderbüchern von heute lässt sich nicht nur der Wandel in der Auffassung von Kindheit und der Frage ablesen, welche Medien und Inhalte Kindern in die Hand gegeben werden, sondern auch eine veränderte Vorstellung davon, welche Funktionen Bücher überhaupt erfüllen sollen. Die Forschung hat sich bisher, wohl auch aus der Verpflichtung didaktischen Zwecken und Institutionen gegenüber, vor allem dem erzählenden Bilderbuch gewidmet (vgl. z. B. Thiele 2003; Colomer/Kümmerling-Meibauer/Silva-Díaz 2010; Oetken online). Dass man Bilderbücher aber nicht notwendig primär in narrative und nicht-narrative scheiden muss, zeigt die Kategorisierung von Kümmerling-Meibauer (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012). Sie verwirft die Trennung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Büchern zugunsten einer Differenzierung zwischen dem illustrierten Buch, bei dem ein vorab existenter Text nachträglich durch Illustrationen für den (kindlichen) Gebrauch zugerichtet wird und diese damit notwendig sekundär bleiben, und dem Bilderbuch im eigentlichen Sinne, das als intermedial operierende Gesamtheit entworfen und hergestellt wird. Damit betont sie den Kunstcharakter des auf diese Weise seine komplexe Gemachtheit ausstellenden Bil 

30 Vgl. Thiele 2003, S. 36; auch Kümmerling-Meibauer will nur das fiktionale Bilderbuch so bezeichnet wissen und verwendet für Sachbücher etc. den Terminus „illustriertes Buch“ (Kümmerling-Meibauer 2012). 31 Als weitere Beispiele wären etwa zu nennen: Eine Ausgabe der Fabeln des Aesop, Amsterdam 1659, die jeder Fabel eine Abbildung zur Seite stellt; frühe, mit Holzschnitten illustrierte Bilderbibeln und Erbauungsbücher (vgl. Whalley/Chester 1988, S. 10–22).  



https://doi.org/10.1515/9783110528299-015

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derbuchs: Die in ihm wirksame Spannung und unterschiedlich zu kategorisierende Wechselwirkung von Text und Bild wird je und je von Autoren und Illustratoren neu bestimmt und reflektiert (vgl. zu einer Kategorisierung der unterschiedlichen Wechselwirkungen z. B. Staiger 2014, S. 15).  



Modifikationen des Kodex. Doch erschöpft sich die künstlerische Kreativität des Bilderbuchs nicht darin, dass auf der flachen Buchseite Text und Bild intermedial miteinander agieren; Bilderbücher überschreiten die Grenze des Trägermediums Kodex auf vielfache Weise in drei grundsätzliche, einander teilweise überschneidende Richtungen, deren erste die kreative Nutzung des Materials Papier voraussetzt (Pop-up-Bücher, Bücher mit Schiebe-Elementen, heraustrennbaren Seiten, Stanzungen etc.), deren zweite das Buch als Spielobjekt konzipiert und es dabei teilweise von den materialen Voraussetzungen der Kodexform löst (Veränderungen des Materials: Badebücher, Stoffbilderbücher; Veränderungen der Form – rundes Buch, Buch als Spielfeld, Puzzle etc.) und deren dritte über das Buch hinaus auf weitere Medien verweist, die eventuell parallel existieren: Filme, Spiele und Apps zum Buch zum Beispiel. Das Spiel, das Bilderbuchkünstler und -hersteller auf diese Weise mit der tradierten Kodexform treiben, profitiert einerseits von der – und sei sie noch so vage – Buchanmutung des jeweiligen Objekts, das damit die Aura von Wissensvermittlung behält, die es pädagogisch wertvoll erscheinen lässt; andererseits ironisiert es mehr oder weniger gekonnt und demonstrativ diese Tradition. Außer dem Spiel mit materiellen Gestaltungselementen verfügen besonders erzählende Bilderbücher über Möglichkeiten der Selbstreflexivität, die sie mit allen anderen literarischen Texten teilen. Doch durch die Interdependenz der Medien sind im Bilderbuch textuelle von pikturalen (und ggf. materiellen) Metaisierungsstrategien heuristisch teilweise nur schwer trennbar. Hinzu tritt die durch jüngere Forschung in den Vordergrund gerückte Multimodalität von Bilderbüchern. Der Begriff, ursprünglich sozialwissenschaftlichen Kommunikationstheorien entstammend, bezeichnet die im Normalfall aus unterschiedlichsten Zeichen sich zusammensetzende Kommunikationssituation. So kommen bei Gesprächen Gestik und Mimik sowie der räumliche, thematische und situative Kontext zum gesprochenen Wort hinzu; in Bilderbüchern geraten neben Text, Bild und Materialität notwendig die (Vor-)Lesesituation sowie die visuelle, auditive und – besonders bei Spiel-, Bewegungs- und Verwandlungsbüchern – haptische Erfahrung des Rezipienten sowie ggf. pädagogische Aspekte in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit (vgl. Bateman 2014, insb. S. 72– 90; Oetken online).  











Zielgruppen. Eine weitere, damit durchaus in Verbindung zu setzende Entwicklung, die mit dem Experimentcharakter von Bilderbüchern in Verbindung steht, betrifft deren Zielgruppe. War diese zu Beginn der Geschichte des illustrierten Buchs bis weit ins 19. Jahrhundert hinein äußerst heterogen aus Kindern verschiedenen Alters, Jugendlichen und Erwachsenen zusammengesetzt, beschränkte sie sich danach mit zunehmender Alphabetisierung und der mentalitätsgeschichtlichen Konturierung eines Be 

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C 4 Bilder/Buch/Literatur

griffs von der Kindheit als Eigenzeit für ca. 150 Jahre auf Kinder, die noch nicht lesen können. In diese Zeit fällt auch die Entwicklung des Bilderbuchs im eigentlichen Sinne, als deren Anfangspunkt klassisch Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter von 1844 (1845 gedr.) gilt, dessen Entstehung sich aus dem neu entstandenen Bedarf an ‚kindgerechter Literatur‘ begründet.32 Im Kontext des künstlerischen Bilderbuchs mag dabei von Interesse sein, dass Hoffmann, eigentlich praktischer Arzt ohne künstlerische Ambitionen, sich durch das Auseinanderfallen zeitgenössischer Bilderbücher in „alberne Bildersammlungen“ und „moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen“, also durch die schlichte Ödnis des Vorhandenen, dazu gedrängt fühlte, ein andersartiges Bilderbuch zu entwerfen (zur Entstehungsgeschichte des Struwwelpeter vgl. Müller, Helmut 1975, S. 141–149). Dieses – so kann man unterstellen, und dieses Bemühen ist am Struwwelpeter selbst auch zu sehen – sollte die Medien Text und Bild geschickter und didaktisch anspruchsvoller verbinden und damit seine pädagogisch-moralische Botschaft nicht nur auf eine Weise transportieren, die Kinder (und Eltern als Käufer) eher ansprach, sondern die auch die künstlerischmedialen Möglichkeiten der Gattung neu bestimmte. Der Erfolg gab dem Autor recht.  





Remediatisierungen. In einer Zeit, als Bücher zunehmend Konkurrenz durch andere Medien erfahren, also etwa ab den 1950er Jahren, entwickeln sich nach und nach Verfahren der Remediatisierung (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012), d. h. Bücher werden als Adaptionsvorlage für (Zeichentrick-)Filme, Comics, Hörbücher, Computerspiele etc. genutzt. Damit gehen zwei parallel verlaufende Entwicklungen einher: Zum einen eine zunehmende Reflexion der eigenen Medialität und der eigenen künstlerischen Möglichkeiten im traditionellen Bilderbuch und damit parallel zur Entstehung des Künstlerbuchs in den 1960er Jahren die (neuerliche) Herausbildung eines künstlerischen Bilderbuchs (s. u.); zum anderen, übereinstimmend mit kanon- und traditionskritischen Tendenzen, die bewusste Öffnung des Bilderbuchs – wie anderer Medien auch – für eine größere und wiederum altersgemischte Rezipientengruppe (vgl. ebd.). Zu erwähnen sind dabei auch Phänomene der kommerzialisierten Adaption. Wird ein Stoff (z. B. Where the Wild Things Are von Maurice Sendak) oder eine Figur (z. B. der reisende Kuschelhase Felix oder das Grüffelo) transmedial adaptiert, so verschwimmt die Zielgruppe und der Verbreitungsrahmen dehnt sich aus – so gibt es zur Buchserie rund um Felix zwei Filme, eine Zeichentrickserie und ein Musical sowie zahlreiche Merchandising-Produkte (Kuscheltiere, Koffer, Schreibwaren u. v. m.). Doch nicht nur die Kategorisierungsfrage zum Alter der Zielgruppe wird dabei zunehmend unbeant 

















32 Das begründet auch Hoffmann selbst so: „Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: ‚Das brave Kind muss wahrhaft sein‘; oder: ‚Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘ usw.“ Hoffmann 1871, S. 768.  

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wortbar, Überschneidungen ereignen sich zusätzlich zwischen künstlerisch-experimentellen und wirtschaftlich erfolgreichen Produkten: Die Felix-Bücher stellen ihre Medialität durch eingelegte und herausnehmbare Briefe, Aufkleber etc. aus, dem neue Konzepte von Bild-Textlichkeit erprobenden Bilderbuch von Sendak wird 36 Jahre später ein ebenfalls experimenteller Spielfilm zur Seite gestellt (vgl. Staiger 2012). Methodische Erschließung der Kunstform Bilderbuch: Forschungsstand. Kinderund Jugendliteratur erfüllt eine Sonderrolle innerhalb des literarischen Lebens, weil sie stets „in einem impliziten pädagogischen Kontext erdacht, produziert und rezipiert wird“ (Thiele 2003, S. 11f.). Dies wird bei der wissenschaftlichen Betrachtung in der Regel mitgedacht. Doch gibt es auch den teilweise marktinduzierten Effekt, dass Bilderbücher sich mehr oder weniger implizit an erwachsene Rezipienten richten, sei es, weil die Kinder ohnehin nur das zu Gesicht bekommen, was Erwachsene für sie auswählen und weil das Bilderbuch sich entsprechend den Erwartungen der erwachsenen Käufer angleichen muss, sei es, weil sich die Ästhetik oder das Thema des Buches implizit oder explizit an Erwachsene richten. Zu den besonderen Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Bilderbuches zählt außerdem, dass es in der Regel vorgelesen wird, d. h. sein Text sich auf orale Präsentation und auditive Rezeption ausrichtet, und zwar durch Menschen, die sich in einer Phase des Spracherwerbs befinden, da sie erstmals spielerische, kreative und ästhetische Aspekte der Sprache wahrnehmen und erproben. Auch für die visual literacy ist die kindliche Bilderbucherfahrung bedeutsam (vgl. Arizpe/Farrar/McAdam 2018; Gressnich 2018). Wie mit Bilderbüchern als ästhetischen Gegenständen literaturund kunstwissenschaftlich zu verfahren ist, hat sich erst in den letzten Jahren zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung und Konzeptualisierung entwickelt. Michael Staiger hat ein Analyseschema entworfen, in dem er eine komplexere Alternative zur bisher vorherrschenden Text-Bild-Analyse vorschlägt und narrative, verbale, bildliche, intermodale, paratextuelle sowie materielle Dimensionen bei der Betrachtung des Gegenstandes berücksichtigt sehen möchte. Mareile Oetken hat rezent kritisiert, dass mediale Wechselwirkungen, die durch die zunehmende Durchdringung des kindlichen Alltags mit verschiedenen Medien entstehen, mit diesem Modell nur unzureichend erfasst werden können. (Vgl. Staiger 2014; kritisch dazu: Oetken online, S. 14; ebd., S. 16–18 eine Zusammenfassung der Forschungslage mit Stand 2017.) Tobias Kurwinkel hat in der Folge ein noch umfangreicheres Analysemodell entwickelt, in dem er eine Unterteilung in eine Makroanalyse des Kontexts von Produktion, Distribution, Rezeption des Mediums und eine Mikroanalyse vorschlägt, die sowohl textexterne Faktoren wie Paratext und Materialität erfasst als auch textinterne wie Handlung, Figuren, Motive und Themen, Raum; Schrifttext, Bildtext, Typografie; Interdependenzen von Bild und Text, daneben intermediale Einflüsse.33 Vielversprechend erscheint in jedem Fall ein semiotisch orientierter Ansatz, der das Bilderbuch als plurimediales, komplex arrangiertes Ensemble verschiedener Zeichen begreift, die in ihrem Miteinander und zumindest am Rande auch im Rahmen ihrer Einbettung in pädagogische und  







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C 4 Bilder/Buch/Literatur

ökonomische Kontexte beschrieben und analysiert werden müssen (zum Begriff der Plurimedialität von Werner Wolf vgl. Wolf 2014). Dabei sollte nicht ausschließlich das textlich-narrative oder das pädagogisch-didaktische Moment im Vordergrund stehen.34 Ohnehin ist „[d]ie Analyse von Bilderbüchern […] heute nicht als geschlossenes Konzept denkbar“, wie Jens Thiele schon im Jahr 2000 formuliert,35 sondern muss sich dem Einzelfall verschreiben, da Text-Bild-Träger-Beziehungen, die zusätzlich noch auf andere Medien und Kontexte verweisen können, in vollkommen unterschiedlichen Konstellationen auftreten. Anzumerken ist, dass der Zwang zur häufigen Reproduktion das Bilderbuch vom Künstlerbuch im engeren Sinne abhebt.36

C 4.2 Geschichte des künstlerischen Bilderbuchs Künstlerische Experimente mit den medialen Möglichkeiten des Buches gab es schon immer, so dass es nicht nur schwerfällt, den Gegenstand selbst abzugrenzen, sondern auch, eine spezifische Art von Metaisierung der Bilderbuchliteratur37 für die Moderne zu reklamieren. Vielmehr soll an dieser Stelle gezeigt werden, wie das Bilderbuch sich als plurimediale und multimodale Form in einem Ensemble künstlerischer Mischformen behauptet und seine Möglichkeiten kontinuierlich erweitert, indem es seine Medialität auf spezifische Weise ausstellt. Obwohl an dieser Stelle maßgeblich Beispiele aus dem 20. Jahrhundert erörtert werden, wie sie im Anschluss an eine weitergehende Tendenz zur Selbstbespiegelung und Selbststilisierung, zur Parodisierung der Tradition und des Kanons in der Kunst der Moderne auftreten, soll also keineswegs behauptet werden, es gebe solche For 

33 Die Subsumierung der Bildzeichen unter den Textbegriff stützt sich auf die kommunikationstheoretisch-semiotische Bestimmung von Nöth 2000a, S. 392, der einen Text als unter Umständen komplexe und plurimediale „verbale, nonverbale, visuelle und auditive Mitteilung“ definiert; vgl. Kurwinkel 2017, S. 7 f. Folgt man dieser Annahme, leuchtet aber nicht ganz ein, warum Bildlichkeit eine textinterne, Materialität aber eine in jedem Fall textexterne Kategorie sein soll. 34 Solche Aspekte stehen in Thiele 2003 noch sehr im Mittelpunkt, während sie in den Schriften von Kümmerling-Meibauer und auch Oetken merklich zurücktreten hinter einer literatur- bzw. medienwissenschaftlichen Betrachtungsweise. 35 Thiele 2003, S. 92. Noch weitgehender ist die Forderung ebd., S. 12: „Eine Ästhetikgeschichte muß das Bilderbuch im Spannungsfeld ökonomischer Bedingungen des Buchmarktes, kultureller und künstlerischer Strömungen sowie pädagogischer und entwicklungspsychologischer Theorien erfassen“. 36 Vgl. Van der Linden 2013, S. 12. Jedoch kann diese Notwendigkeit durchaus in mancher Hinsicht als Vorteil betrachtet werden: Künstler erreichen so einen weitaus breiteren Rezipientenkreis als üblich, können – unter bestimmten politischen Umständen – ihre Tätigkeit fortsetzen, ohne Repressionen ausgesetzt zu sein, und widmen sich einem ökonomisch u. U. lukrativeren Geschäft, vgl. ebd., S. 15. 37 Eine sehr knappe, aber plastische Geschichte des Bilderbuchs in Beispielen findet sich in Van der Linden 2013, S. 106–125. Weitere hier benutzte Referenztexte zur Geschichte des Bilderbuchs: Doderer/ Müller 1975; Whalley/Chester 1988; Kat. Ausst. 1999; Thiele 2003, S. 15–35; Heller 2008; Lemmens/Stommels 2009.  























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men und Tendenzen erst seit der Zeit der Avantgarden; vielmehr verstärken sie sich nur und werden bewusster ausgestellt (vgl. dazu Teil A). Als ein herausragendes Beispiel der den Kodex überschreitenden Bilderbuchkunst vor dieser Zeitspanne aus dem deutschsprachigen Raum seien die Panorama- und Kulissenbilderbücher des Autors und Künstlers Lothar Meggendorfer genannt, die ihrerseits auf frühere Beispiele aufstellbarer Krippenkulissen, faltbarer Glückwunschkarten (vgl. auch Teil D „Postkartenbücher“), Ausschneidebücher u. ä. zurückgriffen, wie sie in großer Zahl seit dem späten 18. Jahrhundert vor allem in Wien und London hergestellt wurden (vgl. alChammas online, S. 25f.; Grünewald 1993. Zu Meggendorfer vgl. Bachmann 2016a). Beispiele wie Der Internationale Circus (1887) oder Das Puppenhaus (1889) erzeugen durch aufwendige Falt-, Pop-up- und Klappelemente eine dreidimensionale, teils bespielbare Szenerie, die nicht in allen Fällen von Text begleitet wird.  





Abb. C 4: Lothar Meggendorfer: Der Internationale Circus. Esslingen 1887.  

Während Bilderbücher in Deutschland eine avantgardistische Ästhetik nach dem Ersten Weltkrieg umzusetzen begannen, erlebte das künstlerische Bilderbuch in Russland bereits kurz vor oder mit der Revolution bis etwa 1930 eine außerordentliche Blüte, deren Impulse in den 20er Jahren sowohl der deutschsprachigen wie auch der französischen Produktion entscheidenden Schub gaben. Suche nach dem verlorenen Paradies: ein Ausnahmebuch. Außerhalb dieser Traditionsreihe steht ein ungewöhnliches Bilderbuch aus Frankreich: „L’apparition du superbe livre d’Edy-Legrand, Macao et Cosmage, en 1919 consacre le renversement du rapport du prédominance du texte sur l’image qui a cours dans le livre illustré“ (Van der Linden 2007, S. 15). Das großformatige, quadratische (32 x 32 cm) Buch eröffnet 1919 die Kinderbuchreihe der Nouvelle Revue Française. Die Geschichte zweier Liebender auf einer fernen Insel, die von der einfallenden Zivilisation in Gestalt von Schiffen, Armeen, Ingenieuren und schließlich Touristen überrollt werden und sich schließlich auf ein letztes unberührtes Fleckchen ihres Eilands zurückziehen, wird mit nur wenigen Worten wiedergegeben, die zudem an die oberen und unteren Seitenränder gedrängt werden – wohingegen die Bilder mit großer Gewalt erzählen: Die tropische Vegetation, der ferne Horizont, die Unzahl von Soldaten, die den Admiral begleiten, dominieren die Seiten; das Einstürzen der Eindrücke auf die beiden Einsamen kann  









C 4 Bilder/Buch/Literatur

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der Leser umstandslos nachvollziehen. Die Illustrationen werden jeweils von einer oder wenigen komplementären Farben dominiert; die menschlichen Gestalten auf den Bildern erscheinen oft klein gegenüber einer übermächtigen Natur oder der erdrückenden Menschenmenge. Auch werden gelegentlich mehrere Handlungsabschnitte simultan auf einer Seite ins Bild gebracht. Doch nicht nur die bildliche Umsetzung, auch das Thema und seine Darstellung wirken verblüffend modern: Zivilisations-, Kolonialismus- und Militärkritik verbinden sich mit Vorstellungen von der Suche nach einem verlorenen natürlichen Paradies in einer wirtschaftlich vollständig nutzbar gemachten Welt. Hinzu kommen die an Philemon und Baucis gemahnenden Protagonisten Macao und Cosmage, die verschiedener Hautfarbe sind (Legrand 2004).

C 4.3 Russland und die russische Exil-Avantgarde 1917–1934 In der russischen Tradition wurden, anders als in der westeuropäischen, Kinderbücher in der Regel von Künstlern gestaltet, die Kunstakademien besucht und daher Anschluss an künstlerische Innovationen und Entwicklungen hatten sowie über eine klassische Ausbildung verfügten (vgl. für diesen Abschnitt Lemmens/Stommels 2009, S. 10). Um 1900 entstanden die ersten vierfarbigen Bilderbücher, doch die Künstler der avantgardistischen Bewegungen, Konstruktivisten und Futuristen, entdeckten ihr Interesse am Kinderbuch erst, als sie sich mit den Zielen der Revolution von 1917 identifizierten und sich am Programm der Volkserziehung durch kommunistische Werte beteiligen wollten. Dieses Programm gewann rasch nach der Etablierung der Sowjetmacht Priorität. Künstlerische Bemühungen sollten sich nun mehr als zuvor konkreten, praktisch anwendbaren Zwecken widmen. Doch viele Künstler gingen in den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg auch ins Exil. El Lissitzky pendelte zeitlebens zwischen Russland und Berlin, wo eine große Exilgemeinde ihre Arbeit fortsetzte. Sein so bekanntes wie stilbildendes abstraktes Bilderbuch Pro dva kvadrata erschien dort 1922 (vgl. zur Suprematistischen Geschichte zweier Quadrate auch Teil C6. Ein ähnliches Experiment Lissitzkys, das ebenfalls Typografie, zeichnerische Elemente und Buchgestaltung umfasst, ist der Band Dlia golosa mit Gedichten Vladimir Majakovskijs, 1923).  

Geschichte zweier Quadrate. In Pro dva kvadrata landen ein rotes und ein schwarzes Quadrat, aus dem All kommend, auf der Erde. Dort zerstören sie eine schwarze Konstruktion aus verschieden großen und breiten Balken und Flächen und errichten an ihrer Stelle eine rote. Auch wenn die sechs Seiten als fortlaufende ‚Geschichte‘ gelesen werden können, so lassen sie sich doch durch ihre Isolierung auf je einer Doppelseite, ihre Rahmung, die differente typografische Gestaltung und das weitgehende Fehlen syntaktischer und narrativer Kohärenz andererseits auch als Einzelkunstwerke verstehen. Angeblich als eine Art Sprech- oder sogar Filmchoreografie gedacht (vgl.

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Teil C Anfänge und Initiationen

Belkeddar 2014, unpag.), trägt das Buch ästhetisch die Handschrift des Suprematismus, der eine von der Gegenständlichkeit abgekoppelte Emotionalität propagierte. Zusätzlich zum abstrakten Charakter der Illustrationen werden typografische Elemente funktional wie bildlich eingesetzt. Der so gestaltete, sparsam verwendete Text besteht aus wenigen Worten pro Seite, die zwar aufgrund grammatischer Indikatoren und der Annahme einer regulären Leserichtung als Sätze wahrgenommen werden können, die aber nur über reihende Konjunktionen verbunden sind und bei denen Satzzeichen fehlen. Der Text bleibt auf dieses Weise semiotisch mehrdeutig. Das Buch ist vielfach als abstrakte allegorische Darstellung der russischen Revolution gedeutet worden (vgl. Lemmens/Stommels 2009, S. 87).  

Geometrisch-abstrakte Tendenzen. Stark geprägt wurde die nachrevolutionäre Grafik von Vladimir Lebedev, der 1925 begann, mit Samuil Maršak, dem Leiter des Leningrader Zweiges des Staatsverlags für Kinderliteratur Detizdat, zusammenzuarbeiten: Maršak zeichnete verantwortlich für die Texte, Lebedev für die künstlerische Gestaltung der Bücher. Seine flächigen, von geometrischen Formen bestimmten und farblich konstrastreichen Illustrationen auf ungerahmtem weißem Hintergrund waren stilbildend (vgl. ebd., S. 115), weil in ihnen der Weißraum der Buchseite auf neue Weise als programmatisch freie Fläche zum Tragen kam. Menschen stellte er, durch fehlende Gesichtszüge anonymisiert, bei der Arbeit oder beim Sport dar (vgl. z. B. Maršak/Lebedev 1925; Maršak/Lebedev 1931) und konkretisierte damit bildlich den neuen sozialistischen Menschentypus. Der programmatische Drang zur künstlerischen Abstraktion nimmt bereits junge Kinder in eine Schule des Sehens, erteilt mimetischer Weltbeschreibung auch in pädagogischer Absicht eine Absage und setzt an ihre Stelle die kalkulierte Verfremdung und Verallgemeinerung. Solche Impulse der futuristischen und konstruktivistischen Avantgarden werden danach erst in den italienischen Bilderbüchern der 50er und 60er Jahre wieder aufgegriffen.38  



Darstellung der Arbeitswelt. Ein Beispiel für ein Buch, das die Kodexform überschreitet, ist Piatiletka [Fünf-Jahres-Plan] von Alexej Laptew. In dem Leporello zur Industrie- und Arbeitswelt, dessen Seiten außerdem nach oben und nach unten aufklappbar sind, wird durch Text, Illustration und informationsgrafische Elemente der Fünf-Jahres-Plan 1927/28–1932/33 eindrucksvoll verdeutlicht: Aus 35 Bergwerken mit angeschlossenen Kraftwerken werden 120; ein kleiner Zug und eine Kamelkarawane werden zu einem ausgebauten Schienen- und Wasserverkehrsnetz. In der russischen Avantgarde geht der ideologische Bruch mit dem Bruch ästhetischer Rahmungen und Konventionen einher: So wird seit Beginn der 30er Jahre im Bilderbuch nicht mehr die Einzelseite, sondern die Doppelseite als Gestaltungseinheit wahrgenommen. In dem

38 Weitere Protagonisten außer den später im Pariser Exil aktiven Illustratoren waren z. B. Wladimir Konatschewitsch und Vera Jermolajewa, vgl. Lemmens/Stommels 2009, S. 73–128, hier bes. S. 99.  





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C 4 Bilder/Buch/Literatur

Buch von Olga Deineko und Nikolai Troshin Ot kautchuka do galoschi [Vom Kautschuk zur Galosche] gibt es bereits die doppelseitenübergreifende Illustration eines Fließbandes in einer Schuhfabrik, an dem 22 Arbeiterinnen Platz haben (Deineko/Troschin 1930; zur Nutzung der Doppelseite als Orientierungsraum s. u. Weiteres). Die Monotonie, aber auch der Rhythmus sich stets wiederholender Arbeitsabläufe wird in den Büchern häufig in der Gestaltung schematischer Figuren in gleicher Bewegungsabfolge und gleicher farblicher Gestaltung illustrativ gespiegelt (Deineko/Troschin 1931).  

Formexperimente bei Šterenberg und anderen. Solche Gestaltungselemente weist auch David Šterenbergs Büchlein Fizkultura [Körperliche Fitness] von 1930 auf, das ohne Text auskommt: Die kindlichen Figuren heben sich lediglich als grell farbige Silhouetten vor einem neutralfarbigen Hintergrund ab. Sie bewegen sich frei auf der Seite, ohne dass ein ‚Unten‘ oder ‚Oben‘ oder eine räumliche Perspektive suggeriert wird. Wenige zusätzliche, stark schematisierte Elemente deuten auf den Sport hin, der jeweils ausgeübt wird. Auch Šterenbergs Schwarz-Weiß-Lithografien, so z. B. zu Kiplings 40 Nord, 50 West (1931), stechen durch ihre Flächigkeit und scheinbar fehlende Raumordnung ins Auge. Die menschlichen und tierischen Figuren werden nebeneinander und übereinander auf die Seite gesetzt, teils lässt ihre Größe eine Perspektive vermuten, die jedoch sonst durch nichts angedeutet wird; teils werden sie durch unterschiedlich schattierte Hintergründe voneinander räumlich abgetrennt. Schraffuren, Verwischungen und ornamentale Strukturen und Effekte, die durch Ätzungen oder Auftragen von anderen Materialien auf den Druckstock entstanden sein könnten und zum Teil ungegenständlich sind, zum Teil Pflanzenstrukturen suggerieren, strukturieren den Seitenraum, erzeugen aber eher den Eindruck der bewusst hergestellten Unordnung als den einer plan- und sinnvollen Struktur (vgl. zu Šterenberg und seinen Büchern: Lemmens/Stommels 2009, S. 123ff.). Bereits mit der Revolution hatte die Emigration aus Russland eingesetzt, doch selbst dem Kommunismus zugeneigten Künstlern gegenüber wird die sowjetische Politik ab ca. 1930 deutlich repressiver. Mit der Etablierung der Doktrin des Sozialistischen Realismus ab 1934 war experimentelles oder avantgardistisches Kunstschaffen in Russland kaum noch möglich. Durch Ausstellungen in Berlin 1927, in Zürich, Paris und Amsterdam 1929 fanden die russischen Bilderbücher ein westeuropäisches Publikum, und sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich blieben sie nicht ohne Einfluss. Die französische Rezeption ist dadurch bestimmt, dass zahlreiche Exilkünstler von Russland aus über Berlin nach Paris umsiedelten. Beispielhaft für diese Bewegung kann der Maler Iwan Puni stehen, der zunächst 1919 nach Berlin, 1924 dann nach Paris emigrierte, wo er auch studiert hatte. Auch er betätigte sich gelegentlich als Illustrator: In dem Kinderbuch Skazki-minutki von 1922 tauchen kubistisch inspirierte, aus geometrischen Flächen zusammengesetzte Figuren auf, die aber, anders als bei Lissitzky, noch menschliche Gesichtszüge oder zumindest Elemente davon tragen.  



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Teil C Anfänge und Initiationen

C 4.4 Reformpädagogik und Innovation im französischen Bilderbuch In Paris gewann die innovative Formsprache der russischen Künstler und Illustratoren rasch mächtige Fürsprecher und Förderer: Zwar blieb die 1929 von Blaise Cendrars organisierte Ausstellung ohne unmittelbare Folgen (keins der dort präsentierten Bücher wurde übersetzt, vgl. Lévèque 1999, S. 73); doch der Beauftragte der französischen Regierung für die Erforschung neuer pädagogischer Methoden, Paul Faucher, entwickelte ab 1931 unter dem Einfluss reformerzieherischer Modelle des tschechischen Pädagogen František Bakule – der der Kunst eine zentrale Rolle in der Erziehung zuerkennt – die überaus einflussreiche Buchreihe Les albums du Père Castor (vgl. ebd., S. 73–76; Lemmens/Stoffels, S. 144–150; Père Castor 1999), für die er zahlreiche russische Exilkünstler, so z. B. Nathalie Parain39 und Natan Altman, als Illustratoren gewann.  











Die Albums. Zu den Albums zählen verschiedene Reihen. Einerseits handelt es sich um eher konventionell gestaltete Bilderbücher, die jedoch stets mit besonderen Illustrationen versehen werden, z. B. Nathalie Parains Baba Yaga, das die flächigen grafischen Elemente der Suprematisten mit einer russischen Volkserzählung verbindet und dabei Figuren von Lebedev im Bild zitiert oder Feodor Rojankovskys Froux le lièvre, das Elemente der Narration von Zeit in den Illustrationen statt im Text vermittelt (Celli/Parain 1932; Lida/Rojankovsky 1935). Andererseits publiziert ‚Père Castor‘ in einer eigenen Serie die prachtvollen Panorama-Leporellos von Alexandra Exter. Daneben gibt es eine Reihe pädagogisch konzipierter Spielbücher wie z. B. Les trois ours (Celli/Chem/Deffontaines 1933), in dem auf knappen vier Seiten am Anfang und Ende des Buches in einfachen Schwarz-Weiß-Illustrationen in Tinte die bekannte Geschichte von Goldlöckchen dargestellt wird (das Märchen Goldilocks and the Three Bears wurde erstmals 1837 aufgezeichnet von Robert Southey). Die mittleren acht Seiten sind in je vier Karten teilbar, auf denen farbige Motive aus dem Bärenhaus in je drei verschiedenen Größen abgebildet sind. Die letzte der unpaginierten Doppelseiten enthält an die Mutter gerichtete Anregungen für Lernspiele mit diesen Karten.  



39 d. i. Natascha Tschelpanowa. Zahlreiche Abbildungen der Bücher von Nathalie Parain in der Reihe finden sich in Kat. Ausst. 1999, S. 110–114.  



C 4 Bilder/Buch/Literatur

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Abb. C 5: Rose Celli/Nathalie Parain: Baba Yaga (Paris 1932). Paris 1996, S. 24f.  



Bastel- und Spielideen. Eine ähnliche Aufmachung findet sich auch in De Fil en Aiguille (Père Castor/Charcane 1934), allerdings ist die Gestaltung inzwischen verfeinert worden: Die heraustrennbaren Karten sind nun an den Rändern perforiert. Das Buch scheint für ältere Kinder gemacht zu sein, denn es setzt voraus, dass Tätigkeiten verschiedener Berufe in eine Reihenfolge gebracht werden können. Ist das gelungen, ergibt sich auf der Rückseite der Kartenreihe ein sinnvoller Satz. Die Reihe Découpage – Montage bietet Anregungen zum Basteln und spielerischen Umgang mit dem Material des Buches selbst (z. B. Parain 1932; Belves 1953). Vor den Augen des kindlichen Rezipienten wird der Buchkörper auf diese Weise zum verwertbaren Material, das nicht auf seine konventionelle Funktion beschränkt bleibt. Mit den Jahren werden die Spielideen nicht nur anspruchsvoller, sondern auch herstellungstechnisch komplexer.40 Die Verbindung von innovativer Illustration, die oft Anregungen und Elemente der künstlerischen Avantgarden aufgreift, mit fortschrittlicher Pädagogik macht den ungeheuren Neuerungsschub aus, den die Reihe verkörpert, die in ihrem Anspruch und ihrer programmatischen Nähe des Bilderbuchs zum künstlerischen Experiment die französische Bilderbuchproduktion bis heute prägt.  



40 Vgl. z. B. Wischnevsky 1934 (hier geht es um das Nachlegen verschiedener Objekte aus geometrischen Formen); Lida/Charcane 1936 (Zuordnungsspiel: Tiere und ihre Nester, mit zahlreichen Informationen zu den Tieren); Bellenfant 1937 (fotografierte Collageszenen mit Anregungen zum Nachbilden).  

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Neue Seitengestaltungsformen: Babar. Mit Jean Brunhoffs Histoire de Babar und den Albums du Père Castor bricht in Frankreich eine neue Epoche des Bilderbuchs an (Brunhoff 1931). In Brunhoffs äußerst erfolgreichem Buch über die Reise des kleinen Elefanten Babar in die zivilisierte Welt und zurück in den heimatlichen Urwald zeigt sich eine neue Form der Seitenorganisation. Oft trennten Bilderbücher bis zu diesem Zeitpunkt in Text- und Bildseiten, doch selbst wo sie es nicht taten, blieb die Darstellung auf die Einzelseite konzentriert, und damit las auch der Leser wie beim ausschließlich durch Text bestimmten Buch zunächst die linke Seite von links nach rechts und von oben nach unten, danach rechts in gleicher Richtung. In der Histoire de Babar hingegen und in ihrer Folge wird die Doppelseite zur pikturalen und textuellen Folie, die nicht nur aufgrund der größeren Fläche eine Erweiterung des Betrachtungsraums bewirkt, sondern auf der auch durch gezielte, teilweise symbolisch eingesetzte Überschreitung der Mittelfalz andere narrative Dynamiken in Gang gesetzt werden – und zwar durch Texte wie durch Bilder und durch beider Zusammenwirken. Die scheinbar simple Operation einer Überschreitung der Einheit ‚Seite‘ erzeugt letztlich einen Prozess des produktiven Nachdenkens und Experimentierens mit Narrativen im Bilderbuch. So lässt sich auf der Doppelseite 8/9 in Histoire de Babar etwa der Weg des kleinen Elefanten vom Wald in die Stadt über die als Schwelle eingesetzte Mittelfalz hinweg verfolgen. Dabei ist der Wegverlauf nur ansatzweise zeichnerisch markiert und wird einzig durch die wiederholt auftauchende Figur des Tieres in seinen Etappen nachvollziehbar. Die Mittelfalz markiert die Trennung zwischen der natürlichen Umgebung auf der einen und der städtischen auf der anderen Einzelseite allein durch ihre Anwesenheit. Damit werden ohnehin vorhandene Merkmale und Erscheinungsformen des Kodex zeichenhaft besetzt und ins Narrativ eingebunden; die Erzählung selbst knüpft sich so an ihr Medium, das nicht mehr als zufällig zuhandenes und konventionelles, sondern als sinnhaft und in seinen Eigenschaften ausstellungswürdig präsentiert wird.  

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Abb. C 6: Jean Brunhoff: Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten. Übers. von Carolin Wiedemeyer. Köln 2016 (Orig.: Histoire de Babar le petit éléphant. Paris 1931).  

C 4.5 Das Bilderbuch in der Weimarer Republik Auch im Deutschland der Weimarer Republik wurden innovative Bilderbücher hergestellt, die sich an Form- und Stilentwicklungen der Avantgarden beteiligten und in starkem Kontrast zu der vorherrschenden konventionellen Kinderliteratur standen, die oft eine überschaubare, idyllisierte, auf die Häuslichkeit und das engste Umfeld konzentrierte Welt abbildete (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012; Doderer 1975; Halbey 1975; Merkelbach 1975). Eine Ausstellung russischer Illustrationskunst hatte es 1922 auch in Berlin und 1923 in Wien gegeben, so dass man mit der Formsprache der Suprematisten und Futuristen vertraut war. Auch Künstler wie Otto Dix und Oskar Kokoschka experimentierten mit dem Bilderbuchformat und gestalteten teils Privatgaben an Personen aus ihrem Umfeld (Dix 2016; Dix 1991; Kokoschka 1959), doch es gibt mit Büchern wie dem Wunderhaus von Tom Seidmann-Freud auch Publikationen, die für einen breiteren Markt gedacht waren und dennoch explizit zeitgemäße ästhetische Illustrationen für Kinder oder gar Elemente bieten, die den Buchraum als Spielraum erfahrbar machen. Im frühen Verwandlungsbuch Wunderhaus sind eine Farbsowie eine Wortkarte beigegeben, die über die Illustrationen und Texte gelegt werden können, um einige Elemente zu verbergen und andere zu verändern; außerdem gibt es Zieh- und Drehelemente (Seidmann-Freud 1927). Auch hier lassen sich die Einflüsse reformpädagogischer Konzepte feststellen, „die die frühe Begegnung mit der Kunst als entscheidenden Schritt in der kognitiv-emotionalen und ästhetischen Entwicklung des Kindes postulierten“ (Kümmerling-Meibauer 2012) und darauf zielten, alle Sinne des Kindes zu stimulieren und zu schulen. Der Gedanke eines möglichst umfassenden

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Lernangebots und einer selbstständigen Schwerpunktsetzung des Kindes erfordert eine umfangreiche, das künstlerisch Experimentelle bewusst integrierende Erziehungspolitik (vgl. ebd.).41 Neben Maria Montessori und Friedrich Fröbel zählten auch die schwedische Autorin Ellen Key (Key 1921) sowie der Hamburger Museumspädagoge und Museumsdirektor Alfred Lichtwark zu den Anregern der neuen Bilderbuchkunst.

Abb. C 7: Tom Seidmann-Freud: Das Wunderhaus. Ein Bilderbuch zum Drehen, Bewegen und Verwandeln. Berlin 1927.  

Reformpädagogik und Konstruktivsmus. Nicht zuletzt das Spiel mit geometrischen Formen, das die Reformpädagogik anregt (vgl. Timmer 1999, S. 250) und das der Konstruktivismus zur künstlerischen Strategie macht, findet seinen Nachklang im Bilderbuch – auch wenn es keinen direkten Austausch zwischen Pädagogen und Künstlern gegeben zu haben scheint. Die bekanntesten und auf ihre Art singulären Bilderbü 



41 Kümmerling-Meibauer bemängelt das Fehlen einer umfassenden Untersuchung zu den Zusammenhängen von Avantgarde, Bilderbuch und Reformpädagogik, die leider bis heute nicht vorliegt.

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cher, die in Deutschland mit Figuren aus geometrischen Formen arbeiten, sind Hilde Krügers Widiwondelwald (1924) und Hurleburles Wolkenreise (1926). Darin stehen sich Text- und Bildseiten gegenüber. Der Text besteht aus einem kurzen, gereimten und in Fraktur mittig auf die Seite gesetzten Gedicht über das Märchenwesen, das im Bild rechts gegenüber zu sehen ist. Die Märchenwesen – der Widiwondel, Rumpelstilz oder Hurleburle – bestehen samt ihrer bildlichen Umgebung in der Natur, wie der Untertitel der Bücher jeweils ankündigt, „aus bunten Dreiecken“, vor allem aus den Primärfarben und Grün, daneben werden auch Brauntöne, Schwarz und Weiß eingesetzt. Dadurch, dass alle Figuren aus Dreieckskombinationen bestehen, erscheinen sie wie statische Tänzer. Verzerrte Dreiecksformationen am Boden suggerieren eine Perspektive. Lediglich ein vegetabiles Element, ein Ast, eine Baumkrone, weist gelegentlich eine Rundung auf, die die Starrheit der Bildanordnung durchbricht. Über die Künstlerin, ihre Ausbildung, ihre Nähe zu künstlerischen Kreisen, ihre pädagogische Intention, ist nichts bekannt.  



Abb. C 8: Hilde Krüger: Der Widiwondelwald. Berlin 1924.  

Lissitzky, Schwitters, Steinitz. Das Experiment erstreckte sich nicht nur auf die künstlerische Formgebung der Illustrationen, sondern band die Typografie mit ein. Bücher wie der von El Lissitzky gestaltete Gedichtband Mayakovsky dlya golosa [Majakowskij für die Stimme] (1922), der „notable not only for the whimsical and expressive play of typefaces (actually, of sizes), but also for its inventive use of the decorative potential of typesetting“ war (Steiner 1999, S. 33), veranlassten künstlerische Experimente mit Typografie auch im Kinder- bzw. Bilderbuch. Lissitzky selbst verwandelte Buchstaben (zurück) in Figuren, indem er sie kreuz und quer auf die Seite setzte, ihre Größe und Stärke variierte und sie mit anderen Buchstaben zu Bildzeichen kom 

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binierte, die piktografischen Charakter erlangen konnten.42 Diese Anregungen wurden von Theo van Doesburg, Käte Steinitz und Kurt Schwitters in der bekannten Scheuche (1925) fortgesetzt und von Steinitz im New Yorker Exil in ihrem handgezeichneten und erst 2007 als Faksimile gedruckten Bilderbuch Billy nochmals radikalisiert (eine ausführliche Beschreibung des Buches findet sich in dessen Nachwort, Steinitz 2007, S. 47–62). Während in Lissitzkys Pro dva kvadrata und Chetyre arifmeticheskie deistviya die grafische und typografische Umsetzung einer beherrschbaren, im Sinne des frühen Sowjetkommunismus ideologisierten Wirklichkeit zum didaktischen Ziel wurde, entsteht bei Schwitters und Steinitz der umgekehrte Eindruck einer zunehmenden Anarchie der Zeichen bzw. von deren Loslösung aus ihrer konventionellen Funktion und ihrem bisherigen medialen Umfeld. Typografische Zeichen werden zu pikturalen kombiniert und erlangen auf diese Weise nicht nur ikonische Valenz, sondern verweisen metareflexiv darauf, dass die Welt letztlich aus Zeichen besteht, die auf verschiedene Weise les- und deutbar sind.  

Abb. C 9: Käte Steinitz: Billy. Frankfurt a. M. 2007, S. 4f.  





42 S. o.; Dabei experimentierte er nicht nur mit lateinischen und kyrillischen Buchstaben. Vor und während seiner Zeit in Berlin veröffentlichte Lissitzky insgesamt auch 16 Bilderbücher in jiddischer Sprache. Bemerkenswert ist besonders auch das letzte von Lissitzky gestaltete Buch dieser Art: Lissitzky 1928. Für eine eingehende Beschreibung mit Abbildungen s. Steiner 1999, S. 33–39; vgl. Kat. Ausst. 1999, S. 136– 141 [Bildteil].  





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C 4 Bilder/Buch/Literatur

C 4.6 Der italienische Futurismus und seine Erben Auch in Italien sind es die Futuristen, die Kinder als Nutznießer von Kunsterziehung in den Blick nehmen. Wenn die Welt entsprechend neuen ästhetischen Idealen verändert werden soll, wie im Manifest zur futuristischen Rekonstruktion des Universums von 1915 vorgesehen, erscheint es sinnvoll, pädagogisch bei den Jüngsten anzusetzen. Die Kritik der Verfasser, der Künstler Giacomo Balla und Fortunato Depero, entzündet sich an der Einfallslosigkeit traditioneller Spielmaterialien: Nei giochi e nei giocattoli, come in tutte le manifestazioni passatiste, non c’è che grottesca imitazione, timidezza, (trenini, carrozzini, pupazzi immobili, caricature cretine d’oggetti domestici), antiginnastici o monotoni, solamente atti a istupidire e ad avvilire il bambino.43

Balla und Depero wollen den Kindern „plastische Gebilde“ an die Hand geben, die so amüsant wie phantasieanregend sein sollen und mit denen sinnliche Erfahrungen unterschiedlichster Art gemacht werden können. Schließlich soll sich das Kind auch sportlich betätigen, um später kriegstüchtig zu sein. Es gab in der Folgezeit futuristische Ausstellungen, die Kunst oder Möbel für Kinder vorstellten, doch zunächst kaum Auswirkungen futuristischer Ästhetik auf die Kinderliteratur (vgl. Cavadini 1999, S. 258f.).  

Bruno Munari. In den späten 20er Jahren dann schließt sich der 1907 geborene Grafiker Bruno Munari der futuristischen Künstlergruppe an. Er arbeitet zunächst als Maler, schreibt 1928 gemeinsam mit Aligi Sassu ein Manifest der Malerei,44 das eine antinatürliche Ästhetik propagiert, und entwirft in den 30er Jahren Mobiles und bewegliche ‚Maschinen‘, die nicht immer den Charakter von Spielzeugen besitzen. Seine Tätigkeit als Grafiker für den Mondadori-Verlag und der eigene Sohn bringen ihn dazu, Bücher für Kinder zu entwerfen – eine Tätigkeit, die er bis ans Lebensende neben zahllosen anderen Aktivitäten verfolgt. In Anlehnung an seine frühen Konzepte der Dynamik und Objektbezogenheit betonen auch seine Bücher auf verschiedene Weise stets den eigenen Objektcharakter (wie auch im Übrigen seine Tätigkeit sich nie auf Bücher beschränkte, sondern stets künstlerische wie spielerische Objekte einschloss).45 Sei es, dass sie eine vielfältige Materialstruktur aufweisen wie in Nella neb 

43 „In den Spielen und Spielzeugen findet sich, wie in allen überlebten Ausdrucksformen, nichts als groteske Nachahmung, Furchtsamkeit (winzige Züge, Wägelchen, unbewegliche Püppchen, idiotische Karikaturen häuslicher Gegenstände), antigymnastisch und monoton, und sie sind nur dazu geeignet, das Kind zu verdummen und zu entwürdigen.“ Balla/Depero 1915, zit. nach Tedeschi 1995, S. 180 f. Übersetzung SH. Vgl. dazu Cavadini 1999, S. 253f. 44 Manifesto della pittura, vgl. http://www.aligisassu.it/argtxtit/arg002.htm (01.02.2018). Ein weiteres Manifest Munaris aus dem Jahr 1938 trägt den Titel Manifesto del macchinismo [Manifest des Maschinismus]. 45 Vgl. zu den Spielzeugen Deperos und Munaris Cavadini 1999, S. 259.  







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bia di Milano (s. u.), sei es, dass sie als text- wie bildlose, aber materiell verschiedenartig gestaltete Bücher Kleinstkinder lustvoll an die Kodexform heranführen sollen, die ihnen beim späteren Lernen noch so häufig begegnen wird (I prelibri); sei es, dass kunstdidaktische Inhalte ästhetisch ansprechend aufbereitet werden (Disegnare un’albero, Le rose nell’insalata), sei es, dass die Aufmerksamkeit und das Lerninteresse durch phantasievolle Zusammenstellung verschiedenster Lerninhalte unter einem grafisch-geometrischen Vorzeichen befördert werden sollen (Il quadrato; Il cerchio; La scoperta del triangolo). In teilweise als Bewegungsbüchern gestalteten Bilderbüchern ohne Text, den Libri illegibili, verfolgt Munari die Absicht, den Rezipienten durch das Experimentieren mit dem Buchkörper selbst zum Protagonisten einer nicht vorgegebenen Handlung werden zu lassen. Teilweise sind die 32 Seiten der kleinen Bände mit Bindfaden zusammengefasst, aber nicht im eigentlichen Sinne gebunden, und können dementsprechend vom Leser in eine andere Reihenfolge gebracht werden. Die Seiten unterscheiden sich farblich, nach Format oder Material, weisen Faltungen und Stanzungen oder einen ‚eingewebten‘ Faden auf. Von den Libri illegibili sind nur die wenigsten mit Blick auf den kindlichen Rezipienten entstanden, einige sogar als künstlerische Auftragsarbeiten angefertigt worden (vgl. Beckett 2014, S. 54–57).  



Munaris Nella nebbia di Milano (1968). Die Bilderbücher des italienischen Buchkünstlers Bruno Munari wählen oft das quadratische Format (hier 21,5 x 21,5 cm) und serifenlose Schriften. Die an zeitgenössische Plakatkunst angelehnte Grafik suggeriert eine nüchterne Informationshaltigkeit und verhält sich damit bewusst kontrastiv zur traditionell süßlich-naiven Gestaltung und Farbgebung von Kinderbuchillustrationen. Bereits der Vorsatz von Nella nebbia di Milano präsentiert sich nebelförmig: Die Buchstaben des Titels sind grau gestrichelt auf grauem Grund, ein kurzer Text über den Nebel im Winter bildet die Einführung ins Thema. Der Innenteil besteht aus 12 Blatt beidseitig, teilweise farbig bedrucktem transparentem Papier; nach 8 Blättern sind 14 Blatt dünner Karton eingefügt, dessen Farbskala regenbogenartig von rosa außen bis rot innen und zurück verläuft. Auch diese Seiten sind beidseitig, ausschließlich schwarz, bedruckt, weisen aber zusätzlich Ausstanzungen auf. Die transparenten Seiten akkumulieren ein Ensemble städtisch markierter Zeichen (Ampeln, Straßenschilder, Fahrzeuge, Bauwerke, Werbesprüche) und verdeutlichen gleichzeitig – durch die Darstellung von Tieren und Pflanzen, Hervorhebung menschlicher Augen oder Haare und nicht zuletzt durch den in Text und Gestaltung beschriebenen Nebel – die Durchdringung und Überwältigung der städtischen Zeichen durch die natürlichen. Der Effekt des Nebels auf die Wahrnehmung wird auf vielfache Weise in Text und Bild nachgebildet: Unklare Konturen überlagern sich in Schichten, Texte lassen sich vorwärts und rückwärts lesen, je nach Blättervorgang ergeben sich unterschiedliche An- und Durchsichten. Der Nebel, so der die Gestaltung behutsam erläuternde Text, wird schließlich durch die Lichter eines Zirkus eingefärbt, dem sich der nichtsahnende Leser auf seinem Weg durch die dunstige Stadt genähert hat. Auch die farbigen Seiten ermöglichen das blätternde Experimentieren mit verschiedenen An 









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und Durchsichten, da durch Ausstanzungen jeweils Motive der hinter der aktuellen Seite liegenden Blätter sichtbar werden. Auf den Zeichnungen dieser Seiten sind menschliche und tierische Gestalten identifizierbar, aber wenig realistisch und fast nur in Umrissen dargestellt. Auf den Seiten gibt es keine Tiefenperspektive, kein erkennbares Vorn oder Hinten, die Größenverhältnisse von Menschen, Tieren und Geräten entsprechen nicht den Sehgewohnheiten, die Gestalten schweben auf der Seite. Die kurzen, begleitenden Texte sind lautspielerisch, scheinbar sinnlos oder beschreiben eine Wirklichkeit, für die der Kontext fehlt. Während der Text des ersten Teils kurze Beschreibungen liefert, wie sich die Stadt im Nebel verhält und verändert, der Weg hinein in den Zirkus und hinaus klar markiert wird („Komm, wir gehen schauen“; „wir verlassen den ‚Gran Circo‘ und gehen durch den Park nach Hause“. Munari 1968, unpag.), bildet der Zirkus selbst die bunte, unordentliche und farbige Innenwelt. Die Seiten nach dem solcherart inszenierten Zirkusbesuch zeichnen den Weg nach Hause durch den stillen Park nach, in dem lediglich ein Mann zweimal nach seinem Hund ruft. Die Narration wird nur an bestimmten Stellen, an denen eine stärkere Leserlenkung sinnvoll erscheint (nämlich auf den Vorsatzseiten und denjenigen, die den Rahmen um den Zirkus-Teil bilden), durch den Text gewährleistet. Im Übrigen tragen die Illustrationen und die künstlerische Gestaltung des Buches die Semantik. Durch Materialauswahl und -bearbeitung ermöglicht Nella nebbia di Milano ein kombinatorisches Spiel mit Wahrnehmungsexperimenten. Neben optischen Reizen treten akustische (lautmalerische Elemente im Zirkus-Teil, Rufe) und haptische hinzu (Struktur des Papiers, Ausstanzungen). Voraussetzung für die meisten Effekte ist allerdings tatsächlich immer noch, dass Oben und Unten des Buchkörpers gleich bleiben. Die asymmetrische Aufteilung in zwei völlig unterschiedlich gestaltete Teile irritiert zunächst und wird aus diesem Grund relativ deutlich textuell gesteuert. Es bleibt dennoch die autonom zu lösende Aufgabe des Lesers, die Komplementarität der Teile anzuerkennen. Dadurch löst sich auch hier das Buch in vieler Hinsicht von der Bindung an einen bestimmten Rezipiententypus und entzieht sich so Markt- und pädagogischen Konventionen.

Abb. C 10: Bruno Munari: Im Nebel von Mailand. Frankfurt a. M. 2007 (Orig.: Nella nebbia di Milano. Mailand 1968).  

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C 4.7 Entwicklung in England Mit der Gründung des Penguin-Verlages 1935, der unmittelbar das in Russland und Frankreich bereits eingeführte, günstigere Paperback-Format für Bilderbücher aufgriff, begann auch in England eine neue Ära der Kinderbuchproduktion. Die Kinder kauften sich ihre Bücher nun selbst vom Taschengeld. Mit der Einführung der OffsetFarblithografie, die sich zunehmend auch Künstler zunutze machten, entwickelte Noel Carrington für Penguin die Serie Puffin Picturebooks, die sich vor allem auf Sachbücher konzentrierte und bis in die 60er Jahre fortgeführt wurde (vgl. Whalley/ Chester 1988, S. 197f.). Während im kontinentalen Europa verschiedene von den Avantgarden ausgelöste künstlerische Trends die Entwicklung des Bilderbuchs zumindest streiften, blieb in England die genaue und künstlerisch anspruchsvolle Darstellung von Tieren und Menschen dominant. Die stark von einer charakteristischen Schraffurtechnik geprägten Tintenzeichnungen Edward Ardizzones, die häufig genau beobachtete Menschen in verschiedensten Situationen des Miteinanders zeigen – beim Spielen, auf der Reise, in die Lektüre vertieft –, sind Beispiele für diese Tradition (z. B. Farjeon/Ardizzone 1955).  







C 4.8 Fotobilderbücher Seit den 30er Jahren experimentierten Bilderbuchkünstler auch mit dem Medium Fotografie. Lise Deharmes und Claude Cahuns Le Cœur de Pic kombiniert kleine Gedichte mit fotografischen Arrangements, die entfernt an die Bilder Salvador Dalís erinnern. Alltagsgegenstände werden darin scheinbar assoziativ miteinander kombiniert und teilweise durch Gesichtszüge oder in Anlehnung an die Gestalt menschlicher Körper personalisiert. Auch die Texte von Lise Deharme imitieren surrealistische Verfahrensweisen. Die Rahmung der Fotografien durch schwarze Linien erzeugt in Kombination mit dem ihnen links gegenüber stehenden Text eine noch deutlichere Anmutung von Artifizialität (Cahun/Deharme 2004). Der Eindruck eines momentanen Stillstands, den Fotografien erzeugen, und der sich an diesem Beispiel, das den Effekt bewusst einsetzt, gut beobachten lässt, hat dazu geführt, dass Fotobilderbücher nie eine echte Konkurrenz für die illustrierten dargestellt haben.46 Dennoch gibt es schon früh Bücher, die die Fotografie als eins unter mehreren Medien verwenden, so Piet Zwarts Het boek van PTT [Das Buch von der Post] aus dem Jahr 1938 (Abb. vgl. Kat. Ausst. 1999, S. 155), das Fotos mit Illustrationen und typografisch variabel gestaltetem Text in seitenweise organisierte Collagen einbindet und durch die Verschiedenartigkeit und Dy 

46 „The photograph has a static, fixed nature best suited to documentary and informative works, as opposed to the movement, action and mood present in creative writing that illustrations can convey much more competently. Photography deadens the traditional tale or nursery classic; drawings give life, and a free rein to the child’s imagination.“ Whalley/Chester 1988, S. 201.  

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namik der Mittel den Eindruck von technischer Innovation und Rasanz erzeugt, der die Telekommunikation in jenen Jahren auszeichnet – dabei wohl nicht uninspiriert von einer futuristischen Ästhetik der Geschwindigkeit und der Effizienz. Bis heute gibt es Bilderbücher, die sich mit ähnlichen Strategien die Vorteile der Fotografie – die mimetische Genauigkeit, den Eindruck stillgestellter Zeit – zu eigen machen. So arbeitet die deutsche Bilderbuchautorin Antje Damm seit Jahren mit Fotografien für ihre Bücher. In dem 2017 mit dem Troisdorfer Bilderbuchpreis ausgezeichneten Band Der Besuch kombiniert sie gezeichnete und ausgeschnittene Figuren und Objekte auf von Hand kolorierten Fotografien. Durch das Arrangement der Gegenstände und den natürlichen Lichteinfall auf den Fotos entsteht der Eindruck einer Bühne, auf der die Figuren, ein kleiner Junge und eine alte Frau, die er durch einen fehlgeleiteten Papierflieger kennenlernt, in ihrem Miteinander plastischer und flexibler wirken.  





C 4.9 Abstraktion und Genrehybridität: Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts  

Der Anschluss an das vor dem Zweiten Weltkrieg Gestaltete findet vor allem durch italienische Künstler und durch Emigranten aus Osteuropa in den USA statt, auch weil dort neu entstehende öffentliche Büchereien mit Kinderabteilungen die Nachfrage stimulieren (vgl. Whalley/Chester 1988, S. 209). Technische Neuerungen wie die Verbesserung der Farbentrennung in der Offset-Lithografie ermöglichen Bilder von bis dahin ungekannter farblicher Intensität (vgl. ebd., S. 215). Die Fortentwicklung ästhetischer Konzepte der Avantgarden geht mit einer breiteren Akzeptanz liberaler erzieherischer Vorstellungen und der antiautoritären Bewegung einher. Das bereits von den Futuristen angemahnte Erziehungsziel, alle Sinne der Kinder zu mobilisieren, wird nun unter veränderten Vorzeichen erneut propagiert – die Kinder sollen nicht mehr fit für den Krieg, wohl aber für eine technisch dominierte Welt und ihre Anforderungen werden. Parallel dazu entsteht eine Richtung, die angesichts der zunehmend technisierten äußeren Welt auf eine innere Welt der Phantasie, der Erfindungskraft und der Träumerei hinweisen will. In Italien verlegt Emme Edizioni die Bücher von Leo Lionni, Gianni Rodari und Iela und Enzo Mari.  





Mari: Il palloncino rosso (1967) zeigt in Tintenumrisszeichnungen mit klaren Linien auf Illustrationen, die jeweils eine ganze Seite bzw. Doppelseite einnehmen, die Geschichte eines roten Ballons, der als Kaugummiblase aus dem Mund eines Kindes kommt, sich löst und zu einem Luftballon wird, der dann als Apfel am Zweig eines Baums hängenbleibt. Er fällt herunter, platzt auf, verwandelt sich in einen Schmetterling, der wiederum in einer Wiese als Blüte hängenbleibt. Diese wird gepflückt, ändert ihre Form, bis sie die Gestalt eines Schirms annimmt, unter dem das Kind davonspaziert. Das textlose Bilderbuch erzählt auf diese Weise die Geschichte von der Wandelbarkeit aller Phänomene – ob sich die Kette von Metamorphosen lediglich in der  

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Phantasie abspielt, bleibt ungewiss, angestoßen von ihr wird sie in jedem Fall. Aus dem so unkomplizierten wie scharfen Kontrast zwischen den Schwarzweißumrissen des kindlichen Gesichts, des Zweiges und der Blumenwiese und dem roten, zunächst runden, dann sich wandelnden Element entsteht die Dynamik der Erzählung, die durch das Umblättern der Seiten vorangetrieben wird, das die Illustratorin hier als Mittel der Narration einbezieht. Zusätzlich thematisiert die simple Geschichte den Übergang von einer menschenbezogenen Umwelt in eine nichtmenschliche Natur und zurück. Die Schwelle wird von dem roten Ballon mühelos überquert, der daraufhin zum Naturelement mutiert und erst am Ende wieder – wie am Anfang – zum menschlichen Alltagsaccessoire gerinnt.  



Abb. C 11: Iela Mari: Il palloncino rosso. Mailand 1967.  

Bücher von Lionni und Lavater. Mit runden Formen spielen auch die ebenso bekannten Bücher von Leo Lionni Little Blue and Little Yellow (1959; vgl. zu Lionni z. B. Druker 2018, S. 50) und Le petit chaperon rouge von Warja Lavater (1965). Beide Bücher personalisieren ihre jeweils in Aquarell geklecksten (und bei Lionni ausgerissenen und aufgeklebten) runden Protagonisten in außergewöhnlicher Weise. Bruno Munari begründete die Wahl der runden Form 1964 so:  



il cerchio ha relazioni divine: un cerchio semplice ha rappresentato fin dai tempi antichi e rappresenta ancora oggi l’eternità, non avendo né principio né fine. […] Il cerchio è una figura essenzialmente instabile, dinamica: dal cerchio nascono tutti i ruotismi, tutte le inutili ricerche del mondo perpetuo (Munari 2017, S. 5).  

Die zeichengewordene Spannung aus Vollkommenheit und Dynamik nutzen die hier genannten Bilderbücher aus – nicht zuletzt unter Berufung auf die zentrale Rolle geometrischer Formen für die sensomotorische Erfahrungsbildung, die die MontessoriPädagogik formuliert hat. Während Lionni mit sparsamen Worten die Geschichte einer Freundschaft beschreibt, die eine Teilverschmelzung des gelben mit dem blauen Klecks und so etwas völlig Neues, anfangs Verstörendes auslöst, wird in Lavaters Leporello eine allseits bekannte Geschichte ins Bild gesetzt, die ausschließlich in abstrakten Bildzeichen erzählt wird, indem sie nämlich aus Punkten unterschiedlicher Größe und Farbe besteht. Dieses „Rotkäppchen“ ist ein Lehrstück für die Lesbarkeit (zumindest bekannter) Narrationen allein aus eigentlich mehrdeutigen bildlichen Zeichen. Die räumliche Anordnung der Einzelpunkte und die durch das Auseinanderfal 

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ten des Leporellos vorgegebene Lese- bzw. Betrachtungsrichtung machen den Plot identifizierbar. Lavaters Version des Perraultschen Märchens ähnelt damit auf frappierende Weise strukturalistischen Theorien der Bedeutungsbildung. Einzig durch ihre Opposition zueinander gewinnen die Zeichen semantischen Wert; die Besetzung einer semantischen Position erfolgt auf paradigmatischer (Verhältnis der Zeichen auf der Seite) oder syntagmatischer Ebene (Reihenfolge, in der sich auf aufeinanderfolgenden Seiten die Zeichenposition verändert; vgl. Meunier 2013 online, in einer Beschreibung der Lavaterschen Leporellos).

Abb. C 12: Leo Lionni: Das kleine Blau und das kleine Gelb. Erzählt und gezeichnet von Leo Lionni für Pippo, Ann und andere Kinder. Hamburg 1973.  

Abb. C 13: Warja Lavater: Le petit chaperon rouge. Paris 1965.  

Historische Kerntendenzen. Die Nachkriegsentwicklung bringt nicht nur in Deutschland „jene Trennung von künstlerischem und Gebrauchsbilderbuch [hervor], die im Bereich des Kinderbuches eine hierzulande offenbar unüberwindliche, aber durchaus problematische Unterscheidung zwischen literarischem und Unterhaltungsroman spiegelt“, so urteilt Arianna Giachi 1975 über die jüngsten Entwicklungen auf dem Bilderbuchmarkt (Giachi 1975, S. 391). Dabei trägt die Internationalisierung des Buchmarkts zu einer Niveausteigerung auch der deutschen Produktion bei. Dennoch diagnostiziert Horst Künnemann: „Trotz Kunsterziehungsbewegung und Reformpädagogik gehört der Bilderkitsch in deutschsprachigen Ländern keineswegs zu den überholten Zivilisationsprodukten“ (Künnemann 1975, S. 395f.). Gemeint ist das, was  



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heute als Genrehybridisierung, Mediatisierung und Merchandising nicht mehr aus der Buchproduktion wegzudenken ist: Massenauflagen von Ausmalheftchen, ‚Comics‘ und Fernsehbilderbüchern, die oft in den Zahlen anonym bleibende international weit verflochtene Produktion und der Vertrieb billiger Bildhefte, […] führen einen permanenten, zahlenmäßig weit überlegenen Angriff gegen eine anspruchsvolle, künstlerisch orientierte, auch das Elitäre und Versnobte nicht verschmähende Bildform und Buchausstattung (ebd., S. 396).  

Gegen diese kommerzielle Bilderflut propagieren am Kanon der Moderne orientierte Pädagogen der 60er und 70er Jahre das zeitgenössische Erziehungsziel des bereits mündigen kindlichen Konsumenten, der nicht nur mit allen Sinnen lernt, sondern sich den Eindrücken gegenüber auch kritisch zu positionieren und letztlich zu emanzipieren weiß, und der im Bilderbuch selbst auch als autonomes Kind dargestellt wird.47 Ein wesentlicher Impuls für das Bilderbuch spätestens ab den 60er Jahren ist aber gerade die Bildergeschichte bzw. der Comicstrip. Elemente einer Crossover-Ästhetik wie Panelling, Soundwords, Lettering statt Schriftsatz werden nun offensiver als bisher ausgestellt. Maurice Sendak. Ein markantes Beispiel stellt das Buch In the Night Kitchen von Maurice Sendak dar, das außer seinen Comicelementen in den Bildern zahlreiche populärkulturelle Anspielungen enthält. Der kleine Mickey kann nicht schlafen, weil im Erdgeschoss Krach gemacht wird. Nackt und bloß purzelt er wie der kleine Häwelmann ins untere Stockwerk,48 um in der von Werbebeschriftungen nur so strotzenden Küche drei einander und Oliver Hardy bis aufs Haar gleichende Köche anzutreffen. Mickey landet mitten im Kuchenteig und wird wie Max und Moritz verarbeitet. Im letzten Moment kann er sich vor dem Ofen in einen gehenden Brotteig retten, den er zu einem Flugzeug formt. Damit fliegt er den Köchen davon, die ihn entkommen lassen, weil er verspricht, die im Teig noch fehlende Milch zu besorgen. Nachdem dies erledigt und ein herzhafter Jubelruf aus einem bekannten Nursery Rhyme geschmettert ist, verlässt der nun von Teig gereinigte Nackedei die Milchflasche und begibt sich zurück in sein Bett, in der Gewissheit, dass allein durch sein heldenhaftes nächtliches Tun jeden Morgen Kuchen bereitstehen wird. Der zwischen Nonsens und Traum changierende Plot demonstriert wie schon das berühmtere Where the Wild Things Are (1963) die anarchische Kraft der kindlichen Phantasie. Wie in dem früheren Buch findet der überwiegende Teil der Handlung auf den Bildern statt: Der gereimte und teils in Sprechblasen, teils in Captions platzierte Text allein gibt keinen ausreichenden Aufschluss über die Handlung, vielmehr fehlen zentrale Elemente und Ereignisse

47 Vgl. Künnemann 1975, S. 397. So z. B. die autonomen und widerständigen Helden von Maurice Sendak (s. Beispiel) und Janosch 1972. 48 Vgl. das über Jahrzehnte hinweg äußerst erfolgreiche Bilderbuch von Storm/Viëtor 1926.  





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(z. B.: das Flugzeug aus Teig). In the Night Kitchen zeigt durch seine Genre-Hybridität, seine komplementären bzw. teilweise auch kontrapunktischen Text-Bild-Arrangements (vgl. Staiger 2014, S. 14f.) und die phantastischen Plotelemente eine Metaisierung auf verschiedenen Ebenen.  



Formspiele, Hybridisierungen. Die verstärkte Arbeit mit Crossover-Techniken kennzeichnet das Bilderbuch der letzten 50 Jahre zunehmend. So lehnt sich das schweizerische Autorenduo Jörg Müller und Jörg Steiner in seinem Aufstand der Tiere oder die neuen Bremer Stadtmusikanten (1989) an die Ästhetik des Zeichentrickfilms an. Die Optik des Buches mit seinen ungewöhnlichen Blickwinkeln wie starker Unter- und Aufsicht, mit verzerrten, einer Fischaugen-Optik angenäherten Bildperspektiven,49 mit scharfen Kontrasten zwischen den in grellen Farben gehaltenen Protagonisten und einem meist grauschwarzen Hintergrund bringt der Betrachter intuitiv nicht mit der Gattung Bilderbuch in Verbindung. Während der Bezug zur Gegenwartskunst, der die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts über vorhanden war, in den 80er Jahren zunehmend schwindet (vgl. Thiele 2003, S. 31), gewinnen hybride Gattungen und Experimente mit der Buchform an Bedeutung.  



C 4.10 Crossover und Mediatisierung: Entwicklungen seit den 1990er Jahren Im Laufe der 90er Jahre muss sich das Bilderbuch in einen neuen und schneller als zuvor sich wandelnden medialen Kontext integrieren, der sowohl von dem sich stets ausweitenden ästhetischen Einfluss comichafter und filmischer Elemente auf die Illustration als auch von Techniken intertextuellen und intermedialen Erzählens auf der Textebene geprägt wird. Zu diesen produktions- und rezeptionsseitigen Veränderungen treten die Auswirkungen einer veränderten Kulturlandschaft hinzu. Kulturelle Produkte mit breiteren Käuferschichten werden nun oft von großen internationalen Firmen vermarktet, die eine möglichst weitreichende crossmediale Strategie mit Büchern, Filmen, Audioformaten, Merchandising-Produkten und neuerdings natürlich auch E-Books und Apps für ihre erfolgreichen Stoffe und Protagonisten planen. Damit erweitert sich auch der Rezipientenkreis, zunehmend werden altersübergreifende Formate bevorzugt.50 Dies wiederum verändert Stoffwahl, Erzähltechniken und Gestaltung von Bilderbüchern eminent. Die Vielgestaltigkeit, mediale Hybridität und unkla-

49 Der Fisheye-Effekt entsteht durch die Arbeit mit einem Weitwinkelobjektiv. 50 Vgl. Oetken online, S. 20 f. Ein jüngeres Beispiel für eine solche Mediatisierung mit immensem Erfolg ist der auf Hans Christian Andersens bekanntem Märchen Die Schneekönigin basierende Disney-Musicalfilm Frozen (2013) mit den auf Produkten für Kinder von der Winterjacke bis zum Radiergummi mittlerweile omnipräsenten Protagonisten Prinzessin Elsa und Schneemann Olaf. Es gibt mehrere Bilderbücher zum Film, darunter auch ein Pop-up-Buch, Malbücher, Stickerbücher, ein Buch mit  



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Teil C Anfänge und Initiationen

re Gerichtetheit des Mediums stellt auch den Rezipienten gelegentlich vor Herausforderungen (vgl. Oetken online und Thiele 1991, S. 7).  

Scieszka/Smith. Ein Paradebeispiel für ein postmodernes Bilderbuch ist The Stinky Cheese Man and Other Fairly Stupid Tales von John Scieszka und Lane Smith (1992). Bereits die Titelseite trägt in riesigen Lettern die Beschriftung „Title Page“ und kleiner darunter „(for The Stinky Cheese Man & Other Fairly Stupid Tales)“. Das Buch experimentiert mit allen medialen Möglichkeiten, die sich abseits des Spiel- und Verwandlungsbuchs denken lassen: Typografie und simulierte Handschrift, Gattungskonventionen des Sach- wie des erzählenden Buches, scheinbar eingestempelte bzw. eingeklebte Beschriftungen, Collageelemente, Illustrationen in verschiedenen Techniken, teilweise unter Verwendung fotografierten, nicht-papierartigen Materials (Stoffreste, Ausschnitte aus historischen Büchern, Scherenschnitte). Die zehn ausgewählten und allgemein bekannten Märchen werden miteinander verschmolzen („Cinderumpelstiltskin“), in mise-en-abyme-Technik zur Endloserzählung erweitert, die in einer am Fuß der Seite immer kleiner werdenden und schließlich verschwindenden Schrift ausläuft („Jack’s Story“), sie thematisieren das eigene Erzähltwerden statt der erwarteten Handlung („Little Red Running Shorts“) oder lösen die Grenze zwischen Text und Bild auf, indem die Buchstaben in der Geschichte vom „Stinky Cheese Man“ zerlaufen, als der Käse aus dem Ofen kommt. Nicht zuletzt wird zyklisch die Geschichte von der Roten Henne erzählt, die zu Anfang des Buches ein Weizenkorn findet, um am Ende damit doch noch ein Brot zu backen – und mit ihrem Geschrei um ihre nicht erzählte Geschichte den Riesen weckt, der eigentlich das Ende des Buches nicht erleben sollte.  

Abb. C 14: John Scieszka/Lane Smith: The Stinky Cheese Man (and Other Fairly Stupid Tales). London/New York 1992.  

Leuchtelementen usw. In den USA hat sich der Erfolg des Films sogar auf die Liste der häufigsten Vornamen ausgewirkt. Vgl. Mullins online.

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Zunehmend spielen Bücher wie dieses angesichts der Konkurrenz anderer Medien auch ihre eigene Materialität aus. Dabei widmen sie sich auch zeitgeschichtlich bedeutsamen Themen und deren jeweils eigener Haptik und Emotionalität. Arnal/Amekan. So auch in der Fluchtgeschichte Caja de cartón (2010) von Txabi Arnal und Hassan Amekan.51 Die kindliche Ich-Erzählerin wird von der Mutter nach der Geburt in einen Schuhkarton gelegt. Die Mutter setzt daraufhin all ihre Ersparnisse für den Kauf einer Schiffsfahrkarte ein und besteigt mit dem Karton das Schiff, das aber kentert. Die Frau rettet sich und das Kind schwimmend, während andere Passagiere ertrinken. Einige Tage lang irrt sie mit dem Baby auf der Suche nach Leidensgenossen an einem einsamen Strand umher. Sie schlafen unter freiem Himmel, bis sie eines Tages einen riesigen Karton finden, der fortan zu ihrem Haus wird. Sie ernähren sich von Wurzeln und entdecken auf diese Weise die tröstliche Wahrheit, dass der Geschmack der Erde überall der gleiche ist. Nachts treffen sie auf der Suche nach Lebensmitteln eine andere Frau vom Schiff. Die Frau verlegt ihr eigenes Papphaus neben das von Mutter und Tochter. Manchmal wird jetzt nicht nur geweint, sondern auch gelacht. Nach und nach wächst die Kartonsiedlung. Auch Fremde, die vorübergehen, werden gelegentlich angelächelt. Dann zündet jemand nachts die Kartonsiedlung an. Danach sind die Mutter und die Nachbarin verschwunden, das Kind kommt ins Waisenhaus. Erst nachdem das Mädchen adoptiert wird, lernt es wieder zu lächeln. Im Schrank aber hebt es eine Schuhschachtel auf, um sich an seine Mutter zu erinnern. Die Seiten des Buches bestehen aus kartonartiger Pappe, eine Vielzahl von künstlerischen Techniken kommt zum Einsatz: Zeichnungen, Collagen, Kleckse, kleine Ausschnitte und Schnipsel, die teils bedruckt sind, Gläserabdrücke, die Pappe wird von Hand koloriert etc. Auf den Seiten dominiert die Farbe bräunlicher Kartonagen. Die meisten dargestellten Räume muten durch uneinheitliche Handhabung der Perspektive und durch Kombination realistischer mit phantastischen Elementen surreal an. Dagegen stellt umgekehrt die Verknüpfung des Themas mit dem Material Karton und dessen Bearbeitung im und als Buch unausgesetzt die Verbindung zur extradiegetischen Welt des Lesers her.

51 Mein Dank geht an Macarena García González von der Pontificia Universidad Católica de Chile für den Hinweis auf dieses Buch.

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Abb. C 15: Txabi Arnal/Hassan Amekan: Caja de cartón. Pontevedra 2010.  

Douzou/Hayat. Auch schproutz (2000) von Olivier Douzou und Candice Hayat arbeitet mit einem Ensemble unterschiedlichster Techniken. Es herrscht eine Umweltkrise, die Stadt liegt unter dichtem Smog. Die Auswirkungen auf Menschen und Tiere werden exemplarisch auf verschiedenen Doppelseiten gezeigt, ihre Verarbeitung durch die Medien in Radioansagen und Fernsehbildern thematisiert. Dann wechselt der Schauplatz in ein häusliches Ambiente: Als eine Mutter ihrem Kind eine Art Wunderpille gegen Umweltgifte verabreichen will, hält dieses ein flammendes Plädoyer für eine wirklich saubere Welt: „Pour en finir il faudrait tous croquer chaque matin une pastille qui nous rendrait soucieux de notre environnement et qui mettra la pollution au vert… Ce serait ça le vrai remède“ (Douzou/Hayat 2000). Dennoch schluckt es die Medizin und bekommt daraufhin fürchterliche Blähungen (die mit dem Soundword „schproutz“ onomatopoetisiert werden). Der Hintergrund der Seiten ist mit Pastellkreide auf Packpapier gearbeitet und in der Regel in mehrere, verschiedenfarbige und grellbunte Zonen geteilt, die meist eckige Flächen bilden. Den Vordergrund bilden ausgeschnittene und mit verschiedenen Techniken (Ölfarbe mit Einritzungen, Filzstift, wiederum Pastellkreide) gestaltete Gegenstände, Menschen und Schrifttafeln. Oft sind verschiedene Ebenen übereinander geklebt (das Radio auf dem Tisch etc.). Die Gegenstände sind durchgehend wiedererkennbar, die Figuren dagegen wirken ungelenk mit ihren groben, mittels Pastellkreide aufgemalten Gesichtszügen. Der Text ist in einer serifenlosen Schrift in verschiedenen Farben und Größen gesetzt und nicht immer erzählend. Soundwords wie „keuf“, „mpeuf“ finden sich mitten auf der Seite und überlappen sich teilweise; es gibt handschriftliche Beschriftungen von Gegenständen und Schilder sowie Reste der Aufschrift des als Trägermedium genutzten Packpapiers. Eine Ansage aus einem im Hintergrund laufenden Radio, die Ratschläge zum Verhalten bei Smog gibt, wird durch die kommentierende Stimme der Mutter ergänzt und zusätzlich durch die Illustration ironisch gebrochen. Die Vielfalt der täglich auf das im Mittelpunkt der Handlung stehende Kind einstürmenden Eindrücke wird durch all diese Mittel illustriert, die nicht nur stellvertretend für die auf es ein-

C 4 Bilder/Buch/Literatur

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wirkende Umweltverschmutzung stehen, sondern in ihrer kaum noch erfassbaren Vielfalt und ihrem chaotischen Arrangement verdeutlichen, dass im Grunde das gesamte Umfeld es nur darauf anlegt, das Kind zu kontaminieren – wogegen es sich schlussendlich nicht nur sprechend und mit Vernunftgründen und Phantasie, sondern auch durch die anarchisch-lustvoll eingesetzte Körperäußerung erfolgreich zur Wehr setzt.  

Abb. C 16: Olivier Douzou/Candice Hayat: schproutz. Rodez 2000.  

C 4.11 Spiel-, Verwandlungs- und Bewegungsbücher Materiell ungewöhnliche Bücher setzen ihre Medialität nicht nur thematisch-narrativ ein, wie man an diesen beiden Beispielen sehen kann, sondern überschreiten gelegentlich die Grenze zum Bewegungsbuch oder Spielbuch an Stellen, wo nicht nur Materialität durch die Gestaltung der reproduzierten Vorlage mit unterschiedlichen Papieren, Stoffen, Gestaltungselementen suggeriert wird, sondern wo gezielte Manipulationen am Buchkörper wie Stanzungen, Prägungen, Hinzufügung verschiedener nicht-papierener Elemente stattfinden. Eine Veränderung des Buchkörpers wird bereits im 16. Jahrhundert vorgenommen, zunächst einfach in Form von der Hand des Kindes angepassten Bibeln (vgl. Veryeri Alaca 2018, S. 62), in Japan sehr früh schon in Form von Schriftrollen, in Südamerika als Leporello, worauf gelegentlich moderne Formate verweisen (Mateo/Martínez 2011). Auf die unzähligen Varianten von Spiel-, Verwandlungs- und Bewegungsbüchern kann über das oben an wenigen Beispielen Erläuterte hinaus hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Sie stellen jedoch der Forschung ein schier unerschöpfliches Reservoir für in und mit Büchern mögliche Metaisierungsstrategien, das sich in jüngster Zeit durch Fortentwicklungen im Bereich digitaler Medien (Apps, enhanced E-Books usw.) noch weiter ausdehnt (vgl. Al-Yagout/Nikolajeva 2018). Um diesen Mangel wenigstens ansatzweise zu kompensieren, soll im Anschluss statt einer Zusammenfassung der Versuch unternommen werden, die möglichen Formen der Selbstreflexivität im Bilderbuch zu klassifizieren –  





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unter den zitierten Beispielen finden sich zahlreiche Bücher aus den hier nicht näher besprochenen Kategorien.

C 4.12 Strategien der Metaisierung im Bilderbuch Neben den Metaisierungsverfahren, die Bilderbücher mit anderer narrativer Literatur gemein haben, liegt die Besonderheit des Erzählens im Bilderbuch wie in verwandten Gattungen natürlich darin, dass sie nicht durch Text allein erfolgt, sondern auch durch Bilder. Gerade in jüngerer Bilderbuchliteratur übernehmen auch materielle und mediale Eigenschaften des Buches narrative Funktion. Text, Bild und materiell-mediale Ebene überschneiden sich selbstverständlich gelegentlich, so z. B. in Béatrice Poncelets Chut, elle lit (1995). Dort greift die bildlich-thematische Gestaltung auf den Umschlag und den Vorsatz über, wie auch schon in der bekannten Raupe Nimmersatt von Eric Carle (1969). Dort wird das Loch, das die Raupe frisst, integraler, haptisch erfahrbarer Teil der Geschichte.52 Das oben ausführlich beschriebene Nella nebbia di Milano (s. o.) macht den Gegensatz zwischen der winterlich-nebligen Stadt und dem bunten Zirkus mit Hilfe verschiedener Papiersorten erfahrbar. Es versteht sich von selbst, dass die im Folgenden versuchte Kategorisierung, die einen Überblick über die zahlreichen selbstreflexiven Strategien der Gattung Bilderbuch geben soll, nicht trennscharf sein kann, da die eingesetzten gestalterischen Mittel, wie in anderen komplexen Kunstformen auch, mehrfach semantisch besetzt sind. So kann allein schon das Material Papier einerseits symbolisch auf die Konventionalität und vertraute Form des Mediums Buch hinweisen oder gar als Zeichen innerhalb einer komplexen plurimedialen Erzählung fungieren, andererseits kann es je nach Beschaffenheit auch ikonische oder indexikalische Funktionen übernehmen.  



Gestaltungsebene A: materielle/mediale Metaebene.53 Zu nennen sind hier: (a) bewusster Umgang mit Weißraum. Beispiel: Vladimir Lebedev: Prikljucanija Cuclo [Die Abenteuer des Tschutsch-Lo]. Petersburg 1922. – (b) (versuchte) Überschreitung des Seitenraums oder Buchraums bzw. Darstellung des Seitenraums als unvollständig (Bezug zum „Off-Screen“, vgl. Zaparaín 2010). Beispiel: Ikuko Azuma/Motoko Okino: Gekkåo kåoen [Der Mondpark.]. Tokio 1993. – (c) Rahmungen auf Seiten/Doppelseiten bis hin zum Panelling (vgl. Scott 2010). Beispiel: Maurice Sendak: In the Night Kitchen. New York 1970 (s. o.). – (d) Nutzung der Mittelfalz bzw. der mittleren  







52 Das Buch hat in Peter Newells The Hole Book (New York 1908) einen frühen Vorläufer. 53 Eine andere Kategorisierung nimmt Veryeri Alaca 2018 vor, doch auch sie bezeichnet „materiality in picturebooks […] as a third narrative system“ und verweist darauf, „that materialities need to be explored further as developments in technology, ICTs, and new media promise multimodal literacies that connect to everyday life, merging the material phenomenon of books with that of the digital“ (ebd., S. 67).  

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C 4 Bilder/Buch/Literatur

Doppelseite (z. B. als Spielfeld). Beispiel: Jean Brunhoff: Histoire de Babar le petit éléphant. Paris 1931 (s. o.). – (e) Arbeit mit dem Trägermedium Papier: Stanzen, Lochen, Perforieren, verschiedene Farben oder Papiersorten. Beispiele: Bruno Munari: Nella nebbia di Milano. Mailand 1968 (s. o.).; Katsumo Komagata: Little eyes 1–10. Tokio 1990–1992. – (f) Materialerweiterung: Eingeklebte oder einmontierte Papierobjekte (Laschen, Klappen, Pop-up-Elemente). Beispiel: (frühes Beispiel für ein Verwandlungsbuch): Tom Seidmann-Freud: Das Wunderhaus. Ein Bilderbuch zum Drehen, Bewegen und Verwandeln. Berlin 1927 (s. o.).; (Kombination zwischen Pop-up und Leporello, in der das Pop-up-Element jeweils ein sich mit dem Blättern aufklappendes Buch in der Mittelfalz darstellt): Malika Doray: Ce livre-là. O. O. 2007. – (g) Veränderung des Trägermediums: Stoff, Gummi, Holz, Filz etc. statt Papier. Beispiel: Bruno Munari: I prelibri. Mailand 1980. – (h) Materialienkombination (auch: Hinzufügen anderer Materialien als Beigabe: Buch + Lupe, Buch + Stift usw.). Beispiele: Pietro Formentini/Gloria Francella: Cammina, manina. Modena 2008; Agathe Demois/Vincent Godeau: La grande traversée. Paris 2014. – (i) Das Buch verweist durch seine Gestaltung auf einen parallelen oder übergeordneten künstlerischen Diskurs/ordnet sich darin ein (vgl. Beckett 2010). Beispiel: El Lissitzky: Pro dva kvadrata. Berlin 1922 (s. o.). – (j) Spielbuch: Das Buch changiert auf der oder überschreitet die Grenze zum Spielzeug54. Beispiel: El libro-guante de Los tres cerditos. Barcelona 2013. – (k) Crossmedialität: In jüngster Zeit sind auch Phänomene der Crossmedialität zu berücksichtigen: „Medienspezifische Weisen des Erzählens geraten zunehmend in Kontakt, etwa SMS-Texte im Bilderbuch […] oder das Zusammenspiel von Bilderbuch und Apps, und erweitern das Feld narratologischer Strategien ästhetisch und formal.“55 Beispiel: Olivier Douzou/Candice Hayat: schproutz. Rodez 2000 (s. o.).  



























Gestaltungsebene B: durch Text- wie Bildzeichen erzeugte narrative Metaebene. Zu nennen sind folgende Strategien: (a) Im Buch werden Bücher oder das Lesen dieses oder eines anderen Buches/anderer Bücher thematisiert. Beispiel: Oliver Jeffers/Sam Winston: A Child of Books. London 2016. – (b) Im Buch wird dieses Buch selbst thematisch (mise-en-abyme-Effekte). Beispiel: John Scieszka/Lane Smith: The Stinky Cheese Man and Other Fairly Stupid Tales. London/New York 1992 (s. o.). – (c) metadiegetische (und metametadiegetische etc.) Narration, z. B. durch Leseranreden, Brüche in der Handlung, der Perspektive, verschiedene Erzählebenen, Parallelwelten,  







54 Vgl. dazu auch: Al-Chammas 2012. Die Autorin unterscheidet 10 Kategorien nach ihren technischen Merkmalen: „Lochbilderbuch, Fühlbilderbuch, Leporello, Verwandlungsbilderbuch, Ziehbilderbuch, Drehbilderbuch, Aufklappbilderbuch, Pop-up-Bilderbuch, Aufstellbilderbuch und zuletzt das experimentelle Spielbilderbuch“ – unter der letzten Kategorie lassen sich alle Exemplare summieren, die die anderen Kategorien nicht erfassen, wie z. B. das oben genannte Beispiel. 55 Oetken online, S. 15. Vgl. z. B. Lane Smith 2010. Zur Metafiktionalität im Bilderbuch vgl. Silva-Díaz 2018. Die Autorin klassifiziert Metafiktionalität in den vier Kategorien „short circuit“, „indeterminacy“, „resonance“ and „play“ (S. 73–77).  









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Teil C Anfänge und Initiationen

Anspielungen auf die reale Welt außerhalb der erzählten Welt oder auf die imaginäre Welt außerhalb der realen Welt des Lesers. Beispiel: Thierry Robberecht/Grégoire Mabire: Le loup tombé du livre. Namur 2015. – (d) Die maßgeblichen Figuren als Träger der Handlung sind weder menschlich noch tierisch, sondern abstrakt. Beispiel: Leo Lionni: Little Blue and Little Yellow: a Story for Pippo and Ann and Other Children. New York 1959 (s. o.). SH  



C 5 Formen der Inszenierung von Geschichten durch buchgestalterische Mittel im Bilderbuch Ob Geschichten mit Worten oder in Bildern erzählt werden, stets umfasst eine klassische Erzählung eine Abfolge von Ereignissen, die durch ihre kausallogische Verkettung in einen raum-zeitlichen Verlauf und in eine von Figuren getragene Handlungsstruktur überführt werden. Insofern eine Geschichte aber nicht nur etwas erzählt, sondern auch von jemandem und für jemanden erzählt wird, ergibt sich eine komplexe Beziehung zwischen Erzähler, Leser und der jeweiligen erzählten Welt, die in entscheidender Weise durch ihre Vermittlung geprägt ist – ja durch narrative und ästhetische Gestaltungsverfahren überhaupt erst entsteht (vgl. Genette 1970).  

C 5.1 Erzählen – Erzählen im Bilderbuch – Buchgestalterisches Erzählen im Bilderbuch  



Wenn nun eine Geschichte sowohl aus Worten als auch aus Bildern besteht, diese beiden Ebenen die Erzählung also gemeinsam entfalten, so erweisen sich diese Kategorien – Handlung, Figuren, Zeit, Raum, Erzählinstanzen und Adressat – freilich als ebenso zentral.56 Sie werden darüber hinaus aber zum Ort produktiver Begegnung und vielfältiger Interaktionen zwischen den verschiedenen semiotischen Systemen, d. h. zwischen verbalen und ikonografischen Zeichen, welche die Geschichte vorantreiben. Denn was für Wort-Bild-Relationen im Allgemeinen gilt (vgl. Nöth 2000, S. 483, Schmitz-Emans 2007 und in vorrangig historischer Perspektive: Schausten/ Weingart 2013), erfährt innerhalb einer Wort-Bild-Erzählung eine besondere Dynamik: Schrift- und Bildtext stehen in einem kongruenten, komplementären oder kontradiktorischen Verhältnis zueinander (sie können sich also entsprechen, ergänzen oder widersprechen) und gehen dabei sowohl in syntagmatischer als auch in paradigmatischer Hinsicht verschiedene Abhängigkeiten ein, übernehmen unterschiedliche Funktionen und eröffnen neue Bedeutungsräume (zur Situierung des Bilderbuchs auf dem Feld der Wort-Bild-Beziehungen vgl. Thiele 2000, S. 36–40, v. a. S. 37). Im Verlauf der Geschichte können sich die Beziehungsverhältnisse beispielsweise verändern; und solche Veränderungen vollziehen sich auf ganz unterschiedliche Weise; etwa linear oder kreisförmig, kontinuierlich oder diskontinuierlich, offensichtlich oder versteckt.57 Im Medium des Bilderbuchs wurden diese Spielräume für das Ge 













56 Für die wichtigsten Analysekategorien fiktionalen Erzählens im Bilderbuch konzentriere ich mich v. a. auf die Typologie und Terminologie von Kurwinkel 2017, S. 47–175. 57 Vgl. Willems 1990, S. 414–429 (der sich allerdings nicht explizit auf das Medium des Bilderbuchs bezieht), und die Systematik, die Irina Rajewski für Formen der Medienkombination als intermediales Phänomen vorschlägt, vgl. Rajewski 2002, v. a. S. 15f.  







https://doi.org/10.1515/9783110528299-016



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schichtenerzählen seit jeher systematisch ausgeschritten (vgl. den historischen Abriss von Thiele 2011, S. 218–222), etwa indem Wörter und Bilder parallel erzählen oder sich abwechseln, die jeweiligen Erzählstränge miteinander verflochten werden oder kontrapunktisch verlaufen, wobei sich, ist letzteres der Fall, eine ironische, eine perspektivische und eine charakterisierende Dimension der Gegenrede unterscheiden lassen (zur Differenzierung kontrapunktischen Erzählens vgl. Nikolajeva/Scott 2000, S. 232– 238, sowie ausführlicher auch die „Bild-Text-Dramaturgien“ in Thiele 2000, S. 73–89, v. a. S. 75f.). Eine weitere, ausgesprochen produktive Dimension, die mit solchen Schrift-BildVerhältnissen unmittelbar verknüpft ist, ergibt sich für das Erzählen im Bilderbuch nun aus der Tatsache, dass es sich bei einem Buch um einen physischen, dreidimensionalen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand handelt, der auf eine bestimmte Art und Weise konzipiert und konstruiert ist (vgl. Spoerhase 2016, S. 51–61). Seine Materialität wird auf der einen Seite von Autor, Illustrator und der Verlagsherstellung für das Geschichtenerzählen genutzt. Auf der anderen Seite ist diese Stofflichkeit für den Rezipienten konkret erfahrbar, indem dieser das Buch etwa öffnet und schließt, durchblättert, dreht und wendet, betastet, aufstellt und niederlegt, indem er es mehrfach, in unterschiedlichem Tempo, vor- oder rückwärts, mit Unterbrechungen oder ganze Seiten überschlagend liest und betrachtet (vgl. Graham 2014, insbes. S. 54 ff. sowie Teil A 1). Diese spezifische Bucharchitektur prägt Verlauf und Wahrnehmung der Geschichte grundsätzlich, auch wenn es sich um traditionelle, klassische Buchformate handelt. Denn der Rezipient tritt stets in eine physisch-sinnliche Beziehung mit dem Buchkörper. Über eine solche phänomenologische Grundkonstellation hinaus, kann dieser Buchkörper aber für das Erzählen und Lesen von Geschichten ästhetisch produktiv gemacht werden; er kann gewissermaßen in den Handlungsverlauf eingreifen und diesen in origineller Weise mitgestalten. Solche buchgestalterischen Mittel, die für die Narration eingesetzt werden und eine komplexe Verbindung zwischen erzählter Welt und Erzähl- bzw. Lesewelt herstellen, stehen im Mittelpunkt dieses Artikels.  















C 5.2 Erzählen durch den Buchkörper hindurch: Buchgestalterische Erzählverfahren Die kreativen Spielräume, die sich aus der Architektur des Buches ergeben, werden sichtbar, wenn man die Verfahren und Funktionen buchgestalterischen Erzählens in der Auseinandersetzung mit den eingangs genannten erzähltechnischen Kategorien untersucht. Zudem müssen sie in ihren jeweiligen Bezug zum Thema der Geschichte und den damit verbundenen Motiven gesetzt werden. Denn nur in der Verschränkung von Bucharchitektur, Diegese und ihrer Thematik lässt sich den buchgestalterischen Elementen ja überhaupt eine spezifische Bedeutung zuschreiben. Eine besondere Rolle spielt hier die Kategorie des Raums und seiner Grenzen. Dieser ist im fiktionalen

C 5 Formen der Inszenierung von Geschichten durch buchgestalterische Mittel

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Bilderbuch gleich mehrfach präsent: innerhalb der histoire und auf der Ebene des discours, aber auch in thematischer und motivischer sowie in materieller, bucharchitektonischer Hinsicht (vgl. Kurwinkel 2017, S. 94–100, der sich, wie zahlreiche andere Ansätze ebenfalls, auf Lotmans Raumsemantik stützt). Erstens eröffnen Bilderbücher einen erzählten Raum, zweitens gestalten sie diesen Raum sowohl mit Worten als auch mit Bildern im und als Erzählraum, und drittens bildet das Buch in seiner Materialität und physischen Präsenz selbst eine räumliche Kategorie (vgl. Teil A 1). Welche Elemente und Eigenschaften des Buchkörpers werden also für die Inszenierung von Geschichten genutzt, wie werden sie eingesetzt und mit welcher Wirkung bzw. Funktion ist dieser Einsatz verbunden?  

Erzählverläufe innerhalb des Kodex. Das offensichtlichste Potenzial buchgestalterischer Inszenierung im Bilderbuch ergibt sich durch die Verteilung der erzählten Geschichte auf mehrere Seiten. Sowohl der Schrift- als auch der Bildtext der Erzählung werden durch die Architektur des Buches und seiner Bestandteile maßgeblich strukturiert: Sein Kern besteht aus einem gebundenen Blätterstapel, der Seite um Seite durchgeblättert werden muss, um die Geschichte erfassen zu können. Die Inszenierung der Handlung erfolgt demnach in der Anpassung ihres Verlaufs durch die zusammengehefteten oder -geklebten Einzelseiten hindurch. Die räumlichen und zeitlichen Ebenen der Erzählung stehen also in Korrelation zu ihrer sequentiellen Rezeption und damit zu raumzeitlichen Kategorien der Bilderbucharchitektur (vgl. die „Dramaturgische Gliederung von Zeit und Raum durch Bild und Text“ in Thiele 2000, S. 76–89). Ob Bild- und Schrifttext dabei auf ein und derselben Seite platziert werden (und wo genau sie jeweils platziert werden) oder sich abwechseln, ob die Seiten hauptsächlich aus Schrifttext bestehen, in den punktuell Bilder eingefügt sind, ob sich mehrere Bilder auf derselben Seite finden (diese also pluriszenisch montiert werden) oder die Abfolge von (monoszenisch präsentierten) Bildern (zu dieser Unterscheidung vgl. Varga 1990, S. 361) jeweils durch den Vorgang des Umblätterns unterbrochen wird; all dies ist entscheidend für Wahrnehmung und Verständnis der Geschichte.58 So kann etwa der Recto-Verso-Effekt einer Buchseite in besonderer Weise genutzt werden: Sind sowohl Vorder- als auch Rückseite narratoästhetisch gestaltet (zum Begriff Narratoästhetik vgl. Kurwinkel 2017, S. 7), erscheint das Bedruckte zweier Seiten stets gleichzeitig und wird von den beiden darauffolgenden Seiten durch den Akt des Umblätterns getrennt (zur Kategorie des page turning vgl. Graham 2014, insbes. S. 57). Solche Gestaltungsmittel nehmen Einfluss auf die Strukturierung des Erzählverlaufes: Sie erzählen die Geschichte mit, indem sie etwa für Unterbrechungen und Überraschungen sorgen, die Geschichte verdichten oder entzerren, das Tempo steigern oder reduzieren, Leerstellen schaffen oder Lücken überspringen, Fragen aufwerfen oder  







58 Nodleman sieht in diesem Aspekt „the essence of picturebook storytelling“, Nodleman 1988, S. 239.  

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beantworten, Rückblenden einfügen und spätere Ereignisse andeuten oder vorwegnehmen. In jedem Falle entfalten sie ihr Bedeutungspotenzial in der spezifischen Verbindung mit Themen, Motiven, Ereignissen oder Figuren der Geschichte (vgl. Kurwinkel 2017, S. 81–94).  

Waechter: Der rote Wolf. Der rote Wolf erzählt zum Beispiel die Lebensgeschichte seines Protagonisten durch wenige unter- oder oberhalb des Einzelbildes eingefügte Schriftzeilen über 45 Seiten hinweg.59 Im Augenblick seines Sterbens allerdings werden all diese 45 Bilder in derselben Reihenfolge nochmals kleinformatig auf nur fünf Buchseiten montiert (Waechter 1998, S. 53–57). Damit wird dieselbe Geschichte doppelt erzählt: Beim zweiten, komprimierten Durchgang laufen sämtliche Lebensstationen nochmals in geraffter Form – gewissermaßen vor dem inneren Auge des Tieres – ab. Nicht nur findet hier über buchgestalterische Mittel ein Wechsel der Wahrnehmungsperspektive statt; vor allem zeigt sich, inwiefern diese Form der Präsentation die räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Geschichte überhaupt erst hervorbringt.  





Abb. C 17: Friedrich Karl Waechter: Der rote Wolf. Zürich 1998, S. 52–53.  



Solche Aufteilungen von Wort und Bild auf verschiedene Buchseiten erhalten in unterschiedlicher Weise eine narrationsrelevante Funktion: Sie prägen die Erzählung entweder gerade durch ihre besonders statische Anordnung (d. h. über die gesamten Buchseiten hindurch ändert sich diese nicht oder kaum), oder aber vielmehr durch  

59 Waechter 1998. Die Zählung der (im Bilderbuch zumeist nicht nummerierten) Seiten erfolgt in allen zitierten Beispielen nach eigener Zählung ab dem Schmutztitel. Wie in der Bilderbuchforschung üblich, bezeichnet bei zwei Autorenangaben der erste Name den Verfasser, der zweite den Illustrator.

C 5 Formen der Inszenierung von Geschichten durch buchgestalterische Mittel

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Veränderungen der Komposition, die meist eine besondere Dynamik erzeugen (vgl. Nikolajeva/Scott 2000). Beide Kategorien lassen sich durch Beispiele illustrieren: Janisch/Blau: Rote Wangen. In zahlreichen Bilderbüchern entsteht die Wirkung der Geschichte durch die statisch und seriell eingesetzten buchgestalterischen Mittel, die mit der Wiederholungsstruktur der Erzählung korrespondieren. Dies geschieht etwa im Bilderbuch Rote Wangen (Janisch/Blau 2005), dessen extradiegetische Geschichte aus zahlreichen einzelnen intradiegetischen Erzählungen des Großvaters besteht: Auf der Verso-Seite werden diese – in der Optik handbeschriebener und vollgekritzelter Schulheftseiten – als anekdotischer Schrifttext präsentiert,60 die Abbildungen der gegenüberliegenden Seiten platzieren die rotwangige Großvaterfigur stets illustrierend und konkretisierend in der entsprechenden raumzeitlichen Umgebung. Gerade Homogenität und Serialität sorgen für die besondere Hervorhebung kleinster Veränderungen: Auf dem letzten Bild sind die Konturen des Großvaters nur noch als Schatten präsent und dessen rote Wangen auf das erzählende Enkelkind übergegangen (ebd., S. 31). Zusammen mit dem nur geringfügig variierten „Einmal war…“ bzw. „Einmal hat…“, das den Schrifttext durchgehend strukturiert, bilden so die leeren Zeilen auf jeder Heftseite eine regelrechte Einladung an den Rezipienten, das Bilderbuch mit eigenen Geschichten fortzuführen.  





Abb. C 18: Heinz Janisch/Aljoscha Blau: Rote Wangen. Berlin 2005.  

Dynamisierungen. Dass gerade eine solche statische Komposition eine besondere narrative Dynamik entfalten kann, zeigt sich in Eric Carles Do You Want to Be My Friend? (Carle 1971), wo die bevorstehende Begegnung der Hauptfigur mit dem nächsten Tier auf jeder folgenden Verso-Seite andeutend vorweggenommen wird, indem

60 Zur Inszenierung von Materialität der Schrift vgl. auch den Abschnitt zu „Bild- und schriftmediale[n] Varianten visueller Literatur“ von Schmitz-Emans 2016b, S. 102–112 und grundlegend die Arbeiten von Sybille Krämer, z. B. Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012.  



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dessen Schwanz bereits in die Recto-Seite hineinragt und damit den Lesefluss automatisch vorantreibt. In diesem Beispiel entpuppt sich zudem der grüne Streifen, der sich von Anfang bis zum Ende durch jede Seite zieht und zunächst für Gras oder einen Weg gehalten werden muss, am Schluss als gefährliche Schlange, die – ohne dass Figuren oder Leser eigens einen Hinweis darauf erhalten – die gesamte erzählte und erzählende Zeit über anwesend war.  



Abb. C 19: Eric Carle: Do You Want to Be My Friend? New York 1971 (dt.: Die kleine Maus sucht einen Freund. Übers. von Viktor Christen. Gütersloh 1971).  

Auch in anderen Fällen wird die Linearität des schriftlichen Leseprozesses, der (in den westlichen Kulturen) von links nach rechts und von oben nach unten verläuft,61 in der Verteilung über mehrere Seiten hinweg mit der topografischen, topologischen und semantischen Gestaltung der erzählten Welt gekoppelt (vgl. grundlegend Lotman 1973, zur Leserichtung und Typografie speziell im Bilderbuch Kurwinkel 2017, S. 152– 159 und Nikolajeva/Scott 2000, S. 228 und 231). So ist die Anpassung des Schrifttextes an die Bewegung der Figuren etwa ein gängiges Mittel zur ästhetischen Ausgestaltung des Handlungsverlaufes. In Käfers Reise ahmt sie beispielsweise dessen Flugbewegung nach (Maar/Damm 2000), in In the Night Kitchen bildet sie den Fall des Kindes ab (Sendak 1970), in der Collcection Pyjamarama inszeniert sie die chaotische Körperwahrnehmung des erzählenden Ich im Moment des Einschlafens (z. B. Leblond/Bertrand 2012).  





61 Diese Linearität zu durchkreuzen, ist freilich ein produktives ästhetisches Verfahren, dessen Verwendung weit über das Medium des Kinderbilderbuchs hinausgeht, vgl. hierzu Gunia/Hermann 2002.

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C 5 Formen der Inszenierung von Geschichten durch buchgestalterische Mittel

Abb. C 20: Links oben: Anne Maar/Antje Damm: Käfers Reise. Zürich 2000, S. 10–11; links unten: Michaël Leblond/Frédérique Bertrand: New York en Pyjamarama. Arles 2012, S. 4–5; rechts: Maurice Sendak: In the Night Kitchen. New York 1970, S. 8.  







Buch-Räumlichkeit. Zwei weitere Beispiele illustrieren die Verbindung von Linearität als bucharchitektonischem Gestaltungsprinzip und räumlicher Kategorie in histoire und discours der Erzählung: Das Bilderbuch Along a long road (Viva 2011) hat nichts anderes als die Fahrradfahrt einer Figur zum Gegenstand. Daher liegt es nahe, die Straße selbst als durchgängiges und vorwärtsdrängendes Element durch den gesamten Blätterstapel hindurch abzubilden – und ihre narrationstragende Bedeutung zudem durch eine spezielle Drucktechnik haptisch hervorzuheben. So faltet der Rezipient gewissermaßen in seiner Vorstellung den Stapel auseinander zu einer Art imaginärem Leporello; der dreidimensionale Buchblock wird damit gestalterisch zur endlos scheinenden Wegstrecke. In S’ Nachts (Erlbruch 1999) steht der Schrifttext ebenfalls durchgängig in besonderem Kontrast zum Bild-Hintergrund, wobei die Schrift die Perspektive des Vaters, das Bild hingegen die Wahrnehmung des Kindes wiedergibt: Die Worte werden in schwarzen Lettern auf einem weißen Papierstreifen ins Bild montiert und bewegen sich so in einem deutlich vom Hintergrund abgesetzten Raum vorwärts. Auf diese Weise laufen Wort und Bild der Erzählung von der ersten bis zur letzten Seite genauso unverbunden nebeneinander her wie Vater und Sohn in der Erzählung.  

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Teil C Anfänge und Initiationen

Abb. C 21: Wolf Erlbruch: S’ Nachts. Amsterdam 1999 (dt.: Nachts. Übers. vom Autor. Wuppertal 1999).  

Schrift-Bild-Arrangements. Bilderbücher können im Verlauf der Geschichte aber auch auffällige Veränderungen der Schrift-Bild-Komposition aufweisen. Ein repräsentatives Beispiel für die Hervorhebung bestimmter Motive, Episoden oder narrativer Ebenen durch solche Variationen ist etwa Where the Wild Things are (Sendak 1963). Erzählt wird hier von einer nächtlichen Traumreise, indem den Illustrationen, welche die Vorstellungswelt der Hauptfigur präsentieren, immer mehr Raum zugestanden wird, bis die phantastischen Erlebnisbilder die erklärenden Worte vollständig verdrängt haben. Der Weg zurück in die Wachwelt des Kinderzimmers korrespondiert mit der wieder abnehmenden Größe der Bilder. Dieser Prozess verläuft diametral entgegengesetzt zur Menge des verwendeten Schrifttextes, welcher am Schluss wieder die Oberhand gewinnt. Häufiger aber noch als eine solche bogenförmige Bewegung ist eine Steigerung zu beobachten: So sucht in Cockatoes (Blake 1992) ein zerstreuter Professor seine zehn Papageien, wobei die Anzahl der Tiere, die sich an den unglaublichsten Orten versteckt haben, von Seite zu Seite je um eins größer wird. Vordergründig handelt es sich damit um ein Bilderbuch zum Zählenlernen. Darüber hinaus aber wird gerade in der Segmentierung der Geschichte über die Buchseiten die beschränkte Perspektive der Hauptfigur immer offensichtlicher, ohne dass der Schrifttext in irgendeiner Weise Bezug auf diese Entwicklung nehmen müsste.62

62 Im Gegenteil: Trotz der kontinuierlichen Veränderung im Bildtext, heißt es im Schrifttext stets: „They weren’t there“, „There weren’t any cockatoes“, „But they weren’t there“, etc., Blake 1992, S. 11, 13, 15.  

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Abb. C 22: Quentin Blake: Cockatoes. London 1992.  

Verwandlung von Figuren und Schriftzeichen. Auch Veränderungen der Figuren selbst, wie sich wandelnde Wahrnehmungen, Abhängigkeiten oder Entwicklungsprozesse, lassen sich durch buchgestalterische Mittel wirksam inszenieren. So werden beispielsweise die wilden Kerle – ganz unabhängig vom jeweiligen Bildformat – im Bildtext in Relation zu dem Kind, das sie wahrnimmt, größer und wieder kleiner, je nachdem wie gefährlich sie diesem erscheinen. Zudem werden variierende Distanzen und Fokalisierungen,63 Unterschiede in Maltechnik, Malgrund oder Farbauftrag, Farbe, Form und Komposition als narrationstragende Gestaltungsmittel eingesetzt (zu Stil, Form, Farbe und Komposition des Bildtextes vgl. besonders differenziert Kurwinkel 2017, S. 129–152). Eine Kombination zahlreicher solcher Techniken wird beispielsweise in Wolves (Gravett 2006) unternommen: Der Wolf, über den sich ein wissensdurstiges Kaninchen in einem Buch informiert, rückt nicht nur auf immer größerformatigen, in Maltechnik, Farbe und Form vom Kaninchen deutlich abgesetzten Bildern näher an den textinternen Rezipienten heran. Er wird in der Mitte des Buches auch selbst so groß, dass sein Kopf mit den schielenden, auf das Kaninchen gerichteten Augen schließlich fast eine gesamte Doppelseite ausfüllt (ebd., S. 22f.). Durch die ‚gezoomte‘ Detailabbildung wird also auch der Abstand zum textexternen Rezipienten auf unheimliche Weise verringert. (Ein besonders auffälliges Beispiel dieser Technik findet sich in Clayton 2008, S. 30–33.) Dass diese Distanz sogar metaleptisch aufgehoben werden, der Wolf also gewissermaßen aus dem Bilderbuch herausspringen kann, wird sich am Ende des Beitrags zeigen.  









63 Diese lassen sich, in Ergänzung zur Genetteschen Systematik des Modus, analog zu Einstellungsgrößen und Perspektiven aus der Filmnarratologie oder der Comicanalyse differenzieren, auf die in der Bilderbuchanalyse immer wieder in produktiver Weise zurückgegriffen wird. Dies tun etwa Kurwinkel 2017, S. 106–113, 165–170 und Thiele 2000, S. 40f., 48–50.  



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Teil C Anfänge und Initiationen

Variierende Zeilenanordnungen und -umbrüche des Schrifttextes, von denen bereits die Rede war, bilden lediglich eine Form der rauminszenierenden Textgestaltung. Auch heterogene Typen, Größen, Farben und Laufweiten der Schrift, sowie zahlreiche weitere typografische, insbesondere typotaphorische Verfahren (Heimgartner 2014, S. 175; vgl. etwa Clayton 2008, S. 35) gestalten die Erzählung zusätzlich mit oder greifen in ihren Verlauf ein. Zunächst einmal geschieht dies in zweidimensionaler Hinsicht, also auf der Fläche der Buchseiten. Wenn der Schrifttext jedoch nur zu entziffern ist, indem man etwa das gesamte Buch um 90 Grad dreht, gar auf den Kopf stellt (vgl. ebd., S. 52f.; Leblond/Bertrand 2012), oder zum Lesen die Distanz erheblich verringern oder vergrößern muss, entfaltet sich die Geschichte – jenseits ihrer Verteilung auf die Seiten des Buchblocks – mithilfe weiterer architektonischer Elemente des Buchs, die vorrangig den Buchkörper als dreidimensionalen Raum betreffen.  









C 5.3 Erzählen mittels weiterer Buchbestandteile und Paratexte Die einzelnen Bestandteile des Buchkörpers und deren materielle Präsenz tragen die Erzählung oftmals entscheidend mit. Hierfür bietet sich das raum-illusionierende oder raum-illudierende Spiel mit seiner Dreidimensionalität in besonderer Weise an (vgl. Spoerhase 2016, v. a. S. 53). Eine Geschichte kann sich nämlich auch über die Seiten des Buchblocks hinaus entfalten, beispielsweise indem weitere ‚Körperteile‘ wie Rücken, Falz, Einband, Buchdeckel, Schutzumschlag, Vorsatzpapiere oder besondere Einlegungen, aber auch peritextuelle Elemente wie Impressum, Titel, Schmutztitel, Klappentext, Motti, Widmungen oder Frontispize narrationsrelevant in die Geschichte integriert werden (vgl. die Kapitel „Paratext“ und „Materialität“ von Bilderbüchern in Kurwinkel 2017, S. 62–80). Insofern die Buchproduktion die Verarbeitung von konkretem, haptisch erfahrbarem Material voraussetzt, die immer mit bestimmten Entscheidungen (etwa für die Papierstärke, die Grammatur, das Gesamtformat, die Art der Heftung oder die Gestaltung der den Buchblock umgebenden Elemente) verbunden ist, lassen sich diese für bestimmte narrative Effekte nutzen: Besonders dicke oder besonders viele Seiten suggerieren einen weiten Raum, der im Verlauf der Erzählung durchschritten wird, das Umblättern impliziert einen gewissen räumlichen Sprung; und auch die Bewegung von der Recto- zur Verso-Seite hat eine Grenze zu überwinden, nämlich den Buchfalz, der offensichtlich zu besonderen buchgestalterischen Verfahren anregt. In Daqui ninguém passa! (Martins/Carvalho 2014; das Buch liefert zudem ein Beispiel für die narrationsrelevante Gestaltung des Impressums) wird der Falz zum zentralen Erzählelement: Ein General bewacht akribisch die Grenze zwischen linker und rechter Buchseite, die konsequenterweise über sieben Seiten hinweg vollkommen weiß bleibt. Gleichzeitig sammeln sich auf der linken Buchseite immer mehr Figuren, bis diese Fläche vollständig ausgefüllt, in die Diegese übertragen, der Raum diesseits der Grenze gänzlich überfüllt ist. Als versehentlich ein Kinderball den Falz überspringt und  





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auf die leere Seite rollt, erproben die zahlreichen Figuren den Aufstand: Sie beginnen die Grenze zu überwinden, so dass sich im Verlauf der zweiten Buchhälfte das Gewicht von links nach rechts verlagert und immer mehr Menschen, Tiere und phantastische Wesen die Recto-Seiten bevölkern. Die materiellen inneren Grenzen der Buchseiten sind also zugleich die diegetischen Grenzlinien der erzählten Geschichte.

Abb. C 23: Isabel Minhós Martins/Bernardo P. Carvalho: Daqui ninguém passa! Lissabon 2014 (dt.: Hier kommt keiner durch! Übers. von Franziska Hauffe. Stuttgart 2016), S. 16f.  



Von der Zwei- in die Dreidimensionalität übertragen wird der Falz darüber hinaus in This Book Just Ate my Dog (Byrne 2014), wo die Linie selbst als Raum imaginiert wird: Der Falz bildet hier den Eingang zu einem unsichtbaren Abgrund, wobei dieser räumliche Eindruck durch die Bindung verstärkt wird – denn der Stapel sich wölbender, noch nicht umgeblätterter Seiten besitzt ja tatsächlich eine räumliche Ausdehnung. Der Hund der Hauptfigur verschwindet beim Versuch, die Buchseiten von links nach rechts zu überwinden, im Falz – wie alle weiteren sukzessive herbeieilenden Menschen und Fahrzeuge. Daher wird der Rezipient aufgefordert, den Buchkörper umzudrehen und kräftig zu schütteln – was bewirkt, dass sämtliche Figuren wieder zum Vorschein gelangen. Der abschließende Befund, alles sei wieder wie vorher (ebd., S. 26f.), wird dadurch konterkariert, dass die auf der rechten Seite befindlichen Elemente (die Schrift ebenso wie das Hinterteil des Hundes) auf dem Kopf stehen. Die auf den ersten Blick identisch wirkenden Vor- und Nachsatzpapiere spiegeln diese Idee der Umkehrung zusätzlich wider, indem die abgebildeten Fahrzeuge am Schluss ebenfalls liegen statt stehen.  







Variationen über den Raum. Hier kommt zum Tragen, was sich gerade das fiktionale Bilderbuch häufig zunutze macht, dass die Geschichte nämlich nicht zwangsläufig mit der ersten Buchseite des Stapels beginnen und auf seiner letzten Seite enden muss. Durch den Einbezug von Buchdeckel, Einband, Umschlag, Rücken oder fliegendem Blatt bietet die Umgebung des Buchblocks mannigfaltige Möglichkeiten des ‚MitErzählens‘. Die auffälligste narrative Strategie einer solchen Integration ist das Einfü-

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gen einer Vorgeschichte oder einer Fortsetzung, wie dies z. B. in Do you Want to Be My Friend? der Fall ist. Hier zeigt sich, dass sich die beiden Mäuse rechtzeitig vor der Schlange haben in Sicherheit bringen können, die, bei genauerer Betrachtung des Vorsatzblattes wird dies deutlich, ja bereits von Anfang an in die Geschichte einbezogen war. Weitere Funktionen der den Buchblock umgebenden Elemente sind u. a. die Hervorhebung eines bestimmten Motivs, die atmosphärische Ausgestaltung des Themas oder die Rahmung der Geschichte durch zusätzliche Informationen. So etwa in den Wimmelbüchern von Rotraud Susanne Berner (z. B. Berner 2008): Hier werden viele einzelne Geschichten zahlreicher Figuren pluriszenisch und ohne Worte erzählt, indem sich alle Figuren gleichzeitig und gemeinsam über die Buchseiten hinweg fortbewegen. Auf dem hinteren Deckel liefert die Illustratorin in knappem Schrifttext jedoch für die wichtigsten Figuren Namen und die jeweilige Erzählsituation nach, welche sich aus dem Bildtext alleine nicht erschließen lassen. Auch in Daqui ninguém passa! entfalten sich über die räumliche und zeitliche Kluft zwischen Vor- und Nachsatzpapier kleine Geschichten. Diese werden allerdings auf den Seiten des Buchblocks selbst gar nicht erzählt. Die zwischenzeitlich inszenierte Handlung fungiert damit gewissermaßen als Ellipse für weitere Ereignisse: So ist im Zeitraum zwischen erster und letzter Seite beispielsweise ein Kind geboren, ein Astronaut auf der Erde gelandet, ein Bauarbeiter-Team durch Musik gestört und eine ganze Reihe von Figuren durch das Gespenst in Aufruhr versetzt worden. Die eigentliche Pointe von Along a long road, der erwähnten Radfahrergeschichte, wird ebenfalls nur erkennbar, wenn man die peritextuelle Dimension und das Buch als physikalischen Körper in die Lektüre einbezieht. Denn über den dreidimensionalen Gegenstand entsteht die spezifische Verbindung von Linearität und Zirkularität, mit der die Geschichte erst vollständig wird: Während der Buchblock eine mehr oder weniger geradlinig verlaufende Straße präsentiert, führen Vorsatzblätter, Einband und Schutzumschlag diese zunächst in Schlangenlinien und dann kreisförmig fort bis zu dem Punkt, wo das Ende der Straße – betrachtet man das Buch nun nicht mehr als Abfolge von Seiten, sondern als dreidimensionalen Raum – wieder an ihren Anfang anschließt. Die Fahrt endet also ebenso wenig wie die um den gesamten Buchkörper herum verlaufende Straße selbst.  









Abb. C 24: Frank Viva: Along a long road. New York/Boston 2011 (dt.: Eine lange Straße lang. Mit sechs Meter langem Wandplakat. Übers. von Kati Hertzsch. Zürich 2014). Links: Cover; rechts oben: vorderer Vorsatz; rechts unten: S. 32–33.  



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Dass Frank Viva in das Buch darüber hinaus ein sechs Meter langes, aufklappbares Plakat einlegt, welches die Fahrt nochmals ohne Worte wiederholt, weist zum einen darauf hin, dass die Geschichte auch ohne Schrifttext hätte erzählt werden können. Zum anderen zeigt sich damit, dass die narrationstragenden Elemente auch gesondert in das Buch eingefügte Blätter, Karten, Gegenstände, Briefe, Fotos und vieles mehr sein können; zusätzliches Material also, mit dem das herkömmliche Buchformat erweitert wird. Einen besonderen Fall solcher, den traditionellen Buchkörper sprengenden Einfügungen, sind eingeklebte Aufklapp- oder Pop-up-Elemente, durch die eine radikale räumliche Ausweitung des Korpus möglich wird (vgl. detaillierter SchmitzEmans 2016c und Schmitz-Emans 2016d sowie Teil D „Pop-up-Bücher und Literatur“). Spezialeffekte. Das narrationsrelevante übergroße Format der bereits genannten Wimmelbücher kommt ebenfalls in der physikalischen Präsenz des Buchkörpers besonders zur Geltung: Häufig werden hier riesige Häuser mit zahlreichen Etagen und Räumen abgebildet, denen – nach dem Prinzip der Guckkastenbühne – die vierte Wand fehlt (vgl. Pfister 1977, S. 41–45). Stellt man das Buch beim Lesen auf, entsteht tatsächlich ein hausähnliches Gebilde mit Außen- und Innenwänden, das mit den zahlreichen Längsschnitten der Gebäude in der Erzählung korrespondiert. Dass die Serie, neben zahlreichen weiteren Formaten, auch als Leporello existiert, verstärkt also lediglich einen buchgestalterischen Effekt, der auch in der klassischen Bindung bereits vorhanden ist. Auch in anderer Weise kann natürlich auf die Materialität des Korpus Einfluss genommen werden, um die Narration zu strukturieren, zu intensivieren oder besondere Authentizitätseffekte hervorzubringen. Wird der Kodex beispielsweise durchlöchert, entstehen ganz eigene räumliche Illusions-Wirkungen. Der berühmteste Verursacher solcher ‚Beschädigungen‘ ist die Raupe Nimmersatt, die sich im erzählten Raum durch zahllose Lebensmittel frisst, deutliche Spuren im Erzählraum hinterlässt und dabei tatsächliche Löcher in den Seiten des Buchraumes verursacht (vgl. Carle 1969). Auf die Spitze getrieben bzw. erzähltechnisch umgekehrt wird ein solcher Effekt durch Hervé Tullet (z. B. Tullet 2011). Hier bildet das Loch im Buch – der ausgesparte Raum ist in diesem Fall sogar größer als die verbleibenden Ränder des Buchblocks – das eigentliche, leere Zentrum einer Geschichte, welche der Leser selbst erst erfinden und erzählen soll. Mit dieser Serie ist, ähnlich wie bei Pop-up-Büchern, die Grenze zwischen fiktionalem Bilderbuch und Spiel-, Bewegungs- oder Mitmachbuch berührt bzw. überschritten.  











C 5.4 Erzählen über den Buchkörper hinweg: Intertextualität, Interpikturalität, Metaisierung In den zuletzt genannten Beispielen sind die Eingriffe in den Buchkörper jeweils real produziert und damit im Buchmaterial sinnlich erfass- und erfahrbar. Für das Potenzial fiktionalen Geschichtenerzählens ist aber womöglich entscheidender, dass es die

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erzählerische Wirkung kaum schmälert, wenn solche Materialitäts-Effekte lediglich illusionserzeugend eingesetzt werden. Das bereits erwähnte Bilderbuch Wolves funktioniert eben auf diese Weise. Das näher rückende Tier überspringt mehrere Erzählebenen innerhalb der präsentierten Geschichte. Vorsatzpapier, Schmutztitel, abgebildete (und zusätzlich eingeklebte) Bibliotheks-Leihkarten und Briefe sowie vor allem der Einband erzählen zusammen mit der im Buchblock präsentierten Geschichte eine metaleptische Grenzüberschreitung: Ein Kaninchen hat sich in einer Bibliothek ein Buch über Wölfe ausgeliehen, dessen Innenleben selbst wiederum räumlich inszeniert ist. Der Wolf bricht schließlich aus dem entliehenen Exemplar aus, frisst das Kaninchen und zerfetzt darüber hinaus auch das Buch, das der Leser selbst in der Hand zu halten glaubt. Denn die Buchelemente jenseits des Buchblocks und die zusätzlichen Peritexte eröffnen eine weitere Erzählebene, die sich zwischen die Bestandteile des physisch vorhandenen Buchs und die erzählte Welt schiebt: Das Leinen des Einbands ist zerrissen, die Pappe des Deckels zernagt, das Papier der Seiten zerknüllt, das Kaninchen aus der Geschichte verschwunden. Mittels einer metafiktionalen Schleife („The author would like to point out, that no rabbits were eaten during the making of this book. It is a work of fiction“, Gravett 2006, S. 29) wird jedoch ein alternativer Schluss hinzugefügt. Dieser klärt darüber auf, weshalb Cover, Schmutztitel und Vor- bzw. Nachsatzpapiere des Buches, das wir als Rezipienten lesen, letztlich doch unversehrt geblieben sind. Weitere raum-illusionierende Buch-Elemente unterstützen diese Wirkung: Gravett hat konsequenterweise an den Seitenrändern des Buchblocks die überstehenden Einbände und Vorsatzblätter der intra- und metadiegetischen Buchebene mit den entsprechenden Farben eingezeichnet. Die mise en abyme wird also zusätzlich ausgestellt, ohne damit die fiktionale Illusion im Geringsten zu stören. Ein origineller buchgestalterischer Effekt zur Metaisierung ergibt sich darüber hinaus aus der geradezu übertrieben inszenierten Materialität: Für den alternativen Schluss wurden die zerfetzten Figuren und der Schrifttext wieder zusammengeklebt, das zerknüllte Papier glattgestrichen und diese Elemente in Form einer Collage auf den Bildhintergrund montiert.  

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Abb. C 25: Emily Gravett: Wolves. New York 2006 (dt.: Achtung Wolf! Übers. von Uwe Michael Gutzschhahn. Düsseldorf 2006), S. 28–29, 31, 34 f.  





Neben dem Geschichtenerzählen und Geschichtenlesen in sequentieller Dimension, d. h. im zeitlichen Verlauf und in der räumlichen Durchquerung durch das Bilderbuch hindurch, wird die Bilderbucharchitektur also auch genutzt, um über den Buchkörper hinweg bzw. aus dem Buchkörper heraus zu erzählen. In der Verschiebung des narrationstragenden Gewichts von der syntagmatischen auf die paradigmatische Ebene treten Geschichten in eine besondere Beziehung zum Leser und Betrachter; etwa indem sie diesen ausdrücklich mit in die Geschichte involvieren oder die Erzählebenen überspringen und damit gewissermaßen selbst aus dem Buch herausragen. (Zum Zusammenhang zwischen Selbstreflexion, Materialität und Metaisierung am Beispiel des Traums im Bilderbuch vgl. Solte-Gresser 2017, insbes. S. 360–368.) Oftmals schlägt das Buch auf diese Weise auch eine Brücke zu anderen Büchern. Über buchgestalterische Verfahren werden also nicht nur Geschichten, Erzähler und Rezipienten miteinander verbunden, es kann auch ein fiktives Netz aus unterschiedlichen ästhetischen Artefakten entstehen, das eigene Sinnzusammenhänge stiftet und neue Deutungsräume eröffnet.  



Metalepsen, Metaisierungen. Inwiefern eine solche Grenzüberschreitung unmittelbar mit der Materialität des Bilderbuchs zusammenhängt, hat das Beispiel Wolves gezeigt. Auch andere der bereits aufgeführten Werke nutzen ihre Materialität für Metalepsen oder weitere Formen der Metaisierung; entweder in autoreferentieller Funktion oder, indem die Bezüge auf ihre ‚Buchhaftigkeit‘ zur Bilderbuch-Reflexion im Allgemeinen eingesetzt werden. Dies zeigt sich z. B. in Daqui ninguém passa!, wo mittels des Buchfalzes nicht nur auf eine erzählte und materiell vorhandene Grenze verwie 

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sen wird. Es geht zugleich um das Buch als Raum für Erzählungen, und damit um die Grenzen und das Grenzen sprengende Potenzial der Fiktion. Scheint es dem General zu Beginn des Buches noch attraktiv, die Figuren der Diegese zu kontrollieren und sich selbst nach Belieben in diese hineinzubegeben,64 katapultiert er sich auf dem hinteren fliegenden Blatt erst aus der erzählten Welt, dann aus dem Buchraum und letztlich aus der gesamten Gattung heraus, indem er deklariert: „Ich verlasse diese Geschichte, das steht fest! Außerdem – wer will schon Held in einem Kinderbuch sein?“ (Martins/Carvalho 2016, S. 32) Inwiefern Materialität als fingierte, imaginierte Stofflichkeit zur Metaisierung dienen kann, zeigt sich zudem – gerade mittels den Buchblock umgebender Elemente – an verschiedensten Motiven. Oftmals scheinen sich einzelne Gegenstände aus der erzählten Welt im Verlauf des Buches regelrecht zu verselbstständigen und über die Erzählebenen hinweg ein Eigenleben zu entfalten. Wenn auf dem hinteren fliegenden Blatt von S’ Nachts beispielsweise der Protagonist den bunten Ball, den er auf seinen nächtlichen Abenteuern von einem fliegenden Mädchen bekommen hat, auch in seinem grauen Schlafzimmer noch in der Hand hält und auf dem hinteren Vorsatzblatt dem Betrachter des Buches zu reichen scheint, so bildet auch dieses Motiv eine Brücke über mehrere Erzählebenen hinweg: Es gelangt von der intradiegetischen Traumwelt des Jungen über die extradiegetische Schlafzimmerebene hinweg bis in die Welt des Rezipienten (Erlbruch 1999, S. 25). Vergleichbares gilt für die Kinderzeichnung, die zu Beginn von Where the Wild Things are an der Wand hängt.65 Vielfältig eingesetzte intratextuelle bzw. intrapikturale, sowie intermediale und intertextuelle Bezüge erweitern zudem die physischen Grenzen des Bilderbuchs auf narratoästhetischer Ebene (vgl. Kurwinkel 2017, S. 17, 165–171, der sich auf die Intermedialitätskonzepte von Irina Rajewski und Werner Wolf sowie den Genetteschen Ansatz zur Inter- bzw. Paratextualität bezieht). Dass in Sleep like a Tiger (Logue/Zagarenski 2012, S. 4, 6, 10, 19) ausgerechnet Saint-Exupérys Le petit prince als Buch und ständiger Begleiter des einschlafenden Mädchens materiell präsent ist, eröffnet vielfältige Interpretationsspielräume. Solche Verbindungswege zwischen den Büchern können zudem autoreferenziell und ironisch eingesetzt werden, etwa indem die Schweinekinder in Hektor und Prudenzia abends sechs verschiedene Bilderbücher vorgelesen bekommen, deren Mehrzahl – die diegetische Schrift im Bildtext weist eindeutig darauf hin (Koscielniak/Heine 1990, S. 23) – vom Verfasser eben des Bilderbuchs stammt, das wir gerade lesen.  



















64 „[Der General; C. S.] hat sich das Recht vorbehalten, diese Seite weiss [sic] zu belassen. So kann er in die Geschichte hineinkommen, wann immer er es möchte“. (Martins/Carvalho 2016, S. 8) 65 Sendak 1963, S. 5. Hier hat der Protagonist offensichtlich bereits jenen wilden Kerl gezeichnet, als den ihn die Mutter erst später bezeichnet, dem er in seinem Traum begegnet und der auf Umschlag, Einband und Vorsatz selbst sehr viel realer und unmittelbarer erscheint als in der Diegese und innerhalb des Kodex.  





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Abb. C 26: Bruce Koscielniak/Helme Heine: Hektor und Prudenzia. Stuttgart 1990, S. 23.  



Dass Geschichten über mehrere Bücher hinweg erzählt werden, gilt freilich vorrangig für die verschiedenen Formen seriellen Erzählens.66 Solche Verfahren können aber auch jenseits von Serien die Vorstellung suggerieren, dass sich Figuren zwischen den Buchkörpern fortbewegen bzw. von einem Körper in den anderen gelangen. In sinnstiftender, wenngleich nur angedeuteter Weise ist dies etwa in zwei von Roberto Innocenti illustrierten Bilderbüchern zur Shoah der Fall: Während Rosa Bianca (Innocenti 2005) die Geschichte einer Deportation ins Konzentrationslager aus der Perspektive eines beobachtenden Mädchens darstellt, das am Ende selbst zum Opfer wird, erzählt in La Storia di Erika (Vander Zee/Innocenti 2005) eine erwachsene Frau, wie sie die Deportation als kleines Kind überlebt hat. Am Schluss dieses Buches betrachtet ein Mädchen – das, ebenso wie Rosa Bianca aus dem gleichnamigen Bilderbuch mit einem rosafarbenen Rock, schwarzen Schuhen und weißen Kniestrümpfen bekleidet  

66 Im Bilderbuch wird neben dem Personal vor allem über die ästhetische Gestaltung der Bucharchitektur eine gewisse narrationsrelevante Identität gestiftet (vgl. Kurwinkel 2017, S. 221–223); anzumerken bleibt aber, dass in den meisten Fällen nur bedingt von einer (einzigen) Erzählung die Rede sein kann.  

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ist – den Deportationszug von außen, aus dem das Kind der Geschichte, die hier an ihr Ende gelangt, entkommen war. An exakt derselben Stelle des jeweiligen Buches (es geht hier wie dort um die letzte Doppelseite vor einem leuchtend gelben Vorsatz) werden uns also mit einer auffällig ähnlichen Farbgebung, stilistischen Ausarbeitung und Perspektivierung zwei komplementäre Situationen derselben Thematik präsentiert. Damit entsteht letztlich über die beiden Buchkörper hinweg eine Überkreuzung aus Außen- und Innenperspektive, die zur kritischen Reflexion anregt. Über buchgestalterische Verfahren wird so das komplexe Verhältnis zwischen Opfer- und Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand, Wissen und Nicht-Wissen befragt.  

Abb. C 27: Oben: Roberto Innocenti: Rosa Bianca, S. 1 und 28 f.; unten: Ruth Van der Zee/ Roberto Innocenti: La Storia di Erika, S. 17, 20 f.  









Buchholz: Im Land der Bücher. Im Land der Bücher (Buchholz 2013) schreitet besonders konsequent das ästhetische Potenzial der Bucharchitektur aus, indem es auf einer Metaebene Bücher in ihrer körperlich-sinnlichen Materialität und in ihrer zugleich Welt erzeugenden Fiktionalität inszeniert. Quint Buchholz erzählt damit zwar keine Geschichte im klassischen Sinne – jedenfalls nicht eine einzige Geschichte. Er thematisiert und inszeniert allerdings geradezu systematisch die wichtigsten Funktionen bucharchitektonischen Erzählens, die sich so abschließend zusammenfassen lassen. Das Buch präsentiert in serieller Anordnung jeweils eine Verszeile Schrifttext und dessen bildlich konkretisierende Ausgestaltung auf je einer Doppelseite. Dass so letztlich ein Gedicht mit regelmäßigem Metrum und Reimschema entsteht, lässt sich also erst im sequentiellen Durchgang durch den gesamten Buchkörper erkennen. Der Schrifttext ist in Parallelismen organisiert, mit denen auf jeder Seite unterschiedliche Aneignungsformen, Wirkungen und Funktionen fiktionaler Literatur vorgeführt wer 

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den. Wort und Bild interagieren dabei auch in paradigmatischer Weise, etwa indem Buchholz sprachliche Bilder wörtlich nimmt und in den Bildtext überträgt.67 Die materielle Dimension von Schrift wird mittels diegetischer Buchstaben im Bildtext für die Inszenierung von körperlich-sinnlicher Welterfahrung im Lesen genutzt.68 Auf jeder Seite ist ein Buch als dreidimensionaler, physisch und sinnlich begeh-, erfass- und erfahrbarer Körper abgebildet, wobei die Ebenen zwischen erzähltem Raum, Erzählraum und Buchraum metaleptisch überschritten werden.69 Die komplexe Beziehung zwischen erzählter Welt und Bucharchitektur wird aber auch jenseits des Buchblocks ausgeschritten. Weitere Buchbestandteile und Peritexte sind insofern relevant, als sie die Ebenen des Autors, des Erzählers und des Rezipienten miteinander verschränken: Der Schrifttext spart das letzte Substantiv („Welt“) aus, so dass das Gedicht allein durch das Bild einer als Buchkörper erscheinenden Weltkugel am Ende des Buches vervollständigt wird; und zwar, indem der Leser Bild- und Wortebene zusammen- und in die gesprochene Sprache überführt, also das Buch selbst zu Ende erzählt. Zudem wird die Abbildung eines lesenden Mannes auf der letzten Seite durch eine Autor-Biografie ergänzt, die den Leser ‚im‘ Buch zugleich als den Erzähler und Autor ‚des‘ Buches ausweist (Buchholz 2013, S. 19, 56). Der Titel Im Land der Bücher sowie das Motto verweisen zudem explizit auf das Welten erschaffende Potenzial der Literatur. Bilderbücher und die in ihnen versammelten Geschichten, so macht Buchholz also deutlich, berühren ihre Leser auf mehreren Ebenen: Sie involvieren und affizieren ihn körperlich („springen“, „fliegen“, „tanzen“), sinnlich („einhüllen“, „sehen“, „hören“), emotional („weinen“, „Herzklopfen spüren“, „verzagen“, „lieben“) und geistig („Worte sammeln“, „Zeiten bauen“, „Welten entdecken“). Letztlich ermöglichen sie so eine gänzlich neue Perspektive auf die Wirklichkeit: Bilderbücher erzählen davon, wie Fiktion – in einen physischen Buchkörper eingebunden – neue Welten er 





67 Wenn „einer […] manche Bücher nicht [liegen]“, so fliegen ihr etwa die Seiten des Kodex davon (Buchholz 2013, S. 10f.); jemand, der sich bei der Lektüre „in ein Abenteuer stürzt“, springt aus dem Buchkörper heraus ins Meer (ebd., S. 4f.), wo nach dem Lesen „die Welt in neuem Licht“ erscheint, färbt sich die gesamte Bildseite grün (ebd., S. 6f.). 68 Etwa wenn das Lesetempo davon abhängt, wie erfolgreich man sich durch den Tiefschnee der Seiten gräbt, um die Lettern freizulegen (ebd., S. 38f.), oder wenn besondere Wörter das Buch verlassen, um vor den Augen der Leserin Wirklichkeit zu werden (ebd., S. 40f.). 69 Und zwar in beide Richtungen: Als lebendiger Körper erscheint es etwa, wenn es als Pferd für ein mittelalterliches Burgfräulein dient (ebd., S. 15) oder wenn aus ihm eine Hand mit Pistole herausragt (ebd., S. 29). Das Buch wird zur Bettdecke, zum Fernglas oder zum Sarg (ebd., S. 35, S. 37, S. 49); es fungiert aber auch als Raum, den die Lesenden betreten oder aus dem die Figuren der Geschichte selbst heraustreten (ebd., S. 8f., S. 20f.). In diesem Rahmen wird nicht nur mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen im Bildtext gespielt, sondern zugleich das inter-, archi- und metatexuelle Potenzial der Literatur ausgespielt. Dies zeigt etwa die Seite, in der sich das Lamm in unmittelbare Nähe des Wolfs ins Buch wagt (ebd., S. 30f.) – eine deutliche Referenz auf die Konstellation von Wolf und Lamm und seine sich ändernden Machtkonstellation im Verlauf der Fabel von Äsop bis Arntzen, in der das Lamm durch seine (metaleptischen) Lektüren immer selbstbewusster wird.  



























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schließt, indem sie die Materialität der Literatur erfahrbar macht und zugleich überschreitet. CSG

Abb. C 28: Quint Buchholz: Im Land der Bücher. München 2013, S. 30 f., 38 f., 55.  







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Kinderbücher wie auch Künstlerbücher bieten eine Varietät an Ausdifferenzierungen, deren Gestaltung die Vermittlung der Inhalte unterstützen: Obwohl es sich um zwei grundsätzlich unterschiedliche Buchtypen handelt, lassen sich hinsichtlich materieller Eigenschaften wie auch konzeptioneller Ansätze Analogien aufzeigen. Da bei beiden Buchtypen Text und Bild integrale Bestandteile der Konzeption sind, erhält deren Inszenierung, gestützt durch eine gezielte Materialauswahl, einen zentralen Stellenwert. Angestrebt ist ein synergetischer Effekt, der über eine Addition der einzelnen Gestaltungsfaktoren hinaus weitere Aussagen bedingt. Häufig sind Fragen des Wahrnehmens und Kombinierens angesprochen, wobei zur Partizipation stimulierende Anteile eingebunden sein können, wie in das Buch integrierte Bewegungselemente, zum Spiel einladende Beilagen. Oder aber die Konzeption des Buchkörpers beinhaltet Möglichkeiten der Konstruktion und der Demontage. Solche Elemente zielen darauf, dem Rezipienten zu signalisieren, dass er aktiv auf die Buchinhalte einwirken und Veränderungen provozieren kann. Die bei den Kinderkünstlerbüchern zur Anwendung kommenden Techniken, Materialien und Verarbeitungsformen entsprechen zwar häufig solchen, wie sie auch im Künstlerbuch zu beobachten sind, sind aber auf eine kindliche Kognition und Rezeption ausgerichtet. Die Künstlerbücher verbinden sich zumeist mit einer komplexeren Aussage, die die im Buch gegebenen Darstellungen mit unterschiedlicher Prägnanz anreißen.

C 6.1 „Kinderkünstlerbücher“ Ein explizit als „Kinderkünstlerbuch“ bezeichneter Typus sucht künstlerischen Anspruch und kindgerechte Ausführung zu vereinen (vgl. Heller 2004). Die Konzeption dieser Bücher erfolgt mit Blick auf eine im Kindesalter einsetzende ästhetische Erziehung und betont entsprechend eine gleichermaßen durchdachte wie auf den kindlichen Rezipienten abgestimmte Themensetzung, verbunden mit einem entsprechenden Stil, deren Relevanz für die Erziehung in reformpädagogischen Ansätzen wiederholt hervorgehoben wurde (vgl. ebd., S. 198). In diesem Zusammenhang wurde auch die Illustration, die häufig lediglich als eine dem Text untergeordnete Darstellungsform erachtet wurde, als eigenständige künstlerische Leistung anerkannt, die von stilistischen Eigenarten oder einer vorherrschenden Kunstrichtung bestimmt sein kann. Für diese Form des Kinderkünstlerbuches wurden namhafte Künstler wie u. a. Karl Hofer, Heinrich Vogler, Koloman Moser, Hannah Höch und Andy Warhol tätig, die u. a. Originallithografien im Kinderbuch einsetzten oder ihren Buchgestaltungen künstlerisch ausgestaltete Vorlagen zugrunde legten. Bei 





https://doi.org/10.1515/9783110528299-017

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spiele sind Hannah Höchs Collagen (Höch 2008) oder Oskar Nerlingers Fotogramme.70 Dem Buchtypus des Kinderkünstlerbuches haben sich einzelne Verlage zugewandt, wie beispielsweise der Ende 1922 von Lew Kljaschkow, Korneij Tschukowskij und Samuil Maršak in Leningrad gegründete Raduga Verlag oder der 2004 begründete Pariser Verlag Les trois ourses. In anderen Häusern wurden eigene Reihen dem Kinderkünstlerbuch gewidmet, so etwa die 1931 für das Verlagshaus Flammarion von Paul Faucher entwickelte Serie Père Castor. Leitend für das Kinderbuchprogramm von Raduga war eine gegenständliche und realistische Wiedergabe. Die Bilder sollten das Beobachtungsvermögen schulen und die Wissbegierde anregen. Faucher betonte, dass die Bücher zudem auch in der Handhabung kindgerecht sein müssten. Dem kamen seiner Auffassung nach flexible Materialien bei den Einbänden und zum Leporello ausfaltbare Seiten entgegen.71 Zu den im Rahmen der Kinderbuchprogramme gestellten Forderungen treten Materialien und Verarbeitungsweisen, die dem kindlichen Zugriff entsprechen, etwa feste und wasserresistente Papiere, Folienkaschierungen und Spiral- und Ringbindungen, die einen Einstieg in das Buch bei praktisch jeder Seite ermöglichen. Durch ähnliche materielle und formale Anlage können sich Künstlerbücher im Kontext der Kinderkünstlerbücher verorten. Besondere Materialien. Neben aufwendiger Verarbeitung, wie aus den Seiten gestanzte Formen, unterschiedliche Blattgrößen und -formen innerhalb eines Buches oder aus der Blattebene ausfaltbare Figuren, kommen bei der Herstellung von Kinderwie auch Künstlerbüchern Materialien zum Einsatz, die traditionell nicht mit dem Buch verbunden sind oder solche, die in ihrer Zusammenstellung neue Rezeptionsweisen nahelegen. Etwa suggerieren die aus bedruckten Textilien genähten Bücher von Ianna Andréadis oder Louise-Marie Cumont über ihre Nachgiebigkeit einen Gebrauch als Kissen und Kuschelobjekt.72 Textile Materialien legt auch Carola Willbrand vielen ihren Büchern zugrunde, doch sucht sie darüber ihren erweiterten Begriff von Schreiben und Zeichnen zu veranschaulichen, demzufolge sich die Darstellungen aus Nähten und Nahtspuren fügen und die Nähmaschine den Zeichenstift ersetzt.73 Verarbeitung und Materialien liefern beim Kinder- wie beim Künstlerbuch Ansatzpunkte für Rezeptions70 Nerlinger, Oskar: Fotogramme für ein Kinderbilderbuch, 1928, Silbergelatineabzug. 71 Zu Paul Faucher vgl. Branchu 1999. Mit der Gestaltung beauftragt Faucher namhafte Künstler wie Hélène Guertik, Feodor Rojankovsky, Alexandra Exter, Nathalie Parain, Natan Altman und Ivan Bilibin. 72 Andréadis, Ianna: Dis-voir. Paris: Les trois ourses 1998, Textilstoff, handgefertigt, 21 x 17 cm, Auflage: 20 Exemplare; Cumont, Louise-Marie: Au lit. Paris: Les trois ourses 1992/1993, Textilstoff, 24,5 x 27,5 cm, Auflage: 45 Exemplare. 73 Willbrand, Carola: Freundinnen. Bewegung um den Lebensfaden. Köln 2006, Fotografie, s/w-Abzug auf Fotoleinen, Nähmaschinentechnik, glänzende und monochrome Permanentstifte, Durchmesser: 22 cm; Willbrand, Carola: Mein Quellenwerk. Köln 2006, 198 x 53 cm, 195 x 52,5 cm, 204 x 59 cm, aufbewahrt in Stoffbeutel 63 x 27,2 cm, Klingspor Museum Offenbach am Main, Sign. Mp 5 F 2 Will. Vgl. Kat. Ausst. 2006, S. 235–242.  







































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weisen, die über das Blättern, Schauen und Lesen hinausgehen. Sophie Curtil verwendet in ihrem von 1001 Nacht inspiriertem Kinderbuch Ali ou Léo Prägungen, über die die Darstellungen zu ertasten sind und mit denen sie sehbehinderte Kinder adressiert. Ronald Kings als Künstlerbuch konzipiertes Echo Book zielt auf die visuelle Übersetzung eines Klangphänomens. Dazu ist in einem einzigen und alle Seiten erfassenden Prägevorgang der Schriftzug „Echo“ in das Papier geprägt, der, weil die aus der Fläche hervortretenden Formen der Buchstaben über die Seiten hin abnimmt, als Äquivalent eines sich in der Ferne verlierenden Echos bestimmt ist (Curtil 2002; King 1994). Anleitungen der Nutzer. Neben konkreten an den Rezipienten gerichteten Hinweisen, selbst malend, zeichnend oder schreibend tätig zu werden, liefern die zur Anwendung gebrachten Techniken, beispielsweise Collagen, Fingerdruck oder Faltungen, Anregungen zur Nachahmung.74 Zu einer über das Blättern hinausgehenden Handhabung stimulieren weiterhin Bücher mit ludischen Elementen, die unter Umständen aus dem Buch herausgelöst und zum Spielen verwendet werden können. Ansätze bieten die Kinderbücher von Fanny Millard und Enzo Mari, während das nach Fotografien von Rodtschenko gestaltete Buch Animaux à mimer aus Papier gefaltete Tierfiguren vorstellt.75 Mit ihren partizipativen oder zur eigenen kreativen Tätigkeit anregenden Anteilen stehen diese Bücher in einer Linie mit Büchern, wie sie unter anderem die Künstler der Fluxus-Bewegung konzipiert haben. Etwa enthält das in diesem Zusammenhang entstandene Buch Games of the Cedilla, or the Cedilla takes off von Robert Filliou und George Brecht Spiel- und Handlungsanweisungen und die für die Fluxus-Vertreter häufig das Buch ersetzenden, als Fluxkit bezeichneten Boxen, nehmen Materialien auf, die in Verbindung mit einer ihrer künstlerischen Aktionen stehen (Brecht/Filliou 1967).

C 6.2 „Künstlerkinderbücher“ Neben den als Künstlerkinderbücher bezeichneten Buchtypen sind Künstlerkinderbücher zu nennen, die von ihren Autoren zwar für Kinder entworfen wurden, dies jedoch nicht im Rahmen eines vom Verlag oder Auftraggeber formulierten Programms. So ist

74 Impulse für eine partizipative Anteile berücksichtigende Gestaltung des Kinderbuches gingen von Künstlern aus Italien, der Schweiz und Tschechien aus, darunter Warja Lavater, Vojtěch Kubašta und Jan Pieńkowski. In Deutschland liefert Wilfried Blechen Beispiele für das partizipative Kinderbuch. Vgl. Pohlmann 2017, S. 57f. 75 Millard, Fanny: Basic space. Paris: Les trois ourses 2015, zu unterschiedlichen Formen ausfaltbare Kartons, geschlossen: 12,5 x 12,5; Mari, Enzo: Autoprogettazione? Mailand: Corraini 2010, 23,5 x 16,5 cm; Rodtschenko, Alexander/Tretʹjakov, Sergej: Animaux à mimer. Paris: Les trois ourses 2011, 28 x 21,5 cm. Enthalten sind acht Tiergedichte von Sergej Tretʹjakov. Die Prototypen der Falttiere stammen von Varvara Stepanova.  

















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beispielsweise das von Dieter Roth für den Sohn des Schweizer Theaterintendanten Claus Bremer konzipierte Buch als Prototyp für eine Reihe von als „Bilderbuch“ und „Kinderbuch“ betitelten Werken zu betrachten, die in den 1950er Jahren im eigenen Verlag des Künstlers in Reykjavik erschienen und nicht als Kinderbücher rezipiert wurden (Roth 1957; Roth 1956; vgl. Conzen 2000, S. 52). Roth verfolgte keinen entsprechenden Vertrieb, weil er davon ausging, dass seine Bücher Kinder langweilen würden (vgl. Roth online). Wie Roth haben sich auch El Lissitzky, Kurt Schwitters, Käte Steinitz und Theo van Doesburg der Konzeption von Büchern zugewandt und dabei auch Kinderbücher produziert. El Lissitzkys Buch Suprematistische Erzählung von zwei Quadraten in 6 Konstruktionen richtet sich, so auf der ersten Seite zu lesen, an alle Kinder der Welt. Die Kinder werden aufgefordert, Schere, Papier, Draht und Holzklötzchen zu nehmen, zu malen und zu konstruieren und darüber aktiv an der im Buch erzählten Geschichte teilzunehmen. Und da die von einem roten und einem schwarzen Quadrat bestimmte Handlung den Aufbau des Kommunismus propagiert, wird ihnen zudem suggeriert, diesen mitgestalten zu können.  

Die Scheuche und ihre Verwandten Die Bilderzählung in dem von Schwitters zusammen mit Steinitz und van Doesburg konzipierten Buch Die Scheuche entwickelt sich über Drucktypen und Blindmaterial aus dem Setzkasten (Lissitzky 1922; Schwitters/Steinitz/Doesburg 1925). Über die im Untertitel gegebene Bezeichnung als „Märchen“ wird deutlich, dass auch dieses Buch primär Kinder adressiert. Die in beiden Büchern vorherrschenden Gestaltungspraktiken sind insofern nicht ausschließlich an Kinder gerichtet, als sie losgelöst vom Kinderbuch auch in anderen Zusammenhängen auftreten. Auf einem ebenso einfachen, konstruktivistischen Formvokabular wie die Darstellungen in Suprematistische Erzählung von zwei Quadraten in 6 Konstruktionen basieren auch die Motive, die El Lissitzky bei der Gestaltung von Vladimir Majakovskijs Gedichtsammlung Dlja golosa (Für die Stimme) verwendete (Majakovskij 1923). Und eine dem Buch von Schwitters, Steinitz und van Doesburg analoge Darstellungsform findet sich in HAP Grieshabers Poesia typographica, deren erster Teil ebenfalls aus Versatzstücken des Setzkastens komponiert ist (Grieshaber 1962). Mit den einfachen, allein für ein visuelles Erfassen bestimmten Darstellungen intendierte Grieshaber eine Bibel für Analphabeten. Mit Teilen aus dem Setzkasten erzielt er auf den ersten Seiten einfache Bildformen, die, weil ihnen „die Wirklichkeit eines Gefühls zugrunde gelegt ist“ besonders ausdrucksstark sind (vgl. Martin 1962, unpag.). So lassen sich die Seiten zu Beginn als Abbild des von Pest und Kriegen heimgesuchten irdischen Lebens interpretieren, denen im Weiteren mit monochromen Seiten ohne jegliches Textelement, eine Visualisierung der Heilsgeschichte folgt. Schwarze Seiten bilden die Sünde, die roten die Erlösung durch das Blut Christi ab, die nachfolgenden weißen versinnbildlichen die von Schuld befreite Seele und die abschließenden goldenen das Himmelreich (vgl. ebd.). Die Frage, wo die Grenze zwischen Kinder- und Künstlerbuch verläuft, unterliegt Auffassungen, die sich aus der Zielsetzung heraus bestimmen und bei Künstler, Ver-

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leger und Rezipient bisweilen disparat sind. Das von Oskar Kokoschka für die Wiener Werkstätte als Kinderbuch entworfene Buch Die träumenden Knaben wurde von seinen Auftraggebern als nicht kindgerecht erachtet und, obwohl dennoch gedruckt, auch kaum als solches verkauft. Jenseits von seiner Rezeption als Kinderbuch findet es Zuspruch bei Sammlern und gilt mit seinem ebenfalls von Kokoschka verfassten Text als Künstlerbuch (Kokoschka 1909. 1917 kaufte der Verleger Kurt Wolff die Restauflage, die er mit einem eigenen Einband versah und 275 nummerierte Exemplaren in den Verkauf brachte. Vgl. Teil E 2.2).

C 6.3 Primärformen und -farben als Gestaltungsleitlinie für Kinder- und Künstlerbücher Die von den Verlegern und Herausgebern von für Kinder bestimmte Bilderbuchreihen eingeforderte Ausrichtung einer Kindern verständlichen Darstellung unterliegt keinen Stilvorgaben. Sie kann abstrakt oder gegenständlich sein, auf Primärformen und -farben basieren oder eine an kindliche Malweise angelehnte Darstellung verfolgen, wobei über die Gestaltungsprinzipien bisweilen deutliche Bezüge zu spezifischen Kunststilen hervortreten. Etwa zeigen sich bei der Reduktion auf Primärformen und Primärfarben Analogien zu Darstellungsweisen, wie sie durch Konstruktivismus und Minimalismus oder die flächenfüllenden Konzeptionen des Colourfield Painting vorgeprägt sind. Im Zusammenhang des Minimalismus ist Miloš Cvachs Buch A partir d’un trait zu betrachten, das auf jeder Seite nicht mehr als drei farbige Striche wiedergibt, die lediglich in ihrer Ausrichtung variiert werden (Cvach 2003). In ähnlicher Weise lassen sich bei Kinderbilderbüchern mit betont einfachen Form- und Kompositionsschemata bisweilen stilistische Bezüge zum Expressionismus, zur Pop Art, zur Art brut oder auch zur naiven Malerei nachvollziehen. Diese Stilrichtungen verzichten durchweg auf Perspektivkonstruktion und stützen sich auf eine einfache Formsprache oder flächige Gestaltung. Flächige Gestaltung etwa dominiert die Motive in Kokoschkas Buch Die träumenden Knaben, in dem sämtliche Formen in einer der expressionistischen Kunst entlehnten Weise schwarz konturiert sind und der Farbkanon auf wenige Töne begrenzt ist. Dieter Roth, Gotthard Graubner, Bruno Munari. Auf einer reinen Formsprache basieren die 2 Bilderbücher aus Dieter Roths Verlag, die über ihre Titel nahelegen, für Kinder bestimmt zu sein. Beide kombinieren Primärfarben mit Primärformen, die über die Seiten hin in unterschiedlicher Weise einander überlagern und dabei neue Formen hervorbringen. Die Darstellungen in Kinderbuch beschränken sich auf zwei Formen und drei Grundfarben, wobei die Anzahl der Formen zunächst von Seite zu Seite anwächst, um von der Buchmitte an in gegenläufiger Entwicklung abzunehmen. Im Bilderbuch sind die Darstellungen auf quadratische Formen reduziert, die teils auf die Seiten gedruckt, teils ausgestanzt sind. Da im Gegensatz zu Kinderbuch die Seiten aus

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transparenten Farbfolien bestehen, überlagern sich die Formen hier sichtbar über viele Seiten hinweg (vgl. Conzen 2000, S. 52). Darüber ist die Linearität eines sukzessiven und seitenweisen Erfassens zugunsten einer simultanen Ansicht von mehreren gleichzeitig sichtbar werdenden Seiten aufgehoben, somit ist auch eine Erweiterung der räumlichen Erfahrung gegeben, wie sie programmatisch für Roths Bücher ist. Legen Roths Bücher über ihren Titel noch einen Bezug zu Kinderkünstlerbüchern nahe, entfällt ein solcher bei denjenigen von Rupprecht Geiger oder Gotthard Graubner, auch wenn beide von primären Gestaltungsfaktoren ausgehen. So ist Farbe in Kombination mit Form leitendes Prinzip in Rupprecht Geigers All die roten Farben, was da rot ist, ein sehr rotes Buch betitelten Arbeit (Geiger 1981). Das aus roten Papieren und Folien gefertigte Buch enthält zwölf Kapitel, die jeweils ein eigenes Farb-Formspiel enthalten, das wiederum durch Formen erzielt wird, die aus den Seiten geschnitten sind und darüber den Blick auf die nachfolgenden Seiten freigeben. Graubners Sickerbuch hingegen ist nicht mehr von einer festgelegten Form bestimmt, zielt stattdessen ganz auf Farbwirkung.76 Bei dem aus saugfähigem Zellulosestoff gefertigten Buch wurden die Seiten des gesamten Buchblocks in jeweils gegenläufiger Richtung von roter und grüner Farbe durchtränkt. Da dabei die Pigmente der durchsickernden Farben von den Seiten aufgefangen wurden, verringert sich die Farbintensität zur Buchmitte hin, so dass auch die Durchmischung der beiden Farben sich von der Buchmitte an abschwächt. Farbe und Form dominieren ebenfalls die explizit als „nicht lesbar“ bezeichneten Libri illeggibili, die Bruno Munari Ende der 1940er Jahre als Kinderbücher zu entwickeln begann, deren Konzept aber denen von Künstlerbüchern Roths nahesteht. Farbund Formzusammenstellungen ergeben sich in Munaris Büchern aus der Kombination von im Format unterschiedlichen Seiten und teilweise auch durch Ausstanzungen. Durch die Verwendung einer Varietät von Papieren kommen zudem haptische Qualitäten zum Tragen. Um diese auszuweiten, sind bei einigen der Libri illeggibili Gummifäden zwischen die Seiten gespannt, die dem Blättern in unterschiedlicher Weise Widerstand entgegensetzen. Diese Konstruktion erinnert an Konzeptionen, wie sie Keith Smith in seinem String Book vorführt, in dem er in vergleichbarer Weise die Seiten mit Gummifäden verbunden hat.77 Von Munaris Libri illeggibili ebenso wie von Dieter Roths Bilderbuch inspiriert ist Miloš Cvachs an Kinder gerichtete Buch Dans tous les sens (Cvach 2007). Seine Seiten bestehen aus dicker Pappe, denen farbige Formen aufgedruckt sind und darüber hinaus durch Ausstanzungen weitere Formen hervorbringen.  

76 Graubner, Gotthard: Sickerbuch. Hommage à Ungaretti. Düsseldorf-Oberkassel: G. Graubner 1964, Zellulosestoffe, 68 Seiten, 32 x 28 cm, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. Malerbücher 22.2° 12. 77 Smith, Keith: String Book (Book 91). Rochester, NY: Space Heater Multiple 1982, 30 Seiten, ca. 27 x 20 cm, Auflage: 50 Exemplare.  







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C 6.4 Falten und Pop-up-Konstruktionen Als Pop-up zu bezeichnende Elemente hielten im 19. Jahrhundert Eingang in das Künstlerbuch, finden sich aber schon in den Jahrhunderten zuvor vereinzelt in Wissenschaftswerken (zum Pop-up vgl. Teil D „Pop-up-Bücher und Literatur“). Für die Künstlerbuchproduktion sind sie mit den Arbeiten von Augusto de Campos und Julio Plaza zu belegen.78 Ein prominentes Beispiel für das Vorkommen von Pop-ups im Künstlerbuch der Pop Art ist Andy Warhol’s Index Book (Warhol 1967). Eine der sich auffaltenden Darstellungen gibt die Mitarbeit aus Warhols als Factory bezeichneten Werkstatt auf einer Ritterburg wieder, eine andere die für Warhols Kunst zum Emblem gewordene Campbell’s Suppendose. Das zunächst von Warhol in Eigenregie publizierte Buch bezeichnete der Künstler selbst als „a children’s book for hipsters“ (History of Andy Warhol’s Index Book online). Dem Pop-up entsprechende Formen erzielt Katsumi Komagata in seinen Büchern über eine von der Falttechnik des Origami beeinflussten Konzeption. Die sich aus der Fläche hervorhebenden gefalteten Formen sind nicht nur visuell, sondern auch haptisch erfahrbar. Darüber versucht der Künstler, gezielt sehbehinderte Kinder zu adressieren (Komagata 2003). Die Inhalte seiner Bücher sind tastend nachzuvollziehen, die Farben nehmen eine sekundäre Stelle ein. In Little Tree sollen über den Nachvollzug der sich im Laufe eines Jahres wandelnden Konturen eines Baumes das Wachstum und im Weiteren die Jahreszyklen erschlossen, in I’m gonna be born! eine Vorstellung vom Geburtsvorgang vermittelt werden. In Foldes and planes lassen sich die in die Fläche eingefalteten Figuren schrittweise verändern, so dass dem Rezipienten eine Gestalt entgegenwächst, die er selbst mitbestimmt (Komagata 2008; Komagata 2005; Komagata 2004).  

C 6.5 Rezeption einer dem Kinderbuch entlehnten Ästhetik Die Ästhetik des Kinderbuches als Referenz, die einen Gestaltungsrahmen liefert, um ihn gleichzeitig zu unterwandern, wird zur Strategie in den Büchern von Ida Applebroog und David Shrigley. Shrigleys Buch Yellow bird with worm ist mit seinen Seiten aus dicker Pappe, den folienkaschierten Abbildungen und den in kindlicher Manier ausgeführten Motiven an Büchern orientiert, die sich an Kleinkinder richten (Shrigley 2003). Es enthält Tiergeschichten, die hauptsächlich über das Bild und mit nur wenigen Zeilen Text erzählt werden. Die Tiere sind in einer mehr an Plüschspielzeug als an realen Tieren orientierten Weise wiedergegeben. Konträr zu dieser Verniedlichung entfaltet sich die Lebensumwelt, die von Destruktion und Perversität dominiert wird. Die bisweilen ans Obszöne grenzenden und durchweg brutalen Bildaussagen stehen

78 Campos, Augusto de/Plaza, Julio: Poemobiles. São Paulo 1975, 13 aus Karton geschnittene Pop-ups, 20,8 x 15,9 cm, Auflage: 1000 Exemplare.  





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der Programmatik des Kinderbuches entgegen und umso deutlicher wird, dass das von Shrigley genutzte Gestaltungskonzept eine Kritik an der naiven Wiedergabe in Kinderbüchern ist. Die Bücher von Ida Applebroog stehen nur formal dem Kinderbuch nahe, indem sie das kleine Format broschierter Bilderbücher aufgreifen, die als preisgünstige Variante des Kinderbuches, u. a. unter der Bezeichnung Pixi-Buch Verbreitung gefunden haben. An der einfachen Herstellungsweise orientiert sich Applebroog mit Blick auf die Erfassung eines weiten Adressatenkreises ihres Künstlerbuches (Applebroog 1979). Formale Bezüge klingen weiterhin über die Zeichnungen an, doch steht der sich im Kinderbuch entwickelnden Bilderzählung in Applebroogs Büchern eine geradezu monotone Gleichförmigkeit der Motive entgegen, die erst in der letzten Darstellung aufgebrochen wird. Das von Applebroog zugrunde gelegte Konzept erschließt sich vor allem aus kontextuellen Bezügen: Über den Untertitel „A performance“ soll ausgedrückt werden, dass die im Buch wiedergegebene Bildfolge als Ausschnitt einer quasi filmischen Sequenz aufzufassen ist und so den vollständigen Handlungsverlauf auslagert. VHS  

Abb. C 29: Ida Applebroog: Look at me. A performance. O. O. 1979.  



C 7 Buch im Buch Das Buch im Buch: Es zählt zu den großen Motiven der Literatur, der Allgemeinliteratur gleichermaßen wie der Kinderliteratur. Doch stellt sich mit der ersten begrifflichen Benennung sogleich die Frage, ob das Buch im Buch nicht viel mehr als Metapher oder unter dem Aspekt der Metareflexion oder Selbstreferenz(ialität) zu fassen ist oder vornehmlich räumlich zu verorten wäre (vgl. Japp 1975; Wolpers 1986; Schmidt 1999; Nelles 2002; Böhme 2005).

C 7.1 Motiv, Metapher, Metatext, Topografie Ein Blick in die Literatur-Geschichte weist das Buch im Buch schon früh in derselben und in weltliterarisch-kanonischen Texten aus. Exemplarisch genannt sei nur eines der berühmtesten Bücher der Bücher: Miguel de Cervantes’ Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (1605/1615). Verschiedenste Spielarten des Buchs im Buch sind hier aufzufinden: das Lesen und der ‚Held als Leser‘, Fragen nach Fiktion und Realität, die Parodie auf Ritterromane oder die Metareflexion des Erzählens – um nur einige zentrale Aspekte zu nennen. Die Forschungsliteratur zum Buch-im-BuchMotiv ist entsprechend komplex und in genuin literaturwissenschaftlichen Arbeiten insbesondere in der Komparatistik bzw. den Kulturwissenschaften angesiedelt (vgl. als Grundlagenwerke Japp 1975; Wuthenow 1980; Stocker 1997; Nelles 2002; Wolf 2008; Lembke 2011; Herrmann/Moser 2015). Als Themengebiete lassen sich das Lesen und der lesende Held nennen (vgl. Wuthenow 1980; Dahms 2005); das Motiv des Buches ist ebenso eng mit dem der Bibliothek verzahnt; hierzu ist insbesondere in den letzten Jahren eine Vielzahl von Publikationen erschienen (vgl. Rieger 2002; Dickhaut 2005). Insbesondere im Kontext der Bibliotheksforschung werden Fragen nach Wissensordnungen aufgeworfen (vgl. Gemmel/Vogt 2013; Alker-Windbichler/Hölter 2015); als weitere zentrale Forschungsbereiche sind die Intertextualitäts- und Kanonforschung, ebenso die Untersuchungen zur Erinnerungskultur und Medientheorie zu nennen (vgl. Assmann 2009; Hölter 2008).  

Buch als Raum. In der aktuellen theoretischen Debatte der Literatur- und Kulturwissenschaften, insbesondere in den Cultural Studies, haben Räume der Literatur und literarische Räume große Bedeutung gewonnen (vgl. Weigel 2002). Unter Raumdarstellungen sind Schauplätze, Landschaften, Naturerscheinungen, aber auch Objekte und Gegenstände zu subsumieren. Auf den Schauplatz Buch bezogen, muss zwischen dem Medium Buch, dem Erzählraum und dem Verweischarakter dieses Raums unterschieden werden (vgl. Nünning 2001). ‚Topografie‘ der Literatur bedeutet das Beschreiben von Orten (seien sie real oder fiktiv), aber auch das Beschreiben in oder mit Orten. Orte sind sowohl Gegenstand als auch Medium topografischen Schreibens und https://doi.org/10.1515/9783110528299-018

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Beschreibens (vgl. Siegert 2005, S. 3). Das Buch nimmt in dieser Theoriebildung einen bedeutsamen Raum ein; die Bibliothek wird in diesem Kontext oft als „eine Inszenierung einer Inszenierung von Wissensbeständen“ (Rieger 2002, S. 19) verstanden, wobei die fiktionale Bibliothek hierbei „gerade die Problematik, ja die Krise jener Wissensordnungen und ihrer Entwicklungstendenzen aus dem Blickwinkel der Moderne und Postmoderne wider[spiegelt] – bis hin zur apokalyptischen, labyrinthischen Repräsentation, bis hin zur unzugänglichen, Staub, Moder und Mäusen überlassenen Anti-Bibliothek“ (ebd.). Dabei werden Fragestellungen zum Buch als Ort (vgl. Böhme 2005) oder zur „Buchseite als Ort des Textes“ (Eybl 2005, S. 225f.) bedeutsam. Literatur (geschichte) wird als Karte (mapping) gezeichnet (vgl. Steiger 2005); die Bedeutung der Register- und Ordnungssysteme von Bibliotheken, der Bibliografien als Verweissysteme auf Räume, in denen die Bücher aufgestellt sind, werden bei dieser theoretischen Betrachtung einbezogen, ebenso wie über eine „Poetik des narrativen Vergessens“ (Hölter 2008, S. 81) reflektiert. Verortung und Wissens-Ordnungen sind die großen Themen dieser Theoriebildung, in postkolonialer wie geopolitischer Perspektive (vgl. Werber 2007; Mehigan/Corkhill 2013). Zur Raumtheorie in der virtuellen Bibliothek des Internets gibt es einen gesonderten aufgefächerten Forschungszweig, der diese komplexe Gedankenwelt gebündelt darstellt (vgl. Günzel 2007). Als grundlegend für die Literatur- wie die Theoriegeschichte ist Jorge Luis Borges’ La Biblioteca de Babel (1941) zu nennen. Die berühmt gewordenen Eingangssätze der Erzählung lauten:  









El universo (que otros llaman la Biblioteca) se compone de un número indefinido, y tal vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio, cercados por barandas bajísimas. Desde cualquier hexágono se ven los pisos inferiores y superiores: interminablemente. (Borges online)

Der philosophische Entwurf des Autors, die Raum-Konzeption der Konstruktion, wird bereits in diesen ersten Sätzen deutlich. Borges versteht die Bibliothek als babylonische (Un)Ordnung. Die Welt ist Bibliothek und die Bibliothek ist Welt und Universum. Doch ist bei Borges alle Ordnung außer Kraft gesetzt. Borges’ Bibliothek bildet ein Labyrinth ab und avancierte in der postmodernen Theorie damit zum viel zitierten Topos. Das Buch im Buch als postmodernes Zitat. In den Texten, die dem poststrukturalistischen Erzählen bzw. der Postmoderne zuzurechnen sind, wird insbesondere seit der Jahrtausendwende erkennbar, dass das Motiv des Buchs im Buch eine neue Konjunktur erfährt, ja sogar von einem Boom der Buch-Thematik gesprochen werden kann. Abzulesen ist dieses Phänomen an zahlreichen internationalen Bestsellern, in denen Geschichten rund ums Buch eine zentrale Rolle im meist spannungsvoll inszenierten Geschehen einnehmen. Einige Beispiele seien genannt: Allen Kurzweils The Grand Complication (2003), Carlos Ruiz Zafóns La sombra del viento (2001), Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon (2004), Walter Moers’ Die Stadt der träumenden Bücher (2004), Haruki Murakamis Umibe no kafuka (2002, dt.: Kafka am Strand, 2004).

C 7 Buch im Buch

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C 7.2 Das Buch im Buch in Kinder- und Jugendliteratur Auch in der Kinder- und Jugendliteratur findet man das Motiv seit den Anfängen dieses Textkorpus. Die Spannbreite des Motivkomplexes entfaltet sich indes erst nach und nach. In den Anfängen dominiert pädagogisch ausgerichtete Exempelliteratur, die das Buch im Buch im Rahmen von Lesestrategien und erzieherischen Diskursen einbindet; das Motiv differenziert sich zunehmend aus und erlebt in romantischen Schreibweisen eine erste Blütezeit (vgl. exemplarisch für die Romantikforschung Kremer 2007; für die Kinder- und Jugendliteratur Siebeck 2009 und Lötscher 2014). Detlef Kremer konstatiert: „Kaum eine romantische Erzählung verzichtet darauf, Schrift oder Schreiben, das Requisit des Buches oder zumindest den Akt der Imagination zum Thema zu machen“ (Kremer 1993, S. 56). Dieser Befund ist sowohl für allgemein- als auch für kinder- und jugendliterarische Erzählungen dieser Epoche zutreffend. Die Kinderund Jugendliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts schließlich bezieht maßgeblich Impulse aus diesen Erzähltraditionen und bleibt deren poetologischen Implikationen verpflichtet bzw. schreibt diese fort. Exemplarisch lässt sich Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) hierfür anführen. In dem märchenhaft-phantastischen Romangeschehen steht ein ‚absolutes Buch‘ im Mittelpunkt. Die Lektüre des Protagonisten bedeutet eine Verdoppelung der Lektüre, das Buch wird „auf komplexe Weise zum Spiegel nicht der Welt, sondern des Lesens selbst“ (Japp 1975, S. 658). In dem auch buchgestalterisch opulent ausgestatteten Buch überführt der Autor Ende der 1970er Jahre Fragen der Imagination und Identitätsbildung aus der romantischen Erzähltradition in die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts und stellt programmatisch die Welt der Phantasie- und der hier inszenierten Buchwelt einer problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur und ihrem aufklärerischen Impetus, wie er in der Entstehungszeit des Romans vorherrschte, entgegen. Während im deutschsprachigen Bereich der Kinder- und Jugendliteratur phantastische Erzählungen erst nach und nach Akzeptanz erfuhren (Vorbehalte gab es weniger von Seiten der jugendlichen Lesenden, denn von Seiten der Vermittler; vgl. zur Eskapismusdebatte Nickel-Bacon 2008, S. 394f.; Roeder 2006, S. 217f.), findet man im angelsächsischen Bereich der Kinder- und Jugendliteratur eine Traditionslinie phantastischen Erzählens. Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) ist ein Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur dieser Erzähltradition; dem Motiv des Buches im Buchs kommt in dem Text eine zentrale Bedeutung als Schwelle in das Traum-Wunderland zu. Die phantastische Welt des Wunderlandes wiederum spiegelt Kindheitswahrnehmung und kann als Metareflexion des lesend-träumenden Kindes gedeutet werden. Dieser frühe „Roman der Kindheit“ (Richter 1996) in phantastischer Gestaltung antizipiert in gewisser Weise, was im Zuge des so genannten Fantasy-Booms des späten 20. Jahrhunderts zu einer Vielzahl an Texten führt, in denen das Buch-im-Buch-Motiv eine zentrale Funktion erhalten wird (vgl. Siebeck 2009; Bayer-Schur 2011, auch online; Mohr 2012; Lötscher 2014). Insbesondere phantastische Buchtitel erweisen sich seit der Jahrtausendwende auf dem Buchmarkt als Megaseller (vgl. Lötscher 2014,  













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S. 12), meist mit einem komplexen Medienverbund. Exemplarisch genannt seien die Titel der deutschsprachigen Autorin Cornelia Funke und ihre Tintenwelt-Trilogie (Tintenherz 2003, Tintenblut 2005 und Tintentod 2007); ebenso international erfolgreich verkaufen sich Wolfgang und Heike Hohlbeins Das Buch (2003) oder Kai Meyers Trilogie Die Seiten der Welt (2014–2016).  

Metareferentialität und Metafiktion. Während in den deutschsprachigen Romanen die Buch-Motivik eng verzahnt mit Aspekten pädagogischer Belehrung oder mit medienkritischem Impetus begleitet erscheint (vgl. Roeder 2005), entfaltet sich insbesondere im Bereich der kinder- und jugendliterarischen Bild-Medien (d. h. v. a. im Bilderbuch, aber im 21. Jahrhundert ebenso im Comic und der Graphic Novel) zunehmend die ganze Motivbreite. Vor allem an den Bildmedien kann man zunehmend das Spiel mit Metareferentialität und Metafiktion nicht nur im Künstlerbuch, sondern ebenso in populäreren Lesestoffen nachweisen (in der Regel weisen diese eine erkennbare Mehrfachadressierung auf; vgl. zu „Mehrdeutigkeit und Mehrfachadressierung“ in KinderBildmedien Oetken 2014, S. 360f.; Beckett 2006). Der kinder- und jugendliterarische Boom der Bücher über Bücher lässt sich auch an der Forschungsliteratur ablesen; zahlreiche Publikationen nehmen das Motiv seit der Jahrtausendwende in den Blick (vgl. Wolf 2004; Siebeck 2009; Heber 2010; Klimek 2010; Lötscher 2014; Kato 2015). Deutlich wird an der Titelauswahl der Forschungsliteratur ein weiteres markantes Merkmal aktueller Kinder- und Jugendliteratur: das der All-Age-Literatur. Spätestens seit Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Bänden, die die internationalen Bestsellerlisten dauerhaft besetzen, spricht man vom Fantasy-Boom, mit dem die Titelflut der BücherBücher einhergeht. Das zunehmende Interesse an dem Buch-Thema lässt sich anhand der Ausdifferenzierung der Theorie zur Erinnerungskultur, der memoria, und der des kulturellen Gedächtnisses nachvollziehen (vgl. Assmann 2009). Einhergehend mit diesen Forschungsansätzen intensiviert sich die Beschäftigung mit Begrifflichkeiten und Konstrukten wie Archiven und (virtuellen) Speichern in den Buch- und Kulturwissenschaften; auch die Cultural Studies widmen sich mit besonderer Aufmerksamkeit diesem ‚Ort‘ und markieren ihn als Wissensraum oder vermessen seine literarische Topografie. Bedeutsam erscheint das Thema Buch und Bibliothek auch im Zusammenhang mit neuen Kanondebatten, der Bewertung medialen Wandels und den sich verändernden Bildungsparadigmen – um nur einige Bereiche zu nennen.  









C 7.3 Kleine Systematik des Motivs Buch im Buch in der Kinder- und Jugendliteratur In der Kinder- und Jugendliteratur findet man bereits in den Anfängen des Textkorpus, d. h. in der Zeit der Spätaufklärung, das Buch-im-Buch-Motiv, hier in erster Linie pädagogisch funktionalisiert und im Kontext des Buchs als Lektürestoff.  

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Konzepte (a): Buch als Lektürestoff. „Kindheit heißt Lernen, und im Zeitalter der Pädagogik bedeutet dies, dass auch die sich gerade erst etablierende Kinderliteratur der großen Erziehungsidee anschließt.“ (Wangerin 2011, S. 55.) Exemplarisch genannt sei Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779); der Text wird als ein Lesebuch ausgewiesen, der Untertitel benennt als die Funktion: zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Im Mittelpunkt von Campes Text steht Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719). Der klassische Lesestoff wird hierin nicht allein als Lektüre aufbereitet und in pädagogischen Gesprächen vermittelt, vielmehr wird das kinderliterarische philantropische (Erziehungs-)Konzept des prodesse und delectare anschaulich: Das Unterhaltsame (des abenteuerlichen Lesestoffs), soll mit dem Nützlichen (des Belehrens und Lernens) verknüpft werden. Dem Buch (im Buch) kommt somit die zentrale Rolle eines Erziehers zu. Auch der (väterliche) Vorleser und Erzähler im familiären Kreis nimmt die wesentliche Bedeutung als „Wissensvermittler, moralischer Mahner und pädagogischer Lenker“ (ebd., S. 56) ein. Das Buch als Exempel-Literatur erscheint als ein Vehikel und nimmt einen bedeutsamen Platz im bürgerlichen Tugendkatalog ein, der „vernünftiges Handeln, Fleiß, Tüchtigkeit, Rechtschaffenheit, Wohltätigkeit, Zufriedenheit, Toleranz, auch Triebunterdrückung und vor allem Gehorsam“ (ebd.) fordert. Als ein Beispiel der Kinder- und Jugendliteratur der Moderne lässt sich hingegen Ernst Penzoldts Die Reise ins Bücherland. Ein Büchermärchen (1942) verstehen. Auch an diesem Bilderbuch werden pädagogische Implikationen (hier reformpädagogisch geprägt) ablesbar, v. a. aber eröffnet sich an dem Text, wie sich in der Kinder- und Jugendliteratur das Motiv des Buches im Buch ausdifferenziert hat und Anschluss findet an die allgemeinliterarische Verwendung.  





Konzepte (b): Reise ins Bücherland. Ernst Penzoldt hat sich v. a. als Verfasser des antibürgerlichen Schelmenromans Die Powenzbande (1930) einen Namen gemacht; weniger bekannt ist, dass der Autor mit einer Ausbildung zum Bildhauer seine künstlerische Laufbahn begann. In diesem Zusammenhang erscheint auch sein Bilderbuch Die Reise ins Bücherland interessant (vgl. Penzoldt 1942). Penzoldt hatte es 1925 für seinen zweijährigen Sohn Günther als Weihnachtsgeschenk angefertigt; das vorerst nur für den privaten Gebrauch erarbeitete Büchlein umfasste neben dem kürzeren Text 18 bunte Tafeln. Der Rezeptionsgeschichte von Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845) vergleichbar (auf den Titel verweist im Übrigen auch der Autor in einer Selbstaussage) (vgl. Penzoldt 1988, S. 107), fand das Bilderbuch im künstlerischen Freundeskreis Beachtung und so kam es zu einer Publikation im Heimeran Verlag, wofür eine Auswahl von zwölf Bildern von Albert Fallscheer als Holzschnitte übertragen wurde. Das als „Büchermärchen“ titulierte Bilderbuch beginnt mit der Eingangsfloskel „Es war einmal“ und führt in einer Traumreise den kleinen Protagonisten namens Büx durch eine imaginär gestaltete Welt, in der nahezu alle Gegenstände aus Büchern gefertigt sind und Buchstaben wie Druckfehlerteufel als Handelnde auftreten. Der Ausgangspunkt der Geschichte ist dabei ein Gespräch zwischen Vater und Sohn, das sich entspinnt, als der kleine Büx seinen Vater lesen sieht. Unwissend, um  



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was für einen Gebrauchsgegenstand es sich hier handelt, fragt Büx: „‚Was ist ein Buch?‘ […] Da mußte der Vater lachen. ‚Ja, Büxlein‘, sagte er, ‚was ist ein Buch!‘“ (Penzoldt 1942, S. 12). Mit einer klassischen Kinderfrage, die nicht nur kindliche Unwissenheit, sondern auch unverbildete Neugier bedeutet, wird das Feld bereitet für ein philosophisches Spiel mit Alltäglichem. Die Antwort des Vaters und sein Versprechen, dass, wenn Büx später selbst lesen könne, auch er diese Welt der Bücher betreten dürfe, wirken in den Gedanken des kleinen Jungen fort und bestimmen seinen nächtlichen Traum. Als Erzählrahmen dient also eine (scheinbar erste) Begegnung mit dem Medium Buch, das allerdings von dem Protagonisten noch nicht erschlossen werden kann. Die Traumhandlung, die fortan die märchenhafte diegetische Bilderbuchwelt bestimmt, erweist sich so als Bemächtigungsphantasie und führt gewissermaßen vorzeitig und unerlaubt in das Land der Bücher. Im Erzählduktus erkennbar an Theodor Storms Der kleine Häwelmann (1849) angelehnt,79 führt die Reise in mehreren (Traum-)Stationen durch eine Bücherwelt und -landschaft auf eine Waldwiese und in einen dunklen Bücherwald, bis in „die Hauptstadt der Poesie“. Dort sind „Mauern und Tore, Häuser und Kirchen, alles war aus Büchern gebaut“ (ebd., S. 14). Einem Traumgeschehen gleich, gerät Büx in eine Welt, die unzählige Buchbezüge im paradox gestalteten Übermaß aufweist. Stürzte Carrolls Protagonistin Alice in ihrem Traumabenteuer an Bücherwänden vorbei ins Wunderland (vgl. Lenk 1983, S. 265), so erweist sich bei Penzoldt das Wunderland selbst als eine Bücherwelt. Anfänglich betrachtet der Protagonist noch staunend das Buch-Universum, das vor ihm aufgeblättert liegt. Die beigefügten Illustrationen sind nahezu quadratisch, was dem Quartformat der Erstausgabe geschuldet sein dürfte. Die Zeichnungen der Figuren und Landschaften weisen eine klare Linienführung auf, welche durch die Buchkonturen unterstrichen wird. Der Zeichenstil und die Figurengestaltung lassen erkennbare Bezüge zur neusachlichen Kinderbuchillustrationskunst der 1920er Jahre erkennen. Die Holzschnitttechnik unterstreicht zudem die klar konturierte Linienführung und Gestaltung. Die Farbgebung ist ebenso einfach wie kontrastreich eingesetzt. Die Figur des Büx nimmt eine zentrale Rolle in der Bildgestaltung ein und kontrastiert mit der vornehmlich gegenständlich bestückten Buch-Landschaft. Steht Büx dieser zunächst als Betrachter gegenüber (auf einem Buchrücken sitzend wie auf einem Ausguck blickt er auf das Buch-Stadt-Panorama, das sich in der Ferne abzeichnet, vgl. Penzoldt 1942, S. 19), so begibt er sich mehr und mehr in diese hinein, bis er sich hier in ihr sogar zum Schlafen niederlegt und damit das Spiel im Spiel einen weiteren erzählartistischen Salto schlägt: Eine Klopstock-Ausgabe dient dem Schlafenden als Decke und der West-Östliche Divan als Lagerstatt (vgl. ebd., S. 23). Doch ebenso wie in Carrolls phantastisch ausgestaltetem Traum-Raum schlägt das Wunderbare alsbald in das Bizarre und  









79 1925 wurde das Märchen neu aufgelegt (Illustrationen von Else Wenz-Viëtor im Stalling Verlag Oldenburg) und erfuhr hier erstmals größere Aufmerksamkeit. Gut vorstellbar erscheint, dass auch Penzoldt in diesem Jahr auf den Text (erneut) aufmerksam wurde.

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Schauerliche um. Ein Bücherwurm tritt auf und bedroht den Protagonisten, der mit hochgehobenen Händen schaudernd entweicht. Nicht nur hier werden ikonografische Parallelen zu Hoffmanns Struwwelpeter erkennbar (so erinnert die Figurenzeichnung des Büx an Paulinchen, an späterer Stelle, als der kleine Junge weinend auf einer Zeitungsseite steht, bildet sich wie in derselben Episode bei den jammernden Katzen ein regelrechter Tränensee um seine Füße (vgl. ebd., S. 31). Doch Penzoldt ist wie Hoffmann nicht an einer moralischen Geschichte gelegen. Zwar endet die eskapistisch unternommene Fahrt in einer fast dystopisch anmutenden Ansicht: Eine Buchruine erhebt sich wie ein drohendes Massiv in die Landschaft (vgl. Abb. ebd., S. 35), und die Reise, die mit einem lustvoll unternommenen Flug begann, endet mit einer beschwerlichen Wanderung zu Fuß. Aber schließlich kommt Büx unbeschadet zurück ins elterliche Heim. In der nun wieder aufgenommenen Rahmenhandlung erwartet Büx ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum und ein Buch, das eben diese Geschichte von Büx und seiner Reise beinhaltet. Der letzte Satz lautet: „Und damit fängt die Geschichte wieder von vorne an“ (ebd., S. 36).  





Abb. C 30: Ernst Penzoldt: Die Reise ins Bücherland. Ein Büchermärchen (1942). Frankfurt a. M. 1988, S. 29.  





Traumerzählungen und -abenteuer. Das Motiv des Buchs im Buch wird sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene durchdekliniert. Als märchenhafte Traumerzählung lassen sich die Bücher-Bilder als Spiegelungen der seelischen Vorgänge von Kindern begreifen. Der Wunsch-Traum, an der väterlichen Welt der Bücher teilzuhaben, führt zu einem eskapistischen Traumabenteuer. Lustvoll entfaltet wird das Bücherreich, das der Junge heimlich und im Fluge betritt. Doch die Welt des Buches erweist sich auch als gefährliche Fremde, die sich gegen ihn richtet. Das spielerische Ende, das wie im Kinderreim als endlose Wiederholung angelegt ist, hebt scheinbar das Geschehene auf. Es enthält aber auch einen (lese)pädagogischen Impetus, denn das

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Buch unter dem Baum verweist ebenso auf das Lesenkönnen, das der kleine Büx erlernen muss. Erzählerisch wird das Geschehen in eine märchenhafte phantastische Traumerzählung eingewoben. Als Fiktionalisierungsstrategie erscheint das Buch-im-Buch-Motiv: Das Verschachteln von Büchern in Büchern, die hermetische Geste par excellence, dient hier deutlich der angestrengten Verknüpfung der phantastischen Bereiche der Literatur mit der erfahrbaren Wirklichkeit. Worum es geht, ist die Erhöhung einer Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen mit literarischen Mitteln. Ein solches Mittel, freilich ein suggestives, ist die Rahmenhandlung (Japp 1975, S. 655).  

Bezieht sich Uwe Japp hier auch auf romantische Erzähltraditionen, so kann die Erzählkonstruktion zweifelsohne auf Penzoldts Märchen übertragen werden. Als mise en abyme bedeutet das Buch-Märchen zudem ein selbstreferentielles Spiel mit dem Medium Buch (vgl. Wolf 2008, S. 503), und schließlich verorten die intertextuellen Bezüge (zum Struwwelpeter und zum Häwelmann) das Bilderbuch im kinderliterarischen Textkorpus, das zwischen moralischer Erzählung und eskapistischer Phantasiegeschichte anzusiedeln ist.  

Konzepte (c): Lektüreverbote vs. Plädoyer für kindliche Phantasie und Imagination. Das Buch als Verkörperung der Wissensordnung(en) ist fester Bestandteil der Kinder- und Jugendliteratur. Die Diskussionen über die ‚Lesesucht‘ des 18. Jahrhunderts indizieren Lektürestoffe und vermessen diese hinsichtlich ihrer (pädagogischen) Wertigkeit (vgl. Bayer-Schur 2011, S. 26f.). Neben Buchempfehlungen findet man deshalb ebenso das Lektüreverbot als ein zentrales Motiv in der Kinder- und Jugendliteratur. Auch in Umberto Ecos Il nome della rosa (1980) nimmt das Verbot eines Werkes, des vermutlich einzig existierenden (fiktiven) Exemplars des Zweiten Buches der Poetik des Aristoteles eine zentrale (auch räumlich labyrinthisch verortete) Stellung ein. Das Buch als Waffe verweist auf eine reiche Metapherngeschichte, die Schmidt in seinen Untersuchungen aufgezeigt hat. So weist er die Metapher der Bibliothek als Waffenkammer oder Apotheke nach (vgl. Schmidt 1999). Vergleichbares lässt sich für Paul Maars Kinderroman Lippels Traum (1984) diagnostizieren, in dem das Buch-im-BuchMotiv auf verschiedensten Ebenen durchgespielt wird. So hat der 10-jährige Protagonist Philipp Mattenheim einen hartnäckigen Kampf auszustehen, um das Buch, das er von seinen Eltern geschenkt bekommen hat, weiterlesen zu dürfen. Als regelrechte Lektüreverhindererin steht Frau Jakob, die den Jungen in der Abwesenheit der Eltern betreuen soll und in einem kulminierenden Prozess des Überwachens und Strafens dem Jungen das Lesen untersagt. Die Lektüre ist als Buch-im-Buch-Motiv markiert, wenn Lippel mehr und mehr seine eigene Welt darin zu erkennen glaubt.  



Die klassische Erscheinungsform des Buchs im Buch sieht […] so aus, daß ein Mensch, wie uns erzählt wird, ein Buch in die Hand bekommt und darin erstaunt und betroffen eben die Geschich-

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te liest, die erzählt werden sollte. Sie erscheint nun als das zuvor schon Geschriebene, das gerade jetzt gelesen wird. Der Leser außerhalb des Buches liest also nur mit. Der Held erfährt, was ihm geschieht, selbst schon als Leser. Das Geschriebene kehrt in sich selbst zurück. (Wuthenow 1980, S. 174)  

Maar verknüpft die Schwelle (die das Buch im Buch bedeutet) in seinem phantastischpsychologischen Kinderroman mit der Traum- und Imaginationsfähigkeit seines Protagonisten. Das pädagogisch restriktive Verhalten der sichtlich in ihrer Rolle überforderten Erwachsenenfigur steht Lippels Phantasie und Buchleidenschaft gegenüber. Nach Stefanie Kreuzers Traumsystematik (vgl. Kreuzer 2014) ließe sich der Roman als „Textwelten zwischen Träumen und Wachen“ bezeichnen, als „Traumwelten mit unsicheren Grenzen“ (ebd., S. 373). Lektüre und Traumgeschehen fließen in dem Roman ineinander, wobei der Lesende unschlüssig (im Sinne von Tzvetan Todorovs Introduction à la littérature fantastique, 1970) bleibt, wie er das Geschehen zu werten habe.  

Konzepte (d): Buch-Lektüre als Außenseitermarkierung. Eine besondere Rolle haben Protagonistinnen und Protagonisten in der Kinder- und Jugendliteratur, die als Viellesende gekennzeichnet sind. Ihre Leselust erweist sich als zentrales Merkmal der Figurencharakteristik für Außenseiterfiguren, die entweder sozial als deviant gezeichnet werden können oder die, als Figuren individuell ausgestaltet, insbesondere als ‚Träumer‘ markiert werden. An deren Vielleselisten wird oftmals offenbar, was zur kanonischen Lektüre zu zählen ist oder dieser entgegensteht; zum anderen bedeuten diese Figuren ein gespiegeltes Motiv der pädagogischen Kinder- und Jugendliteratur: Hier stehen die Protagonistinnen und Protagonisten als kindliche Viellesende im Kontrast zu ihrer oftmals lesefeindlichen, aber dafür medienaffinen Umgebung. Oftmals besitzen diese Figuren phantastische Fähigkeiten wie Roald Dahls Matilda (1988). Die Bücher erscheinen zwar nicht als ‚Zauberbuch‘, aber sie scheinen den Protagonisten Zugang zu magischen Fähigkeiten zu verleihen. Bücher als Wissensordnung und intertextuelles Archiv. Cornelia Funkes Trilogie der Tintenwelt, betitelt Tintenherz (2003), Tintenblut (2005) und Tintentod (2007), avancierte zum internationalen Megaseller und etablierte einen umfassenden Medienverbund. Wie der Titel bereits verspricht, führt die Reihe mitten hinein in die Tintenwelt, d. h. in die magische Welt von Schrift und Schreiben, Büchern und Buchkunst, Erzählen und Fiktion. Kennzeichnend für Funkes Erfolgsromane ist die Überausstattung mit Buch-Bezügen aller Art. An erster Stelle steht das (titelgebende) Buch der Bücher, das wie der Romantitel selbst Tintenherz betitelt ist und um das sich die ganze Geschichte dreht. Es fungiert als Buch im Buch und dient als Schwelle, um in den innerfiktionalen Welten zwischen primärer und offener sekundärer Welt zu pendeln (vgl. Nikolajeva 1988). Das Buch spielt eine aktive Rolle:  

Bücher können in der fantastischen Literatur zu einem zentralen Protagonisten avancieren. Einzelne als ‚besonders‘ markierte Bücher haben darin das Potential, die intradiegetische Wirklich-

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keit und die Protagonisten unmittelbar zu beeinflussen oder sogar als literarisches Portal zu fungieren, das dann zum zentralen Scharnier wird zwischen einem intradiegetisch dargestellten regulären Realitätssystem und einer hypodiegetischen fantastischen Welt, dem alternativen wunderbaren Realitätssystem. (Conrad 2013, S. 270)  

Kindheit als (bürgerliche) Lesewelt. Diese Konstruktion des Mediums Buch als Transit-Medium bedeutet ein ausdifferenziertes phantastisches Erzählkonzept ebenso wie ein postmodernes Spiel mit dem Medium Buch. Daneben entwirft Funke ein vielfältig ausstaffiertes Buch-Personal: Mo, der Vater der kindlichen Protagonistin Meggie ist nicht nur ein Buchliebhaber, sondern auch Buchrestaurator von Beruf und von Buchherstellungsrequisiten umgeben; zugleich verfügt er über die Gabe, ein begnadeter Vorleser zu sein. Meggies Tante Elinor besitzt eine überaus wertvolle Sammlung bibliophiler Schätze, die sie streng behütet, und auch Meggie selbst hat bereits eine kleine Bibliothek angelegt. D. h. Bücher und Bibliotheken, Buchrequisiten und Schreibutensilien rahmen und durchziehen die Geschichte und gestalten maßgeblich alle Orte und Schauplätze zu bibliophil ausgestatteten Buch-Räumen. So wird, entgegen anderen Buch-Büchern bei Funke, die Materialität der Buchkörper wesentlich in die Diegese einbezogen. Zu dem Buchpersonal zu rechnen sind auch der (fiktionale) Autor des (fiktionalen) Buches Tintenherz, der ebenfalls im Buch auftritt, sowie die literarischen Figuren, die aus diversen (klassischen) Lektüren herausgelesen werden und wiederum als Handelnde im Text auftreten. Räume und Figuren bilden auf diese Weise ein Referenzsystem zum Erzählen, zur Buchkunst und zur Metareflexion über das Buch und die Literatur. Die paratextuelle Ebene komplettiert diese universell angelegte Bücherwelt: Die titelgebende Tinte verweist auf die stoffliche Ebene wie die von Funke gestalteten Cover. Den ersten Band schmückt ein Cover, das im burgunderfarbenen (Herzblut-)Rot gehalten ist; ein Buchstabenmosaik mit reich verzierten Initialen wird wie ein Flickenteppich ausgebreitet und ist um ein aufgeschlagenes Buch drapiert.  

Abb. C 31: Cornelia Funke: Tintenherz. Hamburg 2003. Cover.  

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Die Innenillustrationen sind mit Tusche gezeichnete Vignetten, die zum einen eine Auswahl an Buch-Requisiten (vom Lesegestell bis zum Lesebändchen) darstellen, zum anderen mit kleinen Einblicken in das Handlungsgeschehen markante Orte oder Figuren verbildlichen und illustrativ in den Textkörper eingestreut sind (vgl. Abb. C 32). Der sinnliche Buch-Gesamteindruck wird schließlich durch literarische Zitate abgerundet. Jedem Kapitel vorangestellt, einem Motto gleich, leiten sie in das kommende Geschehen ein.

Abb. C 32: Cornelia Funke: Tintenherz. Hamburg 2003.  

Die hierfür ausgewählten 44 Texte bedeuten eine kanonische Auswahl an kinderliterarischen Titeln (von Carroll bis Sendak, von Lindgren bis Tolkien; der bibliografische Nachweis am Ende der Bände liest sich wie eine Empfehlungsliste ausgewählter Titel). Doch nicht immer stellt sich ein Zusammenhang zwischen Zitat und Geschehen her (so z. B. bei dem Zitat aus Paul Celans Sprachgitter von 1959, das als Motto dem Kinderroman vorangestellt steht; Funke 2003, S. 7); so gerät das Verfahren in die Gefahr, mehr Ornamentik als Intertext zu bedeuten. Auch intertextuelle Motive wie der Brand oder die Vernichtung einer Bibliothek (hier die von Tante Elinor) gemahnen an Ecos Il nome della rosa ebenso wie an Bradburys Fahrenheit 451, wenn nicht gar an die Bücherverbrennungen in der NS-Zeit. Jedoch bleiben diese Bezüge ohne jede weitere Kontextualisierung als bloßes Spannungsmoment bestehen.  



Das Buch als materielles Medium. In phantastischen Texten wie auch in der Fantasy-Literatur verweisen Buch und Bibliothek oftmals auf (schwarze) Magie. Die Autorinnen und Autoren aktueller phantastischer Kinder- und Jugendliteratur spielen dabei mit historischen Verweisen auf die ‚schwarzen Künste‘ des Buchdrucks, verwenden magische Requisiten oder konstruieren selbst erdachte Buchmysterien, die oftmals nur Kulisse sind für die abenteuerlichen Handlungen. Ein kleines Bibliotheksbrevier weist auf den Stellenwert, den Joanne K. Rowling der Bibliothek zumisst. Unter dem Titel Quidditch through the Ages (2001), den sie unter dem Pseudonym Kennilworthy Whisp ins große Harry-Potter-Geschäft eingebracht hat, wird ein humorvolles Spiel

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mit der Hogwartsschen Bibliothek verfolgt. Das Bändchen ist mit liebevoll ausgesuchten Bibliotheksinsignien ausgestattet, wie etwa einer Entleihkarte der Schulbibliothek von Hogwarts und einer eindrücklichen Warnung von Irma Prince, der Bibliothekarin, gegenüber allen, die das Buch zerreißen, zerfetzen, zerschnipseln oder anderweitig zerstören wollten. Die Materialität des Buches steht ebenfalls im Mittelpunkt des illustrierten Kinderbuches Der kleine Herr Paul (2004) von Martin Baltscheit, in dem das elterliche Haus einen einzigen Buchkörper darzustellen scheint, der alle Sinne umfasst. Als der kleine Herr Paul noch ein kleiner Kleiner Herr Paul war, lebte er in einer Welt voller Bücher. Das Haus seiner Eltern war von oben bis unten voll damit. […] Es gab Bücherhocker, einen Buchsessel und aus Opas riesigem Atlas hatten sie sich einen Tisch gebaut. Je nachdem, welche Seite aufgeschlagen war, konnte die Familie in Amerika frühstücken, in Afrika Abendbrotessen und auf dem Mond Kaffee trinken. Sie lasen am Tag, schliefen mit dem Buch auf dem Bauch ein und noch bevor sie sich „Guten Morgen“ sagten, hatten sie schon wieder ein Buch gelesen (Baltscheit/K. 2004, S. 6).  

Baltscheits skurrile Geschichte für kleine Leser arbeitet mit erkennbar komischer Überzeichnung; zugleich bedeutet er eine text-bildliche Phantasmagorie, bei der Buch und Leib, Buch und familiäre Gemeinschaft zusammengehörig erscheinen und zu einem einzigen Buchkörper verschmelzen. Franziska Biermanns illustrierte Geschichte Herr Fuchs mag Bücher (2001) inszeniert eine Quadrophonie der Sammelleidenschaft und des Bücherhungers. Das comichaft gestaltete Kinderbuch reicht bis ins Olfaktorische, da der bücherhungrige Herr Fuchs seine Duftmarken in der Bücherei hinterlässt. Als mise en abyme angelegt, verleibt sich Herr Fuchs am Ende der unterhaltsamen Buch-Verbrechensgeschichte sein umfängliches und von ihm selbst verfasstes Werk selbst ein. Dieser Akt des Verspeisens wird mit dem lakonischen Hinweis kommentiert: „Nur warum in jedem Fuchsroman stets ein Tütchen Salz und ein Päckchen Pfeffer steckten, blieb ein Geheimnis, das nie gelüftet wurde“ (Biermann 2001, unpag.).

C 7.4 Metadiskurse in Bilderbuchbüchern Im Genre der Bilderbücher findet man vielfältig ausgestaltete Buch-Geschichten. Richtete sich das traditionelle Bilderbuch noch vornehmlich an Vorschulkinder und Leseanfänger (vgl. Thiele 2005) und war es in seinem Duktus pädagogisierend ausgerichtet, so liegt diese Adressatenspezifik in den aktuellen Bilderbuchproduktionen vielfach nicht mehr vor. In diesem kinderliterarischen Textkorpus der Bildmedien findet man zwar immer noch zahlreiche Titel, die traditionelle Inhalte und pädagogische Implikationen aufweisen, gleichzeitig erweist sich gerade dieser Bereich aber als der innovativste im Bereich der ästhetischen Experimente. Eine Vielzahl an Bilderbüchern, die sich an junge Lesende richten, weist ein Motivarsenal auf, das Bücher und

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Buchstaben als Protagonisten in den Mittelpunkt stellt. Diese Ausgestaltungsform sollte aber nicht mit dem Buch-im-Buch-Motiv gleichgesetzt werden, sondern sie scheint vielmehr einem anderen Motivkomplex zugehörig zu sein, der ebenfalls häufig Verwendung findet: das Motiv des verlebendigten Spielzeugs bzw. das der Anthropomorphisierung. Diese Buchtitel ‚werben‘ für das Medium Buch sowie für das Lesen; sie inszenieren mit heiteren und leichten Geschichten vergnügliche Welten, die BuchRäume für die jungen Leser freundlich gestalten und im Kontext von Leseförderungsangeboten zu bewerten sind. Der Buchmarkt des 21. Jahrhunderts bietet zahlreiche Bilderbuch-Angebote, die durch ihre qualitätsvollen Illustrationen und literarischen Texte diese durchaus oft ambitionierten Leseförderungstexte überflügeln und ein kunstvolles und kunstfertiges Spiel mit dem Medium Buch in ihren Mittelpunkt stellen, so beispielsweise Jörg Müllers Bilderbuch Ein Buch im Buch (2001), das man als Klassiker dieses Konzepts bezeichnen kann. Müller führt seine kleine Protagonistin durch Bücher und Spiegel in das Buch selbst hinein, bis sie in dessen Innerem den Illustrator trifft. Der komplexe Aspekt der Autorenschaft bzw. des Künstlers, den Müller mit seiner Spiegelmetaphorik und als mise en abyme aufgreift, und mit intertextuellem Bezug zu Carrolls Alice in Wonderland kunstvoll verschränkt, verweist auf die Doppeladressiertheit des Werkes: Es ist für Kinder unterhaltsam, für erwachsene Betrachtende ein intellektuelles Vergnügen (vgl. Kato 2015). Ein vergleichbar vielschichtiges Beispiel bietet Nikolaus Heidelbachs Bilderbuch Ein Buch für Bruno (1997). Heidelbach entwirft seine kleine Protagonistin Ulla Herz als Leseratte und zugleich als Verführerin. Hingebungsvoll stöbert das Mädchen in der väterlichen Bibliothek herum, den äußerst lesefaulen Skater Bruno kann sie aber zunächst nicht für sich erwärmen. Das Bilderbuch arbeitet mit doppelseitigen Illustrationen, die Text und Bild miteinander verschränken. Mit Witz und Verstand gelingt Ulla die literarische Verführung. Sie lockt Bruno ins Haus, indem sie ihn auf den Schlangenbiss hinweist, den sie angeblich aus einer gefährlichen Buchlektüre davongetragen hat. Und Bruno beißt an! So beginnt ein scheinbar phantastisches Buchabenteuer, bei dem Ulla und Bruno durch die abenteuerlichen doppelseitigen Bücherbilderwelten reisen. Als „Idee der Lektüre“ bezeichnet Christine Lötscher diesen dramaturgischen Kniff Heidelbachs, der, gleicht man ihn mit den medienpädagogischen Diskursen ab, als „partizipatives Element“ verstanden werden kann: „Als Leser, Leserin wird man Teil einer Geschichte; die Realität verschwindet ebenso wie das Buch und die Zeichen auf dem Papier“ (Lötscher 2014, S. 56). Als Einstieg in die Welt dient ein Buch mit magischen, unentzifferbaren Zeichen. Sobald die Buchwelt betreten wurde, verschwindet die Schrift. Die Betrachtenden durchblättern exotische Panoramen, durch die die beiden Protagonisten reisen, fallen und diese gemeinsam auskundschaften. Nur ein rotes Lesebändchen, das in jeder Illustration versteckt zu erkennen ist, weist darauf hin, dass der Raum, in dem sich die beiden aufhalten, sich inmitten eines Buches befindet. Diese Reise in die Bücherwelt ist weniger phantastischer Entwurf als Spiel mit dem Medium für den erwachsenen Leser:  



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Wir sehen, wie die Schwelle zwischen Alltagswelt und Buchwelt inszeniert ist, wie die erzähltheoretischen Kategorien von Metalepse und Mise en abyme ins Bild gesetzt werden, als seien sie das Selbstverständlichste auf der Welt; wir sehen den romantischen Traum vom absoluten Buch realisiert, vom Verschmelzen der inneren und äußeren Wirklichkeiten, und wir werden fast allzu explizit mit dem lesepädagogischen Stereotyp der lesenden Mädchen und dem lesefaulen Jungen traktiert. (Ebd., S. 57)  

Lötscher betrachtet die vielfältigen Bezüge als „Überdeterminiertheit der Inszenierung“ (ebd.), die aber keinesfalls dazu führt, eine schlüssige Antwort auf das Geschehen zu bekommen, das von Heidelbach entfaltet wird. Ein weiteres Beispiel innovativer Bilderbuch-Kunst wäre das Debüt Wolves (Gravett 2006; vgl. dazu Teil C 5), die englische Künstlerin Emily Gravett erhielt hierfür renommierte Auszeichnungen. In dem großformatigen Bilderbuch wird äußert lustvoll mit Buch- und Bibliotheksinsignien gespielt ebenso wie mit Erzählebenen jongliert. Vergleichbar erscheint dieser zitatenreiche und erfinderische Einsatz der Bibliotheksrequisiten mit Rowlings Quidditch through the Ages. Zahlreiche Textbeispiele ließen sich für diese neuen Metadiskurse anführen, exemplarisch genannt sei hierfür nur der französische Titel Les Coulisses du Livre Jeunesse (2015) von Gilles Bachelet. Der Blick in dieses Buch eröffnet einen Parcours durch die Kinder- und insbesondere Bilderbuchgeschichte: Seite für Seite werden bekannte Figuren wie beispielsweise Tomi Ungerers Räuber (aus Die drei Räuber), Maurice Sendaks wilde Kerle (aus Wo die wilden Kerle wohnen), Wolf Erlbruchs Maulwurf (aus Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat) oder Anthony Brownes Affen-Protagonist Willy ikonografisch aufgerufen und neu in Szene gesetzt – trotz der revuehaft gestalteten Einzelauftritte dieser Figuren entsteht bei der Lektüre solcherart ein neues Buch-Ensemble. Schließlich sei noch auf Entwicklungen des aktuellen Buchmarkts verwiesen, auf dem das Buch-im-Buch-Thema insbesondere in Comics, Graphic Novels sowie Pop-up- oder Bewegungsbüchern eine bedeutsame Rolle einnimmt. Hier erschließt sich ein weiteres höchst innovatives Feld an BuchBild-Welten (vgl. Bachmann/Emans/Schmitz-Emans 2016). CR  

C 8 Spiele-Bücher: Semantiken des Spiels und der Spiele, Spiel(e)-Metaphern ‚Spiel‘ ist ein Zentralbegriff in der Geschichte der Ästhetik. Zugleich erinnert er aber auch an Alltägliches: an Kinderspiele, an Gesellschafts- und Kampfspiele, an Formen des Zeitvertreibs und des Wettkampfs, an spielerische Versuche der Problemlösung etc. Ob zwischen den verschiedenen als ‚Spiel‘ bezeichneten Praktiken und Prozessen eine verbindende Gemeinsamkeit besteht, über die man definieren könnte, was ‚Spiele‘ sind, ist aus guten Gründen bezweifelt worden (vgl. Wittgenstein 1971, § 71, S. 60). Aber die verschiedenen Spiele werden doch immerhin durch diese gemeinsame Bezeichnung gleichsam nachträglich in eine Beziehung gesetzt – eben durch ihren Namen. Das gilt auch für die Facetten und Erscheinungsformen des ‚Spiels‘ in den Künsten: das bildnerische Formen-Spiel, das poetische Spiel mit Wörtern und Formen, das musikalische und das Theater-Spiel. Der Vorstellungskomplex um letzteres bildet dabei eine Schnittstelle zwischen den vielen Ideen und Sprachspielen (Wittgenstein), die sich an das Stichwort ‚Spiel‘ knüpfen, und einem anderen Feld der Imagination und der Praxis: dem Theater – das wie das ‚Spiel‘ ein wichtiger Metaphernspender ist. Spielverläufe sind seit der Antike als Metaphern für den ‚Lauf der Welt‘ verwendet worden (vgl. dazu Platon: Nomoi 803c, 804b (Platon 1973, S. 173); Platon: Timaios 59c 7 (Platon 1964, S. 181). Ferner: Abschnitt zur Spielmetaphorik in Curtius 1954; Huizinga 1987; Funk 1960). Spezifische Spieltypen und Spiele (Kampfspiele, Geschicklichkeitsspiele, Strategiespiele, Glücksspiele, Kombinationsspiele etc.) motivieren dazu, diese Grundmetapher unter jeweils entsprechender Akzentuierung auszuspinnen. Bei Analogisierungen ästhetischer Praktiken mit Spielverläufen kann der Akzent zum einen auf dem Bauen von Welten liegen, auf den Spielsteinen als den Bausteinen, aus denen man etwas herstellt, zum anderen auf der ‚Erfahrung‘ von Welt als etwas schon Vorhandenem, das interpretiert werden muss, als ein Spielfeld, auf dem man selbst als Spielfigur unterwegs ist. Mit dem Stichwort ‚Spiel‘ aufgerufen werden verschiedene Problemkomplexe, insbesondere die Spannung zwischen ästhetischem Genuss und zweckorientiertem Handeln sowie die Spannung zwischen Freiheit und der Bindung an Regeln. Spieltheorien und Poetiken konvergieren im Zeichen der Frage nach anthropologischen, psychologischen und soziologischen Aspekten des Spielens. Umberto Eco etwa schließt sich im Kontext einer Abhandlung über Fiktionen und Fiktionalität einer Spiel-Theorie an, der zufolge Spielen eine Art Probehandeln ist, bei dem Weltorientierung eingeübt, Weltgestaltung ausprobiert wird.80  









80 Zu Begründung der Befassung mit Fiktionen vgl. Eco 1994 (dt. Ausgabe), S. 117: „[…] Streifzüge durch fiktive Welten haben die gleiche Funktion wie Spiele für Kinder. […] das Lesen fiktiver Geschichten [ist]  

https://doi.org/10.1515/9783110528299-019

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Teil C Anfänge und Initiationen

C 8.1 Ästhetische Akzentuierungen des Spiels In ästhetischen Diskursen fungiert das Spiel teils als zentrales ästhetisches Konzept, teils lässt es sich zumindest als programmatische Konkretisierung der jeweiligen Theorieansätze betrachten. Ersteres gilt für den autonomieästhetischen Kontext: Hier werden, vereinfachend gesagt, künstlerische Produktion und Kommunikation maßgeblich am Leitfaden des ‚Spiel‘-Konzepts interpretiert. So lassen sich die Ideen der Zweckfreiheit und der Regelhaftigkeit ästhetischer vermitteln – einer Regelhaftigkeit, die aber weder durch etwas der Kunst Externes determiniert ist (weil sie einer selbstgesetzten Spiel-Regel entspricht) noch zu einer ‚determinierten‘ Rezeption führt. Im Horizont strukturalistischer Ästhetik werden das Spiel und die Spiele vor allem als Paradigmen der Relation zwischen (Tiefen-)Struktur und einzelner Konkretisierung interessant. In der Beziehung zwischen Regeln und konkreter Performanz spiegelt sich die Beziehung zwischen langue und parole. Poststrukturalistische Ästhetiken akzentuieren demgegenüber die Modifizierbarkeit, die Pluralität und die potenzielle Widersprüchlichkeit von Regeln und formbestimmenden Strukturen. Damit eröffnen sich (verglichen mit dem strukturalistischen Grundansatz) neue Möglichkeiten der Semantisierung von Regeln und Strukturen sowie auch der Spannungsbezüge (der Differenzen) zwischen ihnen. Denn wo man es (wie es dem poststrukturalistischen Ansatz entspricht) mit mehreren einander überlagernden Strukturen und ‚Regel-Sets‘ zu tun hat, wo also eine Differenz zwischen konkurrierenden Regelsystemen und Regulierungsverfahren besteht, da gewinnt das solcherart voneinander Unterschiedene jeweils eine Signifikanz, die es nicht hätte, wenn es alternativlos wäre. Im Horizont poststrukturalistischen Denkens interessiert man sich auch besonders für die Möglichkeit, Spielpartien nach unvollständigen, widerstreitenden oder sich unterdessen ändernden Regeln zu spielen – und womöglich die eigenen Mitspieler im Unklaren darüber zu lassen, was überhaupt gespielt wird. Die Rezeptionsästhetik bildet einen weiteren wichtigen diskursiven Horizont, innerhalb dessen vor allem in den 1960er und 1970er Jahren das Konzept des ‚Spiels‘ prägende Bedeutung gewinnt. Liegt hier doch der Akzent auf der als produktiv interpretierten Aktivität des Rezipienten, die sich über die Analogisierung mit einer Spielpartie (bzw. mit manchen Typen von Spielpartien) besonders gut modellieren lässt. Der Schriftsteller erscheint unter entsprechend verschiedenen Akzentuierungen als derjenige, der Spiel-Raum, Spiel-Requisiten und zumindest die Rahmenregeln des Spiels anbietet. Die sinngenerierende Durchführung des Spiels liegt dann beim Rezipienten, inklusive der Festlegung von Korrelierungs-, Kombinations- und Interpretationsregeln.  



ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen sind oder gerade geschehen oder noch geschehen werden, einen Sinn zu geben.“

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C 8 Spiele-Bücher

Ambivalenzen der Formvorgaben. Die materielle Präsentation eines Werks als Set kombinierbarer Einzelteile hat noch nicht zwingend etwas mit Strukturlosigkeit zu tun. Es könnte ja darum gehen, als Rezipient durch Ausprobieren möglicher Element-Kombinationen eine verdeckte Tiefen- oder Sinnstruktur zu rekonstruieren – etwa, die an sich zunächst ‚sinnvoll‘ gereihten, dann aber durcheinandergeratenen Teile eines zusammenhängenden Ganzen (sagen wir: einer Erzählung) wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Oder es könnte darum gehen, die Einzelteile eines Puzzles so zusammenzufügen, dass sich nach ‚richtiger‘ Rekonstruktion wieder ein kohärentes Bild samt vorgegebener Bildaussage ergibt. Aber ob das Puzzle-Spiel oder nicht vielleicht doch das ergebnisoffene und prinzipiell auf endlose Erweiterung angelegte Bauklötzchen-Spiel (Lego z. B.) das maßgebliche Textmodell bieten, muss der Leser manchmal erst herausfinden – wenn sich denn überhaupt eine Entscheidung treffen lässt. Und dann ist es nicht sicher, ob sich die vom Text angebotene Spielpartie wirklich nach den Regeln des zugrundeliegenden Modellspiels spielen lässt. Wo vordergründig Ordnungsprinzipien wie die Spielregeln bekannter Spiele (nebst ihren formalen Mustern, Figurenarsenalen etc.) herbeizitiert werden, um dem Text selbst eine Ordnung zu geben, da geschieht dies vielfach in hintergründig-subversiver Absicht: sei es unter Verstoß gegen das selbstgewählte Regelwerk, sei es auch, um die Idee handlungsbestimmender Ordnungssysteme als solche ad absurdum zu führen. Dem Schein von Logik, Konsequenz und ‚Notwendigkeit‘, den das literarische Text-Produktions-Spiel nach vermeintlich festen Regeln erzeugt, ist nicht zu trauen. Gerade dort, wo scheinbar alles ‚in Ordnung‘ ist, wirken Brüche mit den eigenen Ordnungsprinzipien signifikant.  





Spieltypen als Modelle. Bei der Konzeption, Ausarbeitung und Rezeption literarischer Texte fungieren Spiele und Spielrequisiten (Spielsteine, Spielfiguren, Würfel, Spielbretter, Karten) gelegentlich als Modell: als Formen kultureller Praxis, als Strukturmodelle und als Metaphernspender. Natürlich gibt es auch eine facettenreiche ‚Spiel‘-Literatur, die sich auf inhaltlicher Ebene dem Spielen und den Spielern widmet, der Frage nach Schicksalhaftigkeit oder Zufälligkeit von Spielverläufen, der Psychologie (und Psychopathologie) des Spielers etc. – aber nicht dies ist hier gemeint, sondern eine Literatur, die sich am Konzept des ‚Spiels‘ oder an konkreten Spielen in einer Weise orientiert, welche sich auf die Form der Texte prägend auswirkt, auf die konkrete Textstruktur und die mit ihr verbundenen Rezeptionsangebote. Dass Buchseiten und Spielkarten aus Papier bestehen und einander ähnlich sein können, lässt gerade das Kartenspiel zum beliebten Modell werden – aber auch der Umstand, dass gerade Karten ‚gelesen‘ werden. Brettspiele mit einem aufgedruckten Parcours wirken wie das Modell eines narrativen Verlaufs; Bausteine erinnern ans ‚Bauen‘ fiktiver Welten. Zwischen Büchern und Spiele-Typen, zwischen Lektüren und Spielpartien lassen sich viele konkrete Beziehungen konstruieren. Die Buchseite wird von literarischen Autoren und künstlerischen Buchgestaltern oft in Analogie zu einem Spielfeld gesetzt.  



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Teil C Anfänge und Initiationen

Und das einzelne Blatt des Buches bzw. der einzelne Textbaustein lässt sich mit SpielKarten analogisieren. Gelegentlich wird die lose Einzelseite eines nur virtuell ‚zusammenhängenden‘ Buchs auch wie ein Papier-Los behandelt. Wichtig für Verfahren der literarischen und künstlerischen Buchgestaltung in Analogie zu Spielen bzw. Spielpartien sind vor allem Brettspiele und Geländespiele (also Spiele auf Flächen, bei denen die Spielfläche konstitutiv ist), Kartenspiele und Los-Spiele als eine Sonderform des Glücksspiels. Karten- und Brettspiele sind für literarische Schreib- und Darstellungsexperimente insofern besonders anschlussfähig, als es sich um Spiele handelt, bei denen mit Objekten aus Papier und Pappe gespielt wird. Spiele-Metaphoriken. Alle Spiele, die als Modelle literarischer Produktion, Rezeption oder Kommunikation fungieren, bringen ihre eigenen historischen Semantisierungen mit ein – Semantisierungen, die auf kulturellen Praktiken, auf der Geschichte des Spiels und auf der seiner Metaphorisierungen beruhen. Mit Schachspiel und Würfelspiel verbindet man normalerweise sehr Unterschiedliches: zum einen ein rationales Kalkül, zum anderen das unplanbare Wirken des Zufalls. Aber der Zufall ist selbst nochmals widersprüchlich konnotiert, je nachdem, ob man ihn als Wirken des Schicksals als ‚Schickung‘ oder als reine Kontingenz deutet. Kartenspiele können unter dem Aspekt des Mitwirkens von Zufällen, aber auch in Erinnerung an Schicksalsglauben und Kartenlesepraktiken jeweils Verschiedenes semantisieren. Kombinationsspiele mit Einzelbausteinen können als innovatorisches Konstruieren, aber auch als Re-Konstruieren eines der Bausteinsammlung vorausgehenden Zusammenhangs (eines ‚Ganzen‘) gedacht sein. Das Schachspiel ist auf komplexe Weise semantisiert: als Spiel mit einer langen Geschichte, als Kampfspiel, als stark regelgeleitetes und zugleich an individuelle Kompetenz appellierendes Spiel – und als Spiel, auf das immer wieder als eine Metapher rekurriert worden ist. Spieltechnik, Kulturgeschichte und Metapherngeschichte lassen sich nicht voneinander trennen. Aus strukturalistischer Perspektive betrachtet, illustriert das Schachspiel die Abhängigkeit der Bedeutung einer jeden Einzelfigur von ihrer Stellung im System (und ihrer Unterschiedenheit von anderen Figuren).  



C 8.2 Spiele-Typen Spielerische Umsetzungen von Handlungsanweisungen, die zu Bewegungen im Raum, Tätigkeiten und Erfahrungen anleiten, verknüpfen Elemente des Bewegungsspiels mit denen von Schreibspielen, bei denen der Empfänger eines Textes darauf in bestimmter Weise reagieren muss. Zum Kartenlegen bestehen insofern Parallelen, als auch das Kartenlegen den Charakter einer Handlungsanweisung annehmen kann. Zwischen Bewegungsspiel, Schreib- und Kartenspiel: Fluxus-Projekte. George Brecht ließ in den späten 1950er Jahren weiße Karten mit „Situationsbeschreibungen,

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C 8 Spiele-Bücher

Statements, Spiel- und Handlungsanweisungen“ bedrucken und sandte die Karten an Freunde (siehe dazu das Interview mit George Brecht in Brecht 1978, S. 122ff.; ferner Moldehn 1996, S. 176). Auf Anregung von George Maciunas wurden diese Karten in Schachteln veröffentlicht. Ab 1963 erschienen, wurden sie zu Bestandteilen des Fluxus-Koffers. Die Schachteln heißen Water Yam, Fluxyearbox, Fluxkit und enthalten die Karten sowie andere Multiples. 1960 entwirft George Brecht ein Kartenspiel mit gedruckten Handlungsanweisungen; eine offene Zahl von Mitspielern soll entsprechend den Anweisungen des Autors bei Sonnenuntergang Aktionen durchführen. Weitere Kartenspiele folgten; sie forderten die Mitspieler etwa zu langen Autofahrten auf. Die Water-Yam-Karten sind gestaltet wie Karten eines Gesellschaftsspiels (vgl. Moldehn 1996, S. 177). Die von Brecht und von Maciunas gestalteten Karten sind ‚Ereigniskarten‘, dabei gibt es der Brechtschen Intention zufolge aber kein zu erreichendes Ziel. Größer als die eigentlichen Anweisungen gedruckt sind Angaben, die den Typus des Ereignisses charakterisieren (z. B. „Three lamp events“). Die Karten werden zufällig gezogen (vgl. Abb. ebd., S. 179).  









Ein Hüpfspiel-Roman: Julio Cortázar: Rayuela (1963). Julio Cortázar bezieht sich mit seinem Roman Rayuela auf Himmel-und-Hölle, ein Hüpfspiel, welches – einer dem Roman vorangestellten Bemerkung („Tablero de dirección“) zufolge – das Struktur-Modell von möglichen Lektüren des Romans liefert.81 Vorgeschlagen wird, entsprechend einem bestimmten Kapitel-Parcours durch den Roman zu hüpfen. Mit diesem Vorschlag konkurriert evidenterweise die ebenfalls mögliche lineare Lektüre. So verdoppelt sich das Buch, wie Cortázar sagt; es gibt zwei Rayuelas – und das ist eine performative selbstbezügliche Aussage: aus dem einen Buch werden zwei, sobald das Buch dem Leser erlaubt, ja vorschlägt, es auf zwei Weisen zu lesen (vgl. Cortázar 1981, S. 7). Der erste Teil des ‚ersten‘ virtuellen Buches handelt von den Erlebnissen des argentinischen Protagonisten Horacio Oliveira in Paris, im existentialistischen Umfeld, insbesondere von seiner Liebesbeziehung zu La Maga, einer Frau aus Uruguay. Der zweite Teil zeigt Oliveira in Buenos Aires in einem Irrenhaus. In dessen Hof ist ein Himmel-und-Hölle-Spiel gemalt. Vordergründig suggeriert die zitierte Spielanleitung zwar eine einfache Alternative: der Leser kann entweder linear lesen oder der Himmel-und-Hölle-Choreografie folgen. Doch welcher Leser wird die Anweisung buchstäblich nehmen? Sollen wir einem Text glauben, der uns die ‚Gewissensbisse‘ ausredet, falls wir ihn nur partiell lesen? Wer wird, wenn er linear liest, nach dem 56.  







81 „A su manera este libro es muchos libros, pero sobre todo es dos libros. El primero se deja leer en la forma corriente […] El segundo se deja leer empezando por el capítulo 73 y siguiendo luego en el orden que se indica al pie de cada capítulo.“ Cortázar 1980 [1963], S. 3 [„Auf seine Weise ist dieses Buch viele Bücher, aber es ist vor allem zwei Bücher. Der Leser ist eingeladen, eine der beiden Möglichkeiten wie folgt für sich auszuwählen./Das erste Buch lässt sich in der üblichen Weise lesen. […] Das zweite Buch lässt sich so lesen, dass man mit dem Kapitel 73 anfängt und dann in der Reihenfolge weitermacht, die am Fuß eines jeden Kapitels angegeben wird.“] Cortázar 1981, S. 7.  



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Teil C Anfänge und Initiationen

Kapitel aufhören wollen? Wer wird andererseits, wenn er mit Kapitel 73 anfängt und der Spielanweisung folgt, auf eine komplementäre lineare Lektüre verzichten? Anders als die Anleitung suggeriert, gilt es nicht, einer Lesestrategie von zweien zu folgen, sondern beide Alternativen in der Schwebe zu halten. Der Spannungsbezug zwischen den beiden Romanen, die der Text virtuell enthält, ist bedeutungskonstitutiv. Der Vorschlag, sich hüpfend durch das Buch zu bewegen, erinnert indirekt u. a. daran, dass eine Lektüre, die konventionell von vorn nach hinten verläuft, die beste Maßnahme gegen das (unfreiwillige) Überspringen von Textteilen ist.  

Spiele mit Bausteinen. Als besonders attraktives Modell literarischer Kommunikation erscheint aus rezeptionsästhetischer und aus poststrukturalistischer Sicht das kombinatorische Spiel mit Bausteinen, welches keiner anderen Bestimmung unterliegt als ausschließlich der durch Materialität und Form der Bausteine bedingten. Romane und andere Texte aus losen ‚Textbausteinen‘ avancieren vor diesem diskursiven Hintergrund zu Paradigmen des literarischen Textes. Die Rezeption erscheint als bricolage, als ein von Vorgaben fast unabhängiges Ausprobieren möglicher Arrangements und Konstellationen. Die 1960er Jahre haben, daran sei in diesem Zusammenhang erinnert, nicht nur mit neuen Schreibweisen experimentiert, sondern auch mit vielen, teils neuen Konzeptualisierungen des literarischen Kommunikationsprozesses. Für die Auseinandersetzung mit Prozessen ästhetischer Produktion beispielsweise wurde die von Roland Barthes und Michel Foucault prominent vertretene Hinterfragung der Autor-Instanz besonders wichtig, für die kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Konzepten des Werks der Diskurs über Intertextualität. Letzterer unterhält enge Affinitäten zur Idee, Textproduktion sei eine Art von Kombinatorik. Bausteine laden meist zu einer relativ freien Kombination ein. Attraktive Modelle sind aber auch kombinatorische Spiele, bei denen das Arrangement der verfügbaren SpielRequisiten Regeln unterliegt. Hier muss zwar aus den einzelnen Spielsteinen oder -karten nicht eine bestimmte Figur gebildet werden, aber es gibt doch Regeln zulässiger Kombination, spielkonformer Syntagmenbildung. Es kann aber auch sein, dass der Akzent nicht auf der Herstellung eines Arrangements, sondern auf dem Durchlaufen von Spielstadien, dem Ausführen von Spielzügen – kurz: auf der Veränderlichkeit des jeweils temporär Arrangierten und auf der Spielperformanz als solcher liegt. Vor allem Werke aus materiell losen Einzelteilen können entsprechende Suggestionen erzeugen.  

Ein Puzzle-Roman: Georges Perec: La vie mode d’emploi (1978). Puzzle-Spiele appellieren an den Benutzer, aus einzelnen Bauelementen ein Ganzes zusammenzufügen. Damit scheint er sich einerseits in einem festen Rahmen zu bewegen. Andererseits kann das Scheitern vorprogrammiert sein – vor allem, wenn Teile ‚fehlen‘. Georges Perecs Roman La vie mode d’emploi ist dem Modell des Puzzlespiels verpflichtet. Einer der hier in Bruchstücken präsentierten Handlungsstränge handelt unter anderem von einem Puzzlespieler, der sein Leben dem Projekt widmet, selbstge 

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malte Bilder in Puzzles zerlegen zu lassen, diese Puzzles dann wieder zusammenzusetzen und sie dann zu vernichten. Der Romankonstrukteur Perec, der seinen Roman als Puzzle aus Textabschnitten präsentiert, die ein kompliziertes Ordnungsmuster ergeben, lädt den Leser gleichsam zu einer Spielpartie ein, bei der dieses Muster entdeckt wird. Aber das Puzzle bleibt ostentativ unvollständig, weil etwas fehlt, eine formale und inhaltliche Leerstelle im Gefüge der Bausteine ungefüllt bleibt – und auch auf inhaltlich-thematischer Ebene unterhält der Roman zur scheinbar selbstverständlichen Idee, ein Puzzle komplettieren zu können, ein Ganzes (re-)konstruieren zu können, eine spannungsvolle Beziehung (das, was fehlt, wird zum heimlichen Zentrum der Konstruktion). Perec hat das Bild des Puzzles zum Modell seines gesamten schriftstellerischen Œuvres erklärt.82 La vie mode d’emploi erzählt keine lineare Geschichte. Zwar fügen sich die Teile zusammen, aber zwischen ihnen liegen Brüche und Lücken; die Reihenfolge der Teile ist nicht festgelegt. Und dass ein Stück zu einer (imaginären) Ganzheit fehlt, muss der Leser erst einmal merken. Der Roman berichtet von den Lebensläufen einer großen Zahl von Personen statt von denen einer Figur oder einer Familie. Diese Lebensläufe sind miteinander vernetzt und spielen sich teilweise simultan ab. Alle Figuren, von denen erzählt wird, sind entweder zu bestimmten Zeiten Bewohner eines bestimmten Hauses gewesen – eines großen Pariser Mietshauses in der Rue Simon-Crubellier Nr. 11 in Paris – oder sie haben doch zu Personen, die dort wohnten, in Beziehungen gestanden. Einen roten Faden innerhalb des Gewirrs von Geschichten bietet die Lebensgeschichte des Puzzle-Fanatikers Bartlebooth, der den letzten Abschnitt seines Lebens damit verbringt, komplexe, durch einen Kunsthandwerker namens Winckler eigens für ihn angefertigte Puzzles zusammenzusetzen (um sie anschließend zu vernichten). Noch bevor das 439. Puzzle fertig ist, stirbt Bartlebooth. Perec hat seinen Romantext um eine große Zahl von grafischen Elementen ergänzt, die wie Bausteine aus dem Puzzle der dargestellten Welt wirken. Ansonsten ist der Roman buchgestalterisch nicht allzu auffällig. Aber die deutsche Ausgabe des Verlags Zweitausendeins enthält als Beigabe ein Puzzle, das sich richtig zusammensetzen lässt und den Querschnitt durch ein mehrgeschossiges Haus zeigt.  









Würfelspiele, Würfelbrettspiele. Wie es eine facettenreiche Literaturgeschichte des Schachspiels gibt, so gibt es auch eine Literaturgeschichte des Würfelspiels. Zu ihr gehören Texte, die den Leser dazu einladen, sich würfelnd vorwärtszubewegen und die Lektüre insofern von Zufällen abhängig zu machen (wobei diese Zufälle als schicksalhaft gedeutet werden mögen). Dazu gehört aber auch die Poetik des Würfelwurfs bei Mallarmé, dessen Coup de dés nicht nur vom Würfeln spricht, sondern sich zudem als typografisches Äquivalent eines solchen Wurfs präsentiert und auf

82 Vgl. Helmlé 2002, S. 22. Im Begleitheft Helmlés zu Das Leben. Gebrauchsanweisung findet sich ein Selbstkommentar Perecs zu La vie, mode d’emploi, S. 14: „[…] das Ganze ist ein Spiel. Es ist ein Buch […], mit dem man spielt, wie man mit einem Puzzle spielt.“  



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Teil C Anfänge und Initiationen

inhaltlicher Ebene mehrfache Semantiken des Würfelns aktiviert. Im Unterschied zu Schach, Dame und anderen allein auf dem Spielgeschick der beteiligten Parteien beruhenden Spielen unterliegt der Verlauf vieler Brettspiele partiell dem Zufall – etwa wenn die Position der Figuren durch Würfel bestimmt wird. Die Herausforderung an die Spieler besteht darin, auf die Kontingenzen der Ausgangssituation und der weiteren Spielereignisse möglichst produktiv zu reagieren. Gerade Brettspiele präsentieren sich durch ihr Design vielfach als Bilder der Welt: Da bewegen sich anthropomorphe oder teilanthropomorphe Figuren (Mensch-ärgere-dich-nicht-Figürchen etwa) über eine Spielfläche und vollführen Aktionen, die mit dem Tun lebendiger Wesen zumindest vergleichbar sind. Manchmal werden modellhaft typische Ereignisse oder Verhaltensweisen durchgespielt – etwa im Malefiz-Spiel. Man muss sich in einer verwirrenden Welt orientieren, sie umgestalten, um durchzukommen, mit anderen um die Wette laufen, Hindernisse überwinden, Partner suchen, Tricks anwenden etc.  



Das Modell des Gänsespiels: Eduardo Sanguineti: Gioco (Giuoco) dell’Oca (1967). Ein Würfelspiel – das an den Coup de dés erinnert – bietet das Modell für den Gänsespiel-Roman Eduardo Sanguinetis: Il Gi[u]oco dell’Oca (in beiden Schreibweisen belegt, Sanguineti 1967, dazu Ernst 1992, S. 297). Der Roman besteht aus 111 kurzen Texten, welche den Spielfeldern beim Gänsespiel entsprechen. Entsprechend den Spielregeln des Würfelspiels sollen sie auf der Basis ausgewürfelter Leseanweisungen in eine Reihenfolge gebracht werden. Im deutschen Klappentext wird der Leser mit programmatischer Ironie als Akteur beschrieben, der mit fiktiven Gestalten zusammentrifft; wiederum ist die Spielanleitung mehr als eine konventionelle Spielanleitung, da sie die Grundsatzfrage nach der Autorität des Lesers über den Text berührt: Wird er zum Spielleiter oder zur Spielfigur? (Vgl. Ernst 1992, S. 298; Schwaderer 1974, S. 465f.) Sanguinetis Erzähler ist ein isolierter Intellektueller, dessen Beobachtungsperspektive wechselt: Zuerst blickt er aus einem Fenster seines eigenen Sarges, aus diesem wird ein Ehebett, ein Banksafe, eine Kiste; die Wirklichkeit, die an ihm vorbeigleitet, ist aus Elementen der Alltagskultur, Trivialmythen und Comicfiguren zusammengesetzt. Der Leser wird hin und her kommandiert, bis hin zu der (kaum wörtlich zu nehmenden) Behauptung, unter bestimmten Voraussetzungen sei man mit dem Roman schnell fertig, welche der Anweisung gleichkommt, nun mit dem Lesen aufzuhören. Solche Anleitungen sind einerseits der Idee des aktiven Lesers verpflichtet, spielen andererseits aber auch ein ironisches Spiel mit ihr.  









Kartenspiele. Kartenspiele verlangen ihren Spielern einerseits Entscheidungen ab; sie beruhen auf Geschick, Strategien und Erfahrungen. Andererseits ist für den Spielverlauf im Normalfall ein Zufallsfaktor konstitutiv: Die sich beim Ausgeben der Karten an mehrere Spieler ergebenden Bestände unterliegen nicht der intentionalen Steuerung. Und wer mit sich selbst Karten spielt, legt Karten aus, deren Reihenfolge er nicht selbst reguliert hat. Karten-Leser deuten die sich ergebenden Kartensequenzen als Botschaften. Dies ist ein wichtiges Motiv für die Analogisierung von Kartenreihen mit

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Text- bzw. Zeichensequenzen. Der Zwang oder die Einladung zum Interpretieren lässt das Kartenspiel zur beliebten Metapher des Lesens werden. Mehrfache, teils auf komplexe Weise miteinander interagierende Voraussetzungen sind daran beteiligt, dass Kartenspiele in der Literatur der vergangenen Jahrzehnte als Modell eine thematisch und kompositorisch anregende Rolle gespielt haben. Da ist erstens die Tradition kombinatorischen Dichtens als solche – eines Schreibens auf der Basis unterschiedlich arrangierbarer Bausteine, handle es sich nun im Texteinheiten oder um Einzelwörter. Von dieser Tradition sind verschiedene der im Folgenden vorzustellen Beispiele geprägt. Da sind zweitens die von diversen Autoren entdeckten Affinitäten oder Analogien zwischen einem Set Spielkarten und einem Wörterbuch respektive einem Zettelkasten mit Vokabeln: In beiden Fällen wird ein Reservoir an kombinierbaren Grundzeichen oder Zeichenkomplexen bereitgestellt. Die den Wert einer bestimmten Spielkarte bestimmenden Zeichen bilden eine Art Vokabular. Wie aus Wörtern, so lassen sich auch aus Spielkarten Syntagmen bilden; diese beruhen normalerweise auf Kombinationsregeln – und beide Arten von Syntagmen müssen interpretiert werden.  



C 8.3 Erzähl-Spiele Das Kartenspiel ist insgesamt ein besonders beliebtes Schreib- bzw. Text-Modell. Schriftsteller und Buchkünstler lassen sich von ihm zur Gestaltung von Texten und Papierobjekten anregen. Dass Spielkarten wie Buchseiten aus Papier hergestellt werden, spielt dabei durchaus eine Rolle. An Kartenreihen entlang zu erzählen, kann zum Motor der Genese einfacher oder komplexer Narrationen werden. Eine Schachtel voller Erzähl-Bausteine: Robert Filliou: Je disais à Marianne (1965). Unter dem dreisprachigen Titel Je disais à Marianne, I was Telling Marianne, Ich sagte zu Marianne konstruierte Robert Filliou 1965 eine Schachtel mit 96 Karten (vgl. Mœglin-Delcroix 1997a, S. 108). Die Karten (die in etwa die Größe von Spielkarten haben) sind auf Karton gedruckt und zeigen Bildmotive verschiedener Art: Hund, Vase, Tisch, Fenster, Haus etc. Sie liegen in hölzernen Fächern innerhalb der Schachtel. Auf dem Rücken einer jeden Karte steht ein Satz – jeweils auf Französisch, Englisch und Deutsch. Filliou, der selbst über die Arbeit an diesem Objekt gesprochen hat, bringt es in Beziehung zur Geschichte mehrerer Familien und zu seiner eigenen Lebensgeschichte. Von seinem Freund Daniel Spoerri hatte Filliou ein auf dem Flohmarkt gefundenes Kartenspiel geschenkt bekommen, dessen Karten ebenso jeweils ein Bildmotiv zeigten. Dadurch angeregt, so Filliou, habe er begonnen, seine ‚Autobiografie‘ zu schreiben. Die Bilder stimulierten Erinnerungen, so etwa habe ihn das Tischmotiv daran erinnert, wie oft er unter den Tisch gerollt sei. Die ‚Autobiografie‘ besteht aus kleinen Erinnerungsberichten, die der Lebensgefährtin Marianne erzählt werden; die Karten werden alle zusammen ausgelegt, zu allen werden Geschichten  



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erzählt – ernste und komische, wichtige und banale (vgl. ebd.). Ein und dasselbe Kartenbild kann dabei mehrfach verwendet werden und erhält dann unterschiedliche Legenden. Letztere stehen zum jeweiligen Bild in unterschiedlichen Beziehungen, teilweise in ziemlich entfernten, teilweise in engen. Manche Interpretationen der Bilder sind spielerisch und wirken beliebig. So heißt es zum Bild eines Helms: „J’ai perdu la tête“; zum Bildmotiv eines Vogels im Käfig heißt es: „J’ai été emprisonée en 1944“. Die Box mit Karten wurde als Multiple produziert und von Daniel Spoerri 1965 herausgegeben.  

Ein Erzählungs-Geflecht auf Kartenbasis: Calvinos Tarock-Geschichten: Il castello dei destini incrociati (1973). 1973 verfasste Italo Calvino unter dem Titel Il castello dei destini incrociati einen Zyklus von Erzählungen, die einem analogen Prinzip verpflichtet sind wie Fillious Schachtel-Karten-Objekt: Zu den Karten eines Tarockspiels, die in einer fingierten Rahmenhandlung zu Reihen gelegt werden, erzählen die Figuren der Rahmenerzählung jeweils ihre Lebensgeschichte; sie scheinen in den Karten-Bildern Repräsentationen dessen zu sehen, was sie erzählerisch vermitteln wollen. Da sie alle stumm sind, müssen sie zu den Bildern ihre Zuflucht nehmen – und sich die Bilder teilen. Der Haupterzähler gibt dann in Form einer verbalen Erzählung wieder, was er aus den von den anderen ausgelegten Bildsequenzen herauszulesen glaubt. Die Zuordnung von Interpretationen zu den Bildern ist dabei sehr willkürlich; eine und dieselbe Karte findet ja im Kontext verschiedener Geschichten mehrfach Verwendung, so dass ihre Bedeutung per se nicht auf einer verlässlichen Ähnlichkeit mit dem angeblich dargestellten Handlungselement beruht.  

Ein Spielkartenroman: Aka Morchiladze: Santa Esperanza (2004). Aka Morchiladzes Roman Santa Esperanza besteht aus 36 kleinen Heften in insgesamt vier verschiedenen Farben, die in einer braunen Filztasche – einer Art Mini-Reisetasche – stecken, ergänzt um ein weißes Beiheft. Das in den Heften geschilderte fiktive Land Santa Esperanza besteht aus drei eher kleinen Inseln – den Johannesinseln – im Schwarzen Meer; seine Hauptstadt wird Santa City genannt. Aufgrund ihrer wechselvollen Geschichte ist die esperantinische Bevölkerung multikulturell: zusammengesetzt aus Georgiern, den Nachfahren genuesischer Siedler, türkischer Einwanderer und englischen Kolonisatoren. Entsprechend mehrsprachig ist das Land, wobei das Georgisch der esperantinischen Georgier von dem der Mutterland-Georgier abweicht. Die Haupthandlung spielt zu Beginn dieses Jahrtausends (2002), kurz vor und nach dem Datum, zu dem die für rund anderthalb Jahrhunderte (seit dem Krimkrieg) regierende Kolonialmacht England sich vertragsgemäß aus Santa Esperanza zurückziehen muss. Dies führt zu Auseinandersetzungen um die künftige Regentschaft. Santa Esperanza hat seine eigenen kulturellen Traditionen. Dazu gehört das mit keinem anderen Kartenspiel vergleichbare Intee-Spiel, nach dessen Modell die 36 Hefte des Romans gestaltet sind. Es hat komplizierte Regeln und erscheint im Spiegel des Romans als eine Art Metapher des menschlichen Lebens mit seinen Komplikationen. Die Ge 







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schichte Santa Esperanzas respektive eine Vielzahl von Geschichten, die sich hier (angeblich) abgespielt haben, finden in den verschiedenen Möglichkeiten, die Karten zu kombinieren, ein strukturelles Äquivalent. Das Intee-Spiel seinerseits ist eine Art Gleichnis der Welt von Santa Esperanza, schon wegen seiner vier Farben, aber auch, weil seine Symbole für Kernmotive der esperantinischen Kultur stehen. Der Haupterzähler, der im Beiheft seine eigene Geschichte erzählt, hat – so die Rahmenfiktion – Santa Esperanza und das Intee-Spiel als Reisender kennengelernt. Er hat sich auf den Inseln viele Geschichten angehört und in vielen Schreibheften aufgeschrieben. Nach Hause (London) zurückgekehrt, hat er diese Hefte auseinandergenommen und aus dem gesammelten Material Geschichten für 36 Hefte gemacht. Zuletzt betont der Haupterzähler, man könne mit dem Material beliebig umgehen. Man könne zwar die Hefte selbst nicht mehr verändern. „Aber selbstverständlich kann man nach Gutdünken neue Hefte hinzufügen“ (Morchiladze 2006, S. 41f.).  





Abb. C 33: Aka Morchiladze: Santa Esperanza. Übers. von Natia Mikeladze-Bachsoliani. München/Zürich 2006 (Orig.: Santa Esperanza. Tiflis 2004).  

Ein Kreuzworträtsel-Buch: Milorad Pavić: Predei slikan cajem (1988). Milorad Pavić hat mehreren seiner Romane Spiele unterlegt. Bei ihm verbindet sich ein dezidiert postmodernes, experimentelles Schreiben mit der Suche nach originellen visuellen und bucharchitektonischen Präsentationsformen seiner Texte. Einem Schreib-SpielTypus verpflichtet ist Milorad Pavićs Kreuzworträtsel-Roman Landschaft in Tee gemalt (1988; dt.: 1991). Die deutsche Ausgabe des ursprünglich serbokroatischen Romans zeigt auf der vorderen inneren Umschlagseite übrigens das Bild eines Labyrinths und eines Mannes, der gerade dabei ist, es zu betreten (Zeichnung: Quint Buchholz). Das Labyrinth besteht aus ausgelegten (Buch-)Seiten, ergänzt um einige Objekte, die aus Magritte-Bildern zu stammen scheinen. Der Roman handelt nicht zufällig von einem Architekten, einem Dädalus mit besonderem Sinn für die den Bauwerken korrespondierenden Leerformen, die er mit dem Schweigen als dem Komplement der Rede vergleicht. Diverse Leseanweisungen sind dem Roman integriert, ferner Reflexionen über das Prinzip der linear geordneten Folge und das Prinzip der Vernetzung. Ihm korres-

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Teil C Anfänge und Initiationen

pondiert ein Weg, der nicht zielgerecht in eine Richtung verläuft, sondern Richtungswechsel und Rückwege enthält. Protagonist des Romans ist der Belgrader Architekt Atanasje Svilar, durch seinen Beruf als Kollege des Labyrinthbauers Dädalus ausgewiesen. Der Roman gliedert sich in zwei Teile – was man als Anspielung auf die beiden Leserichtungen eines Kreuzworträtsels interpretieren kann. Für den Helden ergibt sich in beiden Teilen eine andere Geschichte, obwohl Zusammenhänge bestehen.  

Ein Tarot-Roman: Milorad Pavić: Poslednja ljubav u Carigradu (1994). Der Roman weist schon durch seinen Untertitel (englisch A Tarot novel for divination) auf seine Verbindung zum Tarotspiel hin. Jedes Kapitel beginnt mit der Reproduktion einer Spielkarte, zu der die jeweils folgende Erzählung dann eine Art Interpretation bietet. Der Roman ist in einem konventionellen Buch abgedruckt, aber am Buchende findet sich ein abgedruckter Satz Tarot-Spielkarten, verbunden mit der Einladung an den Leser, diese auszuschneiden und mit ihnen zu spielen. Dabei erfolgen auch Hinweise darauf, wie mit den Karten zu spielen wäre. Der Leser kann demnach – wenn er sich denn entscheidet, diese Buchseiten zu zerschneiden – das Kartenmaterial entsprechend seinen eigenen Vorstellungen anordnen; allerdings bilden die vorgegebenen Materialien und Spielregeln den Rahmen dafür, ebenso wie die Bindung des Spielkartenmaterials an den vorangegangenen Spielkartenroman. Wie in anderen Romanen Pavićs auch verbinden sich in diesem Roman historiografisch grundierte Erzählanteile mit phantastischen Elementen. Das Buch beginnt mit einer Erläuterung der ‚Major Arcana‘ (‚Great Secret‘), einem Satz aus 22 Spielkarten (nummeriert von 0 bis 21), die zum Wahrsagen dienen und zusammen mit den 56 Karten der ‚Minor Arcana‘ das Tarotspiel bilden. Damit verknüpfen sich Hinweise auf die weitgehend rätselhafte Herkunft und Geschichte des Tarotspiels. Erläutert werden Ideen, die dem divinatorischen Lesen der Tarot-Karten zugrunde liegen. Die Symbole des Tarotspiels werden als Kulturen übergreifende Grundsymbole charakterisiert.83 Die Karte des Narren („The Fool“) nimmt im Ensemble der ‚Major Arcana‘ eine Schlüsselstellung ein. Er ist die „0“ – d. h. die Ausgangskarte. Mit dieser Karte beginnt der Roman dann auch. Es folgt eine Art Gebrauchsanweisung.84 Das Inhaltsverzeichnis des Romans nennt die Kapiteltitel (Contents, Pavić 1998): Zusammengenommen ergibt sich eine Liste der 22 Tarotkarten der ‚Major Arcana‘. Auf den jeweiligen Recto-Seiten der dafür vorgesehenen Blätter des Buchs sind die Vorderseiten der Karten abgedruckt, auf den VersoSeiten deren Rückseiten. Die einzelnen Karten sind von gestrichelten Schnitt-Linien umrahmt und durch eine Legende bezeichnet, die ihren Namen nennt.  







83 „At the root of the Tarot lies the symbolic language of the collective mind of man.“ (zit. aus der englischen Ausgabe Pavić 1998, unpag., Anfangsseite) 84 „To use this Book for Divination.“ (Ebd.)

C 8 Spiele-Bücher

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Ein Roman als Analogon eines Spielkartensatzes: Milorad Pavić: Hazarski Rečnik (1984).85 Pavićs Roman Hazarski Rečnik ist ein Lexikonroman. Dieser besteht hauptsächlich aus Artikeln über Figuren, Gegenstände und Themen, die in einer Beziehung zur Geschichte und Kultur der Chasaren stehen, eines Turkvolks, dessen Spur sich im Mittelalter verloren hat.86 Anstelle einer kohärenten Geschichte der Chasaren bietet der Roman einzelne Artikel von unterschiedlicher Länge (von kurzen Erklärungen bis zu Abhandlungen von 30 Seiten Länge). Er setzt sich aus drei Teillexika zusammen, einem christlichen, einem jüdischen und einem islamischen, denen die Farben Rot, Gelb und Grün zugeordnet sind (verwendet als Druckfarben für farbige Linien unter der Kopfzeile der Artikel sowie als Farben von Lesezeichenbändchen); zudem weisen die Kopfzeilen auf jeder Seite als Symboltiere der drei Religionen je nach Lexikonteil ein Paar Fische, einen Löwen und einen Widder auf. Durch drei verschiedene Indexzeichen (Kreuz, Halbmond und Davidsstern) wird bei der Erwähnung von Personen, Ereignissen oder Gegenständen auf entsprechende Artikel in einem der drei Wörterbücher hingewiesen; mit einem Dreieck markierte Ordnungswörter besitzen in jedem der drei einen Artikel, mit „A“ markiert sind Ordnungswörter, die auf einen Appendix am Buchende verweisen. Auffällig ist, dass das Lexikon mit einem Pack Spielkarten, seine Lektüre mit einer Kartenspielpartie verglichen wird.87 Schon auf dem Schutzumschlag der deutschen Ausgabe findet sich eine Art Gebrauchsanleitung; hier ist ebenfalls von einem Kartenspiel die Rede.88 Die Beschreibung zulässigen Leserverhaltens eröffnet in Pavićs Buch einerseits einen so weiten Spielraum, dass von einer echten Spiel-Regel nicht mehr die Rede sein kann; andererseits nimmt sich manche der Antizipationen möglichen Leser-Verhaltens ironisch aus. Die Idee einer Textkonstitution durch den Leser wird eher herbeizitiert als kritiklos bekräftigt,

85 Der Lexikonroman existiert in zwei Varianten, genannt „männliches“ und „weibliches Exemplar“. 86 Das Ende der (insgesamt nur andeutungsweise rekonstruierbaren) Geschichte der Chasaren wurde eingeleitet durch die sogenannte Chasarische Polemik: Der Herrscher (Kagan) der Chasaren soll je einen christlichen, einen jüdischen und einen islamischen Weisen zu sich gebeten haben, um sich die rivalisierenden Religionen erläutern zu lassen und anschließend zusammen mit seinem Volk zu demjenigen Glauben überzutreten, von dessen Wahrheit er überzeugt werden konnte. Das Verschwinden der Chasaren scheint die langfristige Folge des Disputs gewesen zu sein, doch die jüdische, christliche und islamische Überlieferung bietet abweichende Versionen der Historie. In der Gegenwart, vor dem Hintergrund des arabisch-israelischen Konflikts, laufen diese Entwicklungen in Gestalt neuer (fiktiver) Lebensgeschichten zusammen. 87 „So wird jeder Leser selbst sein Buch in ein Ganzes verwandeln, wie eine Partie Domino oder Karten […]“ Pavić 1988, S. 21 f. 88 „Man kann es vom Anfang bis zum Ende lesen, aber auch an der Stelle beginnen, die sich beim Aufschlagen von selbst öffnet. Man kann es diagonal lesen oder von hinten nach vorn, und wenn man es ausgelesen hat, kann man wieder von vorn beginnen. Man kann sich darin verirren und muss sich dann einen Weg bahnen wie durch einen Wald, wobei die Sterne, die Monde und die Kreuze Orientierung bieten. Man kann es spielen wie eine Partie Domino oder eine Patience, und je mehr man sucht, desto mehr gewinnt man.“ (Ebd., Schutzumschlag)  



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Teil C Anfänge und Initiationen

und das Bild eines sich-verirrenden Lesers steht dazu in unaufhebbarer ironischer Spannung. Eine Graphic Novel als Spielesammlung: Chris Ware: Building Stories (2012). Die Graphic Novel als relativ junge Literaturgattung hat rezent ihre eigenen Anschlussstellen an die Welt der Spiele entwickelt. Chris Ware präsentiert mit Building Stories einen Hybrid aus Graphic-Novel-Baukasten und (Brett-)Spielesammlung: eine an ein Gesellschaftsspiel erinnernde Schachtel mit Comicbüchern, -heften und -leporellos in unterschiedlichen Größen; das größte Format ist das einer (zusammengefaltet in der Schachtel liegenden) großformatigen Zeitung; großformatig ist auch ein zusammengelegtes Faltblatt oder Poster. Die einzelnen Objekte in der Kiste sind untereinander also durch Familienähnlichkeiten verbunden: Alle sind dem Buch ähnlich. Die Bildsequenzen erzählen miteinander vernetzte, aber jeweils fragmentarische Geschichten. Sie werden ergänzt um Einzelmotive und Bildfolgen, mit denen es um die Ausstattung (das ‚building‘) der Geschichten-Welt geht. Alle Bildgeschichten sind auf zwei weibliche Figuren und deren Lebensstationen bezogen. Hinzu kommt ein Heft über eine Biene. Die Biene – Emblem des Sammlers – ist als Repräsentantin einer Spielesammlung wohl mit Bedacht gewählt. MSE  



Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

Album und Scrapbook Alben sind unter formal-strukturellen Aspekten wie auch mit Blick auf ihre Inhalte buchgestalterisch (und darum auch buchliterarisch und buchkünstlerisch) interessante Objekte. Das Scrapbook, für das Entsprechendes gilt, kann dabei als eine Spezialform des Albums betrachtet werden. Im 19. Jahrhundert bildet sich eine Kultur der Alben und Scrapbooks heraus, an die bis heute angeknüpft wird und die Künstlern und Schriftstellern unterschiedliche Anlässe zur Reflexion über bookness gibt (vgl. Müller, Lothar 2012, S. 302, sowie Metken 1978, S. 301–308). Rezent hat das Format des Albums in seinen verschiedenen historischen Spielformen die Aufmerksamkeit von Kultur-, Kunst-, Medien- und Literaturwissenschaftlern auf sich gezogen (Kramer/Pelz 2013a, hier u. a. Pelz: Vom Bibliotheks- zum Albenphänomen, S. 40–58). Seine Materialität trägt, wie dabei aus verschiedenen Perspektiven betont wird, zu seinen komplexen semantischen Potenzialen entscheidend bei. Nach Johanna Drucker wirkt das „traditional photo album“ mit seinen „heavy black pages“ dauerhaft; die Seiten „absorb memory into their dense field and hold it safe, still, silent and waiting“ (Drucker 1995a, S. 41f.). Roland Barthes (vgl. unten) stellt das ‚Album‘ dem ‚Buch‘ gegenüber, wobei er implizit eine bestimmte materielle Eigenschaft beider Relate metaphorisiert: Im Fall des Buchs (gemeint ist das gedruckte Buch) ist dies der Umstand, dass es, definitiv gebunden und mit festgelegten, nicht mehr veränderbaren Inhalten gefüllt, eine Metonymie der Fixierung ist. Das Album hingegen steht bei Barthes für Flexibilität, Offenheit, Gestaltungsfähigkeit – für eine nur lockere Bindung seiner einzelnen Bestandteile und ein relativ freies Verfügen über das, was sie repräsentieren. Bei Michael Ignatieff ist demgegenüber das Album Metapher und Metonymie einer – durchaus ersehnten – Bindung an die Familiengeschichte, an Geschichte überhaupt (Ignatieff 1987).  

















Behälter für Gesammeltes. Das Album im heute primär geläufigen Verständnis ist eine Variante des Kodex. Sein Name, der auf einen weißen Träger von Schrift verweist, findet aber schon in römischer Zeit – und hier für nicht-buchförmige Objekte – Verwendung: als Bezeichnung für weiße Wände oder Tafeln, die der öffentlichen Mitteilung von Informationen über Rechtssachen dienten (vgl. Kramer/Pelz 2013b, S. 9). In ihren späteren materiellen und strukturellen Ausprägungsformen weisen Alben je nach Gebrauchskontext modifizierte Eigenschaften auf, die eine Brücke zwischen den römischen Alben und ihren zeitgenössischen Nachfahren schlagen und sich aus der Funktion des Albums als eines Kommunikationsmediums zwischen Öffentlichkeit und Halböffentlichkeit und seiner Adressierung an je spezifische Gruppen ableiten. Typisch ist es etwa, wenn Alben über gewisse Zeiträume hin wiederholt mit Einträgen gefüllt und überarbeitet werden.1 Das Wand- wie das Buch-Album dient zunächst ein 





1 Als typische Merkmale des Albums bestimmen lassen sich unter anderem „Anschaulichkeit, Vorläufigkeit, wiederholte und vermehrte Einschreibung“ (Kramer/Pelz 2013b, S. 10). Zu den historischen Al 

https://doi.org/10.1515/9783110528299-020

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

mal allgemein als Behälter für Gesammeltes. (Unter diesem Aspekt lassen sich auch Behälter mit losen Inhalten im Kontext der Albenkultur betrachten.) In den abendländischen Kulturgeschichten des Sammelns nehmen Alben vieles auf: Bilder und Texte, allerlei natürliche oder zivilisatorische Objekte, insbesondere auch Hybride aus Objekten, Text- und Bildanteilen. In erinnerungskulturellen Kontexten fungieren Sammelalben als vielseitige und flexible Medien, so etwa Fotoalben, Reisealben und Poesiealben, die der späteren Erinnerung an Freunde dienen sollen. Andere Alben speichern gesammelte Wertobjekte und dienen der mittelbaren Wertschöpfung durch Anlage von Sammlungen (etwa durch Briefmarkenalben, Münzalben und Alben mit historisch-antiquarisch wertvollem Material) sowie repräsentativen Zwecken. Der Wert des im Album Gesammelten kann jedoch ebenso durch ganz subjektiv-individuelle Kriterien bestimmt sein. Als typische mediale Formate in Dokumentations- und Selbstdokumentationskulturen angelegt werden Reisealben, Alben mit persönlichbiografischen Erinnerungsstücken, Briefalben etc., aber auch Alben mit Arbeitsproben. Kunstwerk-Alben als Spielformen der Kunst-Sammlung sind funktional der Ausstellung oder dem Museum zumindest vergleichbar; Analoges gilt auch für Alben mit historischem Material. Die Bezeichnung von Schallplatten als ‚Alben‘ bürgert sich zur Zeit der Schellackplatte ein und verweist ebenfalls darauf, dass hier etwas gesammelt vorliegt. Sammlungen sind mehr als bloße ‚Sammelsurien‘, insofern ihre Entstehung auf der Orientierung an Leitbegriffen oder -vorstellungen beruht, aber sie müssen weder systematisch angelegt noch vollständig sein (Sommer 2002). Vielfach drücken sie persönliche Interessen und Vorlieben aus als gleichsam materialisierte Selbstdarstellungen des Albumbesitzers und seiner Beziehung zur Welt. Einerseits Repräsentanten von Ereignissen, Erfahrungen, Ideen, Personen etc., bilden die Objekte oder Einträge in Alben andererseits doch auch Sammelstücke von eigenem, oft nostalgischem Wert; in ihrer Verweisfunktion sind sie „Semiophoren“ im Sinne Krysztof Pomians (Pomian 1988). Die Kultur des Albums blüht vor allem im 19. Jahrhundert auf, zu einer Zeit, als sich vielfältige Spielformen des (privaten und musealen) Sammelns ausdifferenzieren.  

Buchförmige Alben. Heute als prototypisches Album geltend, besteht das buchförmige Album aus einem Stapel gebundener Blätter. Neben papiernen oder aus anderem Material bestehenden Objekten enthalten Alben auch schriftliche Einträge, die in lockerer Reihung erfolgen. Vielfach finden sich verbale und visuelle Anteile miteinander kombiniert, sei es, dass diese sich direkt aufeinander beziehen (wie Bildunterschriften zu Fotos), sei es, dass sie relativ autark nebeneinanderstehen, sei es auch, dass schon die Albenbestände als solche Text-Bild-Kombinationen darstellen (wie etwa bei Postkarten). Wenn Dinge Eingang in Alben finden, seien es natürliche (wie

bumstypen gehört das Freundesalbum („Album Amicorum“); in die Geschichte des ‚Albums‘ einbeziehen lassen sich mit Blick auf die römischen Wand-‚Alben‘ aber auch Graffiti, Murals und vergleichbare Erscheinungsformen der „Street Art“ (vgl. ebd.).

Album und Scrapbook

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Pflanzen) oder technisch erzeugte (wie Münzen und Fotos), so werden sie oft von schriftlichen Erläuterungen oder zumindest Benennungen begleitet. Zumindest traditionellerweise sind die Seiten von Alben vor Aufnahme der zusammengetragenen Inhalte leer, meist weiß oder aber (dies oft bei Fotoalben) schwarz. Neuere Alben enthalten oft auch vorab bedruckte und als Nutzungsanleitung fungierende Seiten, etwa solche mit vorgeschlagenen Rahmen. Neben allein aus (bedruckten oder unbedruckten) Seiten bestehenden Alben finden sich solche mit Steckvorrichtungen (etwa für Briefmarken) sowie Klebealben. Für Konzeption und Verwendungsweisen von Alben signifikant ist es, ob das hier Eingefügte dauerhaft (etwa durch Klebstoff) oder flexibel fixiert wird. Als Arrangement aus verschiedenen Stücken ist das Album dem Klebebuch und der Sammlung von Zeitungsausschnitten ähnlich – respektive nicht klar gegen diese abgrenzbar (vgl. Heesen 2002). Werden in Alben Texte geschrieben und Bilder gezeichnet, so kann dies, wie beim Freundschafts- oder Poesiealbum, durch verschiedene Personen geschehen oder auch wie beim diaristischen Album durch eine einzige Person (zum Freundschaftsalbum vgl. Schnabel 2013). Gerade dann, wenn viele verschiedene Beiträger am Werk sind, wirkt das Album trotz seiner materiellen Einheitlichkeit (etwa durch Einträge aller Beiträger in dasselbe Poesie-Blankoalbum) gleichwohl meist kompilatorisch.  

Spielformen und Funktionen. Beschaffenheiten und Funktionen von Alben stehen in wechselnden und stets engen Beziehungen zu historisch-kulturellen Praktiken, Weltwahrnehmungsmustern und Lebensformen. Dies gilt etwa für Formen und Medien persönlich-autobiografischer Selbstdarstellung und Erinnerung. Eine zwischen persönlicher Erinnerung und Dokumentation changierende Funktion hat das Scrapbook als Spielform des diaristisch-privaten Albums – Mark Twain hat sich ein selbstklebendes Scrapbook patentieren lassen (vgl. Seidl 2013, S. 206 f. sowie Helfand 2008). Private Alben und Scrapbooks, Familien- und vor allem Fotoalben haben oft einen narrativen Grundzug. In einer ‚indexikalischen‘ Beziehung zur Welt außerhalb des Buchs kann ein Album stehen, wenn es sich als Spur einer Geschichte, einer Freundschaft, einer Reise etc. präsentiert, deren Verlauf sich ihm etappenweise eingeschrieben hat. Alben sind selbst dann, wenn dies nicht ihrer Primärfunktion entspricht, zudem auch Informationsträger und potenzielle Wissensmedien. Dienen sie doch u. a. der Sammlung von Aufzeichnungen und Informationen, von Skizzen und notierten Beobachtungen. Manchmal haben Alben einen enzyklopädischen Zug, beruhend auf Fülle und Varianz des jeweils Zusammengetragenen. Das Material präsentiert sich als Platzhalter zu dokumentierender Ereignisse, Erfahrungen oder Ideen, als metonymische Darstellung vielfältiger Gegenstände und komplexer Relationen, auch und besonders oft als Materialisierung privater Geschichten und Erinnerungen. Gerade in seiner Zeitlichkeit und Kontingenz ist das Album dazu disponiert, zur Darstellung einer ihrerseits zeitlichen und kontingenten Welt zu werden. Und in dem Maße, indem sich enzyklopädische Darstellung nicht mehr als Abbildung vorgegebener Ordnungsstrukturen versteht, erscheint die Flexibilität, die recht freie Gestaltbarkeit und  







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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

Potenzialität des Albums, das verschiedenste An- und Umordnungen zulässt, zur Darstellung von Welt besonders geeignet. Offenheit und Flexibilität der Form, Gliederung in kurze, relativ selbständige, dabei aber partiell verkettete Abschnitte sowie Gemeinschaftlichkeit der Produktion: diese Züge verbinden etwa für Wittgenstein das geschriebene ‚Album‘ mit enzyklopädischen Darstellungsformen und qualifizieren es dazu, „ein weites Gedankengebiet“ zu durchreisen, auf „langen und verwickelten Fahrten“ (Wittgenstein 2003, S. 7). In vielen Alben, vor allem in Scrapbooks, werden vertraute Dinge gesammelt. Briefalben, Poesiealben, Freundschaftsalben, Behälter von Erinnerungsstücken verschiedener Art stehen metonymisch für Kommunikations- und Lebensformen des Alltags. Als Metonymien des Alltagslebens sind die Inhalte der Alben selbst ein Stück Realität, nicht nur deren Repräsentationen. Sie dienen der Konservierung von Objekten, die des Aufhebens wert erscheinen (vgl. Liska 2013, S. 37). Aus dem Umgang mit verschiedenen Objekten des Alltagslebens entstanden, haben Alben Anteil an dessen Kontingenz, ja sie bilden sie förmlich ab (Pelz 2013). Dies akzentuiert Barthes: „A LBUM : vielleicht die Darstellung der Welt als unwesentlich, kontingent“ (Barthes 2008, S. 291).  





Leere und Füllung, Fehlbestände, Lücken und Abbrüche. Das noch ungefüllte Album bietet vielfältige Gestaltungsoptionen; es steht für Potenzialität, zumal sein Erscheinungsbild daran erinnert, dass und wie es allmählich zusammengestellt worden ist (Liska 2013, S. 36–39). Zunächst (meist) leer, steht die Seite des Albums in einem konstitutiven Spannungsbezug zu den Inhalten, mit denen sie sich füllt; schon der an die weiße (leere) Seite erinnernde Name des Albums deutet darauf hin. Auch wenn Alben sich meist von vorn nach hinten füllen, hat die zustande kommende Anordnung als solche doch einen kontingenten Zug, da die einzelnen Inhalte in der Regel weder einer strikten Chronologie noch einer anderen Systematik unterliegen. Es gibt keine lückenlose Füllung; die Zwischenräume zwischen den Inhalten machen die auch inhaltliche Lückenhaftigkeit des Gesammelten sinnfällig. Wer ein Album anlegt, weiß meist auch nicht, wann und womit es sich füllen wird. Bestehende Alben lassen sich umgestalten; in der Regel gibt es überhaupt keinen Zustand der Perfektion. Auch das Durchblättern des Albums durch den Betrachter gestaltet sich offen; keine Regel determiniert Abfolge und Schwerpunktsetzungen der Lektüre. Interessant an Alben ist neben dem, was sie enthalten, vielfach auch und gerade das, was sie nicht enthalten, was fehlt, was scheinbar oder tatsächlich entfernt wurde oder noch hinzuzufügen wäre. Leerstellen in Albumsbeständen haben, vor allem, wenn man sie als indirekte Repräsentationen von Abwesendem, Vergessenem, Gelöschtem, Ignoriertem etc. deutet, eine starke Suggestionskraft.  

Dekontextualisierung und Konstellation. Meist finden sich in Alben die Inhalte in einer nicht-hierarchischen Weise nacheinander platziert, abgestimmt auf ein nichtsystematisch erfolgtes Zusammentragen. Chronologische Anordnungsprinzipien kön-

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Album und Scrapbook

nen relevant sein, etwa, wenn sich im Album die Geschichte einer Reise, einer Familie etc. abbildet. Als Medien von Gesammeltem können Alben als ‚ähnlich‘ wahrgenommene Dinge, aber auch Disparates und Heterogenes enthalten. Manche Alben bzw. Albentypen sind dadurch charakterisiert, dass das in ihnen Gezeigte als Partikel oder Fragment aus einem nicht-präsenten Zusammenhang erscheint, so etwa Alben mit Text- und Bildfragmenten, mit Zeitungsausschnitten etc. Als zur Kreativität stimulierende „Dispositive“ (Bickenbach 2013, S. 107) kommen Alben der literarischen und künstlerischen Arbeit, aber auch schöpferisch-arrangierenden Umgangsformen mit Wissensgegenständen entgegen. Und sie laden ein zu Gestaltungsprozessen, die zwischen künstlerischer Kreation und sachbezogener Dokumentation oder Exemplifizierung changieren.  

Zeitlichkeit und Zeitstrukturen. Wie alle Sammlungen und ihre Medien, so unterliegt auch das Album der Zeitlichkeit. Solange das Album noch weiter gefüllt wird, ändert es seinen Charakter – zumal da es von keiner vorgegebenen Ordnung determiniert ist. Was immer hier integriert wird, verändert im Übrigen bereits seinen Charakter, indem es in räumliche Beziehungen zu anderen Objekten tritt (Liska 2013, S. 37). Indem das Album erweitert wird, kann es bereits dem Verfall ausgesetzt sein; einzelne Objekte können verschwinden, fortgenommen werden, herausfallen, verlorengehen. Vor allem Alben, die über längere Zeit sukzessive gefüllt werden, haben einen mindestens doppelten Zeitindex: Sie stellen zeitlich indizierte Gegenstände dar, und sie stellen mittelbar auch die Zeit des Sammelns und Albumgestaltens dar. Die verschiedenen Spielformen des Albums sind in literarischen Texten nicht nur thematisiert worden, sie stehen auch in jeweils spezifischen Analogiebeziehungen zu literarischen Schreibweisen und Darstellungsformen, so etwa zu diaristischen und autobiografischen, aber auch zu historiografischen und fremdbiografischen. Mit zunehmend häufigerer Integration visueller Anteile in literarische Texte halten auch visuell zu rezipierende Alben-Inhalte Einzug in literarische Kompositionen; dies gilt insbesondere für Fotos und faksimilierte Schriftstücke.  



Fotoalben als Familienalben. Das Fotoalbum ist eine besonders beliebte und hochsemantisierte Spielform des Albums; hier verbinden sich Konnotationen und Konzeptualisierungen des Albums mit denen der Fotografie. Vor allem das Familienfotoalbum gehört zu den populärsten, wenn auch mittlerweile schon etwas altmodischen Albumstypen. Oft wird es als dokumentarisches und narratives Medium wahrgenommen, oft bereits als Dokumentations- und Erzählmedium angelegt. In Fotoalben nimmt Familiengeschichte eine noch sinnfälligere Erscheinungsform an, als im einzelnen Familienfoto. Hier sind Vergleiche zwischen Bildern aus verschiedenen Zeiten möglich, hier altern Figuren vor den Augen dessen, der die Seite umblättert; hier sieht man der Familie beim Anwachsen, aber auch beim Mitgliederverlust zu. Das Fotoalbum, so scheint es zumindest, ist ein Medium des Familiengedächtnisses; in jedem Fall ist es dessen Sinnbild. Dies gilt nun allerdings auch für die Lücken zwi-

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

schen den Bildern, die als Metaphern dessen gelten mögen, woran sich niemand mehr erinnert. Solche Alben rufen vielfältige Erwartungen und Assoziationen auf; bei ihrer Gestaltung und Rezeption verbinden sich Konnotationen und Konzeptualisierungen des Albums mit denen der Fotografie. Wie Roland Barthes, der das Fotoalbum als Organisationsmodell diverser eigener Texte wählt, hat sich auch Wittgenstein für die Gestaltung von Fotoalben interessiert (s. u.; Kreicher 2013). Über die metonymische Verknüpfung des Familienalbums mit dem Konzept der Familienähnlichkeit wird das Familienfotoalbum zum wichtigen Reflexionsmodell im Kontext einer Philosophie der Ähnlichkeit (vgl. ebd., S. 317). Zwischen Wittgensteins Arrangements von Fotografien und seinen textkompositorischen Verfahren bestehen bemerkenswerte Affinitäten (ebd., S. 318). Dies gilt für den Arbeitsprozess selbst, sofern dieser sich rekonstruieren lässt, für das Auswählen, Sortieren und Umsortieren von Fotos und von Zetteln, es gilt für das jeweilige Resultat, die Gestaltung kettenartig verbundener Bild- und Text-Serien – und für den Verzicht auf hierarchisierende Gliederungen und entsprechende Paratexte (wie Überschriften und vereinheitlichende Begriffe). ‚Familienähnlichkeiten‘, nicht systematische und hierarchische Strukturen sind es, die Wittgensteins später Philosophie zufolge die einzelnen Gegenstände der Erfahrung und Vorstellung miteinander verbinden – respektive zu deren gedanklicher Verknüpfung stimulieren. ‚Familienähnlichkeit‘ ist das Prinzip, nach dem Sammlungen aufgebaut sind, die kein stabiles System von Begriffen und Kategorisierungen repräsentieren wollen, sondern deren Einzelelemente auf flexible und polyvalente Weise untereinander vernetzt sind. In diesem Sinn verweist das Konzept der ‚Familienähnlichkeit‘ auf ein der Episteme der Moderne affines enzyklopädisches Prinzip.  









Konzeptualisierungen des Albums (a): Walter Benjamin. Walter Benjamin2 hat das Format des Albums einerseits als im 20. Jahrhundert bereits altmodisches Format aus dem 19. Jahrhundert wahrgenommen, es andererseits aber gerade aus dieser historischen Distanz heraus als Reflexionsmodell entdeckt, insbesondere anlässlich seiner Gedanken über das Sammeln (vgl. Benjamin 1972b sowie Pelz 2013, S. 42). Alben gehören für Benjamin (der sich auf buchförmige Alben bezieht) zu den „Buchgeschöpfen aus Grenzgebieten“, die in keiner Bibliothek „fehlen dürfen“, und sie sind vor allem durch ihren Bezug zum individuellen Besitzer geprägt. Letztlich haben sie, so Benjamins pointierte These, nur für diesen einen Sinn, allenfalls noch für die Erben, denen er diese Alben vermacht (Benjamin 1972b, S. 395).  







Konzeptualisierungen des Albums (b): Ludwig Wittgenstein. Für Wittgenstein liegt, wie u. a. das Vorwort der Philosophischen Untersuchungen verdeutlicht, ein ent 

2 Benjamin berichtet in Das Pult von seiner Briefmarken- und seiner Ansichtskartensammlung (Benjamin 1972a, S. 280).  

Album und Scrapbook

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scheidender Akzent auf Fragen der Anordnung seiner Gedanken, und zwar einer Anordnung, die deutlich auf sich aufmerksam macht. Mit dem Bild des Albums verknüpft sich implizit der Hinweis auf den Netzwerkcharakter der vorgetragenen Inhalte, auf die Möglichkeit von Kreuz- und Querlektüren und auf die Polyphonie des Textes insgesamt (vgl. Kramer/Pelz 2013b). Wenn Wittgenstein 1945 seine Philosophischen Untersuchungen durch die Bemerkung charakterisiert, dieses Buch sei „eigentlich nur ein Album“ (Wittgenstein 2003, S. 8; vgl. Pichler 2004), dann wird damit ein Darstellungskonzept umrissen, das nur vordergründig als defizitär gegenüber systematischen und geschlossenen Gegenkonzepten erscheint: Ein geschriebenes ‚Album‘ enthält „kurze Absätze“, die sich manchmal zu kettenartigen Strukturen fügen, manchmal auch sprunghaft „von einem Gebiet zum andern“ führen; die Darstellung bewegt sich „kreuz und quer, nach allen Richtungen hin“ durch ein „weites Gedankengebiet“ (Wittgenstein 2003, S. 7). Dieses „Gedankengebiet“ selbst erzwingt den Verzicht auf die Suggestion eines systematischen Vorgehens ebenso wie auf die einer perfekten Darstellung des Gemeinten; Wittgenstein spricht auch von einer „Menge von Landschaftsskizzen“ (ebd.) sowie von wiederholten Annäherungen an bestimmte Punkte von wechselnden Richtungen aus. Und wenn Wittgenstein, seine Vorrede beschließend, versichert, er „hätte gern ein gutes Buch hervorgebracht“ (ebd., S. 9), wenn er das ‚Album‘ als demgegenüber vorläufiges und defizitäres Resultat charakterisiert, dann sollte darüber doch nicht übersehen werden, welche Stärken in der Flexibilität des Albums liegen und dass Wittgenstein diese für seine Philosophischen Untersuchungen souverän nutzt. Die Formel „nur ein Album“ erscheint als Bescheidenheitsrhetorik, und einen positiven Hinter- oder Gegensinn hat auch der Hinweis darauf, dass das vorliegende ‚Album‘ (wie viele konventionelle Alben) letztlich nicht einen Urheber habe, sondern viele; er wolle, so Wittgenstein, die vorgetragenen Bemerkungen nicht als sein „Eigentum beanspruchen“ (ebd.), berührten sie sich doch mit vielem, „was Andre heute schreiben“ (ebd.).  





Buch versus Album: Roland Barthes. Mallarmé hat im Album das altertümliche Gegenmodell zum Buch gesehen (Barthes 2008, S. 290). Roland Barthes nimmt in sein Vorlesungsmanuskript über Die Vorbereitung des Romans u. a. ein Kapitel über die „Typologie des Buchs“ auf (ebd., S. 279–284). Hier unterscheidet er „Zwei phantasierte Formen: Das Buch/das Album“ und stellt sie (unter anderem in Anlehnung an Mallarmé und die Mallarmé-Forschung) einander unter formalen Aspekten gegenüber: „Das Buch [nach Scherer]: ‚durchkonstruiert und wohldurchdacht‘“, „das Album: ‚Sammlung zufälliger Inspirationen‘“ (ebd., S. 285). Das Buch, von Barthes hier im Sinne Mallarmés verstanden, besitzt eine streng durchkomponierte Struktur, und dieser Struktur werden die Inhalte unterworfen. Anders das Album: Es ist (mit Mallarmés Worten) „hingestreut und bar jeder Architektur“ (zitiert nach Barthes, ebd., S. 290). Seine Gestalt unterliegt den Kontingenzen des Findens; es gibt keine die Darstellung beherrschende Form; Unplanbares und Unvorhersehbares bestimmt sein späteres Aussehen. Alben lassen sich erweitern, umgestalten, modifizieren; in der  









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Regel gibt es keinen Zustand der ‚Perfektion‘. Barthes’ Notizen zum Album umreißen den Zusammenhang von Genese und Form des Albums.3 Wie bei Wittgenstein, so erscheint auch bei Barthes die Kollektion relativ selbständiger Einzelartikel als bevorzugte Schreibweise. Haben die Einträge in Wittgensteins ‚Album‘ Nummern, so folgen sie bei Barthes mehrfach der Alphabet-Reihe, allerdings in einer flexiblen Weise, die an die Kontingenzen bei der Gestaltung von Alben erinnert. In der Entscheidung zwischen Buch und Album artikulieren sich unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Projekt, die Welt in ihrer Totalität abzubilden. Für den Produzenten eines Buchs ist, Barthes’ Differenzmodell zufolge, die Idee einer Abbildung des Kosmos leitend, während die Welt für den Parteigänger des Albums keine absolute Ordnung besitzt.4 Viele moderne Autoren haben – was unter anderem Barthes’ Vorlesungstext selbst illustriert – das Album als offene literarische Form geschätzt.  



Texte über Alben, literarische ‚Alben‘. Die verschiedenen Spielformen des Albums sind in literarischen Texten nicht nur thematisiert worden, sie stehen auch vielfach in (jeweils spezifischen) Analogiebeziehungen zu literarischen Schreibweisen und Darstellungsformen, so etwa zu diaristischen und autobiografischen, aber auch zu historiografischen und wissensvermittelnden. Mit zunehmend häufigerer Integration visueller Anteile in literarische Texte halten auch visuell zu rezipierende AlbenInhalte des Öfteren Einzug in literarische Arrangements; dies gilt insbesondere für Fotos und faksimilierte Schriftstücke. In literarischen Texten der vergangenen Jahrzehnte spielt das Album als Motiv, aber auch als Organisationsformat von Texten vielfach eine prägende Rolle.5 Es reiht sich damit unter andere, ähnlich konnotierte Stichworte wie ‚Museum‘ oder auch ‚Wörterbuch‘ ein (Ugrešić 2000, besonders das Kapitel „Die Poetik des Albums“, S. 23–48 sowie Ugrešić 1994). Essayistisch-reflexive  

3 „[…] 1. Situationsbedingt. A LBUM = hängt von Umständen ab. 2. Das Diskontinuierliche. Entweder Verlauf von Tag zu Tag (sämtliche Formen des Tagebuchs) oder Anthologie verstreuter Stücke (Gedichtsammlung) → Fehlen einer Struktur: künstliches Ensemble von Elementen, deren Ordnung, deren Anoder Abwesenheit zufällig ist → Ein Albumblatt läßt sich willkürlich hin- und herschieben oder hinzufügen; absolut gegensätzlich zum Verfahren des B UCHES […]“. Barthes 2008, S. 290. 4 „1. Das B UCH ist, seiner erhabensten Auffassung nach (Dante, Mallarmé, Proust), eine Darstellung des Universums; das Buch deckt sich mit der Welt. Das B UCH wollen, ‚durchkonstruiert und wohldurchBUM dacht‘, heißt ein Eines, gegliedertes, hierarchisch geordnetes Universum entwerfen […]./2. Das A LLBUM stellt im Gegenteil auf seine Weise ein nicht-eines, nicht hierarchisiertes, zerfasertes Universum dar, ein bloßes Gewebe von Kontingenzen, ohne Transzendenz“. Barthes 2008, S. 294. 5 Vgl. u. a. Guibert 1993, S. 65f.; Beyer, Marcel 2010; Maron 2001. Am Format Album orientiert sind auch die mit reproduzierten Fotos gestalteten Bücher Sebalds. Hans Magnus Enzensberger publiziert eine eigene Ideen- und Projekte-Sammlung unter dem Titel Album (Berlin 2011a); vgl. auch Enzensberger 2011b.  







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Album und Scrapbook

Texte zu gesammelten Wissensgegenständen, in autonome, wenn auch thematisch verkettete Einzelartikel gegliedert, präsentieren sich gelegentlich als ‚Album‘, manchmal auch unter Integration eines eigenen Foto-Albums (Stiegler 2006). Und auf Kompilationen beruhende Porträts bestimmter Zeiträume – etwa einzelner Jahrzehnte – werden als ‚Alben‘ publiziert (vgl. Ankowitsch 2000 und Ankowitsch 2002). Die Fragen nach der Provenienz des im ‚Album‘ zusammengestellten Materials und nach seinem ‚Zusammenhang‘ respektive nach den Grenzen herstellbarer Kohärenz laufen dabei zumindest unterschwellig stets mit. Bei Hans Christian Andersen geht es mehrfach um Alben, so in Das stumme Buch (Andersen, Märchen, 1959/1, S. 505– 507). Ein Toter ohne Angehörige wird beigesetzt; sein Leben verlief einsam und traurig. Nur an einem Buch hing sein Herz zuletzt noch: einem herbariumartigen Album der Erinnerungen, welche sich an alle möglichen pflanzlichen Materialien knüpfen, und das er mit ins Grab gelegt zu bekommen wünscht. Des Paten Bilderbuch (Andersen 1959/2, S. 478–512) ist ein Buch, das an das Leben einer ganzen Gemeinschaft erinnert. Der Text ist auf eine dem geschilderten Bilderbuch entsprechende Weise strukturiert – zusammengeschnitten aus Episoden, die als Zitate aus dem Mund des erzählenden Paten wiedergegeben und durch Bilder illustriert werden (vgl. ebd., S. 178). Jonathan Safran Foers populärer Buchroman Extremely Loud and Incredibly Close (2005) suggeriert, er beruhe auf dem Scrapbook des Ich-Erzählers und Protagonisten Oscar, von dem im Roman auch mehrfach explizit die Rede ist – als Darstellung von „Stuff that happened to me“ (Foer 2005, S. 42). Nicht nur die in den Roman integrierten Bilder wirken wie Scrapbook-Bestände, sondern auch die Texte, die der Fiktion nach nicht von Oscar selbst stammen und teils in (pseudo-)faksimilierter Form sichtbar werden.  















Poetiken des Albums. In der jüngeren Literatur sind verschiedene Poetiken des Albums narrativ entwickelt und in essayistischer Form erörtert worden. Dubravka Ugrešić hat in ihrem Buch Das Museum der bedingungslosen Kapitulation solchen Fragen einen längeren Abschnitt unter dem Titel „Die Poetik des Albums“ gewidmet, in der das Fotoalbum ihrer Mutter zum zentralen Anlass des Reflektierens über Alben, Erinnerungen, Ordnungsversuche und die Frage nach der Orientierung im eigenen und im fremden Leben wird (Ugrešić 2000, S. 23–48, vgl. insbes. S. 38f.). Ihr Buch, aus Einzelabschnitten zusammengestellt, hat selbst eine an Alben angelehnte Struktur; die zusammengetragenen Notizen und Reflexionen sind aus verschiedenen Zeitperspektiven formuliert und betreffen heterogene Gegenstände. Das Fotoalbum lässt sich variantenreich als Strukturmodell für Erzählungen über Zeitgeschichte und Lebensgeschichten nutzen, in denen sich ein Stück historischer Welt in seiner Fülle und Diversität bespiegelt. Teilweise werden die thematisierten Fotos dabei als visuelle Bestandteile in die Texte integriert, analog zu La chambre claire von Barthes (vgl. E 1.22), einem auf das Format des Fotoalbums verweisenden Buch; teilweise werden sie durch typografische Platzhalter und verbale Beschreibungen repräsentiert. Ob sichtbar oder unsichtbar – sie haben Anteil an der latent enzyklopädischen, wenn auch zugleich  





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ostentativ fragmentarischen Darstellung von Welt. Foto-Album-Romane sind vor allem im Zeichen intensivierter Diskurse über die memoriale und postmemoriale Dimension literarischer Texte zu beliebten Organisationsmodellen literarischer Werke geworden. Literarische Erzähler und ihre Alben. Auf einen Erzähler, der an einem Familienfotoalbum entlangerzählt, treffen wir bei Günter Grass (Die Box, Göttingen 2008), der sich anlässlich der Bilder an die auf ihnen dargestellten Personen erinnert, sie gleichsam mittels der Bilder aus der Vergangenheit heraufbeschwört. Gegen (fiktive) Familienbilder anerzählt wird bei Thomas Bernhard (Auslöschung, Frankfurt a. M. 2009), wo der Ich-Erzähler in der Starrheit, Leblosigkeit und Maskenhaftigkeit der Fotos die Verfassung seiner verhassten Familienmitglieder sinnbildlich gespiegelt sieht. In Reinhard Jirgls Roman Die Stille (München 2009; vgl. E 1.41) sind die einzelnen Kapitel den Fotos eines imaginären Familienalbums zugeordnet, wobei der Erzähler auf manche Bilder mehrfach zurückkommt. Die Bilder selbst sieht man hier nicht, doch jeweils am Kapitelanfang finden sich typografische Platzhalter sowie Angaben zu den ‚abgebildeten‘ Personen. Jirgls historischer Familienroman besitzt einen enzyklopädischen Zug; die historische Wirklichkeit Deutschlands im 20. Jahrhundert wird am Leitfaden der narrativ evozierten Bilder und anderer Fundstücke dargestellt, die wie in ein Album eingeklebt wirken. Über die Beziehungen zwischen den (für den Leser unsichtbaren) Fotos und den jeweiligen Kapitelinhalten sowie über die der Fotos untereinander muss der Leser sich allerdings seine eigenen Hypothesen bilden, denn die Kapitel sind keineswegs einfach als narrative Entfaltungen der jeweiligen Bildszenen konzipiert, obwohl dieselben Personen auf den Bildern und in den Kapiteln eine Rolle spielen. Das imaginäre Album ist zudem lückenhaft, die Bilder selbst wird man sich als klein, wohl auch als vielfach unscharf denken müssen. Ronit Matalon lässt in ihrem Roman Seh im hapanim elenu (1995; engl./dt. 1998; vgl. Teil E 1.29) die Geschichte einer fiktiven Familie durch ein junges Mitglied dieser Familie erzählen – wiederum an einem Fotoalbum entlang. Den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind in den meisten Fällen Reproduktionen historischer Familienfotos, die das im Folgenden Erzählte nicht nur zu illustrieren scheinen, sondern dabei von der Erzählerfigur sogar explizit beschrieben werden. Gelegentlich jedoch fehlen Fotos in der Kollektion. Die Erzählerin berichtet nicht nur, wann, wo und wie die noch vorhandenen Fotos zustande kamen, sie erklärt auch, warum das Album Lücken aufweist. Basierend auf realen Familienalben, spielt der Familienroman Matalons durch die Einbeziehung der faksimilierten Bilder mit der Grenze zwischen historischer Dokumentation und Fiktion. Bilder aus der eigenen Familiengeschichte werden von literarischen Autoren vor allem dann als konkret sichtbare Reproduktionen in ihre Erzählungen integriert, wenn familienbezogene und autobiografische Erinnerungen Hauptgegenstand des Erzählens sind. Dies gilt für Gerhard Roths autobiografisches Buch Das Alphabet der Zeit (Frankfurt a. M. 2012) wie für Peter Henischs Familienerzählung Die kleine Figur meines Vaters (München 2008), zwei Texte über Vater-Sohn-Beziehungen, in denen  







Album und Scrapbook

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die Vertreter der jüngeren Generation sich mit Fotos auseinandersetzen, die die ältere Generation gemacht hat. In Monika Marons biografischer Familienerzählung Pawels Briefe (Frankfurt a. M. 2001) sind neben Familienfotos auch andere faksimilierte Dokumente integriert.  

Subjektivität, Kontingenz und Grenzen des Erinnerns. In diesen und anderen Texten verbindet sich die Thematisierung realer oder fingierter Erinnerungen mit Reflexionen über die Subjektivität und Perspektivik sowie über die Grenzen des Erinnerns. Im thematischen Zentrum stehen vielfach postmemoriale Rekonstruktionen einer ungreifbar gewordenen Vergangenheit und das letztliche Scheitern eines jeden Versuchs, diese zu revozieren. Fotos, scheinbar Fenster zur Vergangenheit, verweigern sich vielfach den Erwartungen, die ihnen die Erzähler von Familiengeschichten entgegenbringen. Und doch kommt es dann auch zu Effekten der Art, wie sie Roland Barthes in La chambre claire beschreibt (vgl. E 1.22): zu ‚punktuellen‘ Berührungen durch die dargestellte Welt, die an Intensität nicht verlieren, wenn sich aus der reflexiven Distanz ihr halluzinatorischer Charakter enthüllt (Barthes 1995; vgl. Teil E 1.22).  

Das Album als künstlerisches Modell. Nicht nur Schriftsteller arbeiten mit dem Format des Familienfotoalbums als einem Reflexionsmodell und als einer teilweise konkreten Materialbasis, sondern auch bildende Künstler. Ilya Kabakovs Arbeit L’Album de ma mère/My Mother’s Album/Album meiner Mutter (1995) und Andrej Bitows Georgisches Album (Untertitel: Auf der Suche nach Heimat, Frankfurt a. M. 2003), nutzen Formen und Semantiken des Albums als eines Speichers von heterogenen Informationen, Memorialobjekten und Konstruktionsmaterialien. Diverse Arbeiten Christian Boltanskis basieren auf Formen und Materialien von Fotoalben. Zentrale Themen sind die Zeit und der Tod, Erinnerung und Vergessen. Boltanskis Bucharbeiten sind wie seine Installationen oft meta-fotografische Werke (vgl. Boltanski 2001). Fotos von Menschen, meist Fotoporträts, stehen dabei im Zentrum. Manche der Installationen erinnern an Familienalben und zitieren die Form dieses materialisierten Familiengedächtnisses. Ein Beispiel dafür ist die Fotoinstallation Album de photos de la famille D. entre 1939 et 1964 (1971): Rund 180 Schwarzweiß-Familienfotos aus dem Besitz von Boltanskis Freund Marcel Durand wurden abfotografiert, geordnet und ohne Kommentar aufgehängt. Die Installation steht für ein beliebiges Familiengedächtnis, dessen Metapher das Album ist (vgl. Boltanski in Beil 2006, S. 49–50). Indem er erkennbar alte Fotos bearbeitet und installiert, weist der Künstler auf die Zeitspanne hin, die zwischen dem aufgenommenen Moment und der Gegenwart des Betrachters liegt. Unschärfen und andere visuelle Verfremdungen unterstreichen diese Suggestion einer Flüchtigkeit des Abgebildeten trotz oder sogar wegen des Bildes.  



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Hans Magnus Enzensberger: Album. Enzensbergers weiß eingebundenes Album (Berlin 2011a) erschien als Pendant eines anderen, schwarzen Buchs: Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin (Berlin 2011b). Dieses Buch enthält keine Abbildungen; es repräsentiert allerlei ‚Flops‘, gescheiterte literarische Ideen und Projekte. Als Ansammlung von Fehlschlägen hat es Ähnlichkeiten mit einer Sammlung von Missbildungen oder Kuriosa; der Verzicht auf Bebilderungen macht sinnfällig, dass es sich um nicht-realisierte, also um ‚unsichtbar‘ gebliebene Projekte handelt. Dieses Buch ist ein Ideen-Theater, für Enzensberger vergleichbar mit dem deutschen Theater, auf dem man nachdrücklich alle möglichen menschlichen Organe ausstellt (also sichtbar macht), ausgenommen das Gehirn, von dem den Zuschauern „häufiger Ausscheidungen vorgeführt werden als Gedanken“ (Enzensberger 2011a, S. 226). Komplementär dazu setzt das Album auf Sichtbarkeit. Es enthält zahlreiche Abbildungen, stellt zudem aber Schriftbildlichkeit in vielfältigen Erscheinungsformen aus. Spielerisch betreibt die Schrift immer wieder Mimikry an das, worum es da jeweils geht, passt sich in Größe, Form und Duktus ihren Umgebungen an, beginnend mit dem Bild einer doppelseitigen Schiefertafel, die in Kreideschrift den Namen des Autors und des Buchs zeigt, gefolgt von einem ‚dahingekratzt‘ wirkenden „Scrap“ zu Beginn des eigentlichen Buchs. Als Kompendium verschiedener Schriftarten setzt das Album Enzensbergers Anthologie Das Wasserzeichen der Poesie mit anderen Mitteln fort (Thalmayr [d. i. Enzensberger] 1985). Stellt sich das Sammeln im Album als dessen zentrales Thema selbst aus, so umfasst dies unter anderem eine Tendenz zur Listenbildung, die sich wiederum als erstes in einer Selbstbeschreibung des Buchs manifestiert. Eingangs versammelt das Autor-Ich die verschiedensten Ausdrücke, die ihm zu seinem Buch zu passen scheinen, darunter „mixtum compositum“ und „commonplace-book“ (Enzensberger 2011a, unpag.).  



Peter Below: Blitzableiter >>>>>> horizontal! Eine Retro-Vision. Kitzingen 2012 [Künstlerbuch]. Belows Künstlerbuch, 2012 in limitierter Auflage publiziert, gleicht in Form und Material einem Album für Fotos oder andere Sammlerstücke: Die querformatigen Seiten bestehen aus beidseitig schwarzem, stabilen Karton von albumtypischer Größe. Bedruckt sind die Seiten – jeweils nur recto – mit gesammelten Bildund Textmaterialien: mit Fotos, mit Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften, mit Prospekt- und Werbematerial. Diese Materialien sind zurechtgeschnitten, zu Ensembles collagiert und als Bestandteile von Collagen für das Buch abfotografiert worden. Neben den Bildern und Bildausschnitten finden sich verschiedene Textausschnitte, zum Teil reprografierte Partikel aus Druckwerken, zum Teil Texte, Graffiti, Zeitungsseiten. Gelegentlich stößt man beim Blättern auf Texte, die aus Einzelbuchstaben zusammengeschnitten wurden (analog zu anonymen Briefen). Die Textanteile des Künstlerbuchs lassen sich zu den ihnen benachbarten oder mit ihnen zusammenmontierten Bildern in hypothetische Beziehungen setzen, indirekt aber auch zum Buch insgesamt. Zu den reproduzierten Ausschnitten eines gedruckten Textes gehört u. a. eine Passage über das Erinnern – und dessen phantasmagorischen Cha 







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rakter.6 Belows Buch ist in besonderer Weise flexibel: Es hat zwar ein erkennbares Cover mit Künstlernamen, Buchtitel und Titelillustration, aber die Spiralbindung gestattet es, jedes beliebige Blatt als Deckblatt zu behandeln. Die Coverseite findet in der letzten Seite (also in der hinteren Umschlagseite respektive, bei aufgeklapptem Buch, in der Nachbarseite) ihre genaue Spiegelung. Dies signalisiert nicht nur den reflexiven Charakter des gesamten Buchs (seine Funktion, ein Œuvre zu bespiegeln), sondern auch die Möglichkeit, es in zwei gegenläufige Richtungen zu lesen. Gezeigt werden motivisch und thematisch disparate Dinge: Szenen aus dem thematischen Umfeld von Gewalt, Tod und Zerstörung, Defektes, Zerbrochenes und Trümmer, aber auch Motive aus der Sphäre der Kunst, des Schönen (und sei es des von der Mode für schön Deklarierten) sowie aus dem Reich der Tiere. Manche der in die Collagen integrierten Textfragmente scheinen Schlüssel anzubieten, anhand derer sich das Ganze lesen ließe: „Fusion ins Ungewisse“, „Teure Trümmer“, „Verflochtene Welt“, „Vervielfältigung der Welten“ (ebd.) – aber als Bestandteile eines Albums stehen sie samt den sie umgebenden Bildmotiven erkennbar in lockerem, nichtsystematischem Zusammenhang. Sollte es möglich sein, ein Prinzip zu bestimmen, nach dem die hier versammelten Text- und Bildmaterialien ausgewählt wurden, so ist es wohl vor allem ein individuell-subjektives, ein Interesse des Künstlers an den repräsentierten Bildwelten, den zitatweise angesprochenen Themen. Insofern ließe sich das Album als eine buchförmige mise en abyme seines Œuvres betrachten. MSE  

Bewegungsbücher: Wissensvermittler, Spielzeuge, Kunstwerke Bewegungsbücher (movable books) der Art, wie sie vor allem im 19. Jahrhundert für Kinder und Sammler produziert wurden, beeinflussen Beispiele neuerer Buch-Literatur und künstlerische Buchwerke gelegentlich durch ihre Konstruktionsformen, oft aber nur indirekt. Zwar sind in viele Beispiele der neueren Buch-Literatur bewegliche Elemente integriert, aber der Einsatz papiermechanischer Zug-, Schub- oder Drehvorrichtungen spielt dabei nur selten eine Rolle – eher schon der von auffaltbaren und ausklappbaren Blättern. Beziehungen zwischen den Spielformen des Bewegungsbuchs und der Literatur bestehen jedoch auch auf anderen Ebenen, und sie werden variantenreich genutzt: Erstens werden Bewegungsbücher schon seit dem 19. Jahrhundert dazu genutzt, bereits bestehende Texte buchgestalterisch in einer Weise zu  





6 „Glück durch die Restitution des nie Dagewesenen – so hat Walter Benjamin den Vorgang des Erinnerns einmal beschrieben, bei dem stets ein wenig in der Schwebe bleibt, ob das, was bisweilen nur für Momente wieder in der Vorstellung aufblitzt, je tatsächlich eine Entsprechung in der Realität hatte.“ (Below 2012, unpag.)  

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inszenieren, die die Figuren und Szenerien dieser Texte in Bewegung versetzt. Beliebt sind zunächst vor allem Märchenstoffe und eigens für Kinder verfasste Geschichten, aber auch literarische Textvorlagen erfahren entsprechende Umsetzungen. Die Relationen zwischen Text- und Bildanteil variieren dabei. In der Regel sind jedenfalls Texte und Bilder beteiligt, wobei letzteren eine prägende Funktion zukommt. Die Textanteile können den kompletten Ausgangstext bieten, aber auch gekürzte Versionen, Auszüge oder Nacherzählungen. Zweitens materialisieren sich in Bewegungsbüchern – wiederum maßgeblich auf Bildern und Bildsprachen beruhend – Imaginationen, wie sie in literarischen Texten beschrieben werden, auf nunmehr visualisierte Weise. Dies betrifft einzelne literarische Sujets und Motive, aber auch das Bewegungsbuch als solches.  



Ästhetische Effekte. Bewegungsbücher bieten zum einen die Möglichkeit, in ihren papierenen Szenerien Dinge geschehen zu lassen, wie sie physisch ansonsten kaum oder gar nicht beobachtbar sind: plötzliche, wie magische Verwandlungen und Szenenwechsel, stark verfremdende Überraschungseffekte, instantanes Auftauchen oder Verschwinden – in solchen und anderen Momenten tritt die Tricktechnik in den Dienst poetischer Phantasien und gibt ihnen sichtbare Gestalt. Zum anderen ist das Bewegungsbuch als ein scheinbar lebendiges Artefakt aus Papier die exemplarische Materialisierung einer ästhetischen Leitidee – der Vorstellung nämlich, dass sich Artefakte unter den Händen geschickter Künstler in vitale Wesen verwandeln können. Gestalten scheinen lebendig zu werden, Gesten auszuführen, ihre Münder zu öffnen – und sei es auch auf die immer gleiche Weise. Ein dritter Typus von Literaturbezug findet sich in solchen Bewegungsbüchern materialisiert, die sich der Vermittlung von Informationen über literarische oder literaturbezogene Gegenstände und Themen widmen, um diese den Nutzern vertrauter und anschaulicher zu machen. So dienen Bewegungsbücher sinnlichen Inszenierungen literarisch entworfener Welten und Teilwelten, der Vermittlung von Bildern und Episoden, wie sie in literarischen Texten vorkommen. Daneben oder in Verbindung damit informieren sie mit bildlichen, textlichen und papiermechanischen Mitteln auch über literarische Autoren, deren Leben und deren jeweilige kulturelle Kontexte.  





Typen des Bewegungsbuchs. Zu den Bewegungsbüchern gezählt werden auch solche Bände, die im Vergleich mit dem konventionellen Kodex zusätzliche Dimensionen von Beweglichkeit besitzen, weil man sie nicht einfach nur auf- und zuklappen und ihre Blätter umwenden kann, sondern bedingt durch papiermechanische Konstruktionen auch Teile der Buchseiten in spezifische Bewegungen versetzt werden können. Dies geschieht mittels verschiedener Ausfaltmechanismen, durch das Bedienen von Laschen, Schiebe- und Zugvorrichtungen etc. Es gibt viele Formen, Bewegungsbücher zu konstruieren. Wichtig ist, wie es zur jeweiligen Bewegung des Buchs bzw. zur Bewegung von Buchteilen im Buch kommt. Grob zu unterscheiden sind hier zum einen solche Papierkonstruktionen, bei denen der Nutzer selbst in spezifischer Weise aktiv

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werden muss, etwa, indem er Laschen, Fäden, Zugvorrichtungen oder Ähnliches bedient – und zum anderen solche Konstrukte, bei denen das bloße Umblättern der Buchseiten ausreicht, um die Papiermechanik des Buchs so in Bewegung zu versetzen, dass es zu Verwandlungsprozessen kommt – insbesondere zum Aufklappen dreidimensionaler Papierkonstruktionen aus den Flächen der Buchseiten heraus. Das klassische Bewegungsbuch, wie es in Fortführung älterer Ansätze vor allem im 19. Jahrhundert in vielen Varianten realisiert wurde, gehört zur ersteren Gruppe: Hier bedarf es einer gezielten Aktivität des Nutzers, der dadurch aber auch Einfluss auf die mittels der Bucharchitektur performierten Bewegungsabläufe nimmt, beginnend bei der Entscheidung, die Buch-Teile beim Durchblättern überhaupt in Bewegung zu versetzen. Die zweite Gruppe wird normalerweise durch den Begriff „Pop-up“ charakterisiert: die buchinternen Papiermechanismen ‚poppen auf‘, sobald man die Seiten umwendet (vgl. Teil D, Art. „Pop-up“ sowie Starost 2005). Der Nutzer hat hier weniger Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume; allerdings kann er Geschwindigkeit, Häufigkeit und Rhythmus der Buch-Bewegung bestimmen. Beide Spielformen des beweglichen Buchs setzen meist auf Überraschungseffekte, indem sie durch plötzliche Verwandlungen Unerwartetes erscheinen lassen; viele sprechen zudem durch Komplexität und Raffinement ihrer Papierkonstruktionen den ästhetischen Sinn des Nutzers an. Das bewegliche Spiel- und Beschäftigungsbuch für Kinder als ein relativ junger, gern auch für „Lehre und Erziehung“ konzipierter Buchtypus (vgl. dazu Krahé 1974), appelliert unter anderem an den Tastsinn und die Motorik der Nutzer (vgl. zu „Kinderbüchern“ Moldehn 1996, S. 190; Moldehn verwendet diesen Terminus für „Buchwerke, die sich ausdrücklich gegen das in der bildenden Kunst verhängte Berührungsverbot aussprechen und nach spielerischer ‚aktiver Aneignung‘ verlangen“). Das Pop-up entsteht erst um 1930, während das ältere Bewegungsbuch eine lange Geschichte (und Vorgeschichte) hat (vgl. Montanaro online).  







Zur Geschichte des Bewegungsbuchs. Mit mittelalterlichen Sachbüchern beginnt die Geschichte der Bewegungsbücher, insbesondere mit Kompendien medizinischen und astronomischen Wissens. In der frühen Neuzeit setzten Wissenskompendien und Atlanten fort, was die mittelalterlichen Buchgestalter begonnen haben. Frühe Bewegungselemente finden sich in einem Manuskript (Chronica Majora) des Mönchs Matthew Paris (13. Jahrhundert): Die hier angebrachten, kreisförmig beweglichen Papierelemente können rotieren. Weitere Beispiele mit beweglichen (drehbaren) Elementen im 15. Jahrhundert bieten z. B. Handschriften von Ramon Llulls Ars magna. Im späten Mittelalter schafft man anatomische Abbildungen des menschlichen Körpers in Form gefalteter Papiereinlagen, teils mit verschiedenen einander überlagernden Papierschichten (enthalten in Handschriften). Petrus Apianus verwendet in seiner (als erstes Buch mit beweglichen Elementen geltenden) Cosmographia (1524) drehbare Scheiben; diese illustrieren den Gang der Gestirne. Apianus’ Astronomicum Caesareum, erschienen 1540 in Ingolstadt, enthält diverse farbige bewegliche Elemente, die dazu dienen, die Position des Mars zu unterschiedlichen Zeiten zu bestimmen.  





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Jacques Bassantins Astronomique discours (Lyon 1557) bietet ein Kreisdiagramm mit beweglichen Teilen, das dazu dient „pour truver le vray lieu de Venus au Zodiaque“ (vgl. Opie/Opie 1975, S. 62). Von Gallucci stammt ein Coelestium Corporum (Venedig 1603): Es enthält 51 Diagramme mit Volvellen (nutzbar zur Berechnung der Mondphasen) und beweglichen Zeigern. Belehrenden Zwecken dienten auch Bücher zu anatomischen Themen. Doch nicht alle dieser Bücher waren streng wissenschaftlich, zumindest verbanden sich Information und visuelles Spektakel meist eng. Andreas Vesalius publizierte 1538 ein Werk aus übereinandergelegten Papierflächen, das Einblick in die Tiefe des menschlichen Körpers bot. Beichtbücher des Barock laden dazu ein, seine dort vorgedruckten Sünden durch Schnitte zu markieren, um sie bei der Beichte vorzubringen (dazu Lyotard 1974, S. 127). Das Beichtbuch des Paters Christophe Leutbrewer (1751), La Confession coupée (1677) erfährt viele Neuauflagen bis zum mittleren 18. Jahrhundert: Die Buchseiten mit untereinandergedruckten Sünden-Listen wurden in Streifen geschnitten; dies erleichtert dem Leser die Markierung und Mitteilung der von ihm zu beichtenden Sünden. (Das Format heißt heute auch ‚mix-and-match book‘.) Manche beweglichen Bücher dienen als spielerische Orakel. Beweglich ist z. B. George Withers’ Collection of Emblemes (1635): Durch „lotteries“ und drehbare „indexes“ soll der Leser hier Aufschluss über seinen Charakter bekommen. Analog gestaltet ist Nathaniel Crouchs Delights for the Ingenious (1684).  







Breitere Nutzergruppen. Im 18. Jahrhundert entstehen bereits diverse besonders schöne, kostbare Kinderbücher. Im 19. Jahrhundert vertiefte sich das Interesse an solchen Büchern – u. a. sozialgeschichtlich bedingt: Das Zeitalter des Bürgertums ist auch das der aufblühenden Kinder-Kultur – und zugleich das Zeitalter wohlhabender Sammler. Zumal die Buchmechanik um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen deutlichen Aufschwung erfährt, bedingt durch neue Bedürfnisse und Interessen der bürgerlichen Kultur (vgl. u. a. Kat. Ausst. 2010a, S. 4). Diese interessiert sich verstärkt für Unterhaltungs- und Luxusartikel sowie für Objekte zur Unterhaltung und Belehrung von Kindern. Das 19. Jahrhundert bringt insgesamt eine Fülle von Buchformen hervor. Es entstehen verschiedenste Varianten des Spielbuchs, die über die Lektüre von Texten und die Betrachtung von Bildern hinaus zu Formen kinetischer Rezeption einladen – als Klapp-, Falt-, Verwandlungs- oder Aufstellbuch, dessen Buchkörper zu bestimmten Bewegungen stimuliert und sich dabei selbst bewegt.  



















Lebensbegleiter, Unterhaltungs- und Lernobjekte. Viele Bücher mit beweglichen Teilen dienen heute weiterhin der Wissensvermittlung, wenn auch meist auf populärspielerische Weise. Manchmal ist der Übergang zum Spielbuch fließend, vor allem dann, wenn die an alten Vorbildern orientierten Bewegungsbücher von Gegenständen der Imagination, von phantastischen Wesen, fiktiven Welten und fingiertem Wissen handeln. Beliebte Unterhaltungsobjekte sind mobile Bücher schon im 19. Jahrhundert. Um 1820 werden die „Toilet books“ beliebt: In den visuell gestalteten Büchern müssen Papierflächen angehoben werden, um moralische Hinweise zu lesen, die un 

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ter ihnen liegen (z. B. William Grimaldi, 1751–1830: The Toilet (1821), Abb. in Trebbi 2012, Faltbogen). Zur selben Zeit werden auch Bögen mit Papierfiguren und ausschneidbaren Kostümen populär, Jean-Pierre Brès’ Livre joujou avec figures mobiles (1831) ist ein frühes Buch mit Papierstreifen, an denen man ziehen kann, um die Bilder im Buch zu verändern (Abb. ebd., S. 10). Léopold Chimani (Österreich, um 1835) konstruiert ein erstes Buch mit 3-D-Elementen. In der Firma Dean (England, 1860er Jahre) entstehen frühe „scenic books“ mit 3-D-Elementen als Auflagenbücher; in diesen erheben sich bestimmte Papierelemente, wenn an einem Band gezogen wird. Die 1860er Jahre erweitern das Repertoire des Bewegungsbuchs um diverse Varianten der „dissolving pictures“: Durch Überlagerung zweier streifenförmig zerlegter Bilder verwandeln sich hier die Bilder, Motive werden ausgetauscht, Gegenstände verschwinden oder tauchen auf. Zwischen 1885 und 1893 entsteht Le Livre d’images parlantes („Buch der sprechenden Bilder“, orig. dt., in diverse Sprachen übersetzt), bei dem auch Klangeffekte ausgelöst werden können (vgl. Trebbi 2012, S. 10). Ab den 1860er Jahren erfolgt insgesamt eine expansive und innovative Produktion von Bewegungsbüchern als in verschiedener Hinsicht interaktiven Büchern, vor allem in England.  





Pionierprojekte, Innovationen. Den Anspruch, Erfinder des beweglichen Kinderbuchs zu sein, erhebt der Londoner Verlag Dean and Son, der in den 1860er Jahren diverse Bewegungsbücher produzierte. The Moveable Mother Hubbard von 1857 gilt allgemein als der Prototypus.7 Diverse deutsche Papieringenieure wirken als Pioniere des Bewegungsbuchs.8 Lothar Meggendorfer erfindet u. a. ein System, um mehrere Figuren gleichzeitig zu animieren. Seine papiermechanischen Konstruktionen werden bis heute in Nachdrucken aufgelegt. Bei Meggendorfer werden Papierarchitekturen zu Schau-Plätzen – wie etwa im Fall des Internationalen Circus, einer aufstellbaren Papierkonstruktion, die eine Arena repräsentiert (vgl. Abb. bei Krahé 1983,  



7 Mother Hubbard bildet den Auftakt zu einer Serie von 13 beweglichen Büchern. Durch Laschen werden Teile der Bilder bewegt, Figuren in ‚Bewegung‘ gesetzt – abgestimmt auf die jeweils erzählte Geschichte. Zunächst verbinden Fäden die Figuren. Später verwenden die Hersteller lieber Kupferdrähte; die Beweglichkeit der Figuren lässt sich so verbessern. Konkurrenten der Firma Dean auf dem Feld des Bewegungsbuchs sind gleich mehrere Verlage (Ward & Lock, Darton, Read). 1860 produziert der DeanVerlag ein erstes Buch mit ‚dissolving views‘, in dem sich ein Bild dadurch in ein anderes verwandelt, dass man an einem Streifen zieht. Ferner entsteht ein ‚Peepshow Book‘ mit räumlichen Effekten. Um 1863 erscheint das erste der „New Scenic Books“, die man bedient, indem man an Bändern zieht, um Figuren zu bewegen. Rotkäppchen (Little Red Riding Hood) lässt sich hochkant aufstellen; andere Papierfiguren tun es ihr bald nach. 8 Dazu gehören in England wirkende Deutsche (Raphael Tuck, Ernest Nister) sowie der in Deutschland wirkende Lothar Meggendorfer, der ein facettenreiches Œuvre hinterlassen wird. Der Münchner arbeitet als Grafiker, als Designer von Papierbögen und Büchern und wird zu einem der wichtigsten Vorläufer moderner Papier-Konstrukteure (‚paper engineers‘). Vgl. zum Folgenden den mit vielen Beispielen ausgestatteten Band: Krahé 1983; zum Thema Buch- und Papierarchitektur vgl. ferner Montanaro 1993; Schirrmacher/Künnemann 1993; Pelachaud 2010; Montanaro 2010.  

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S. 82 f.). Neue Impulse erhält das interaktive Buch im Zeitalter des Films. 1898 erfolgt die Konstruktion eines Buchs mit optischen Illusionen: The Magic Moving Picture Book (England; im nächsten Jahr auf Französisch erschienen, unter dem Titel Le Motographe, album d’images animées). Als ‚Antwort‘ des Buchs auf den Film erscheinen auch die Daumenkinos (Flip Books). Seit den 1930er Jahren werden Bücher mit integrierten Hologrammen produziert. Die wohl wichtigste Innovation im Feld des Bewegungsbuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Erfindung des Pop-ups (vgl. Teil D, Art. „Pop-up“). Pop-ups sind in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die buchtechnisch raffiniertesten Bewegungsbücher und entsprechend beliebt. Zu den produktivsten Pop-up-Konstrukteuren gehört der Tscheche Vojtech Kubašta. In verschiedenen Ländern Europas und der USA entwickelt sich eine ausdifferenzierte Produktion von interaktiven Büchern und Pop-ups für Kinder und für Sammler. 1954 konstruiert Maurice Henry Les métamorphoses du vide (bei Minuit, Paris), ein experimentelles interaktives Buch für Erwachsene, angeregt durch Tove Jansson (Schweden, 1952): Moomin, Mymble and Little My.  





Zur jüngeren Geschichte des Bewegungsbuchs. Die 1960er und 1970er Jahre sind als Epoche einer Geburt des modernen Pop-ups bezeichnet worden („The birth of modern pop-up“, Trebbi 2012, S. 12). Buchdesigner und bildende Künstler entdecken das interaktive Buch wie auch das Pop-up als artistisches Experimentierfeld und erweitern damit den Kreis potenzieller Rezipienten. Wichtige Impulse für diese Kunstrichtung gehen von Papieringenieuren wie Bruno Munari, Robert Sabuda und Matthew Reinhart aus. In den späten 1960er Jahren scheitert Waldo Hunt (USA) beim Versuch, Vojtech Kubaštas Bücher in den USA breit zu vermarkten und beginnt mit der Produktion eigener Bücher dieses Typs im Verlag „Intervisual“ (Verwendung vielfältiger 3-D-Mechanismen, vielfältige Bildprogramme, teils Integration von Sound effects); dies führt zur Produktion von bis heute erfolgreichen Büchern (z. B. Haunted House von Jan Pienkowski, 1979). Eine prominente künstlerische Variante des interaktiven Buchs schafft Andy Warhol mit seinem Index (Book) 1967; das Künstlerbuch wird produziert von „Intervisual“ (Abb. ebd., Faltbogen). Rekurse auf das Format der Harlekinade (mix-and-match-book) finden sich bei Christian Boltanski.  



Scheinbare Belebungen buchinterner Figuren. Ein Kern- und Lieblingsmotiv romantischer und nachromantischer Imagination ist die Belebung von nur scheinbar (oder nur für den nüchternen, beschränkten Alltagsblick des rational-verständigen und philiströsen Betrachters) ‚toten‘ Figuren: Die sich belebende Statue (als Reminiszenz an das Künstlertum Pygmalions, an die Schöpfermacht des Prometheus), das sich belebende Gemälde (als Reminiszenz an bildmagische Machtphantasien) sind ein poetologischer Zentraltopos. Romantische Figuren und Szenen beleben sich kraft der Imagination; davon erzählen viele Geschichten, etwa bei Wackenroder, bei Hoffmann, bei Eichendorff. An die Seite gemalter Figuren und Szenen treten dabei in der romantischen Literatur gelegentlich auch „Buchfiguren“ und „Buchszenen“, die die

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Räumlichkeit des Kodex akzentuieren. In E. T. A. Hoffmanns Klein Zaches erweisen sich die Figuren im Buch des Zauberers Prosper Alpanus als virtuell lebendige Wesen, die auf Geheiß des Buchbenutzers die Buchseiten verlassen und sich im Raum entfalten, dann aber auch ins Buch zurückgeschickt werden können – wie in Antizipation der Papiertechniken späterer Bewegungsbücher und Pop-ups. Die lebendig werdende Illustration im Buch erscheint gerade im Kontext Hoffmannscher Bildbelebungsphantasien als signifikant, da hier das poetologische Motiv der Vitalisierung toter Materie und das des Zauberbuchs miteinander verschmelzen. MSE  





Borges im Spiegel der Buchkunst Die Erzählungen und Essays von Jorge Luis Borges nehmen in verschiedener Hinsicht Bezug auf das Themenfeld des Buchs. Insbesondere akzentuieren sie die metonymische Beziehung zwischen Buch und Literatur und sind insofern zugleich buchreflexiv und selbstreflexiv. Borges thematisiert das Buch im Allgemeinen sowie besondere Bücher, er beschreibt existierende und erfundene (imaginäre) Bücher, er spricht von Buchprojekten und demonstriert durch Zitate, Referenzen, Anspielungen und paratextuelle Mittel immer wieder, dass sein eigenes Œuvre Produkt eines Bücheruniversums ist – das Resultat weitläufiger Lektüren, Kompilationen, Paraphrasen, Interpretationen, Parodien. Als maßgeblicher und innovativer Vertreter literarischer BuchReflexion im 20. Jahrhundert hat Borges in der Literatur ein breites Echo gefunden; exemplarisch zeigt sich dies an den Borges-Referenzen in Umberto Ecos Roman Il nome della rosa (1980; vgl. E 1.21). Aber auch seine Rezeption in der Buchkunst ist facettenreich.  



Poetik des Buchs. Borges’ Werk steht im Zeichen einer Poetik des Buchs, wobei seine Buch-Phantasien wiederholt der Struktur und Materialität von Büchern gelten. Differenzieren könnte man mit Blick auf die erzählerische Auseinandersetzung mit dem Buch zwischen offenkundigen Buchschilderungen und verdeckten Reflexionen über das Buch (das dann durch andere Gegenstände repräsentiert wird). Das Thema Buch ist bei Borges eng verzahnt mit den Kernthemen Zeit und Unendlichkeit. Steht sein Œuvre insgesamt im Zeichen der Entdifferenzierung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, so sind Bücher dabei als Schwellenobjekte von besonderer Bedeutung. Das Buch ist bei Borges Speichermedium dessen, was (durch seine Schriftlichkeit) der Zeit Widerstand leistet; es ist privilegiertes Hilfsmittel beim Entwurf von Welten (durch Wissenschaften und Literatur), und es ist Metapher der Welt (Borges zitiert und modifiziert das Weltbuchgleichnis wiederholt). Zudem beschreibt er das Buch als Erweiterung des menschlichen Intellekts und der Phantasie. Sein Essay Das Buch ist eine Hommage an das Buch als kulturtragende Institution, die eine Vielzahl einschlägiger Topoi miteinander verbindet (Borges 2004, S. 9). Zwischen oralen und literalen Kultu 

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ren besteht aus Borges’ Sicht eine profunde Differenz (vgl. ebd., S. 9f.). Im Begriff des Heiligen Buchs kulminiert die für bestimmte Kulturen, insbesondere die jüdische, prägende Verehrung des Buchs (vgl. ebd., S. 12).  



Buch-Imaginationen. Borges ersinnt mehrfach Bücher, die den Rahmen des überhaupt Vorstellbaren sprengen. Vier seiner Erzählungen über imaginäre Bücher beschreiben diese so, als habe der jeweilige Erzähler diese Bücher selbst gesehen, und provozieren gerade dadurch die Imagination des Lesers, der von den geschilderten Büchern ebenso überfordert ist wie von der Idee des Unendlichen, auf die diese Bücher verweisen: In La biblioteca de Babel (1941) sind zwar die einzelnen Kodizes noch vorstellbar; ihr Ensemble, die Bibliothek, sprengt aber das Vorstellungsvermögen. Das Sandbuch, El libro de arena (1975), ist zwar nach außen hin endlich und begrenzt, aber seine Seitenzahl ist unendlich und unvorstellbar. Der Garten der sich verzweigenden Pfade, El jardín de senderos que se bifurcan (1941), ist der Name eines in der gleichnamigen Erzählung geschilderten Romanprojekts, das sich in einem konventionellen Kodex nicht mehr realisieren ließe, da es der Darstellung von sich ins Unendliche verzweigenden alternativen Zeitreihen gewidmet ist. Die in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1944) geschilderten Bände einer (Ersten) Enzyklopädie des von einem Kollektiv von Gelehrten erdachten Reiches von Tlön sind in mehr als einer Hinsicht Schwellen ins Imaginäre. Borges, die Kunst, die Buchwerke. Dass in Borges’ Visionen Reminiszenzen an Werke der bildenden Kunst eingeflossen sind, erscheint evident, wenn man etwa die Beschreibung der Bibliothek von Babel mit den Kerkerphantasien Giovanni Battista Piranesis (Carceri, 1750) oder auch mit der Darstellung des Babylonischen Turmbaus durch Pieter Brueghel dem Älteren vergleicht. Auch bestehen vielfältige Beziehungen der Borgesianischen Labyrinth-, Spiegel- und Doppelgängerphantasien zu Gemälden der Surrealisten sowie zu anderen Werken insbesondere der modernen Kunst. Inzwischen hat Borges der bildenden Kunst gleichsam mit Zinsen zurückerstattet, was er ihr verdankt. Bildende Künstler verschiedener Stilrichtungen haben aus seinen Werken Anregungen bezogen, Borgesianische Visionen visualisiert, mit Gemälden, Fotografien und Grafiken auf die Denkbilder des Argentiniers geantwortet (vgl. Schulz 2011). In Werken literarischer Autoren wie in buchkünstlerischen Arbeiten sind die Borgesianischen Buchphantasien auf verschiedene Weisen aufgegriffen worden. Erstens haben seine Imaginationen seltsamer und unrealisierbarer Bücher literarische Autoren dazu stimuliert, weitere Buch-Phantasmen zu erdenken – realisierbare ebenso wie unrealisierbare, in jedem Fall aber solche, die das konventionelle Kodexformat hinter sich lassen. Die Frage, wie sich die Unendlichkeit innerhalb eines Buches darstellen lasse, hat sowohl im literarischen wie im buchkünstlerischen Bereich anregend gewirkt. Zweitens haben Schriftsteller und Buchkünstler an das Borgesianische Spiel mit der Grenze zwischen Realität (und als ‚real‘ geltender Historie) auf der einen, dem Imaginären auf der anderen Seite angeknüpft. Sie spielen u. a. mit der Suggestion, die  



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imaginären Bücher Borgesianischer Phantasie seien doch realisierbar. Insbesondere das von Borges mit dem Motiv des Buchs und der Bibliothek verknüpfte Motiv des Labyrinths hat Schriftsteller und Künstler stimuliert. Sean Kernan: Jorge Luis Borges: The Secret Books (1999). Der Fotograf Sean Kernan, der einen Bildband unter den Titel Jorge Luis Borges: The Secret Books (1999) gestellt hat und hier ausgewählten Borges-Texten Fotografien von raffinierten Objektarrangements gegenüberstellt (Buch und Schlange, Buch und Hand, Buch und Ameisen, Buch und Vogelflügel etc.), zielt explizit auf mehr denn bloße Illustrationen ab, nämlich auf die Fortführung eines (als die Einzelkünste übergreifend verstandenen) ästhetischen Projekts (vgl. Kernan 1999, S. 69). Borges, so Kernan, habe ihn dazu angeregt, auf neuartige Weise zu sehen und zu denken; zu einer Zusammenstellung von Borges-Texten mit seinen eigenen Bildarrangements sei es erst nachträglich gekommen. Tatsächlich besteht zwischen den von Kernan fotografierten Sujets und Borgesianischen Imaginationen eine gut nachvollziehbare Affinität: Die Anordnung der Fotomotive wirkt, als seien die dreidimensionalen Objekte aus den Büchern herausgestiegen, herausgewachsen – analog zur Genese jener rätselhaften Objekte, die in der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis tertius als erste Indizien dafür auftauchen, dass sich die historische Welt der imaginären Welt von Tlön allmählich assimiliert. Kernans Kommentar zur Differenz zwischen Literatur und Fotografie – letztere sei auf gegebene Objekte der Abbildung angewiesen, während erstere durch Beschreibung ihre eigene Wirklichkeit erschaffe – verdeutlicht (auch wenn sie eine problematische Simplifikation ist) die Motive seiner Faszination durch Borges. Steht dieser doch aus Kernans Sicht für die Idee einer genuinen ästhetischen Schöpfung von Wirklichkeit (vgl. ebd., S. 67), einer Wirklichkeit, die auf verschlüsselte Weise das Bild dessen ist, was im Kopf des Künstlers entsteht. Kernan kombiniert ein Zitat aus der Borges-Erzählung El hacedor mit dem Foto der Seite eines Anatomiebuches, welche die Zeichnung eines menschlichen Kopfes als Organ der Imagination zeigt. Das Zitat spricht von einem Mann, der die Welt kartieren will und dabei sein eigenes Porträt schafft (vgl. ebd., S. 68).  











Michael Gibbs: Somevolumesfromthelibraryofbabel. Edition Ex Libris (1982). Schafft Kernan zu Borgesianischen Buchphantasien fotografische Bilder von Objekten, die Büchern zu entstammen scheinen und sich plastisch vor der Linse des Fotografen präsentieren, so arbeitet Michael Gibbs in Somevolumesfromthelibraryofbabel (Gibbs 1982) auf der Ebene der Textgestaltung. Das aus 24 Seiten bestehende Bändchen bezieht sich konkret auf die Beschreibung der Buchseiten in der Bibliothek von Babel. Der erste Teil, etwa bis zur Mitte, besteht aus einem fortlaufenden Text. Die Sequenzen der verwendeten Zeichen (die Buchstaben des Alphabets sowie einige Interpunktionszeichen, anders als bei Borges auch Unterstreichungen) ergeben teilweise Sinn, teilweise nicht. Wo sie Sinn ergeben, nehmen sie auf Motive und Thematik des Borges-Textes teilweise Bezug; vielfach ist von Lettern, Texten, Büchern, der „library of Babel“, der Thora etc.

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die Rede, doch die entzifferbaren Satzfragmente und Wörter gehen in unentzifferbare Buchstabenfolgen über. Der zweite Teil des Büchleins enthält Permutationstexte und Beispiele Visueller Poesie, bei denen die Spannung zwischen Buchstaben und Textfläche signifikant ist. Teilweise wiederholen sich nur einzelne Wörter oder Buchstaben über die gesamte Seite, teilweise wirken die Texte kryptografisch.9 El jardín de los senderos que se bifurcan – Barbara Fahrners Künstlerbuch vom Garten der Pfade, die sich verzweigen (1995). Der imaginäre, in Borges’ Erzählung vom El jardín de senderos que se bifurcan beschriebene Roman des Chinesen Ts’ui Pên konkretisiert auf spezifische Weise die Idee der Unendlichkeit. Er erzählt nicht eine Geschichte, sondern enthält ein potenzielles Netzwerk von Geschichten in jeweils alternativen, einander ergänzenden, ersetzenden oder widersprechenden Varianten. Dies entspricht der Vorstellung einer nicht einsinnig und linear verlaufenden, sondern sich in unabsehbar viele Alternativ-Verläufe verzweigenden Zeit. Die vom Erzähler des Textes geschilderten Vorfälle selbst scheinen dessen Zeitmodell zu bestätigen, denn sie vernetzen sich mit den Episoden des beschriebenen Romans und entfalten sich selbst in Verzweigungen – zumindest, was ihre Interpretation angeht. Barbara Fahrner hat bei der Gestaltung eines großformatigen Künstlerbuchs zum Garten der Pfade, die sich verzweigen (1995) den von Borges übernommenen Text um eigene Textpassagen erweitert. Die Ausgangserzählung verzweigt sich also, teilweise in (wiederum) zitierte Texte hinein – allerdings nicht in Erzählungen wie die in Ts’ui Pêns Roman, sondern in Bausteine, welche auf den Zitatcharakter allen Sprachgebrauchs hindeuten. Der neue Text wirkt assoziativ, wie eine Montage aus Satz- und Gedankenfragmenten, wie das Protokoll eines unkontrollierbaren Stroms vernommener und wiederholter Textbausteine. Die Textzeilen und -blöcke auf den Seiten des Künstlerbuchs sind nicht-linear angeordnet und verführen zu Kreuz- und Querlektüren. So wird Fahrners Buch in mehrerlei Hinsicht zu einem Labyrinth: durch seine visuellgrafische Gestaltung, durch die verzweigende Fortsetzung des Ausgangstextes sowie durch die intertextuelle Vernetzung des Ausgangstextes. Demonstriert wird, was auch Borges’ Erzählungen suggerieren: dass Bücher Labyrinthe sind.  





9 Gibbs verwendet Zitate aus Werken diverser Autoren. Dazu gehören Bernhard Bauhus’ Unius Versi Librum (ein Permutationstext von 1617), Emmett Williams’ Sweethearts (ein Visualtext aus den Lettern des Wortes „Sweethearts“; vgl. Teil D, Art. „Konkrete Poesie“), José Luis Castillejos The Book of 18 Letters (ein nur aus den Buchstaben q und k bestehender Text), Guy de Cointets Espahor Ledet Ko Uluner! (ein Text in unbekannter Sprache), Gerald Fergusons The standard Corpus of present day English Language Usage arranged by word Length ans Alphabetized Within Word Length (eine kolumnenartig angeordnete alphabetische Liste von Wörtern), Jaroslaw Kozlowskis Reality (ein Blatt, auf dem nur Kommas, Klammern und Striche zu sehen sind), Diter Rots The the relation of the General to order a Special or The general ordering a Special i.e. The Special ordering a general (eine Seite aus lauter w’s), Frank Kuenstlers Lens (eine Seite mit Abkürzungen oder einem Code) und Jeff Instones Script 1976–1978 (eine Seite, deren drei Abschnitte aus sich wiederholenden Wörtern besteht).

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El inmortal – Barbara Fahrners Künstlerbuch zu Der Unsterbliche (1997). El inmortal ist eine verschlüsselte Erzählung über das Buch in Gestalt eines ewigen Wanderers. Die Lebenserinnerungen des Haupterzählers, der in den 1920er Jahren unter dem (auf den Ewigen Juden anspielenden) Namen Joseph Cartaphilus auftritt, zur Römerzeit aber Marcus Flaminius Rufus hieß, berichten von seiner Suche nach dem Fluss der Unsterblichkeit, seinem Unsterblichwerden und seiner Begegnung mit einem Troglodyten, der sich schließlich als Verfasser der Ilias, also als der Dichter Homer, entpuppte. Ein Rahmenerzähler und Herausgeber analysiert das ihm mitgeteilte Manuskript des Cartaphilus/Rufus und kommt zu dem Befund, es handle sich um den Bericht über die Erlebnisse zweier verschiedener Menschen, um einen aus Berichten mehrerer Personen durch Durchmischung erzeugten Text. Der Verfasser des Manuskripts hat demnach mehrere Identitäten gehabt; er war Homer, er war Rufus, er war verschiedene andere, und all dies hat sich in der durchmischten Stilistik seines Textes niedergeschlagen. In ihrem Künstlerbuch zu El inmortal (1997) setzt Barbara Fahrner das Gedanken- und Schreibexperiment fort, das Thema (und zugleich Gestaltungsprinzip) der Borges-Erzählung ist (Fahrner 1997). Das großformatige Künstlerbuch, auf dessen Seiten sich geschriebene Texte und Bildelemente, teilweise durch Collagetechniken, verknüpft finden, zitiert zum einen den Borges-Text, fügt diesem zum anderen aber einen neuen Textbaustein hinzu – eine Passage, die auf Platons Timaios verweist. (Die Passage gilt dem Thema Traum und Imagination, die Provenienzangabe lautet „Platon Timaios, XLV“, Fahrner 1997, unpag.) So konkretisiert Fahrners Künstlerbuch die Idee eines geteilten Eigentums am Text. Ihr Buch ist von Borges und doch von ihr selbst; die Verknüpfung von zitiertem Text und eigenen Zeichnungen, ja bereits die Niederschrift des zitierten Textes in der eigenen Handschrift erscheint als ein Akt der Aneignung, der aber nicht auf endgültigen Besitz abzielt, sondern auf eine Weitergabe des Angeeigneten.  



Die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius und ihre buchkünstlerischen Echos. Mit der Schilderung einer sich von Imaginationen nährenden und allmählich die historische Wirklichkeit selbst durchdringenden und umgestaltenden Welt, wie sie in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius erfolgt, verbindet sich unter anderem die Prognose, einst werde eine zweite Enzyklopädie von Tlön auftauchen – schon darum, weil man sie ja imaginiert und Imaginiertes nach Tlönschem Gesetz real wird. Als künstlerische Auseinandersetzungen mit der Tlön-Erzählung wurden gleich zwei Zweite Enzyklopädien von Tlön realisiert (vgl. auch Teil B 2.6).  

Barbara und Markus Fahrner: Die zweite Enzyklopädie von Tlön. Barbara und Markus Fahrner haben die von ihnen als Bestandteile einer Zweiten Enzyklopädie von Tlön (1997–2002) zusammengetragenen (und zu weiten Teilen selbst gezeichneten, geschriebenen, gedruckten) Materialien in fünf Aktenordnern abgeheftet. Auch diese Materialien verweisen auf vielfältige Wirklichkeitsbereiche und Wissensgebiete, auf Diskurse, Bild- und Textwelten unterschiedlichster Art. Verschiedene eigens für die

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Enzyklopädie verfasste Texte gehören dazu. Die relativ offene Form des Aktenordners deutet auf die Fortsetzbarkeit und Umstrukturierbarkeit der Fahrnerschen Enzyklopädie hin. Prägend für diese Enzyklopädie ist das alphabetische Ordnungssystem. Die einzelnen Teile des Werks haben nicht die Form gebundener Bücher, sondern die Enzyklopädie besteht aus abgehefteten Unterlagen in insgesamt fünf Ordnern zu den Buchstabensequenzen A–E, F–J, K–O, P–U, V–Z. Diese Ordner enthalten keine Artikel im engeren Sinn, sondern Materialien, die jeweils durch ein Stichwort einem Buchstaben zugeordnet sind. Die abgehefteten Inhalte haben ganz unterschiedliche visuelle und haptische Qualitäten. und die Bedeutung der titelgebenden Stichworte ist keineswegs immer sofort evident. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis; was die Ordner enthalten, erschließt sich erst beim Blättern. Die offene Form des Aktenordners suggeriert als solche die Möglichkeit der Umordnung, der Ergänzung, Entfernung oder Ersetzung, wie sie für Gesetzeswerke oder um Aktualität bemühte Nachschlagewerke typisch ist. In die Ordner eingeheftet finden sich neben einzelnen Bögen, Blättern und Kartons eine Vielzahl von aus Papier oder Karton gefalteten Taschen, Umschlägen oder Tüten, industriell vorfabrizierte und selbstgemachte, verschließbare und unverschließbare: lauter Einladungen an den Benutzer, sie zu öffnen und etwas herauszunehmen. Als Inhalte der Faltobjekte und Umschläge trifft man auf einzelne Papierbögen, Karten, Grafiken, Zeichnungen, Broschüren, Heftchen, Notizblocks und sonstige (fast immer papierne) Objekte. Wandelbarkeit und Ergänzbarkeit des Werks sind konzeptionell prägend. In einem auf 1999 datierten Aufruf im Internet hatten die Enzyklopädisten auf ihr sich als kollektiv verstehendes Unternehmen aufmerksam gemacht und die Möglichkeit einer Mitwirkung angedeutet.10 Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki: Die zweite Enzyklopädie von Tlön. Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki nehmen in ihrem Künstlerbuchprojekt Die zweite Enzyklopädie von Tlön (1997–2006) ebenso wie Fahrner und Fahrner auf vielfache Weisen Bezug auf Borges’ Ideen- und Textwelten. Insbesondere ist das Buchkunstprojekt eine Konkretisation des ‚Tlön-Effektes‘; existieren die Bände doch, weil jemand sie sich vorgestellt hat. Die einzelnen 50 Bände, aus Texten und Bildern unterschiedlicher Provenienz kompiliert, sind Stichworten gewidmet, welche teils von Borges stammen (wie TLÖN, UQBAR, ORBIS TERTIUS oder auch HRÖN),11 teils auf Wissensgebiete und Gegenstandsfelder des Wissens verweisen, teils auch auf Ele-

10 In der Website-Präsentation hieß es u. a.: „In the five years we intend to invite guests to either produce books, original works or provide us with texts. […] Although within the strict form of the green folders, it is still possible for the collector to change the order of the works. Allowing the encyclopaedia to explode on the inside with amazing variety.“ (Abruf 2010, heute nicht mehr im Netz) 11 So heißen die durch Imagination erzeugten ‚Sekundär‘-Gegenstände in Tlön. Der HRÖN-Band enthält Zitate aus Schriften von Rupert Sheldrake und Stanisław Lem. Die Bilder zeigen hybride imaginäre Objekte.  

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mente, aus denen Welten zusammengesetzt werden können. Darunter sind die vier klassischen Elemente (vgl. die Bände AIR, FUEGO, ERDE, EAU), aber auch die Grundfarben (YELLOW, ROUGE, BLAU) sowie verschiedensprachige Vokabulare. Die Bildanteile umfassen Fotos, Grafiken und Collagen; verwendet werden Bildzitate und Bildträger (Papiere) unterschiedlichster Art. Die Textbestandteile sind allesamt Zitate: Passagen aus wissenschaftlichen Texten und Sachbüchern, aus Zeitungen und anderen Dokumenten sowie – zu einem erheblichen Anteil – aus literarischen Werken, vor allem von Borges. Der enzyklopädische Charakter des Buchkunstobjekts ergibt sich zum einen aus der Bezugnahme auf Elementarbausteine von Welt (Elemente, Elementarfarben, Buchstaben), auf Elementarthemen wie Raum (ATLAS, MAPAMUNDI) und Zeit (ZEIT), auf bestimmte Wissensbereiche (FLORA, FAUNA) sowie auf die fünf Sinne. Das Auge wird stets angesprochen; die Farb-Bände ROUGE, BLAU etc. sind dem Gesichtssinn explizit zugeordnet. Eine Hommage an den Gehörsinn ist der Band HESPOS, der auf einem umfassenden Verzeichnis von Klang- und Geräuschqualitäten beruht, zusammengestellt aus Werken des Komponisten Hans-Joachim Hespos (vgl. Kat. Ausst. 2007, S. 170). Der Geschmackssinn wird vor allem durch das COOKBOOK angesprochen, der Geruchssinn eher mittelbar, durch die Abbildung von duftenden Objekten, teilweise aber auch durch das verwendete Papier mit charakteristischem Eigengeruch; an den Tastsinn schließlich appellieren die verschiedenen Papierqualitäten. Einzelne Bände sind dem Themenkomplex Buch und Buchkultur in besonders offenkundiger Weise verpflichtet. Das Buch READER ist ein Reader (im Sinne von: Textkompilation) und dabei zugleich eine Art mise en abyme des Gesamtprojekts. Der Band BUCH wurde aus Doppelseiten von 50 auseinandergenommenen Büchern konstruiert. Der Buchumschlag zeigt die Lettern des Alphabets. Im Band vereinigt sind unterschiedliche Schrifttypen und Schriftgrößen. Das Papier hat ganz verschiedene Farben und Strukturen. Die Texte sind in verschiedenen Sprachen verfasst: auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Griechisch, Russisch. Neben Texten finden sich Bilder mit ganz unterschiedlichen Motiven verarbeitet (z. B. ein Foto von den Niagarafällen, eine Illustration zu einem Ben-Hur-Roman), ferner auch Diagramme, mathematische Gleichungen und Landkarten.  







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Abb. D 1: Ines von Ketelhodt: Band „Tlön“, aus: Ines v. Ketelhodt/Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön. Flörsheim 1997–2006.  

Die von Borges inspirierten Buchwerke erscheinen teilweise als Fortsetzungen der Gedankenspiele, die Borges selbst anlässlich des Themas Buch anstellt. Als weitere buchgestalterische Arbeiten genannt seien: Pierre Cordiers Livrilisible (Selbstverlag 1964), Sol LeWitts Illustrationen zu Jorge Luis Borges: Ficciones (1984), Joseph Kosuths Quoted („Is that a quotation, I asked…“ Borges), 1992; Erik Desmazières’ Illustrationen zu: Jorge Luis Borges: The Library of Babel (2000), Micha Ullmanns Sandbuch I-V (2001), Klaus Detjens Buchausstattung zu: Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel (Göttingen 2010; vgl. zum Thema: Schulz 2011). Auf unterschiedlich akzentuierende Weise, jeweils aber unter Ausnutzung der vielfältigen Gestaltungsoptionen, die das Buch und die Buchseite bieten, umspielen diese Werke die von Borges selbst konsequent in Frage gestellte Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären – und bieten enzyklopädische Darstellungen imaginärer Welten, die sich mit Entwürfen der Naturwissenschaften und der Historiografie auf vieldeutige Weise verzahnen. MSE  

Comic und Comicbuch Comics galten lange Zeit hinsichtlich ihrer Ästhetik, Erzählstruktur und thematischen Ausrichtung sowohl rezeptions- als auch produktionsseitig pauschal als weitgehend anspruchslose Massenunterhaltung. Dies spiegelte sich in ihren primären Trägermedien – der Tageszeitung und den verschiedenen standardisierten Comicheften (USFormat, Piccolo u. a.) – und wurde zugleich dadurch bedingt. Als Produkte der Populärkultur setzen sich Comics gelegentlich zwar inhaltlich mit Büchern auseinander, der Kodex als Trägermedium spielt jedoch seit der Frühgeschichte der Comics lange eine untergeordnete Rolle. Zwar erscheinen im 19. Jahrhundert diverse Bildergeschich 







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ten europäischer Zeichner – wie Rodolphe Töpffer (1799–1846), Gustave Doré (1832– 1883), Amédée de Noé (gen. Cham; 1819–1879) oder Charles Albert d’Arnoux (gen. Bertall, 1820–1882) –, die als Vorläufer der amerikanischen Comics gelten, auch in Büchern und Heften; um 1900 bestimmt in den USA jedoch die Zeitung über das Angebot unterhaltsamer Bildergeschichten. Viele der zuvor für Zeitschriften tätigen Zeichner finden in dieser Zeit bei den Tageszeitungen eine neue Wirkungsstätte. Seit dem 19. Jahrhundert erscheinen im Übrigen illustrierte Bilderbücher, (vgl. Teil C 4, C 5) die bei der Entstehung des Mediums Comic zumindest insofern eine Rolle gespielt haben, als ihre Autoren auch Bildergeschichten zeichneten, so etwa Wilhelm Busch (1832– 1908), der sowohl Bücher (Max und Moritz, 1865) als auch einzelne Illustrationen und Geschichten für Zeitschriften und Bilderbogen veröffentlichte, oder Lothar Meggendorfer (1847–1925), der als Gestalter und Produzent von Bewegungsbüchern sowie als Urheber von Bildergeschichten und als Herausgeber illustrierter Zeitschriften wirkte (vgl. Teil D, Art. „Bewegungsbücher“). Zudem kann im Papiertheater ein performatives Medium gesehen werden, das den Comics – als eher präsentierendes denn im engeren Sinne erzählendes Medium – den Weg bereitet (vgl. Grünewald 2013).  









Zeitungscomics. In den amerikanischen Zeitungen erscheinen Comics um 1900 als Beilage auf einem eigenen Druckbogen, den ‚Funny Pages‘. Dort füllen sie meist entweder eine ganze oder eine halbe Seite, wobei häufig einzelne Zeichner ganze Seiten bespielen. Später werden die Comics auch in das Layout der Zeitung integriert, wodurch das Zusammenspiel zwischen Seitengestaltung, Comic und sonstigem Zeitungsinhalt neu akzentuiert wird. So müssen Comicstrips so angelegt werden, dass sie sich durch Auslassung oder das Neuarrangement von Panels an verschiedene Layouts anpassen lassen. Während sich Richard F. Outcaults (1863–1928) Yellow Kid-Cartoons, die als Grundstein der Comicentwicklung gelten (vgl. Balzer/Wiesing 2010), zum Teil in den sie umgebenden Text hinein erstrecken, so dass sie diesen zu verdrängen scheinen, nehmen Comicstrips in aller Regel einen begrenzten Raum ein, der vom restlichen Inhalt der Zeitung abgegrenzt ist. Erfolgreiche Comicstrips werden in Buchform nachgedruckt, so erscheinen beispielsweise von Bud Fishers (1885–1954) Mutt and Jeff seit 1910 mehrere Buchausgaben, deren Format zum Teil dem großformatigen Querformat der Erstveröffentlichung entspricht. In den 1920er Jahren wird das Heft nach anfänglichen Schwierigkeiten als Zweitverwertungsmedium etabliert, und in den 1930er Jahren entwickelt es sich zum zweiten Standardformat neben der Zeitung. Auf Nachdrucke folgen bald auch Comics, die gezielt für das Heftformat produziert werden. Mussten die in der Regel seriellen Comicgeschichten für die Zeitung so segmentiert werden, dass einzelne Episoden auf knappem Raum Platz fanden, konnten im Heft längere Episoden erzählt werden. Damit verbinden sich neue Erzählstrategien und ästhetische Prämissen, die von denen der Zeitungscomics abweichen. So nutzen Zeitungscomics nur in seltenen Ausnahmefällen Doppelseiten, während das ‚Diptychon‘ für das Comicheft zur wichtigen Erzähleinheit wird.

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Längere grafische Narrationen, frühe Buchformate. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erscheinen vereinzelt längere grafische Narrationen, die Einfluss auf die Comics nehmen oder sich auf sie beziehen: Frans Masereels (1889–1972) Holzschnitt-Zyklen und -Erzählungen (z. B. Mein Stundenbuch, 1920); die „wordless novels“ von Lynd Ward (1905–1985; z. B. God’s Man, 1929); Max Ernsts (1891–1976) Bildromane (z. B. La femme 100 têtes, 1929). 1930 veröffentlicht der amerikanische Zeichner Milt Gross (1895–1953) mit He Done Her Wrong. The Great American Novel and Not a Word in It – No Music, Too eine Parodie von God’s Man, die als erste umfangreiche Geschichte in Comicform gilt. Gross hält sich nicht an die 1930 längst konventionelle Anordnung der Bilder in weitgehend gleichförmigen Bildreihen auf Seiten- und Doppelseiten, sondern arrangiert wenige Bilder frei auf den Seiten. Relationen zwischen rechts und links, oben und unten sowie Wiederholungsstrukturen werden hier ästhetisch signifikant. Die medialen Spezifika des Kodex werden dabei genutzt; weitergeführt wird dies jedoch erst weit später. In den 1930er Jahren erscheinen bei Blue Ribbon Books in Chicago mehrere Pop-up-Bücher, die auf Lizenzen erfolgreicher Comicstrips basieren, darunter Buck Rogers, Popeye und Dick Tracy (im gleichen Zeitraum veröffentlichte Hachette in Frankreich vergleichbare Bücher). Es handelt sich dabei nicht eigentlich um Comics, sondern um in Prosa eingeschaltete Bewegungsbilder; diese weisen jedoch voraus auf spätere Comic-Pop-ups wie etwa die Konstruktionen von Sam Ita (vgl. Teil C 1). In den 1930er Jahren beginnt zudem Whitman Publishing mit der Veröffentlichung sog. „Big Little Books“, kleinformatiger (ca. 9,2 × 11,5 cm) aber umfangreicher Bände, teils mit über 400 Seiten, in denen auf Verso-Seiten Prosatext und auf Recto-Seiten Comicbilder nebeneinander stehen. Prosa und Comicbilder sind weitgehend redundant. Sie lassen sich im Wechselspiel, aber auch getrennt voneinander lesen.  















Neue Buchformate, Graphic Novels. 1978 erscheint mit Will Eisners (1917–2005) A Contract with God im Belletristikverlag Baronet Press (New York) eine Comicanthologie in Buchform, die nach einer langen Phase der Dominanz von Heft-Comics insbesondere des Superhelden-Genres, neue thematische, ästhetische und ökonomische Möglichkeiten eröffnet. Bereits in den 1960er Jahren hatten sich im Zuge der Hippieund Counterculture-Bewegung Comicautorinnen und -autoren wie Robert Crumb (*1943) und Trina Robbins (*1938) vom ästhetischen und inhaltlichen Spektrum der großen Comicverlage abgewandt, das durch die Zensur des Mitte der 1950er Jahre verabschiedeten „Comics Code“ stark beschränkt war. Als sog. „Underground Comix“ zeichnen sie sozialkritische Strips und Geschichten über das Hippie-Dasein, Drogenkonsum und freie Liebe, die zunächst im Selbstverlag, teil ins selbstkopierten Heften, oder in kleinen kollektiv organisierten oder unabhängigen Zeitschriften erscheinen (z. B. in Zap, San Francisco, oder in The East Village Other, New York); sie werden im Direktvertrieb an der Straßenecke, in ‚Headshops‘, aber auch durch neue Verlagsgründungen (wie z. B. Kitchen Sink Press, 1970–1999) in Umlauf gebracht. Die Comix reagieren auf die verfeinerte, durchkomponierte und dramatische Ästhetik der publi 



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kumswirksamen Großverlage Marvel und DC Comics – beispielsweise des in dieser Zeit besonders einflussreichen Zeichners Jack Kirby (1917–1994) – ebenso wie auf Disney-Comics und vergleichbare harmlos erscheinende Publikationen.  



Etablierung als Kunstform. Aus den Underground-Comix-Gruppen gehen u. a. Art Spiegelman (*1948) und seine Ehefrau Françoise Mouly (*1955) hervor. In den 1980er Jahren verschieben sie den Akzent vom bewusst inszenierten ‚Schmuddelimage‘ der Underground Comix zu einem – wiederum bewusst inszenierten – ‚künstlerischen‘ Anspruch. Ihre ‚Alternative Comics‘ streben danach, Comics als Kunstform zu etablieren, die weder einen Massenmarkt bedient, noch sich dazu lediglich in Opposition setzt. Dem künstlerischen Anspruch und der größeren inhaltlichen und ästhetischen Bandbreite der ‚Alternative Comics‘ entsprechen im Comicheft-Mainstream komplexere Narrationen und Gegenstände wie etwa in Frank Millers (*1957) Batman. The Dark Knight Returns (1986) oder Alan Moores (*1953) und Dave Gibbons’ (*1949) Watchmen (1986– 1987). Diese erscheinen zwar zunächst als abgeschlossene Heftserien, werden aber bald zu Gesamtausgaben zusammengefasst und als Buch vermarktet. Während diese Mainstream-Titel inhaltlich und narrativ-strukturell neue Wege beschreiten, halten sie zugleich an den marktkonformen Medien Comicheft und Trade-Paperbacks fest. Im Zuge solcher und zahlreicher weiterer (Wieder-)Veröffentlichungen etablieren sich unter dem Begriff ‚Graphic Novel‘ längere, abgeschlossene Geschichten als eigenes Marktsegment. Damit und mit dem Erscheinen einschlägiger ‚Alternative Comics‘, allen voran Art Spiegelmans MAUS, verbindet sich in der Presseöffentlichkeit das Gefühl, Comics seien ‚erwachsen‘ geworden. Rezensionen zu Comics erscheinen seitdem auch im Feuilleton. Infolge dieser Entwicklung erscheinen vermehrt Graphic Novels als eigenständige Publikationen in Buchform und es werden Verlage gegründet, die sich ihrer annehmen, darunter Fantagraphics Books (gegr. 1976) sowie Drawn & Quaterly (gegr. 1990). In Deutschland, wo die Comicrezeption historisch bedingt gegenüber den USA und anderen europäischen Ländern verzögert verläuft, entsprechen dem u. a. die Verlage Reprodukt (gegr. 1991) und Avant (gegr. 2001). Sie veröffentlichen keine Künstlerbücher, legen aber mehr Wert auf die technische und ästhetische Erscheinung der Bücher, als dies bei Comics in Deutschland lange üblich war. Das Buch rückt als Trägermedium für längere, abgeschlossene und vollständig zu veröffentlichende Werke in den Mittelpunkt der Programme dieser Verlage und der Autorinnen und Autoren, die bei ihnen veröffentlichen. Mithin spielt auch das Buchdesign eine zunehmend wichtigere Rolle.  







Diverse Trägermedien und Buchformate. In jüngerer Zeit wurden Comics in bzw. auf sehr verschiedenen Trägermedien publiziert: auf bzw. in Blattform, als Heft, Zeitung, Zeitschrift, Buch, Leporello, Rotulus, Schachtelbuch, Loseblattsammlung, Gebäudewand usw. Bei Comicnarrationen spielt mit Blick auf die Bilder das Verhältnis von Sequenzialität (also der Reihenfolge der einzelnen Bilder) und Simultaneität (also dem gleichzeitigen Nebeneinander von Bildern auf einem Trägermedium) eine zentrale Rolle, insofern sie zum einen die Narration strukturieren und zum andern visuelle

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Informationen auf einer Ebene oberhalb der Narration im engeren Sinne vermitteln. Jedes Trägermedium (Buch, Heft usw.) mit seinen jeweils eigenen spezifischen Bedingungen wirkt sich daher auf andere Weise auf die Präsentation der Bildsequenzen aus. Das Leporello ist diesbezüglich ein bemerkenswerter Sonderfall. Als Medium, das gleichermaßen dem Kodex wie dem Panorama verpflichtet ist, begünstigt das Leporello prinzipiell zwei Gestaltungsweisen, die von Comicproduzentinnen und -produzenten beide genutzt werden. Zum einen erlaubt es entweder ein zusammenhängendes Bild großer Breite zu zeigen, das sich über die gesamte, durch Falze segmentierte Papierbahn erstreckt, zum anderen können die Segmente als Seiten genutzt werden, auf denen jeweils ein einzelnes Bild oder mehrere Comicpanels zu stehen kommen. Ein Beispiel für die erstere Verwendung ist Joe Saccos 2013 erschienenes Leporello The Great War. Das Leporello zeigt, anders als der Untertitel vermuten lässt, nicht nur den 1. Juli 1916, „the first day of the battle of the Somme“, sondern auch den vorangegangenen Tag und die Nacht. Als panoramatisches Simultanbild visualisiert The Great War den ganzen Tag, vom Aufmarsch der Truppen bis zum Beginn der Kampfhandlungen, wobei die dargestellte Zeit nicht in Form von Zeitpunkten inszeniert wird, sondern fortlaufend, so dass sie mit der Betrachtung des Leporellos von links nach rechts voranschreitet, dies jedoch in unterschiedlich starker Raffung (besonders deutlich ist dies in der nur zwei Bildtafeln umfassenden Nacht, die durch einen grauen Schatten über dem Bild dargestellt ist). In einem Begleitheft wird das acht Meter lange Leporello in einer Übersicht entsprechend der Falze in 24 Bildtafeln gegliedert, deren Trennstellen aber bezeichnenderweise nur durch gestrichelte Linien markiert sind. Demgegenüber ist Alex Chauvels Toutes les mers par temps calme (2016) seitenweise gegliedert; die Erzählung erstreckt sich über beide Seiten der 4,5 Meter langen Papierbahn, umfasst also insgesamt neun Meter. Der Comic erzählt von einem Boot, das auf der Recto-Seite des Leporellos eine Welt durchquert, bevor es auf dem letzten Bild dieser Seite den Rand dieser Welt überquert und seine Reise auf der Verso-Seite in einer phantastischen Welt fortsetzt, wo es unter anderem von einem gewaltigen Wurm gefressen wird, in dessen Innerem sich eine noch phantastischere Welt befindet. Ein Sonderfall des Leporellos erweitert das Prinzip der Einzelseiten durch weitere, ausfaltbare Seiten, so dass die Narration nicht entlang eines Strangs erfolgt, sondern Nebenstränge aufweist, denen separat zu folgen ist. Während in jüngerer Zeit größere Zahlen von Leporellos entstanden sind, bilden Comic-Rotuli seltene Ausnahmen. Im 19. Jahrhundert hat Ludwig Emil Grimm (1790– 1863, Kurze Lebensbeschreibung einer merkwürdigen und liebevollen Sau, geb. in Ihringshausen, 1849) und Moritz von Schwind (1804–1871, Lachner-Rolle, 1862) Bildergeschichten auf Rotuli gezeichnet, im 20. Jahrhundert scheint diese Tradition jedoch keine Fortführung gefunden zu haben. Erst in jüngster Zeit bringt der Berliner Verlag Round not Square (gegr. 2015) Rotuli mit Bildergeschichten in maschineller Einzelfertigung auf den Markt, darunter neben einem Nachdruck der Grimmschen Lebensbeschreibung auch Paul Rietzels (*1986) Shipwreck (2016), das als Graphic Novel vermarktet wird.  



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Materialität und Marketing. Die Materialität der Zeichnung, der Trägermedien Papier, Buch, Zeitschrift und Zeitung sowie das zugrundeliegende Zeichensystem werden bereits seit dem 19. Jahrhundert auf verschiedenen Ebenen in Karikaturen und Bildergeschichten reflektiert. So finden sich schon in den europäischen illustrierten Satirezeitschriften einzelne Karikaturen, die Transluzenz oder Faltbarkeit von Papier einbeziehen, mit fingierten Tuscheflecken das Zeichenmaterial vorführen oder die Linienstärke der Zeichnung in ihr satirisches Kalkül einbeziehen. In Comics werden solche metaisierenden Effekte aufgegriffen. Um das Jahr 1990 herum erlebt die US-Comicbranche einen Spekulationsboom, während dessen der Comicsammlermarkt mit einer Reihe von als Kaufanreiz gesetzter Marketing-Gimmicks bedient wird. In schneller Folge erscheinen Hefte mit unterschiedlichen Gags, die mehrheitlich in einer losen Verbindung zum jeweiligen Inhalt stehen. Die gestalterischen Eingriffe beschränken sich dabei meist auf den Umschlag, der Innenteil wird nur selten einbezogen. Sie decken eine große Breite vornehmlich visuell und haptisch wahrnehmbarer Effekte ab und bedienen sich dazu einer größeren Zahl von Materialien, die vom Standard abweichen: Chromolux-Karton verleiht den Einbandillustrationen stellenweise Spiegelglanz (z. B. Magnus Robot Fighter Nr. 25, 1991); Prägungen transformieren flachen Karton in ein erstastbares Relief (z. B. Superman in Action Comics Nr. 695, 1994); aufgeklebte Hologrammfolien ermöglichen es, Superheldenfiguren als dreidimensionale Körper zu betrachten (z. B. The Spectacular Spider-Man Nr. 189, 1992), Bewegungsbuchelemente wie Pop-ups erweitern den Erzählraum ins Dreidimensionale (z. B. The Mighty Magnor Nr. 1, 1993, Force Works Nr. 1, 1994); Lentikularbilder und ähnliche optische Verfahren versetzen die Figuren in rudimentäre Bewegung und nähern sich so der Schwelle zum Bewegtbild (z. B. Robin Vol. III Nr. 1, 1992); Ausstanzungen erweitern den medialen Raum des Heftes nach innen (z. B. Wolverine Nr. 50, 1992, Protectors Nr. 5, 1993) oder verleihen ihm eine vom Standard abweichende Form (z. B. Crazyman Nr. 1, 1993). Spezielle Druckfarbe, z. B. fluoreszierende, kann ein Bild mit mehreren Ebenen versehen (z. B. The Spectre Nr. 13, 1993). Das Heft Nr. 30 der Serie Superman: The Man of Steel erschien in zwei Ausgaben mit unterschiedlichen Einbänden (sog. variant cover), eines davon zeigt lediglich eine Ansicht der Stadt Metropolis ohne Figuren. Diese können aus einzelnen Aufklebern von den Leserinnen und Lesern zusammengesetzt und auf das Cover geklebt werden; so entstehen unter Verwendung der vorgefertigten Elemente Szenen, die zur Narrativierung einladen. Ray Zone (1947– 2012) greift schon in den 1980er Jahren die Technik des anaglyphen 3-D-Comics auf, die u. a. von Joe Kubert (1926–2012) entwickelt wurde und 1953 zu einem sechsmonatigen 3-D-Boom in der Comicbranche geführt hatte. Anfang der 1990er Jahre erscheinen prominente Titel von Zone (z. B. Batman 3D, 1990), mit denen 3-D-Comics erneut (und wiederum für eine kurze Zeitspanne) populär werden. Solche Transformationen der Trägermedien der Comics bzw. des Comics in seiner Eigenschaft als semiotisches System sind bei diesen und vergleichbaren Gimmicks lediglich ein Nebeneffekt offensiver Vermarktungsstrategien. Nicht zufällig sind es häufig die ersten Nummern neuer Serien, die am Markt etabliert werden sollen, indem gängige Konzepte ‚verfremdet‘  













































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werden, um vor der Folie eines mit weitgehend homogenen Produkten gesättigten Marktes Aufmerksamkeit und damit Umsatz zu generieren. ‚Alternative Comics‘ dieser Zeit sind nicht an derartige Einschränkungen gebunden, und so finden sich hier Comichefte mit handgenähtem Stoffschuber (Aleksandar Zografs [*1963] Hypnagogic Review, 1997) oder mit manuell ausgeschnittenen und aufgeklebten Einbänden wie Jen Michaelis’ You Are Here (2003). In jüngerer Zeit werden unter der Bezeichnung ‚zine‘ (kurz für ‚magazine‘) selbst produzierte und im Selbstverlag vermarktete Comics gehandelt, die eine breite Palette von Herstellungstechniken und Ästhetiken repräsentieren. Comic-Buchkunst in den USA. Während die marktkonforme Comicproduktion nach den Zeitabläufen serieller Veröffentlichungspläne und seit den 1930er Jahren arbeitsteilig (Skript, Vorzeichnung, Reinzeichnung, Kolorierung, Lettering) organisiert ist, erscheint als Urheber von ‚Alternative Comics‘ der Comic-auteur auf der Bildfläche, der alle Aspekte der Herstellung seines Werkes selbst verantwortet. In den Underground Comix ist er bereits präfiguriert, ebenso in Einzeltalenten wie Eisner, bei den ‚Alternative Comics‘ wird er (oder sie) jedoch programmatisch. Dazu zählt auch, dass mit dem populären Markt dieser Zeit inkompatible Techniken wie der Holzschnitt wiederentdeckt werden, wobei u. a. der Anschluss an Gross und Masereel gesucht wird. Das zentrale Organ der ‚Alternative Comics‘-Bewegung ist die großformatige Zeitschrift RAW, die von 1980 bis 1991 von Spiegelman und Mouly herausgegeben wird (vgl. Heller 1993, auch online, sowie u. a. Sabin 1996, S. 178–189); hier erscheint zuerst Spiegelmans MAUS. Für RAW gründen Spiegelman und Mouly den Verlag Raw Books and Graphics; hier verlegen sie auch Einzelpublikationen unter dem Titel RAW One-Shots. Schon deren erste, Gary Panters (*1950) Jimbo (1982), zeigt mit ihrem Einband aus Wellpappe, dass auch die materielle Präsentation der Comics von Bedeutung ist. Auf das Material Papier verweist auch die siebte Nummer von RAW aus dem Jahr 1985, bei deren vorderer Umschlagseite die obere rechte Ecke abgerissen ist. In das Heft eingeklebt findet sich eine zufällig ausgewählte Ecke aus einem der anderen Hefte. Spiegelman betont die Intentionalität der Buchgestaltung:  





They’re part of the form following function idea, and were not grafted on arbitrarily […] It’s not as though Gary Panter’s work would have been well served by having an acetate cover in which the colour slid out – like we did with Moriarty’s Jack Survives12 – or that Moriarty would have been well served by the cardboard cover. (Zit. nach Heller online)  



12 RAW One-Shot Nr. 3, eine Anthologie von Jerry Moriartys (*1938) Strip Jack Survives (1984), besitzt einen Schutzumschlag aus transparenter Folie, auf die die Zeichnung gedruckt ist, während die Farben auf dem eigentlichen Bucheinband gedruckt sind, so dass beide Elemente voneinander gelöst werden können.  

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In mehreren eigenen Werken hat auch Spiegelman die Materialität des Trägermediums Buch bei der Gestaltung der Comics einbezogen, z. B. in In the Shadow of No Towers (2004) sowie im Kinderbuch Open me, I’m a Dog (1997). Andere Comickünstler, bei deren Werken die Buchgestaltung ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, sind u. a. Seth (d. i. Gregory Gallant), Paul Hornschemeier und Ben Katchor. Katchors The Cardboard Valise (2011) hat Chip Kidd (der v. a. als Buchgestalter bekannt ist, 2012 aber auch den Comic Batman. Death by Design vorgelegt hat) mit Griffen versehen, an denen das Comicbuch wie ein Koffer getragen werden kann. Geht es in der Geschichte inhaltlich u. a. um einen Pappkoffer und die Reisen, bei denen er hilft (oder die er erschwert), so greift Kidd dieses Thema auf, indem er am Buch selbst Griffe anbringt. Das so gestaltete Buch wird metaphorisch als Behältnis präsentiert, das, in Analogie zu einem Koffer, einen ‚Inhalt‘ hat, den es transportabel macht.  









Chris Ware. Als einflussreichster zeitgenössischer Comicautor ist – auch und insbesondere mit Blick auf die Buchgestaltung – Chris Ware zu nennen.  



More than perhaps that of any other modern cartoonist, Ware’s work is highly contextualized and thematized through its publication design. Not only has Ware created a series of artists’ books in the form of comic books; he has, further, created an all-encompassing reading experience—the entire Acme series—which is united in terms of visual design, narrative themes, and characters, by one guiding artistic and aesthetic principle (Kannenberg 2001, S. 196).  

In einem frühen Interview unterstreicht Ware seine Distanz gegenüber überkommenen Gestaltungsvorgaben: „There’s so much regularity. I still don’t understand why comic books have to be the size they are now, because they’re based on a mother sheet size that was specific to the printing industry at a particular time and is no longer the form“ (Williams 1994, S. 10). Zum Ausdruck kommt hier auch der Einfluss der ‚Alternative Comics‘. Auf Spiegelmans Einladung hin steuert Ware, der bereits während des Studiums Comics veröffentlicht, 1990/1991 Werke zu den letzten beiden Ausgaben von RAW bei. Es folgen Veröffentlichungen in zahlreichen amerikanischen Magazinen und Zeitungen (The New Yorker, New York Times etc.). Seine Comic-Reihe ACME Novelty Library (1993ff.) zeichnet sich durch eine Verschränkung von Trägermedium (Heft, Buch, Mappe) und ‚Inhalt‘ aus. Leitend für ihre Gestaltung sind häufig Stile und Designs des frühen 20. Jahrhunderts sowie popkulturelle Artefakte (u. a. Bastelbogen). Für die Gesamtausgabe der Graphic Novel Jimmy Corrigan, the Smartest Kid on Earth sowie für eine von ihm herausgegebene Nummer der Literaturzeitschrift Timothy McSweeny’s Quaterly Concern gestaltet Ware ausfaltbare Schutzumschläge, die selbst Teile der Geschichten erzählen. Auch die Vorsatzpapiere und sonstige Ausstattungsmerkmale des Kodex werden mit einbezogen. Mit Building Stories legt Ware 2012 ein Schachtelbuch vor, das sich, einschließlich der Schachtel selbst, aus 15 Elementen zusammensetzt. Die Hefte, Bücher und sonstigen Formate verweisen dabei auf gängige Industriestandards wie das Comicheft und den Zeitungsbogen sowie populäre Publikationsreihen wie die Little Golden Books (1942ff.). Die Geschichten, die Ware in Building  





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Stories erzählt, drehen sich um ein Apartmentgebäude und dessen Mieter; der Titel des Book-in-a-box verweist – darauf abgestimmt – auf die Idee des ‚Bauens‘ (oder ‚Bastelns‘) von Geschichten aus vorgefundenem Material, mit dem die Leser nun arbeiten können. 2017 erscheint Wares Monograph, ein Kodex im Folio-Format (33,5 × 46,5 cm), der als – selbstkuratiertes und -kommentiertes – Museum seines Schaffens angesehen werden kann. Es enthält zahllose Abbildungen seiner Werke – Skizzen, Vorzeichnungen, Malerei, Dioramen, Plastiken, Spielzeuge, Comics usw. –, die teils in eingeklebten Heften präsentiert werden.  

















Comic-Buchkunst in Frankreich. Von Frankreich ausgehend etablierte sich seit 1975 die Zeitschrift Métal hurlant, die in mehreren Ländern, darunter auch die USA, lokalisierte, Tochterpublikationen‘ hatte, die in der jeweiligen Landessprache erschienen (Schwermetall, Heavy Metal usw.). Dort veröffentlichten bis 1987 zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, insbesondere Jean Giraud (gen. Mœbius; 1938–2012) Comicgeschichten, die sich bildästhetisch und strukturell-narrativ von den Standards der etablierten Albenproduktionen deutlich abhoben. Diese bestanden vorwiegend aus humoristischen Geschichten (z. B. Astérix, Spirou et Fantasio) oder Abenteuererzählungen verschiedener Genres (z. B. Blueberry, Valerian et Laureline). Hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Literatur zum Teil auf die Avantgarden der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg rückbezogen und in Konkretismus, Lettrismus usw. an deren Programme angeknüpft, so kommt es im Bereich der Comics seit den Underground Comix, insbesondere aber seit den 1980er und 1990er Jahren in vergleichbarer Weise zur Veröffentlichung ‚experimenteller‘ Arbeiten. Beispielhaft ist die an Oulipo ausgerichtete OuBaPo-Gruppe (Ouvroir de bande dessinée potentielle), der u. a. Lewis Trondheim (d. i. Laurent Chabosy; *1964), Anne Barou (*1965), Jean-Christophe Menu (*1964) und Patrice Killofer (*1966) angehören oder angehört haben. Das Sprachrohr der Gruppe ist ihr Verlag L’Association mit dem dort erscheinenden Magazin Lapin. Wie bei OuLiPo die Texte, so basieren hier die Comics der Mitglieder auf der Beschränkung durch eine Regel, wobei immer wieder neue Möglichkeiten des Erzählens in Comicform erprobt werden – auch materielle Gestaltungsformen, wie in dem an das Dominospiel angelehnten ludistischen Comic-Spiel DoMiPo von Killofer und Barou (2009) oder in Coquetèle (2002) von Barou und Vincent Sardon (*1970). Hier erfolgt die Lektüre als Wurf dreier mit Comicpanels bedruckter Würfel, womit nicht zuletzt auf Stéphane Mallarmés (1842–1898) berühmtes Visuelles Gedicht Un Coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897/1914) angespielt wird. Mit Le ScrOUBAbble von Etienne Lécroart (*1960) erscheint 2005 ein weiteres Spiel, in diesem Fall angelehnt an das bekannte Brettspiel Scrabble. Statt Buchstaben werden hier Comicpanels – gezeichnet von Lécroart, Killofer, Menu, François Ayroles (*1969) und Jochen Gerner (*1970) – auf dem Spielbrett platziert, so dass sie narrative Sequenzen bilden. L’Association und OuBaPo haben diverse Nachfolger gefunden, die ‚avantgardistische‘ oder ‚experimentelle‘ Comics zu ihrem Hauptprojekt machen, darunter der 2004 gegründete Verlagsverein The Hoochie Coochie (Paris; https://www.thehoochiecoo 













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chie.com/association; 13.09.2017). Der Verlag nimmt in hohem Maße experimentelle Comics ins Programm auf, teils mit begrenzten Auflagen, so beispielsweise die in Anlehnung an einen Faltplan gestaltete Pantaléonnade à choix multiples (2016) von Léo Duquesne und Adrien Houillere, Matti Hagelbergs Book-in-a-box Le 14e Jour du mois (2014) oder Jérôme LeGlatins und Emmanuel LeGlatins Crapule (2015). Letzterer Comic besteht aus 14 achtseitigen Teilen, von denen je elf zufällig ausgewählte in opaken versiegelten Beuteln mit einer Gesamtauflage von 364 Exemplaren vertrieben werden: chaque étui Crapule est un ensemble incomplet (tableau troué, machine brisée), il offre aussi un contenu absolument unique, un possible de lecture à nul autre pareil. Trésor inestimable et pièce de rebut, donc, chaque étui. Ainsi va le concept, creusant sa voie jusque dans les récits — hantés par les figures du drone, de la dépression et de la vermine — et au-delà. (https://www.thehoochiecoochie.com/catalogue/livres/hors-collection/192-j-et-e-leglatin-crapule; 13.09.2017).

Der 2010 gegründete Verlag Éditions Polystyrène knüpft ebenfalls an die buchgestalterischen und experimentellen Ideen von OuBaPo und L’Association an; auch bei den Publikationen dieses Verlags steht das formale Experiment mit dem Trägermedium im Mittelpunkt (vgl. Peter 2015, S. 2f.). So sind Lignes Noires (2012) von Adrien ThiotRader und Ludovic Rio sowie Le trésor mathématique de Polybius von Pedro Stoichita (2017) Mehrfachbände, bei denen mehrere Buchblöcke so nebeneinander gebunden wurden, dass sie und die auf ihnen platzierten Elemente parallel durchblättert und gelesen werden können. Die Seiten von Florian Huets Layers (2011) sind so ausgestanzt, dass sie schichtweise eine Einheit bilden und das zu erkennende Bild durch das Umblättern jeweils nur teilweise modifiziert wird, ähnlich der Konstruktion von Jonathan Safran Foers Tree of Codes (2010). Im (Selbst-)Verlag La Poinçonneuse produziert Huet unter dem Motto „à la recherche de l’image dans ses apparitions et ses disparitions“ u. a. Les enquêtes imperceptibles d’Emilio Ajar, eine Reihe „des livres avec des images et des textes imprimés en pratiquant une multitude de petits trous dans le papier. Les trous sont réalisés par une machine, une imprimante faite main, d’où le nom de La Poinçonneuse“.13 Mit Pierre Jeanneaus Heavy Toast (2011) und Thomas & Manon (2015) von Rémi Farnos und Alex Chauvel sind zwei Loseblattsammlungen bzw. Schachtelbücher erschienen, deren konkrete Reihenfolge sich bei der Lektüre jeweils entweder zufällig ergibt oder aber bewusst gewählt werden kann. In der Anthologie polychromie (2014) erzählen 16 Beiträgerinnen und Beiträger Geschichten auf verschiedenen Ebenen, die unter Verwendung von Rot- und Blaufiltern sichtbar gemacht werden müssen.  



Marc-Antoine Mathieu. Obschon selbst kein Mitglied, wird Marc-Antoine Mathieu (*1959) in der Nähe der Gruppe OuBaPo verortet (vgl. Lamarche-Amiot 2002, S. 33f.).  

13 https://lapoinconneuse.wordpress.com/a-propos/ (13.09.2017).

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Mathieu, der mit Blick auf die Buchgestaltung als der einflussreichste französische Comicautor anzusehen ist, hat seit den späten 1980er Jahren knapp zwei Dutzend Comicalben vorgelegt, von denen vor allem die sechs Bände der Reihe Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves (L’Origine, 1990; La Qu…, 1991; Le Processus, 1993; Le Début de la fin/La Fin du début, 1995; La 2,333e Dimension, 2004; Le Décalage, 2013) aufgrund ihrer Medienreflexivität in der Forschung vergleichsweise viel Beachtung gefunden haben (z. B. Lohse 2014; Beikirch/Wagner K 2017; Schmitz-Emans 2012b, S. 218–248). Mathieus stark von literarischen Texten (Franz Kafka, Jorge Luis Borges) beeinflusste Werke behandeln verschiedenste Aspekte des Erzählens, des Mediums Comic sowie des Mediums Buch, einschließlich der Drucktechnik und der Buchgestaltung. Speziell der Zusammenhang von Erzählen in Comicform im gedruckten Buch wird mehrfach aus verschiedenen Perspektiven sowohl praktisch (durch die Gestaltung des Werkes) als auch auf der inhaltlichen Ebene reflektiert. So geht es in L’Origine u. a. um ‚Löcher‘ und Zeitschleifen in der Narration, die mittels eines aus der Seite ausgestanzten Rechtecks sinnfällig gemacht werden, durch das Panels der übernächsten respektive der vorletzten Seite sichtbar sind und in die Narration auf der gestanzten Seite integriert werden. Le Processus enthält als Höhepunkt der Handlung eine sich aus der Seite ausfaltende Spirale als Pop-up-Element und lädt mithin dazu ein, über die Zwei- bzw. Dreidimensionalität des Mediums Comic und des Mediums Buch zu reflektieren. La 2,333e Dimension knüpft an der gleichen Stelle an; hier arbeitet Mathieu jedoch mit der Anaglyphentechnik, um mit stereoskopischen Bildern eine dreidimensionale Welt zu simulieren. In La Qu… wird der Vierfarbdruck thematisiert, indem unerwartet Farben in die bis dahin schwarz-weiße Acquefacques-Storyworld eindringen. In La Décalage ist der ‚Inhalt‘ des Buches um mehrere Seiten nach hinten verschoben, so dass sich der ‚eigentliche‘ Einband erst weiter hinten findet, während auf dem tatsächlichen Bucheinband ein Teil der Narration zu finden ist: Die Lektüre des Buches beginnt hier im doppelten Sinne medias in res. Auch in seinen anderen Alben verfolgt Mathieu ähnliche Interessen an Aspekten materieller Buchgestaltung, wobei er meist eine oder wenige Ideen fokussiert und sie – eingebettet in Handlung – durchspielt. Buchdesign und erzählte Geschichte bilden dabei eine Einheit (vgl. Konopka 2013; Bachmann 2016b, S. 238–253).  











Ein strukturelles Experiment mit Buchmechanik und Comicnarration. Das Buch besitzt eine Reihe basaler medialer Eigenheiten, die als seine Mechanik bezeichnet werden können; in Texten, die sich selbstreflexiv mit dem Buch auseinandersetzen, dienen sie nicht selten als Ausgangspunkt für erzählerische und buchgestalterische Experimente. Beispielhaft dafür ist die Klappsymmetrie des Kodex, die sich aus der Falzung der Druckbogen ergibt. Ein fertiger Kodex muss nicht notwendigerweise klappsymmetrisch sein – jede Seite könnte eine eigene Form und Größe aufweisen –, doch die übliche serienmäßige Herstellung aus rechteckigen Druckbogen, die zu mindestens vier, in der Regel 16 Seiten gefalzt werden, bringt einen rechteckigen Kodex hervor, bei dem alle Seiten gleich groß sowie gleichförmig sind und damit alle Dop 



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pelseiten entlang der Bindekante axialsymmetrisch sind. Luc Schuiten (*1944) und François Schuiten (*1956) beziehen sich auf diese Eigenschaft, wenn sie ihr Album Nogégon (1990), den dritten und letzten Band der Reihe Les Terres creuses, in mehrfacher Hinsicht symmetrisch, genauer palindromisch, anlegen. Nogégon spielt auf einem gleichnamigen fiktiven Planeten, dessen Name ebenso wie der vieler anderer intradiegetischer Orte und Figuren ein Palindrom ist. Die Geschichte wird linear erzählt, ist jedoch anders als ein Palindrom nicht in beide Richtungen lesbar, obwohl der palindromische Aufbau des Buches dies zunächst nahelegt. Das Buch beginnt mit einer zweiseitigen Titelei bestehend aus Titelseite und Impressumsseite. Letztere verzeichnet außer den peritextuellen Verlagsinformationen auch eine Lexikondefinition des Palindroms und erzeugt damit eine spezifische Lesererwartung. Dem folgt der Zwischentitel des ersten Kapitels und eine Vakatseite, die Handlung beginnt auf S. 5. Das zweite Kapitel wird wiederum auf einer eigenen Seite eingeführt, die von einer Vakatseite gefolgt wird. Der dritte Zwischentitel dieser Art führt zwei Kapitel gleichzeitig ein, die Kapitel 3 und 3′. Ab hier erfolgt die Kapitelzählung rückwärts (von 3′ abwärts zu 1′) und die Vakatseiten stehen vor den Zwischentiteln. Nach dem Ende der Handlung schließt erneut eine Impressumsseite an, die nun in umgekehrter Reihenfolge zunächst die Informationen zur Publikation bietet. Auf der folgenden Titelseite steht erneut der Titel Nogégon, nun aber am Fuß der Seite. Den Mittelpunkt der Geschichte bildet die Mitte der Bindekante zwischen den Seiten 36 und 36′. Vom Mittelpunkt aus werden die Seiten abwärts gezählt. Die jeweils korrespondierenden Seiten (5/5′, 6/6′ usw.) sind hinsichtlich des Panellayouts punktsymmetrisch angelegt. Die Symmetrie erstreckt sich auch auf die erzählte Welt. Die Protagonistin Nelle betritt im Laufe der Erzählung die Stadt Dramard, deren Bewohner ihr Leben an Symmetrien ausrichten. Sie begegnet auf der Suche nach ihrer Freundin Olive u. a. dem Künstler Natan, mit dem sie eine Liebesbeziehung eingeht, die eine Spiegelung seiner vorangegangenen Beziehung zu Olive darstellt. In vergleichbarer Weise verweisen Wendebücher auf die Symmetrie des Kodex, beispielweise Marc-Antoine Mathieus Le Début de la fin. Darin konstruiert Mathieu eine Spannung zwischen dem konventionellen Verlauf einer Narration (mit einem Anfang und einem Ende) und dem Medium Buch, das zwei Anfänge bzw. zwei Enden besitzt. Erzählt werden zwei Geschichten, jeweils von beiden Anfängen des Wendebuchs her beginnend; sie treffen sich in der Mitte des Buches.  



Forschungsperspektive. In der Buchwissenschaft und -geschichte spielen Comics kaum eine Rolle, in vielen einschlägigen Studien werden sie nicht einmal erwähnt (vgl. Priego 2011, S. 117f., auch online). Umgekehrt spielt in der Comicforschung die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Trägermedium (Comicheft, -buch, -album etc.) und dem ‚eigentlichen‘ Comic bislang eine untergeordnete Rolle, allerdings wurde das Problem durchaus als solches erkannt. So schreibt John A. Walsh in der Erläuterung zu der von ihm entwickelten Comic Book Markup Language (CBML):  

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The language under discussion here is called Comic Book Markup Language in part to highlight the book-ness and bookishness of these documents, their material properties and bibliographic characteristics. Graphic narratives typically manifest as ‚books‘ stapled or otherwise bound leaves, […] with an interesting and complex structure, incorporating the graphic narrative […] alongside a rich assortment of paratexts: advertisements, fan mail, and so on. The emphasis on both ‚comics‘ and ‚books‘ in the title of the language signals an awareness of the full range of content in the material artifact and the integration of comics content with related paratextual content. The material properties of the book—the codex form, the leaves and pages, the physical properties of the paper—are inseparable from the structure, pacing, and design of the narrative (Walsh 2012, unpag., Hervorhebung im Original).

Emma Tinker stützt Charles Hatfields Einschätzung, wenn sie beobachtet, dass „writers and illustrators of alternative comics show a particular interest in the material form of their work, and that this preoccupation is linked to the publication history of these texts“ (Tinker 2007, S. 1169). „From the beginning“, so Tinker, „the physical product – the size, shape and feel of ink on cheap, folded paper – played a crucial role in the reception of alternative comics“ (ebd., S. 1170). Ernesto Priego fordert folgerichtig: „Where comics are understood to be a cultural expression, it is important to underscore the materiality implied by both the term and the experience built between reader, context and text“ (Priego 2011, S. 125; vgl. auch Bachmann 2016b). CAB  









Definitionsansätze: Bookness, Buchreflexivität, Strukturalität des Buchs (Johanna Drucker, Anne Mœglin-Delcroix, Keith A. Smith) Die Zahl der Stimmen und Positionsbestimmungen im Diskurs über das Künstlerbuch ist groß; einige davon haben in besonderem Maße Einfluss auf die Diskussion und, zumindest indirekt, wohl auch auf die Produktion von Buchwerken genommen, teils aus der Doppelrolle als Theoretiker und Praktiker der Buchgestaltung heraus. Johanna Drucker: A Century of Artists’ Books. Johanna Druckers Monografie A Century of Artists’ Books erschien 1995; 2004 folgte eine Neuauflage mit einem Vorwort von Holland Cotter, nachdem das Buch zum zentralen Referenzwerk geworden war.14

14 Wichtige Publikationen von Johanna Drucker in Übersicht: Graphesis: Visual Forms of Knowledge Production. Cambridge 2014; The Century of Artists’ Books. Zweite Aufl. New York 2004 (1995); Figuring the Word: Essays on Books, Writing, and Visual Poetics. New York 1998; The Self-Conscious Codex: Artists’ Books and Electronic Media. In: Substance 82 (1997), Sonderausgabe: Metamorphosis of the Book. Hg. von Renée Riese Hubert, S. 93–112; The Public Life of Artists’ Books: Questions of Identity. In: Journal of Artists’ Books 2 (1994), S. 1f., 4, 6, 10f.  



Definitionsansätze

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Es bietet eine erste umfassende Darstellung zum Thema Künstlerbuch, die die historische wie auch aktuelle Entwicklung berücksichtigt und die verschiedenen Möglichkeiten der Nutzung des Buches als künstlerisches Ausdrucksmedium anhand zeitgenössischer Beispiele veranschaulicht. Als essenziell für das Künstlerbuch betrachtet Drucker das Zusammenwirken von Gestaltung, Inhalt und Material. Druckers Verständnis für Funktion und Wirkung buchrelevanter Faktoren beruht auf einem Studium am California College of Arts and Crafts und seiner theoretischen Vertiefung im Rahmen der Visual Studies an der University of California in Berkeley. Drucker bezieht in ihre Erörterungen vermehrt auch die digitale Umsetzung und elektronische Nutzung von Text- und Bildmaterialien ein; zudem konzipiert und gestaltet sie Künstlerbücher.15 Selbstreflexivität, bookness. Ihrem Ansatz zufolge ist ein als künstlerisches Ausdrucksmedium genutztes Buch dann als Künstlerbuch zu bezeichnen, wenn es selbstreflexiv ist und buchspezifische Strukturen aussagerelevant einsetzt – Eigenschaften, die Drucker in dem Begriff bookness fasst,16 gleich, ob hochwertige oder einfache Materialien verarbeitet werden.17 Künstlerbuchrelevante Prinzipien sieht Drucker in theoretischen Reflexionen von Maurice Blanchot, Roland Barthes und Jacques Derrida ausformuliert. Drucker verzichtet auf eine historische Eingrenzung des Gegenstandes. Bücher mit künstlerbuchrelevanten Eigenschaften seien bereits vor dem Begriff „Künstlerbuch“ entstanden, etwa in Gestalt von Emblembüchern. Allerdings grenzt sie in der Retrospektive Beispiele aus, die ebenfalls Kriterien des Künstlerbuches erfüllen, denen jedoch ein anderer konzeptioneller Ansatz zugrunde liegt, wie im Fall der aus der Arts & Crafts-Bewegung hervorgehenden Bücher, der Pressendrucke oder der französischen Malerbücher aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn Drucker den Begriff bookness im Weiteren nicht gebraucht, führt sie, indem sie Gestaltungs- und Konzeptionskriterien für das Künstlerbuch beschreibt, viele Beispiele für die Relevanz von bookness an, etwa die Nutzung des Buchraumes als visuelle Ge 



15 Eine Zusammenstellung der von Drucker erarbeiteten Themenfelder findet sich in dem 1998 erschienenen Sammelband Figuring the Word: Essays on Books, Writing, and Visual Poetics. Hier sind die von Drucker in Zeitschriften und Tagungsbänden publizierten Essays zum Künstlerbuch versammelt. Zu ihren Künstlerbüchern gehören u. a. Titel wie das gemeinsam mit Brad Freeman konzipierte History of my/ the World (1990), Narratology (1994), Nova Reperta (1999), Wittgenstein’s Gallery (2010), Subjective Meteorology (2010) oder Stochastic Poetics (2012). Einen umfassenden Überblick zu den wissenschaftlichen Publikationen wie auch den Künstlerbüchern liefert die Homepage der Künstlerin: vgl. Drucker, Johanna: Publications. In: http://johannadrucker.net/articles.html. 16 Den Begriff bookness verwendet Drucker in The Century of Artists’ Books im ersten Kapitel „Artist’s Book as Idea and Form“, in dem sie auf Grundsätzliches zu Begriff und Ausprägungen von Künstlerbuchtypen eingeht. Vgl. Drucker 1995a, S. 9. 17 Der 2009 von Pressman verwendete Begriff „bookishness“ geht von den Inhalten aus und bezeichnet die Art und Weise, in der sie die Materialität des Buches reflektieren. Vgl. Pressman 2009, auch online.  



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stalt, als Experimentierfeld, als sequenzielle Struktur, als Ausstellungs- oder Dokumentationsraum. Das Künstlerbuch-Jahrhundert. Bezieht man wie Drucker die experimentellen Umgangsformen mit dem Buch in der russischen Avantgarde sowie auch die Praktiken zeitgleicher und nachfolgender Kunstströmungen in Westeuropa in die Betrachtung ein, so ist das Künstlerbuch eine spezifische Kunstform des 20. Jahrhunderts, die sich zunehmend von jeglicher Funktionsbindung emanzipiert. Die gezielte Nutzung buchmedialer Eigenschaften als künstlerischer Ausdrucksträger tritt für Drucker verstärkt ab den 1960er Jahren in Erscheinung. Wurde in der Avantgarde das Buch genutzt, um eine künstlerische Aussage zu transportieren, so etabliert es sich nun als eigenständige Kunstform, die nicht mehr stilgebunden ist, sondern eine Pluralität an Stilen und Ausdrucksformen zulässt. Ihre in The Century of Artists’ Books ausgeführten Überlegungen greift Drucker in späteren Aufsätzen und Buchbeiträgen auf, fügt neue Beispiele und Überlegungen hinzu, bleibt jedoch insgesamt dem Konzept von 1995 verbunden.  

Anne Mœglin-Delcroix: Esthétique du livre d’artiste. Nach The Century of Artists’ Books von Johanna Drucker ist Esthétique du livre d’artiste. Une introduction à l’art contemporain von Anne Mœglin-Delcroix (Paris 1997a, erweiterte und überarbeitete Neuauflage 2012) eine zweite umfassende und grundlegende Darstellung zum Künstlerbuch.18 Mœglin-Delcroix’ Beschäftigung mit der Thematik unterscheidet sich von dem sowohl historisch wie auch formal-ästhetisch weit gefassten Ansatz Druckers durch die ausschließliche Konzentration auf das im Zuge der Konzeptkunst aufkommende Künstlerbuch, für die Mœglin-Delcroix Beispiele aufführt, deren Entstehung sich zwischen 1960 und dem Beginn der 1990er Jahre verorten. Die doppelte Qualität des Künstlerbuches als Buch und Kunstwerk (als Artefakt, das gleichermaßen „livresque“ und „artistique“ ist), unterscheidet es für Mœglin-Delcroix von den Arbeiten der écrivains d’art, also solcher Autoren, die ihre Texte mit Bildern ausgestalten, über die sie schreiben und die insofern konstitutiv allein für den Text (nicht aber für das Buch als solches) sind. Das Künstlerbuch konzentriert sich demgegenüber ganz auf das Buch und seine Charakteristika. Verschiedene Stile und Ästhetiken werden mit dem Buch verbunden, wie Mœglin-Delcroix zeigt, etwa mit Blick auf die Konkrete und Visuelle Poesie und Künstler wie Ian Hamilton Finlay, Simon Cutt, Guillermo Deisler – oder auch mit Blick auf partizipative Ansätze, mit denen Künstler wie Robert Filliou,  

18 Wichtige Publikationen von Anne Mœglin-Delcroix: Le livre d’artiste et la question de l’exposition. In: Mélois, Clémentine (Hg.): Publier]…[Exposer. Les pratiques éditoriales et la question de l’exposition. Nîmes 2011b, S. 13–30; Sur le livre d’artiste. Articles et écrits de circonstance (1981–2005). Marseille 2006; Le livre comme idée. Bernard Villers et Jorge Luis Borges. Introduction. In: Centre des livres d’artistes/Association Pay-Paysage (Hg.): Catalogue raisonné des livres de Bernard Villers. Saint-Yrieix-LaPerche 2003, S. 9–18.  



Definitionsansätze

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George Brecht, Ben Vautier und andere Vertreter der Fluxus-Bewegung sich des Buches als Ausdrucksmedium bedienen. Spezielle Ausführungen widmet Mœglin-Delcroix dem Buch als Dokumentations- und Archivraum sowie dem Buch als Ort des Sammelns und Zusammenstellens von Objekten, exemplifiziert durch die Arbeiten von Christian Boltanski, Annette Messager oder Hans-Peter Feldmann. Das Buch erscheint als funktionales Pendant des musealen Raumes oder der musealen Sammlung. Am Beispiel der Arbeiten von Sol LeWitt zeigt Mœglin-Delcroix auf, welche Möglichkeiten sequentieller Strukturen das Buch bietet und wie solche Sequenzen genutzt werden, um zeitliche Abläufe zu visualisieren. Ihre Referenzen auf einzelne Künstler in unterschiedlichen Zusammenhängen zeigen insgesamt, dass sich kaum einer einem spezifischen Konzept verschrieben hat oder nur eine einzelne künstlerische Tendenz vertritt, sondern die meisten sich vielmehr das weite Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten des Buchs zunutze machen. Einige von Mauricio Nannuccis Büchern stehen in Verbindung mit Konkreter und Visueller Poesie, andere greifen die Leitidee von der Kunst als sozialem Statement auf, wieder andere stellen Reihung und Sammelanliegen in den Mittelpunkt. Polyvalent erscheinen die Werke von Ian Hamilton Finlay, Robert Filliou, Dieter Roth oder Ed Ruscha. Thematische Interessen in der Buchkunst. Zentrale Impulse künstlerischer Arbeit an Büchern sind neben der Wahrnehmung des Buches als einem vertrauten, alltäglichen Gegenstand buchmediale Eigenschaften, die nicht lediglich als gegeben hingenommen werden, sondern vielmehr auf ihr Potenzial hin untersucht und in ihren Möglichkeiten für die individuellen Anliegen eingesetzt werden. Dabei werden Objektcharakter, Taktilität und interaktive Potenziale des Buchs ebenso signifikant wie die Grenze von Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Die Räumlichkeit des Buches kann als Alternative zur Flächigkeit der Malerei genutzt werden, wie es beispielsweise Bernard Villers tut. Andere Bücher entstehen aus schon vorhandenen Büchern, teils durch bedeutungsrelevante Zerstörungsprozesse. Manchmal werden ganze Bücher appropriiert, um ihre Aussage umzuformen. Insgesamt erarbeitet Mœglin-Delcroix verschiedene Formen der Gruppierung und die Grundlagen für eine vergleichende Kartierung des weiten Geländes der Buchkunst. Erörtert wird auch, inwiefern durch die Konzeptkunst beeinflusste Künstlerbücher sich von späteren Konzeptionen unterscheiden. Das künstlerisch gestaltete Buch ist demzufolge für eine jüngere Generation vor allem als Distributionsmedium interessant: Es wird zwar weiter wegen seiner besonderen morphologischen, technischen und praktischen Eigenschaften genutzt, jedoch vorrangig, um Arbeiten zu verbreiten, die als solche nicht vom Buch abhängen. Mœglin-Delcroix spricht auch hier von ‚Künstlerbüchern‘, betont aber die Notwendigkeit neuer Zugänge. Eine abschließende, alle Ausprägungen des Künstlerbuches einschließende Definition erscheint als nicht möglich. Keith A. Smiths Arbeiten. Im Zentrum der Arbeit von Keith A. Smith stehen zum einen selbst gestaltete Künstlerbücher sowie zum anderen Bücher, in denen er seine

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ästhetische Produktivität reflektiert, Konzepte und Techniken analysiert und allgemeine Hinweise zur Herstellung und Deutung von Künstlerbüchern bietet.19 Ein verbindendes Merkmal seiner publizierten Bücher ist, dass er alle mit einer fortlaufenden Nummerierung versieht, ohne dass zu erkennen wäre, ob der jeweilige Titel als Künstlerbuch oder als Handbuch konzipiert ist. Sein erstes Künstlerbuch, das Book 1, entsteht 1967 während des Studiums am Rochester College und enthält überwiegend Fotografien, die von den Arbeiten Walker Evans’ inspiriert sind. In Book 200, an Annotated Bibliography zieht Smith ein Resümee seines Arbeitens, indem er hier die bis Mai 2000 erschienenen Titel zusammenstellt und kommentiert. Dieser Überblick macht die Schritte ersichtlich, in denen der Künstler buchkonstituierende Faktoren erschließt und ihre Effekte analysiert. Dazu zählen Titel wie The Structure of the Visual Book (Book 95) (1984, Neuauflage 1992), Text in the Book Format (Book 120) oder NonAdhesive Bindings (1995), letzteres mehrbändig.20 Übergangsformen zwischen ästhetischer Gestaltung und Theorie. In manchen Büchern Smiths werden die inhaltlichen Ausführungen von so vielen Zeichnungen und Bildbeispielen des Künstlers begleitet, dass künstlerische und theoretische Darstellung ineinander übergehen. The Structure of the Visual Book, 1984 in erster Auflage erschienen, der 2003 mit The New Structure of the Visual Book eine erweiterte Neuauflage folgt, kann als eines der Schlüsselwerke von Smiths Buchproduktion betrachtet werden, weil er hier systematisch buchkonstituierende Elemente vorstellt und in ihrer Varietät beschreibt.21 Als grundlegende, seine gesamte Publikationstätigkeit leitende Aussage kehrt Smith die wechselseitigen Einflüsse von Gestaltung, Funktion und Handhabung des Buchs hervor. Der Einfluss, den physikalische Gegebenheiten auf die Rezeption haben, kann stark durch die Gestaltung beeinflusst werden, wie Smith etwa am 1982 entworfenen String Book zeigt: Hier hat der Künstler die Seiten mit Gum19 Wichtige Publikationen von Keith A. Smith: The New Structure of the Visual Book. Rochester, NY 2003; Two Hundred Books by Keith Smith: Book Number 200, an Anecdotal Bibliography. Rochester, NY 2000a; The book as a physical object. In: Rothenberg, Jerome/Clay, Steven (Hg.): A book of a book. Some words and projections about the book and writing. New York 2000b, S. 54–70; Text in the Book Format (Book 120). Rochester, NY 1989a; Book 141. Rochester, NY 1989b; Prepositional Space (Book 124). Rochester, NY 1988; Swimmer. Rochester, NY 1986a; Snow Job Book (Book 115). Rochester, NY 1986b; Overcast/Outcast. Rochester, NY 1986c; Out of Sight. Rochester, NY 1985b; Book 106. Rochester, NY 1985a; The Structure of the Visual Book. Book 95. Rochester, NY 1984; String Book (Book 137). Barrytown, NY 1982. 20 Volume I: Non-Adhesive Binding: Books without Paste or Glue; Volume II: Non-Adhesive Binding: 1–2- & 3-Section Sewings; Volume III: Non-Adhesive Binding: Exposed Spine Sewings; Volume IV: NonAdhesive Binding: Smith’s Sewing Single Sheets; Volume V: Non-Adhesive Binding: Quick Leather Bindings. Rochester, NY. 21 Smith, Keith A.: The Structure of the Visual Book. Book 95, Rochester, NY 1984, 116 Seiten, Auflage: 1.000 Exemplare, davon 25 signiert und nummeriert, handgenäht und in Leder gebunden. Die hier vorgestellten Elemente der Buchgestaltung fasst Smith in seinem im Jahr 2000 erschienen Aufsatz The book as a physical object zusammen. Vgl. Smith 2000b.  

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mibändern verknüpft, die, durch kleine Lochstanzungen gefädelt, den gesamten Buchblock durchlaufen. Die Laufrichtung der Gummis wird durch die von Seite zu Seite wechselnde Position der Lochungen gelenkt. So modifiziert sich die auf die einzelnen Seiten ausgeübte Spannkraft, weshalb beim Blättern mal mehr, mal weniger Widerstand zu spüren ist. Bei Swimmer (1986) nutzt Smith die fortlaufende, nicht durch Einzelseiten segmentierte Fläche eines Leporellos, um die Bewegung des im Wasser treibenden Körpers zu veranschaulichen. Das Fließende, das sich im Motiv der Zeichnung ausdrückt, wird vom Schriftverlauf aufgegriffen. In Arbeiten wie Out of Sight (1985), Snow Job (Book 115; 1986) oder Overcast/Outcast (1986) erprobt Smith typografiebasierte Gestaltungsvarianten, die durch die Technologie (wie die eines alten Computerprogramms) oder durch Seiteneinteilung und -organisation geprägt sein können. Mit Schnitten nimmt er, wie bei Out of Sight, Einfluss auf die Wahrnehmung und die Architektur des Buches. Techniken wie Schneiden und Falten können, wie bei den vom Künstler als „inkless books“ bezeichneten Büchern, zentrale gestaltende Faktoren werden und als solche an die Stelle des Gedruckten treten. Die einzelne Seite vergleicht Smith mit einer Ausstellungsfläche, deren Möglichkeiten sich durch die Seitenabfolge vervielfachen. So beschränkt sich eine Bildsequenz nicht allein auf die Fläche der Seite, sie kann sich ebenso über die Seitenabfolge verteilen. Bei der seitenweisen Abfolge der Bilder können durch daumenkinoartige Effekte beim Blättern die Bildmotive in Bewegung versetzt werden. Auch wenn Smith die Gestaltungsansätze separat beschreibt, unterstreicht er grundsätzlich das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren als essenziell für Aussage und Wirkung des jeweiligen Buchs. Seine umfassende Beschäftigung mit dem Buch begründet Smiths Bedeutung für die Auseinandersetzung mit dem Genre Künstlerbuch. Johanna Drucker führt in ihrem Buch The Century of Artists’ Books neun Beispiele aus Smiths Produktion auf.22 VHS

Erfundene Bücher: Buchfiktionen und Buchphantasien in der Literatur Geschichten über Bücher, Beschreibungen von Büchern sowie mit dem Buch verknüpfte Phantasien und Spekulationen sind als Bestandteile literarischer Texte wichtige Ausdrucksformen literarischer Selbstreflexion, schon weil die Vokabeln ‚Buch‘ und ‚Literatur‘ vielfach als Homonyme behandelt werden. Literarische Auseinandersetzungen mit dem ‚Buch‘ sind, vor allem infolge der immer mitschwingenden metonymischen Beziehung zur Literatur, Anlässe zum Schreiben über das Schreiben (das

22 Eine Übersicht über Smiths Bücher mit Abbildungen finden sich online unter http://www.brucesilverstein.com/artists/keith-smith und http://www.keithsmithbooks.com.

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‚Büchermachen‘) und das Lesen (das dabei vielfach auch unter dem Aspekt der Handhabung von Büchern in den Blick gerät), über literarische Kommunikation und die Überlieferung von Literatur. Bücher – als literarisches Motiv und Thema – bieten darüber hinaus aber auch Anschlussstellen für andere Themen: In Buch-Texten geht es um Prozesse des Wissenserwerbs, der Aneignung und Interpretation von Welt, um die Beziehung zwischen Erfahrung und Imagination, um die Darstellung von Lebensläufen und das (auto-)biografische Schreiben sowie um vieles mehr, das mit Facetten der Buchkultur assoziiert ist.  



Realistische und phantastische Buchdarstellungen. Finden sich in literarischen Texten zahlreiche Bücher thematisiert und beschrieben, so hat man es manchmal mit Exemplaren zu tun, wie man sie auch aus der Welt der realen Bücher kennt. Daneben finden sich aber auch andere: Bücher, die in der realen historischen Bücherwelt ihresgleichen nicht finden, Bücher, deren Beschaffenheit das Produkt einer literarischen Phantasie ist, welche an die Grenzen dessen, was als realistisch gilt, nicht gebunden ist; diese Bücher haben Eigenschaften und erzeugen Effekte, welche über die der alltäglichen Bücher hinausgehen. Ihre Benutzung hat außerordentliche Folgen, verleiht beispielsweise dem Benutzer ein besonderes Wirkungspotenzial oder stellt für ihn eine besondere Gefahr dar. Der Kerntypus dieser Sorte Buch ist das Zauberbuch. In literarischen Texten finden sich zahlreiche Variationen über das Motiv des Zauberbuchs, welche auf dessen sei es finstere, sei es beglückende Faszinationskraft Bezug nehmen. Teilweise erscheint im Kontext der Diegese der Zauber dabei als real, teilweise als eingebildet oder psychologisch motiviert; die Grenzen sind dabei fließend. Analoges gilt für andere Bücher mit spezifischen Kräften und Wirkungen, für heilsame oder schädliche, heilige oder unheilige Bücher als literarische Gegenstände. Den historisch-kulturellen Hintergrund literarischer Schilderungen von Zauber- oder Wunderbüchern bilden tradierte kollektive Vorstellungskomplexe sowie Überlieferungen, die als besondere Beispiele gelten. In Buchwerken (Künstlerbüchern, Buchobjekten, buchliterarischen Arbeiten) findet das Motiv des Zauberbuchs manches Echo. Von den realistischen und den phantastisch-wunderbaren Büchern in der Literatur zu unterscheiden wäre ein dritter Typus, der sich noch schwerer bestimmen lässt als jene: der Typus des Buchs, das sich dem Vorstellungsvermögen des Lesers entzieht, was sein Aussehen und seine Eigenschaften angeht. Über solche Bücher erfährt man zwar Bemerkenswertes, aber die gelesenen Informationen lassen sich nicht zu einem kohärenten Bild fügen – wenn sie nicht sogar durch Paradoxien, durch Verstöße gegen logische Strukturen entsprechende Versuche von vornherein scheitern lassen.  

Buch-im-Buch-Strukturen. Beschreibungen von Büchern in literarischen Texten – und das heißt innerhalb der Buchlesekultur: in Büchern – erzeugen zumindest ansatzweise mise-en-abyme-Strukturen, und vor allem darin liegt ihre autoreflexive Dimension begründet (vgl. zum Thema auch Teil C 7). Das Strukturmodell des ‚Buchs 



Erfundene Bücher

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im-Buch‘ kann verschiedene materiell-mediale Erscheinungsformen annehmen. Eine davon ist das im Buch geschilderte Buch, eine Art Steigerungsform davon das im Buch zitierte Buch. Auch dieses lässt sich überbieten, wenn das Buch ‚im‘ Buch abgebildet (grafisch-typografisch repräsentiert) oder womöglich sogar als etwas konkret Sichtbares gezeigt wird. Die in höchstem Maß konkrete und sinnfällige Spielform ist das als reales Objekt im Buch eingelegte oder einmontierte Teil-Buch, also etwa das aufklappbare Mini-Buch in Bewegungsbüchern oder das in den Umschlag eines Buchs gesteckte dünnere Buch. Alle Varianten des Buch-im-Buch-Modells, vor allem die letztere, stimulieren oder suggerieren Schwellenerfahrungen und Grenzüberschreitungen. Sie umspielen die (dabei zunächst einmal vorausgesetzten) Grenzen zwischen verschiedenen Ebenen der intradiegetischen und der extradiegetischen Wirklichkeit. Programmatisch dafür erscheinen insbesondere Geschichten über Leser, die beim Lesen ins Buch eintreten – oder über Wesen, die aus Büchern herauskommen.  

Bücher als literarisches Thema. Bücher können auf der Ebene der dargestellten Wirklichkeit und der geschilderten Ereignisse als intradiegetische Darstellungsobjekte eine handlungsrelevante Rolle spielen, die an ihrem geschilderten Aussehen und ihrer sonstigen geschilderten Beschaffenheit ablesbar ist. Dies gilt beispielsweise für handlungsrelevante Zauberbücher, die in entsprechenden literarischen Schilderungen vielfach schon durch ihr jeweils dargestelltes Erscheinungsbild als etwas Besonderes charakterisiert werden. Sie sind typischerweise dick, alt, auffällig eingebunden – und reagieren manchmal auf das Öffnen und Umblättern ungewöhnlich. Manchmal ist es gefährlich, mit ihnen in Berührung zu kommen. Aber natürlich erregen nicht nur Zauberbücher die Aufmerksamkeit von Figuren und Erzählern, welche sich dadurch auch auf den Leser überträgt. Auch das Erscheinungsbild materiell besonders kostbarer Bücher, heiliger Bücher, historisch bedeutsamer und künstlerisch gestalteter Bücher kann der Schilderung wert sein. Und das Aussehen eher unauffälliger, unscheinbarer und konventioneller Bücher kann in literarischen Darstellungen bedeutungsträchtig sein, wenn sich an diese Bücher signifikante Gebrauchsspuren oder persönliche Erinnerungen knüpfen. Der den Erzählerbericht rahmenden Fiktion nach kann der Text von Romanen oder Erzählungen auf der Verwendung eines (fingierten) Vorgängertextes beruhen, gemäß dem in diversen Romangenres beliebten Modell „Natürlich, eine alte Handschrift“ (Umberto Eco 1980, Vorwort). Bei der Schilderung der Rahmenbedingungen solch angeblicher Quellenkonsultation durch den Erzähler kann dann auch die äußerlich-materielle Beschaffenheit der fingierten Quelle zur Sprache kommen, und es kann sich dabei um ein Buch handeln – das dann vielleicht Anlass zur Schilderung seines Aussehens und seines Erhaltungszustandes gibt. Im vielleicht prominentesten Beispiel für den fiktionalen Rekurs auf eine geschriebene Quelle, Cervantes’ Don Quijote, liegt diese angebliche Quelle in Form diverser Hefte vor – nicht gedruckter Bücher zwar, aber doch zusammengehefteter beschrifteter Papiere. Was an deren Aussehen auffällt, ist vor allem die verwendete arabische Schrift, die der Haupterzähler nicht lesen kann, die also erstens etwas Ge 





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heimnisvolles an sich hat und dadurch zweitens zum Anlass von Übersetzungsbemühungen wird (vgl. Cervantes 2008, S. 76–84). Der Erzähler charakterisiert sich selbst als jemanden, der sich von Textträgern in welcher Form auch immer so angezogen fühlt, dass er sich ihnen auch spontan und ohne konkrete Absicht zuwendet. Es ist gerade die Unlesbarkeit der arabisch beschrifteten Hefte, die seine Neugier auf den in ihnen enthaltenen Text so anstachelt, dass es zum Übersetzungsauftrag an einen Morisken – und damit zur Fortsetzung des Erzählerberichts kommt. Zudem fungiert eine bestimmte sinnlich-konkrete Eigenschaft des Manuskriptfundes als wichtiges Bindeglied zwischen angefangener Geschichte und nun erfolgender Fortsetzung: Auch wenn der Erzähler den Text des arabischen Manuskripts nicht lesen kann, findet er im Manuskript Illustrationen, die ihm bestätigen, eine zu seiner angefangenen Geschichte passende Quelle gefunden zu haben.  



Das Motiv des defizienten Buchs. Gelegentlich wird der defiziente Status des fingierten Buchs, Heftes oder Manuskripts als Ursache dafür konstruiert, dass Erzählerberichte abbrechen. Materiell-sinnliche Qualitäten des jeweiligen Textträgers werden damit also zu vorgeschobenen Ursachen für eine bestimmte Textstruktur – für Sprünge, Unterbrechungen, unversehens endende Geschichten, konjekturale Einschübe und Bekundungen des Scheiterns. Tatsächlich aber ist ja die angeblich durch ungünstige Kontingenzen, durch Mängel und Unvollständigkeiten des Textträgers bedingte Struktur des Erzähltextes (wie auch der reflektierende Leser weiß) durchaus gewollt, der Text vom Autor planvoll arrangiert. Die defiziente Materialität der fingierten Quelle wird nur vorgeschoben. Und dabei wird implizit oder explizit erstens auf die Textstruktur eigens aufmerksam gemacht und zweitens die Bindung von Informationsflüssen, von Erzählerberichten etwa, an materielle Substrate in Erinnerung gerufen. Jean Paul konstruiert auf der Basis des Grundeinfalls, den Erzählerbericht von fingierten Informationsquellen abhängig erscheinen zu lassen, mehrere Romane.23 So abenteuerlich die Geschichten über ungewöhnlich aussehende und unkonventionell strukturierte Bücher sich in den genannten Fällen auch ausnehmen mögen – die fraglichen Bücher sprengen dabei doch nicht den Rahmen des Vorstellbaren. Sidi Hamete Benengelis Hefte in Cervantes’ Don Quijote, das von Kater Murr missbrauchte biografische Werk über Kapellmeister Kreisler (vgl. Teil E 1.3), die vom Fibel-Erzähler angeblich benutzten Buch-Reste und all die erfundenen alten Handschriften und Kodizes, die manche Erzähler von Gothic Novels konsultiert haben – sie sind vorstellbar, und man könnte sie prinzipiell in Gestalt konkret-materieller Objekte doubeln. Anders verhält es sich mit Büchern, wie sie mehrfach bei Jorge Luis Borges beschrieben werden.  





23 Schon in seinem ersten Roman Die unsichtbare Loge (1793) sowie im bald folgenden Roman Hesperus (1795) gibt der Erzähler vor, die Biografie seines fiktiven Helden auf der Grundlage ihm zugespielter Informationen zu verfassen; ähnlich konstruiert sind etwa auch die Flegeljahre. Im Leben Fibels werden dann dezidiert Bücher respektive Buch-Ruinen und Buch-Relikte zu den maßgeblichen Informationsträgern, welche den Erzähler-Bericht über das Leben des Titelhelden möglich machen.

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Ihr Aussehen und ihre physische Beschaffenheit lassen die Grenze des Vorstellbaren hinter sich. Ein solches Buch wird in der Erzählung El libro de arena von Jorge Luis Borges beschrieben (1975; vgl. Teil D: „Borges und die Buchkunst“). Eine Buchphantasie von Borges und ihre künstlerische Realisation. Um erfundene literarische Werke geht es auch in Borges’ Erzählung über Pierre Menard, der es unternimmt, den Don Quijote des Cervantes noch einmal zu schreiben (Borges 1989, dt. 2000). In einem fiktionalen Nachruf berichtet ein Erzähler, welche Teile Menard tatsächlich wortgetreu neuverfasst hat. Die Manuskripte Menards sind imaginäre Objekte, aber 2009 erscheint ein heftartiges Buch, dessen Cover die Aufschrift trägt: „STURTEVANT, Author of the QUIXOTE“ (Sturtevant 2009; vgl. auch Sturtevant/Kittelmann/ Maculan 2005). Im Buch findet sich zunächst das Faksimile eines maschinenschriftlichen, auf den 30.09.1970 datierten Briefs von „e. sturtevant“ an „Mr. Borges“, in dem die Unterzeichnete dem Adressaten mitteilt, sie habe sich daran gemacht, den „Don Quijote“ des Cervantes zu rekonstruieren. Die Formulierungen, in denen das Unternehmen beschrieben wird, sind – abgesehen vom einleitenden Satz – ebenfalls Wiederholungen: Sie entsprechen einer englischen Übersetzung von Abschnitten aus Borges’ Menard-Erzählung – und zwar jener Abschnitte, in denen der Erzähler aus brieflichen Äußerungen Menards zitiert, der sein eigenartiges Unternehmen einer Neuabfassung des „Quijote“ darin kommentiert. Sturtevant schreibt Menards Text neu, so wie Menard den Text des Cervantes neu schrieb. Nur die Reihenfolge der Menardschen Bemerkungen ist bei Sturtevant leicht modifiziert. Auf den dreiseitigen Brief an Borges folgen als Anlage tatsächlich diverse Fragmente des Romans – laut Ankündigung „Incomplete fragments of the Quixote“ (Sturtevant 2009, S. 7). Der im folgenden abgedruckte Text besteht aus Passagen, die eine englische Übersetzung des Quijote zitieren – und zwar eben jene Partien aus dem Ersten Teil des Romans, die laut Borges Pierre Menard rekonstruiert hatte. Dazu gehört insbesondere Kapitel 8, das vom Fund des Manuskripts handelt, in dem der Erzähler die Fortsetzung der begonnenen und vorübergehend abgebrochenen Geschichte seines Helden findet, niedergeschrieben von dem arabischen Historiker Cide Hamete Benengeli. Rekonstruiert werden ferner Kapitel 38, in dem Don Quijote eine längere Rede über Waffen und Wissenschaften hält, sowie ein Teil des 22. Kapitels, in dem der Ritter einer Gruppe von Galeerensträflingen begegnet.  











Schreibprozesse, Schreib-Hefte, Arbeitsbücher. Das Arbeits- und Notiz-Heft, das ‚carnet‘ oder ‚notebook‘, Sonderformen des Buchs, gewinnen an Bedeutung und werden vielfach auch zu Modellen der Textpräsentation. Durch Buchausstattung und Paratexte gedruckter Werke kann dies betont werden. Schreiben wird, wie Roland Barthes pointierend feststellt, als „intransitives Verb“ (vgl. Barthes 2012) verwendet, als Name für eine spezifische Form ästhetischer Arbeit, unabhängig von allen konkreten Inhalten. Arbeits- und Notizhefte, Schriftstellertagebücher und Künstler-Skizzenhefte wirken wie Konkretisierungen dieser Idee eines sich verselbstständigenden Schreibens, das vielleicht kein Ziel und kein Ende kennt bzw. bei dem der Weg selbst

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

das Ziel ist. Textformen, die wie Einträge in Arbeitstagebücher wirken, aber auch publizierte tatsächliche Arbeitstagebücher entstehen in diversen Varianten und zeigen durch ihr Druckbild und ihre buchinterne Präsentation, dass sie aus der Werkstatt kommen. Sie machen Schreibprozesse (tatsächliche, aber auch fingierte) sichtbar und sensibilisieren Leser und Betrachter für die Zusammenhänge zwischen Schreibprozess und Buchgestaltung. Parallel zu solch fingierten oder tatsächlichen literarischen Arbeitstagebüchern entstehen künstlerische Notiz- und Arbeitsbücher, die dabei oft schon Künstlerbuch-Charakter haben (vgl. Schulz 2015a). Semantiken des Materials und der Schrift in literarischen Texten. Mit dieser Tendenz zur Fokussierung von Arbeitsprozessen und -materialien eng verknüpft ist ein wachsendes (und literarisch-buchgestalterisch auch gern genutztes) Interesse an Schrift-Trägern (Papier etc.) und an Schreibgeräten. Schreibmaterialien und -instrumente werden nicht nur verstärkt thematisiert, sie bilden auch die Basis spezifischer Textinszenierungen: Typogramm-Texte, in Courierschrift verfasst, kehren (auch wenn sie eigentlich gedruckt sind) ihre Abkunft aus der Schreibmaschine hervor; handschriftliche Texte verweisen (auch wenn sie eigentlich faksimiliert oder sogar durch Druckschriften simuliert wurden) auf die Schreibhand als Hauptwerkzeug. Einerseits präsentiert sich Handschriftlichkeit dabei als körpernahes Pendant zu den Textprodukten des seinen Siegeszug antretenden Computers, andererseits ist sie oft nur simuliert. Gerade simulierte Handschriften und Faksimiles in der Ära des Computers können leichter denn je in Bücher integriert werden; leicht handhabbare Schriftprogramme sorgen dafür. Buch-Romane um 1980. Gleich mehrere um 1980 erscheinende Erfolgsromane dokumentieren ein verstärktes Interesse am Buch. Sie wenden der Struktur von Büchern ihr besonderes Augenmerk zu und akzentuieren vor allem Leseprozesse und deren Prägung durch die Gestalt der Bücher. Vor dem Hintergrund der zeitgleichen kritischen Auseinandersetzung mit dem Autor-Begriff und seinen Implikationen (Iannidis 2000) sind sie vor allem Romane über Bücher-Leser. Umberto Ecos Il nome della rosa (1980; vgl. E 1.21), Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979; vgl. E 1.20) und Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) entstehen zeitgleich in einer mediengeschichtlichen Umbruchssituation: Das Buch bekommt durch den Computer und die neuen Formen digitaler Textkultur einen Konkurrenten, der in mancher Hinsicht ernster zu nehmen ist als das Ende der 1950er Jahre schon einmal als Buch-Rivale betrachtete Fernsehen. Wie in der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung und in der (Buch-)Kunst ist dies auch in der Literatur ein Auslöser der Reflexion über das Buch, seine kulturellen Funktionen und die Buchlesekultur insgesamt, über Praktiken der Gestaltung von Büchern und Praktiken des Umgangs mit dem Buch. Die genannten Romane verhalten sich dabei komplementär:24 Der Mediävist Eco lenkt in seinem historischen Roman den Blick auf eine frühe Phase der Buchproduktion und Lesekultur: das ausgehende Mittelalter. Calvino situiert seinen Buchroman in der Gegenwart und

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Fotografie und Buch-Literatur

bezieht spezifisch zeitgenössische Akteure und Faktoren der Buchkultur ein. Michael Ende akzentuiert weniger eine spezifische historisch-kulturelle Rahmensituation (obwohl es in seinem Roman eine solche gibt) als Lektüreprozesse, die auf eigentümliche Weise ‚zeitlos‘ erscheinen, schon weil sie den Leser mit Wirklichkeiten in Kontakt bringen, die nicht zur realen Weltgeschichte gehören.25 Als Romane über Leser sind alle drei Werke zunächst einmal Romane über Texte. Aber sie betonen, einander ergänzend, alle drei, dass das Lesen von Texten zugleich ein Lesen von Büchern ist, dass Struktur und Beschaffenheit des Buchs die Lektüre, deren Inhalte und deren Wirkungen auf unhintergehbare Weise prägen. In der Buch-Literatur des 21. Jahrhunderts, die den Kodex gern auf ungewöhnliche Weise strukturiert und ausstattet, drehen sich auch inhaltlich die erzählten Geschichten mehrfach um Bücher, Notizhefte und Manuskripte. Repräsentativ hierfür sind Jonathan Safran Foers Roman Extremely loud and Incredibly close (vgl. Teil E 1.38), Mark Z. Danielewskis House of Leaves (vgl. Teil E 1.31) sowie Doug Dorsts und J.J. Adams’ Ship of Theseus (vgl. Teil E 1.47). MSE  

Fotografie und Buch-Literatur In der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts führt die Verwendung von Fotografien zur Ausdifferenzierung neuer literarischer Formen. Dass sie quantitativ wie qualitativ eine wichtige Rolle spielt, basierend auf drucktechnischen Innovationen im Bereich der Buchbebilderung, liegt unter anderem an der Vielfalt der Gegenstände, die sich mittels fotografischer Bilder in die Darstellung einbeziehen lassen, aber auch an den vielfältigen Möglichkeiten der Bearbeitung solchen Bildmaterials. Hinzu kommen die komplexen Semantisierungen, welche die Fotografie seit ihrer Erfindung erfahren hat,  

24 Alle drei sind im Übrigen auf je spezifische Weise Borges und seinen Texten verpflichtet. 25 Bei Michael Ende spielen sich die Erfahrungen des lesenden Helden zu erheblichen Teilen in einer Phantasiewelt („Phantásien“) ab, die er erreichen kann, weil das Buch seine Schwelle ist – in einem imaginären und schon daher un-endlichen Raum. Die genauen Umstände, unter denen in Die unendliche Geschichte (1979) Endes Protagonist Bastian nach Phantásien gelangt, werden eher angedeutet; sie lassen sich ja auch nicht ‚realistisch‘ begründen. Deutlich wird aber, dass das Buch ein Analogon des Spiegels ist, in dem man sich erstens selbst sehen kann und hinter dem sich zweitens eine imaginäre andere Welt auftut, die sich als Gegenstück der Alltagswelt erweist. Im Schwellenraum zur Buchwelt Phantásien situiert, gelingt es Bastian, in diese einzudringen; eine der Figuren, die er trifft, ist dabei ein Autor, der offenbar gerade das Buch schreibt, das Bastian liest. Die Materialität des von Bastian gelesenen Buchs wird mit einer Vagheit beschrieben, die programmatisch erscheint – weil man sich ja auch das Aussehen dieses Buches vorstellen soll. Immerhin bietet die Beschreibung durch Hinweise auf den kupferfarbenen Einband und auf das Motiv der Doppelschlange Anknüpfungspunkte für die Gestaltung von Ausgaben des Ende-Romans, die teilweise auch genutzt wurden. Als Hommage an das Buch betont Die unendliche Geschichte vor allem die Bedeutung der Imagination als einer kreativen Instanz.  



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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

die vielen und facettenreichen Konzepte der Fotografie, die seit dem 19. Jahrhundert in theoretischen und ästhetischen Kontexten entwickelt wurden. Diese sich in Vorstellungs- und Denkbildern, in Metaphern und Vergleichen niederschlagenden Semantisierungen der Fotografie stehen durchaus in Spannungsbezügen untereinander. So kann die Fotografie etwa als besonders realitätshaltige Darstellung gelten, aber auch als totes Bild der der Lebendigkeit ihrer Objekte gegenübergestellt werden; sie kann als besonders wahrhaftiger Zeuge präsentiert werden, aber auch als trügerisch-illusionistisches, phantomartiges Bildmedium.  

Fotos als Elemente literarischer und buchkünstlerischer Arrangements. In literarischen Kontexten wird dementsprechend an sehr unterschiedliche Semantisierungen angeknüpft, gelegentlich sogar innerhalb eines und desselben Werks, das dann durch die entstehenden Spannungen geprägt ist. Dies gilt schon für Texte, die Fotografien zu ihrem Gegenstand machen, vor allem aber auch für solche, in die solche Bilder sichtbar einkomponiert sind (und die als ‚literarische Fototexte‘ charakterisiert werden; vgl. Steinaecker 2007). Für Foto-Text-Kombinationen konstitutiv und gestalterisch vielseitig nutzbar ist die Spannung zwischen Sprache und Bildern, sei es, dass verbale und fotografische Darstellung in ein harmonisches, ausbalanciertes Verhältnis treten, sich wechselseitig kommentieren und unterstützen zu lassen, sei es auch, dass die Fremdheit und Inkommensurabilität zwischen Sprachlich-Textlichem und Bildhaftem betont wird. Das Buch ist als Raum der Konstellierung von Fotos und Texten effektvoll nutzbar. In der Geschichte des Künstlerbuchs, wie es seit den 1960er Jahren als eigenständige künstlerische Gattung betrachtet wird, spielen Fotos ebenfalls eine wichtige Rolle (Lucius 2008, S. VIIf. sowie Dickel 2008a, S. IX-XVII). Viele Künstlerbücher sind geprägt durch ihre je spezifische Verwendung von Fotos. Teils bestehen sie hauptsächlich oder ganz aus Fotos bzw. Fotoserien; teils werden Fotos neben anderen Bildbeständen und neben verschiedenen Textformen präsentiert. Auch das Künstlerbuch hat Teil an der Geschichte der Semantisierung des Bildmediums Fotografie, an der Profilierung von „Bildern der Photographie“ (Stiegler 2006). Dabei sind (wie auch in der Literatur über und mit Fotos) die Einflüsse wechselseitig: Denkbilder, Metaphern, Vorstellungen und Theorien über die Fotografie nehmen Einfluss auf Konzept und Realisierung von Foto-Künstlerbüchern, wirken selbst aber auch auf Konzeptualisierungen und Interpretationen der Fotografie zurück.  

Zur Geschichte des Fotobuchs. Im Bereich der Buchgestaltung sind Fotografien seit ihrer Erfindung eingesetzt worden, vor allem in illustrierender Funktion, nicht zuletzt zur Selbstdarstellung der Fotografie. William Henry Fox Talbots The Pencil of Nature (1844) verbindet eine Erläuterung des von Talbot entwickelten fotografischen Verfahrens mit der Präsentation von 24 Originalabzügen; diese wurden in die Bände eingeklebt. Das mit illustrierenden Fotos versehene dokumentarische Fotobuch widmet sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch verschiedenen anderen Themen,  

Fotografie und Buch-Literatur

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etwa der Darstellung von Kunst, von Antiquitäten und von fremden Ländern.26 In der Mitte des 19. Jahrhunderts werden Fotos zudem bereits zur Illustration literarischer Texte verwendet, so für eine Horaz-Ausgabe (Didot 1855) und eine Ausgabe der Gedichte Schillers (Cotta 1859–1862). Die Fotos, im letzteren Fall fotografisch reproduzierte Handzeichnungen, sind wiederum in die Bände eingeklebt. Erst Georg Meisenbachs Rasterklischee-Druckverfahren erlaubt den Druck von Fotografien und damit die preiswertere Produktion fotografisch illustrierter Bücher. Dies stimuliert die Verwendung von Fotos in Fachbüchern verschiedenster Art, in Reiseführern, Kunstbänden und anderen Genres, ganz erheblich (vgl. Lucius 2008, S. VIIf.). In den 1920er Jahren gewinnt das mit Fotos ausgestattete Buch als künstlerische Darstellungsform an Profil; wie von Lucius konstatiert, etabliert sich nun „die Gattung des Fotobuchs, in dem die Fotografie nicht mehr nur Illustrationen zum Text liefert, sondern eigenständiges Hauptelement der Bücher wird“ (ebd., S. VIII). Manche Fotobücher haben große Auflagen, verglichen mit den livres d’artistes und mit den späteren Künstlerbüchern. Als wichtige Beispiele künstlerisch gestalteter Fotobücher zu nennen sind etwa: László Moholy-Nagy: Painting, Photography, Film (1925), August Sander: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts (1929), Erich Mendelsohn: Amerika. Bilderbuch eines Architekten (1926), Karl Blossfeldt: Urformen der Kunst (1928), Albert Renger-Patzsch: Die Welt ist schön. 100 photographische Aufnahmen (1928), Walker Evans: Let Us Now Praise Famous Men (1941), Weegee (Arthur Fellig): Naked City (1945) und Robert Frank: The Americans (1958).  







Künstlerischer Buchgestaltung mit Fotos. Die Geschichte des Künstlerbuchs und die des Fotobuchs sind eng miteinander verbunden, schon weil auch im Fall des Fotobuchs die Buchform selbst konstitutiv für das Werk ist. Johanna Drucker charakterisiert Fotobücher, die sie grundsätzlich terminologisch gegen artist’s books abgrenzt, als „works by photographers which take into account the concept of a book as a specific form“ (Drucker 2004, S. 61). Manche Künstlerbücher sind zugleich auch Fotobücher oder stehen diesen nahe. Man Rays Fotografien zu Paul Éluards Gedichten lassen den Band Facile (1935) als Zwischenstufe der Entwicklung vom Fotobuch zum Künstlerbuch erscheinen (vgl. Lucius 2008, S. VIII). Das Fotobuch, so Druckers Befund, werde zu einem „standard of artists’ books activity“ (Drucker 2004, S. 63). Folgenreich für das fotografisch bebilderte Buch sowie für das mit Fotografien arbeitende Künstlerbuch sind insbesondere neue Satz-, Kopier- und Druckverfahren und entsprechend billigere Druckmöglichkeiten fotografischer Bilder, wie sie in der Nachkriegszeit bereitgestellt werden. In den 1960ern setzt sich der Offsetdruck durch und revolutioniert damit die Buchproduktion. Das fotografisch ausgestattete Buch wird zum Massenmedium, und Künstler nutzen dies aus. Gern betonen sie dabei die technische ‚Simplizi 





26 Von Lucius nennt unter anderem „M. du Camp/G. Flaubert, Egypte, Nubie, Palestine et Syrie, (1852)“ (Lucius 2008, S. VII).  

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tät‘ des Mediums gegenüber anderen, aufwendigeren Bildproduktionsverfahren, vor allem den Status des technisch reproduzierten Multiples gegenüber dem Werk als Unikat. Ed Ruscha und andere Buchkünstler zielen mit ihren Foto-Büchern auf eine absichtlich bescheiden wirkende Ausstattung; damit entsprechen sie einer die 60er Jahre prägenden Tendenz zur anti-elitären Verbreitung der Kunst und zur Beteiligung möglichst vieler Personen am Prozess ihrer Produktion und Rezeption (vgl. Lucius 2008, S. VIII).  

Semantisierung des Fotografischen im Künstlerbuch. Als Bildtypus steht die Fotografie oft für das Alltägliche, das Unprätentiöse, Schlichte. Vielfach werden Bildmotive dieser Semantisierung entsprechend gewählt: Alltagsszenen, Momentaufnahmen, dokumentarisch wirkende Impressionen, Orte, Gegenstände und Interieurs, die auf den ersten Blick bedeutungslos wirken, gehören ebenso wie Alltagsgestalten, -gesichter und -gesten zu den beliebtesten Sujets. Technisch schlichte, an Amateurfotos erinnernde Aufnahmen oder auch Fotos, die aus anderen Anlässen als Amateuraufnahmen entstanden sind, halten Einzug ins Künstlerbuch. Auch die Reihung von fotografischen Bildern steht vielfach im Dienst der Suggestion, zu einer Wirklichkeit zu gehören, die ‚allen‘ gehört, alltägliche Wahrnehmungen zu dokumentieren, die womöglich keinem erkennbaren Plan, keiner erkennbaren Ordnung verpflichtet sind. Prägend für wichtige Beispiele des fotografisch gestalteten Künstlerbuchs ist für Dickel die Abgrenzung gegen die Bildsprache der Massenmedien, die auch in anderen Bereichen der künstlerischen Arbeit eine Rolle spielte. Der für diese Zeit prägenden Tendenz zur Verabschiedung des Artefakts zugunsten ästhetischer Prozesse stelle sich das Künstlerbuch entgegen.27 Die 1970er Jahre stehen im Bereich der künstlerischen Arbeit mit Fotografie tendenziell im Zeichen der Professionalisierung (vgl. Dickel 2008a, S. XII). Wichtig für das Selbstverständnis der Künstler ist aber nach wie vor die mit der Fotografie verbundene Option auf Breitenwirkung. Dickel spricht von der enttäuschen Erwartung der Avantgarde, „allein durch das Medium Buch eine breitere Öffentlichkeit erreichen zu können“ (ebd., S. XII); die stärkere Hinwendung zur Fotografie versprach hier Kompensation und die Öffnung breiter Kommunikationswege. Bezogen auf die 1980er Jahre ist eine neuerliche Verschiebung der Funktionen von Künstlerbuch und Fotografie diagnostiziert worden (ebd., S. XV). Dickel zufolge wird der gewollte Dilettantismus früherer Jahre abgelöst durch den Willen zur Teilnahme an der visuellen Kultur der eigenen Zeit. Die Entgrenzung zwischen Hochkunst und populärer Kunst, als Merkmal der Postmoderne geltend, lässt das Künstlerbuch in neue Kontexte eintreten; es rücke, so Dickel, „aus seiner im Kunstbetrieb eher peripheren Position in die Mitte des Geschehens“, weil es die „interkulturellen, divergie 



27 Dazu Dickel 2008a, S. XI: „Künstlerbücher sind in den 1970er Jahren zu einer komplementären Kunstform jener künstlerischen Tendenzen geworden, die jede Fixierung auf ein Produkt zugunsten des Prozesses aufgaben […].“  

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renden Ansätze der zeitgenössischen Kunst in faßbaren Formen“ bündele (ebd., S. XV). Nachhaltig unterstützt wird es dabei durch die Fotografie. Tatsächlich findet sich in rezenten Spielformen des Künstlerbuchs die Fotografie in vielfältigen Formen und Kontexten eingesetzt. Dies gilt für Fotos, die von den Buchkünstlern selbst stammen, wie für solche, die als vorgefundenes Bildmaterial eingesetzt (und dabei oft zurecht- und zusammengeschnitten oder auf andere Weise bearbeitet) werden.  

Reflexion, Autoreferenz, Metafotografien, Metabücher. Früh kommt es im (seine eigene Medialität ja auf vielfältige Weisen reflektierenden) Künstlerbuch zur Auseinandersetzung mit der Fotografie – und zwar auf der Ebene der dargestellten Gegenstände, der Bildgestaltung, der Bildanordnung und der Buchstrukturierung. Die für die Buchform konstitutive Gliederung in Einzelseiten, die nacheinander blätternd erschlossen werden müssen, lässt sich mit Hans Dickel als ein Dispositiv deuten, das gegenüber allgegenwärtigen Beschleunigungsprozessen in der Medienwelt und im Kulturbetrieb entschleunigend wirkt – und in dieser Eigenschaft künstlerisch genutzt wird (vgl. ebd., S. XVI). Allerdings bietet das mit Fotos gefüllte Daumenkino ein Gegenbeispiel. Auch hier kommen Buchform und Fotografie im Zeichen künstlerischer Intentionen zusammen, aber nicht der langsame, sondern der schnelle Durchgang durch die Seiten erzeugt den intendierten Effekt (diverse Beispiele für die Verwendung von Fotos in Daumenkinos bietet der Kat. Ausst. 2005). Zudem gestattet die durch das Künstlerbuch ermöglichte Kopplung von Bild- und Textelementen eine reflexive Distanzierung von den Bildern und ihrem Dominanzanspruch.28 Dem wäre ergänzend aber hinzuzufügen, dass umgekehrt auch Bilder die Dominanzansprüche von Texten brechen und eine kritisch-reflexive Lektüre dieser Texte katalysieren können. Im Rahmen buchförmiger Arrangements von Text- und Fotoanteilen wird eine reflexive Auseinandersetzung mit der Beziehung Fotografie/Text dem Nutzer besonders nahegelegt. Vielfach setzen die Gestalter solcher Bücher auf Spannungen und Diskrepanzen, die einen Prozess kritischer Reflexion auslösen sollen – auch bezogen auf die dargestellten Gegenstände, wie in Bertolt Brechts Kriegsfibel (1955; Brecht 1988). Es sind gerade buchtypische Formen des Arrangements von Texten und Bildern, welche Vergleiche, vergleichende Interpretationen und Meta-Interpretationen von Text-Bild-Bezügen besonders katalysieren. Dazu gehört etwa die Praxis, Bilder mit erläuternden und dabei immer auch interpretierenden Bildlegenden zu versehen, aber ebenso die Geschichte des Layouts bebilderter Sachbücher und Wissenskompendien, die Praxis des Illustrierens diskursiv dargestellter Sachverhalte, die Geschichte  







28 Vgl. Dickel 2008a, S. XVI: „Künstlerbücher […] drosseln das Tempo der Rezeption und wirken schon durch die Sukzessivität ihrer Seitenfolge der Zerstreuung von Aufmerksamkeit entgegen, die das mediale Spektakel allzu leicht verursacht. Im Gegensatz zu den bewegten Bildern des Fernsehens […], die zwar alles zeigen, aber immer weniger zum Verständnis des Gezeigten beitragen, bieten die Künstlerbücher ein vergleichendes und bedenkendes Sehen […], oft stehen Text und Schrift dem Fetisch totaler Sichtbarkeit entgegen.“  

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

der Buchillustration als ästhetische Praxis, der verschönernden Bebilderung von Texten oder Textsammlungen sowie der Illustration literarischer Werke. Pioniere des literarischen Foto-Textes. Werden im späten 19. Jahrhundert Fotografien schrittweise zunehmend in Bücher verschiedener Inhalte und Formate integriert, so ist davon auch die Ausstattung von Büchern mit literarischen Texten betroffen. Allerdings ist es von dort noch ein entscheidender Schritt bis zur Konzeption literarischer Werke, zu denen Fotos als konstitutive Bestandteile gehören. Ein Übergangsphänomen zwischen dem Format des fotografisch bebilderten literarischen TextBuchs und dem literarischen Foto-Text (in dem sich Fotos als Bestandteile des Werks selbst präsentieren) stellt Georges Rodenbachs symbolistisch geprägter Roman Bruges-la-morte dar (zuerst 1892; vgl. dazu u. a. Steinaecker 2007, S. 33–40). Dieser erschien zunächst unbebildert als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift, dann in bebilderter Form, wobei Rodenbach die Aufnahmen nicht selbst machte, sondern vorgefundenes Material nutzte, dabei aber auf Inhalt, Atmosphäre und Bildsprache seines Romans sorgfältig abstimmte. (Wie wenig Verständnis für das sich damit abzeichnende Genre des literarischen Fototextes Verleger und Publikum zunächst aufbrachten, zeigt sich an späteren Buchausgaben, die mit der Bebilderung teils recht sorglos verfahren und oft anstelle der Originalbilder anderes, leichter verfügbares Material nutzen.) Dass sich Text und Fotos bei Rodenbach in einem Buch gegenübertreten, passt insofern sowohl zum Romaninhalt als auch zu den Bildern, als die TextBild-Relation als Spiegelungsbezug beschreibbar ist; um Spiegelungsbezüge geht es auch im Roman, und die Fotos der Buchausgabe zeigen vorzugsweise Spiegelungen, die durch die Wasseroberflächen der Kanäle Brügges erzeugt werden. André Breton schuf mit Nadja (1928, 1962; vgl. dazu Teil E 1.5) einen literarischen Fototext, der nicht allein mit der Heldin Nadja eine Muse des Surrealismus porträtiert, sondern auch ästhetischen Prinzipien des Surrealismus gerade durch seine spezifische Bildauswahl und Bildnutzung verbunden ist (vgl. Teil E 1.5). Weitere wichtige Stationen in der Geschichte des literarischen Foto-Textes sind unter anderem geprägt durch politisch-kritische Anliegen. Beispiele dafür bieten John Heartfield und Kurt Tucholsky mit Deutschland, Deutschland über alles (1929) und Bertolt Brecht mit seiner Kriegsfibel (1955). Das Werk Alexander Kluges repräsentiert exemplarisch eine Tendenz, fotografische und literarische Darstellungsmittel im Zeichen kritischer Reflexion über Geschichte und historische Wissensbestände, Medien und Medienpraktiken miteinander zu verbinden (zu Alexander Kluge vgl. Steinaecker 2007, S. 169–247).  







Fotografie und neueres Künstlerbuch. Wichtige Protagonisten. Auf die frühen 1960er Jahre ist die Entstehung der Kunstform des Künstlerbuchs datiert worden. Dass Fotografien bei wichtigen Pionierarbeiten eine tragende Rolle spielen, ist evident. Für Theoretiker wie Anne Mœglin-Delcroix und Hans Dickel gehören die Fotobücher von Ed Ruscha, Dieter Roth und anderen nicht allein bereits zum Genre Künstlerbuch; sie wirken als Fotobücher auch in besonderem Maße profilbildend auf diese Kunstform

Fotografie und Buch-Literatur

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(Dickel 2008a, S. IX). In Hans Dickels Darstellung zu Künstlerbüchern mit Photographie seit 1960 schließt sich an einen einleitenden Teil ein Katalog von Werkporträts an. Die hier auf jeweils einigen Seiten durch einen Katalogtext und eine Serie von Fotos dargestellten Foto-Künstlerbücher gehören zu den Klassikern des Künstlerbuchs überhaupt, so etwa Ed Ruschas Arbeiten Twentysix Gasoline Stations (1963) und Every Building on the Sunset Strip (1966), Dieter Roths Bücher bok 3c (1961/1971) und Ein Tagebuch (aus d. Jahre 1982) (1984), Anselm Kiefers Märkischer Sand IV (1976) und Durch das Rote Meer (1987) und Andy Warhol’s Index (Book) (1967).  

Christian Boltanski. Diverse Beispiele für Konvergenzen zwischen Buchgestaltung und künstlerischem Gebrauch der Fotografie, die zugleich Affinitäten zu literarischen Schreibweisen und Textarrangements aufweisen, bietet unter anderem das Œuvre Christian Boltanskis (vgl. u. a. Beil 2007 sowie Boltanski 1996), der bei Dickel mit Saynètes comiques (1975) und Sans-Soucci (1991) vertreten ist. Die Fotografie ist in Boltanskis Œuvre zentrales Medium. Wiederholt manifestieren sich seine Installationsprojekte gleichzeitig in Künstlerbüchern. Wenngleich quantitativ nicht dominant, haben an der Konzeption dieser Bücher doch auch Textpassagen einen konstitutiven Anteil, und seien es auch vieldeutige, stark reduzierte oder fehlende (und damit gleichsam imaginäre).29 Das Künstlerbuch La vie impossible (Köln 2001) repräsentiert eine Sammlung von Erinnerungsstücken und enthält eine Reihe von Aussagen über eine erinnerte Person (Boltanski selbst), jeweils auf Französisch, Englisch und Deutsch. Diese Aussagen sind in heller (unterschiedlich getönter) Schrift auf schwarzen Karton gedruckt. Ihnen gegenüber steht jeweils das Foto einer Assemblage aus unterschiedlichen Materialien (Fotos, Zetteln, kleinen Gegenständen); die Bilder erinnern an Scrapbooks oder ungeordnete Schreibtische oder Schubladen. Diese Bild-Seiten sind auf semitransparentes Papier gedruckt. Hinter ihnen befindet sich dann jeweils wieder ein schwarzer Karton, vorn unbedruckt, auf der Rückseite mit der nächsten Textaussage. Die Bilder sind unscharf, ‚unscharf‘ aber auch die Aussagen über die Person des abwesenden Besitzers der dargestellten Dinge. Materialität und Aufbau des Buchs sind ebenso interpretationsrelevant wie die Gegenstände der Bilder und die Aussagen der protokollierten Stimmen. Die Semitransparenz der Bildträger verweist metaphorisch auf die (nur eingeschränkt erfüllbare) Hoffnung, durch Bilder hindurch deren Referenten zu erblicken; hinter den Bildern ist es ja schwarz. Die Dreisprachigkeit der Aussagen scheint zunächst bekräftigend zu wirken, doch ein profiliertes Bild der thematisierten Person ergibt sich nicht; Schwarz ist auch hier der Hintergrund.  

29 Vgl. Boltanski 2001. Das Künstlerbuch erschien zur Ausstellung La vie impossible de Christian Boltanski (18.11.2001–6.1.2002 in der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau). Den Text schrieb Boltanski 1985; 1990 erschien er zuerst in französischer Sprache in der Zeitschrift fig.4; 1991 wurden die deutsche und die englische Übersetzung publiziert. Die Collagen des Bandes entstanden 2001 für das Künstlerbuch.

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Literatur und Fotografie seit den 1960er Jahren: Experimente, Arrangements, Ambiguitäten. Parallel zur Verwendung von Fotos in neueren Künstlerbüchern wird seit den 1960er Jahren auch verstärkt mit Formen der Kombination von literarischem Text und Fotografie experimentiert. Gerade mit Blick auf die Integration von Fotografien ergeben sich dabei teilweise so starke Konvergenzen zwischen Literatur und Künstlerbuch, dass eine eindeutige Zuordnung zum einen oder anderen Bereich unmöglich wird. Die sich als experimentell und innovatorisch verstehende Literatur nimmt Gestalten an, die an Collagen, Scrapbooks, Tagebücher mit Materialsammlungen und Dokumentationen erinnern; die Werke Rolf Dieter Brinkmanns illustrieren diese Tendenz exemplarisch (zu Brinkmann vgl. Steinaecker 2007, S. 93–169). Andere Autoren konstruieren Bücher, in denen Fotografien das ‚sprachlose‘ Pendant zur Welt der Texte bilden, so etwa Jürgen Becker in Eine Zeit ohne Wörter (Frankfurt a. M. 1971). In 38 Kapitel gegliedert, enthält dieses Buch (spärliche) Textelemente und Fotos; der Titel suggeriert ja auch eine temporäre Ablösung der Wörter durch Fotos und insofern ein Spannungs- oder auch Komplementaritätsverhältnis. Die Bilder zeigen Landschaften und städtische Räume. Menschliche Figuren finden sich fast gar nicht, also kaum jemand, der „Wörter“ artikulieren könnte. Manchmal wirken die Bildtitel wie Andeutungen zu Geschichten. So verweist eine Serie von Fotos abgeholzter Bäume, eingeleitet durch den lakonischen Hinweis „Die näherkommende Katastrophe des Autobahnzubringerbaus“ auf ein Geschehen, verschweigt aber Details und Folgen (ebd., S. 3–8). Eine klare Abgrenzung zwischen Künstlerbuch-Multiples und literarischen Foto-Texten erscheint insgesamt kaum möglich und sinnvoll. Dass Kunst und Literatur seit den 1960er Jahren insgesamt verstärkt tradierte Gattungsgrenzen in Frage stellen und Formen hybrid-, trans- und intermedialer Gestaltung erkunden, wirkt sich im Phänomenbereich rund um Fotos und Bücher besonders nachhaltig aus.  





Foto-Bücher als Narrationen. Auch das theoretische und praktisch-gestalterische Interesse an Formen und Medien, Strukturen und Praktiken des Erzählens wirkt sich stimulierend auf die jüngere Foto-Literatur aus. Über die Frage, ob Erzählen an sprachliche Mittel gebunden sei oder auch in nonverbaler Form ‚erzählt‘ werden könne, sind die Meinungen zwar geteilt, aber die Bedeutung von Bildfolgen für narrative Konstruktionen ist doch insgesamt unstrittig. Je nach Ausgangsprämissen können Bilder als Begleiter oder aber als Träger der Narration erscheinen – oder auch als Darstellungsmedien von an sich bereits ‚erzählenden‘ Dingen. Ein impulsgebender Foto-Text ist Roland Barthes’ La chambre claire (1980; vgl. Teil E 1.22). Gerade das Fehlen eines bestimmten Bildes (des ‚Wintergarten‘-Bildes), das dem Erzähler in Barthes’ Text angeblich die Wünsche erfüllt hat, die er an Fotos richtet, erscheint für einen Grundzug der neueren Foto-Literatur als symptomatisch: Leerstellen-Arrangements um vom Text als ‚fehlend‘ markierte Bilder verweisen auf Unstetigkeitsstellen in der Darstellung, gleichsam auf ‚Löcher‘ im Bucharrangement. Ein beliebtes Motiv ist das des Fotos, das in einem Album fehlt – und darum auch im Buch selbst. (Vgl. Teil D, Art. „Album und Scrapbook“.) Wird durch ‚Lücken‘ indirekt auch auf die Räumlichkeit  



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und Materialität des Buchs verwiesen, so gibt es noch andere Strategien literarischer Foto-Texte, die Ähnliches bewirken. Buchräumlich inszeniert werden insbesondere Zoom-Effekte (bei denen nacheinander verschiedene Vergrößerungsstufen eines bestimmten Bildmotivs in den Text integriert sind) und Störeffekte (bei denen Sichtbarkeitserwartungen bedingt durch die Materialität des Bildes enttäuscht werden oder das Bild durch einen Platzhalter ersetzt wird; zum Thema Störeffekte vgl. Geimer 2002, S. 313–341). W. G. Sebalds literarische Foto-Texte repräsentieren einen spezifischen Modus der Buchgestaltung; diese hat jeweils maßgeblichen Anteil an der Entfaltung der Themen und Themenkomplexe, aber auch an der Interpretation des Mediums Fotografie selbst (vgl. Teil E 1.30). Ausgehend vom Topos des Fotos als eines ‚Fensters‘ in die Vergangenheit, lässt Sebald Fotos als blinde Fenster oder als leere Fensterhöhlen erscheinen, die keinen Durchblick auf das Gesuchte gestatten. Das jeweilige Buch als materielles Objekt korrespondiert funktional einem Gebäude mit solch dysfunktionalen oder vermauerten Fenstern.  



Buchstrukturen und Buchmodelle. Als Medium von Text-Bild-Arrangements gestattet das Buch Raum für die Gestaltung ganzer Bildsequenzen, darunter solcher, die durch Zoom-Effekte oder durch Stadien sukzessiver Bildbearbeitung bzw. Bildverfremdung miteinander zusammenhängen. Literarische Foto-Texte orientieren sich vielfach an Buchtypen und Buchformaten, in denen Fotos zum Einsatz kommen. Solche Orientierungs- und Organisationsmodelle bieten das Album und das Scrapbook (vgl. Teil D „Album und Scrapbook“); verwandte (und nicht trennscharf zu unterscheidende) Buchtypen sind das Tagebuch und das Notizbuch, insofern auch diese Bildmaterialien, insbesondere private oder aus persönlichen Gründen ausgewählte Fotos aufnehmen können. Neben diesen eher dem Bereich des privat-persönlichen Gebrauchs zugehörigen und dabei (auch) fotografisch gestalteten Buchtypen stehen Bücher, die allgemeinen und öffentlichen Zwecken dienen; auch sie werden durch literarische Fototexte zitiert, manchmal imitiert, gelegentlich simuliert. Dies gilt für wissensvermittelnde (etwa naturkundliche oder historiografische) Werke sowie für Bücher mit dem vorrangigen Zweck des Dokumentierens von Sachverhalten. Durch Text-Bild-Kombinationen in dokumentarischer Form dargestellt werden dabei reale (historische oder natürliche) Personen, Objekte und Ereignisse, aber auch fiktionale Zusammenhänge und Ereignisse. Eine fiktionale Geschichte in Form eines mit Fotos ausgestatteten Buchs zu ‚bezeugen‘, ist eine variationsfähige und in der Postmoderne an Beliebtheit gewinnende literarische Strategie (vgl. etwa Hildesheimer 1983; Frost 2016). Mikhailovs Unfinished Dissertation. Boris Mikhailov hat 1984 unter dem Titel Unfinished Dissertation ein Künstlerbuch gestaltet, das auf unkonventionelle Weise Tagebuchcharakter hat und in dem er eigene Fotos verwendet (Mikhailov 1998): Bilder aus dem Sowjetalltag seiner Zeit, geprägt durch eine Ästhetik des Alltäglichen, Marginalen, Unauffälligen und in seiner Unauffälligkeit Signifikanten. Die Bilder wurden

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

auf gelbliches Schreibmaschinenpapier geklebt und mit kurzen eigenen Annotationen versehen, die zugleich mehr und weniger als Bildlegenden sind. Diese Texte enthalten zahlreiche Zitate verschiedener Provenienz: aus philosophischen, wissenschaftlichen und literarischen Texten sowie aus angehörten Gesprächen und öffentlichen Informationsquellen. Die Einträge umgeben die Bilder in wechselnden Ausrichtungen, teilweise hochkant, und lesen sich manchmal wie kurze Gedichte oder Aphorismen. Texte und Fotos befinden sich auf den Rückseiten der Blätter eines zuvor bereits genutzten Papierstapels, der die unfertige Dissertation eines Unbekannten trägt. Erscheint schon die Gestaltung eines privaten Tagebuchs mit dem Papier eines anderen als signifikante buchgestalterische Entscheidung, so kontrastieren zudem die privaten Fotomotive und ihre subjektive Motivation mit dem (in der Regel) systematischen Anspruch einer Dissertation. Das Thema Fotografie im Spiegel des Bucharrangements. Zentrale und in verschiedenen Werken der Foto-Literatur auf unterschiedliche Weisen inszenierte Themen sind erwartungsgemäß insbesondere Themen, die dem Gebrauch und geläufigen Konzeptualisierungen der Fotografie selbst entsprechen. Dazu gehört der facettenreiche Themenkomplex um Abbildlichkeit, Realitätsnähe, ‚realistische‘ und ‚präzise‘ (möglichst detaillierte) Darstellung, kurz: um das, was man im Fotodiskurs mit dem Schlagwort des ‚Realitätseffekts‘ verbindet. Dem eng affin sind Fragen der Verlässlichkeit, Zeugenschaft und Authentizität von Darstellung. Foto-Texte katalysieren insbesondere die Frage nach Spuren der Realität in Bildern und nach Repräsentationsformen vergangener Wirklichkeit. Ein wichtiges thematisches Feld eröffnet sich über das Stichwort ‚Erinnerung‘; gerade Fotos wirken ja als Katalysatoren von Erinnerungsprozessen, aber auch als Metonymien scheiternder Erinnerung. An Fotos knüpft sich gerade in literarischen Texten (aber nicht nur hier) die Frage nach der Visualisierbarkeit von Unsichtbarem, und sie erscheinen als potenziell effektvolle Stimuli der Imagination und der kreativen Phantasie. Von hier aus wiederum wird das Thema Interpretation zum Anlass literarisch-fotografischer Arrangements. Gerade vor dem Hintergrund der Vorstellung, das fotografische Bild verweise auf eine (vergangene) Wirklichkeit, deren Abbild es sei, bieten Fotos vielen literarischen Autoren Anlass zu hypothetischen Interpretationen, in denen dann unter anderem verschiedene Deutungsoptionen gezeigter Bilder narrativ durchgespielt werden können. Im Buch treten dabei dann das Bild als vieldeutiges Interpretandum und die schriftsprachlichen Interpretationen in ein spannungsvolles Verhältnis. Ein Beispiel für die entsprechende Nutzung des Gestaltungsmediums Buch bietet Wilhelm Genazino mit seiner FotoText-Sammlung Aus der Ferne. Auf der Kippe, die aus zunächst zwei Einzelbänden entstanden, eine Sequenz von Fotos (meist Fotopostkarten) und diesen zugeordneten essayistischen Texten enthält (Genazino 2012). Mit verschiedenen literarischen Mitteln präsentiert Genazino Ansätze zur beschreibenden Interpretation der gefundenen und stilistisch-motivisch heterogenen Fotos und Karten; das Buch ist insofern ein Kompendium zu Modi des Interpretierens. Die Form des Buchs macht dabei sinnfällig,

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inwiefern Interpretationen dem zu Interpretierenden stets gegenüberstehen – als eine Oberfläche, die sich letztlich nicht auf eine Wahrheit oder eine feststellbare Referenz hin durchdringen lässt: Bilder und Texte stehen einander auf den Doppelseiten gegenüber, getrennt durch den Falz in der Mitte, der sie zusammenhält, aber auch den zwischen ihnen bestehenden Graben markiert. Dienen Postkarten (und andere Fotos) in der Regel der Kommunikation, so thematisiert Genazino Kommunikationsstörungen auf verschiedenen Ebenen: zwischen Personen auf Bildern, zwischen Bild und Betrachter, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.  

Fotografie in programmatischen Beispielen der neueren Buch-Literatur. In den Buchwerken Mark Z. Danielewskis werden allerlei Fotos zu konstitutiven Trägern der Erzählung respektive der Inszenierung von Geschichten im Buchraum. House of Leaves enthält unter seinen vielfältigen (scheinbar) paratextuellen Elementen auch fotografische Bilder bzw. Bildcollagen, die der fiktionalen Konstruktion zufolge zu den dokumentarischen Materialien rund um die Geschichte des rätselhaften Hauses und um die öffentlichen Reaktionen auf diesen Fall gehören (vgl. Teil E 1.38; Danielewski 2000). Eine Vielzahl von Fotos wurde auch in Jonathan Safran Foers Extremely loud and incredibly close (Foer 2005; vgl. E 1.37) einkomponiert, um die Analogie dieses Romans zu einem Scrapbook zu betonen und visuell sinnfällig zu machen, was den Protagonisten beschäftigt. Einzelne Bilderserien (zu Schlüsseln und Fenstern) sowie die Daumenkino-Passage um den „Falling man“ lassen sich zu geläufigen FotoTopoi in Beziehung setzen: zur Idee der ‚Erschließung‘ von Realität, des Blicks durchs Foto-‚Fenster‘ und des Eingriffs in den Verlauf der Zeit (vgl. Teil E 1.38). In Doug Dorsts und J. J. Abrams’ Ship of Theseus befinden sich fotografische Bilder unter den losen Einlagen, welche als Spuren der (ihrerseits fiktiven) Leser im Roman präsentiert werden. Dieses eingelegte Material bietet einen ganzen Katalog von Fotografie-Typen und Beispielen für die Verwendung der Fotografie im privaten und öffentlichen Leben. Dazu gehören das offenbar ältere vergilbte Schwarzweiß-Foto einer unbekannten Frau, die Farbaufnahme eines Mauerstückes, Fotos in einer eingelegten UniversitätsZeitung sowie auf einem fotokopierten Zeitungsausriss, diverse Fotopostkarten aus verschiedenen Gegenden sowie letztlich auch diverse Fotokopien unterschiedlicher Quellen und Dokumente (vgl. Teil E 1.47). Leanne Shaptons Katalog-Roman Important Artifacts… besteht zu weiten Teilen aus Fotos von Objekten, die zusammen mit den Erläuterungen der katalogisierten Objekte eine Geschichte erzählen, in der es dann wiederum (unter anderem) um Fotos geht (vgl. Teil E 1.42). MSE  

Gebrauchsbücher Reflexion über bookness ist unter anderem Reflexion über die Interaktion zwischen dem Buch und seinem Nutzer. Die Geleiterfunktion des Buchs durch Wissensbestän-

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

de, Räume, Zeiten, Welten der Natur und der Geschichte ist stets eingebunden in ein Geflecht von Praktiken, die unter dem Leitbegriff ‚Kultur‘ zusammengefasst werden. Bücher bestimmen – in enger Wechselwirkung mit kulturellen, historischen und epistemischen Rahmenbedingungen – Prozesse der Kommunikation, des praktischen Handelns und der Welterfahrung, aber auch der Selbsterkundung (ob diese nun als Selbst-Erfahrung oder als Selbst-Entzweiung akzentuiert wird). Buchwerke machen gerade auf die epistemische und selbstanalytische Dimension der Buchnutzung aufmerksam. Bücher sind auf vielfältige Weisen und in diversen Hinsichten in kulturelle Praktiken und Verhaltensweisen integriert. Sie sind in entsprechend vielfältiger Hinsicht Objekte des Gebrauchs. So stimulieren sie zunächst einmal durch ihre Gestalt bestimmte Nutzungsweisen (etwa das Umblättern von Seiten (vgl. Schulz 2015b und Gunia/Hermann 2002), bestimmte Körperbewegungen beim Lesen, Praktiken des Aufbewahrens und Anordnens etc.). Sie leiten ferner vor allem dazu an, andere Dinge zu gebrauchen, sich zu diesen Dingen zu verhalten, das im Buch Gelesene oder Gesehene zu nutzen. (Auch, wer vom Buch instruiert wird, andere Dinge zu gebrauchen oder bestimmte Dinge zu tun, gebraucht dabei zugleich das Buch.)  



Gebrauch und bookness. Reflexionen über solche Gebrauchsformen des Buchs und seine Einbindung in Handlungskontexte – in Formen kultureller Praxis, in Arbeitsprozesse, aber auch in Prozesse intellektuell-mentaler Verarbeitung von Erfahrungen – sind Beiträge zur Reflexion über bookness. Auch wenn sie den Buchgebrauch nicht determiniert (man kann ein Mathematiklehrbuch als Malbuch benutzen), eröffnet die Inhaltsdimension von Büchern doch jeweils spezifische Nutzungsspielräume (die man dann akzeptieren kann oder nicht). Gebrauchsrelevant sind ferner die generistischen bzw. formatbezogenen Eigenschaften eines Buchs (die mit dem Buchinhalt in engem Zusammenhang stehen): Buchtypen wie das Wörterbuch, das Telefonbuch, das Lesebuch oder das Notizbuch implizieren Handlungsvorschläge und Gebrauchsanweisungen (auch wenn damit wiederum keine Determination verbunden ist). Einen Sonderfall von Gebrauchs- und Praxisbezug stellen solche Bücher dar, deren Inhalte konkrete Anleitungen oder Anweisungen enthalten, die sich demnach also als Ratgeber und Praxishilfen an den Nutzer wenden (auch wenn niemand dazu gezwungen werden kann, sie entsprechend zu gebrauchen). Ein Extremfall im Spektrum der Gebrauchsoptionen von Büchern besteht darin, sie materiell massiv zu verfremden oder sogar zu zerstören. Auch dies kann, muss aber nicht, Bestandteil ihres künstlerischen Gebrauchs sein. Zweckentfremdungen verraten via negationis vieles über geläufige Zusammenhänge zwischen Mitteln und Zwecken, Objekten und objektbezogenen Praktiken.  



Bücher zum Selbstgestalten. Appellfunktion haben vor allem solche Bücher, die zur individuellen Gestaltung auffordern: Blindbände, die auf verschiedene Weisen gefüllt werden können, Bücher, die für individuelle Einträge und Gestaltungen vorbereitet sind (etwa als Notizbücher, in denen Linien das Schreiben erleichtern sollen) oder in

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denen der Nutzer etwas sammeln kann (wie in einem Briefmarkenalbum). Ihnen stehen solche an den Nutzer appellierende Bücher gegenüber, welche diesen zwar auch auffordern, sie zu gestalten, dabei aber Vorgaben und Vorschriften enthalten: Malbücher mit bereits vorhandenen Umrissen zum Ausmalen, Lehrbücher mit Aufgaben, die gelöst werden müssen, Übungsbücher, die angemessene Ergänzungen durch Texte oder Zeichnungen verlangen. Zwischen dem offenen und dem determinierenden ‚Buch zum Fertigmachen‘ gibt es vielfache Zwischen- und Mischformen; letztlich ist völlige Offenheit ohnehin nicht möglich, völlige Determination des Nutzers aber ebenfalls nur eine abstrakte Leitidee. So können ein Tage- oder Notizbuch zwar durch die unterschiedlichsten Einträge gestaltet werden, aber Format und Materialität setzen dem doch Grenzen. Und selbst ein Aufgabenbuch, bei dem eindeutig festliegt, wo die Multiple-Choice-Kreuzchen angebracht werden sollten, kann mit unterschiedlichen Stiften bearbeitet – oder sogar völlig zweckentfremdet werden.  

Materieller Gebrauch und seine Spuren in Buch-Literatur und Buchkunst. Bücher kommen ihrem Gebrauch als materielle Objekte in spezifischer Weise entgegen oder behindern ihn auch – etwa dadurch, dass sie zu schwer sind. Ihre physische Beschaffenheit kann sich prägend auf das Leben ihrer Benutzer auswirken.30 Benutzte Exemplare weisen oft Gebrauchsspuren auf. Die Gestaltung von Künstlerbüchern und von buchliterarischen Werken kann darauf Bezug nehmen und so die Integration des Buchs in Gebrauchskontexte signalisieren, sei es im Sinn einer Dokumentation tatsächlichen Gebrauchs, sei es im Sinn der Simulation eines Gebrauchs (der dann Bestandteil der vom Buch erzeugten Fiktion ist). Gestaltungen von Buchcovers, die optisch einen abgenutzten oder beschädigten Eindruck machen, tragen zu solchen Fiktionen eines (typischen) Buchgebrauchs bei, desgleichen verblasst wirkende Einbände, Kleckse und Flecken, Rissspuren und Kritzeleien. Buchnutzer können ihre Gebrauchsspuren auch hinterlassen, indem sie ins Buch hineinschreiben, -kritzeln oder -malen, indem sie Buchinhalte mit Anmerkungen versehen, markierende Striche am Rand oder unter den Textzeilen bzw. Eselsohren an den Buchecken anbringen. Zudem können sie Lesezeichen und andere Objekte als persönliche Spuren im Buch hinterlassen. Das Beschreiben von Seitenrändern spielt unter den Gebrauchsspuren, die Leser in Büchern hinterlassen können, eine Sonderrolle, wird hier doch der bestehende Text erweitert und zugleich interpretiert. Bestimmte historische Gestaltungsformen des Buchs laden zu einem solchen Gebrauch besonders ein.31 Die Nutzung der Seitenrän 

30 Vgl. Illich 1991, S. 70f.; Illich beschreibt den von der Regel des Heiligen Benedikt festgelegten zeremoniellen Umgang mittelalterlicher Mönchsgemeinschaften mit dem Buch, das zu einer bestimmten Tageszeit im Zentrum des gemeinsamen Gebets steht, auf besondere Weise getragen und der Aufmerksamkeit gewürdigt werden muss. 31 Vgl. zum Thema Seitenränder: Cavallo 1999, S. 131: Bücher, die den Händen des Benutzers Bewegungsfreiheit lassen, gestatten es, beim Lesen Randbemerkungen in den Kodex zu schreiben. In der  



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der führt zu strukturellen Modifikationen der Texte und entsprechenden Komplexitätssteigerungen innerhalb des Buchs. Mit eher billigen Taschenbüchern wird wahrscheinlich anders umgegangen als mit teuren gebundenen Exemplaren, mit ersetzbaren Multiples anders als mit Unikaten – und mit eigenen Büchern anders als mit fremden. Auch diese Differenzen wirken sich auf Nutzung und Semantiken des Buchs aus. Auf viele besondere Weisen können Eigenschaften des Buchkörpers auf Gebrauchsformen und Nutzungskulturen des Buchs verweisen, aus denen sie hervorgehen, auf die sie reagieren und die sie regulieren. Dies zeigt sich vor allem an den „Kettenbüchern“, die mit spezifischen Veränderungsprozessen der Lesekultur sowie der Ausstattung von Bibliotheken im späten 13. Jahrhundert aufkamen (vgl. Saenger 1999, S. 202–205). Weil Bücher intensiver und von mehreren Lesern genutzt zu werden pflegten, wurden die wichtigsten von ihnen, vor allem Nachschlagewerke, an den Arbeitsplätzen festgekettet, um durch diese Standortbindung eine Nutzung durch viele Leser zu gewährleisten. Die Maßnahme wirkt autoritativ, verhindert aber, dass sich ein Einzelner zuungunsten anderer potenzieller Leser eines Buchs bemächtigt, und bringt somit ein neues Verständnis des Buchs und seiner Nutzung zum Ausdruck. Buch-Literatur und Buchkunst bieten insgesamt ein breites Spektrum an Beispielen für bewusste ästhetische Arrangements, welche auf diesen Gebrauchsaspekt von Büchern und seine physischen Korrelate aufmerksam machen. Sie signalisieren damit implizit stets auch, dass das Buch ein Stück ‚Welt‘ ist, und somit auch weltlichen Eingriffen in seine physische Beschaffenheit ausgeliefert ist – nicht nur in Gestalt menschlicher Nutzer, die dem Buch mit Stiften, Instrumenten oder bloßen Händen zu Leibe rücken, sondern etwa auch in Form von Feuchtigkeit, Hitze, Licht und anderen Kräften, die am Buchkörper Spuren hinterlassen können, wenn er nicht sorgsam geschützt wird. Mit der Reflexion über einen spezifischen (den materiellen) Aspekt von bookness verbinden sich hier jeweils Hinweise auf Aspekte der Buch(nutzungs)kultur, der Lesekultur, der Wissensgesellschaft. Dies gilt auch dann, wenn die Spuren erkennbar fingiert sind.  







Ein Roman über die Hinterlassung von Gebrauchsspuren im Buch. Dorsts und Abrams’ Buchroman Ship of Theseus (Dorst/Abrams 2013; vgl. Teil E 1.47) weist eine

römischen Antike war es durchaus üblich, dem Leser Raum für eigene Eintragungen im Buch zu lassen: an den Rändern, aber auch „in Form von ganz oder teilweise frei gelassenen Seiten, Deckblättern und Innenseiten der Einbanddeckel, wo sich verschiedenste, auch ‚anarchische‘ Notizen unterbringen ließen“ (ebd.). Wurde, wie üblich, das Buch von verschiedenen Personen genutzt, so konnte es mehrfache Bearbeitungsschichten aufweisen: „Am Rand konnten sich auch, auf die Textauslegung bezogen, Bemerkungen von verschiedener Hand übereinanderschichten; oder es ließen sich aus anderen Büchern ganze Kommentare dorthin übertragen“ (ebd.). Der Kodex motivierte in dieser Gestalt zu einer Lektüre, welche nicht nur einer Leserichtung folgte, sondern zwischen Haupt- und Nebentext wechselte, wobei deren Lektüren sich wechselseitig beeinflussten.

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Fülle arrangierter Gebrauchsspuren auf, vor allem Beschreibungen der Seitenränder, aber auch Lesezeichen, und er wirft durch seinen Titel bereits die Frage nach der Identität eines solcherart benutzten und dabei veränderten Buchs auf. Die Leser-Spuren sind Bestandteile der Fiktion (genauer: derjenigen Funktionsebene, die sich auf zwei fiktive Leser bezieht) – und zugleich für den realen Nutzer doch etwas ganz Konkretes, auch wenn er kein individuell genutztes Exemplar, sondern ein drucktechnisch gestaltetes Multiple in Händen hält. Der reale, konkrete Nutzer wird sogar gezwungen, selbst Spuren am Buch zu hinterlassen: Er muss ein Siegel zerreißen, um das Buch zu öffnen, und es ist unvermeidlich, dass sich die losen Lesezeichen zumindest verschieben. Der Roman belegt, wie sich buchgestalterische Mittel nutzen lassen, um eine zweite Fiktionsebene zu etablieren, welche Lektüre- und Nutzungsprozesse des Buches darstellt. Zugleich steht er im Zeichen einer Reflexion über bookness, die sich auf die konkret-materielle Seite aller Buchbenutzung bezieht – und auf das, was mit dem Buch dabei geschehen kann. Die beiden fiktiven Leser, die mittels des Buchs in einer Universitätsbibliothek in Kontakt treten, entsprechen übrigens recht genau dem Leseverhalten, das Petrucci als „neue[n] modus legendi“ beschreibt (Petrucci 1999, S. 526). Die von ihnen praktizierte üppige Ausstattung eines Bibliotheksbuchs mit Annotationen und allerlei Botschaften ist (auch) Indikator eines spezifischen kulturellen Bezugs zum Buch, das als Gebrauchs- und Verbrauchs-Objekt behandelt wird.  





Keri Smiths Meta-Bücher: Variationen und Reflexionen über den Gebrauch von Büchern. Keri Smiths Bücher (vgl. dazu auch Teil A 4.5) rücken die vielfältigen Optionen und Aspekte des Gebrauchs von Büchern durch das Zusammenspiel verschiedener gestalterischer Mittel in den Blick. Ihre Bücher – allesamt Buchmultiples, die den Nutzer dazu auffordern, serienweise bestimmte Handlungen zu vollziehen – leiten an, mit dem Buchkörper selbst, aber auch mit vielen verschiedenen anderen Gegenständen etwas zu tun. Sie haben Projektcharakter, wobei Formen der Bearbeitung des Buchs stets konstitutive Bestandteile der jeweiligen Projekte sind. Bezogen auf die Bücher selbst gilt es für den Nutzer, diese mit Texten, Zeichnungen und (flachen) Objekten zu füllen, gelegentlich auch, das Buch partiell zu zerstören. Mit Blick auf die Lebenswelt des Benutzers werden vielfältige Anleitungen zu Verhaltensweisen und Arbeitsprozessen gegeben, die teilweise – aber nicht immer – die Gestalt des Buchs selbst beeinflussen. Direkt oder indirekt spielen Smiths Anleitungen darauf an, wie mit Hilfe von Büchern – nicht nur von Texten und anderen Buchinhalten, sondern konkret von Büchern – Raum und Zeit erkundet, raum- und zeitbezogene Erfahrungsinhalte gegliedert, Gegenstände handelnd gestaltet, Erfahrungs- und Gestaltungsprozesse dokumentiert werden. Lebensvollzug, Erfahrungsgewinn und praktischer Umgang mit dem Buch greifen ineinander. Smiths seit 2007 in regelmäßiger Folge publizierte Bücher sind Meta-Bücher (vgl. dazu Teil A 4.5). Stets soll mit dem konkreten Buchexemplar selbst, das der Leser in der Hand hält, allerlei geschehen. Die vorgeschlagenen Buchperformanzen zielen auf verschiedene ineinandergreifende Ereignisfelder und Erlebnismodi, die man etwa  











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durch die Begriffe ‚Weltbeobachtung und Ordnung von Weltbausteinen‘, ‚Imagination und Kreativität‘, ‚Dokumentation und Kommunikation‘ charakterisieren könnte. Anschlussstellen bestehen etwa an Intentionen und Erscheinungsformen von Kinderund Bastelbüchern. Konkrete Spiel-Elemente finden sich in Form von Schreib- und Beschreib-Übungen, von Anleitungen zum Ausfüllen von Kästchen und Feldern, zum Sammeln, Klassifizieren, Ordnen (analog zu Herbarien, Sammelalben, Lernbüchern), sowie zum Kritzeln und zur Erzeugung anderer Erscheinungsformen des ‚Chaos‘, aber auch von Rekursen auf das Prinzip ‚Malen nach Zahlen‘. Die spielerische Vermittlung von (ästhetisch relevanten) Kompetenzen ‚rund ums Buch‘ dient einer Schärfung der Aufmerksamkeit für Dinge und Erscheinungen, der Erkundung des eigenen Körpers, seiner Situierung im Raum und gegenüber den Dingen, der Hinterlassung von Zeichen bzw. Markierungen, der Interaktion mit anderen. Hier ergeben sich Anschlussstellen an die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Man könnte Smiths Projekt etwa als Dokument eines spielerischen Dadaismus und als Anleitung zu Happenings im Taschenbuchformat charakterisieren.  

Zwischen Kunstpraxis und Kinderspiel. Für die Anknüpfung an avantgardistische Kunstformen und Praktiken signifikant sind vor allem die tendenzielle Entdifferenzierung von Kunst und Leben. Konkreter gesagt, bestehen Beziehungen zur Fluxus-Bewegung, zur von Künstlern wie Joseph Beuys propagierten Idee, jeder Mensch sei ein Künstler, zur Aktionskunst (Performance, Happening) mit ihrer Tendenz zu gemeinschaftlich betriebenen Projekten, zur Zufallskunst sowie zur Konzeptkunst. Schon Wreck this Journal (Smith, Keri 2007) widmet sich dem Themenkomplex um Leben, Erfahren und ‚Arbeiten‘ mit Büchern unter Einsatz verschiedener buchgestalterischer Mittel, die auch in späteren Büchern aufgegriffen werden; die Einbettung des Umgangs mit Büchern in Alltagspraktiken steht im Vordergrund. Ein Hinweis nach der Titelseite deutet an, was dem Leser geschehen könnte, wenn er sich auf das Buch einlässt: Erwartbar sind physische, am eigenen Körper spürbare Folgen: man macht sich schmutzig, bekleckert seine Kleider etc.; denkbar sind aber auch mentale Folgen und gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Buch, die zu neuen Einsichten führen. Das jeweilige Buch als konkretes Gebrauchsobjekt will den Benutzer ständig begleiten. Er bekommt von ihm auch permanent Anweisungen, die er aber, wie es heißt, frei interpretieren darf; er darf auch experimentieren – und er soll vor allem vergessen, was er über den Umgang mit Büchern gelernt hat (also neue Umgangsformen mit dem Buch erproben). In How to be an Explorer of the World (Smith, Keri 2008) bzw. Wie man sich die Welt erlebt (dt. Übers. 2011) wird das Buch-Experiment mit dem einzelnen Leser fortgesetzt. Zum Konzept des Bandes gehört es, die Aufmerksamkeit auch auf materielle Aspekte von bookness zu lenken; so heißt es etwa, oft seien „die interessantesten Sachen in irgendwelchen Ritzen versteckt“ (ebd., S. 2); ein Pfeil zeigt dabei auf die Falz als Mittel-„Ritze“ im Buch. Handfest buchreflexiv sind auch Buch-im-Buch-Konstruktionen, so die Abbildung eines Buchs mit der Aufschrift „Deine Mission“, die den Leser auf seinen individuellen Explorationsweg schickt (vgl. ebd., S. 10), sowie die In 





Hindernisse, Widerstände

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tegration eines Notizbuch-Teils, in dem der Leser seine anlässlich einzelner Aufgaben gemachten Beobachtungen, Ideen und Erfahrungen auflisten soll. In diversen Varianten entfalten die Folgebände der Serie die Idee einer Arbeit an und mit dem Buch als Medium, als Träger und Motor von Prozessen des Suchens, Findens, Veränderns, Zerstörens und Produzierens (vgl. Teil A 4.5). Die vorgeschlagenen Prozesse (und die verwendeten Materialien) stehen metonymisch für Prozesse des Lebens, für Konstruktionsprozesse, Dokumentationsprozesse, Denkprozesse. Damit verbindet sich immer wieder aber auch die Frage: Sollen wir die Anweisungen eigentlich konkret umsetzen? Was hat die Umsetzung der Anweisungen zur Folge? In jedem Fall ein verändertes Buch, in manchen Fällen auch ein zerstörtes oder verschwundenes Buch. Manchmal teilt der reale Leser die Verwirrungen des Modell-Lesers, wie in Calvinos WinternachtRoman. Zu den literarischen Gewährsleuten, die Smith neben anderen (Künstlern, Wissenschaftlern) in ihren Büchern zitiert, gehört Calvino mit gleich mehreren Werken, vor allem mit seinem Leserroman Se una notte d’inverno un viaggiatore (vgl. Teil E 1.20). MSE

Hindernisse, Widerstände: Unlesbarkeit, Vieldeutigkeit und Schweigen als Thema der Buchgestaltung Viele Buchwerke entstehen durch Bearbeitungen vorgefundener Bücher. Diese können durch solche Bearbeitung an Lesbarkeit verlieren (vgl. Endlich 2007). Buchkunst und Buch-Literatur umspielen insofern die Grenze zwischen Lesbarem und Unlesbarem, brüskieren dem Wunsch nach Entzifferung, stimulieren ihn aber durch gerade durch ihren Widerstand. Die solcherart via negationis thematisierte Entzifferungswünsche verweisen auf das Streben, mittels der Bücher und analog zu ihnen die Welt selbst zu lesen und zu beherrschen. Das unlesbare oder unlesbar gemachte Buch signalisiert demgegenüber, dass das Nichtwissen stets die Kehrseite, der Schatten des Wissens ist. Es ist je nach Materialität und Bearbeitungsprozessen jedoch mit unterschiedlichen Ideen assoziierbar. Eine Art Konvergenzpunkt bildet die Vorstellung, Kunst sei Produzentin von Widerständigem, ja selbst widerständig (vgl. dazu auch Teil A 4.1). Ein zerrissenes Collagen-Werk. Ein programmatisches Beispiel bietet Timm Ulrichs mit seiner Arbeit Herta Wescher: Die Geschichte der Collage, einer auf der documenta von 1977 gezeigte Décollage des Fachbuchs Die Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart von Herta Wescher (erschienen in der Reihe: DuMont Dokumente, Köln 1974) (Kat. Ausst. 1977, S. 346). Ulrichs hat Weschers Buch, das ja selbst durch Explikationen die auf Zerlegung und Zerreißung von Materialien beruhende Collagekunst erklären (also ‚lesbar‘ machen) möchte, seinerseits in einen Aktenvernichter (einen sogenannten Reißwolf) gesteckt und die entstandenen Papierstreifen in einen  

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

Acrylglaskasten gefüllt, der die Form eines Buches hat. (Mit der Erstausgabe des Buchs von 1968 hatte Ulrichs eine ähnliche Transformation vorgenommen) So wird die kunsthistorische Lesbarmachung der Collagekunst (als einer Kunst der ‚Unlesbarmachung‘) wiederum unlesbar – allerdings in Verbindung mit Residuen des Lesbaren: Der Titel des Wescher-Buchs wurde dem Kasten eingraviert, wie eine Denkmalsoder auch eine Grabinschrift.  

Polyvalenzen des Unlesbaren. Mit unlesbaren und anderweitig unzugänglichen Büchern geht es um einen doppelten Widerstand, nämlich um die Unlesbarkeit der Buchinhalte sowie um die Polyvalenz dieser Unlesbarkeit selbst. Ein Beispiel dieser doppelten ‚Widerständigkeit‘ bietet László Lakners Installation mit Büchern, die wichtige ästhetische Schriften von Platon, Alberti, Hegel und Heidegger enthalten. Ähnlich wie in Ulrichs’ Bearbeitung von Weschers Buch werden hier also Bücher bearbeitet, die die Geschichte der Kunst und Ästhetik selbst repräsentieren – Bücher über Kunst. Lakner hat Bände mit Platons Symposion, L. B. Albertis De re aedificatoria, G. W. F. Hegels Ästhetik und M. Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks in schwarze Folie gewickelt, mit Schnüren zu Päckchen gebunden und aufgehängt. Damit sind sie dem Zugriff und erst recht der Lektüre ostentativ entzogen (Kat. Ausst. 1980, S. 73f., Objekt Nr. 51). Ist das nun ein Akt der Huldigung dieser Bücher, die, hochgehängt wie Kultbilder, der Be- und Vernutzung entzogen wurden? Oder sollen die Bücher aus dem Verkehr gezogen, zum Schweigen gebracht, insofern also kritisiert werden? Ergreift der Künstler Partei für die Bücher, indem er sie ‚rettet‘ und ‚verehrt‘, oder gegen die Bücher, indem er sie zu nutzlosen schwarzen Klötzen macht? Oder geht es um eine mimetisch performierte Kritik an denjenigen, die Bücher unzugänglich, unlesbar und stumm machen, also um Zensur? Geht es um Widerstand gegen das Buch oder um Widerstand gegen den Widerstand gegen das Buch? Oder um die Reflexion über die konstitutive Widerständigkeit von Kunstwerken? Entscheidend für den jeweiligen Deutungsansatz des Betrachters ist jeweils, wie das Buch selbst interpretiert wird: Steht es für Wissen, Aufklärung, Freiheit? Oder für Autorität, Macht, Dogmatismus? Wird es durch das entsprechende Werk auf der Seite der Opfer oder auf der Seite der Täter verortet? Steht es für eine rigide Ordnung, für Vorschriften und Gesetze, oder für Gedanken- und Kunstfreiheit? Interpretationslenkend ist aber auch das vom Interpreten ans Buchwerk herangetragene Kunstverständnis. Zielt Ulrichs’ Décollage auf eine ironische Kommentierung und Zurücknahme der kunsthistorischen Erschließungsarbeit Weschers ab? Oder auf eine Hommage an Weschers Arbeit? Geht es mit Lakners Installation um eine Würdigung der eigenen philosophischen Wegbereiter? Oder um eine ironische Musealisierung historischer Vorläufer? Offen bleibt, ob hier bildungsbürgerliche Ballaststücke weggeräumt, Grundtexte provozierend dem Blick entzogen – oder Dinge ostentativ ‚in die Schwebe gebracht‘ werden sollen.  













Schweigende, leere oder verschlossene Bücher. Schon Laurence Sterne hatte mit dem Schweigen im Buch experimentiert: Sein Tristram Shandy enthält (neben ande-

Hindernisse, Widerstände

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ren typografischen Besonderheiten) eine schwarze und eine marmorierte Seite; die Farbe Schwarz steht für eine Empfindung der Trauer, die wortsprachlich unartikulierbar erscheint (vgl. Teil E 1.1). Mallarmés Buch-Gedicht Un coup de Dés bezieht die weiße Fläche in einer Weise in die Komposition ein, dass es scheint, als seien diese Wörter dem Schweigen abgewonnen (vgl. Teile A 6.6, A 6.7). Leere Bücher sind unterschiedlich deutbar: als Inbegriff der Kommunikationsverweigerung, aber auch als Andeutung und Platzhalter möglicher Texte, als Freiraum, als Projektionsfläche der Phantasie. Gerade das Weiß der Buchseite erscheint polyvalent, als Ausdruck der Sinnfreiheit wie der Sinnfülle, als Bedingungsgrund des erscheinenden Textes, aber auch als dessen Negation. Verschlossene Bücher und buchförmige Objekte, die sich nicht öffnen lassen (vgl. dazu Teil A 4.1), haben in ihrer Unlesbarkeit einen ähnlichen Effekt wie leere Bücher, unterscheiden sich von diesen aber doch insofern, als sie eine (freilich unzugängliche) sprachlich-textliche Botschaft enthalten könnten. Je ambitionierter diese Botschaft, suggeriert durch Werktitel oder Buchäußeres, zu sein scheint, desto größer der (suggerierte) Verlust. Bei Maurizio Nannucci (Universum) wird auf suggestive Weise mittels eines unlesbaren Buchs das Universum selbst unlesbar gemacht bzw. als unentzifferbar präsentiert: Das gleichnamige Doppelbuch lässt sich nicht öffnen.32 Metaphorizität des Materials. Zwar erscheinen Buchwerke in ihrer Materialität meist vieldeutig, aber sie schließen doch an Symbole und symbolische Prozesse, an Metaphern und andere Sprachbilder an, die ihre Deutungsoptionen bestimmen. Unauflöslich ambivalent präsentieren sich die Kettenbücher des Konrad Balder Schäuffelen, der Ketten um mehrere Bücher gelegt hat.33 Man könnte beim Stichwort ‚Kettenbuch‘, entsprechend der vielschichtigen Semantik der Kette, an Schmuck, aber auch an Gefangenschaft denken, an eine symbolische ‚Bindung‘, ein bewahrtes Geheimnis, aber auch an Unterdrückung und Gefangenschaft. Man mag Keuschheitsgürtel assoziieren, aber auch Sklavenketten – und nicht zuletzt das ‚Kettenbuch‘ als historisches Buchformat (vgl. auch Teil A 4.2). Der Inhalt der Kettenbücher Schäuffelens ist unlesbar; bei den historischen Kettenbüchern hingegen wurden die Bände bloß angekettet, um ihren Diebstahl aus der Bibliothek zu verhindern.34 In der Nachbarschaft zerlegter Bücher platziert, wirkt das Kettenbuch wie ein symbolischer Hinweis auf Gewalt. Ein solches zerlegtes Buch hat Schäuffelen aus einem Band gemacht, der ein literarisches  

32 Nannucci, Maurizio: Universum, 1969, Buchobjekt, im Schuber, 17,8 x 12,0 x 2,3 cm. Der ledergebundene Band hat zwei Buchrücken; auf diesen steht „Universum Volume I“ bzw. „Universum Volume II.“ (Kat. Ausst. 1977, S. 330.) 33 Schäuffelen, Konrad Balder: Conradi Balderi Paliculae Liber Catenatus Tomus secundus, 1970, Buchobjekt, 37 x 36,5 cm. Abgebildet ist einer von drei Bänden. (Kat. Ausst. 1977, Abb. S. 341.) 34 Kettenbücher gab es in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bibliotheken; Eisenketten verbanden die Bücher mit Lesepulten oder Regalen. Kette und Buch wurden durch einen metallenen Befestigungsbügel am Buchrücken miteinander verbunden.  



















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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

Werk enthält: Arno Schmidts Abend mit Goldrand, erschienen 1975, 1976 bearbeitet; das Objekt beruht nicht zuletzt auf einem Spiel mit dem Ausdruck ‚goldener Schnitt‘.35 Zwischen Negation und Affirmation: Übermalte Bücher auf der Documenta 6. Praktiken der Fragmentierung, der Demontage und Verfremdung stehen vielfach im Zeichen des – und sei es ironischen – Protests gegen das, was da dekomponiert wird. So etwa arbeitet sich Michael Badura an einem kunsthistorischen Buch ab, das den – aus seiner Sicht abstrusen – Anspruch erhebt, die Geschichte der Kunst im Schnelldurchgang übersichtsartig verfügbar zu machen. Die durch den Titel vorgenommene Zuordnung des Buches zu einer ‚Zellenbücherei‘ lässt Gefangenschaft, Einsamkeit und Enge assoziieren; der Hinweis des Künstlers auf die Rivalität von Wirklichkeit und Sprachwelt klingt sprachskeptisch.36 Er kritisiert im Folgenden die Kompetenz des Kunsthistorikers Singer und sein Verfahren der Etikettierung und Klassifizierung von Beispielen. Die Zerlegung des kunsthistorischen Bandes erscheint demgegenüber als ein Akt der Befreiung – der Befreiung von Kunst aus einem zellenartigen Wörterund Buchkäfig.37 Übermalungen, Überdruckungen und Überschreibungen sind so vielseitige wie polyvalente Bearbeitungsverfahren. Sie können als partielle oder gänzliche Zerstörungen, aber auch als Aufwertungen des zugrundeliegenden Substrats erscheinen, als dessen Unsichtbarmachung und als dessen Recycling, als Negation oder Affirmation. Die Beispiele aus der Buchobjektausstellung der sechsten documenta spielen mit dieser Ambivalenz. In der Regel lassen sie Zerstörungsprozesse assoziieren. Und doch erinnern sie damit an das Zerstörte selbst und sind insofern Memorialobjekte – zumindest dann, wenn sich das Substrat noch identifizieren lässt.38 In allen  











35 Schäuffelen, Konrad Balder: Abend mit Goldrand, 1976, Objektbuch in 2 Teilen, 19,8 x 2,2 cm. Die Zerteilung des Bandes folgt dem Prinzip des „goldenen Schnitts“. (Ebd., Abb. S. 340.) 36 Badura, Michael: Nummer 60 der Zellenbücherei – Professor Dr. Hans W. Singer, Kunstgeschichte in einer Stunde (von Abu Simbel bis Klinger), 1977, verschiedenes Papier, Foto, Stecknadeln, Holz, 250 x 295 cm. (Ebd., S. 300, Abb. S. 301). 37 „Schließlich fixierte ich die mehr oder weniger auseinandergeflogenen und verrutschten Textteile – den kaputten Zusammenhang – mit Stecknadeln und Klebestreifen so, wie er gerade liegen geblieben war. Einmal wollte ich die bereits vom Autor zerstörte Geschichte sinnlich wahrnehmbar nachvollziehen und zum anderen die zitierten Künstler mit ihren Arbeiten aus dem gemeinen Sprachkäfig befreien.“ (Badura, Michael, ebd., S. 300.) 38 Frenken, Will: W. Busch, gesammelte Werke, 1974, Pappband in Leinentuch gewickelt, 22 x 15,3 x 3,7 cm. „Die Ausgabe der gesammelten Werke Wilhelm Buschs wurde schwarz mit Druckfarbe eingefärbt und als Druckblock für ein weißes Leinentuch benutzt.“ (Ebd., S. 312.); Frenken, Will: Ode an die Nation, 1974, 16 Tuschtassen mit 2 Holzleisten geheftet, mit einem eingelegten Band aus Grillparzers Werken der Cotta’schen Bibliothek der Weltliteratur, 32 x 23,5 cm. (Ebd.); Lakner, László: Michelangelo, 1976, aufgeschlagenes, übermaltes Buch, 25 x 39 x 3,5 cm. (Ebd., Abb. S. 325.). „Durch Übermalung mit Unterschriftproben Michelangelos bearbeiteter Band der 5. Auflage von Meyers Konversationslexikon.“ (Ebd., S. 324.); Rühm, Gerhard: Ein Geschlecht, 1961, eine Bearbeitung des Buchs von Fritz von Unruh: Ein Geschlecht, Leipzig 1918, durch schwarze Bemalung Pappband. (Ebd., S. 340, Abb. S. 341.); Rühm, Gerhard: Übermaltes Buch, 1962, Leinen, 21,9 x 15,5 cm. (Ebd., S. 340 f.); Schwarz, Martin: Nichts, 1972–  

































































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Hindernisse, Widerstände

Fällen treten die buchgestaltenden Künstler mit den Inhalten der bearbeiteten Bücher in einen eigentümlichen Dialog. Im Zeichen der Metaisierung steht neben Ulrichs’ Bearbeitung von Herta Weschers Collagebuch (s. o.) auch die eines Bandes über moderne Kunst durch Klaus Staeck.39 Auf ein literarisches Werk Baudelaires bezieht sich Marcel Broodthaers,40 der auch mehrere Bearbeitungen von Mallarmés Un coup de Dés vorgelegt hat (1969). Dabei erfolgte eine Reduktion des Mallarméschen Textes auf seine Struktur. Statt der Textzeilen sind schwarze Striche auf den Seiten zu sehen (Kat. Ausst. 1977, S. 304, Abb. S. 305) – Affirmation oder Tilgung?  







Appell, Protest, Monument: Effekte, Suggestionen und Botschaften der Buchobjekte. Im Eingangshof des Mainzer Gutenberg-Museums etwa liegt ein Steinbuch von Anna Maria Kubach-Wilmsen und Wolfgang Kubach, betitelt: Hommage à Gutenberg (Abb. bei Moldehn 1996, S. 210f., Kap. „Das begehbare Buch“, ebd., S. 207ff.). Auch wenn sich Steinbücher nicht lesen lassen, erscheint die Beziehung dieser Arbeit zur Buchkultur als affirmativ. Buchobjekte präsentieren sich oft als ‚Aufhebungen‘ des Buches im mehrfachen Sinn des Wortes: als dessen Negation, aber auch als dessen Konservierung, ja Sublimierung. Träume von alexandrinischen Bibliotheksbeständen prägen auch die Arbeit von Buchobjektgestaltern, die unlesbare Bücher schaffen oder arrangieren.41 Gelegentlich werden Buchobjekte sogar als Manifestationen einer Buch-Nostalgie vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden medialen Wandels öffentlicher Kommunikation betrachtet, wie sie seit dem späten 20. Jahrhundert oft diagnostiziert wurde (Salzmann 1989, S. 9). Das Funerarbuch – der in Buchform gestaltete Gedenkstein – avanciert im 20. Jahrhundert zu einem konventionellen Bestandteil der Ausstattung von Gräbern (Metken 1979, S. 668–687 sowie Gerz 1976). Jürgen Brodwolf formt analog dazu Bücher zu Gräbern um, in denen kleine Figuren aus zerdrückten Farbtuben liegen. Siegfried Salzmann nennt eine Buchobjektsammlung Bücher, die keine mehr sind (Kat. Ausst. 1989). Jürgen Brodwolfs „Figurenfragmente“, so heißt es  















1976, Umschlag, 21 x 14,5 cm. (Ebd., S. 344, Abb. S. 345.); Wortkamp, Erwin: „Ich möchte Paul Scheerbarth sprechen“, 1974, Buchobjekt aus 2 Betonblöcken, Glasscherben und einem Buch, 43 x 34 x 34 cm. „Zwischen 2 Betonblöcken und Glasscherben das Buch ‚Glasarchitektur‘ von Scheerbarth; auf dem oberen Betonblock umlaufend eingeschlagen: ‚Ich möchte Paul Scheerbarth sprechen‘“. (Ebd., Abb. S. 351.) 39 Staeck, Klaus: die kunst der 60er Jahre, 1970, Buchobjekt, 30 x 25 x 6,5 cm. Bearbeitet wurde die vierte Auflage des Katalogs der Sammlung Ludwig im Wallraf-Richartz-Museum (Köln). Das Buch wurde mit vier Bolzen durchschlagen und mit einer Messingplatte Flügelschrauben verschlossen. (Ebd., S. 344, Abb. S. 345.) 40 Broodthaers, Marcel: ABCABCABCABCA, 1974, 32 x 24,9 cm. (Ebd., S. 306, ohne Abb.) 41 Vgl. die Aussage des Buchobjektkünstlers Botond, zit. in Salzmann 1989, S. 11: „Mein Ziel ist es, eine Bibliothek zu schaffen, in der etwa 2000 Bücher von Klassikern, zeitgenössischen Schriftstellern, Philosophen und Denkern, Werke von Komponisten Künstlern in ‚Kleinplastiken‘ verschlossen festgehalten sind.“ Intendiert ist ein Modell der Bibliothek von Alexandria; dort soll es nach dem Wunsch des Künstlers auch installiert werden.  













































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hier, „wirken wie Relikte einer archäologischen Ausgrabung und beschwören Erinnerungen an Tod und Vergänglichkeit herauf“. Verschwindende Bücher. Ein Buchobjekt, dessen Hersteller besorgt an das drohende Ende des Buchzeitalters erinnert, hat etwa Raymond E. Waydelich geschaffen; er nennt es Unlesbar restaurierte Bücher und spielt damit warnend auf eine Zeit an, der sich der Zugang zum Buch in übertragenem Sinn verschließen könnte. Analoges gilt für solche Objekte, die aus ganzen Bücherwänden, Regalen oder Bibliothekseinrichtungen geschaffen werden, die sich gegenüber dem Betrachter verschlossen geben oder mit ihrem Verschwinden drohen. Waydelichs drei Unlesbar restaurierte Bücher (1979) sind durch fragwürdige Restaurationsmaßnahmen zu stummen Dingen geworden sind. Der Kommentartext deutet das Objekt als Parteinahme für das Buch und als Ausdruck kritischer Aufmerksamkeit auf seine Missachtung. Die bereits durch Wachs konservierten Bücher sind von Schrauben durchbohrt und so unlesbar geworden. Sie verweisen mit dieser widersinnigen Restaurierungsform der Verschraubung auf eine zukünftige Epoche, der der Umgang mit Büchern fremd ist und die das Phänomen Buch nicht mehr versteht. Diese Buchkategorie Waydelichs kann als eine Art warnender Prophezeiung gesehen werden (ebd., S. 99).  

Eine Hommage an die Sprache trotz oder gerade wegen der Fragmentierung eines Wörterbuchs bietet Oskar Holwecks Arbeit Deutsches Wörterbuch; zwar bietet das Objekt unter buchkonservatorischen Aspekten einen desolaten Anblick, aber es suggeriert eine Art Eigenleben seines Inhalts (ebd., S. 43, Abb. Nr. 28). MSE  



Internationalität des Künstlerbuches Auch wenn die Geschichte des Buches und seiner Nutzung innerhalb der einzelnen Kulturen unterschiedlich verlief, zeigen sich doch Konvergenzen, die bei aller nationalen und regionalen Ausdifferenzierung eine internationale Buchkultur begründen. Zentral ist die grundsätzliche Möglichkeit, Bücher leicht zu transportieren und als Übermittlungsmedium einzusetzen. Ihr durchweg handliches Format erlaubt es, Bücher auf dem Postweg zu versenden, wodurch ihre Grenzen überschreitende Verbreitung gefördert wird. Ihre internationale Rezeption wird limitiert, bedingt durch Sprachdifferenzen und abweichende semiotische Konventionen. Doch können sprachliche Einschränkungen durch visuelle Darstellungsformen ausgeglichen werden, insofern diese meist international verständlich sind. Neben Bildern und textübergreifenden Zeichen unterstützt die Typografie das Textverstehen, prägnant vor allem innerhalb der Visuellen Poesie. Auch materielle Qualitäten des Buchs übernehmen Kommunikationsfunktionen. Von Nationalsprachen unabhängige Ausdrucksformen reflektiert in exemplarischer Weise das Künstlerbuch, sie zeigen sich aber bereits innerhalb der Buchgestal-

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Internationalität des Künstlerbuches

tung und -illustration, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts internationale Impulse erhält. Die u. a. durch Revolution und Bürgerkrieg in Russland ausgelöste Migrationsbewegung von Europa in die USA setzt sich mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die USA fort. Über die Künstler verbreiten sich spezifische Stilformen, die sich in der Buchgestaltung, in den Illustrationen wie in der Konzeption bemerkbar machen. So wird die dem russischen Futurismus zugehörende Alexandra Exter für die bei Flammarion erscheinende Edition Le Père Castor in Paris tätig, Ilya Zdanevič, der in Tiflis avantgardistische Künstlerbücher produziert hatte, beginnt in Paris u. a. als Verleger unter dem Namen Iliazd 1940 mit der Herausgabe von Malerbüchern.  





Internationale Bewegung in der kunsthistorischen Entwicklung. Zur Internationalität des Künstlerbuches haben mehrere Faktoren beigetragen: zum einen Eigenschaften des Buchs selbst, zum anderen kontextuelle Voraussetzungen. Einem durch industrielle Produktionsverfahren ausgelösten Rückgang handwerklicher Qualität wirken vielerorts Organisationen entgegen wie in England die Arts & Crafts-Bewegung, in Österreich die Wiener Werkstätte, in Deutschland der Werkbund oder in Russland die Vereinigung Mir iskusstvo (Welt der Kunst). Das Bestreben, die handwerkliche Ausführung zu verbessern, bindet eine alle Facetten berücksichtigende Gestaltung ein, die Inhalt und Form in stimmige Beziehung zueinander setzt. Solche ist auch leitendes Prinzip der verschiedenen Pressen in den deutschsprachigen und der fine art books in den angloamerikanischen Ländern. Ein weiterer maßgeblicher Impuls für die Ausbildung des Buches als eigenständiges internationales Ausdrucksmedium ist ein Paradigmenwechsel innerhalb der Kunstgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der den Begriff vom Kunstwerk neu formiert und darüber die materiellen und konzeptionellen Möglichkeiten des Werks ausweitet. Im Zuge der verschiedenen künstlerischen Avantgardeströmungen erhält das Buch einen eigenen Stellenwert. Im Bestreben, den künstlerischen Ausdruck neu zu konzeptionieren, greifen die Künstler gezielt fremde und bis dato nicht beachtete Formen der Volkskunst und außereuropäischer Kulturen auf. Mit unterschiedlicher Akzentuierung zeigen sich Auswirkungen innerhalb des Futurismus und des Surrealismus, deren Vertreter auch das Buch als Ausdrucksmedium und Gestaltungsraum nutzen. Wesentliche Impulse für die Entwicklung des Künstlerbuches gehen vom russischen und italienischen Futurismus aus.42 Die Verwendung buchatypischer Materialien und Techniken führt zu neuen Formaten und Formen, wobei neben dem Kodex (insbesondere) auch Alternativformate aufgegriffen werden. Wichtige Anstöße kommen auch von der Konzeptkunst zu Beginn der 1960er Jahre. Diese kann unter der Prämisse, dass das Wesen von Kunst jenseits materialer Qua 

42 Beispielhaft sind die Gestaltungen von El Lissitzky, wie für Dlja Golosa von Vladimir Majakovskij (Berlin 1923), die von Vavara Stepanova für Groznyi smech (Moskau 1932), ebenfalls von Majakovskij oder Die Mär von der Heerfahrt Igors Natalja Gončarovas (München 1923), weiterhin Entwürfe von Bruno Munari für den Verlag Monadori und Zeitschriften wie Tempo und Grazia.

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litäten liege, auf eine Materialisierung des Kunstwerkes verzichten. Es genügt ihr, wenn das Werk als Idee, als Konzept vorliegt, die Umsetzung ist sekundär und zudem nicht mehr an eine Künstlerperson gebunden. Ein Werk, das nicht mehr mit einem Artefakt zusammenfällt, lässt sich in seiner Substanz auch sprachlich, über Abbildungen oder andere buchaffine Formen der Reproduktion verbreiten. So rückt das Buch als Gegenstand der Kunst in den Blick, zunächst als Übermittlungsmedium des das Kunstwerk konstituierenden Konzeptes, aber auch durch Nutzung der buchmedialen Eigenschaften für die künstlerische Arbeit. Künstlerbuchverlage. Zur Internationalität des Künstlerbuches hat der Grenzen überschreitende Austausch zwischen den Künstlern ebenso beigetragen wie die Internationalität der gesamten Kunstszene. Bereits 1953 beginnt der Italiener Bruno Munari die Zusammenarbeit mit dem niederländischen Verlag Steendrukkerij de Jong & Co. in Hilversum, wo er die Reihe seiner quadratischen Bücher, deren ersten die libri illeggibili sind, drucken lässt. Der in Mexiko geborene Ulises Carrión verlagert seine um das Künstlerbuch angesiedelten Aktivitäten nach Amsterdam, Dieter Roth gründet 1957 im isländischen Reykjavik mit Fortlag Ed seinen eigenen Verlag, der aus den Niederlanden stammende Herman de Vries 1974 auf deutschem Boden seine Eschenau Summer Press. International ausgerichtet ist auch das 1988 bis 2005 von Heinz Stefan Bartkowiak herausgegebene Forum Book Art. Kompendium zeitgenössischer Malerbücher, Pressendrucke, Einblattdrucke und Buchobjekte, das regelmäßig über das Buchkunstgeschehen berichtet und dabei die osteuropäischen Länder mit Schwerpunktsetzungen einzelner Ausgaben in besonderer Weise berücksichtigt. Auch die Tätigkeit von Künstlerbuchverlegern wie Hamilton Finlay, Dick Higgins, Walter König, Hansjörg Mayer und anderen ist international ausgerichtet. Beispielhaft für die internationale Durchdringung der Künstlerbuchproduktion ist die Koopman Collection in der Niederländischen Nationalbibliothek in Amsterdam (vgl. Wolf/Schipper 2016). Die von Anny Antoine und Louis Jan Koopman in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zusammengetragene Sammlung konzentriert sich auf französische Künstlerbücher, doch der aktuelle Bestand zeigt, dass das Attribut ‚französisch‘ nur mehr auf die lokale Verortung der Künstler und ihrer Ateliers verweist. „Anakatabase“ ist der Name, unter dem der in Italien geborene François Da Ros und die in Amiens geborene Martine Rassineux künstlerisch kooperieren; als „Kickshaws“ haben sich der englische Schriftsteller John Crombie und die aus Philadelphia stammende Sheila Bourne zusammengeschlossen, das „Laboratoire du livre d’artiste“ wird in Paris von Serge Chamchinov und Anna Rykounova-Samson geführt. „Despalles éditions“ ist das gemeinsame Unternehmen von Johannes Strugalla und Françoise Despalles, mit Niederlassungen in Paris und Mainz; „Verdrigs“, von Judith Rothchild und Mark Lintott geführt, ist ein anglo-amerikanischer Zusammenschluss, „Éditions Pétropolis“ wurde von dem in Leeds geborenen Michael Caine übernommen, als der Editionsgründer Jean-Luc Lerebourg in die Bretagne übersiedelte. Endre Tót aus Ungarn, Milan Knížák aus der Tschechoslowakei oder das Künstlerpaar Ry  

Internationalität des Künstlerbuches

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Nikonova und Serge Segay aus Russland transferierten ihre Künstlerbuchaktivität von ihren Heimatländern nach Deutschland. Mail Art. Die Mail Art als international von Künstlern genutzte Möglichkeit, Kunst über den Postweg zu versenden, Konzepte auf diesem Weg auszutauschen und sich an Ausstellungen zu beteiligen, an denen bedingt durch räumliche Entfernung oder aufgrund der politischen Systeme die Teilnahme nicht möglich gewesen wäre, befördert den Austausch zwischen den internationalen Kunstszenen. Gerade das Umfeld des Inoffiziellen, der alternativen Kunstszenen, ist dem Künstlerbuch förderlich. Aus ihm gehen künstlereigene Zeitschriften hervor, von Künstlern und Schriftstellern in Kooperation erstellte Bände, deren Konzept ein periodisches Erscheinen vorsieht, ohne dass es immer dazu käme. Internationale Kunstzentren und Sammlungen. Nachdem sich das Künstlerbuch als eigenständiges Ausdrucksmedium etabliert hatte, entstanden entsprechende Strukturen der Konzeption, Distribution und Rezeption. Neben Hochschulen, die vermehrt Buchgestaltung in die Ausbildungswege von Grafik-Design einbeziehen, räumen Bibliotheken wie Museen innerhalb ihrer Sammlungen dem Künstlerbuch einen eigenen Platz ein, manche Sammlungen werden spezifiziert, teilweise gezielt auf den Bereich Künstlerbuch abgestimmte Sammlungsprofile entwickelt. Bibliografische und archivarische Systeme richteten neue Rubriken ein, die das Buch als Künstlerbuch klassifizieren und auffindbar machen. Nennenswerte Sammlungen an Künstlerbüchern finden sich in vielen Museen zeitgenössischer Kunst oder in deren Spezialbibliotheken, etwa im Archivio Martano per l’arte contemporanea in Turin, dem Study Center des Museu d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA), dem Centre for Fine Print Research der University of the West of England in Bristol (CFPR), dem Museum of Contemporary Art of the University of São Paulo (MACUSP), dem International Centre of Graphic Arts in Ljubljana (MGLC) oder dem CNEAI, dem Centre national édition art image in Chatou, dem Zentrum für Künstlerpublikationen am Museum Weserburg in Bremen oder dem Klingspor Museum in Offenbach am Main, die, von einer nationalen Akzentuierung abgesehen, sämtlich bestrebt sind, die internationale Künstlerbuchszene zu repräsentieren. (Die hier aufgeführten Institutionen bilden nur eine Auswahl, die exemplarisch auf die internationalen Sammelaktivitäten verweisen soll.) Vermehrt finden sich Buchkünstler in international organisierten Foren und auf eigens für Künstlerbücher bestimmten Messen zusammen, wie der Artbook in Berlin (seit 2014), der Kodex im kalifornischen Berkeley (seit 2007), der Artist’s Book Triennale in Vilnius (seit 1997), dem Festival du livre d’artiste in Saint-Antonin-Noble-Val; auch auf den Kunstbuchmessen, wie der Stockholm Art Book Fair oder der London Art Book Fair (mit jährlich wechselnden Länderschwerpunkten) hat das Künstlerbuch seinen eigenen Raum. VHS

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Konkrete Poesie Die Konkrete Poesie hat sich in visuelle, spatiale und akustische Spielformen ausdifferenziert; das facettenreiche Feld Konkreter Visualpoesie ist besonders affin zu buchkünstlerischen Arbeiten. Eng verknüpft ist die Produktion Konkreter Texte mit theoretischen Reflexionen, mit Konzeptualisierungen von Sprache, Kommunikation, Poesie und poetisch genutzten Medien. Kern- und Leitbegriffe in den Diskursen über Konkrete Poesie sind Abstraktion und Materialität. Denn konvergenten theoretischen Bestimmungen zufolge ist Konkrete Poesie im Vergleich zu anderen (‚mimetischen‘) Formen sprachlicher Kunst eine ‚abstrakte‘ Poesie, und sie steht im Zeichen der Exploration und Ostension ihrer eigenen Medialität, ihres eigenen Wort-, Sprach- und Buchstaben-Materials. Konzeptualisierungen und Ästhetik. Die Theoriegeschichte Konkreter Poesie beginnt schon vor der Einbürgerung dieses Begriffs in den 1950er Jahren. Wassily Kandinsky unterscheidet in seiner Abhandlung Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst (1939) zwischen Gegenständlicher und Konkreter Malerei: Erstere beruhe auf einem Inhalt, der durch die malerische Darstellung zum Ausdruck gebracht werde (oder der, wie Kandinsky sagt, durch die Darstellung selbst ‚spricht‘). In der Konkreten Malerei hingegen befreie sich der Künstler vom Objekt, weil dieses ihn daran hindere, „sich ausschließlich mit rein malerischen Mitteln auszudrücken“ (Kandinsky 1973, S. 234), und wende sich diesen malerischen Mitteln selbst zu. Ausdrücklich zieht Kandinsky den Ausdruck „konkrete Kunst“ dem Namen „abstrakte Kunst“ vor, der sich für nichtgegenständliche Darstellungen zunächst eingebürgert hat und heute noch gebräuchlich ist (ebd., S. 224f.). Konkrete Kunst wende sich dem Elementaren, dem Wesentlichen zu (Kandinsky 1952, S. 13). Es gelte etwa, die Buchstaben selbst auf neue Weise wahrzunehmen – nicht als funktionale Teile von ihrerseits rein funktionsbestimmten geschriebenen Wörtern, sondern vielmehr als konkretes Gebilde aus Linien, als Dinge, als körperliche Formen (Kandinsky 1973, S. 31, vgl. auch S. 32). Öyvind Fahlström verwendet den Begriff „Konkrete Poesie“ 1953 vermutlich als Erster in programmatischem Sinn (er verfasst 1953 sein erst 1966 gedrucktes Manifest für konkrete Poesie), und dieser Terminus wird zum Namen einer internationalen Bewegung, deren Initialzündungen in den mittleren 1950er Jahren simultan in verschiedenen Ländern und Kontinenten erfolgen: in Europa, den USA, Lateinamerika und Japan. So unterschiedlich die Spielformen Konkreter Poesie ausgefallen sind – ein Leitgedanke verbindet ihre Verfasser: Das ‚Material‘ der Dichtung in den Vordergrund zu rücken. Konkrete Dichtung beschäftigt sich, so ein zentrales Theorem, mit der Materie, mit der körperlichen Dimension von Sprache. Sie experimentiert mit Wort- und Sprach-Partikeln und schafft aus ihnen klangliche, flächige oder sogar räumliche Gebilde. Ernst Jandl würdigt vor allem den Schweizer Eugen Gomringer als Pionier: „Der konkrete Dichter faßt das Wort, den Buchstaben, den Laut als Material auf und stellt Kunstobjekte aus Sprache her. […] Er [gemeint ist Gomringer; MSE] schlägt daher die Bezeichnung ‚kon 













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Konkrete Poesie

kret‘ vor“ (Jandl 1974, S. 48). Gomringers eigene Konkrete Texte aus dieser Zeit sind meist entweder aus Einzelwörtern oder aus Einzelsilben komponiert. Er verwendet für diese avantgardistische Textform den Terminus „konstellation“, um das räumliche bzw. flächige Arrangement der Wörter zu betonen. Explizit erklärt er die Konstellation zu einem Gebilde, das um seiner selbst willen und nicht als Ausdruck für etwas anderes „in die welt gesetzt“ werde: „sie ist eine realität an sich und kein gedicht über…“ (Gomringer 1972c, S. 158).  



Zentrierung auf Wort und Sprache. Die (vermeintliche oder tatsächliche) Ablösung der Wörter von ihren konventionellen Bedeutungen und Funktionen wird dabei als Befreiung interpretiert – als ein Prozess der Autonomisierung der Sprach-Materialien gegenüber den Dingen und Zwecken, denen sie normalerweise dienen. Konkrete Dichtung ist als autonome, am eigenen ‚Material‘ orientierte Dichtung in besonderer Weise selbstreferenziell; dies verbindet sich aber mit einer impliziten und expliziten Medienreflexion, die auch außerpoetische Bereiche betrifft. Insbesondere bezieht sich ihre Reflexivität auf Sprache, Wörter und Buchstaben. Sprachreflexion, Metatextualität und Poetizität gehen im Feld konkret-poetischer Experimentaldichtung eine enge Verbindung ein. Der Dichter und Theoretiker Franz Mon fordert, die Beziehungen zwischen den Wörtern und der Wirklichkeit immer wieder neu zu überdenken. Und dabei werde man dann entdecken, dass die Wörter selbst ein Stück Wirklichkeit sind, „Phänomen zwischen Phänomenen, nicht nur Vermittler, Medium, Bedeutungstransporteur“ (Mon 1970, S. 135). Poetische Arbeit ist ihrem Grundzug nach eine experimentelle Arbeit an und mit sprachlichem Material, und ähnlich wie Kandinsky spricht Mon hier von einer Erkundung des Elementaren (Mon 1994, S. 29). Kritisch diagnostiziert er einen allgemein mangelnden Sinn für die sinnlich-körperlichen Qualitäten geschriebener Sprache (Mon 1974, S. 29f.).  







Programmatische Texte Mons und Gomringers zu Seitenfläche und Buch. In programmatischen Reflexionen zur poesie der fläche, über texte in den zwischenräumen und buchstabenkonstellationen erörtert Franz Mon die poetische Spannung zwischen Schriftzeichen und Schriftgrund (Mon 1972a, S. 167ff.). Unter Verweis auf Mallarmé begreift er Poesie als Arrangement, bei dem „der leerraum die entfernungen die positionen der buchstaben ebenso wesentlich [seien] wie diese selbst“ (Mon 1972b, S. 173). Durch Mallarmé sei „die fläche als konstitutives element des textes“ in die Literatur zurückgekehrt (Mon 1972a, S. 167). Im Kontext der Programmatik Konkreter Poesie wird zudem gefordert (und versucht), die poetische Gestaltung von der Fläche in den Buchraum auszudehnen. Eine Programmschrift konkret-poetischer Gestaltungsideen ist Eugen Gomringers Text vom gedicht zum gedichtbuch (1966) (Gomringer 1972b). Gerade vom Dichter eine besondere Sensibilität für das Buch als potenziellen Entfaltungsort und Schauplatz für Gedichte fordernd, beschreibt Gomringer allgemeiner, allerdings unter Beschränkung auf Gedichte, unter welchen Aspekten Texte in Büchern inszeniert werden.  





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ein gedicht, dessen erscheinungsform ein ganzes buch mit so und so vielen blättern ist, bietet, verglichen mit einem gedicht auf nur einer seite oder mehreren seiten, wobei die seitenanzahl sich lediglich aus der schriftgrösse ergibt, mehr möglichkeiten. Eine der wichtigsten dürfte die sein, dass das buchblatt und entsprechend die bewegung des umblättern als zäsur, als blickwechsel eine ganz bestimmte, kalkulierbare rolle zu spielen vermag. Ein gedicht kann aufgefächert dargestellt werden. Inhaltlichen zäsuren entsprechen reale, objekthafte – der inneren zeit eines gedichtes entspricht ein gewisser zeitablauf körperlicher bewegung. (Gomringer 1972b, S. 162)  



Gomringer bekundet ein besonderes Interesse an der Architektur des Buchs, die er als entscheidendes dichterisches Gestaltungsobjekt versteht.43 Ein wichtiger Ausgangspunkt ist für ihn die Unterscheidung zwischen drei Typen von „gedichtbüchern“: Die des ersten Typs entstehen, wenn ein Dichter eine Auswahl seiner Gedichte in einem Buch zusammenstellt. Kontingenzen seien dabei stets im Spiel. Demgegenüber stehen zweitens „gedichtbücher […] aus einem guß“ (ebd., S. 161), sei es, dass deren Zusammenhang durch die Fundierung in einem einheitlichen „erlebniskreis“ gewährleistet sei, sei es, dass sie „formal gleichartig beschaffen“ sind. Ein dritter Typus „gedichtbuch“ sei demgegenüber keine Sammlung verschiedener Texte, sondern ein Buch, „das in seiner gesamtheit die reale erscheinung eines einzigen gedichtes ist“ – das „gedicht in buchform“ (ebd.). Diese (wiederum auf Mallarmé zurückverweisende) Idee stimuliert Reflexionen über das Buch als Form, wobei Gomringer zum einen dessen physische und architektonische Merkmale, zum anderen die physisch-konkreten Dimensionen seiner Nutzung hervorhebt. Mit den dabei erwähnten Aspekten nennt er implizit mögliche Gegenstände und Dimensionen der Buchgestaltung: die Teile des Buchs vom Umschlag bis zum Inneren, die Blätter, die Gegenüberstellung zwischen Vorn und Hinten, die vom Buch suggerierten Bewegungsrichtungen und -prozesse. Gerade vom Dichter eine besondere Sensibilität für das Buch als potenziellen Entfaltungsort und Schauplatz für Gedichte fordernd, beschreibt Gomringer allgemeiner, allerdings unter Bezugnahme auf Gedichte, unter welchen Aspekten Texte in Büchern  



43 Vgl. ebd.: „ein buch besteht – es sei in erinnerung gerufen – aus einem umschlag, der mehr oder weniger deutlich als solcher gekennzeichnet ist, sowie aus einer anzahl blätter, von denen jedes als zweiseitig betrachtet wird. es gehört zum umgang mit einem buch, dass man in ihm blättert, das heisst blatt für blatt umlegt. bei unserem eingehen auf das buch ist es wichtig, für einmal wieder auf einzelheiten zu achten. so scheint es sehr bedeutungsvoll zu sein, ob wir ein buch von vorn nach hinten durchblättern und lesen oder von hinten nach vorn, das heisst, wir haben uns von fall zu fall zu überlegen, ob vorne vorn ist oder eventuell hinten. bei einem chinesischen buch alter schule ist der beginn dort, wo bei unseren büchern das ende ist. auch linkshänder haben natürlicherweise diese einstellung zum buch. wer zum buch und zu seinem realen aufbau eine dinghafte, unkonventionelle beziehung hat, kommt nicht darum herum, im buch mehr zu sehen als ein simples druck- oder machwerk, das lediglich aus bedruckten seiten besteht. gerade vom dichter sollte angenommen werden dürfen, dass er, der zur realität oft ein besonderes, ursprüngliches verhältnis hat, auch den aufbau eines buches mit anderen augen betrachtet als zum beispiel ein ‚digest‘-leser.“ (Gomringer 1988b, S. 59).  





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inszeniert werden (ebd., S. 162). Gomringers in den mittleren 1960er Jahren formulierte Prognose gilt einer künftigen Ausdifferenzierung poetischer Buch-Poesie: „echte moderne dichter-individuen werden sich nicht abhalten lassen, an modernen bücher-individuen zu arbeiten“ (ebd.). Als ‚Gedichtzyklus in Buchform‘ realisiert Gomringer selbst 1965 ein stundenbuch (allerdings ist dieses teilweise zusammen mit anderen Publikationen, also nicht als autonomes Buch, erschienen).  

Konkrete Poesie als Brücke zwischen Literatur und Buchkunst. Zwischen künstlerischer Buchgestaltung und literarischem Schreiben übernimmt Konkrete Poesie eine Brückenfunktion – theoretisch (als eine ästhetische Praxis, die sich unter Einsatz sprachgestalterisch-literarischer Techniken betont der eigenen Form und Materialität zuwendet) – so wie die Buchkunst durch ihre Fokussierung auf bookness und auf die Materialität des Buchs geprägt ist. Diese Brückenfunktion wird nicht zuletzt daran sinnfällig, dass wichtige Vertreter Konkreter Poesie in verschiedenen Ländern zugleich zur Avantgarde der Buchkünstler gehören, so etwa Dieter Roth, dass buchkünstlerische Arbeiten oft Beispiele Konkreter Poesie enthalten – und dass es fließende Übergänge zwischen spatialer Konkreter Poesie und buchkünstlerischen Arbeiten gibt. Verbindend erscheint zudem die Situierung von Konkreter Poesie und Buchkunst in einem weitgehend kohärenten, wenn auch ausdifferenzierten Horizont der Theoriebildung und der ästhetischen Reflexion. Wie die Konkreten Gedichte, so werden auch die Künstlerbücher und Buchwerke der neuen Avantgarden seit den 1960er Jahren durch theoretische Reflexionen gerahmt, begleitet, stimuliert.  





Beispiele konkret-poetischer Buch-Literatur. Die Idee einer Extension des Gedichts in den Buchraum hat seit den 1960er Jahren eine Vielzahl von Umsetzungen erfahren, nicht nur, aber auch bei Vertretern der internationalen Konkreten Poesie. An Ian Hamilton Finlays Œuvre lässt sich exemplarisch beobachten, wie Einzelgedichte in Gedichtserien, diese dann in Buchkonzepte übergehen (vgl. Mœglin-Delcroix 2012, S. 69–73). Unter dem Titel Rapel erscheint 1963 ein Buch mit zehn Konkreten Gedichten (ebd., S. 65), gefolgt von Canal Stripe Series, 1964 (ebd., S. 67); auf den Buchseiten stehen jeweils einzelne oder nur wenige Wörter („haystack“, „cathedral“, „houseboat“, „windmill“…), die, an Landschaftliches erinnernd, den Durchgang durchs Buch einem Spaziergang ähnlich machen. Telegrams from My Windmill enthält im Stil der Konkreten Poesie eine Serie von Umrissgedichten, so dass der Durchgang durchs Buch den Leser wie durch einen Raum mit diversen Objekten führt (ebd.). Exercise X (zusammen mit George L. Thomson) von 1973 bietet einzelne Wörter und einfache Zeichen (ebd., S. 68). Von einem konventionellen Text-Buch noch weiter entfernt als diese Beispiele enthält Ocean Stripe Series 3 (1965) bunte Seiten unterschiedlicher Breiten; als einziges Wort auf den Seiten findet sich die Vokabel „arc“ (engl. Arche, frz. Bogen). Weitere Buchgedichte Finlays sind Stonechats, 1967; Wave, 1969 (ebd., S. 72 f.). Emmett Williams hat nicht nur eine programmatische Anthologie der Konkreten Poesie publiziert (an anthology of concrete poetry, 1967), sondern auch selbst zahl 











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reiche Konkrete Texte geschaffen und dabei mehrfach die Möglichkeiten erkundet, die eine Extension des Textes in den Buchraum hinein eröffnet.44 Emmett Williams: sweethearts. sweethearts (1966, neuaufgelegt Köln 2010) ist ein eher kleinformatiges Buch von rund 300 Seiten; eine erste gestalterische Besonderheit weist das Bändchen (in der Ausgabe Köln 2010) schon insofern auf, als vorderes und rückseitiges Cover ihre Plätze getauscht haben: Auf dem Frontcover findet sich ein paratextuelles Zitat von Richard Hamilton, auf der Buchrückseite steht der Titel über einem herzförmigen Bildelement. Im Buchinneren setzt sich das Spiel mit Vorder- und Rückseite fort: Bedruckt sind jeweils nur die Verso-Seiten, die Recto-Seiten bleiben leer. Auf den bedruckten Seiten stehen aus Buchstaben bestehende Visualtexte. Hinten im Band finden sich – vor dem hier das Bandende markierenden Innentitel „sweethearts“ und einer Widmung „for polly“ – unter dem Titel „gebrauchsanweisung“ bzw. „instructions for use“ eine deutsche und eine englische Erläuterung des permutativen Spiels, aus dem die Visualtextserie hervorgegangen ist: Alle Textfiguren sind aus einer begrenzten Zahl von Buchstaben hervorgegangen (es sind sieben, was man als Anspielung auf die Schöpfungstage und Schöpfungsphasen interpretieren könnte), und diese werden nach bestimmten Regeln kombiniert, kontingenten Regeln, die nach ihrer Festlegung aber das Konstitutionsgesetz der Texte und damit des Buchs darstellen. Die Buchstaben entstammen alle dem Wort „sweethearts“, weshalb Williams von einem „Liebesgedicht“ spricht. Das Gedicht ist für ihn das Ganze der Serie; die Buchstabenfigurationen auf den Einzelseiten sind dessen Teile, werden aber auch als ‚einzelne Gedichte‘ charakterisiert (Williams 1967, unpag.). Die Ausgangsbasis des Verwandlungsspiels bildet eine quadratische Textfigur, in der das Wort „sweethearts“ elfmal untereinandersteht, also eine Figur aus 11 mal 11 Buchstaben. Alle folgenden Texte sind Ableitungen dieser Figur, wobei die sie konstituierenden Buchstaben auf den jeweiligen Seiten immer genau die Position einnehmen, die sie im Ausgangstext hatten, so als seien von diesem Ausgangstext manche Teile gelöscht und andere stehen gelassen worden. Kein Buchstabe verlässt je seinen Platz, kein Teil wird je länger als 11 Buchstaben. Die sich durch teils weitgehende ‚Löschungen‘ der 11 mal 11 Ausgangsbuchstaben ergebenden (Rest-)Buchstabenfiguren bilden teilweise geläufige englische Wörter (wie etwa „sweet“, „heart“, „hear“, „the“, „ear“, „at“, „he“ etc.): Es ist, als werde ein mit Liebe und Zärtlichkeit konnotiertes Wort liebevoll und insistent durchgespielt. Eine Geschichte scheint sich anzudeuten; sie erinnert an Gerhard Rühms Buch mann & frau: Signalisiert am Buchanfang das 11-fache „sweethearts“ als quadratische Figur Intaktheit und Geschlossenheit, so steht der Verlauf der Permuta 



44 Vgl. auch die folgenden Publikationen von Williams aus den späten 1950er bis 1970er Jahren: konkretionen (1958), an opera (1960), poésie et cetera américaine (1963), 13 variations on 6 words of gertrude stein (1965), futura 12 rotapoems (1966), the book of thorn and eth (1968), the last french-fried potato & other poems (1967), the boy and the bird (1969), six variations upon a spoerri landscape (1973), selected shorter poems 1950–1970 (1974).

Konkrete Poesie

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tionen im Zeichen der Dispersion; die Buchstaben werden allmählich weniger, so als versiege sukzessive die Kommunikation. Eine letzte Phase der Textverwandlungen ‚erzählt‘ von einem Ende, wie es scheint. Nach einer Buchstabenfigur, die visuell einen Sturz nach unten zu signalisieren scheint, taucht zunächst ein einmaliges „we“ auf, daran anschließend mehrfach die gegeneinander abgegrenzten und sich zunehmend voneinander entfernenden Wörter „he“ und „she“. Auf den letzten beiden Seiten der Serie steht zunächst „she“, dann „he“ allein (wobei durch „she“ zudem ein Riss geht („sh e“), bedingt durch die Spielregel des Ganzen, die Ableitung aus den Buchstabenpositionen von „sweethearts“. Der Effekt des permutativen Spiels ist an seine Lokalisierung in einem Buch gebunden, denn im Unterschied zu knapperen Permutationstexten können sich die zahlreichen (rund 150) Varianten des Ausgangstextes nur in einem Buch zugleich entfalten und ihren Zusammenhang bewahren. Die Buchstabenfiguren sind so angeordnet, dass sie sich beim Daumenkino-Durchlauf zu bewegen und ineinander überzugehen scheinen. Erklärtermaßen geht es Williams darum, das Buch als Format auf neue Weise zu nutzen, damit sich Vokabular und kinetisch-visuelle Ebene in ihrer Aussage ergänzen und wechselseitig verstärken. Sein Buch beginne dort, „wo das traditionelle abendländische buch endet“ (ebd., unpag.). Emmett Williams: A Valentine for Noël. Ähnlich wie in sweethearts nutzt Williams in A Valentine for Noël (zuerst 1973; neuaufgelegt Stuttgart/London/Reykjavik 2000) die Buchform, um die Kohärenz serieller Textfiguren zu sichern; der Band enthält vier solcher Serien, also vier Poeme, deren Textbildlichkeit sich unterschiedlich gestaltet. Dass im Buch mit Buchstaben gespielt wird, deutet schon das Cover an. Hier ist eine alphabetische Reihe von Frauennamen zu sehen, die alle durchgestrichen sind (von „Alison“ bis „Zelda“), ausgenommen „Noël“, der das Buch dem Titel zufolge als „Valentine“ zugeeignet ist. Teil 1, IBM, wird an eine Frau namens „Ann Noël“ adressiert und durch einen Brief an diese eingeleitet, der die Regeln des Buchstabenspiels erläutert, zu dem diese eingeladen ist. Buchstaben bekommen bestimmte Wortbedeutungen zugeordnet; aus den Buchstaben sollen nach bestimmten Kombinationsregeln Texte generiert werden. Der eigentliche Text von IBM bietet auf knapp 30 Seiten Konstellationen aus wiederkehrenden Vokabeln. Text 2, ego hego shego, besteht aus einer umfänglichen Folge von Seiten, auf denen sich bis zum Ende bloß Buchstabenfragmente abzeichnen. Erst spät zeichnet sich der Satz „she loves me not“ ab. Die Buchstabenpartikel erweisen sich als systematisch über die verschiedenen Seiten verstreute Teile dieses Satzes, der sich zuletzt auch wieder in diese Teile auflöst. Text 3, the soldier, erzählt auf 40 Blättern (die Buchseiten sind jeweils nur recto bedruckt) vom Tod eines Soldaten. Den Ausgangstext bildet eine Wort-Kolumne: Das in blauer Farbe gedruckte Wort „soldier“ ist 39 Mal übereinandergestellt, so dass sich ein vertikales Band auf der Buchseite ergibt. Die folgenden 39 Seiten variieren das Ausgangstextbild, indem immer mehr Buchstabengruppen des zunächst ganz blauen Textes rot gefärbt werden. vom oberen Wortrand her dringt in den „soldier“ zeilenweise bis nach unten das rote Wort „die“ (sterben) ein. Der Ablauf erinnert an eine Kugel, die einen

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Körper durchdringt, und lässt sich bei einer Daumenkino-Lektüre so schnell wie eindringlich nachvollziehen. Text 4, fête champêtre, besteht aus Variationen über ein grün umrandetes rechteckiges Feld (eine Wiese?), auf der sich zwei Umrissfiguren befinden, die zusammen den Buchstaben „A“ ergeben. Gestalt und Position des größeren Teils deuten auf eine urinierende männliche Figur hin. Vom unteren Bildrand her schieben sich sukzessive weitere Buchstaben ins Feld hinein und nähern sich dem A, bis sich am Schluss ein Wort-Bild ergibt, das den Ausruf „mArco!“ visualisiert. Friedrich Achleitner: quadratroman. Der vordere Titel von Achleitners quadratroman (zuerst 1973; neuaufgelegt Wien 2007) verheißt ein neues (visualpoetisches) Genre; im Impressum wird noch mehr verheißen: „quadrat-roman […]/& andere quadratsachen/1/neuer bildungsroman/1/neuer entwicklungsroman/etc. etc. etc.“ (Achleitner 2007, Impressum). Im Format eines (selbst nicht quadratischen) Buches von fast 200 Seiten Umfang bietet der „Roman“ eine Serie von Variationen über das Quadrat. Auf allen Seiten mit Ausnahme der Titelei sind quadratische Felder von gleicher Größe zu sehen, mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt, gelegentlich auch leer. Texte, Textbilder, Zeichnungen füllen das Quadrat, ergänzen es gelegentlich, brechen aus ihm aus oder verwandeln es optisch in ein mimetisch wirkendes Bild. (Achleitners quadratroman ist nicht die einzige konkret-poetische Hommage ans Quadrat; auch Hansjörg Mayers Leporello alphabetenquadrate (1966, Reihe rot) steht im Zeichen konkret-poetischer Erkundung dieser Form, die zum einen Inbegriff einer geometrischabstrakten Figur ist, zum anderen an viele konkret-gegenständliche Figuren denken lässt.) Der quadratroman spielt mit dem ‚abstrakten‘ Quadrat ebenso wie mit ‚mimetisch‘ wirkenden quadratischen Formen. Das Quadrat taucht (beispielsweise) als beschrifteter Zettel auf, als „entwurf für ein bastdeckerl“, als „magisches quadrat nach einem entwurf von albrecht dürers kupferstich ‚melancolia I‘“; es wird in einem zitierten Enzyklopädieartikel beschrieben, zum Kreuzworträtsel ausgebaut, von gezeichneten Figürchen betreten. Einzelne Quadrate sind Nachrichten an den Autor Achleitner selbst, eines bildet den Grundriss eines Hauses, manche enthalten Konkrete Gedichte. Oft stehen die beiden einander gegenüberliegenden Seiten in einer besonderen Beziehung, etwa wenn ein Quadrat ganz mit Wiederholungen des Wortes „rechts“, das andere komplementär dazu mit „links“ gefüllt ist; wenn eines das Wort „leer“, sein Pendant das Wort „voll“ enthält, wenn ein weißes Quadrat sich auf schwarzem Grund, sein Nachbarquadrat sich schwarz auf weißem Grund präsentiert. Auch Quadrat-Serien innerhalb der Gesamt-Serie bilden sich, so wenn sich ein Quadrat ‚korrekt‘ mit dem Wort „quadrat“ schmückt, die folgenden sich dann aber als „kreis“ oder „oval“ vorstellen. Diverse Quadrate sind Dichterkollegen zugeeignet. Präsentiert wird eine „WIRKLICHKEIT/im quadrat“ (so heißt eine Seite), präsentiert werden vor allem Textmaterialien unterschiedlicher Provenienz. Durch sein oft ironisches Spiel mit Wörtern, Buchstaben, visuellen Elementen und Figuren in hohem Maße zeichen- und medienreflexiv, erinnert der quadratroman auch daran, dass das „Quadrat“ auch eine Potenzierung ist: Wie 2 hoch 2 vier ergibt, so erscheint der Quadratroman als Produkt der

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Potenzierung zweidimensionaler Seiten. Im Durchgang durch die Hunderte von Quadrat-Varianten zum lesenden und dechiffrierenden Spielen eingeladen, wird der Leser zuletzt darauf aufmerksam gemacht, dass ihm selbst etwas vorgespielt worden ist: Es handle sich gar nicht um echte Quadrate; der echte Quadratroman muss erst noch geschrieben werden. MSE

Leporello Bucharchitektonisch ein Mittelding zwischen Rolle (Rotulus) und Kodex, bietet sich das Leporello an, um Spannungseffekte zwischen Kontinuität und Diskontinuität zu erzeugen. Es unterhält eine besondere Affinität zur Listenform; seinen Namen verdankt es ja auch einer listenartigen Aufzählung der Geliebten Don Juans durch dessen Diener Leporello im Libretto zu Mozarts Oper Don Giovanni (Lorenzo da Ponte, 1787). Faltkonstrukte aus Papier oder Pappe wie das Leporello sind als Träger alltäglicher und funktionaler Informationen und Botschaften in verschiedenen Funktionen vertreten. Einlagen in Fachbüchern und topografischen Informationsträgern, Wanderkarten, Postkartenserien und Taschenkalendern weisen manchmal die Form eines langen, gleichmäßig-horizontal gefalteten Papierstreifens auf. Sie dienen der Übersichtsdarstellung verschiedener, vor allem topografischer Gegenstände auf engem Raum, sind vor allem als Bestandteile von Reiseführern mit Raumdarstellung assoziiert, als Kalender oder Kalenderteile aber auch mit dem Verlauf der Zeit. Über die Reminiszenz an die Frauenliste des Dieners Leporello bzw. Don Juans (dessen Eroberungen Leporello aufzählt) ist das künstlerisch gestaltete Leporello mit der Idee einer großen Fülle, einer beachtlichen Anzahl von Exemplaren einer Sorte Dinge oder Ereignisse verknüpft, die in gedrängter Form dargestellt werden soll. Als buchgestalterische Materialisation einer Listenstruktur erzeugen Leporellos die Suggestion einer verknappenden, komprimierten Darstellung, aber auch den Effekt einer Reihung, die vielleicht noch weiter fortgesetzt werden könnte. Segmentierung und Kontinuum. Bei künstlerisch gestalteten Leporellos lässt sich ihre spezifische Form – ein zickzackförmig gefalteter Papierstreifen, der sich als Zickzackstruktur entfalten und aufstellen lässt – besonders akzentuieren. Dabei kann es um den ständigen Richtungswechsel der Zickzacklinie gehen, den der Blattverlauf beschreibt, aber auch um die Ähnlichkeit der Gesamtstruktur mit anderen welligen oder hügligen Formen, etwa in Landschaften. Abstrakt interpretiert, machen sie die Idee einer Entfaltung (im Raum, in der Zeit oder auch bezogen auf ein Thema) sinnfällig, aber auch die eines ständigen Richtungswechsels, sei es in eher konkretem oder in abstraktem Sinn. Grob könnte man zwischen ‚Listen-Leporellos‘ und ‚kontinuierlichen Leporellos‘ differenzieren: Die ersteren dienen der segmentierten Aneinanderreihung von ähnlichen Elementen; sie zeigen auf den einzelnen Seitenfeldern zwischen  



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den Faltungen jeweils einzelne Bilder, welche sich allein durch ihre Anordnung damit zu einer Liste fügen, wobei sich die Frage stellen kann, was diese gelisteten Bilder respektive (im Fall mimetischer Darstellung) ihre Objekte miteinander verbindet und ihre Auflistung damit motiviert. Kontinuierliche Leporellos hingegen präsentieren ihre einzelnen Bildfelder trotz der Faltungen oft eher als Kontinuum – als ein zwar windungsreiches, aber doch kohärentes Ganzes – in struktureller Analogie zum dargestellten Gegenstand oder Thema selbst. Hier liegt der Schwerpunkt nicht auf der Idee einer durch Auflistung (und das heißt, durch einen Abstraktionsschritt und eine Strukturierungsmaßnahme) zu bändigenden Fülle, sondern auf der einer spatialen Erstreckung eines im Zickzack verlaufenden Wegs (der, wenn auch in stilisierter Weise durch die Bucharchitektur selbst gespiegelt wird). Daneben gibt es andere Formen, etwa solche, bei denen die Faltungen mitten durch Einzelbild-Elemente gehen, oder Leporellos, die verschiedene Bildprogramme oder auch erkennbar zusammenmontierte Bildmaterialien zeigen. Ausgehend von der Differenzierung zwischen den beiden Grundtypen, also von der Gegenüberstellung einer segmentierenden (vielfach auf einer Klassifikation beruhenden) und einer analogen Darstellung, lässt sich ein Interesse der modernen Buchkünstler an beiden Konzepten und ihren Implikationen beobachten.  



Oszillierende Modelle bei Ed Ruscha. Ed Ruscha arbeitet bei der Buchgestaltung mit der visuellen und konzeptuellen Spannung zwischen segmentierenden wie mit kontinuierlich-analogen Formaten. Seine Arbeiten Twentysix Gasoline Stations (1963) und Every Building in the Sunset Strip (1966) gehören zu den bekanntesten Pionierarbeiten des Künstlerbuchs der 1960er Jahre; erstes erscheint aus kunsthistorischer Perspektive sogar als der Einsatzpunkt der Künstlerbuchbewegung (vgl. Drucker 2004, S. 11). Auf den 48 Seiten von Twentysix Gasoline Stations sind die Schwarzweißfotos von 26 Tankstellen zu sehen. Deren Anordnung im Leporello entspricht im Wesentlichen einer bestimmten Wegstecke zwischen Los Angeles und Oklahoma City, wie aus den Bildlegenden mit den Standortangaben zu erschließen ist (Bachmann 2015, S. 91). Die Platzierung der Bilder auf den Seiten ist nicht einheitlich, suggeriert im Ganzen aber die Idee eines durch Wegstationen repräsentierten Raums respektive einer Bewegung durch diesen Raum. Dieser Raum bzw. Weg wird durch Stationen repräsentiert und nicht als Ganzes dargestellt. Allerdings stehen die Stationen zu ihm doch in einer metonymischen Beziehung; Tankstellen gehören ja zur Wegstrecke selbst. Die Darstellung einer Tankstellen-Reihe setzt aber doch eine Selektion aus dem Kontinuum möglicher Bildmotive und damit einen Abstraktionsvorgang voraus. Als Buch über „Stations“ oszilliert das Tankstellenbuch also zwischen dem Modell einer durchgängigen Wegstrecke und der einer Raumgliederung nach Stationen, ja es weist durch die Entscheidung gerade für diesen Motivtypus darauf hin, wie unabdingbar Stationen (Abstraktionen) sind, wenn Wege (Gegenstandsräume) durchlaufen werden sollen. Eine ganze Reihe neuerer Künstlerbücher präsentieren sich als Nachahmungen und Hommagen an Ruschas Tankstellenbuch (vgl. dazu ebd.), darunter auch das  



Leporello

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Appropriationswerk von Michalis Pichler, Twentysix Abandoned Gasoline Stations (New York 2009). Every Building in the Sunset Strip besteht, anders als die in Einzelbilder (Stationen) gegliederten Gasoline Stations, aus einem langen Papierstreifen von über 7,5 Metern Länge, zum Leporello gefaltet. Er zeigt reproduzierte Fotos von Gebäuden auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles, aus dem Auto aufgenommen. Die beiden Straßenseiten finden sich auf den zwei Teilen des Papierstreifens abgebildet, der die beiden Seiten des Leporellos bildet. In der Mitte werden die dargestellten Objekte und Adressen in Bildlegenden identifiziert. So entsteht einerseits ein leporelloförmiges Modell eines kontinuierlichen Raumes respektive Weges, andererseits ist aber wiederum erkennbar eine Segmentierung vorgenommen worden. Die Fotos der Gebäude sind so aneinander montiert, dass sie den Eindruck eines artifiziell (eben durch Montage) erzeugten Kontinuums erwecken; das lange Gesamtbild verleugnet seine Genese aus Einzelbildern nicht. Wiederum inszeniert das Leporello, als Modell zweier konträrer Organisationsmodelle von Darstellung (der analogen und der abstrahierend-segmentierenden), die Spannung zwischen beiden, deutet aber auch auf ihren Zusammenhang hin, indem es signalisiert, dass es von der Betrachterperspektive abhängen kann, als was man eine Bildersequenz wahrnimmt. Ruschas Künstlerbücher sind bedingt durch ähnliche Themen und analoge Formen auch insgesamt als Serie wahrnehmbar: als gegliederte ebenso wie als kontinuierliche (Twentysix Gasoline Stations, Los Angeles 1963; Various Small Fires and Milk, Los Angeles 1964; Some Los Angeles Apartments, Los Angeles 1965; Every Building on the Sunset Strip, Los Angeles 1966; Thirtyfour Parking Lots in Los Angeles, Los Angeles 1967; Royal Road Test, Los Angeles 1967; Business Cards, Hollywood 1968, mit Billy Al Bengston; Nine Swimming Pools and a Broken Glass, Los Angeles 1968; Crackers, Hollywood 1969, mit Mason Williams; Babycakes with Weights, New York 1970; Real Estate Opportunities, Los Angeles 1970; A Few Palm Trees, Hollywood 1971; Dutch Details, Sonsbeek 1971; Records, Hollywood 1971; Colored People, Los Angeles 1972; Hard Light, Hollywood 1978). Selbstreferenzielle Leporellos bei Horst Janssen. Horst Janssen hat die LeporelloForm geschätzt und mehrfach variiert (vgl. dazu Krickelkrakeln + Uhupappen, Kat. Ausst. 2002a). Seine Leporellos sind teils aus privaten Anlässen entstanden und entsprechend Unikate (vgl. dazu Eva Morawietz: Profan-Billet über den Gedanken der Verpflichtung. In: Kat. Ausst. 2002a, S. 36–37); teils sind sie publiziert worden. Eine Gruppe seiner Bucharbeiten variiert die Listenform, darunter auch das Buch Leporello: Die Geliebten des Don Juan (2007), das in seiner posthum von seinem Herausgeber Gerhard Schack publizierten Form kein Leporello mehr ist, sondern vielmehr an einer Kante zum Kodex gebunden wurde. Durch seinen Titel weist es auf Janssens Interesse am Modellcharakter des Leporellos hin. In Anspielung auf die Frauen-Liste, die der Diener Leporello in Mozarts Oper Don Giovanni vorträgt, enthält Janssens Buch eine Serie von malerisch-grafisch bearbeiteten Frauenporträts. Bilder-Listen bieten auch andere Leporellos: 14 Biber, Subversionen und Missverständnisse sind alle im Verlag  

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Christians (Hamburg) erschienen und sehr ähnlich gestaltet. Stets ist das Leporello selbst in einen Karton eingefaltet; neben den Bilderserien im Innern wird ein begleitender, auf die Genese des jeweiligen Buchs verweisender Text geboten. In Subversionen und Missverständnisse finden sich von Janssen übermalte Kunstpostkarten reproduziert. 14 Biber (Hamburg 1971) zeigt seltsame Männerporträts von Janssens Hand, lauter Bartträger mit teils kuriosen Köpfen; „Biber“ war, wie man im Begleittext erfährt, zeitweilig als Synonym für „Bart“ geläufig. Diese listenförmige Bilderfolge wird durch Bildlegenden als Porträtgalerie historischer Persönlichkeiten ausgewiesen, deren Arrangement eine Art Querschnitt durch die jüngere, vor allem die deutsche Geschichte darstellt, eine Geschichtsdarstellung in Stationen, die aber kontingent wirkt. Die Idee der großen Geschichte wird dabei ironisch gebrochen: auf skizzierte Einzel- und Teilgeschichten gleichsam heruntergebrochen und in den skurrilen Eierköpfen personifiziert. Subversionen (Hamburg 1972) thematisiert das Zeichnen und berichtet im begleitenden Text, wie die übermalten Postkarten entstanden und zur Sammlung wurden. Die Verwendung von Postkarten mit japanischen Bildmotiven erscheint als Hommage an die Tradition des Faltbildes in Ostasien: Der groteske Charakter der Übermalungen entspricht dabei allerdings zugleich der Idee subversiven Umgangs mit Vorbildern. Auch in Missverständnisse (Hamburg 1973) setzt sich Janssen durch Übermalung von Postkarten mit Vorgängerwerken auseinander; die Modi der Übermalung sowie die begleitenden Textpassagen signalisieren ein absichtsvolles (und insofern nicht wirkliches) Missverstehen. Dieses exponiert sich so als Basis einer künstlerischen Arbeit, die einerseits von Vorgängern abhängt, sich von diesen andererseits aber deutlich emanzipiert. Der Textteil des Leporellos bietet, biografisch fundiert, listenförmige Passagen, darunter eine autobiografische „Tessiner Litanei“ Janssens. Insgesamt lassen sich diese Leporellos als buchförmige Sammlungen beschreiben, bei denen aufgereihte Bilder zum Anlass subjektiver Interpretation werden: durch betont eigenwillige Bildbearbeitungen ebenso wie durch Kopplung mit privaten Erinnerungen und Notizen. Das Leporello Has und Swinegel (Hamburg 1968) erzählt, abweichend von den anderen Leporellos, eine Geschichte: ein bekanntes Märchen. In den Dienst einer Narration genommen, partizipiert das Leporello hier an deren Kohärenz: Die einzelnen Bild- und Textelemente bilden, auch wenn sie auf visuell-materieller Ebene distinkt sind, im Zeichen der Narration ein Kontinuum. Insofern im Märchen von Hase und Igel von dem zickzackförmigen Weg des Hasen erzählt wird, korrespondiert die Zickzackstruktur des ausgefalteten Leporellos zudem spielerisch mit dem erzählten Inhalt des Märchens selbst. Insgesamt stehen Janssens Leporellos im Zeichen künstlerischer Selbstreflexion; so ist der mit Leporello verbundene Frauensammler Don Giovanni als Künstlerfigur gedeutet worden; mit Titeln wie Subversionen und Missverständnisse geht es um Hinweise auf eigene künstlerische Praktiken, der signifikante Textanteil der Bücher dient reflexiven Zwecken, und die Einfaltung mehrerer Leporellos in Umschläge hat einen metaisierenden Zug.

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Leporello

Landschaft und Raum. Richard Longs Leporello A Walk Past Standing Stones (1979) arrangiert eine Serie von Fotos aufrechtstehender Findlinge zu einer Reihe, die wegen der gleichförmigen schwarzweißen Optik der Einzelbilder wie ein kohärenter Landschaftsraum wirkt. Die Betrachtung der Bilder wird durch den Buchtitel entsprechend auch als „walk“ interpretiert (Mœglin-Delcroix 1997a, S. 255). In Peter Malutzkis Arbeit Peter Rosei. Unser Landschaftsbericht bildet Roseis literarischer Text das schriftsprachliche Substrat. Visuell entsprechen ihm Fotos menschlicher Körper, die durch grafische Verfremdung wie Elemente einer Landschaft wirken (Malutzki 2017, S. 89). Das Leporello und die Hügel-Körper-Landschaft ähneln einander in der Grundform, sodass letztlich Körper, Landschaft und Buchform als ähnliche Ausprägungsformen eines Hin-und-Her bzw. Auf-und-Ab erscheinen und einander bespiegeln. Ein typisches ‚Katalog‘-Leporello ist Maurizio Nannuccis Buchobjekt Sessanta verdi naturali, da una indagine/identificazione del colore in natura effettuata nel periodo luglio 1973/ ottobre 1974. Sixty natural greens, from a research of color existing in nature done during July 1973/October 1974 (1977). Es handelt sich um ein 24-seitiges Leporello mit fotografierten Pflanzenmotiven. Diese gehören vor allem zu Büschen und Staudenpflanzen. Die diversen Grüntöne repräsentieren ein Spektrum industriell hergestellter Farbstoffe, wie sie nicht nur in Künstlerfarben, sondern auch in Textil- und Lebensmittelfarben und Autolacken enthalten sind.45  



Implikationen und Suggestionen der Leporelloform. Leporellos haben per se eine Affinität zur Ästhetik der Sequenz, der Serie, der Liste, des Katalogs. Sie können dabei die Frage nach dem Zusammenhang des Aufgereihten provozieren, vor allem, wenn sich auf den einzelnen Seitenfeldern Heterogenes dargestellt findet. Und sie eignen sich für katalogartige Reihungen, als Sammelbehälter für Gleichartiges, als ‚Galerie‘. Postkarten-Leporellos sind vertraute alltagskulturelle Leporellos; das Format lässt sich für andere Bilderserien nutzen. Das Gegenmodell dazu repräsentieren Leporellos, die die Länge des gefalteten Papierstreifens dazu nutzen, ein sich ungewöhnlich lang erstreckendes Bild zu inszenieren. In der asiatischen Malerei finden sich dafür Vorbilder, die auch auf westliche Künstler gewirkt haben. Auch die Zwischenstellung des Leporellos zwischen flachem und räumlichem Objekt bietet eigene Semantisierungsoptionen. Die Entfaltung des Leporellos macht auf die Spannung zwischen zusammengelegtem und entfaltetem Zustand schon darum deutlich aufmerksam, weil das Leporello ausgefaltet viel mehr Platz einnimmt als das aufgeschlagene Buch. Es lässt sich auf unterschiedliche Weise räumlich arrangieren und kann dabei mimetische Effekte erzeugen, etwa, indem es wie eine Straße oder ein Fluss wirkt. Die jüngere Geschichte ästhetisch gestalteter Leporellos zeigt unter anderem, welches Interesse Buchkünstler und Buch-Literaten von den 1960er und 1970er Jahren bis heute diesem Format entgegenbringen. 45 Nannucci, Maurizio: Sessanta verdi naturali, da una indagine/identificazione de colore in natura effettuata nel periodo luglio 1973, 24 S., 34 Exemplare. Vgl. dazu Hildebrand-Schat 2015a, S. 149f.  

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Vielfältige Variationen über das Leporello. Unter dem Titel 24 Stunden steht ein Buchobjekt von Timm Ulrichs (1965) (vgl. Kat. Ausst. 1978, S. 167); es handelt sich um die katalogartige Darstellung einer Serie von Happenings vom Juni 1965. Der Buchkörper weist einen kubusförmigen Hohlraum auf, in dem ein Plastiksäckchen mit Mehl platziert wurde, das metonymisch auf die Aktionen verweist. Als Katalog einer Ereignisserie sowie durch seinen Titel akzentuiert das Objekt Zeit und Zeitlichkeit und nutzt damit die assoziative Verbindung der Leporelloform zum Kalendarischen. Ein Beispiel primär typografischer Buchgestaltung bietet Hansjörg Mayers Leporello alphabetenquadrate (1966, erschienen in der Reihe rot), bei dem der Akzent eher auf der Serialität der visuellen Seitengestaltung liegt. Ein Doppel-Leporello hat John Baldessari unter dem Titel Fable konstruiert: Das Künstlerbuch besteht aus zwei kreuzförmig übereinander gelegten Leporellos, deren Bildfelder Filmszenen zeigen, auf die jeweils Stichwörter geschrieben sind (Mœglin-Delcroix 1997a, S. 319). Wolfgang Hainke gestaltet mit Long Distance Dedication (1982/1984) ein Leporello, das an Landschaftsstrukturen, aber auch an den Atlas als Reisebegleiter erinnert. Das Objekt entstand aus einem Europa-Atlas, der durch Überdrucken verwandelt wurde und sich in seiner neuen Gestalt selbst als landschaftsähnliche Papierskulptur präsentiert.46 Die Straßenkarten sind noch gut zu erkennen, sodass das Objekt sinnbildlich die Beschriftung, Kartierung und Gestaltung landschaftlicher Räume durch kulturelle Prozesse und ihre Codes repräsentiert. Barbara und Markus Fahrners Zweite Enzyklopädie von Tlön enthält unter vielen Modifikationen buchähnlicher Formate auch ein Leporello – in Gestalt einer mit schwer leserlichen Schriftzügen überklebten Grafik, die leporelloartig gefaltet ist (Fahrner/Fahrner 1997–2002). Die Außenseite des Objekts weist Streifen von Sandpapier auf, die wohl auch für die Platzierung des Leporellos in den Aktenordnern der Enzyklopädie entscheidend waren (das Objekt findet sich unter dem Buchstaben S); insofern wird mit diesem ‚Sandbuch‘ indirekt ebenfalls auf die Ähnlichkeit zwischen Leporello und Landschaft angespielt. Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki nutzen die Leporelloform mehrfach, so in Leporello 1 und Leporello 2 (Malutzki 2017, S. 44f.), zwei Buchwerken, die in konsequenter Gemeinschaftsarbeit entstanden, wobei sich die beiden Künstler mit ihren Arbeitsschritten systematisch abwechselten. Dieser Wechsel der Arbeitsschritte findet in der Zickzackstruktur der beiden Bücher ein sinnfälliges Pendant. Chris Ware hat in sein selbstreflexives Comicgeschichten-Objekt Building Stories Comicbücher, -hefte und andere Papierobjekte in verschiedenen Größen integriert (Ware 2012). Die Schachtel, in welche all diese Teilobjekte eingelegt sind, präsentiert sich u. a. als ein Schaukasten zur Exemplifizierung unterschiedlicher Buchformate; dazu gehören auch Leporellos.  













46 Vgl. Hainke, Wolfgang: Long Distance Dedication 1982/1984. Europa-Straßenatlas, auf Leinen aufgezogen, im Siebdruck überdruckt, Leporello-Faltung; Buch-Deckel mit Stempel-Druck, Druckknöpfe zum Verschließen. In: Kat. Ausst. 1989, S. 36, Exponat 21.  

Materialitätsdiskurse

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Literarische Texte in Künstlerleporellos. Leporellos bieten insgesamt vor allem reizvolle Möglichkeiten, Texte buchgestalterisch zu inszenieren und so aus literarischen Werken buchliterarische Arbeiten werden zu lassen. So wurden Gedichte von Carlos Oquendo de Amat, entstanden zwischen 1923 und 1925, in einer Ausgabe von 2010 unter dem Titel 5 metros de poemas als Leporello arrangiert (Oquendo de Amat 2010), Hugo vom Hofmannsthals Chandosbrief wird in einer Spezialausgabe der Typographischen Bibliothek von einem Leporello begleitet (Hofmannsthal 2014), Gedichte Paul Celans wurden mit Grafiken von Barbara Fahrner in Leporelloform gedruckt (Celan 1999). MSE

Materialitätsdiskurse Die Ausdrücke ‚Sprach‘- und ‚Wort-Material‘ gehören zu den beliebtesten Vokabeln sprachreflexiver Diskurse im 20. Jahrhundert (vgl. Ott 2011); der Bogen spannt sich von Hofmannsthals Chandosbrief bis zu programmatischen Selbstbeschreibungen aus dem Umfeld der Konkreten Poesie. Von Vorstellungsbildern um ‚Materielles‘ abgeleitet sind insbesondere Metaphern der Produktion und der Rezeption von Texten respektive von Büchern; entsprechende Bildspender sind Bildhauerei, Architektur, Textilhandwerke, aber auch die Zubereitung, Aufnahme und Verdauung von Nahrung (zur Metaphorizität der Verwendung der Vokabeln ‚Materialität‘ und ‚Material‘ vgl. Müller-Wille 2017, S. 19).  



Methodische Ansätze. Der Übergang zwischen konkreten, metaphorischen und metonymischen ‚Material‘-Diskursen ist fließend, in der Reflexion über Schrift wie in der über Bücher. Angesichts einer gewissen Diffusität des in neueren Theorien und Diskursen mit den Ausdrücken ‚Material‘ und ‚Materialität‘ verbundenen Vorstellungskomplexes erscheinen Differenzierungen geboten (Benne spricht sogar von einer „Aporie“, vgl. Benne 2015, Kap.: „Aporie des Materialitätsbegriffs“, S. 81–107). Klaus Müller-Wille etwa unterscheidet vier Konzepte von ‚Materialität‘ als Kernstücke entsprechender Diskurse: (a) „Buchstäbliche Materialität“ wird dort verhandelt, wo es um die konkret materielle Gestaltung von Artefakten und spezifisch: von Büchern im Kontext von Buchdiskursen und Buch(geschichts)forschungen geht (Müller-Wille 2017, S. 20–23). Das Interesse an den visuellen, haptischen, gelegentlich auch akustischen und olfaktorischen Eigenschaften des Buchs verbindet sich dabei in jüngerer Zeit mit der vertieften Aufmerksamkeit auf Nutzungspraktiken. Wegweisend sind hier die Studien von Roger Chartier, der die Frage nach Materialität und Gebrauch von Büchern vor allem lesesoziologisch akzentuiert.47 Im Zeichen des Materialitätspara 



47 Nach Roger Chartier hängt zwar die „‚erzeugte Wirkung‘“ von Texten „keinesfalls von den materiellen Formen ab, die den Text tragen“, doch „bestimmen auch sie antizipatorische Lesehaltungen und

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digmas erhält insbesondere die „book history“ neue Impulse (vgl. dazu Müller-Wille 2017, S. 20–23). In einer als notwendig betrachteten Erweiterung von Genettes Bestimmungen des „Paratextes“48 rückt der „bibliographical code“ als ein Ensemble von Gestaltungsparametern in den Blick. Zu diesen gehört neben der physischen Gestalt von Büchern, den bei ihrer Produktion verwendeten Materialien und Werkzeugen auch die Typografie (zur Typografie vgl. Wehde 2000). Obwohl die Betrachtung dieser materiellen Parameter der Textpräsentation sich klar gegenüber der Saussureschen Auffassung abgrenzt, dass die physische Beschaffenheit und Produktionsform von Zeichen bedeutungsirrelevant sei (s. o.), entspricht McGanns Konzept eines „bibliographical code“ offenkundig einem semiologischen Ansatz (Müller-Wille 2017, S. 22). Leitend ist das Programm einer neuen, materialistischen ‚Hermeneutik‘, welche sich verschiedenen Codes und ihrer Deutung widmet: den sprachlichen, den textgestalterisch-paratextuellen und den buchgestalterischen (McGann 1991, S. 14 f.). Von (b) „Prozessuale [n] Materialitäten“ spricht Müller-Wille mit Bezug auf poststrukturalistische Ansätze bei Julia Kristeva und Roland Barthes (vgl. Müller-Wille 2017, S. 23–26); gerade Barthes’ Akzentuierung des Schreibprozesses und seiner Parameter eröffnet ja neue Perspektiven auf die Anteile materieller Gegebenheiten und vor allem: der Körperlichkeit des Schreibenden selbst an der Textgenese. In posthermeneutischem Horizont profiliert sich, vertreten durch verschiedene Theoretiker, (c) ein Konzept „widerständiger Materialität“ (ebd., S. 26–31; Müller-Wille nennt als Repräsentanten dieses Ansatzes Aleida Assmann, Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch; vgl. ebd., S. 26). Ein besonderer Akzent liegt hier auf dem Uncodierten, das aus der Perspektive einer an Materialitäten interessierten Semiologie alle Codierungen begleitet, und auf den Hindernissen, die sich daraus für die Decodierung ergeben (vgl. Assmann, Aleida 1988; 2015). Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, dass sich infolge eines vertieften Sinns für das ‚Buchstäbliche‘ (im Sinne von: Materiell-Buchstäblichem) im Bereich der Beschreibung von Rezeptionsprozessen eine aussagekräftige Verschiebung geltend macht: Das Verb ‚lesen‘ löst tendenziell das Verb ‚interpretieren‘ ab, da es eine weniger starke Festlegung in Richtung ‚verstehen‘ impliziert (vgl. Assmann 1996, S. 17 f.). Diskurse über (d) „Materialität als historisches Phänomen“ (vgl. Müller-Wille 2017, S. 31–33) schließlich setzen vor allem bei medientechnischen und mediengeschichtlichen Gegebenheiten an, bei historischen „Aufschreibesystemen“ (vgl. Kittler 1995) und Medienpraktiken (vgl. dazu Gumbrecht/Pfeiffer 1988; Kittler 1995; Mersch 2002).  





















neue Publika oder Gebrauchsformen“. Chartier 1990, S. 12. Die moderne Literaturwissenschaft, so Chartier, übersehe den Objektcharakter von Texten (vgl. ebd.). 48 Vgl. dazu McGann 1991, S. 13: „The distinction text/paratext, can be useful for certain descriptive purposes, but for a deeper investigation into the nature of textuality it is not strong enough.“ McGann postuliert (und praktiziert) demgegenüber die Einbeziehung weiterer Parameter – eines „laced network of linguistic and bibliographic codes“, inbegriffen „such matters as ink, typeface, paper, and various other phenomena which are crucial to the understanding of textuality“ (ebd.); ähnlich ist von den prägenden Faktoren der „physical form of books and manuscripts“ von „paper, ink, typeface, layouts“ die Rede (ebd., S. 12).  







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Materialitätsdiskurse

Vielfalt und Konvergenz der Ansätze. Zu betonen ist die Vielfalt an Implikationen, die sich mit den verschieden profilierten Materialitätskonzepten in der neueren Theorie der Texte, aber auch anderer Artefakte und Praktiken verbinden, teils in spannungsvoller, ja widersprüchlicher Weise; besonders davon betroffen sind traditionelle Vorstellungen von Sinnproduktion und Sinnverstehen, aber auch Fragen der Beziehung zu Arbeitsmitteln und kulturellen Praktiken. Christian Benne fasst jene Vielfalt vor allem mit Blick auf ihre Bedeutungen für Literatur und Literaturtheorie zusammen: Sich auf die Seite der Materialität zu schlagen heißt, Stellung zu beziehen gegen den Idealismus, gegen alle Vorstellungen eines bereinigten und idealen Texts, gegen den ‚Geist‘ oder die bloße Ergründung der ästhetischen Normen des literarischen Texts. Auf der anderen Seite richtet sich Materialität auch gegen die Auffassung, dass Texte unabhängig von ihrer Rezeption und dem kulturellen Kontext ihrer Produktion existieren […]. Die Perspektive der Materialität richtet sich somit in ihrem Kern sowohl gegen die traditionelle Auffassung von Autor/Genie, Werk und Kompositionsprozess als auch gegen die hermeneutische, vornehmlich auf die Extrahierung von Sinn gerichtete Tradition insgesamt, die den literarischen Text als Reservoir repräsentierender Bedeutungen ansieht, die es zu entschlüsseln gilt. Sie setzt sich ein für den Eigenwert oder sogar den Primat von Überlieferungen, Varianten, Schreibwerkzeugen, Medien […]. (Benne 2015, S. 83)  

Unter welcher Akzentuierung auch immer: Was als die ‚Materialität‘ eines Textes oder sonstigen Artefakts aufgefasst wird, steht – den Implikationen des ‚Materialitäts‘-Begriffs zufolge – in einem Spannungsbezug zur codierten und darum auch decodierbaren sprachlichen Botschaft; es geht um das Andere der langue, und zugespitzt könnte man sagen: um ein Residuum an Unverständlichem. Dies macht den Materialitätsdiskurs in seinen differenten Spielformen so attraktiv für ästhetische, insbesondere für poetologische Reflexionsprozesse. Denn wenn die Poetizität von Texten darin gesucht wird, dass sie sich in Decodierbarem nicht erschöpfen, dass sie sich gegen Entschlüsselungsversuche sperren, dass sie Defizite oder auch Überschüsse gegenüber dem ins Vertraute Übersetzbaren aufweisen – dann liegt die Frage nahe, ob und inwiefern sich dieser Abweichungscharakter gerade mit dem ‚Materiellen‘ am Text verbindet, sich womöglich sogar über die ‚Materialität‘ des Textes konstituiert. Künstlerbücher, die literarische Texte materiell-buchgestalterisch inszenieren (vgl. dazu Teil E 2), eröffnen einerseits vielfach neue Zugänge zu den fraglichen Werken. Sie unterlaufen andererseits aber oft Lesbarkeitswünsche und den Anspruch auf Verstehen – und zwar schon dadurch, dass sie das Lesen anstrengend und hindernisreich machen, ja sein Scheitern provozieren. MSE  







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Neue Impulse, neue Programme: Innovationen im Umfeld des Künstlerbuchs, seine Beziehung zu den Avantgarden und sein proteisches Erscheinungsbild Nicht allein, dass das Künstlerbuch allgemein als eine noch junge, sich erst vor rund 60 Jahren als eigenständig profilierende Kunstform gilt; theoretische Diskurse über das Künstlerbuch und ästhetische Programmatiken, die es beeinflusst haben, unterhalten zudem enge Affinitäten zu den ästhetischen Avantgarden und ihren Innovationsgesten, und neben eher traditionsgeprägten Beispielen künstlerischer Arbeit mit dem Buch stehen auch solche, die mit der Tradition radikal brechen – bis hin zur Infragestellung dessen, was unter einem ‚Buch‘ und seinen möglichen Gebrauchsweisen verstanden wird. Das insgesamt innovative Potenzial buchgestaltender Kunstpraktiken trägt dazu bei, dass das Feld einschlägiger Phänomene immer wieder jeden Definitionsversuch hinter sich lässt. Obwohl der Diskurs zum Thema Künstlerbuch, zu seinen Begrifflichkeiten und Definitionsansätzen inzwischen etliche Jahrzehnte andauert, hat das weite Feld der entsprechenden ästhetischen Phänomene bislang keine feste Eingrenzung erfahren. Im Gegenteil scheint es sich – auch unter dem Einfluss neuer Medien – eher auszuweiten. Weitgehende Einigkeit besteht lediglich darüber, dass sich die unter entsprechende Begriffe gefassten Bücher von herkömmlichen Büchern unterscheiden.  





Problematik der Gegenstandsbestimmung und Bestimmungsansätze. Ausführungen zum Künstlerbuch auf eine feste begriffliche Grundlage stellen zu wollen ist problematisch. Da sich das Interesse am ‚besonderen‘ Buch – beginnend mit den bibliophilen Bewegungen des 19. Jahrhunderts bis hin zum gegenwärtigen Künstlerbuch – mehr oder weniger kontinuierlich bezeugt, lassen sich die einzelnen Produktionszusammenhänge nicht klar gegeneinander abgrenzen. Phänomene, die unter verschiedenen Etiketten erörtert und produziert werden (Fine Art Press, Pressendrucke, livre de luxe und von einfachen Umsetzungsverfahren geprägte Künstlerbücher etc.), bestehen als Spielformen des ‚besonderen Buchs‘ nebeneinander. Nicht festgelegt ist die grundsätzliche Form des Künstlerbuchs, offen sind etwa auch die Fragen, ob eine Blattfolge gebunden sein muss oder ungebunden sein darf und ob Mappenwerke noch zum Bereich Künstlerbuch gehören. Neben technischen und formalen Vorgaben fehlen auch inhaltliche Kriterien zur Charakteristik des Künstlerbuchs. Die Auffassungen darüber, ab welchem Zeitpunkt der Begriff ‚Künstlerbuch‘ zur Bezeichnung historisch auftauchender Buchformen gerechtfertigt ist, divergieren. Die damit offen bleibenden Fragen zur Kunstform des ‚Künstlerbuchs‘ wirken sich unter anderem auf die Sammlungspraktiken aus. Manche Sammlungen nehmen ausschließlich Unikatbücher oder in kleinsten Auflagen von Hand hergestellte Bücher auf, während für andere gerade der Auflagendruck zum Kriterium für die Aufnahme in die Sammlung wird. Die aktuell in Bibliotheken und Museen vorhandenen Sammlungen, ganz zu schweigen von den Privatsammlungen, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bestände so stark, dass dahinter oft eher die jeweils individuelle Auffassung des Samm 





Neue Impulse, neue Programme

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lungsträgers zu stehen scheint als spezifizierte Kriterien. Kataloge und ähnliche Publikationen bieten Hilfestellungen bei der Orientierung in Beständen, beantworten aber die offenen Fragen keineswegs. Eine Sonderrolle spielen Publikationen, welche Ausstellungen begleiten oder sie ersetzen, als Künstlerbücher, vor allem, wenn sie vom jeweiligen Künstler eigens für diesen Zusammenhang konzipiert wurden. Erste Beispiele solcher nur als Katalog realisierten Ausstellungen sind diejenigen in der Galerie von Seth Siegelaub: 1968 eine zu Arbeiten von Douglas Huebler, gefolgt 1969 von der Schau Untitled Book (Xerox Book), die beide lediglich über einen Katalog gegenwärtig waren (vgl. Phillpot 1998, S. 34).49  

Bestimmungsversuche. Zur Frage, was als Künstlerbuch zu betrachten und vor allem wie es zu bibliografieren sei, hat sich in den 1970er Jahren Clive Phillpot, Bibliothekar am New Yorker Museum of Modern Art, ausführlich und in verschiedenen Texten geäußert, wobei er den Begriff ‚Book Art‘ ausdrücklich als ein Gebiet der Gegenwartskunst versteht, das mehrere verschiedene Disziplinen in sich vereint. Neben Formen der Dokumentation und Massenproduktion werden auch subjektive Ausdrucksformen signifikant (vgl. Phillpot 1975, S. 101). Neben formalästhetischen und inhaltlichen Kriterien beziehen sich Bestimmungsversuche des Künstlerbuchs auch auf Fragen der Autorschaft. Einer einfachen Festsetzung zufolge ist ein Künstlerbuch ein Buch, das von einem Künstler gemacht wurde. Bei Ausblendung weiterer Faktoren wie etwa Anregungen oder Ausführungsbedingungen fallen unter eine solche Definition auch die von französischen Kunsthändlern initiierten Malerbücher und Pressendrucke, die aus einer Personalunion von Künstler und Schriftsteller hervorgegangenen Bücher und schließlich auch mancherlei Künstlerzeitschriften und Künstlerzeitungen. Fragen wirft auch die Abgrenzung des ‚Künstlerbuchs‘ respektive der ‚Buchkunst‘ zu buchgleichen oder buchähnlichen Gegenständen wie Objektbüchern und Buchobjekten auf, die man ebenfalls unter dem Begriff des ‚Künstlerbuchs‘ erörtert findet (vgl. dazu auch Teile A 1.1 bis A 1.4). Rolf Dittmar zufolge dienen Objektbücher und Buchobjekte, wie überhaupt Künstlerbücher, in erster Linie als Träger künstlerischer Eigeninformation, wobei das Objektbuch noch alle Funktionen eines Buches bewahre, das Buchobjekt hingegen nur mehr wie ein Buch aussehe, tatsächlich aber keines mehr sei.50  

49 Es folgen Weiners Statements, als „third show with Seth Siegelaub“ und der als The Xerox Book bekannt gewordene Katalog zur Gruppenausstellung Carl Andre, Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth, Sol LeWitt, Robert Morris, Lawrence Weiner: Schwarz 1989, S. 136. 50 Dittmar klassifiziert nach Objektkatalog, Protokoll- und Objektbuch, Buch als Material, Buch als Materialisation, Antibuch, Buch- und Konzeptkunst. Zu ergänzen wären, Peter Frank folgend, narrative bookwork, documentary books, artists’ note-book. Vgl. Dittmar 1977a, S. 296–299; vgl. außerdem Brall 1986, S. 8.  





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Die Frage nach den historischen Anfängen. Das Künstlerbuch gilt im Allgemeinen als eine Kunstform, deren Anfänge im 20. Jahrhundert liegen – auch wenn bereits mit der vorangegangenen Arts & Crafts-Bewegung und mit Pressendrucken des 19. Jahrhunderts Ansätze bestehen, das Buch als Gesamtkunstwerk zu fassen, an dem Bild und Text, Typografie und Material gleichermaßen Anteil haben. Der einzige Konsens der verschiedenen Beschreibungsversuche besteht über diese historische Einordnung des ‚Künstlerbuchs‘ hinaus ansonsten in der Feststellung, dass jeglicher Definitionsversuch sich erübrige (vgl. Klima 1998, S. 21).51 In historischen Überblicksversuchen verschwimmen die Abgrenzungen des Künstlerbuchs gegenüber dem illustrierten Buch, dem bibliophilen Buch, dem livre de luxe oder dem fine press book. So können bibliophile Bücher durchaus Züge von Künstlerbüchern aufweisen – etwa bei den Büchern von Roswitha Quadflieg, die aus der von der Künstlerin betriebenen RaaminPresse hervorgehen. Und manche mit Originalgrafiken versehenen und über handwerkliche Verfahren erstellten Pressendrucke erfüllen konzeptionelle Kriterien, die für das Künstlerbuch geltend gemacht werden. Beispiele bieten die Bücher der 1963 in London gegründeten Petersburg Press, die Drucke der 1984 von Dieter Sdun ins Leben gerufenen Schierlingspresse aus Dreieich, der 1980 von Peter Malutzki gegründeten Flugblatt-Presse, die Edition Fundamental, die Edition Dieter Wagner und viele mehr (zu den Pressen vgl. Hildebrand-Schat/Schnelling 2015). Auch wenn in künstlerischen Kontexten vor den 1960er Jahren der Ausdruck ‚Künstlerbuch‘ keine Verwendung gefunden hat, werden retrospektiv die hier vertretenen und umgesetzten Ideen zu neueren Konzepten des Künstlerbuchs in Beziehung gesetzt.  









Neue Impulse (a): Historische Produktionsformen und Tendenzen künstlerischer Buchgestaltung. Auch wenn der Begriff ‚Künstlerbuch‘ in der Geschichte des Buches erstmals für das 20. Jahrhundert nachzuweisen ist, begleitet die Wahrnehmung des Buches als zu gestaltender Raum die gesamte Geschichte der Buchkultur. Produzenten und Rezipienten gingen mit den Gestaltungsmöglichkeiten dieses Raums aber unterschiedlich sensibel um. Als mit den auf schnelle und preisgünstige Umsetzung zielenden Verfahren des Massendrucks ästhetische Kriterien in den Hintergrund traten, entstanden erste als Pressen bezeichnete Betriebe, die gezielt der Vernachlässigung formaler und ästhetischer Qualität entgegenwirkten. Im Zuge der Arts & Crafts-Bewegung besannen wichtige Buchproduzenten sich auf handwerkliche Ausführung, die vom Satz über den Druck bis hin zur Bindung alle Facetten der Produktion einschloss. Prominentes Beispiel ist die von William Morris in England gegründete Kelmscott Press. Aber auch in Deutschland etablierten sich vergleichbare Einrichtungen, darunter die 1900 von Fritz Helmuth Ehmcke begründete Stieglitz Werkstatt, die 1907 von Carl Ernst Poeschel und Walter Tiemann begründete Janus  

51 Die von Klima zitierten Stimmen lauten: „There will never be one precise definition“. Ford 1993, S. 4; „Any definition of an artists’ book almost becomes irrelevant“; Hubert 1991, S. 120.  



Neue Impulse, neue Programme

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Presse in Leipzig, die von Friedrich Wilhelm und Christian Heinrich Kleukens in Darmstadt begründete Ernst Ludwig Presse Darmstadt, die 1913 von Harry Graf Keßler begründete Cranach Presse sowie der von Wieland Herzfelde und John Heartfield (Herzfelde) 1917 gegründete Mali Verlag. Aufgegriffen werden die in diesen Einrichtungen vorherrschenden Prinzipien besonders sorgfältiger Gestaltung und handwerklicher Ausführung größtenteils durch diverse Fachleute aus dem Druckgewerbe oder auch durch Künstler, die Minipressen betreiben. Aufgrund ihrer technischen Einrichtung mit den Minipressen vergleichbar sind die Underground-Pressen, wobei diese politisch motiviert erscheinen und handwerkliche Techniken vor allem als alternative Reproduktionsform nutzen. Neue Impulse (b): Livre d’artiste und livre de peintre/Malerbuch. In Frankreich ist der Begriff livre d’artiste erstmals 1832 in H.-Léon Pelletiers Publikation La Typographie. Poëme nachzuweisen (Pelletier 1832, als Faksimile wiederaufgelegt: Hachette Livre, BnF, 2012, 24 x 16 cm, S. 163). Ab 1900 findet er Anwendung auf die Buchproduktionen, die von Galeristen wie Ambroise Vollard, Daniel-Henry Kahnweiler, später dann auch von Iliazd und Tériade in Auftrag gegeben werden, um Texte der klassischen und zeitgenössischen Literatur mit Originalgrafiken zeitgenössischer Künstler zusammenzuführen (Chapon 1984). Weil für diese Art der Buchgestaltung ausschließlich Künstler, vornehmlich Maler und Bildhauer, herangezogen werden, bürgert sich parallel zu ‚livre d’artiste‘ auch der Begriff ‚livre de peintre‘ bzw. ‚Malerbuch‘ ein. Bei den als Originalen gelieferten Grafiken handelt es sich durchweg um eigenständige Werke, häufig mit abstrakten Inhalten und Ausdrucksformen neuer künstlerischer Ideen.52 Ein Beispiel sind die von Picasso für Reverdys Chant des morts angefertigten Monotypien auf Zinkplatten. Der im Französischen hierfür gebräuchliche Begriff ist ‚livres de peintres‘, wörtlich ‚Bücher der Maler‘ oder ‚Bücher von Malern‘ und steht solchen gegenüber, die von einem ‚peintre-graveur‘ ausgestattet wurden, einem Stecher, der für die illustrative Ausstattung zuständig ist. Charakteristisch für die als livre de peintre bezeichneten Bücher sind ihre hochwertige Ausstattung sowie limitierte, nummerierte und häufig vom Künstler signierte Auflagen. Dabei müssen die Seiten nicht zwangsläufig gebunden sein, was unterstreicht, dass diesen Werken ein Stellenwert zwischen Buch und Bild zugesprochen wird. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass die mit Grafiken versehenen Blätter nicht nur im Buchverband, vielmehr auch als eigenständige Bilder gesehen werden, die an die Wand gehängt werden können. In die 







52 Mit Blick auf die Ausstellung Painters and Sculptors as Illustrators im Museum of Modern Art in New York 1936 und in Abgrenzung zu der Bezeichnung ‚Illustrator‘ weist Philip Hofer darauf hin, dass die mit Originalgrafiken ausgestatteten Bücher französischer Künstler wie Derain, Dufy, Picasso, Braque, Rouault und Matisse nicht einfach als illustrierte Bücher zu bezeichnen seien. Vgl. Hofer 1982; Stein 1989. Als ‚Originale‘ werden in diesem Zusammenhang auch Lithografien bezeichnet, die zur Reproduktion eines Werkes in einem anderen Verfahren dienen, wenn der Künstler dies selbst so bestimmt.

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ser Form ist das Künstlerbuch zunächst ein französisches Phänomen (vgl. Strachan 1969, S. 19–24; Hofer 1982, S. 7). Doch der Begriff livre d’artiste findet bald schon Anwendung im englischsprachigen Raum, wo er von Büchersammlern und bibliophilen Gesellschaften verwendet wird, um die in Kollaboration mit einem oder mehreren Künstlern entstandenen Bücher zu bezeichnen.  



Neue Impulse (c): Nachkriegszeit. Ein mit dem der französischen Galeristen vergleichbares Programm an Künstlerbüchern bzw. Malerbüchern initiiert 1957 in den USA Tatyana Grosman mit der von ihr begründeten Universal Limited Art Editions (ULAE). Das erste hier erscheinende Künstlerbuch mit einem Text von Frank O’Hara und Grafiken von Larry Rivers, das nach zweijähriger Produktionszeit 1959 erscheint, trägt den Titel Stones (Mappe mit 12 Lithografien, 48,3 x 59 cm). Seither hat sich in den USA eine rege Künstlerbuchszene etabliert, die durch Vermittlung an Hochschulen für Gestaltung und Sammelaktivitäten in Museen und Bibliotheken gestützt wird. 1982 initiieren die Library Fellows des Whitney Museum of American Art ein neues Programm an fine-press-publishing, aus dem eine Reihe buchkünstlerisch gestalteter Werke hervorgehen, die als Künstlerbuch zu bezeichnen sind (vgl. Stein 1989). Lothar Lang nennt drei Ereignisse, die nach seiner Einschätzung wesentlich dazu beitragen, dass das Buch als eigene Ausdrucksform ins Bewusstsein getreten ist: erstens das Erscheinen der von Albert Skira edierten Anthologie du livre illustré par les peintres et sculpteurs de l’école de Paris 1946, zweitens die Präsentation eines Konvoluts von Malerbüchern aus der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel auf der zweiten documenta 1959 und drittens die 1977 unter ‚Metamorphosen des Buches‘ gezeigte Abteilung für Grafik und Buchkunst auf der documenta 6 (vgl. Lang 2005, S. 3–16).  







Neue Impulse (d): Konzeptkunst als Buchkunst. Begriffsmodifikationen und Begriffspluralität. Aufschwung erhält die Künstlerbuchproduktion nicht nur in Nordamerika, sondern ebenso in Europa im Zuge der Konzeptkunst der 1960er Jahre. Als Leitideen dieser Kunstrichtung bezeichnet Lucy Lippard die der „democratization“ und der „dematerialization“ von Kunst (vgl. hierzu ausführlich Lippard 1987). Wichtig ist hier vor allem die Auffassung, dass Kunstwerke allgemein verfügbar sein sollten. Und wenn als das Wesentliche eines Werkes die Idee oder das Konzept gilt, müssen die Werke auch nicht mehr materiell realisiert werden. Kunstwerke bzw. die sich formierenden Ideen lassen sich dann vielmehr schriftlich fassen, in Skizzen und Studien übermitteln, die wiederum in Form von Büchern über die Distributionsschienen des Buchhandels Verbreitung finden können. Anders als die in Museen ausgestellten und somit ortsgebundenen Werke erreichen künstlerische Konzepte und Ideen auf diesem Wege einen breiten Adressatenkreis. Beschreibungen einer neuen Kunst: Ansätze der Konzeptualisierung und Theoretisierung. Was unter artists’ books bzw. artist’s book verhandelt wird, verbindet

Neue Impulse, neue Programme

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sich vielfach mit der Vorstellung, der konzeptuelle Gehalt stehe über dem Materiellen. Anwendung findet der Begriff ‚artist’s book‘ in diesem Sinne erstmals bei Dianne Perry Vanderlip anlässlich der von ihr 1973 für das Moore College of Art in Philadelphia konzipierten Ausstellung. Gezeigt wurden „many different types of books made by artists from 1960 to the present“ (Vanderlip 1973, S. 5f.). Als Kriterium der Auswahl diente Vanderlip die jeweilige Einschätzung des Künstlers; ausgestellt war, was Künstler als Buch konzipiert hatten. Bezeichnenderweise verwendet die Kuratorin den Ausdruck „artists book“ entgegen seiner späteren Kodifizierung ohne Apostroph. Die beiden in den Ausstellungskatalog aufgenommenen Essays von Lynn Hershman und John Perreault liefern grundlegende Überlegungen zum Buch als Kunstwerk und seiner Beschreibung als Künstlerbuch. Hershman betont in ihrem Text Slices of Silence, Parcels of Time: The Book as a portable Sculpture den demokratischen Charakter, den eine dank verschiedener technischer Errungenschaften unkompliziert zu vermittelnde Kunst habe (vgl. Hershman 1973). Zugleich diene das Buch der Kommunikation und beweise in einer sich ständig ändernden Welt Stabilität und Dauer. Perreault meint demgegenüber, das Künstlerbuch erlange als ästhetisches Experiment einen eigenen Stellenwert, weil neue Technologien das Buch als Medium der Informationsvermittlung zu verdrängen begännen (vgl. Perreault 1973, S. 15).  



Ansatz beim Produzenten. Abweichend von der bibliophilen Tradition des illustrierten Buches und im Unterschied zum Malerbuch, das von Hand hergestellt ist und in dem ein Künstler seine Grafiken dem Text eines Schriftstellers beifügt, hat das Künstlerbuch einen einzigen Autor: den Künstler, der sich dafür entschieden hat, ein Werk in Form eines Buches zu produzieren. Das Künstlerbuch zeigt sich diesem Ansatz zufolge meist als gewöhnliches Buch, in bescheidenem Format und produziert unter Einsatz zeitgenössischer Techniken, wie dem Offsetdruck, und meist in unlimitierter Auflage hergestellt (Mœglin-Delcroix 1997b, S. 3).53 Germano Celants Essay Book as Artwork 1960/72 erscheint im Katalog der gleichnamigen Ausstellung (vgl. Celant/ Morris 1972; Klima 1998, S. 19). Zwar verwendet Celant nicht den Begriff ‚artists books‘, setzt sich aber gleichwohl eingehend mit dem Phänomenbereich auseinander. Das Buch trete als Genre neben Malerei, Skulptur, Video, Performance und weitere Kunstformen, beziehe aber den Rezipienten stärker mit ein. Für Celant sind solche Kunstwerke, die die formalen Strukturen eines Buches aufweisen, als Künstlerbuch zu bezeichnen. Hierunter fallen auch Skizzenbücher, Dokumentationen von Performances, Manifeste sowie Bücher mit taktilen und skulpturalen Qualitäten. Grundsätzlich handelt es sich um Bücher, die von Künstlern hergestellt werden und sich Konventionen in den Bereichen von Literatur, Kunst und Illustration nicht fügen; daraus resultieren  



53 Die Broschüre wurde anlässlich der Ausstellung „Livres d’artistes, l’invention d’un genre: 1960– 1980“ in der Bibliothèque nationale de France, 25. Mai bis 12. November 1997, publiziert.  



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für Celant dann spezifische Prozesse der Produktion und Rezeption (vgl. Celant 1971 u. a.; Celant/Morris 1972). Artur Bralls Ansatz zufolge weisen die vom Künstler geschaffenen Bücher Merkmale auf, die dem traditionellen Buch fremd sind. Ein solches Merkmal kann das Fehlen von geschriebenen oder anderen Informationen sein; charakteristisch sind auch destruktive Eingriffe in den Buchkörper und in Teilbereiche der formalen Strukturen, ferner Konventionsbrüche in Typografie, Layout, Bildauswahl, sowie spannungsvolle Zusammenstellungen und Abfolgen von Elementen. Für Dick Higgins ist das Künstlerbuch ein um seiner selbst willen und nicht wegen seines Inhaltes produzierter Gegenstand. Gestaltung und Format haben Teil an der inhaltlichen Vermittlung. Als solch umfassende Gesamtkunstwerke sind Künstlerbücher auch weder einer spezifischen Bewegung, noch einem Stil oder ästhetischen Programm zuzurechnen (vgl. Higgins 1985, S. 12).  



„Buchwerke“, „Bucharbeiten“, „Künstlerbuchpublikationen“: Neue Namen. Ungefähr zeitgleich mit Celant befasst sich auch Ulises Carrión mit dem Buch als Gegenstand künstlerischer Reflexion, und zwar als Dichter, Essayist und Buchgestalter. In Anlehnung an Carrión mag die Bezeichnung ‚Buchwerke‘ entstanden sein, die Gabriele und Barbara Schmidt-Heins für ihre als Bücher konzipierten Kunstwerke verwenden (vgl. Schmidt-Heins/Schmidt-Heins 1977), ebenso wie Gerhard Altenbourg für die von ihm gestalteten Arbeiten. Der Begriff ‚Buchwerk‘ wird aber auf Buchskulpturen und Buchobjekte bezogen, auf Bücher, die durch Verbrennen dematerialisiert, durch Verkleben oder Verschließen entfunktionalisiert und dann zu Kunstwerken erklärt wurden. Mit Blick auf die undifferenzierte Fülle buchähnlicher Phänomene spricht man gelegentlich auch von „Bucharbeiten“ (Moldehn 1996, S. 13). Ein unter Leitung von Anne Thurmann-Jajes zum Zweck bibliothekarischer Erfassung und Beschreibung erstelltes Manual verzichtet auf jede definitorische Bestimmung des ästhetischen Phänomenbereichs um das Buch, indem es statt vom ‚Künstlerbuch‘ von „Künstlerpublikationen“ spricht. Hierunter werden alle möglichen von Künstlern publizierten, vervielfältigten und veröffentlichten Kunstwerke verstanden (Boulanger/ThurmannJajes/Stepančič 2010). In den hier relevanten Grenzraum von Kunst, Musik, Literatur, Film und Theater gehören auch Künstlerzeitschriften, Künstlerzeitungen, nicht gedruckte Auflagenobjekte, Multiples, Foto-Editionen, Grafiken, grafische Arbeiten, Ephemera, Künstlerschallplatten, Audio-Kassetten, Compact Discs, Film-, Video- und Multimedia-Editionen. Als Untergattungen werden Postkarten, Briefmarken, Aufkleber, Stempelarbeiten und Computergrafiken berücksichtigt. Unabhängig von ihrer Auflagenhöhe wird den publizierten Kunstwerken innerhalb eines künstlerischen Œuvres der gleiche Status wie Gemälden, Skulpturen oder Installationen zugesprochen. Eine eigene Geschichte haben auch Ausdrücke wie ‚Objektbuch‘, ‚Buchobjekt‘ und ihre jeweils englischen Äquivalente sowie die Wendung vom ‚book as artwork‘, die von manchen Autoren ergänzend oder synonym zum Begriff ‚Künstlerbuch‘ verwendet wird (vgl. auch Teile A 1.1 und A 1.4). Phillpot nennt als weitere Ausdrücke zur Charakterisierung von Künstlerbüchern bzw. Künstlerpublikationen noch „page art“  

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Neue Impulse, neue Programme

bzw. „pagework“ (Phillpot 1998, S. 48). „Pageworks“ werden häufig in Zeitschriften publiziert.54  

Eine proteische Kunst. Das Künstlerbuch, so eine oft modifizierte These, ist nicht nur eine Form oder ein Behältnis von künstlerischen Ideen, sondern vielmehr entstehen die Ideen aus den Eigenheiten des Mediums Buch. Emanzipiert von der Verpflichtung auf Sachinformationen, wird es zum Träger künstlerischer Eigeninformation (vgl. Dittmar 1977a, S. 269–299). Richard Kostelanetz zufolge kommunizieren Künstlerbücher imaginäre Phänomene und erweitern so das Feld der Lese- und Rezeptionsmöglichkeiten (vgl. Kostelanetz 1987, S. 28). An der Auseinandersetzung mit dem Buch, seiner Materialität und seinen Funktionen haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte verschiedene Disziplinen beteiligt. Dabei sind neue Termini geprägt worden und neue Begriffe entstanden, die das intermediale und interdisziplinäre Zusammenspiel der diversen Ausdrucksformen besonders akzentuieren. Vor dem Hintergrund einer weiterhin fehlenden bzw. unmöglichen begrifflichen Definition des ‚Künstlerbuchs‘ erschließen die aus den Textwissenschaften und der Literaturtheorie hervorgehenden Begriffe neue Blickwinkel, die sich aus der Verknüpfung formal-gestalterischer und textimmanenter Faktoren ergeben. Auf die Bedeutung der Medialität des Buchs verweisen etwa Begriffsprägungen wie ‚bookishness‘ oder ‚liberature‘. Anders als Neologismen wie ‚poésure‘, ‚peintrie‘, ‚poemobile‘ und ‚livrex‘ ist ‚bookishness‘ keine Wortneuschöpfung. Der Ausdruck lässt sich bereits für das 17. Jahrhundert belegen, wo er etwa in William Shakespeares Winter’s tale mit der Bedeutung von ‚belesen‘, ‚über Wissen aus Büchern verfügen‘ vorkommt (vgl. Buckridge 2006, S. 223).55 Neu hingegen ist die Anwendung auf Textformen, die essenziell an die Form des Buches, dessen Medialität und der ihr typischen Funktionsweisen gebunden sind. Als ‚poemobiles‘ bezeichnet Augusto de Campos Gedichte, deren Worte so auf das Trägermaterial aufgedruckt sind, dass sie durch Falten und Umfalten nur partiell gelesen und diese Versatzstücke in unterschiedliche Abfolgen gebracht werden können. Mit den ‚poemobiles‘ veranschaulicht de Campos eines der zentralen Ziele der Noigandres-Gruppe, der er zugehört (vgl. Bense online). Sollen doch in deren Dichtung die Trennung von Inhalt und Inhaltsträger, von Signifikant und Signifikat aufgehoben werden und die Laute und Worte in unmittelbare ästhetische Beziehung zur Druckfläche treten.56  







54 Auch Mail Art oder Correspondence Art wird von Phillpot zu „pagework“ gezählt. Vgl. Phillpot 1998, S. 48f. 55 Vgl. Shakespeare o. J., S. 387 (III/iii, 70): „Though I am not bookish, yet I can read Waiting-Gentlewoman in the ’scape.“ Erich Fried übersetzt mit „studiert“, vgl. Apel 1995, Bd. 3, S. 531. 56 Durch eine vergleichbare Begriffsverschmelzung aus ‚poésie‘ und ‚peinture‘ wollte die Ausstellung Poésure et Peintrie auf das unauflösbare Wechselspiel von Poesie und Malerei hinweisen, gemäß der Devise, dass wir mit unseren Ohren sehen und mit unseren Augen hören. Ausgehend von der Idee, die Poesie habe in alle künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts hineingespielt, wurden Arbeiten  









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Appropriationen. Im Zusammenhang mit der Relevanz der über Semantik und Sprachmaterial hinausgehenden buchkonstitutiven Faktoren sind auch die von Annette Gilbert in Reprint zusammengeführten Beispiele von Appropriation zu berücksichtigen, auch wenn Gilbert ausdrücklich artists’ books und die überwiegend im Kunstdiskurs verhandelten Bücher ausschließt (Gilbert 2014, S. 14). Die von ihr dokumentierten Beispiele berühren die im Zusammenhang mit Künstlerbuch zur Disposition stehende Verschmelzung von Inhalt und Form insofern, als es auch bei ihnen nicht um die ausschließliche Appropriation eines Stils, eines Motivs, eines Plots oder sonstiger Inhalte eines Textes geht, sondern die konkrete Gestalt und Materialisierung in Schrift und Buch ebenso ihren Anteil hat (ebd., S. 15). Der überwiegende Teil der von Gilbert angeführten Beispiele besteht aus Büchern, die aus Appropriationen anderer Bücher hervorgegangen sind; sie wurden durch einen künstlerischen Eingriff transformiert und dadurch in einen neuen Aussagezusammenhang gestellt. VHS  



Objekte in Buchform: Oszillationen zwischen Meta- und Anti-Buch „Bücher, die keine mehr sind“ (vgl. Salzmann 1989): Mit dieser paradoxen Wendung hat Siegfried Salzmann eine Sammlung von Buchobjekten programmatisch übertitelt. Unter den Begriff „Buchobjekt“ gefasst werden meist buchförmige Objekte, die sich gegen einen Gebrauch sperren, wie konventionelle Bücher ihn nahelegen – weil sie bestimmte Formen der Buchbenutzung (wie das Aufklappen, Umblättern und Lesen) womöglich gar nicht gestatten oder doch behindern. Oft werden sie durch Bearbeitung von vorgefundenen Buchkörpern hergestellt; oft auch ähneln sie echten Büchern nur der Form nach. Auch das Buchobjekt dokumentiert eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Buch, wenn auch oft durch Verfremdung oder Negation von Eigenschaften, die Bücher normalerweise besitzen. Eine künstlerische Reflexion über bookness liegt vielleicht gerade dann vor, wenn sich in die Buchgestalt in so stark verfremdeter Form präsentiert, dass kein Buch im engeren Sinn mehr vorliegt. Dabei  

ausgestellt, die die Zeitspanne vom Dadaismus über Futurismus und Surrealismus bis hin zu Konkretismus, Happening, Fluxus, Mail Art und Performance vertreten. ‚Gigantexte‘, eine Zusammensetzung aus ‚gigantisch‘ und ‚texte‘ wiederum ist eine Begriffsprägung von Michèle Métail, die in erster Linie aus Komposita gefügte Gedichte, im Weiteren ihre in den Raum projizierte Poesie bezeichnet, darunter auch aus Fotografien und Buchstaben gefügte Momentaufnahmen einer Stadt. Auch bei den gemeinsam mit Louis Roquin unter Les arts contigus („Die verwandten Künste“) konzipierten Arbeiten verbinden sich Performance und Lyrik zu einem Ausdruck, bei dem die Durchlässigkeit der einzelnen Sinneswahrnehmungen gezielt eingesetzt wird. ‚Livresc‘ wiederum spielt mit den Wörtern ‚livre‘ und ‚pittoresque‘. Der Begriff bezeichnet ein Digitalisierungs- und Forschungsprogramm, das in einer Kooperation der Sorbonne Nouvelle, dem CRS und der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet 2015 gestartet wurde.

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sind die Grenzen zum Künstlerbuch offen. Bestimmungsversuche sind trotz ihrer begrenzten Tragfähigkeit wichtige Impulsgeber und Orientierungshilfen – wie etwa Ansätze, die sinnliche Erfahrbarkeit und die Lesbarkeit von Büchern in einen programmatischen Oppositionsbezug zu setzen.  

Negationen, Abgrenzungen, Konfrontationen. Ohne negative Bestimmungen, die sich in der Regel auf die ‚Unlesbarkeit‘ vieler Buchobjekte beziehen, kommen Beschreibungsversuche des Buchobjekts kaum aus.57 Die Formulierung „Bücher ohne Worte“ – so der Titel einer Buchobjekt-Ausstellung von 1988 in Zürich (Museum Bellerive) – erscheint als programmatisch für die Neigung zu Bestimmungsansätzen, den Weg der Negation zu gehen. Der Buchkünstler Herbert Zangs nennt seine Arbeiten „Antibücher“ (vgl. Dittmar 1977a, S. 298). Vom ‚Kein-Buch-mehr-Sein‘ des Buchobjekts betroffen ist indirekt auch der mit der Idee des Buchs verknüpfte Anspruch auf Lesbarkeit, wie ihn Hans Blumenberg am Leitfaden der Metapher vom Buch der Natur respektive von der Lesbarkeit der Welt kommentiert hat (Blumenberg 1981). Denn wenn Bücher ‚keine mehr sind‘, so werden dadurch auch und gerade Lesbarkeitsansprüche, Lesbarkeitserwartungen brüskiert – und damit Erwartungen an die Verständlichkeit, die explikative, wissensbegründende, kommunikative Kraft von Wörtern und Texten. Anders setzen Kommentare zum Buch-Objekt als einem Nicht-mehrBuch an, welche das ästhetische Buchwerk primär aus der Konkurrenzsituation zu anderen Kommunikations- und Unterhaltungsmedien heraus interpretieren. Das ‚Objekt‘ Buch kommt diesem Ansatz zufolge in seiner Konkretheit und Materialität einem Bedürfnis nach persönlichem Gebrauch und individueller Prägung entgegen (vgl. Salzmann 1989, S. 9). Buchobjekte entstehen einem geläufigen Beschreibungsansatz zufolge vielfach aus einem Grundgestus der Verweigerung, aus Zerstörung, Fragmentierung oder stofflichen Auflösungsprozessen, durch Verbergung, Entstellung, Dekomposition. Manche Objekte signalisieren (sei es zivilisationskritisch, zivilisationspessimistisch, ironisch oder parodistisch) ein ‚Zurück zur Natur‘; das Buch erscheint eingebettet in natürliche Prozesse und Substanzen; es wird der Verschimmelung, Korrosion, Verrottung ausgesetzt. Andere Objekte variieren das Vorstellungsbild des zu ‚verinnerlichenden‘, des einverleibbaren, des ‚essbaren‘ Buchs. Andere lassen ‚Apokalyptisches‘ assoziieren – oder doch Prozesse des kulturellen Verfalls, Gewaltakte, Zerstörung und Aggression; dies gilt etwa für verbrannte, zerhackte, ertränkte Bücher, aber auch (komplementär dazu) für Bücher als Objekte der Gewaltanwendung (Nägel, Schrauben, Scheren…). Wiederum andere Buchobjekte verweisen auf Geheimnisse  











57 Vgl. auch Blume 2015, S. 95f.: „Von einem B. spricht man, wenn das Buch selbst zum Gegenstand der Kunst als deren Ausdrucks- und Werkmittel wird. Bei einem B. geht es nicht mehr um die kommunikative Funktion eines Buchs als Träger von Text und Bild.“ Wenn es im Folgenden heißt: „Die Form des Buchs als Raum, das Buch als Sinnbild für Bildung, Religion oder Macht werden stattdessen bestimmend“ (ebd.), so liegt darin eine vereinfachende Zuspitzung; zudem stellt sich die Frage, ob die ‚Sinnbildlichkeit‘ des Buchs von dessen ‚kommunikativer Funktion‘ abzukoppeln ist.  

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und ‚Geheimniskrämereien‘, präsentieren sich als ‚Black Boxes‘, werden durch Einwickeln, Verhüllen, Übermalen, Betonieren verfremdet etc. Die Dialektik von Verweigerungsgesten – das Erinnern an das, dem man sich verweigert – ist stets mit zu bedenken, wenn das Buchobjekt als Gegen- oder Anti-Buch, als Buch ohne Worte, als Nichtmehr-Buch, als Ausdruck des Kommunikationsverzichts beschrieben wird.58  



Der Buch-Migof und andere phantastische Wesen: Hybrides, Monströses und Surreales. Die Welt der Buchobjekte ist zu weiten Teilen eine Welt der Hybrid-Erscheinungen, schwer oder überhaupt nicht kategorisierbarer Ding-Monster, die einem Zwischenraum zwischen Organischem und Anorganischem, Totem und Lebendigem angehören und entsprechende intellektuelle Irritationen (oder auch Amüsement) auslösen. Ein programmatisches Beispiel bietet Bernard Schultzes Buch-Migof (book-migof, 1976), eine „Migof“-Skulptur in Buchform, die aus verschiedenen Materialien zusammengefügt wurde: aus Plastik, Kleidern, Draht und Ölfarbe (Kat. Ausst. 1978, S. 72). Das 49 x 35 x 74 cm große Objekt ähnelt einem nach oben aufgeklappten Buch, aber auch einem offenen Maul, zumal da die Struktur des Buchdeckels durchfurcht ist und vage an Organisches erinnert. „Migofs“ nennt Schultze eine ganze Reihe von räumlich-plastischen Objekten phantastischer Art, die zu einer Art surrealer MigofRealität gehören. Als offene Mäuler oder als schreckenerregende Münder ohne Zähne hat Martin Schwarz einzelne seiner Buchobjekte gestaltet (Schwarz 2016, S. 108f.). Aus anderen Büchern strecken sich dem Betrachter monströse Hände entgegen (ebd., S. 110), aus wiederum anderen blicken ihn viele Augen an, sei es von der Spitze tentakelartiger Ausstülpungen (ebd., S. 111f.), sei es eingebettet in die wellige Oberfläche der aufgeklappten Buchdoppelseite (ebd., S. 113). Monströse Hybridwesen bevölkern Schwarz’ Buchwelt, oft Kreuzungen aus Buch und Tier: Eine Fledermaus etwa spreizt ihre Flügel inmitten eines Kodex (ebd., S. 73), andere Kodizes tragen Hirschgeweihe (ebd., S. 60, 72), wieder andere Pelz (ebd., S. 66). Zu den surreal anmutenden Vorstellungsbildern, die durch Buchobjekte wie materialisiert erscheinen, gehören insgesamt verschiedene Formen der Vermischung und Entdifferenzierung von kategorial normalerweise unterschiedenen Erscheinungen oder Vorgängen. Dazu gehört auch die Idee eines Übergangs zwischen Alltagswelt und Buchraum. Analog zu wundersamen Büchern, die sich in literarisch-phantastischen Texten gelegentlich dargestellt finden (so in Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte) schaffen Buchkünstler u. a. Beispiele für große, prinzipiell begehbare Bücher (so etwa Franz Erhard Walther mit seiner Arbeit Großes Stoffbuch, Körper, 1969; siehe: Brall 1986, S. 75).  





























58 Vgl. Rolf Dittmar, zit. in Salzmann 1989, S. 9: „Wie weit der Künstler auch immer die Verfremdung und Zerstörung der Buchaussage und des Buchkörpers treibt: Bis zur Grenze der völligen Zerstörung des Buches bleibt es Instrument der Kommunikation“.  

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Geometrisches, Kalkuliertes, Rationales: Entfaltungen elementarer Konstruktionselemente. Sol LeWitt charakterisiert „artists’ books“ als „a means of conveying art ideas from the artist to the viewer/reader“ (rückseitiger Covertext von Maffei/Donno 2010). Seine Künstlerbücher bieten ein Beispiel für die Affinität des Objekts Buch zum planvoll Konstruierten, Geometrischen, Kalkulierten. Sie entstehen vielfach in planvoll angelegten Serien, spielen dabei Ausgangsfragen und Aufgabenstellungen durch. Optisch dominieren geometrisch-abstrakte Muster, Linien, Raster, einfache geometrische Umrissfiguren, Kuben und andere räumliche Objekte (bzw. deren Darstellung), einfache Farben (vgl. zur Übersicht ebd., S. 9). Diese abstrakten Figurationen und Formen werden dabei vorzugsweise seriellen Variationen unterzogen und insofern innerhalb des Buchs – unter Nutzung seiner Blättersequenz – handgreiflich und im übertragenen Sinn entfaltet. Die Titel der Bücher weisen auf dieses ästhetische Konzept durch ihren Bezug zu Zahl, Form und Abstraktion bereits hin (so etwa: 40 Three-part Variations Using Three Different Kinds of Cubes, 1967–68, etc.) (ebd., S. 31). Defiziente Formen und Figuren unterstreichen dabei die Zentrierung dieses Œuvres aufs Numerische und Geometrische (Incomplete Open Cubes, 1974, 1975) (ebd., S. 37). Das Elementarrepertoire der Formen und Figuren als buchkünstlerisches Thema wird bei LeWitt ergänzt durch das der Farben: so in Lines&Colour (1975) (ebd., S. 62f.). Selbst zu thematischen Stichworten, die anderes als Geometrie assoziieren lassen, schafft LeWitt Bücher mit rasterförmigen Strukturen. Sein Buch Autobiography (1980) (ebd., S. 92f.) zeigt auf den Buchseiten regelmäßig angeordnete quadratische Segmente mit Fotos, die wie Bilder der Abteilungen eines Bücherregals wirken; dargestellt sind tatsächlich diverse Objekte, darunter auch Bücher und Schriften, auf Regalbrettern.  













Transparenz und Intransparenz. Eine Gruppe von Buchobjekten, die 1978 auf einer Ausstellung in Teheran gezeigt wurden und allesamt unter Verwendung transparenter oder semitransparenter Materialien entstanden waren, finden sich im Katalog dazu unter dem Stichwort „Transparenz“ zusammengefasst (vgl. Kat. Ausst. 1978, S. 76– 89). Am Beispiel dieser Buchwerke lässt sich die Semantisierung des Materiellen exemplarisch illustrieren. Die Verwendung transparenter bzw. semi-transparenter Materialien erzeugt bei deren Überlagerung Unschärfen, und diese beeinflussen die Wahrnehmung, gegebenenfalls die Lektüre der Buchinhalte in einer Weise, die nicht bedeutungsneutral sein kann. Unschärfe ist ein Störfaktor, aber auch ein Ästhetisierungsmoment; in jedem Fall lädt sie zur Interpretation ein. Spezifisch buchreflexiv sind Werke aus (semi-)transparenten Materialien, weil sie, von der Oberfläche der aufgeschlagenen Doppelseite ausgehend, den Blick in die Tiefe des Buchkörpers ziehen – allerdings nur bis an eine Grenze, jenseits derer Transparenz in Opazität umschlägt. Sie verweisen damit programmatisch auf das, was der Leser eines Buches normalerweise ausblendet, übersieht, vergisst: auf die unsichtbare Kehr- und Unterseite dessen, was vor seinen Augen liegt. Man könnte dieses Spiel mit Transparenz und Opazität als metaphorische Inszenierung zum Thema Materialität verstehen und konkreter  



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auf die Materialität des Buchs selbst beziehen. Scheinbar lässt diese sich ja (und sei es bei mehrfachem Hinsehen) bestimmen. Aber solche Identifikation des Materials bleibt an der Oberfläche, und nur partiell erschließt sich der Bedeutungsraum jenseits dieser Oberfläche. Auratische und affektiv besetzte Bücher. Auch die persönliche Beziehung von Buchbenutzern zu Büchern, d. h. also deren affektive Dimension kann bei der Gestaltung von Buchobjekten zum Thema werden. Damit wird – buchreflexiv – auf eine Bedeutungs- und Nutzungsdimension von Büchern verwiesen, die über ihre rein praktische Funktionalität hinausgeht, auf Auratisches, auf Emotionales, auf Symboliken der Macht und auf Sphären privaten Erlebens. Angeknüpft wird an Merkmale von Büchern, die erkennen lassen, dass sie ihren Herstellern oder Besitzern aus persönlichen Gründen etwas bedeuten, aber auch an die Geschichte des Buchs als Gegenstand der Verehrung oder als Statussymbol (vgl. Kat. Ausst. 1980, S. 13: „Das Buch als Objekt“). Schon die Buchgestaltungskunst um 1900 hatte eine (zumindest implizit) affektive Seite; so verband sie sich teilweise mit ästhetisiertem Protest gegen Industrialisierung und Massenkonsum. Andere Zweige der Buchwerkproduktion setzen demgegenüber auf das Schlichte, vermeintlich Einfache des billigen Buchs, auf das Buch als Alltagsobjekt und ‚demokratische‘ Massenware. Wie auf der einen Seite der Einsatz kostbarer Materialien und raffinierter Gestaltungspraktiken, so ist auf der anderen Seite auch der von billigem, in Massenproduktionsverfahren bedrucktem Papier signifikant; in beiden Fällen sind Materialien und ihre Verarbeitungstechniken metonymisch und metaphorisch auf spezifische Vorstellungshorizonte und kulturelle Realitäten bezogen (vgl. zu diesem Themenkomplex Drucker 1995a, Kap. 5, S. 104: „The Artist’s Book as a Rare and/or Auratic Object”). MSE  











Pop-up-Bücher und Literatur Von einer spezifischen Spielform der Buch-Literatur im Pop-up-Format kann nur in den eher seltenen Fällen die Rede sein, in denen ein literarischer Text eigens für seine Integration in ein Pop-up und mit Blick auf diese Integration verfasst wurde wie bei David Pelhams Trail (2007). Daneben stehen zweitens Pop-up-Konstruktionen, in denen sich bereits existierende oder doch unabhängig von der papiermechanischen Buchgestaltung verfasste Texte inszeniert finden. Zu diesen gehören neben Kindergeschichten, Märchen, mythischen Fabeln und volkstümlichen Erzählstoffen verschiedener Provenienz auch literarische Texte. In Literatur-Pop-ups werden Erzähltexte, dramatische und lyrische Texte zum Anlass papiermechanischer Konstruktionen. Das Konzept (und Sprachbild) der Entfaltung materialisiert sich im Pop-up in sinnfälligen und einprägsamen Varianten. Die im Pop-up entfaltete Papierkonstruktion verweist dabei metaphorisch oft auf Entfaltungen anderer Art. So spiegeln sich in den Bewe-

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gungsprozessen dieses Buchtypus entsprechende Prozesse in realen und imaginären Welten, etwa die Entfaltung von Blütenblättern oder Vogelschwingen als Sonderfälle natürlicher Bewegungsabläufe. Pop-up-Konstruktionen erinnern aber auch an poetologische ‚Entfaltungsszenen‘, in denen es um psychische Prozesse, um Imaginationen und Erinnerungen geht.59 Die Überraschungseffekte von Pop-ups, die scheinbare Selbsttätigkeit des Papierkonstrukts (dessen Mechanismus meist verborgen ist), aber auch der Wiederholungscharakter von Pop-up-Bewegungsszenen bieten bei der Papier-Inszenierung von Literatur ebenfalls thematisch anschlussfähige Anknüpfungspunkte. Pop-up-Mechanik. Das Pop-up-Buch hat bewegliche Elemente, aber die Konstruktion, die dies ermöglicht, wird verdeckt. Konstitutiv für die Pop-up-Bucharchitektur sind Passagen, Übergänge, Drehungen. Die Faltungen des Papiers wurden und werden teils inspiriert durch außereuropäische Papierfalttechniken wie z. B. Origami. Zur Herstellung verwendet werden unterschiedliches Papier sowie ähnliche Materialien. (Wichtig sind insbesondere transparente und semitransparente Papiere oder Folien, spiegelnde Flächen sowie andere Materalien mit einer Eigensemantik.) Ähnlichkeiten bestehen zum Genre der Flip Books (Daumenkinos). Neben Klappen und Laschen, wie sie in älteren Formen des ‚beweglichen Buchs‘ bereits zum Einsatz kamen, gestatten es im Pop-up-Buch sogenannte Volvellen der flächigen Konstruktion aus gefalteten Papierelementen, sich in die dritte Dimension zu erheben (dazu u. a. Kat. Ausst. 2010a, S. 4). Vielfach findet sich diese für Pop-ups konstitutive Vorrichtung mit anderen Konstruktionstypen des ‚beweglichen Buchs‘ kombiniert. Während das Kinderbuch des 19. Jahrhunderts vor allem vom Theater beeinflusst worden ist, ist im 20. Jahrhundert die Papierformungs- und Papieringenieurskunst besonders prägend geworden (vgl. Sicard 2010, S. 16). Aber auch Anregungen durch die älteren Typen des ‚beweglichen Buchs‘ wurden wichtig. Die kosmografischen Bücher mit Volvellen waren Tristan Tzara bekannt und er ließ sich von ihnen inspirieren. Pierre-André Benoit, ebenfalls an der Form des beweglichen Buchs interessiert, schuf auf dieser Basis ein Künstlerbuch (Pelachaud 2010, S. 37). Gaëlle Pelachaud betont den für das Pop-upBuch konstitutiven Bedingungszusammenhang zwischen Schnitt und Beweglichkeit:  













59 Die vielleicht berühmteste poetologisch-literarische ‚Entfaltungspassage‘ findet sich in Marcel Prousts Roman À la recherche du temps perdu, und zwar als Bestandteil der Schilderung jener berühmten Erinnerungsepisode, in der das Aroma einer Tasse Tee und der Geschmack eines bestimmten Gebäcks in der Erinnerung des Erzählers unversehens die Welt der eigenen Kindheit wieder auferstehen lassen. Prousts Erzähler beschreibt die „mémoire involontaire“ als einen Prozess der Revokation eines ganzen Kindheitsraumes durch ein so Unscheinbares wie den Geschmack von Tee und „Madeleine“, indem er ihn mit der Entfaltung von japanischen Origami-Papieren vergleicht: Kunstvoll zusammengefaltet, entfalten sich diese, wenn sie mit Wasser in Berührung kommen – und aus ihnen entstehen Miniaturbilder von Gebäuden, Pflanzen, Figuren. Im Bild dieser gefalteten und sich ausfaltenden Objekte spiegelt sich nicht zuletzt Prousts eigener Text; auch das Buch, ihr materieller Träger, lässt eine Welt vor den Augen dessen entstehen, der seine Entfaltung miterlebt.  

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Wo ein Teil des Papiers ausgeschnitten werde, könnten Teile des Bildes separat erscheinen; ‚Bewegung‘ entstehe („La discontinuité crée le mouvement.“ Pelachaud 2010, S. 22). Pop-ups und Papier-Buch-Skulpturen sind Oberflächen, die räumlich geworden sind – oder so tun, als seien da Räume. So, wie im Moment der Ent-Faltung die zweite in die dritte Dimension übergeht, so geht das Nicht-Räumlichsein in Räumlichsein über; das Pop-up situiert sich immer an einer Grenze (ebd., S. 24).  





Zur Geschichte des Pop-ups. Die ersten Bücher, die sich in drei Dimensionen entfalten, stellen noch eine Übergangsform zwischen flächigem Bewegungsbuch und Pop-up dar – so die bei Dean & Son um 1850 erschienene Cinderella als das erste Buch mit aufklappbaren beweglichen Figuren. Die Geschichte des eigentlichen Pop-upBuchs beginnt in den späten 1920er Jahren.60 Ein erstes ‚selbsttätig‘ bewegtes Buch gestaltet Theodore Brown 1929: Beim Wenden der Seiten ‚poppen‘ Bildelemente von selbst auf.61 Ab 1934 werden Bücher dieses Konstruktionstypus als „Bookano Stories“ publiziert, und in den USA wie in Frankreich werden bis zum Zweiten Weltkrieg verschiedene Pop-ups für Kinder entworfen. Kinder bleiben auch in der Nachkriegszeit die Hauptadressaten von Pop-up-Designern. In späteren Jahrzehnten wenden sich auch Künstler dem Format zu; der Rezipientenkreis erweitert sich damit. Papieringenieure wie Bruno Munari, Robert Sabuda und Matthew Reinhart entwerfen Pop-upKonstruktionen und nehmen damit wie mit anderen Arbeiten maßgeblichen Einfluss auf die Geschichte künstlerischen Buchdesigns. Vojtěch Kubašta ist einer der einfallsreichsten und populärsten Pop-up-Produzenten. Seine Bücher erfuhren zahlreiche Auflagen. In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche, teils technisch kompliziertere und ästhetisch eigenwillige Pop-ups entstanden, die mit unterschiedlichen Mechanismen Geschichten erzählen, Informationen vermitteln oder imaginäre Welten darstellen, manchmal aber auch abstrakte Formen inszenieren. Eingesetzt werden in Pop-ups unter anderem auch Klangeffekte: Beim Aufpoppen ertönen Stimmen, Melodien, Alltags- oder Naturgeräusche (zu Architekturen und Materialitäten von Pop-ups vgl. Starost 2005, S. 26–39).  



Darstellung erfundener Welten und Geschichten. Viele Pop-ups erzählen volkstümliche oder literarische Geschichten nach oder präsentieren sich als ‚Spin-offs‘ bekannter literarischer Fabeln. Märchen bilden eine häufig genutzte Textgrundlage für

60 Vgl. u. a. Trebbi 2012. Terminologisch bestehen zwischen den diversen europäischen Sprachen Differenzen: Im Englischen unterscheidet man zwischen ‚movable books‘ und ‚Pop-ups‘ mit Blick auf die Dreidimensionalität der für letztere konstitutiven Falttechniken, während in Frankreich für beide Ausprägungsformen der Begriff ‚livre(s) animé(s)‘ gebräuchlich ist. In Deutschland wird oft generalisierend von Pop-up-Büchern gesprochen, auch wo sich die Beweglichkeit auf Zug- und Klappeffekte beschränkt, ohne dass dreidimensionale Papierskulpturen entstünden. 61 Als Urheber des Ausdrucks „Pop up“ gilt Harold Lentz (der den Terminus wahrscheinlich 1932 einführt), zeitweilig erfolgreicher Verleger von Pop-ups.  

Pop-up-Bücher und Literatur

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Pop-ups – aber auch andere Geschichten.62 Sie werden teils für das jeweils produzierte Buch eigens geschrieben, oder aber aus bereits gedruckten Texten übernommen und auf pop-up-spezifische Weise re-inszeniert, in der Regel in gekürzter Form und auf der Basis verknappender Nacherzählungen. Dies gilt etwa für die pointenreichen Pop-ups von Martin Graf zu Boccaccios Decamerone und Jules Vernes Voyage au centre de la terre (vgl. Trebbi 2012, S. 116). Einen eigenen Pop-up-Inszenierungsstil für Literatur entwickelt Sam Ita, etwa in Moby Dick und 20,000 Leagues Under the Sea.63 Unter den in Pop-up-Büchern inszenierten literarischen Vorlagen findet sich, kaum zufällig, eine ganze Reihe von Episoden aus Carrolls Alice in Wonderland, manchmal gekoppelt mit Elementen aus Through the Looking-Glass. Die skurrilen Erlebnisse der Heldin mit sich verwandelnden Figuren und Szenen (ihre eigenen Verwandlungen inbegriffen) motivieren wohl besonders zur Umsetzung in Buch-Szenerien, die ganz materiell-konkret im Zeichen der Verwandlung stehen (vgl. dazu Schmitz-Emans 2016e). Der heterotopische Charakter von Bewegungsbüchern, zumal von Pop-ups, lässt sich an Szenen um andere Welten, die zugleich die Unter- oder Kehrseite der Alltagswelt sind, offenbar besonders einfallsreich verdeutlichen. Den in dieser Hinsicht repräsentativen NarniaGeschichten von C. S. Lewis hat Robert Sabuda ein Pop-up gewidmet (Sabuda 2007). Die Beweglichkeit der Figuren, Requisiten und Szenerien erscheint als Konkretisierung dichtungs- und imaginationstheoretischer Vorstellungen und Konzepte. Michel Sicard vergleicht die Benutzung von Pop-up-Büchern mit dem Eintritt in einen ‚anderen‘ Raum.64 Er rückt den Raum des Pop-up-Buchs damit zumindest in die Nähe jener Raumkonstrukte, die man seit Foucault „Heterotopien“ nennt. Gemeint sind real existierende Räume innerhalb des alltäglichen Erfahrungsraums, die aber doch anderen Gesetzen unterliegen als letzterer, und die vor allem Gegenstände bzw. Projektionsflächen von Wunschträumen und Fluchtphantasien, oder aber anderer Imaginationen sind. So betrachtet, hat der Raum des Pop-ups mit dem Theater-Raum vieles gemeinsam; beide sind ja zudem Inszenierungsorte von Geschichten, die in ‚anderen Welten‘ spielen – und eben doch auch in unserer, insofern der heterotope Raum vom Alltags 







62 Benjamin Lacombes Il était une fois (Paris 2010; ital.: C’era una volta. Mailand 2010) macht die Affinität des Pop-ups zu Märchenszenen exemplarisch sinnfällig: Es enthält je eine Pop-up-Doppelseite zu Alice in Wonderland, Barbablù (Blaubart), Pinocchio, Dornröschen, Rotkäppchen, Mignolina (Däumelinchen), Madame Butterfly und Peter Pan. 63 Ita 2007; Ita 2008. Itas Bücher enthalten viel Text, vor allem Sprechblasen-Dialoge. Vgl. dazu Wagener 2016. 64 „Le livre animé n’est possible que manipulé comme une amulette, invoqué comme un talisman […]. Plus que de sidérer par sa beauté formelle, iconique, il ouvre un labyrinthe dans lequel on pénètre et duquel on peut facilement ressortir pour le reconstituer ailleurs. Cette fonction d’initiation le fait fluctuer du grand public aux sociétés secrètes, se méfiant toujours des canons de la culture et des rigidités des bibliothèques. Il est un entre, ou un antre, où se refugier et où satisfaire ses passions chimériques, bourrées d’aura et de lointain. Sa fonction essentielle est de s’échapper, de nous faire échapper de l’âpre présent, pour des zones intermédiaires, des friches aérées et flamboyantes qui compensent nos espaces urbains saturés et sombres […]“ (Sicard 2010, S. 19).  

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

raum gerahmt wird. Dominique Moldehn, die in ihrer Studie zu Typen des Künstlerbuchs auch „mobile Bücher“ und „Kinderbücher“ behandelt (sie verwendet diesen Terminus für „Buchwerke, die sich ausdrücklich gegen das in der bildenden Kunst verhängte Berührungsverbot aussprechen und nach spielerischer ‚aktiver Aneignung‘ verlangen“, Moldehn 1996, S. 190), betont die interaktive Dimension des Umgangs mit diesen Büchern – und spricht in diesem Zusammenhang mit einem an die theatrale Praxis erinnernden Begriff von „Handlungsspielräumen“ (ebd.).  



Realistisch gestaltete Pop-ups. Doch auch realistische und zeitgeschichtliche Themen finden sich in Pop-ups gestaltet. So publizierte der rumänische Buchdesigner Ştefan Constantinescu 2008 unter dem Titel The Golden Age for Children ein Pop-upBuch über das Leben im Rumänien seiner Kinderzeit, während der Diktatur Nicolae Ceaușescus.65 Das Buch enthält autobiografische Textabschnitte verschiedener Verfasser, ferner Presse- und Familienfotos, Porträts und Gruppenbilder, sowie andere visuelle Dokumente der dargestellten Jahrzehnte. Kit Laus Pop-up-Buch über typische Orte in Hong Kong hat ebenfalls den Charakter eines Erinnerungsbuchs, da es um mittlerweile gewandelte Schauplätze geht (vgl. Emans 2016). Der Darstellung der wirklichen Welt widmen sich aber insbesondere Pop-ups zu kulturhistorischen und naturkundlichen, technikgeschichtlichen und anderen Sach-Themen, mit denen die (in der Regel jugendlichen) Leser an Wissensbestände spielerisch herangeführt werden sollen. ABC-Pop-ups. Einen mittelbaren Bezug zur Sphäre der Literatur unterhalten auch solche Pop-ups, die dem ABC gewidmet sind und es – als Sonderform des ABCBuchs – in besonderer Weise exponieren. Schon früh wurden dem Alphabet Pop-upKonstruktionen gewidmet. Trebbi nennt in seiner illustrierten Darstellung zur Geschichte des Pop-ups eine Reihe von Beispielen.66 In all diesen Fällen verbindet sich die Darstellung der Buchstaben des Alphabets mit anderen figurativen Darstellungen; es handelt sich um bewegliche Bilderbücher. Den Buchstaben als plastischen Formen gewidmet ist Marion Batailles Pop-up über das Alphabet: ABC3D (2008). Hier poppen auf den Doppelseiten die papierarchitektonisch komplex gestalteten Buchstaben des Alphabets auf sehr abwechslungsreiche Weise auf (Bataille 2008). Manchmal muss man auch zweimal hinsehen, bevor man sie erkennt, das heißt, man muss als Betrachter zunächst einmal das „Lesen“ lernen. ABC3D ist eine Hommage an die Buchstaben als die Elemente aller Texte in allen Sprachräumen, die sich des lateinischen Alphabets bedienen. Es muss evidenterweise nicht übersetzt werden.  



65 Constantinescu 2008. Veröffentlicht wurde das Buch durch das rumänische Kulturinstitut Stockholm in Zusammenarbeit mit zwei schwedischen Verlagen; vgl. Constantinescu online. 66 Dazu gehören The Daily Express ABC. London um 1930; Multiplan Alphabet, ABC. Frankreich um 1950; Zagula, Jo: ABC. Mulhouse um 1950; Lucie Attwells ABC Pop-up-Book. London 1979, sowie Robert Crowthers The Most Amazing Hide-an-Seek Alphabet Book. New York 1977.

Pop-up-Bücher und Literatur

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Meta-Pop-ups. Die Pop-up-Buchgestaltung bezieht unter anderem Impulse aus der Tradition der japanischen Papierfaltkunst (Origami). In Meta-Pop-ups wie dem Buchwerk Popigami wird daran erinnert. In die Pop-up-Konstruktionen sind hier verschiedene Origami-Objekte eingebaut.67 Ein Meta-Pop-up-Buch, das unter anderem die Beweglichkeit des Pop-ups und ihre Bedingungen transparent macht, ist The Elements of Pop-Up von David A. Carter und James Diaz, das die Schneide- und Falttechniken des Pop-ups erläutert und zugleich selbst sinnfällig macht, seinen eigenen Gegenstand zugleich an Beispielen inszeniert und kommentiert (Carter/Diaz 1999). Diese Einführung in die Formensprache des Pop-ups kann nicht nur praktisch genutzt werden (als Anleitung), sie schärft auch die Aufmerksamkeit für das Funktionieren einschlägiger Papierkonstruktionen. Pop-up-Poetik(en) (a): Das Leben von Papiergestalten. Für die Idee einer spezifischen Poetik des Pop-ups spricht unter anderem der Umstand, dass in literarischen Texten Prozesse des ‚Aufpoppens‘ von Figuren beschrieben worden sind, um die Idee eines lebendigen Textgeschehens zu umschreiben. So antizipiert E. T. A. Hoffmann in Klein Zaches die Wirkung eines Buchs, das beim Aufblättern zweidimensionale Figuren zu räumlichen und vitalen Gestalten werden lässt. Die Szene, in der der Magier Prosper Alpanus Figürchen aus einem Buch ganz buchstäblich aufstehen lässt, beschreibt modellhaft das Wirken der Imagination, für die Lebloses ‚lebendig‘ wird (Hoffmann 1967, S. 55). Sind es bei Hoffmann an anderer Stelle Gemälde, welche vor den Augen des Betrachters lebendig werden und womöglich sogar ihren Rahmen verlassen, so fungiert hier das Buch als Substrat, und es sind die flachen Seiten des Buchs, aus denen der Raum des Imaginären hervorgeht. Noch gibt es das Pop-up-Buch gar nicht, als Hoffmann die Aktivitäten der aus Buchseiten hervorsteigenden Buchgeschöpfe beschreibt, und die große Zeit des Bewegungsbuchs wird auch erst im späteren 19. Jahrhundert anbrechen, obgleich es bereits Bewegungsbücher gibt. Insbesondere aber gibt es bereits das Papiertheater als eine künstlerische Praxis, bei der Stücke mittels papierner Figuren nach Skripten inszeniert werden – und insofern also Spiel- und Aktionsräume aus Papier zur ‚Verlebendigung‘ von Texten führen. Literarische Texte über Papier-Figuren, die lebendig werden, können als selbstreferenzielle Texte verstanden werden, insofern sie den Topos vom Leben bzw. vom Eigen-Leben literarischer Geschöpfe mit der Vorstellung des Papiers als des materiellen Textträgers verbinden und ‚lebendige‘ Wesen oder Szenen entsprechend als Papier-Wesen oder Papier-Szenen beschreiben. Figuren ‚aus Papier‘ finden sich unter anderem bei Salvador Plascencia (The People of Paper) und Ken Liu (The Paper Menagerie) beschrieben – in beiden Fällen integriert in Erzählungen, die im Zeichen der Reflexion über Autorschaft stehen.  











67 Vgl. dazu: Diaz/Diaz 2007. Die aufpoppenden Doppelseiten des Buchs enthalten diverse Pop-upElemente und verweisen insgesamt durch Text- und Bildanteile auf die Praxis der Papiergestaltung.

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Pop-up-Poetik(en) (b): Überraschungseffekte. Pop-up Bücher bieten mit jedem Umblättern ein neues Szenario, das sich ohne Zutun vor den Augen des Betrachters aufklappt und entfaltet. Insofern sind gerade sie Medien der Überraschung: Was sich da tut, basiert auf unvorhergesehenen Entfaltungen flacher Papierkonstruktionen, aus denen zunächst Verdecktes hervortritt. Ein besonders gern in Pop-up-Form inszenierter literarischer Text ist wohl gerade darum Carrolls Alice in Wonderland (vgl. E 1.4), eine Geschichte, die in stilistisch und konzeptionell verschiedenen Pop-up-Varianten vorliegt. Unterstrichen wird dabei etwas, das für die erzählte Geschichte bereits prägend ist: Alice durchläuft eine Welt, in der sich ständige Verwandlungen vollziehen, tritt nach und nach in verschiedene Räume ein – und wird von beidem (von Szenenwechseln und Verwandlungen) wiederholt überrascht. Im Pop-up können sich diese Überraschungsmomente materialisieren: die plötzlichen – halb faszinierenden, halb beklemmenden – Verwandlungen des Raumes, seiner Bewohner und der Besucherin Alice selbst. Wie die Alice-Welt, so können die Räume des Pop-ups als heterotope Räume beschrieben werden: Einerseits unterliegen sie den Gesetzen der vertrauten Welt und ihrer (Papier-)Mechanik, andererseits scheinen sich bei ihrer Benutzung grundlegend ‚andere Räume‘ zu öffnen.  





Pop-up-Poetik(en) (c): Materialisierte Metaphern. Zentralmotiv in Edgar Allan Poes Ballade The Raven ist der titelgebende Rabe selbst – ein Rabe, der zum Erzähler spricht – oder doch zu sprechen scheint; das ganze vom Text evozierte Geschehen spielt sich in einer halluzinatorisch wirkenden Dimension des Erlebens ab. Ein Popup zu The Raven von David Pelham (Design) und Christopher Wormell (Illustrationen), das wiederum den kompletten Text enthält, visualisiert durch seine Bilder das düster-gothische Setting der Ballade, die von der nächtlichen Begegnung mit einem ‚nächtlichen‘ Vogel handelt und erinnert durch seine Formen an die hochgradig kalkulierte Struktur des Textes (The Raven. Edgar Allan Poe, New York 2016): Wie dieser akzentuiert das Buch symmetrische Formen; seine Papierkonstruktionen sind durch eine Dominanz symmetrischer Motive charakterisiert. Zweimal öffnet sich mit der jeweiligen Doppelseite zugleich das Flügelpaar des genau in deren Mitte platzierten Papier-Raben – wie um dessen halluzinatorische Erscheinung mit den sprichwörtlichen ‚Flügeln‘ der Einbildungskraft in Beziehung zu setzen. Plastisch visualisiert werden ferner Übergänge: Eine Tür und ein Fenster öffnen sich; ins Bild gesetzt finden sich ferner Papiere, die sich ausbreiten und entfalten: im Zimmer des Protagonisten, wo sie ihn als einen Homme de lettres charakterisieren – und in seiner Hand, wo sie sich rund um die Silhouette seiner toten Geliebten entfalten. Entfaltung, Ausbreitung, Grenzüberschreitung: Diese für Poes Poetik der Imagination zentralen Stichworte werden durch die Papierkonstruktionen auf eine so greifbare Weise materialisiert, dass die latente Metaphorizität von materiellen (hier: papiernen) Formen ins Augen springt wie der Rabe. Die für Poes Ballade prägende Spannung zwischen Schwarz und Weiß findet in der Papierkonstruktion ihr Pendant; mit Farben wird hier spärlich verfahren, die Szenerien sind dunkel und von Grautönen bestimmt. Und der Vergleich des fla 







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chen Buch-Covers, das ein gothisches Schloss als Schauplatz der Szenen zeigt, mit der dreidimensionalen Papierkonstruktion des letzten Pop-ups, das demselben Motiv gewidmet ist, macht durch die Motivwiederholung die Verwandlung einer Fläche in einen Raum sinnfällig. Dass der komplette Balladen-Text abschnittweise im Pop-up enthalten ist, unterstreicht die Genese der gothischen Balladenwelt aus der Welt der Texte. Pop-up-Poetik(en) (d): Fragiles, Geflügeltes. Pop-ups sind als Papierkonstruktionen fragil, und vielleicht bedingt dies eine spezifische Affinität zu Bildern des Flüchtigen, Transitorischen. So wie man in viele Papierkonstruktionen nicht hineingreifen sollte, um sie nicht zu beschädigen, so halten die von Pop-ups visualisierten und inszenierten Szenen und Impressionen den Rezipienten manchmal auf Distanz. Versuche, die Mechanik zu enthüllen, können zu ähnlichen Zerstörungseffekten führen wie Versuche einer Analyse der Mechaniken von Imagination und Traum. Die Fragilität von Flügeln und von gefaltetem Papier verbindet diese über ihre symmetrische Form hinaus, und dass Papieringenieure gern Flügel und geflügelte Wesen darstellen, deutet darauf hin. Nick Bantocks Pop-up Wings (New York 1990) ist Dingen gewidmet, die fliegen (Tieren und technischen Konstruktionen); vielleicht ist die Themenwahl auch ein Indikator für ein autoreferenzielles Interesse des Pop-ups an Symmetrischem. Materialisierungen einer Poetik des Pop-ups. In verschiedener Hinsicht weisen Pop-up-Konstruktionen also Anschlussstellen zu poetologischen Fragen, Themen und Konzepten auf: durch die zitathaft-spielerische Umsetzung der Idee ‚lebendiger‘ Buchgeschöpfe und Buchszenen, in ihrer Eigenschaft als Konstruktionen heterotopischer Räume, durch ihre Affinität zu Überraschung und Verwandlung, zu Verfremdung und Befremden. Insgesamt lassen sie sich nicht nur zur Inszenierung bzw. Visualisierung literarischer Stoffe, Motive, Geschichten und Imaginationen einsetzen; sie machen zudem sinnfällig, dass Buchmaterielles durch seine Form, seine Positionierung und seine Mechanik zur Metapher werden kann. Ausgehend vom Vorstellungsbild, das aus den flachen Seiten eines Buchs in eine dreidimensionale bewegliche Wirklichkeit eintritt, lassen sich vielfältige Modi der Reflexion über Buch und ‚Buch‘, Buchmaterie und Literatur mit buchgestalterischen Mitteln inszenieren. Das ‚Modell Pop-up‘ lässt dabei unterschiedliche Akzentuierungen zu. Manche Beispiele illustrieren, dass die Buch-Belebungs-Phantasien des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein nachwirken. Su Blackwell hat Papierskulpturen konstruiert, die sich auf literarische Texte beziehen – u. a. auf Carrolls Alice-Geschichte, auf Texte von Italo Calvino, auf Märchentexte etc. (vgl. Blackwell 2010). Filigran und hochkomplex, präsentieren sich diese Papierskulpturen als Gebilde, die in einem ganz konkreten Sinn aus Büchern stammen: Das verwendete Papier sind die bedruckten Buchseiten der Texte, die hier inszeniert werden. Die Skulpturen erinnern an Pop-up-Architekturen, da sie auf Buchblöcken bzw. ausgeklappten Buchseiten montiert sind – und schon durch ihre papierne Gestalt aus diesen herauszusteigen scheinen. Doch sie enthalten  







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keine Bewegungsmechanismen; werden sie nicht allenfalls vom Luftzug bewegt, bleiben sie starr. Gerade dies aber erinnert an die märchenhafte Erstarrung rund um Dornröschen, also an ein typisches Märchenmotiv um Belebtes und Totes: Eigentlich, so die Suggestion, müssten sich die Papierfiguren bewegen. In seinem Textbuch zum Film Prospero’s Books (Greenaway 1991) entwirft Peter Greenaway Szenen, in denen Herzog Prospero die Geschöpfe und Szenerien einer von ihm geschaffenen Welt aus Büchern heraussteigen und lebendig werden lässt – Prospero als eine programmatische Dichterfigur, mittels derer Shakespeare am Ende seines dramatischen Schaffens die dichterische Arbeit auf komplexe und mehrdeutige Weise bespiegelt. Zwar ist das Film-Buch Greenaways in seinem Film Prospero’s Books nicht völlig getreu umgesetzt worden, aber auch im Film wird gezeigt, wie Bücher Räume bilden, in denen Figuren agieren respektive aus denen sie heraustreten. Die aus dem Buch kommenden, vom Buch ins Leben entlassenen, zum Buch aber zeitlebens gehörenden Figuren sind zugleich Geschöpfe und Partner des Dichters, der sein Welttheater als ein Papiertheater betreibt. In dieser Eigenschaft verweisen sie unter anderem auf die Spannung zwischen allmächtiger Phantasie und der Bindung ans Materielle, Kontingente.  

„Paper poetry“: Ein Papierweg in die Sphäre der Poesie. David Pelhams Trail präsentiert sich selbst als „Paper poetry“ (vgl. den Covertext, Pelham 2007); die mehrdeutige Genrebezeichnung deutet an, dass hier ‚Poetisches‘ aus Papier produziert wurde, dass die „Poesie des Papiers“ erkundet werden kann – und dass sich Papieringenieurskunst mit Text-Kunst (poetry) verbindet. Denn Trail ist (auch) ein Gedichtbuch, die Inszenierung eines Gedichts. Ein zentrales und mehrfach variiertes Strukturelement des Buchs ist die Spirale, die schon auf dem Cover auftaucht, von dunkelweißen Spuren auf hartweißem Untergrund gezogen – mehrdeutigen Spuren, die als Klebstoffspuren, aber auch als Schneckenspuren gelesen werden können, je nachdem, ob man Trail als Papierarchitektur oder als Garten wahrnimmt. Wenn beim Umblättern Gartenstücke aufpoppen, so finden sich hier auch andere Spuren: von Tierpfoten und von Vogelkrallen. Spuren verweisen auf Vorgänge, die nicht mehr präsent sind, auf Vergangenes; Bücher über ‚Spuren‘ thematisieren Zeitlichkeit und Abwesenheit. Das Weiß der Blumen- und Garten-Stücke unterstreicht diesen Abwesenheits-Effekt: Es ist, als habe sich eine einst bunte Gartenwelt entfärbt und als seien nur Reste von ihr zurückgeblieben. Eine Papier-Welt als Spur und Surrogat farbiger Welten – in diesem Konzept bespiegelt sich das Buch. Und so ist es in mehrfachem Sinn ein Spiegel-Buch, denn auch ganz konkret enthält es einen Spiegel: Die letzte Gartenszene bietet eine aus spiegelnder Folie gebildete Teichlandschaft. Diese ist bucharchitektonisch sogar etwas tiefer gelegt; die rechte Hälfte der letzten Doppelseite erhebt sich über einer schachtelartigen Konstruktion, und die vertiefte Lage der Spiegelfläche erzeugt hier einen ausgeprägt räumlichen Effekt der sich spiegelnden Pop-up-Konstruktion an ihrem Rand. Und die Spiegelbilder von zwei oben weißen Papierfigurationen überraschen den Leser noch einmal: eine gespiegelte Blume ist lila, ein gespiegelter Strauch  





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grün. Jenseits der Oberfläche des Sichtbaren existiert – so suggeriert der Einfall – eine farbige Welt, die wir aber nur im Spiegel des Buches sehen. Beim Drehen an spiraligen Scheiben, die gleichsam in den Untergrund der Papierlandschaften eingelassen sind, erscheint jeweils ein Text, aber niemals als ganzer, sondern ausschnittweise in einem in den ‚Gartenboden‘ eingeschnittenen Fenster. Die Gedicht-Phasen ziehen also am Leser vorbei – als Endlostext, der damit die Zeitlosigkeit der Poesie zu suggerieren scheint, eine Zeitlosigkeit, die auf einer eigentümlichen Präsenz beruht. Trail ist in mehr als einer Hinsicht ein selbstreferenzielles Buch: Als eine Art magischer Garten gestaltet, macht es erstens die Metaphorik vom Buch als Garten oder Landschaft sinnfällig. Zudem wird zweitens aber auch auf das für Bücher qua Objekte wichtigste Material und seine Gestaltungsoptionen verwiesen: Trail ist eine Hommage an das weiße Papier als die Basissubstanz der Buch-Landschaft. Darauf, dass es sich um ein Material handelt, das bei der Buchgestaltung konkreten Bearbeitungsprozessen unterworfen wird, verweisen metonymisch die artifiziell hergestellten Klebespuren im Buch.  





Die Erkundung neuer Dimensionen der Welt als Projekt poetischer Imagination: Samuel Taylor Coleridges Kubla Khan in Nick Bantocks Pop-up. Samuel Taylor Coleridges angeblich von einer Rauschvision stimuliertes Poem Kubla Khan (1798) entwirft visionäre Szenerien einer exotisch-paradiesischen Welt, rund um ein phantastisches Schloss des sagenhaften Herrschers. Zentrales Thema ist die Imagination, welche auf eine totalisierende Erfahrung der Welt zielt, sich dabei aber stets mit Zeitlichkeit und Kontingenz auseinandersetzen muss. Die dichterische Phantasie ist durch das kreative Vermögen charakterisiert, vertraute Dinge neuartig darzustellen und so in neuem Licht erscheinen zu lassen. Coleridges Affinität zu mystisch-magischen und exotistischen Vorstellungsbildern kommt Nick Bantocks Geschmack als Buchdesigner entgegen (Bantock 1994). Bantocks Inszenierung von Coleridges Poem auf sechs Doppelseiten eines Pop-up-Buchs bietet keine Nacherzählung der Ballade, greift aber diverse Motive des Textes auf. Verwendet werden unterschiedliche Bildprogramme und Materialien, deren Zusammenführung als Anspielungen auf die synthetische Kraft der Imagination interpretiert werden kann; zumal da es sich bei den Bildelementen um teils stark heterogene Motive in unkonventioneller Positionierung und Proportionierung handelt. Neben den Überraschungs- und Irritationseffekten der seltsamen Pop-up-Skulpturen, die das Reich Kubla Khans repräsentieren, bieten auch kleinere Konstruktionen innerhalb der Seitenarchitekturen Anlass zu Entdeckungen: Ein Objekt, zwischen (zeigerloser) Uhr und Himmelskarte changierend, lässt sich separat aufklappen, woraufhin ein hybrides Flugtier seine Flügel spreizt, und auf der letzten Seite erhebt sich durch das Ziehen an einem Knopf mit Löwenkopf ein Raum ‚unterhalb‘ der spiralig zugeschnittenen Seite. Ein geheimer Raum tut sich auf, mit dem sich das Prinzip der Transformation von der zweiten in die dritte Dimension nochmals potenzierend wiederholt. Die Motive des Buchs (das neben den Bildelementen den Text Coleridges abschnittweise bietet) folgen einander wie die Bilder eines

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Traums, nicht unverbunden, aber doch im Zeichen einer anderen, traumhaften Logik – und ähnlich einer Reise in ein rätselhaftes, unverständliches Land. Jede Doppelseite versetzt den Betrachter in einen neuen visionären Raum; gleichwohl deuten verschiedene Bildmotive eine unterschwellige Verknüpfung an, so insbesondere das dreimal prägnant verwendete Motiv der Maske sowie das der topografischen Darstellung. Die Szenarien sind eher dunkel gehalten, von hellen Farbelementen unterbrochen. Leitend ist insgesamt das Konzept einer Imagination (auch ganz konkret: einer Produktionsinstanz von Bildern), die mit Materialien aus der Erfahrungswelt verfremdend und hybridisierend arbeitet (hier, wie oft bei Bantock, auch mit recyceltem Material) und so Erfahrungen mit neuen Räumen ermöglicht, die sie letztlich selbst konstituiert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Bantock für sein Pop-up zwar keine ungewöhnlichen papierarchitektonischen Mittel benutzt, dafür aber das besonders klar heraushebt, was die geläufigen Mechanismen zur Darstellung transgressiver und visionärer Träume disponiert. Er zeigt, zugespitzt gesagt, was das Betrachten von Popups mit Träumen gemeinsam hat.  

Die Präsenz einer Traum-Realität in der Alltagswelt. Charles Dickens’ Traum-Geschichte A Christmas Carol und ihre Inszenierung im Pop-up von Chuck Fischer und Bruce Foster. Charles Dickens’ A Christmas Carol (1843) ist eine Geistergeschichte: Die drei Weihnachts-Geister der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft suchen den Geizhals Ebenezer Scrooge auf, nachdem diesem zuvor das Gespenst seines toten Kompagnons Marley erschienen ist, und sie führen ihm sein eigenes Leben vor Augen: seine verlorene Kindheit, seine triste Gegenwart und seine noch tristere Zukunft als Toter, um den wegen seiner Menschenfeindlichkeit niemand trauern wird. Die Begegnung mit den Geistern ist traumhaft-visionär, und sie steht im Zeichen der Steigerung, kulminierend in einer imaginär vorweggenommenen Szene an Scrooges Grab. In einem Pop-up-Buch von Chuck Fischer (Bilder) und Bruce Foster (Papierkonstruktion) findet sich Dickens’ Traum-Geschichte auf sechs Doppelseiten inszeniert (Fischer/Foster 2010). Nach der Präsentation von Scrooges Wohnviertel (Doppelseite 1) erscheinen auf den folgenden Doppelseiten nacheinander Marleys Geist und die drei Weihnachtsgeister. Die für Gespenster typische Plötzlichkeit des Erscheinens lässt sich mit Pop-up-Mitteln gut inszenieren; der Überraschungseffekt von Pop-upPapierskulpturen passt gut zum Charakter von Geistern, die als Boten einer anderen Welt in die Alltagssphäre einbrechen. Insofern kommt der Dickens’sche Stoff dem Format Pop-up ohnehin entgegen. Die Dramaturgie verstärkt solch latente Affinitäten noch: Wirkt der erste der drei freundlich und auch der zweite kaum beängstigend, so ist der Geist der Zukunft eine verhüllte Schreckensgestalt. Die letzte Seite stellt das gute Ende des geläuterten Scrooge dar. Der Steigerungseffekt der Serie von GeisterErscheinungen wird durch einen so schlichten wie raffinierten bucharchitektonischen Einfall unterstrichen: Die Geister werden immer größer. Während sich der erste, mit der Kindheit verbundene Geist durch den Buchrahmen domestizieren lässt, der zweite schon raumgreifender die ganze Szenerie dominiert, wirkt der dritte durch seine (rela-

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tive) Riesenhaftigkeit bedrohlich, zumal seine knochige Hand auf den Buchbenutzer selbst zu deuten scheint. Diese Idee eines tua res agitur entspricht ja auch durchaus der Moral der Dickens-Geschichte. Die Memento-mori-Mahnung des dritten Geistes, durch eine Geste prägnant inszeniert, betrifft auch den Leser. Dass Papp-Hände dann aber doch weniger bedrohlich wirken als echte Gespensterhände, entspricht dem humoristischen und versöhnlichen Grundzug von Dickens’ Geschichte. Der komplette Dickens-Text ist ins Pop-up integriert – und zwar abschnittweise in Form von Heftchen, welche in die Doppelseiten der Pop-up-Konstruktionen jeweils an der passenden Stelle eingefügt sind. Die Mini-Bücher suggerieren eine Leseszene, deren Raum den des Pop-ups umgibt und zu dem wir selbst gehören. Die Buch-im-Buch-Architektur ist nicht nur eine Hommage an Dickens und seinen Text, sondern wirkt zudem wie die Umsetzung des Einfalls, die ganze Pop-up-Welt sei (was sie konkret ja auch ist) aus Büchern hervorgegangen.  

Ein bewegliches Buch über das Lesen: Daniel Pennacs und Gérard Lo Monacos Les dix droits du lecteur (2012). Die Papierkonstruktion mit ihrer Kombination von Leporello- und Pop-up-Elementen bietet die ‚Inszenierung‘ eines Textes von Pennac. Dieser hat diverse Rechte des Lesers formuliert, die das Lesen zu einem ästhetischen Erlebnis ohne Leistungs- und Erfolgszwänge machen sollen. Gerade weil das Lesen nicht als notwendig, nicht als reguliert, nicht als zweckorientiert begriffen wird, weckt (so die Kalkulation) die Deklaration der Leserrechte Lust am Lesen. Die Papierkonstruktionen kommentieren die einzelnen Rechte in einfachen, lakonischen, aber einfallsreichen Bildern. Alle Leser-Rechte werden mit Figuren und Szenen kombiniert, welche anstelle jeglicher Art von Zwang oder Eintönigkeit jeweils Abenteuer, Abwechslung und Experimente assoziieren lassen. So verbindet sich „4. Le droit de relire“ (Das Recht aufs Wiederlesen) mit einer Abenteuerszene, einem Reiter auf einem Elefanten bei der Tigerjagd; „5. Le droit de lire n’importe quoi“ (Das Recht, alles Mögliche zu lesen) wird von einem (Papier-)Theater mit Figurinen illustriert etc. Alle Papierkonstruktionen signalisieren Begegnungen mit Ungewohntem und Überraschendem, visualisieren Reisen und Abenteuer; sie illustrieren und demonstrieren räumliche Verwandlungen und Grenzüberschreitungen. Die Serie von Spielszenen korrespondiert dem Text Pennacs, der für Formen der spielerischen Lektüre plädiert. Das Lesen selbst erscheint als ludistische Tätigkeit, und es werden ja auch nicht ‚Regeln des Lesens‘ aufgestellt, sondern „Rechte des Lesers“ proklamiert. MSE

Postkartenbücher Postkarten entwickeln sich in den 1870er Jahren als „Produkt des fortschreitenden bürgerlich-industriellen Zeitalter[s]“ (Holzheid 2011, S. 44) rasant zu einem populären Massenmedium (zur (Kultur)Geschichte der Postkarte siehe z. B. Hille 1988). Insbeson 



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dere die Epoche um 1900 kann als ‚goldenes Zeitalter‘ europäischer Postkartenkommunikation bezeichnet werden (vgl. Willoughby 1993), und es entsteht eine Vielzahl von Gestaltungsformen künstlerischer Bildpostkarten (vgl. Hedinger 1992), die sich auch als Sammelobjekte umfassender Beliebtheit erfreuen. Experimentiert wird mit ganz unterschiedlichen Darstellungsformen, wobei die Fotopostkarte nur eine Möglichkeit ist, um die Bildseite der Postkarte zu illustrieren. Auch Zeichnungen und Ausschnitte aus großformatigen Kunstwerken sind oft vertreten. Darüber hinaus regen Form und Material der Postkarte zum Variieren an, sodass beispielsweise mit ledernen oder mit Stoff bespannten Karten experimentiert wird, sowie runde oder großformatige Karten hergestellt werden. Insbesondere die künstlerische Avantgarde und der Dadaismus (vgl. Schulenburg 2013a) nutzen Postkarten als Gestaltungselemente in vielschichtigen Kunstwerken, wie z. B. der Collage. Darüber hinaus hat sich seit den 1950er Jahren eine künstlerische Bewegung entwickelt, die unter dem Stichwort ‚Mail Art‘ häufig Postkarten mit politisch kritischen Botschaften entwirft (siehe dazu Crane/ Stofflet 1984; Held 1991). Als Initiator des künstlerischen Aktions-Netzwerkes, das per Post in Umlauf gebracht wurde, gilt der Fluxus-Künstler Ray Johnson. Mit den repressiven politischen Entwicklungen und Systemen der 1970er und 80er Jahre erlebt ‚Mail Art‘ ihren Höhepunkt, besonders in der DDR und den Staaten Südamerikas (vgl. Schulenburg 2013b sowie ferner Dittert 2010). Zudem entwickelt Joseph Beuys gemeinsam mit seinem Herausgeber Klaus Staeck ab den 1960er Jahren über hundert Postkarten-Multiples, unter denen die Holzpostkarte eine erwähnenswerte Besonderheit ist, da mit der Beständigkeit des Materials Holz gemeinhin ganz andere Eigenschaften assoziiert werden als mit der Postkarte als flüchtigem Medium. So gibt es immer wieder bedeutende Berührungspunkte zwischen bildender Kunst, Postkarten und Erinnerungskultur, bezogen auf das dialektische Verhältnis von Fiktion und Dokument, so z. B. durch Marcel Broodthaers, zu dessen fiktivem Museum es vierzig begleitende Postkarten gibt, die keine konkreten Kunstwerke, sondern „Stellvertreter von Werken“ (Belting 1998, S. 475) sind.  





Postkarten-Alben. Häufig werden die Sammlungen von Postkarten in Alben organisiert, die dem Postkartenbuch als private Organisationsform bzw. als „Ordnungsraum“ vorausgehen (vgl. Tropper 2014; zu Konzepten und Formen des Albums siehe: Kramer/Pelz 2013a sowie Teil D, Art. „Album und Scrapbook“). Dass sich auch viele Schriftsteller für Postkarten begeistern und diese nicht nur dafür nutzen, privat zu kommunizieren, sondern sie in ihre kreative Arbeit einbinden, ist ein anhaltendes Phänomen: Auch im digitalen Zeitalter ist der medienästhetisch nostalgische Reiz haptisch erfahrbarer Postkarten für literarische Verflechtungen von Text- und Bilderzählungen ein Bereich ästhetischer Innovationen. Einer der ersten Schriftsteller, der sich zeitlebens mit Postkarten beschäftigt hat, ist der Österreicher Peter Altenberg (1859–1919), bürgerlich Richard Engländer, der ein großer Sammler von Ansichtskarten gewesen ist. Zwischen 1915 und 1918 entstanden (mindestens) acht von ihm konzipierte Alben, die Titel tragen wie Semmering 1912, Venedig 1913, Das Kriegs-Album

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1915; darüber hinaus existieren auch unbetitelte Alben (Lensing 2013, S. 297). So nennt Leo A. Lensing Semmering 1912 ein „unkonventionelles Bildwerk“, das in enger Verbindung zu einem gleichnamigen Skizzenbuch des Schriftstellers stehe, sodass sich eine enge konzeptionelle Verbindung zwischen Altenbergs schriftstellerischer Tätigkeit und den Postkartenalben herstellen lässt (zu den Alben Altenbergs siehe neben den Schriften von Leo A. Lensing auch Dick 2009). Zur Jahrhundertwende erlebt auch die französische ‚carte postale‘ einen ungeheuren Aufschwung und wird in den darauffolgenden Jahrzehnten zum Gegenstand der Sammelleidenschaft des Dichters Paul Éluard (1895–1952). Éluard arrangierte die von ihm favorisierten Bildpostkarten in mehreren Alben, deren Seiten thematisch organisiert sind, wobei Darstellungen von Frauen – oder besser: Typen von Weiblichkeit – häufig im Mittelpunkt stehen.  





Abb. D 2: Paul Éluard: Les plus belles cartes postales (1933). In: Prochaska, David/Mendelson, Jordana: Postcards. Pennsylvania 2010.  

1933 veröffentlichte Éluard in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure einen berühmt gewordenen Essay mit dem Titel Les plus belles cartes postales (Éluard 2010; hier findet sich auch eine englische Übersetzung des Textes sowie eine Einleitung von Elizabeth B. Heuer), in dem er der mit seiner Vorliebe für Postkarten verbundenen Leidenschaft nachspürt und darüber reflektiert, welche Arten von Karten ihn besonders ansprechen und thematisch interessieren. Sowohl Altenberg als auch Éluard legen mit ihren Alben ästhetische Sammlungen in Buchform an (vgl. Sommer 2014), in denen beinahe ausschließlich die Bildseite der Postkarten von Interesse ist. Doch Postkarten haben nicht nur in Gestalt von Sammelalben Eingang in verschiedene Formen des Mediums Buch gefunden, wobei an dieser Stelle nur solche Postkartenbücher Erwähnung finden können, die sich als narrative Kunstform zwischen Bild und Text verstehen. Ausgenommen also sind solche Publikationen, die über (und

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nicht mit oder durch) Postkarten-Kunst berichten, ganz gleich ob es dabei um die Postkarten der Wiener Werkstätte oder die Postkarten-Kunst On Kawaras geht.68 Bildkünstlerische Postkartenbücher. Es können zunächst zwei Arten von Postkartenbüchern unterschieden werden, die sich durch unterschiedliche Fokussierungen auszeichnen: In bildkünstlerischen Postkartenbüchern liegt das dominierende Interesse auf der Bildseite der ausgewählten Karten, dennoch ist ihnen, meist in Form kurzer Bildunterschriften oder auch durch Randnotizen oder Titelfindungen, Schrift beigegeben. Ein Beispiel: Die Künstlerin Rebecca Horn versammelt in all these black days – between (Horn 2001) Postkarten, die sie gesammelt und ‚bearbeitet‘ hat, denen in den meisten Fällen ein kurzer Text gegenübersteht, und von denen zahlreiche Karten auch auf der Bildseite von der Künstlerin mit Schrift versehen wurden. Adressiert und verschickt wurden die Karten auch, und zwar an ihren Freund Timothy Baum sowie an weitere Weggefährten Horns. Die hier versammelten Karten sind, so Alexandra Tacke, mediale „Einbahnstraßen“ (Tacke 2011, S. 229), denn auf Postkarten antwortet man – im Gegensatz zum Brief oder zur Mail – meist nicht und so hat die Nachrichtenfunktion einer Karte vor allem auch einen Zeigewert, ist Zeichen und Symbol und verdeutlicht dem Empfänger, dass an ihn gedacht wurde. Tacke verortet Horns Postkarten, die sie auch als ready mades bezeichnet, in der Tradition surrealistischer und dadaistischer Künstler und beobachtet ähnliche Verfremdungseffekte, für die Horn die meist historischen Karten als Material nutzt. Insbesondere durch die den Karten zugehörigen Texte findet aber ein Prozess der Aneignung und der Individualisierung statt, denn das Bild der Karte und die Sprachbotschaft Horns gehen eine Verbindung ein, die die Lesart der Karte in eine bestimmte Richtung lenkt. Horns Postkartenbuch ist demnach nicht nur Künstlerbuch, sondern auch ein biografisches Dokument, das mit der Frage in Verbindung gebracht werden sollte, wovon die Texte und Bilder erzählen, wenn man sie chronologisch liest und die hier gewählte Reihenfolge nutzt, um einen Sinnzusammenhang zwischen den ausgewählten Collagen herzustellen. Wie unterschiedlich bildkünstlerische Postkartenbücher gestaltet sein können, kann im Folgenden nur kurz skizziert werden: Mit dem Begriff des ‚Assembling‘ ist im Kontext von ‚Mail Art‘ die Anlage einer konkreten Postkartensammlung in Form eines Albums, einer Mappe oder eines Buches gemeint, in der gezielt ausgewählte Künstlerpostkarten (und bestimmte Beigaben) angeordnet werden können.69 Von der Dänin Stine Stregen stammt das Postkartenbuch kærestesorg. Postkortdigte (Stregen 2016).  







68 Eine Übersicht zu Künstlerpostkarten neueren Datums bietet die Zusammenstellung Cooper 2015. 69 Schulenburg 2013c, S. 50. Assembling lässt sich als stärker koordinierte und klar strukturierte Form der Mail Art Kunst verstehen. Die Initiatoren legen dabei einen bestimmten Kreis von Empfängern/Sendern der Postkarten fest, die gestaltet, verschickt, erhalten und in den dafür vorgesehenen Alben oder Kladden gesammelt werden sollen, sodass sich schließlich eine lose, aber dennoch formal geplante Zusammenstellung ergibt.  

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Abb. D 3: Stine Stregen: kærestesorg. Postkortdigte. Kopenhagen 2016.  

Erzählt wird eine Geschichte von Liebeskummer und gebrochenem Herzen anhand großformatiger Postkarten (aus stabiler Pappe), die chronologisch ‚gelesen‘ werden können, da die Karten per Klebebindung zusammengehalten werden. Die Schriftseite der Karten ist frei gelassen worden, sodass diese noch beschrieben werden könnten, wodurch der Rezipient womöglich selbst zum Verfassen einer eigenen Parallelgeschichte aufgefordert wird. Zu dieser Form von Postkartenbüchern, die dazu animieren möchten, selbst schreibend und gestalterisch aktiv zu werden und die im Buch zusammengeführten Postkarten zu beschriften und/oder zu verschicken gehört auch Keri Smiths Everything is Connected. Reimagining the World one Postcard at a Time (Smith, Keri 2013b).

Abb. D 4: Keri Smith: Everything is Connected. Reimagining the World one Postcard at a Time. London 2013.  

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Dieses interaktive Postkartenbuch ist im Grunde erst dann ‚fertig‘, wenn der Rezipient allen Handlungsanweisungen, die auf den Postkarten enthalten sind, gefolgt ist, und das Buch keine Postkarten mehr enthält bzw. sich das Postkartenbuch durch die Mitwirkung eines aktiven Rezipienten in seine Einzelteile, die Postkarten, zergliedert hat, wodurch es wieder zur ursprünglich ‚losen‘ Gestalt der Postkarte als Kommunikationsmedium zurückführt. Die Buchform ist hier also nur eine vorläufige. Schriftbasierte Postkartenbücher. Zweitens handelt es sich um schriftbasierte Postkartenbücher, die in verschiedenen Erzählformen in den Dialog mit Postkarten treten. Hierbei spielt nicht nur die Bild-, sondern auch die Schriftseite eine Rolle und die Karten lassen sich verstehen als Elemente eines narrativen Gefüges aus Text und Bild, wobei die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Ausformungen von Postkartenbüchern fließend sind. Einige Beispiele zu dieser Unterform des Postkartenbuches: Das Langgedicht Paris brennt des Lyrikers Yvan Goll ist in verschiedenen Fassungen erschienen. In der Zagreber Ausgabe trägt es den Untertitel Ein Poem nebst Postkartenalbum (Goll 1995), da hier thematisch sehr unterschiedliche Postkarten, wobei die meisten einen direkten Bezug zu Paris haben, den Wortlaut des Gedichtes untermalen und als bildliches Pendant zum Text fungieren. In Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke (Brinkmann 1979), einem Reise- und Aufenthaltsbericht über Brinkmanns Zeit in der Villa Massimo, der aus drei Schreibheften zusammengefügt wurde, existieren verschiedene protokollierende, dokumentierende, private und prosaische Schreibformen nebeneinander und werden von Bildern wie Zeichnungen, Zeitungsausschnitten, Fotografien und Postkarten begleitet. Die rhizomatische Struktur des Textgewebes organisiert Erinnerungen in Form von ‚snap shots‘, wobei es um die möglichst dichte Wiedergabe der inneren und äußeren Bewegungen des Schriftstellers geht, sodass die Denk-, Blick- und Reisebewegungen Brinkmanns in ihrer Flüchtigkeit widergespiegelt werden (vgl. Sauer-Kretschmer 2017a). In Antonio Tabucchis und Tullio Pericolis Viele Grüße (Tabucchi/Pericoli 1988) ist zunächst eine kurze Erzählung des Schriftstellers Tabucchi vorangestellt und anschließend wird hintereinander eine Reihe von Pericoli gestalteter Postkarten abgedruckt. Der Text und die Postkarten beziehen sich wechselseitig aufeinander und die gemalten Postkarten führen die Erzählung sogar fort, nachdem der Text geendet hat (vgl. Sauer-Kretschmer 2017b). Das Postkartenbuch von Wilhelm Genazino Aus der Ferne und Auf der Kippe (Genazino 2012) ist hingegen ein Buchkunstwerk, das Postkarten als vermeintlich zufällige Erzählanlässe heranzieht, sodass das Bild zum Ausgangspunkt für die poetologischen Ideen des Autors gerät. Ähnlich funktioniert auch Lawrence Sutins A Postcard Memoir, in dem historische Postkarten aus der Sammlung des Autors mit privaten Erinnerungen verknüpft werden. Auch in Juhani Seppovaaras Ansichten eines Lebens (Seppovaara 2014) verbinden sich kollektive Erinnerungsbilder in Form von Postkarten mit privaten Erinnerungen zu einem biografisch-dokumentarischen Katalog.

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Rahmungen

Erzählungen aus dem privaten Leben. Schriftbasierte Postkartenbücher weisen somit häufig eine Nähe zu autobiografischen, dokumentarischen und anderen Schreibformen des Privaten auf. Basierend auf dieser Nähe sind weitere schriftbasierte Postkartenbücher entstanden, die als Fiktionen privater Kommunikation u. a. mit und durch Postkarten erzählen. Die Griffin & Sabine-Trilogie von Nick Bantock erzählt die Liebesgeschichte des Postkartenverlegers Griffin zu seiner Muse Sabine, mit der er in Form von Postkarten und Briefen kommuniziert, die im Buch abgedruckt bzw. dem Buch beigegeben sind (vgl. dazu auch Teil E 1.27).70 Einen Schritt weiter gehen J. J. Abrams und Doug Dorst mit S – Ship of Theseus (Abrams/Dorst 2013; vgl. dazu auch Teil E 1.47), das sich als kommerzielles Buchkunstwerk verstehen lässt. Das Buch wird im Schuber verkauft und ist mit Stempeln versehen, die das Werk als Jahrzehnte altes Bibliotheksexemplar identifizieren wollen. Verschiedene Ebenen der Authentizitätsfiktion setzen in Ship of Theseus folglich schon auf Basis des Materials und der Form des Buches ein und werden inhaltlich fortgeführt. Das gesamte Buch ist übersät mit Randnotizen, die von zwei unterschiedlichen Lesern stammen sollen, zudem sind viele Buchbeigaben in Form von Briefen, Dokumenten und eben Postkarten enthalten, die für die unterschiedlichen Handlungsebenen bedeutsam sind. Die Postkarte fungiert in Ship of Theseus somit als Medium der Texterweiterung, um die Gleichzeitigkeit mehrerer Handlungsstränge schriftlich erzählbar zu machen. SSK  





Rahmungen: Fußnotenromane und andere Paratextkonstrukte in der Buch-Literatur „‚Dies‘, sagt der Paratext ganz allgemein, ‚ist ein Buch‘“ (Genette 1989, S. 301): Gérard Genettes Bemerkung über den Paratext enthält eine prägnante Erklärung dafür, warum sich die buchreflexive Literatur intensiv und auf facettenreiche Weise dem Bereich der Paratexte und ihrer Gestaltbarkeit zuwendet. Paratexte dienen der Orientierung im Buchraum, und wie Richtungsschilder, Raumbezeichnungen, Markierungen und Differenzierungen in einem Gebäude betonen sie dadurch implizit, dass sich der  

70 Bantock, Nick: Griffin & Sabine. An Extraordinary Correspondance. San Francisco 1991 (dt.: Bantock, Nick: Griffin & Sabine. Briefe und Postkarten der Liebe. Übers. von Rose Aichele. Frankfurt a. M. 1994); gefolgt von Bantock, Nick: Sabine’s notebook. In Which The Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Continues. San Francisco 1992 (dt.: Bantock, Nick: Sabines Album. Neue Briefe und Postkarten von Griffin und Sabine. Übers. von Rose Aichele. Frankfurt a. M. 1995); Bantock, Nick: The Golden Mean. In Which The Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Concludes. San Francisco 1993a (dt.: Bantock, Nick: Sabines Entscheidung. Durch die ihr Briefwechsel mit Griffin zum Abschluß kommt. Übers. von Rose Aichele. Frankfurt a. M. 1996).  





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Paratext-Leser in einem solchen Gebäude befindet, heben seine architektonische Beschaffenheit hervor, erleichtern seine raumbewusste Erkundung. Inhaltsverzeichnisse etwa erfüllen analoge Funktionen wie der Plan eines Gebäudes, den man konsultiert, bevor man es erkundet. Genette exemplifiziert den Hinweis des Paratextes darauf, dass man es mit einem Buch zu tun hat, dann auch mit einem Inhaltsverzeichnis: „‚Dies ist ein Roman von Victor Hugo‘, sagt nachdrücklich die Inhaltsangabe der Misérables.“ (Ebd.) Tatsächlich verlässt sich der Leser normalerweise auf diese im Inhaltsverzeichnis implizierte Information. Aber hier beginnt auch bereits das Spielfeld für Desorientierungen des Lesers im Ausgang von Gestaltungsmitteln, die im Normalfall der Orientierung dienen: Was, wenn die Autorschaft, etwa bedingt durch Autorfiktionen, so klar nicht ist? Was, wenn das Inhaltsverzeichnis keine korrekten oder doch zumindest verwirrende Angaben macht? Gerade angesichts solcher Irritationen wird (wie im Fall eines falschen Gebäudeplans) der Umgang mit dem zu erkundenden Raum aufmerksamer ausfallen. Analoges gilt, wenn die Aufteilung des Gebäudes von vertrauten Konventionen abweicht, also etwa das Kellergeschoss oder die Nebengebäude mehr Raum einnehmen als gewohnt, wenn die Wandschränke größer sind als die Zimmer oder es Treppensysteme gibt, die selbstzweckhaft an allen anderen Räumen vorbeiführen: Auch hier fordert Räumliches, das sonst ohne sonderliche Bewusstheit einfach genutzt wird, Aufmerksamkeit ein. Romane mit ungewöhnlich umfangreichen, zur Verselbstständigung tendierenden Fußnotenbereichen und Appendizes, mit üppigen Annotationen, mit selbstreferenziellen Partien von fraglicher Funktion erzeugen vergleichbare Effekte. Sich selbst exponierend, verweisen sie auf das Buch, dessen Bestandteile sie sind, auf das Kodexformat, in dessen Ära sie sich gebildet, ausdifferenziert und ihre Funktionen übernommen haben – als Bestandteile eines räumlichen Arrangements.71  

Text und Paratext. Mit dem Übergang ins Zeitalter des Kodex differenzieren sich die in Büchern untergebrachten Textbestände strukturell und generisch auf eine bis heute nachwirkende Weise aus. Texte werden durch diverse Formen von Paratexten begleitet, gerahmt, ergänzt: durch Annotationen und Kommentare, Marginalien und Fußnoten, durch strukturierende und orientierende Titel, durch Überschriften und Stich71 Wie Genette anschließend an seine Bemerkung über den Hinweischarakter von Inhaltsverzeichnissen auf Buch und Autorschaft bemerkt, liegt dann, wenn diese Information dem Autorwillen zufolge hinter anderes zurücktreten soll (etwa um den Leser in den Bann der romantinternen Fiktion zu ziehen), eine wichtige Qualität der Paratexte in ihrer Unauffälligkeit, die sie wie durchsichtig erscheinen lässt: „[…] es kann […] der Wunsch des Autors sein, daß sein Leser diese Art von Wahrheiten [über die Verfasserschaft, Anm. d. Verf.] vergißt, und eine der Garantien für die Wirksamkeit des Paratextes liegt vermutlich in seiner Transparenz: in seiner Transitivität. Der beste Zwischentitel, der beste Titel schlechthin, ist vielleicht derjenige, der auch weiß, wie man wieder aus dem Blickfeld tritt.“ (Genette 1989, S. 301) Paratext-Literatur als Spielform der Buch-Literatur setzt auf den gegenteiligen Effekt dessen, was Genette hellsichtig beschreibt: auf intransparente und nicht-transitive Paratexte, gestützt auf strukturelle und typografische Mittel.  

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worte, durch Anhänge, Vor- und Nachworte, editorische Einschübe, Indizes und Register etc. Eine Literatur, die darauf abzielt, ihre Bindung an den Kodex zu nutzen und zu demonstrieren, findet im Bereich der Gestaltung von Paratexten vielfältige Optionen – und dies sowohl auf der Ebene der Schreibweisen als auch auf der des visuellen und räumlich-strukturellen Bucharrangements. So können nicht nur Vor- und Nachworte, Anmerkungen etc. zum Haupttext hinzugefügt werden, um den Leser zu adressieren, zu informieren, zu orientieren; diese Textformate können dabei zudem in den Dienst rahmender Fiktionen genommen werden oder, allgemeiner, die Rezeption des Textes durch den Leser beeinflussen. Duktus und Form von Vor- und Nachworten, Anmerkungen etc. sind als genuin literarische Darstellungsmittel nutzbar und diese Textsorten haben, integriert in viele literarische Werke und konstitutive Bestandteile dieser Werke, insofern ihre eigene Literatur-Geschichte. Als Bestandteile der Werke sind sie im strengen Sinn keine Paratexte, kein Beiwerk mehr, sondern sie simulieren oder zitieren Paratextualität nur. Insofern es sich bei solchen nur vordergründig paratextuellen Elementen um kodextypische Elemente handelt, verweisen sie immer auch auf den Kodex selbst, nicht zuletzt durch ihre Platzierung im Buchraum, deren Semantik sich ja aus ihrer räumlichen Relationierung zum übrigen Text ergibt: aus ihrem ‚Davor‘, ‚Danach‘, ‚Daneben‘, ‚Darunter‘.  

Paratextdiskurse. Die Vorliebe vieler neuerer Autoren für paratextuelle Gestaltungselemente ihrer Werke sowie eine Tendenz, diese ganz auf paratextuellen Textformen beruhen zu lassen, lässt sich zunächst einmal damit erklären, dass durch entsprechende text- und literaturtheoretische Ansätze der Phänomenbereich der Paratextualität verstärkt in den Blick von Lesern und Interpreten, aber eben auch von Schriftstellern gerückt worden ist, insbesondere durch Gérard Genettes Studien zum Paratext. Die vor allem seit Genette zunehmende Aufmerksamkeit für Paratextuelles ist durch verschiedene andere wissensdisziplinäre Interessen gestützt worden, so durch die Erforschung der Buch- und Lese-Geschichte, der Geschichte des Buchdrucks und der Seitengestaltung. Aber auch Autorschaftsfragen lassen sich am Leitfaden paratextueller Strukturen erörtern, allen voran die Nennung von Autornamen und andere Formen der Zuordnung von Verantwortlichkeit für den Text. Ein Sonderthema bilden die Formen literarischer Nutzung von paratextuellen Strukturen, Formaten und Schreibweisen (Vorworte, Einleitungen, Annotationen etc.), insofern diese zu genuinen Bestandteilen des literarischen Konstrukts werden können (s. u.). Eine eigentümliche Konsequenz aus der Popularität des Genetteschen Paratext-Begriffs besteht darin, dass aus theoretischer wie aus schreibpraktischer Perspektive das, was Genettes Definition zufolge Beiwerk des Textes ist, bei genauerer Betrachtung und zumal bei literarischer Gestaltung gar nicht mehr als Bei-Werk oder Neben-Sache erscheint. Der Begriff des Paratextes, der die Beschäftigung mit Fußnoten, Anmerkungen, Titeln, Kommentaren, Anhängen etc. so nachhaltig stimuliert, scheint in dem Maße auf diese und andere Textphänomene gar nicht mehr zu passen, als deren konstitutive (und keineswegs nur ergänzende) Bedeutung für die Textkonstruktion insgesamt erkannt  

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und genutzt wird. Einsichten, wie sie Ivan Illich bezogen auf die Strukturierungsmerkmale spezifisch buchbezogener, buch-kulturell geprägter Texte formuliert,72 sind indirekt wohl stimuliert durch den Diskurs über Paratexte, aber sie gehen über den Ansatz einer Differenzierung zwischen Haupttext und Beiwerk hinaus, indem sie die Strukturierungsleistung der rahmenden und gliedernden Textanteile für die Gesamtkomposition des Textes herausstellen – und als Merkmale der Buchlese-Kultur verstehen.  

Enthierarchisierungen, Ambiguisierungen. Die theoretisch-reflexiven Diskurse über das (nach wie vor so genannte) ‚Paratextuelle‘ und seine textkonstitutiven, keineswegs beiläufigen, nachträglichen Funktionen sind durch größere diskursive Kontexte bedingt und geprägt, insbesondere durch eine dekonstruktive Tendenz zur Auflösung geläufiger Hierarchien. Die bei Genette noch maßgebliche Unterscheidung zwischen Haupttext und Nebentext wird zum sinnfälligen Beispiel einer Relation, die sich (aus dekonstruktiver Perspektive) auch anders als unter dem Vorzeichen einer solchen Hierarchisierung betrachten bzw. behandeln lässt. Die vermeintlichen Nebentexte können zu Hauptakteuren auf dem Schauplatz des Textes werden, können sich über ihre untergeordnete, dienende Funktion erheben und dabei demonstrieren, wie Texte und ihre Lektüren immer schon durch das vermeintliche Beiwerk maßgeblich geprägt werden. Einen Schritt weiter gehend, können die scheinbar untergeordneten Texte sich über die so genannten Haupttexte erheben, sie durch Störungen und Widersprüche relativieren, ihre Aussage destabilisieren – und sie dann womöglich auch räumlich be- und verdrängen.73 Gerade mit Blick auf diesen Ausdehnungsprozess des so genannten ‚Paratextes‘, des so genannten ‚Bei-Werks‘ in den Raum des Buchs hinein (und zwar auf Kosten des so genannten Haupt- oder Kerntextes) gewinnt die seiten- und buchgestalterische Dimension literarischer Werke eine neue und besondere Signifikanz. Denn die Strukturierung der Seiten und des Kodex insgesamt (auch und gerade die quantitative Relationierung der Textteile) kann dabei zum Modell einer auch auf semantisch-inhaltlicher Ebene oft signifikanten Verschiebung werden: ‚Hauptsachen‘ sowie im Haupttext platzierte Stimmen und Diskurse werden überwuchert von anderen Texten und damit von anderen Perspektiven – von Perspektiven noch dazu, die (wie die Fuß-Note, die Marginalie qua Rand-Text, der Appendix) in konkretem Sinn rand-ständig, de-zentral, angehängt, ‚außen-seitig‘ sind. Durch die vom Paratext-Begriff ausgelöste Reflexionsbewegung (auch und gerade die kritisch-dekonstruktive, anti-hierarchisch ausgerichtete Reflexion) über die Verhältnisse zwischen zentralen und rand-ständigen, scheinbar ‚herrschenden‘ und sub 



72 Vgl. Illich 2010. Vgl. Illichs Bemerkungen zur Entwicklung der Buchgestaltung im 12. Jahrhundert, insbesondere über das „neue Seitenbild, die Kapiteleinteilung, Distinktionen, das konsequente Durchnumerieren von Kapitel und Vers“ als „Ausdruck eines neuen Ordnungswillens“ (ebd., S. 110; vgl. Teil A 2). 73 Vgl. Zubarik 2014, S. 9: „Statt der dezenten Unterordnung des Beigestellten zeigt sich Widerspruch, Überbordung und Störung.“  







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ordinierten Texten wird, anders gesagt, eine Sensibilisierung für buchgestalterische Optionen ausgelöst, in denen die Spannung zwischen Haupt- und Nebentext respektive zwischen vermeintlichem Haupt- und vermeintlichem Nebentext ausgetragen wird. Diese Sensibilität für textbildlich Dominantes oder aber Subordiniertes sowie für die bestimmenden Potenziale des zunächst scheinbar bloß Unter- oder Beigeordneten, des scheinbar Nachträglichen und Derivativen schlägt sich dann in buchliterarischen Werken nieder, deren Seiten- und Kodexgestaltung das so genannte Beiwerk zum Hauptwerk oder doch zumindest zum unübersehbaren Konkurrenten des primär wahrgenommenen Textes macht. Mehrstimmigkeit, Überlagerungen, Dialogizität. Konvergenzen bestehen zwischen der skizzierten Tendenz zur Enthierarchisierung von Textteilen durch unkonventionelle und auffällige Modi der visuellen Textgestaltung und dem Konzept der ‚Vielstimmigkeit‘, das sich vor allem durch die Romananalysen Michail Bachtins im literaturtheoretischen Diskurs etablierte.74 Bachtin würdigt den modernen Roman (gemeint ist: der neuzeitliche Roman) als eine vielstimmige Gattung, welche es möglich macht, die erfahrene Wirklichkeit aus differenten Perspektiven und im Medium differenter Sprechweisen darzustellen, dabei verschiedene Blickwinkel und Interessen zur Geltung zu bringen und so insgesamt ein komplexes Bild der Welt zu erzeugen. In dieser Komplexität kommen neben verschiedenen Sehweisen und Motiven auch sprachlichdiskursive Differenzen zum Ausdruck: Die Polyphonie des modernen Romans ist laut Bachtin auch insofern Rede- bzw. Stimmenvielfalt, als sie schichten-, gruppen- und standesspezifische Sprechweisen mischt. In diesem Konzept der Polyphonie liegt wiederum ein antihierarchischer Grundzug (der für die intensive Rezeption Bachtins durch Poststrukturalismus und Dekonstruktion maßgeblich gewesen ist): Es gibt – und das ist für Bachtin eine entscheidende politische Dimension des vielstimmigen modernen Romans – keine privilegierte Stimme im Stimmengewirr – also keinen Haupt-Text oder -Diskurs, dem die anderen untergeordnet wären. Die Idee der Stimmenvielfalt, der Stimmenmischung, des hierarchiefreien Neben- und Gegeneinanders von ‚Stimmen‘ lässt sich textgestalterisch konkretisieren – unter anderem durch Strategien der Expansion des so genannten Paratextes, durch Arrangements, in denen sich Textebenen durchdringen, durch typografische Mischungen, durch ein Layout, das von der Norm des regelmäßig-rechteckigen Seitenspiegels abweicht. Gerade mit solchen Arrangements kann sich die Frage verbinden, ob hier ein Dialog sinnfällig gemacht wird (wie es, prototypisch, bei der Seitengestaltung gedruckter Dramen geschieht) – oder ob die verschiedenen Textstimmen aneinander vorbeireden und damit sinnfällig machen, dass ein Dialog unmöglich oder nicht gewollt wird. Extremfälle von ‚Nicht-Dialogen‘ liegen vor, wenn eine auf der Buchseite oder im Buchkörper erwartete Textschicht einfach ausbleibt – oder wenn sie durch Störfaktoren so überla 











74 Vgl. Bachtin 1979, insbes. das Kapitel „Die Redevielfalt im Roman“ (S. 192–219).  

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gert wird, dass sie kaum oder gar nicht mehr ‚zu Wort‘ kommt. Eingeschwärzt wirkende oder auf andere Weise überlagerte Teile der Buchseite können in diesem Sinn wie Manöver zur Erstickung von Stimmen wirken, aber auch wie Praktiken der Selbstzensur angesichts einer bedrohlichen Übermacht (vgl. dazu Teile der visuellen Textgestaltung in Plascencia 2006; dazu Teil E 1.36). Als Inszenierungsorte von Polyphonie, von ‚Dialogen‘ und ‚Nicht-Dialogen‘ eignen sich Buchseite und Buchkörper also auf besondere Weise – wobei ihre ‚Materialität‘ hier in hohem Maße semantisiert und an gedankliche Konstruktionen, Theorien, ja ganze Denkstile gebunden erscheint. Literarische Texte, welche die verschiedenen im Buch vertretenen Textgruppen und Textebenen auf ungewöhnliche Weise arrangieren und relationieren, lenken darauf den Blick – durch Nutzung des Buchraums und als Beitrag zum Projekt Buchreflexion.  



Integration relativ selbstständiger ‚Paratexte‘ und aus ‚Paratexten‘ konstruierte Werke. Einleitungen und Anhänge können zwischen ‚Beiwerk‘ und ‚Textbaustein‘ changieren. In vielen Fällen konstituiert das im Vorwort fiktiver Herausgeber oder Autor-Masken Mitgeteilte eine eigene Ebene der Diegese, wie etwa in Umberto Ecos Roman Il nome della rosa, wo ein Herausgeberbericht die fingierte Vorgeschichte um einen Manuskriptfund und dessen Hintergründe erzählt; auf die eigene Toposhaftigkeit anspielend, trägt dieser Vorbericht den Titel „Natürlich, eine alte Handschrift“ (Eco 1982, unpag. [S. 5]; vgl. E 1.21). Einen Sonderfall stellen literarische Werke dar, bei denen die (scheinbaren) Paratexte den Haupttext überwuchern oder auf andere Weise besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen (s. u.). Am Ende des Spektrums einschlägiger Optionen steht das Werk, das nur aus (scheinbaren) Paratexten besteht. Vergleichbar ist diese Spielform literarischer Paratextualität mit einer radikalen literarischen Form der Metatextualität, bei der ebenfalls der Haupt- und Bezugstext ‚fehlt‘: mit Kommentaren, Interpretationen, Rezensionen zu imaginären Werken, wie sie Jorge Luis Borges gern verfasst hat.  



Variationen über Paratexte: Ransmayrs Letzte Welt. Paratexte verschiedener Art, darunter Appendizes, Register, Glossare und angehängte Materialien verschiedener Art bieten buchraumgestalterisch vielfältige Optionen. Literarisch genutzt werden sie, ähnlich wie Fußnotenteile und Marginalien, unter anderem zur Positionierung eigener Text-Ebenen, manchmal sogar zur Konstitution eigener intradiegetischer Wirklichkeiten. Als Formen, die konventionellerweise der Vermittlung oder der Organisation von Sachinformationen dienen, oszillieren solche Paratexte manchmal zwischen ‚sekundärem‘ und ‚primärem‘ Text. Scheinbar marginale Anhänge können dazu dienen, poetische Verfahrensweisen in besonderer Weise sinnfällig zu machen. Wenn Christoph Ransmayr am Ende seines Ovid-Romans Die letzte Welt (1988) ein zweispaltig gedrucktes „Ovidisches Repertoire“ präsentiert – einen alphabetisch in Artikel gegliederten Text über Ovidische und eigene Figuren –, so ist dieser Teil kein werkexternes Beiwerk, sondern Bestandteil des Romans selbst. Spaltenweise werden einander die Geschichten der von Ransmayr dargestellten Romanfiguren und ihrer Vorbilder in Ovids Metamor 



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phosen gegenübergestellt, sodass Analogien, aber auch Abweichungen sichtbar werden. Das „Repertoire“ bietet mehr als eine Information über Ransmayrs Umgang mit seinem literarischen Stoff, dem Ovidschen Epos, es ist eine Demonstration der „Metamorphose“, welche sich durch den entsprechenden Arbeitsprozess vollzogen hat. Der Leser beobachtet selbst einen mehrfachen Verwandlungsprozess: vom Romantext zu den Kurzfassungen der figurenbezogenen Geschichten – von Ovids zu Ransmayrs Version – von einem antiken Epos zu einem modernen Roman.  



Ein Roman aus Paratexten: Macedonio Fernández’ Museo de la Novela de la Eterna (1967). Literarisch nachhaltig von Borges inspiriert, hat der argentinische Romancier Macedonio Fernández einen Roman verfasst, der keine Erzählung in konventionellem Sinn bietet, sondern das phantasmagorische Projekt eines erst noch zu schreibenden Romans aus verschiedenen Perspektiven, insbesondere in Form paratextueller Bausteine, umkreist. Das Museum von Eternas Roman, im Untertitel als „(Erster guter Roman)“ präsentiert und mit einer manierierten Widmung versehen, bietet ein reiches Spektrum an Schreibweisen, die in den Dienst des Entwerfens, Skizzierens, Kommentierens von Romanen treten können und sich hier auf ein bestimmtes Projekt zu beziehen vorgeben. Der umfangreiche (in der deutschen Ausgabe über 170 Druckseiten umfassende) erste Teil des Buchs enthält ausschließlich eine Serie von Widmungen, Prologen, Ankündigungen, Leseradressen und Vorgriffen auf den angeblich eingeleiteten Roman. Beginnend mit einer „Widmung an meine Figur Eterna“, enthält diese Textsequenz u. a. einen „Prolog zur Unvergänglichkeit“, eine „Aussicht“, einen „Prolog zu meiner Person als Autor“, eine Anrede „An die Kritiker“, einen „Brief an die Kritiker“ etc. Der zweite Teil gliedert sich zwar in nummerierte „Kapitel“ und hat gegenüber dem paratextuellen Teil zumindest eine narrative Dimension. Doch statt einer direkten Erzählung erfolgt eine sich selbst und ihre Gegenstände ständig kommentierende, brechende, relativierende Erzählung: Nicht direkt wird das fiktive Geschehen geschildert, sondern unter ostentativer Einbeziehung der Beobachter- und Erzähler-, manchmal auch der Leserperspektive, unterlegt mit Hypothesen, Spekulationen, (Selbst-)Kommentaren etc. Figuren werden beschrieben, aber als Figuren, sie werden angesprochen – all dies aus einer Distanz, die nicht die des konventionellen Erzählers ist. Epilogische und andere paratextuelle Abschnitte beschließen den Roman, der gleichsam sein eigenes Nicht-Sein exponiert, sich eben dabei aber auch als Roman der weitläufigen Möglichkeiten profiliert. Auf der Basis einer Handvoll eher vage konturierter Figuren und Schauplätze wird er durch seine weitgehende Reduktion auf Para- und Meta-Textuelles zu einem ganzen Roman-‚Museum‘, einem Ort des Gesammelten und des Kultes. Die buchgestalterischen Eigenarten des Romans ergeben sich aus dem ihn prägenden Arrangement aus Textbausteinen und Textsorten. Stark, wenn auch unkonventionell untergliedert, enthält er unter anderem allerlei Fußnoten, in denen sich Kommentare selbst kommentieren oder auch neue Ebenen der Diegese eröffnet werden. So endet das XIII. Kapitel mit einer an einem finalen Anker aus zwei Sternchen hängenden Fußnote, die mitteilt, ab jetzt bleibe der  





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„Autor“ allein; die letzten Leser hätten ihn verlassen und folgten dem Vorsatz, nun selbst schriftstellerisch zu wirken (vgl. Fernández 2014, S. 315).  

Textspalten bei Katharina Hacker. Die Bildung von Textspalten gehört zu den verbreitetsten und vielfältig genutzten Gestaltungsoptionen des Schriftbilds im Buchzeitalter. Zwei- oder mehrspaltige Textpräsentationen in parallelen Kolumnen können unterschiedlich motiviert sein. Zum einen können sie (wie oft in Zeitungen und Zeitschriften, in Lexika und anderen Wissenskompendien) der Erleichterung der Lektüre auf einer dichtbedruckten Fläche dienen. Zum anderen können sie dazu dienen, die kolumnenweise nebeneinander stehenden Textteile in Relationen zu setzen, ihren Vergleich zu katalysieren oder sie als parallele, aber eben nicht identische Mitteilungen sinnfällig zu machen. Ein rezentes Beispiel für die buchliterarische Nutzung des Spaltendrucks bietet Katharina Hackers Roman Alix, Anton und die anderen (Frankfurt a. M. 2009). Über weite Strecken des Buchs kommen, jeweils spaltenweise nebeneinander, verschiedene Erzählerinstanzen zu Wort; einen Haupterzähler gibt es nicht; die Konstellationen wechseln; gelegentlich bleibt auch eine Erzählerstimme neben einer leeren Kolumne allein. Wie wichtig Hacker die Spaltenform des Textes war, bestätigte der Dissens zwischen ihr und dem Suhrkamp-Verlag, der die beiden Textspalten in unterschiedlicher Breite und differenten Schriftgrößen setzen ließ, während die Autorin eine gleichartige Gestaltung der Kolumnen anstrebte; dies führte zum Verlagswechsel.  

Marginalien. Marginalien als nachträgliche Randbemerkungen und Kommentare der Leser eines Buchs, aber auch als bereits bei der Anfertigung an den Rand gesetzte Textteile meist annotierenden Charakters steuern den Lektüreprozess über die flächigräumliche Strukturierung des Textes erheblich. Zunächst wie auch Fußnoten scheinbar als Nebentexte konzipiert, können sie doch auf Verlauf und Aussage des Textes Einfluss nehmen. Wo in literarischen Texten gedruckte Marginalien präsentiert werden, als seien sie handschriftlich dem gedruckten Text hinzugefügt worden, wird die Differenz zwischen autorisiertem und privatem Kommentar, aber auch die zwischen Gesamtauflage des Buchs und Einzelexemplar spielerisch unterlaufen. In dem BuchRoman Ship of Theseus von Doug Dorst und J. J. Abrams konstituiert die Ebene der Randbemerkungen – die selbst ein fiktionaler Text mit fiktiven Protagonisten ist – eine zweite Ebene der intradiegetischen Wirklichkeit (vgl. Teil E 1.47). Die Annotationen der beiden Figuren Jen und Eric, die der Konstruktion zufolge den Roman des (fiktiven) Autors Straka lesen, schaffen eine konkret sinnfällige Korrespondenz zwischen der Rahmenkonstruktion des Romans (eben der Lesergeschichte) und der Rahmung der Buchseiten. Das Leben von Jen und Eric spielt sich sogar zu erheblichen Teilen gleichsam auf den Buchseiten ab, denn ihre Bekanntschaft, ihre Annäherung und die Entstehung einer Paarbeziehung beruhen (der Konstruktion zufolge) maßgeblich darauf, dass sie abwechselnd die Ränder eines Romanexemplars beschriften, ohne einander zu begegnen. Insofern wird der Rand-Bereich der Seiten zum Spielraum der Romanhandlung. Wenn sich das Leben der beiden Leser und das der Romanhandlung mit 





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einander verschlingen, so wird dies unter anderem durch das Eindringen von Annotationen zwischen die Textzeilen signalisiert. Die abwechslungsreiche Gestaltung des Buchs unterstreicht, dass sich ein Teil des Romangeschehens selbst im Feld der Marginalien abspielt: Für die beiden Figuren nutzte der Buchdesigner unterschiedliche (erfundene) Handschriften; für bestimmte Zeitabschnitte jeweils differente Schrift-Farben. Wechsel dieser phasenweise kontinuierlich verwendeten Farben erleichtern die Unterscheidung differenter Zeitabschnitte – und damit die Orientierung im Buch.  

Numerische Gliederung. Ein wichtiges Mittel zur Orientierung in Buchwerken, das deren materiellen Aufbau sichtbar macht und die Auffindung von Stellen erleichtert, wenn nicht sogar ermöglicht, ist die numerische Gliederung: Teile, Kapitel, Abschnitte sind in nummerierter Form leichter zu überblicken; die Paginierung ist für eine praktikable Nutzung sogar unabdingbar. Peter Esterházy spielt gerade mit solchen fundamentalen Strukturierungsmerkmalen. In seinem Roman Die Mantel-und-DegenVersion (Budapest 2013; dt. Berlin 2013) heißen die einzelnen Abschnitte „[erste Seite]“, „[zweite Seite]“ etc.; bedingt durch ihre Länge, welche das Fassungsvermögen einzelner Seiten oft überschreitet, sind diese Seitenangaben mit der tatsächlichen Seitenzählung des Buchs aber nicht kongruent. Im Übrigen sind die Texte mit Fußnoten versehen, deren Beziehung zum Haupttext manchmal nicht unmittelbar transparent ist und die zudem manch seltsame Informationen enthalten. Der Roman Die MarkusVersion. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten (Budapest 2014; dt. Berlin 2016) soll, einem (angeblich) zugrundeliegenden Plan zufolge, 100 Abschnitte auf 100 Seiten umfassen; schließlich werden es dann aber doch zwei Seiten mehr, die dann weiterhin mit einer „100“ nummeriert werden (Esterházy 2014, S. 101, 102).  

Fußnoten und ihre Funktionen. Fußnoten in literarischen Texten können, insofern sie selbst Bestandteile des literarischen Werks sind, unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie können notwendiges oder doch nützliches Wissen vermitteln, welches das Verständnis des Haupttextes erleichtert; sie können der Selbstkommentierung des Textes respektive des Erzählers dienen; sie können die Fiktion vertiefen oder ausbauen, die der Haupttext darstellt, können aber auch andere Ebenen intradiegetischer Fiktion eröffnen.75 Als (zu denkende) Urheber der Fußnoten sind verschiedene Instanzen möglich: Erzähler, Kommentatoren, die textinterne Autorinstanz, selbst Figuren,

75 Zubarik unterscheidet zwischen solchen „Werken, in denen die Fußnotenebene als Ort des besonderen Umgangs mit Wissen benutzt wird“ (dazu gehören auch Formen der „Imitation und Parodie von Wissen(schaft)sdiskursen in Fantasy- und Science-Fiction-Romanen“), Beispielen für die „Emanzipation der Anmerkung als eigenständiger Text(teil)“ (Zubarik 2014, S. 9f; kommentiert werden hier „Noten, die den Haupttext sowohl qualitativ als auch quantitativ stark beeinträchtigen“), sowie schließlich Werken, die mit der Differenzierung zwischen Haupttext und Fußnoten auf entgrenzende Weise spielen, etwa indem sie nur aus Fußnoten bestehen oder Exzesse des Anmerkungsteils inszenieren.  

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die in Anmerkungen das kommentieren, was sie über sich gelesen haben.76 Gelegentlich oszilliert der Status von Fußnoten, was die Zuordnung zu einer Ebene intradiegetisch-fiktionaler Wirklichkeit entspricht. Besitzen zum Text selbst gehörige Fußnoten als artifizielle Rekurse auf eine spezifische Form der Paratextualität einen zumindest latent buchreflexiven Zug, so gilt dies noch evidenter für Fußnoten, wenn sie allein den Text ausmachen. Zur Geschichte der Fußnote. Als Fußnote bezeichnet wird eine Spezialform der Anmerkung, die ihren Platz am unteren Seitenende (unterhalb des annotierten Textes) findet; ihre Positionierung im Buch kommt also programmatisch durch ihren Namen zum Ausdruck, was die Signifikanz ersterer betont.77 Als Texttypus im unteren Seitenbereich ist die Fußnote erst einige hundert Jahre alt; seit dem 17. Jahrhundert beginnt die Fußnote die bis dahin gebräuchliche Marginalie abzulösen; man beginnt, von der ‚note‘ statt von der Glosse zu sprechen; der deutsche Ausdruck ‚Fußnote‘ verbreitet sich aber erst im 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Anmerkung zu einem Bezugstext beginnt allerdings weitaus früher.78 Fußnoten enthalten vielfach Meta-Texte (vgl. Genettes Konzept der Metatextualität in: Genette 1993, S. 13), die sich auf einen Haupttext beziehen (vielfach, nicht immer; sie können ja auch der ergänzenden Information oder dem Stellennachweis dienen); insofern besitzen sie per se ein metaisierendes Potenzial. Sie akzentuieren den Konstruktcharakter des Textes, ganz konkret: seine visuelle Konstruiertheit qua Objekt der Betrachtung, aber auch seinen Charakter als geschriebenes Artefakt. In der Regel zeichnen sie sich durch Knappheit und Konzentration ihrer Ausführungen aus, auch wenn sie angesichts einer mitzuteilenden Fülle an Informationen dann überborden können. Untereinander bilden sie, anders als der gemeinsame Bezugstext, keinen Zusammenhang, haben also fragmentarischen Charakter.79 Sie gestatten dem Haupttext, unter Entlastung von Zusatzinformationen und Umwegen fortzuschreiten, aber wer sie liest, muss diese Umwege dann doch beschreiten, so dass der Haupttext dadurch zerstückelt wahrgenommen wird – es sei denn, der Leser überginge die Fußnoten.  







76 Genette unterscheidet zwischen Fremdanmerkungen und Anmerkungen des Autors selbst; die „auktoriale Originalanmerkung“ gehöre „eher zum Text“ als die Fremdanmerkung, da sie ihn „eher weiterführt, verzweigt und moduliert als kommentiert.“ Genette 1989, S. 313. 77 Zubarik weist zu Recht darauf hin, dass zwischen „Fußnoten“ und (anderen) „Anmerkungen“ nicht immer klar unterschieden wird; vgl. Zubarik 2014, S. 13f. 78 Zubarik (und andere) lassen die Geschichte der Annotation sogar schon mit der des Aufschreibens selbst beginnen – mit Blick darauf, „dass eine Fixierung im Schreibprozess immer auch die Revidierung, die Korrektur und den Einspruch herausfordert – und dies umso mehr, je autoritärer ein Schreibakt auftritt.“ (Ebd., S. 15) Die Frage ist hier, ab wann man das ‚Aufschreiben‘ beginnen lässt. Gesetzestexte fordern interpretierende Annotationen sicher heraus, aber gilt dies auch schon für das Aufschreiben (Auflisten) von Besitztümern? 79 Vgl. dazu Genette 1989, S. 304, der die „Auftritte“ der Fußnote als „punktuell“ bezeichnet, sowie Zubarik 2014, S. 17.  













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Literarische Spielformen der Fußnote: Walter Moers und andere. Für literarische Zwecke lassen sich Fußnoten unterschiedlich funktionalisieren. Ausgehend von ihrer engen Beziehung zu wissensvermittelnden und sonstigen ‚gelehrten‘ Schreibweisen können sie in literarischen Texten (und als deren Bestandteile)80 etwa die Funktion übernehmen, innerhalb der Diegese – wenn auch nicht innerhalb des Haupttextes – zusätzliches Wissen sowie gelehrte Kommentare mitzuteilen: Wissen über den Erzähler oder die textinterne Autorinstanz, Kommentare über die Darstellungsweise oder über einzelne Textinhalte, weiterführende intradiegetische Informationen, aber auch Relativierungen des im Haupttext Mitgeteilten. Gern genutzt wird die Möglichkeit einer Erweiterung des literarischen Textes in die Fußnoten hinein durch Verfasser barock-enzyklopädischer Romane sowie anderer umfangreicher Romanformen, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert entstehen. Aber auch Erzählungen können Fußnotenkonstruktionen enthalten; in lyrischen Texten bilden Annotationen die Ausnahme.81 Analoges gilt für die Präsentation visualpoetisch gestalteter Fußnoten – wie sie sich bei Walter Moers gelegentlich finden: In Rumo & die Wunder im Dunkeln ‚rollt‘ sich eine Fußnote auf der Textseite spiralig zusammen (vgl. Moers 2003, S. 142). Durch Fußnoten kann die Fiktion erweitert, ja im Sinne einer wissenschaftlich wirkenden Fundierung besonders unterstützt werden; sie kann aber auch relativiert werden.82 Textinterne Fußnoten bewegen sich in einem breiten Spektrum zwischen Affirmation und Parodie. Fußnotenanteile in literarischen Texten erlauben es insbesondere, neben einer Haupterzählerstimme eine oder mehrere Nebenstimmen zu Wort kommen zu lassen. Aber auch die (gedachte) Erzählerinstanz selbst kann sich aufspalten und kommentierend zum Ausdruck bringen, was sie im Haupttext nicht gesagt hat. Die (mehrfachen oder in sich ‚verzweigten‘) Stimmen derer, die im Text zu Wort kommen, werden durch die Seitengestaltung visuell sinnfällig.  









Fußnotentexte als Buch-Literatur: Borges. Fußnotenliteratur ist schon deshalb Buch-Literatur, weil die Fußnotengeschichte ein wichtiges Stück Buchgeschichte darstellt, insbesondere mit Blick auf die des gedruckten Buchs; Annotationen in Manuskripten bilden hier aber die Vorgeschichte. Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert nutzen viele literarische Autoren das Format der (zum Text gehörigen) Fußnote.83 In der jüngeren und Gegenwartsliteratur kommt es hier zu beachtlichen Expansionen, zu einem  

80 Andere, externe Annotationsmöglichkeiten literarischer Texte durch Herausgeber etc. seien hier ausgeblendet. 81 Ernst Jandl nutzt die Form, um die Performanz bzw. Artikulationsweise eines ‚visuellen Lippengedichts‘ innerhalb des Textes zu erläutern. Vgl. Jandl 1985, S. 8 f. 82 Vgl. zu diesen Verfahrensweisen Zubarik 2014, S. 31–95, insbes. S. 55–95 über „Funny Footnotes“ und den „Literaturbetrieb in Science-Fiction und Fantasy“. 83 Genette weist in seinen Ausführungen zu „Paratexten“ auf die Möglichkeit hin, die Anmerkung als autonomen Teil der Narration zu nutzen; ihm sei allerdings kein Beispiel bekannt. Genette 1989, S. 320.  









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regelrechten Aufblühen der Fußnotenliteratur.84 Diese wird damit quantitativ, aber auch hinsichtlich ihrer Ausdifferenzierung in Spielformen, zu einem wichtigen Teil der neueren Buch-Literatur. Fußnoten-Arrangements, die nur suggerieren, ein sekundärer Text zu sein, tatsächlich aber ein konstitutiver Bestandteil des Werks selbst sind, finden sich in der literarischen Prosa des 20. Jahrhunderts in vielen Variationen. Sie dienen (etwa bei Jorge Luis Borges) oft unter anderem dazu, mit der Differenzierung zwischen einer primären und einer sekundären Darstellungsebene zu spielen und diese zu destabilisieren – und im Zusammenhang damit die Abgrenzung zwischen Fiktion und Nichtfiktion in Frage zu stellen. Der spezifische Raum, den solche zum literarischen Text selbst hinzugehörigen Fußnoten auf der jeweiligen Buchseite einnehmen, also ihre konkrete spatiale Positionierung zum jeweiligen Haupttext, kann sinnkonstitutiv sein, ist dies aber nicht zwingend; so kann das Seitenlayout einer Borges-Erzählung wie La biblioteca de Babel unterschiedlich ausfallen; die spezifischen Fußnoten-Effekte ergeben sich unabhängig davon. Dass es überhaupt solche Fußnoten und damit einen anderen Textraum gibt, ist entscheidend. Teilt sich doch dadurch der Buchraum in Zonen verschiedener Diskurse und Stimmen, und ein Gestaltungsmittel wie die Annotation, typisch für das Buch im Buchzeitalter (vgl. Illich 2010), wird zum Instrument der strukturierten (hierarchisierenden) Organisation des Textes. Aber genau dieser Effekt kann durch die Fußnotenpolitik des jeweiligen Werks auch unterlaufen werden.85  



Zur Geschichte des literarischen Fußnoten-Spiels seit Rabener. Gottlieb Wilhelm Rabeners Satire Hinkmars von Repkow Noten ohne Text von 1745 ist das früheste Beispiel der Präsentation eines literarischen Textes ausschließlich aus Fußnoten (Rabener 1745). Einen Vorläufer moderner Texte mit ungewöhnlichen Fußnotenkomplexen (Mainberger 2001; Stang 1992) bildet Jean Pauls Erzählung Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz von 1809; in der Vorrede geht der Erzähler auf die „auffallende, mit einem Noten-Souterrain durchbrochene Gestalt des Werkleins“ ein, indem er sie entschuldigt (Jean Paul 1963/1975, S. 10). Die Erzählung über den skurrilen Protagonisten ist mit Fußnoten versehen, die aber nicht systematisch nummeriert sind und zudem auch nicht zum darüberstehenden Text passen; es handelt sich um disparate informative oder aphoristische Sätze. Einleitend erklärt der Erzähler, es sei durch ein Versehen zu diesem Druckbild gekommen; dies ist Anlass, die Strukturen von Manuskriptbänden und von daraus entstehenden gedruckten Büchern zu erwähnen (ebd.). Fußnoten-Arrangements, die nur suggerieren, ein sekundärer Text zu sein, tatsächlich aber ein kon 

84 Dazu Zubarik, für die die 1990er Jahre hier die entscheidende Wende markieren; vgl. auch Mainberger 2001, S. 340, Fußnote 11. Eine Liste von Beispielen für „eine besonders interessante Verwendung von Fußnoten“ erstellt Zubarik 2014, S. 25, Fußnote 54. 85 Vgl. zu diesen Verfahrensweisen Zubarik 2014, S. 97–174; Kapitel „Modi der Enthierarchisierung“. Als Beispiele analysiert werden drei Romane: José Carlos Somoza: La caverna de las ideas, Alain RobbeGrillet: La Reprise, Zsuzsanna Gahse: Kellnerroman.  





Rahmungen

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stitutiver Bestandteil des Werks selbst sind, finden sich in der literarischen Prosa des 20. Jahrhunderts in vielen Variationen. Sie dienen (etwa bei Jorge Luis Borges) oft unter anderem dazu, mit der Differenzierung zwischen einer primären und einer sekundären Darstellungsebene zu spielen und diese zu destabilisieren – und im Zusammenhang damit die Abgrenzung zwischen Fiktion und Nichtfiktion in Frage zu stellen. Der spezifische Raum, den solche zum literarischen Text selbst hinzugehörigen Fußnoten auf der jeweiligen Buchseite einnehmen, also ihre konkrete spatiale Positionierung zum jeweiligen Haupttext, kann sinnkonstitutiv sein, ist dies aber nicht zwingend; so kann das Seitenlayout einer Borges-Erzählung wie La biblioteca de Babel unterschiedlich ausfallen; die spezifischen Fußnoten-Effekte ergeben sich unabhängig davon. Dass es überhaupt solche Fußnoten und damit einen anderen Textraum gibt, ist entscheidend.  



Fußnoten in der neueren Buch-Literatur. Mark Z. Danielewskis House of Leaves (vgl. dazu Teil E 1.31) nutzt die Gestaltungsoptionen durch Fußnoten und Annotationen ausgiebig und bietet teilweise Fußnoten zu Fußnoten, also mehrfach hierarchisierte Texträume (vgl. Zubarik 2014). Infolge des Layouts wird in diesem Roman die räumliche und raumkonstitutive Dimension des Fußnotenteils deutlich sichtbar; durch mehrfach gestufte Ebenen der textgrafisch inszenierten Annotierung ergibt sich eine Raumtiefenwirkung, die der Inhaltsebene (der Erzählung um ein Haus mit expandierenden Tiefenräumen) entspricht. Auch die Effekte auf die Nutzerorientierung sind analog: Wie die Tiefe des Hauses, so wirkt auch die Komplexität des in sich untergliederten Fußnotenapparats im Buch desorientierend. Weil Danielewski seinem Roman das Konzept des Labyrinths inhaltlich und strukturell zugrunde legt, illustriert das Roman-Buch nicht zuletzt die labyrinthischen oder labyrinthogenen Potenziale der Fußnoten-Politik: Mit jeder Fußnote ‚verzweigt‘ sich der vom Haupttext gebildete Weg, analog zum Modell des Irrgarten-Labyrinths, und wenn sich die Abzweigungen weiter verzweigen, wächst die Desorientierung. Abundante Fußnoten bei Germar Grimsen. Zumindest im Ansatz desorientierend wirken Fußnotenkomplexe (und die entsprechenden Fußnotenflächen und -räume) gegebenenfalls schon dann, wenn ihr Umfang das Vertraute sprengt und sie den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Haupttext visuell bedrängen oder an die Seite schieben. Germar Grimsen inszeniert mit seinem umfangreichen Buch-Prosawerk Hinter Büchern. Der Reigen (Grimsen 2007) eine solch weitläufige und infolge solcher Weitläufigkeit irritierende Fußnotensphäre (vgl. Teil E 1.40). Die Hauptgeschichte des romanartigen Textes ist die eines Bremer Antiquars, der zwischen Büchern lebt. Der als Bezugsobjekt der Anmerkungen in den Fußnoten präsentierte ‚Haupttext‘ dient der Darstellung dieser Geschichte, nimmt aber zudem manch andere Information auf. Er ist aus verschiedenen Texttypen komponiert; im engeren Sinn narrative Passagen wechseln ab mit essayistisch-reflexiven sowie – in erheblichem Maß – mit dialogischen Teilen. Dabei finden sich bei Grimsen keine typografischen Auffälligkeiten; differente Schriftfonts und Schriftgrößen spielen keine markante Rolle. Das Buch 



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arrangement wirkt allein durch die Verteilung des Gewichts zwischen den Textflächen wie die konkrete Inszenierung eines Lebens zwischen und ‚hinter‘ Büchern; es enthält vor allem in seinen Fußnotenteilen eine unüberschaubare Vielzahl intertextueller Referenzen, Zitate, Anspielungen auf Texte und Auswertung von Gelesenem. Und so wie der Protagonist hinter Büchern fast verschwindet, so verschwindet der Haupttext streckenweise gleichsam hinter seinen Annotationen. Auf vielen Seiten finden sich gerade mal zwei Zeilen Haupttext; die Restseite ist mit Fußnotentexten bedeckt. Das Druckbild des Buches setzt als Kernthema eine abundante Belesenheit, eine bis zur Schrulligkeit gehende Zitierfreude in Szene – und schreibtechnisch eine entsprechend überbordende Intertextualität. Die Signifikanz des Druckbilds wie die gelehrte bzw. gelehrsamkeitsparodistische Zitierpraxis des Buchs legen den Vergleich mit Arno Schmidts Werken, insbesondere mit Zettels Traum, nahe.  

Spannung zwischen fehlendem Haupttext und Fußnoten bei Gérard Wajcman. Eine thematisch anders motivierte und noch radikalere Fußnoten-Gestaltung prägt Gérard Wajcmans Buch L’interdit, im Untertitel als „Roman“ charakterisiert (Paris 1986; vgl. u. a. Zubarik 2014). Abgesehen von spärlichen anderen paratextuellen Elementen – einem Motto aus Prousts Recherche und Kopfzeilen mit dem sich wiederholenden Romantitel (L’interdit) – besteht der Text des „Romans“ bis zur 246. Buchseite nur aus Fußnoten, insgesamt 207, konsequent durchnummeriert. Ein Haupttext fehlt, wie die entsprechend weiß bleibenden Seitenflächen oberhalb sinnfällig machen. Dafür entfalten sich in den Fußnoten narrative, deskriptive und reflexive Texte. Die titelgebende Vokabel L’interdit ist mehrdeutig. Sie verweist auf das Tabuisierte, auf das, wovon zu sprechen verboten ist oder sich verbietet, mittelbar also auf die Shoah als (heimlich-unheimliches) Kernthema des Buchs. Zugleich lässt sie sich als Hinweis auf das ‚Dazwischen‘, das inter-dictum, interpretieren – also als Hinweis auf einen unsichtbaren Text zwischen dem sichtbaren. Wajcmans Konzept, die Existenz eines ‚unsichtbaren‘ Textes durch seine Annotation zu suggerieren, basiert auf den raumstrukturierenden Effekten der Buchgestaltung, die sich in der Buchlese-Kultur etabliert hat. Dass Fußnoten eine spezifische Buchräumlichkeit generieren, deren Funktion und Effekt es ist, Texte aufzunehmen, wird zunächst (bis S. 246) durch Sichtbarmachung der freibleibenden Leerräume unterstrichen. In Fortsetzung der 207. Fußnote dann kommt es zu einer Art Verselbständigung des Fußnotentextes. Auf S. 247 beginnt ein Textabschnitt, der eingangs eine leere Klammer der Art zeigt, wie sie bislang die Indexnummern der Fußnoten anzeigten, also den Anfang einer sich vom Haupttext emanzipierenden Fußnote. Dieser Text setzt sich dann – seitenflächendeckend – auf den Seiten 248 bis 267 des Buches fort.  

















Reduktionsstrategien bei Friederike Mayröcker. Einen ausschließlich aus Fußnoten bestehenden Text bietet, in dieser Hinsicht mit Wajcmans Buch vergleichbar, Friederike Mayröcker mit ihrem Werk ich bin in der Anstalt/Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk (Berlin 2010). Wiederum verweist bereits der Buchtitel auf einen

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fehlenden Text als inexistentes Pendant des sichtbaren Textes. Anders als bei Wajcman bedecken aber bei Mayröcker die „Fusznoten“ die Druckseiten des Buchs insgesamt – insofern also befreit von ihrer ‚inferioren‘ Stellung zu Füßen der Seite. Die Fußnoten sind (von 1 bis 243) durchnummeriert, wobei die letzte, 243. Fußnote nur aus einer Serie von (Auslassungs-)Punkten („…………“) besteht, die Fußnoten-Serie also ins Schweigen mündet. Der Text, aus reflexiven, narrativen, deskriptiven Notizen bestehend, die wie unversehens beginnen und enden, hat zu weiten Teilen den Duktus persönlicher Erinnerungen, Überlegungen und Selbsterkundungen. Er versteht sich als Hommage an Jacques Derrida und dessen Schrift Circonfessions, deren Titel seinerseits auf die Confessiones des Augustinus anspielt – die ihrerseits als prägend für die Geschichte der Autobiografie zu den Wegbereitern von Mayröckers Werk gehören; so schließt sich ein Kreis. Inhaltlich prägend ist auch die Erinnerung an den verstorbenen Lebenspartner Mayröckers, Ernst Jandl. Die Charakteristik der Textteile als „Fusznoten“ zu Ungeschriebenem suggeriert eine schreibend kaum oder gar nicht zu bewältigende Fülle an Erinnerungen, aber auch die Vorstellung, erst der (fehlende) Haupttext könne die Fußnoten verständlich werden lassen und ihren Sinn ganz enthüllen. Obwohl das ganze Buch auf konventionell wirkende Weise mit Text bedeckt ist, erzeugen sein Titel und die gewollte Bruchstückhaftigkeit der Textabschnitte einen imaginären und daher unlesbaren Komplementärtext.  





Kommunikation über Fußnoten: Simon Morris. Der konzeptuell arbeitende Künstler und Schriftsteller Simon Morris hat die Form der Fußnote in seinem Buchwerk Interpretation Vol. I (New York 2002) genutzt, um in verfremdender Weise auf das Buch als Kommunikationsraum hinzuweisen. Er lud zwei Literaturtheoretiker, Liz Dalton und Forbes Morlock, ein, jeweils einen Aufsatz zu einem beliebigen Thema, versehen mit Fußnoten, zu verfassen. Für sein Buch löschte Morris die jeweiligen Haupttexte; zurück blieben nur die Fußnotenziffern auf der eigentlich für diesen Haupttext bestimmten Fläche sowie die Fußnoten selbst. Anschließend sandte er Daltons derart reduzierten Text an Morlock und umgekehrt – und bat beide, auf dieser Basis den Text des jeweils anderen zu rekonstruieren; so entstanden neue Texte. Interpretation Vol. I enthält die ursprünglichen Aufsätze, die reduzierten (Fußnoten-)Texte, die ‚Rekonstruktions‘-Texte sowie Porträts der beteiligten Textverfasser. Das Buch wurde von Peter McGrath gestaltet und illustriert exemplarisch die stimulierenden Effekte literarischer Auseinandersetzung mit paratextuellen Formaten und Schreibweisen. MSE  





Sprachen und ihre Bücher: Wörterbuch-Literatur, Wörter-Buchliteratur Wörterbücher sind an ihrem Erscheinungsbild schnell zu erkennen. In der Regel bildet eine umfangreiche Serie von Lemmata (von Einzelwörtern oder Ausdrucksweisen aus

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mehreren Wörtern, von Vokabeln aus dem allgemeinen Bestand einer Sprache oder von Fachbegriffen aus Spezialdiskursen) ihre Achse, und diesen Stichwörtern entsprechen Erläuterungen zu ihrer Bedeutung. Diese können innerhalb derselben Sprache verfasst sein (und dabei ein ganzes Spektrum an Bedeutungsoptionen und Verwendungsweisen darstellen), aber auch in einer anderen Sprache; zwei- oder mehrsprachige Wörterbücher dienen (unter anderem) als Übersetzungshilfen. Vielfach sind Beispiele des geläufigen Wörtertypus zweispaltig gedruckt; oft sind die zu erläuternden bzw. zu übersetzenden Lemmata gegenüber ihren Erläuterungen oder Übersetzungen typografisch abgehoben. Die Einträge zu den Einzellemmata können unterschiedliche Umfänge haben, sind aber jeweils erkennbar gegeneinander abgehoben, sodass sich dem Leser kein linear-kohärenter Text präsentiert, sondern eine Folge von separat lesbaren Artikeln. Diese Form erleichtert es unter anderem, bei Neuauflagen Zusätze in Gestalt neuer, nunmehr als nötig erscheinender Artikel vorzunehmen oder aber überflüssig erscheinende Artikel zu entfernen. Für eine Vernetzung der Artikel untereinander kann durch Verweise gesorgt werden. Umfangreiche Wörterbücher sind mehrbändig. Alphabetische Anordnung und Struktur des Nachschlagewerks. Wie auch das (Sach-)Lexikon und die Enzyklopädie sind Wörterbücher im historischen Kontext der Bücherlese-Kultur stark durch alphabetische Strukturierungen bestimmt. Ihre Gestaltung lädt nicht zur linearen Lektüre ein, sondern zum zielgenauen Suchen nach Einzelinformationen, die man am Leitfaden des Alphabets findet. In Wörterbüchern wird hin-und-her-geblättert; auch aufgeschlagene Seiten werden selektiv gelesen. Wörterbücher sind also ‚Nachschlagewerke‘, welche die Materialität des Kodex gezielt nutzen (in der digitalisierten Lesekultur tritt die Bedeutung des Alphabets als Organisationsprinzip zurück, da sich die gesuchten Informationen auf andere Weise finden lassen). Als Vorläufer des alphabetischen Wörterbuchs können nicht-alphabetische Wörterlisten gelten, wie sie allerdings begleitend zu ersteren auch in der Epoche vorzugsweise alphabetisierter Wissensbestände geführt und genutzt werden. Alphabetisch organisierte Wörterbücher profitieren von der Flexibilität der alphabetischen Anordnungsform eines partikularisierten Wissens – hier eines Wissens über die Bedeutungen und Bedeutungsvarianten von Vokabeln, die als jeweils separate Gegenstände der Information behandelt werden können, weil sie sich aus ihren Verwendungskontexten zum Zweck genauerer Betrachtung isolieren lassen.86  

86 Vokabularien im Bereich digitaler Textmedien, etwa im Internet oder auf Datenträger, nennen sich oft ‚Wörterbuch‘, auch wenn man es mit keinem Buch mehr zu tun hat. Entsprechend verliert auch die für Wörter-Bücher charakteristische alphabetische Anordnung ihre Funktion. In elektronisch-digital präsentierten Vokabularien sucht man Wörter nicht mehr am Leitfaden des Alphabets. Gerade diese praktisch folgenreiche Abwendung von einer über Jahrhunderte etablierten Form des Abrufs von Vokabel- und Sprachwissen scheint Schriftsteller und Künstler aber gelegentlich dazu zu stimulieren, über die Form des Wörter-Buchs zu reflektieren und mit ihr zu arbeiten.

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Das Wörterbuch als Anlass und Medium der Buchreflexion. Das Artikelschema von Wörterbüchern, die alphabetische Struktur und die charakteristischen seitengestalterischen und typografischen Merkmale von Wörterbüchern geben in der Literatur wie auch in der Buchkunst Anlass zu gestalterischen Rekursen auf dieses Buchformat. Damit einhergehen zum einen (implizite oder explizite) Reflexionen über die Themen und Gegenstände des literarischen bzw. buchkünstlerisch gestalteten Wörterbuchs, zum anderen aber auch (zumindest mittelbar) Reflexionen über das genutzte oder parodierte Buchformat selbst als eine markante und kulturhistorisch bedeutsame Spielform des Kodex. Insofern stehen literarische und buchkünstlerische Wörterbücher (respektive: Arbeiten, die auf das Format des Wörterbuchs Bezug nehmen) zumindest unausdrücklich im Zeichen der Reflexion über bookness. Wörterbuchtypische Formen des Spaltendrucks und der Artikelgestaltung können dazu genutzt werden, Vokabeln und sprachliche Wendungen auf eine Weise sprachlich zu inszenieren, welche das Buch als eine Bühne vertrauter oder unvertrauter sprachlicher Ausdrücke erscheinen lässt. Die im literarisch-künstlerischen Wörterbuch auftretenden Vokabeln erhalten teilweise durch ihre visuelle Präsentation den Status von Protagonisten. Teilweise suggerieren die Wörterbucher, sie seien Orientierungshilfen in der Fülle des Sprachwissens, teils erscheint das Wörterbuch aber auch als ein Raum, in dem sich das undurchdringliche Dickicht der Vokabeln und Phrasen eines Sprachraums metonymisch verdichtet. Literarisch-künstlerische Bearbeitungs- und Modifikationsprozesse. Die charakteristische Seitengestaltung von Wörterbüchern kann durch ihre zitathafte Verwendung für literarisch-künstlerische Projekte auf vielfältige Weisen genutzt und dabei auch modifiziert werden. Dazu gehören neben der typografischen Gestaltung von Texten analog zu konventionellen Wörterbüchern auch wörterbuchspezifische Schreibweisen. Dazu gehören ferner Formen des ausführlichen und im Textbild prägnant sichtbaren Zitierens aus Wörterbüchern, aber auch die Organisation von Textabschnitten unter Orientierung an den spezifischen Vokabelbeständen von Wörterbüchern bzw. Wörterbuchartikeln. Schließlich können bereits existierende Wörterbücher auch auf verschiedene Weisen bearbeitet und verfremdet werden: durch einen modifizierenden Neusatz, durch Zerlegung und partielle Nutzung, durch Überschreiben oder Übermalen. Themen (a): Sprachreflexion. Die 1960er Jahre als eine literarische und künstlerische Aufbruchszeit, in der sich unter anderem das Künstlerbuch als neues Genre profilierte, standen zugleich im Zeichen des so genannten ‚linguistic turn‘ (Rorty 1992, S. 1–39). Innerhalb verschiedener Wissensdiskurse und bezogen vor allem auf gesellschaftliche und politische, auf pädagogische und philosophische Fragestellungen rückte die prägende Kraft sprachlicher Strukturen und sprachlich vermittelter Vorstellungen über die Welt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der menschliche Weltbezug in seinen zahllosen Facetten – theoretischen wie praxisbezogenen – erschien maßgeblich als durch sprachliche Darstellungsmodi und wortgebundene Interpreta 





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tionen geprägt; die jeweils interpretierte ‚Welt‘ gilt als maßgeblich bedingt durch die Sprache, ihre Vokabulare und ihre Regeln, das Denken selbst als unhintergehbar beeinflusst durch Grammatik und Syntax. Die unter verschiedenen Akzentuierungen bekräftigte Bindung des Denkens und Wissens, der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis, ja der individuellen und kollektiven ‚Identitäten‘ an die Sprache, an ihre Zeichen und vor allem an ihre Grammatik wird durchaus verschieden bewertet. Am einen Ende des Spektrums einander gegenläufiger Ansätze steht die sprachidealistische Konzeption eines sprachlich begründeten ‚Weltbildes‘, das den Horizont menschlicher Weltwahrnehmung, Weltinterpretation und Weltaneignung bildet. Demgegenüber steht das Vorstellungsbild einer Sprache, die durch die Ermöglichung bestimmter Weltbezüge zugleich auch andere ausschließt, einer abstrakten Macht, die über die Weltwahrnehmung und Weltinterpretation des Sprachbenutzers von Anfang an regiert. Nachschlagewerke zu Vokabelbeständen, zu etymologischem und sprachhistorischem Wissen, sind Katalysatoren der Reflexion über Sprache, über Wortklänge und Bedeutungen, über die sozialen und kulturellen Funktionen von Sprache. Als sprachreflexive Werke besitzen sie eine Affinität zu literarischen Schreibweisen, insbesondere in der Moderne, die zu erheblichen Teilen durch einen sprachreflexiven Grundzug geprägt ist. Sie bieten in literarischen Kontexten einen Rahmen, um Wörter zu verfremden, Wort-Hybride und Neologismen zu bilden. Themen (b): Wörterbuch- und Weltwissen. Wörterbücher und Lexika sind nicht klar gegeneinander abzugrenzen (vgl. Haß 2012; Haß fasst unter dem Begriff „Lexikon“ Wörterbücher und kulturbezogene Informationen wie Enzyklopädien und Lexika zusammen). Der Terminus ‚Dictionnaire‘ bzw. ‚Dictionary‘ wird sowohl für Kompendien verwendet, die Vokabelwissen vermitteln und Wortbedeutungen erläutern, als auch für Nachschlagewerke zur Vermittlung von allgemeinem Weltwissen oder von spezifischerem Sach- und Fachwissen. Das Hauptgewicht vieler Wörterbücher liegt zwar auf Vokabelwissen, Etymologischem und Bedeutungsfeldern, wie ihr deutscher Name ja auch schon signalisiert. Aber gleichwohl fließt in die Vermittlung allen Sprachwissens immer auch schon Weltwissen ein, begonnen bei der Auswahl der erläuterten (und damit performativ als für das Wörterbuch relevant behandelten) Stichworte – bis hin zur Einbeziehung sprachkultureller, sprachsoziologischer, sprachhistorischer Informationen. Umgekehrt basiert ein diktionaristisches Kompendium, das primär Sachinformationen vermitteln will, stets auch maßgeblich auf Sprachwissen, wiederum begonnen bei der Lemmata-Auswahl. Als eine eigene Form des Wörterbuchs können solche Kompendien gelten, die nicht deskriptiv, sondern präskriptiv angelegt sind und den Gebrauch respektive die Bedeutungsoptionen von Vokabeln regulieren bzw. deren korrekte Schreibweisen fixieren. Der Duden ist ein solches Wörterbuch, und exemplarisch illustriert er die autoritative Dimension dieses Buchtypus (vgl. Fischer 2012). Die literarisch-künstlerische Reflexion über den Buchtypus Wörterbuch impliziert in jedem Fall stets auch ein Moment der Reflexion über den Zusammenhang zwischen Sprache, Buchkultur und Wissensbeständen, sei es unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit oder der spezifischen  

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Ausdifferenzierung von Wissenskulturen, sei es auch im Zeichen der Gegenüberstellung von Besonderem und Allgemeinem, individuellem Ausdrucksbedürfnis und autoritativer Macht sprachlicher Konventionen und Codes. Han Shaogongs Roman A Dictionary of Maqiao (1996, engl. 2003) erzählt in Form eines Wörterbuchs über das Leben in einem südchinesischen Dorf zur Zeit der Kulturrevolution, über die Kultur, die Gebräuche, die Beziehungen, Schicksale und Geschichten der Dorfbewohner, insbesondere auch über spezifische Ausdrucksweisen dieser stark dialektalen Region und deren Bedeutung für die Vorstellungswelten der Bürger von Maqiao. Der Roman vermittelt am Leitfaden eines fiktiven, aber auf der Basis eigener Erfahrungen erfundenen Sprachraums komplexe Einsichten in das Zusammenspiel von Ausdrucksweisen, Glaubensinhalten, Wissensformationen und sozialen Strukturen. Er ist auf der Ebene des Seitenlayouts wie ein Wörterbuch gestaltet; die Lemmata stehen den Artikeln voran wie in einem Nachschlagewerk, die Artikel sind entsprechend den Einträgen eines Wörterbuchs angeordnet. In der englischen Übersetzung ergibt sich durch den Wechsel der Sprache und des Schriftsystems gegenüber dem chinesischen Original eine entsprechende Modifikation; die chinesischen Original-Lemmata stehen aber neben ihren englischen Übersetzungen. Der Autor bzw. sein Erzähler optiert – kritisch gegenüber der kulturrevolutionären Homogenisierungs- und Vereinfachungspolitik im Bereich von Sprach- und Schriftkultur – für Tradition und Ausdifferenzierung. Im Zusammenhang damit gilt der Roman nicht allein den Bedingungsverhältnissen zwischen Sprache und Schrift auf der einen, Denken, Imaginieren und Empfinden auf der anderen Seite, er lenkt auch mehrfach den Blick auf die Visualität von Schriftzeichen und ihre Signifikanz, auf die Materialität von Texten und auf Schreibprozesse.  



Themen (c): Mehrsprachigkeit, Fremdsprachliches, Fremdschriftliches. Fremdwörterbücher bieten spezifische Anschlussstellen für reflexive literarische und buchgestalterische Arbeiten. Sie sind nicht allein ein Anlass, sich mit Übersetzungs- bzw. Transferprozessen im engeren und weiteren Sinn zu befassen, Bestände unterschiedlicher Sprachsysteme, gegebenenfalls auch unterschiedlicher Schriftsysteme einander gegenüber zu stellen, sondern sie können auch auf Prozesse und Grenzen des Verstehens zwischen differenten Sprach- und Schriftwelten hinweisen, die Fremdheit differenter Schriftwelten visuell inszenieren. Wörterbücher sind für viele literarische Autoren wichtige Fundstellen irritierender und daher anregender Vokabeln, handle es sich dabei nun um historische oder Spezialwörterbücher der eigenen Sprache oder um Fremdwörterbücher, womöglich um Wörterbücher einer fremden Schriftkultur. In letzterem Fall geht vom Schriftbild der Lemmata und Artikel eine besondere Irritation aus, die sich literarisch nutzen (und zitatweise re-inszenieren) lässt. Yoko Tawadas Roman Schwager in Bordeaux (2011) gliedert sich einzelne Abschnitte, in denen Erlebnisse, Erinnerungen und Imaginationen der Protagonistin in

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nicht-chronologischer Folge dargestellt werden. Wie Wörterbuch-Artikel stehen die Abschnitte des deutschen Romans unter japanischen Schriftzeichen, die wie ihre (für den deutschen Leser in der Regel unlesbaren) Lemmata wirken. Tatsächlich handelt es sich um Zeichen respektive geschriebene Vokabeln, die als Schlüsselwörter gelesen werden können, weil die von ihnen ausgelösten (teils verschiedenartigen) Vorstellungen zu den Inhalten der Artikel in einer Beziehung stehen. Von einer klaren oder gar explikativen Zuordnung kann aber nicht die Rede sein. Eher erzeugen die Relationen zwischen den Stichwörtern und den Textabschnitten ein Befremden, wie es auf der Inhaltsebene die japanische Heldin in der westlichen Schriftkultur und westliche Figuren angesichts asiatischer Schriftzeichen empfinden. Der Leser des wie ein Wörterbuch wirkenden Buchs (in dem zudem eine ganze Reihe von Einzelseiten Textbilder aus japanischen bzw. chinesischen Ideogrammen enthalten) sieht sich insofern mit einem Fremd-Wörterbuch konfrontiert. Themen (d): Wort und Bild. Bebilderte Wörterbücher. Illustrierte Wörterbücher nutzen Bilder, um Wortbedeutungen zu verdeutlichen oder Informationen über das Bedeutungsfeld von Begriffen zu spezifizieren. In buchliterarischen und buchkünstlerischen Arbeiten wird auf das Sonderformat des illustrierten Wörterbuchs unter diversen Akzentuierungen zurückgegriffen; zumindest implizit berührt sind dabei stets die Relationen zwischen Verbalem und Visuellem. Dazu gehören auch deren räumliche Kombinationen und Konstellierungen im Buch, insbesondere die Frage, wie Bilder in Textkomplexe integriert oder durch Textabschnitte erläutert werden. Auch hier liegt ein Ansatz zur Reflexion über das Buch selbst, insofern dieses den Raum bietet, innerhalb dessen sich verschiedene Zeichensysteme, Codes und Bildprogramme treffen, sei es, um einander wechselseitig zu kommentieren und zu stützen, sei es auch, um ihre Konflikte auszutragen oder als Ensembles Irritationen auszulösen. Vor allem in bebilderten Vokabellisten wird die ‚erläuternde‘ Seite als Pendant des jeweils zu erklärenden Worts um visuelle Elemente ergänzt, vor allem durch bildliche Darstellung dessen, was mit dem fraglichen Namen benannt wird. Dadurch kommt es zu einer Gegenüberstellung sprachlicher und bildlicher Repräsentationen, also eines verbalen und eines visuellen Codes oder Code-Ensembles (es können mehrere Bildercodes in einem Nachschlagewerk zum Einsatz kommen, also etwa Fotos, Schemazeichnungen, Karten und Diagramme). Bebilderte Wörterbücher stimulieren insofern zur literarisch-künstlerischen Auseinandersetzung mit Wort-Bild-Relationen, mit Spannungen und Konvergenzen zwischen Text und visuellen Gestaltungsparametern. Péter Zilahys Buch Az utolsó ablaksziráf (1998, dt. 2004), gestaltet auf der Grundlage eines ungarischen Kinderlexikons, reflektiert implizit und explizit über die von bebilderten Wörterbüchern entworfenen Welt-Bilder. Das Kinderlexikon stellt in Text und Bild eine heile sozialistische Kinderwelt dar; dies wird konterkariert durch Bilder, reportageartige Erzählungen, autobiografische Erinnerungen und historische Informationen über das ehemalige Jugoslawien, seine Geschichte, seine Konflikte

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und seinen Zusammenbruch. Historische Vokabulare und Kindervokabular verhalten sich ähnlich diskrepant wie die verwendeten Bildprogramme. Als Transformation eines vorgefundenen Lexikons durch eigene, tiefgreifende gestalterische Maßnahmen macht das Buch in Form und Inhalt sinnfällig, wie sich erlerntes Lexikonwissen im Lauf konkreter Erfahrungsprozesse modifiziert, wie Vokabeln obsolet oder mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden, wie Bebilderungen als Manipulationen erscheinen. Wörterbücher als literarisches Thema. Kein Buchtypus scheint sich als Metonymie der ‚Sprache‘ qua System besser zu eignen als das Wörterbuch (allenfalls GrammatikBücher und andere Sprach-Lehrwerke sind ähnlich suggestive Formate). Das Wörterbuch repräsentiert als Gegenstand literarischer Thematisierung, als Modell ästhetischer Textstrukturierung wie auch als Objekt physisch-sinnlicher Ausgestaltung und Bearbeitung immer zumindest implizit ‚die Sprache‘ selbst als Vorgabe, Regulativ und ‚Matrix‘, als Stifterin eines Denk- und Kommunikationsraums, innerhalb dessen sich der menschliche Welt- und Selbstbezug konstituiert. Dabei ergibt sich ein breites Spektrum an literarischen Akzentuierungsmöglichkeiten, wie der Vergleich exemplarisch zeigt: In Jean-Paul Sartres Selbstbiografie Les mots (Sartre 1964, dt. Die Wörter 1972) und in Peter Handkes Roman Die Wiederholung (Handke 1986) ist jeweils ein Wörterbuch konstitutiv für den Weltbezug des Ichs. Sartre erinnert sich, in die Kinderzeit zurückblickend, an seine intensiven Lektüren im Larousse, dessen alphabetische Struktur die Welt aufzuteilen und portionsweise zu erschließen schien. Wörterbuchgläubig nahm der Junge die Ausführungen der Wörterbuchartikel als Darstellung der Essenzen der Dinge selbst; das Wörterbuch erschien als Verdichtung der Welt. Kritisch diagnostiziert Sartre als autobiografischer Erzähler, durch die Fixierung auf eine Schein-Welt des Buchwissens sei seine Beziehung zur Realität negativ beeinträchtigt worden; das Buchwissen habe ein anderes mögliches Weltwissen vorerst verdrängt (Sartre 1972, S. 30). In Peter Handkes Roman Die Wiederholung erinnert sich ein IchErzähler aus dem deutsch-slowenischen Grenzraum an seinen verschwundenen Bruder, der ihm ein Wörterbuch der slowenischen Sprache und Redensarten aus dem späten 19. Jahrhundert zurückgelassen hat. Dieses bringt dem Erzähler die ihm zuvor eher fremde Lebenssphäre slowenischer Dorfbewohner näher; die slowenischen Wörter enthalten in prägnanter und verdichteter Form, „was zu dieser Welt gehört“ (Handke 1986, S. 198f.). Mithilfe des Wörterbuchs erschließen sich bisher ungesehene Dinge, und ganze Welten scheinen in den Vokabeln kondensiert vorzuliegen und mittels der Vokabeln revozierbar zu sein (ebd., S. 205).  







Ein Wörterbuch des eigenen Lebens. Juri Rytchëus autobiografisches Buch Doroshny lexikon (Rytchëu 2008, dt. Alphabet meines Lebens 2010; die Übersetzung beruht auf dem Manuskript des 2008 verstorbenen Autors) erzählt anhand von Stichwörtern und am Leitfaden des kyrillischen Alphabets von seiner heimatlichen Welt, der Kultur der Tschuktschen, ihren Lebensformen und Vorstellungen, aber auch von der Begegnung

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mit der russischen Kultur und deren Folgen. Nicht für alle Vokabeln, die dabei abzuhandeln sind, gibt es überhaupt eine tschuktschische Entsprechung. Die russische Schrift- und Wissenskultur prägen den Erzähler nachhaltig, und sein Erinnerungsbuch ist eine Hommage an beide Kulturen, die einander in seinen Vorstellungen wie in seinem Wörterbuch gegenüberstehen, einander manchmal fremd bleiben, sich in manchem aber auch durchdringen. Viele Artikel reflektieren explizit über die Vokabeln, in deren Zeichen sie stehen, über Sprache, Wörter und Schrift, über deren performative und weltkonstitutive Dimension. Die für diese Autobiografie gewählte Form des Wörterbuchs erscheint als motiviert durch den Grundgedanken, dass das dargestellte Leben selbst durch Wörter maßgeblich geprägt wurde – durch ein doppeltes kulturelles Vokabular, dessen russischer Teil sich in Wörterbüchern materialisiert findet.  

Literarische Wörterbuchtexte als Buch-Literatur. Zumindest implizit verweisen literarische Texte, welche die Form des Wörterbuchs haben oder auf sie Bezug nehmen, auf das Buchformat Wörterbuch und seine spezifische bookness. Dabei präsentieren sie sich manchmal als inventive und gleichsam alternative Wörterbücher, welche kodifizierten Vokabularien und Ausdrucksweisen eigene Vorschläge entgegenstellen, manchmal aber auch als Hommagen an bestehende Wörterbücher. In beiden Fällen spielen Rekurse auf die buchgestalterischen Eigenschaften von Wörterbüchern eine Rolle. Diverse Werke Francis Ponges sind Hommagen an den Littré und an den Larousse (vgl. Ponge 1982).87 Die französischen Wörterbücher, vor allem ersteres, werden zur ständig genutzten Quelle von Informationen über Ausdrucksweisen und Bedeutungsnuancen von Wörtern; seine Konsultation steht im Zeichen der Suche nach treffenden, prägnanten Ausdrucksweisen für Gegenstände der Erfahrung. Dabei gestaltet Ponge seine Texte gern als Dokumentationen seines Wörterbuchgebrauchs: Er montiert sie zu weiten Teilen aus Wörterbuch-Zitaten, sodass seine eigenen Texte visuell und strukturell Wörterbüchern gleichen. Ganze, teils längere Passagen aus dem Littré werden bei Ponge zitiert, um den Versuch sprachlicher Annäherung an die Dinge, sprachlicher Erschließung ihres Wesens über ihre Erscheinung visuell sinnfällig zu machen. Der literarische Text betreibt also eine optische Mimikry an das Aussehen von Wörterbuchauszügen, um das Geschehen zwischen Sprachbenutzer, Dingen und Wortbeständen als solches darzustellen. Milorad Pavićs Roman Hazarski Rečnik (Pavić 1984, dt. Das chasarische Wörterbuch 1988) ist ein lexikografischer Text, der auf die Bedeutungsüberschneidung von ‚Wörterbuch‘ und ‚Lexikon‘ setzt, wie sie sich in den Ausdrücken ‚dictionnaire‘ (bzw. ‚dictionary‘, ‚dizionario‘ etc.), aber auch im slawischen „rečnik“ manifestiert. Buch-

87 Le Carnet du bois de pins und La Mounine ou Note après coup sur un ciel de Provence erschienen zusammen erstmals 1952 in Ponges Band La Rage de l’expression. Vgl. auch Christin 1995.

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gestalterisch orientiert sich dieses „Wörterbuch“ stark am Erscheinungsbild diktionaristischer Nachschlagewerke. Dass der Roman sich aus drei Teilwörterbüchern zusammensetzt, unterstreicht die Signifikanz dieser Form. Die Lemmata der drei Teillexika decken sich nur partiell; Kongruenzen ergeben sich bloß, wenn es um Namen geht, und auch dann sind die Inhalte der Artikel different. So entwirft jedes der drei Wörterbücher eine eigene Welt und eine eigene Version der Geschichte. Durch eine Rahmengeschichte und zur literarischen Fiktion gehörende einleitende Passagen wird der Themenkomplex Buch und Buchbenutzung nachdrücklich evoziert.88 Mit der fingierten Geschichte des chasarischen Wörterbuchs geht es nicht zuletzt um dessen Materialität und deren Geschichte, um unterschiedlich gestaltete und verzierte Bücher, um ein vergiftetes Exemplar, um die Folge unterschiedlicher Ausgaben und deren wechselnde Erscheinungsbilder. Durch typografische und textstrukturelle Mittel imitiert der Roman ältere Lexika und setzt auf deren Changieren zwischen Vertrautheit und Fremdheit; hinzu kommen einzelne illustrative Elemente. Günter Grass’ Roman Grimms Wörter (vgl. auch Teil C 1, Kap. „ABC“) arbeitet mit Vokabelbeständen des Deutschen Wörterbuchs, deren Bände dem Erzähltext, gleichsam als Hypotext, unterlegt sind (Grass 2010). Indem die Geschichte dieses Wörterbuchs und seiner Verfasser erzählt wird, stehen die einander folgenden Kapitel jeweils im Zeichen spezifischer Vokabelgruppen aus dem Bereich des A, des B, des C etc. Die fraglichen A-, B-, C- etc.-Vokabeln treten in den fraglichen Kapiteln gehäuft auf und werden vielfach explizit kommentiert. Grass konstruiert sprachartistisch komplexe Beziehungen zwischen der tatsächlich grob dem Verlauf des Alphabets folgenden Genese und Publikationsgeschichte des Wörterbuchs und den Stichworten, welche dabei für die Wörterbuchautoren zu bearbeiten waren und die dabei zu Schlüsselwörtern für die Auseinandersetzung mit den benannten Gegenständen wurden. Berücksichtigt wird nur der Teil des Alphabets, dessen Bearbeitung Jacob Grimm selbst noch vornehmen konnte. Weil sich bei der Genese des Grimmschen Wörterbuchs chronologische und alphabetische Ordnung überlagerten (die Bände kamen, beginnend beim A, der alphabetischen Ordnung folgend nacheinander heraus), stehen sie in einer wechselseitig-metonymischen Beziehung: Der Gang durchs Alphabet steht für den Verlauf der Zeit. Im Zeichen dieser Idee präsentiert Grass seine Stationen

88 Das Wörterbuch besteht aus je einem christlichen (roten), einem jüdischen (gelben) und einem islamischen (grünen) Teil; durch Verwendung der entsprechenden Druckfarben innerhalb der Teile sowie durch drei Lesezeichenbändchen in den Symbolfarben der Teil-Lexika wird diese Dreiteilung betont. Die Lexika behandeln Verschiedenes, widersprechen einander in wichtigen Punkten, legen historische Ereignisse verschieden aus. Hasarski Rečnik gibt sich als ein Werk aus, das auf der Basis eines früheren Lexikons zusammengestellt wurde: des in lateinischer Sprache im Jahr 1691 publizierten Lexicon Cosri von Johannes Daubmannus. Der fiktive Herausgeber des gegenwärtigen Kompendiums hat die nun präsentierten Artikel auf der Basis der Arbeit des früheren Kompilators Daubmannus zusammengestellt, der seinerseits die Quellenstudien und Forschungen früherer Spezialisten ausgewertet hatte.

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der drei erzählten Geschichten (der Geschichte der Grimms, der Deutschlands und der eigenen): In den unter jeweils bestimmten Buchstaben des Alphabets stehenden Einzelkapiteln spielen Wörter mit entsprechendem Anfangsbuchstaben tragende Rollen. Im A-Kapitel treten mit „A“ beginnende Wörter gehäuft auf; sie bilden Gruppen bzw. Listen; sie fungieren als Leit- und Stichwörter; es wird auf sie aufmerksam gemacht; analog dazu dominieren im B-Kapitel die B-Wörter und so fort. Weil die Geschichte des Grimmschen Wörterbuchs tatsächlich (mehr oder weniger) am Alphabet entlang verlief, wird im Roman über das Wörterbuch die an sich sinnfreie, arbiträre alphabetische Buchstabenfolge zum Modell von Geschichte. Zugleich erweisen sich viele der im Roman verwendeten und dabei aus dem Grimmschen Kompendium zitierten Wörter als Schlüsselwörter, als welthaltige Vokabeln, als aussagekräftige Indikatoren historischer Denk- und Lebensweisen. Passend dazu, dass die alphabetische Ordnung im Roman nicht mehr völlig kontingent wirkt, erscheinen die Buchstaben des Alphabets eher als Keimzellen der Erzählung denn als arbiträre Zeichen. In mehr als einem Sinn präsentiert sich Grass’ Roman als ein ‚Wörter-Buch‘: Er ist ein Buch über Vokabeln und über deren historische Semantiken, ihre Einbettung in die deutsche und europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts sowie in die Lebensgeschichte der Wörterbuchmacher, und er ist durch die Organisation der Kapitel am Leitfaden der (fragmentarisch bleibenden) Alphabetreihe selbst wörterbuchanalog aufgebaut. Buchgestalterisch signifikant sind auch die visuell-grafischen Mittel, mittels derer die Kapitel jeweils eingeleitet bzw. voneinander unterschieden werden: Jedes beginnt mit einer Grafik, die dem im Folgenden jeweils dominierenden Buchstaben gewidmet ist, diesen auftreten und das Kapitel einleiten lässt – so, wie in älteren Zeiten die Initialen, mit denen Kapitelanfänge markiert und erste thematische Hinweise gegeben wurden.  



Buchkünstlerische Auseinandersetzungen mit dem Wörterbuch. Bei der Gestaltung von Buchwerken in Anlehnung an oder unter Verwendung von Wörterbüchern liegt ein starker Akzent auf den visuellen und strukturellen Merkmalen des Wörterbuchs. Auch in der Buchkunst erfolgen künstlerische Interpretationen des Wörterbuchs als Metonymie der Sprachwelt; die Ergebnisse sind vielfältig, teils kontrovers. Am einen Ende des Spektrums steht das besonders schön und ansprechend gestaltete Wörterbuch, etwa in Form einer attraktiv bebilderten Vokabelliste; am anderen Ende steht das physisch zerlegte oder doch auf ‚despektierlich‘ wirkende Weise behandelte Wörterbuch, das zerfetzte, übermalte, durch massive physische Eingriffe verwandelte Kompendium kodifizierten Sprachwissens. Aber auch wenn in solchen Fällen von dem bearbeiteten Wörterbuch wenig überbleiben mag, muss seine physische Verwandlung nicht einseitig als Ausdruck von Kritik und Aggression verstanden werden; wie viele Metamorphosen sind auch diese vieldeutig. In Buchobjekten konkretisieren sich Reflexionen über das Wörterbuch vor allem mit Blick auf deren Materialität. Dabei entfaltet sich ein breites Spektrum spezifischer Akzentuierungen, so etwa durch Konstruktion von Analogiebeziehungen zwischen dem Wörter-

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buch als physischem Objekt und anderen Objekttypen89 oder auch durch eigenwillige und irritierende buchgestalterische Interpretationen des Ausdrucks ‚Wörterbuch‘.90 Konrad Balder Schäuffelens Objekt Haus der Bienenkönigin (1973; abgebildet in Adler/Ernst 1988, S. 304f.) präsentiert sich als ein Kasten (Seitenmaße 17,5 x 20 x 27,5 cm), der einem Bienenzüchterkasten ähnelt oder sogar aus einem solchen entstanden ist. In diesem Kasten liegt, in viele kleine Papierschnipsel zerlegt, ein Buchexemplar von Jean-Paul Sartres Les mots. Scheint es auf den ersten Blick auch nahe zu liegen, dies als eine Distanzierung von dem zerlegten Buch, vielleicht sogar als demonstrative Befreiung vom Bildungsballast „Sartre“ oder auch als Kritik an der Autorenperson des französischen Philosophen insgesamt zu interpretieren, so könnte die Erinnerung an Sartres eigene kritische Distanzierung von der als Kind so wichtig genommenen Bücherwelt (wie sie in Les mots ja erfolgt) auch eine ganz andere Deutung auslösen: Hat der Gestalter des Objektkastens vielleicht Sartres (selbst-)kritische Abrechnung mit der (Ersatz-)Realität der Bücher und der Wörter handgreiflich umgesetzt und demonstrativ ein Buch zerlegt, das aus „Wörtern“ besteht? Oder (eine weitere Option) steckt in dem Objekt ein leise ironischer Vorwurf an die Adresse Sartres, sich als Verfasser von Texten unbeschadet der Kritik an der Wörter-Welt auf deren Seite zu schlagen? Aber warum ein Bienenkasten als Behälter der Buchfragmente? Symbolisch repräsentiert die Biene den Fleiß des Sammlers, das Zusammentragen von Material, das produktiv verarbeitet und nutzbar gemacht wird; der Bienenstaat repräsentiert ein geordnetes Gemeinwesen, das Bienenhaus eine Stätte gemeinschaftlicher Produktion. Wird in diesem Objekt die Tätigkeit des Rezipienten bespiegelt, der (als ‚Leser‘) Verstreutes (nämlich ‚Wörter‘) zusammen-liest? Oder steht er für eine ironische Reduktion des ‚Lesens‘ auf das physische Zusammentragen von fragmentiertem Material?  











Oskar Holwecks Buchskulptur Deutsches Wörterbuch (1980, in Kat. Ausst. 1989, S. 43) basiert auf der Transformation eines deutschen Wörterbuchs. Dessen einzelne Seiten wurden im Inneren des Buchblocks in Streifen gerissen und nach unten wie nach oben aus dem Buchkörper herausgeklappt. Das Buch wirkt einerseits zwar zerstört (im konventionellen Sinn benutzen kann man es nicht mehr), es hat sich aber auch in ein originelles Objekt verwandelt, ja es scheint, als strecke es dem Betrachter viele ‚Zungen‘ heraus (vielleicht, weil es sich nicht mehr lesen lassen will?). Zungen wiederum lassen vieles assoziieren: die im Lateinischen homonyme ‚Sprache‘ (‚lin 

89 Vgl. etwa Gut, Elisabetta: Libro-incabbiato, 1981, 12 x 12 x 3 cm. Das Objekt besteht aus einem Bambus-Grillenkäfig, in dem ein kleines deutsch-italienisches Wörterbuch liegt (Abb. und Katalogeintrag in Groh u. a. 1986). 90 Bruno Paulots Wörterbuch (1977), 144 S., ist charakterisiert durch die ständige Wiederholung des Wortes „WORT“ (Abb. und Katalogeintrag in Groh u. a. 1986, S. 1000, Bild: S. 1000f.).  

















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gua‘), das ‚Zungenreden‘ der Apostel am Pfingsttag, ‚fremde Zungen‘, aber auch die sprichwörtlichen ‚Menschen- und Engelszungen‘,– allerlei Redewendungen um Sprache und ihren Gebrauch. Das spöttisch-despektierliche Herausstrecken der Zunge hingegen ist eine ostentativ nonverbale Geste, mit der das Gegenteil verbaler Kommunikationsbereitschaft signalisiert wird. Ist im Buchinneren ein nichtssagender Hohlraum geschaffen worden – oder ein Freiraum für die Bewegung der Wörterbuchzeilen? Sind sprachliche Formen zerstört worden – oder haben sie sich vom Buch befreit? Wird Kommunikationsverzicht signalisiert – oder aber eine ostentative Grenzüberschreitung?  





Wolfgang Nieblichs Objekt Das Wörter-Buch (1993) ist Bestandteil seiner Buchobjekt-Serie Die unendliche Bibliothek (Nieblich 2010, S. 51). Entsprechend der Konzeption der ganzen Serie besteht es aus einem bearbeiteten Buch, das mit anderen Objekten kombiniert wurde (die in der „unendlichen Bibliothek“ meistens einen zentralen Raum in der Mitte des Buchkörpers einnehmen). In einem graubraun bemalten und mit weißen Farbspuren beklecksten Buchkörper öffnet sich eine quadratische Vertiefung, eine Art Fenster, in dem eine ganze Reihe zurechtgeschnittener und gefalteter Zettel sichtbar sind. Diese bestehen aus bedrucktem Papier aus einem offenbar älteren Druckwerk (Abbildung in der Buchpublikation Die imaginäre Bibliothek (Nieblich 1998, S. 51). Auch wenn das Objekt vielleicht nicht aus einem Wörterbuch entstand und im konventionellen Sinn schon gar kein Wörterbuch ist (zweifelhaft erscheint, ob man es öffnen kann; bei den Bänden der Bibliothek geht es maßgeblich um deren Frontseiten), so verweist es doch darauf, dass Bücher mit Texten ‚Wörterbücher‘ sind. Die Faltung der Zettel suggeriert, dass im Buch-Raum weitere Binnenräume liegen, die jeweils abschnittweise zur Entfaltung kommen können.  



William Kentridge bearbeitet für sein Lexicon (2011) die Seiten eines griechisch-lateinischen Wörterbuchs durch Übermalung.91 Durch die Seiten bewegt sich eine nur punktuell auftauchende schattenhafte Figur aus schwarzen Pinselstrichen. Betont wird so unter anderem die Räumlichkeit des Buchs, zumal da sich bei schnellem Durchblättern ein Daumenkino-Effekt ergibt. Die Verwendung eines fremdsprachlichen Wörterbuchs und die Rätselhaftigkeit der Figur verstärken gleichermaßen die Idee einer Desorientierung im Buchraum (Kentridge 2011). Kentridges Lexicon ist als mehrsprachiges Wörterbuch Sinnbild der Bewegung zwischen Sprachräumen, aber auch Visualisierung eines Prozesses, in dessen Verlauf eine ohnehin eher schemenhafte über die Buchseiten geisternde Figur sich zwischen den Seiten mit Vokabeln

91 Das Werk entstand durch eine mehrstufige Bearbeitung von Benjamin Hederichs bekanntem Nachschlagewerk in einer Londoner Ausgabe (1825): Graecum Lexikon/manuale/primum a/Benjamine Hederico/institutum/mox assiduo labore/Sam. Patricii/auctu myriade amplius verborum […] cura/Jo. Augusti Ernesti/[…] Editio nova/cui accedit magnus verborum et exemplorum numerus ex schedis/Petri Henr. Larcheri/[…] Londoni […] 1825.

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verliert. Darüber wessen ‚Geist‘ das ist, der da irrlichternd in verschiedenen Gestalten auftaucht, ließe sich manche Hypothese bilden: Ist es der Geist der alten Sprachen, ist es der des irritierten zeitgenössischen Nicht-Lesers dieser Sprachen? Ist es womöglich das Alter Ego des Lexicon-Lesers selbst, der sich in diesem Buch nicht wirklich zurechtfindet? Oder ist die metamorphotische schwarze Figur (ist es überhaupt immer dieselbe?) vielmehr der Widersacher des Geistes, die physische Faktizität der schwarzen Farbe als Metonymie des Buchdrucks? Geht es darum, gerade angesichts einer subtilen historischen Wörterwelt und den vielen Bedeutungsangeboten, die sie dem kompetenten Leser macht, an die Materialität aller Texte zu erinnern – und damit an das, was aus dieser folgt, Zeitlichkeit und Vergänglichkeit? Aber selbst dieses ‚bloße‘ Schwarz einer nicht recht identifizierbaren Figur oder Figurengruppe ist innerhalb eines Wörterbuchs immer schon mehr als bloße bedeutungsindifferente Materie. MSE  

Theater und Buch: Papiertheater, Buchtheater, Theater-Spiel-Bücher Schneidekünste und Papier bilden die Grundlage der Papiertheaterkultur. 1811 erscheinen, gestaltet von William West in England, papierene Ausschneidefiguren zu einer Pantomime über Mother Goose, zusammengestellt auf einem Bilderbogen.92 Bald kommt es zu Entwurf und Vertrieb weiterer Bögen, darunter zu Werken Shakespeares (Richard III., Hamlet, Macbeth), aber auch zu anderen Stücken; neben den Figuren sind auch die Kulissen auszuschneiden (vgl. Grünewald 1993, S. 26). Die Rekonstruktion großer Theaterereignisse wird zur beliebten Beschäftigung der Bildungsbürger.93 Abwechslung kommt in die Papier-Inszenierungen, indem manchmal die Protagonisten der Stücke in wechselnden Posen entworfen werden, entsprechend den  

92 Vgl. hierzu und zum folgenden Grünewald 1993 und Zwiauer 1987. Verschiedene mediale Formate und ästhetische Praktiken bereiteten der Papierbühne den Weg, darunter Krippen, für die seit dem 17. Jahrhundert auch Papierfiguren verwendet wurden, sowie Ausschneidebögen mit papiernen Figuren und Figurengruppen: Soldaten, Figuren in historischen oder aktuell modischen Kleidern, Hampelmänner. Der entscheidende Schritt zur Entstehung des eigentlichen Papiertheaters, dessen Figuren ebenfalls aus Papier ausgeschnitten werden, liegt in der Konzeption und Realisierung einer Theaterbühne mit Figuren, die nicht nur statisch arrangiert werden, um Theater- und andere Szenen in Momentaufnahmen nachzustellen, sondern die das Stück ‚vorspielen‘, indem man sie bewegt. Wichtige Schritte zur Popularisierung des Miniaturtheaters mit Papierfiguren (das dem Marionettentheater damit erfolgreich Konkurrenz machte) erfolgen in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu Kat. Ausst. 2002b. 93 Zeichner erstellen noch während der Inszenierungsphasen (etwa anlässlich von Generalproben) Skizzen der Kostüme und Dekorationen, damit die Mini-Theaterversion zeitnah zu den Aufführungen auf den großen Bühnen von Verlegern bzw. Druckereien zum Kauf angeboten werden können.  



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Szenen des Stücks.94 Manchmal werden Neuinszenierungen von Stücken an großen Theaterbühnen vom Vertrieb entsprechender Papiertheaterfassungen begleitet. Erst nachdem sich das Papiertheater für Erwachsene im 19. Jahrhundert etabliert hat, entstehen auch spezifisch für Kinder gedachte Papierbühnen und entsprechende Stücke. In der heutigen Papiertheater-Kultur spielt der kreative Anteil des Nutzers bzw. Spielers meist eine dominante Rolle: Zwar können weiterhin fertige Theater und Figuren als Spielobjekte sowie Bastelbögen erworben werden, aber es werden auch Gebrauchsanleitungen zur Gestaltung eigener Bühnen und Figuren sowie zur Abfassung entsprechender Stücke publiziert (vgl. ebd., S. 40–92). Die technischen Fähigkeiten sind hier ebenso gefordert wie dramaturgische Einfälle und textgestalterische Kreativität. Zudem gilt die Beschäftigung mit dem Papiertheater als effizientes Propädeutikum für das Studium des Theaters als Kunstform, für Ausstattung, Kulissen, Bühnenformen, Inszenierungsstile etc. Neben diese tritt das Sammler- und Museumswesen, wo alte Papiertheater seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verstärkte Aufmerksamkeit finden. Sie werden in spezialisierten Sammlerkreisen gehandelt und in Museen ausgestellt.  





Bewegungsbücher und Pop-ups als Ableger des Papiertheaters. PapiertheaterElemente haben inzwischen auch ins bewegliche Buch und ins Pop-up Einzug gehalten. Für die enge Beziehung zwischen Papiertheater und Pop-up-Buch spricht es, dass viele Pop-ups Räume aus Papier bieten, deren Struktur und Ausstattung an die von Theaterbühnen erinnert. Vorhänge, drehbare Fenster- und Türelemente, gestaffelte Kulissen, Schlussprospekte und Proszenien werden als beliebte Bauelemente übernommen. Wie die Papiertheaterfiguren von der Seite bewegt, die Bühnen von der Seite bespielt wurden, so sind die bewegungsauslösenden Laschen und Hebel im Pop-up oft am Rand der aufgeklappten Doppelseiten angebracht. Wie das Papiertheater, so besitzt auch das Pop-up schon dadurch eine doppelt performative Dimension, dass es für den Spieler nicht nur als vorgefertigtes Spielobjekt existiert, sondern auch von ihm selbst entworfen und konstruiert werden kann. Anleitungen dazu sind verfügbar, und sie beziehen sich sowohl auf Praktiken der Papieringenieurskunst (vgl. Smith, Keith 1992) als auch auf dramaturgische Aspekte der Pop-up-Gestaltung (vgl. das Meta-Popup Carter/Diaz 1999, dt. 2009). Literatur, Papiertheater, Bewegungsbücher: Beispiel Shakespeare. Shakespeares Stücke gehörten stets zum Kernrepertoire von Papiertheaterbühnen (vgl. Kat. Ausst. 2002b, S. 47). Entsprechend variantenreich gestalten sich Pop-up-Bücher und andere Bewegungsbücher mit Motiven eines papiernen Shakespeare-Theaters. Gerade das  

94 Manche Stücke werden durch 30–40 Bögen repräsentiert, und pro Stück stehen teilweise bis zu 60 Figurinen zur Verfügung. Die meist aus Holz bestehenden, mit einem Proszenium versehenen Bühnenräume entsprechen in ihrer Ausstattung bekannten großen Bühnen (in England, wo das Papiertheater sich besonderer Beliebtheit erfreut, dem Covent Garden-Theater und dem Drury Lane-Theater).

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Werk eines Dramatikers, der Welt und Bühne analogisierte, scheint Designer und Papieringenieure zur Gestaltung von Buchtheatern zu reizen. Toby Forwards Spielbuch Shakespeare’s GLOBE. A Pop-up Play Theatre, illustriert von Juan Wijngaard (Forward/Wijngaard 2005), verbindet Elemente des Pop-up-Buchs mit solchen des tradierten Papiertheaters. Der Buchumschlag aus stabilem Karton ist dreiteilig; in zusammengefaltetem Zustand sind der erste und zweite Teil als vorderes und hinteres Cover sichtbar; ins Buch hineingeklappt findet sich beim Aufschlagen dann ein dritter Karton. Klappt man auch diesen aus, so entfaltet sich ein Modell des Globe-Theaters aus Papier; es steht in ausgefaltetem Zustand auf dem zweiten und dritten Teil des Kartons. Der etwa 15 cm hohe kreisförmige Theaterbau mit einem Durchmesser von ca. 30 cm präsentiert sich ‚aufgeschnitten‘, so dass man von vorn in sein Inneres sehen kann. Der Innenraum ist gestaffelt: Vorn, im ‚Zuschauerraum‘ des Globe-Theaters, stehen zwei Reihen von Zuschauern, die dem Frontalbetrachter den Rücken zuwenden, weil sie selbst ja auch zur Bühne blicken, aber durchaus eine Vorderseite haben, wenn man schräg oder von Oben ins Globe hineinblickt. Die Papierkonstruktion des Theatermodells ist so angelegt, dass sie sich auf der kreisförmigen Grundfläche als etwa halbkreisförmiger Bau erhebt. Die auf verschiedenen Ebenen angebrachten Ränge des Globe-Theaterbaus werden durch seitliche Papier-Konstruktionen repräsentiert, die papierarchitektonisch die Pendants gestaffelter Seiten-Kulissenteile im alten Papiertheater sind.95 Die Spieler befinden sich zunächst nicht im Theater, wenn wir dieses eben aufgeklappt haben, sondern in einem auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels eingeklebten Umschlag, der die Aufschrift „Characters“ trägt („Find your characters here“, so heißt es zudem appellativ). Sie sind auf Papierkarten angebracht, auf denen auch ihre Namen stehen, umgeben von Stanzeinschnitten, die ein leichtes Herauslösen der Figuren nebst zu ihnen gehörigen Schiebestreifen aus den Karten ermöglichen; die Schiebestreifen dienen dazu, die Figuren durch seitlich am Globe-Modell angebrachte Schlitze in den Bühnenraum zu schieben und dort hin- und herzubewegen. Ist der Theaterbau selbst also der Architektur von Pop-up-Büchern verpflichtet, so entspricht das ‚Ensemble‘ den Figurinen des tradierten Papiertheaters.96 Zwischen den Karton, der im Buchinneren die „Characters“ und deren Rollentexte bereithält, und den Karton, der das Globe-Pop-up trägt, ist ein  



95 So erhält auch der dargestellte Zuschauerraum (der im historischen Globe ja die Bühne umgab) im Papiermodell räumliche Tiefe. Die etwas erhöhte Bühne trägt zwei Säulen, die ihrerseits ein Dach tragen, das sich beim Aufklappen des Theater-Konstrukts zu einem räumlichen Gebilde ausgefaltet hat. Hinten wird die Bühne durch eine ‚Mauer‘ aus Papier abgeschlossen, auf der sich eine Galerie befindet, die ihrerseits durch eine dahinter angebrachte Papier-Wand einen zusätzlichen ‚hinteren Raum‘ bildet. Vor und neben der Bühne sowie auf den Rängen sind Zuschauer zu sehen. 96 Es besteht, je paarweise auf die Karten gedruckt, aus verschiedenen Figuren Shakespearescher Stücke. Unterhalb des Umschlags mit den „Characters“ befinden sich zwei in Laschen gesteckte Textbücher. Beide enthalten „Scenes from Shakespeare’s Plays“; neben diesem Titel tragen die Heftchen die Aufschrift „Actors’ Copy. Property of the King’s Men“ sowie die Darstellung einer Hermes-Figur vor dem Hintergrund der auch im Pop-up-Modell dargestellten Bühne. In den beiden Heftchen abgedruckt sind

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Buch im Buch geheftet, etwas schmaler im Format als das Theaterbuch insgesamt, aber ebenso hoch: ein bebildertes Buch, das über Shakespeare, sein Theater und seine Zeit erzählt, und zwar aus der Perspektive des Schauspielers Richard Burbage, der sich auf der Vorderseite des Buchs im Buch in Text und Bild vorstellt. Teilweise sind die Blätter dieses Buchs im Buch durch Faltung gedoppelt; ausgeklappt zeigen sie quadratische Darstellungen des Globe-Theaters von innen mit Zuschauern und Spielern. Auf der hinteren Umschlagseite des Buchs im Buch demonstriert eine beschriftete Schemazeichnung, wie sich das Globe gliederte; die Zeichnung macht u. a. das Pop-up-Modell verständlich.97 Das für ein jugendliches Publikum konzipierte Bilderbuch von Michael Bender – All the World’s a Stage. William Shakespeare. A Pop-up Biography (1999) – ist, wie der Untertitel schon deutlich macht, im Wesentlichen ein biografisches ShakespearePorträt. In verschiedenen kurzen Kapiteln stellen erzählende Texte den Werdegang Shakespeares von seiner Geburt in Stratford bis zu seinem Tod dar, ergänzt um eine chronologische Lebensübersicht und ein kurzes Glossar. In die biografischen Informationen integriert sind teilweise knappe Bemerkungen zu Shakespeares bekanntesten Stücken. Alle Doppelseiten sind bucharchitektonisch gestaltet und enthalten entweder Pop-up-Elemente oder andere buchmechanische Elemente wie Klapp- oder Zugvorrichtungen. Zu den Pop-up-Architekturen gehört eine Bühne, auf der gerade A Midsummer Night’s Dream gespielt wird, und eine andere, wo man Macbeth zeigt. Auch andere papiermechanische Konstruktionen nehmen Bezug auf die Welt des Theaters. So werden durch eine Sequenz von Klapptürchen bekannte ShakespeareCharaktere vorgestellt. Romeo und Juliet begegnen sich in einer Pop-up-Gartenszene; das Globe-Theater wird durch eine Faltkonstruktion in seiner Anlage erläutert; Macbeths Hexen lassen sich mittels einer Papierlasche hervorzaubern.  





Lewis Carroll auf dem Papiertheater. Auch Lewis Carrolls Roman Alice’s Adventures in Wonderland hat eine erhebliche Zahl von Umsetzungen in Bewegungsbücher erfahren. Vielfach orientieren sich die Bilder dabei an den Illustrationen von John Tenniel, die den Büchern Carrolls anfangs schon beigefügt waren. Dies gilt etwa für das Carroll-Pop-up von Robert Sabuda zu Alice’s Adventures in Wonderland (Sabuda 2003). Zu den Buch-Inszenierungen der Alice-Geschichte gehört auch ein Theaterbuch: Alice’s

Monologe und Dialoge, passend zu den „Characters“. Gespielt werden können also, zumindest auf der Basis dieser Ausstattung, nur einzelne Segmente der Dramentexte. 97 Der nach innen geklappte Teil des dreiteiligen Umschlagkartons sieht wie ein Theaterplakat aus, lädt zugleich aber dem Leser ein, sich selbst als Mitspieler, als ‚actor‘ zu betrachten. Auf dem Poster genannt werden diejenigen Stücke, zu denen Figuren und Rollentexte vorhanden sind. Spielanleitung und populär gehaltene historische Information verbinden sich in diesem Buch-‚Globe‘ – und beide suggerieren die Möglichkeit einer Integration des Benutzers ins Theatergeschehen.  

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pop-up theatre book./Bring Wonderland to life!/with six amazing pop-up scenes and over 30 press-out pieces von Nick Denchfield und Alex Vining (2002).98 Nicht nur die Coverillustrationen, sondern auch die Figuren, Objekte und Interieurs innerhalb des Pop-up-Theater-Buchs sind den Zeichnungen von John Tenniel nachgestaltet, bringen also die Alice-Figuren und Szenen auf die Papierbühne, die seit der Publikation von Carrolls Buch mit der Geschichte unauflöslich verknüpft sind. Elemente des Papiertheaters und des Pop-up werden in diesem Spielbuch raffiniert miteinander gekreuzt. Öffnet man das querformatige Buch, so entsteht ein Bühnenraum, der, auf die Buchmitte zentriert, die Innenseiten beider Buchdeckel als senkrecht aufzustellende Kulisse nutzt, während der Boden durch einen sich ausfaltenden stabilen Karton in Bretteroptik gebildet wird; in ihm sind Schlitze angebracht, die der Fixierung von Papierfigurinen dienen. Nach vorn begrenzt wird die ‚Bretterbühne‘ durch einen reich dekorierten Aufbau aus zwei Säulen und einer Dachkonstruktion; die Dekorationen bestehen aus Bildmotiven aus dem Wunderlandbuch; über allem, in der Mitte des Dachaufbaus, schwebt die Cheshire Cat. Auf der Bühne lassen sich insgesamt sechs Szenen spielen, die Episoden aus dem Wunderland-Buch nachgestaltet sind. Die Theatertexte beruhen auf Passagen aus dem Wunderland-Buch, insbesondere auf Carrolls Dialogen. Ihnen sind knappe Regieanweisungen beigefügt. Die Szenentexte finden sich in einem Textbuch (Alice’s Book of Theatre Scenes), das seitlich der Bühne einer Papptasche entnommen werden kann, welche sich mittels einer Lasche öffnen lässt. In dieser Tasche finden sich auch Pappschieber, auf die die Figurinen gesteckt werden können. Die Figurinen, kolorierte Nachbildungen der Tenniel-Figuren, sind ebenfalls im Textbuch enthalten: mehr als 30 Figuren aus dem Wunderlandbuch; manche mehrfach, entsprechend den jeweiligen szenischen Anforderungen. Von Stanzungen umgeben, lassen sich die Figuren leicht aus dem Textbuch herauslösen, ebenso wie einige wichtige Requisiten sowie Möbelstücke, die zur Verwandlung des Bühnenbilds beitragen können. Denn das Papiertheater ist so konstruiert, dass die sechs Szenen in jeweils eigenen passenden Kulissen spielen können, und das im Buch verborgene Theatermodell nutzt dazu auf einfallsreiche Weise das Format des Buchs. Im Hintergrund der Bühne ist mittig ein flaches Heft befestigt, das in zusammengeklapptem Zustand den rechten Teil des Bühnenhintergrundes bedeckt, im aufgefalteten Zustand beide Seiten. Jede der so aufklappbaren Doppelseiten bietet eine andere Kulisse; durch einen seitlichen Einsteckmechanismus können diese für die Dauer der Szene befestigt werden. Und so spielt die Handlung des Papiertheaterstücks also in doppeltem Sinn in einem Buch.

98 Denchfield/Vining 2002. Die Illustrationen stammen von Alex Vining, Angela Edwards und Peter Vining; Nick Denchfield war zuständig für das paper engineering. Als Coverillustrationen wurden Zeichnungen von John Tenniel benutzt, koloriert wurden sie von Diz Wallis.

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

Papier-Theaterwelten. Dass gerade Shakespeare und Carroll Buchdesigner, Papieringenieure und Illustratoren zur Produktion von Pop-up-Papiertheatern motiviert haben, ist kaum ein Zufall. Zum einen handelt es sich wohl um die bekanntesten Vertreter der englischsprachigen Literatur, zudem in Shakespeares Fall um den berühmtesten Dramendichter der Neuzeit, in Carrolls Fall um den Verfasser des vermutlich berühmtesten Kinderbuchs. Hinzu kommt aber, dass die Texte beider Autoren zur papiertheatralischen Inszenierung besonders einladen: Shakespeares Name steht metonymisch für die Idee der Welt als einer Bühne und für eine damit verbundene Aufwertung des Theaters als Modell und Sinnbild der Welt, deren Bedeutung auch auf die Kultur des Minitheaters abstrahlt. Wer Shakespeare inszeniert, inszeniert Theater-Welten, und dass dies letztlich eine Weltschöpfung ‚aus Papier‘ ist, lässt sich mit den Mitteln des Papier- und Buchtheaters besonders gut sinnfällig machen. Carroll schildert in seinen Büchern erstens vielfache Verwandlungsszenen, die dem Format des Pop-ups als solche bereits affin sind; zweitens spielen kontrastierende Größenmaßstäbe eine wichtige Rolle, wie sie mit der Form des Papiertheaters als eines MiniTheaters assoziierbar sind. Drittens sind viele Figuren im Wonderland Papierfiguren, spielt die Handlung in einem Kartenkönigreich. Schließlich spielt auch Carrolls Text auf inhaltlicher Ebene mit der für Pop-ups konstitutiven Transformation zwischen flächigen und räumlichen Wesenheiten: die flachen Spielkarten biegen sich, bewegen sich wie Körper durch den Raum – und werden am Ende des Buchs von Carroll wieder als flache Papierobjekte behandelt. Mit dieser Szene schließt auch das Textbuch – bevor die Benutzer das Theaterbuch wieder zusammenklappen. MSE  



Umhüllungen, Buchbehälter: Taschen, Schachteln und Boxen (Extension des Buchkörpers) Als zum Buch gehörender Bestandteil sind diverse Formen von Behältnissen zu betrachten. Neben ihrer Aufgabe, Schutz und Zusammenhalt zu gewähren, sind sie Ausdruck gesteigerter Wertschätzung des Buches, das sie umhüllen. Unter der Prämisse, dass das Buch Wissen und Kenntnisse birgt, spielen Zugangsweisen und Praktiken der Handhabung eine Rolle, bei der Öffnen und Schließen, Enthüllen und Verbergen als Metaphern der Wissenserschließung relevant werden. Behältnisse für Bücher können solide Container sein, Boxen und Schachteln aus Holz, Leder, Metall, Kunststoffen, oder in Buchtaschen und -hüllen bestehen, die aus flexiblen Materialien wie Textilien gefertigt sind. Sie dienen dem Schutz des Buches vor äußeren Einflüssen, wie Schmutz, Licht oder – in Einzelfällen – auch dem Blick; sie geben Zusammenhalt, wenn das Buch nicht durch eine Bindung zusammengehalten wird oder es über lose Beilagen verfügt, wie beispielsweise Ton- und Datenträger, gesonderte Drucke, oder wenn es – wie manche Typen des Künstlerbuches – vom Buchkörper losgelöste Spielelemente oder andere Gegenstände einbezieht, die den Nutzer zur Partizipation an  







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Umhüllungen, Buchbehälter

einem durch das Buch vorgeschlagenen kreativen Prozess animieren wollen. Spezifische Typen des Buchbehältnisses, wie diverse Ausformungen von Kastenbuch und Beutelbuch, verbinden Bucheinband und -behältnis zu einer Funktionseinheit. Buchkästen (a). Buchkästen (lat. capsa) fanden bereits in der Antike zur Aufbewahrung von Buchrollen Verwendung. In dieser Funktion sind kastenartige Behältnisse unter anderem durch die jüdische Tradition bezeugt. Die Thora, der für den Gottesdienst gebräuchliche Pentateuch, wird vom Thoraschrein aufgenommen und symbolisiert in dieser Form das Allerheiligste im Tempel. Eine vergleichbare sakrale Wertschätzung kommt auch Reliquienkästen und -schreinen zu, die einzelne oder ganze Sammlungen von Reliquien enthalten. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Begrifflichkeiten ‚capsa‘, ‚cavea‘, ‚scrina‘ und ‚theca‘ stellen die Behältnisse in eine Entwicklungslinie von ‚Buchschrein‘ und ‚Buchkapsel‘ zu Kastenbuch, die ihrerseits trotz der unterschiedlichen Formen äquivalente Funktionen erfüllen (Stork 2008). Buchkästen dienten im Mittelalter der Aufbewahrung von wertvollen, meist liturgischen Büchern, wobei der Kasten im liturgischen Kontext das Buch vor einer direkten Berührung schützen sollte. Die Behältnisse waren aus Holz, Leder oder in einigen Fällen auch aus Metall gearbeitet und nicht mit dem Buchkörper verbunden. Im Unterschied zu solchen Buchkästen formieren sich bei den Kastenbüchern Buch und Kasten zu einer Einheit, wobei der Deckel des Kastens zugleich die Buchdecke bildet, sodass das Buch in geschlossenem Zustand als Kasten erscheint.99 In dieser Form sind nur wenige Kastenbücher erhalten, weil die Umhüllungen aufgrund des Wertes ihrer Materialien in einem späteren Zugriff zu Einbänden umgearbeitet wurden (vgl. Corsten 1987–2016, Bd. 4, S. 178). Als Übergangsformen vom Buchkasten und Kastenbuch zum festen Bucheinband sind diverse Buchbehältnisse zu betrachten, wie in Lederschnitt verzierte Buchbehälter, die, anders als die Kastenbände, nicht mit dem Buchblock verbunden sind. Ein für die Reise bestimmtes, eigens zur Aufnahme eines Buches angefertigtes Utensil stellt das zum Bestand des Ledermuseums in Offenbach gehörende Buchfutteral dar, das an seinen schmalen Seiten mit Tragschlaufen versehen ist und zusätzlich einen Schuber hat.100 In einer Einbandgestaltung, die den Buchschnitt einbezieht und darüber die Geschlossenheit einer den Buchkörper umhüllenden Struktur betont, bekunden sich Vorstellungen von Buchkasten und -schatulle. Sie zeigen sich bei zwei Bänden einer  



99 Beispiele sind ein lederbezogener Holzkasten mit Lederschnitt und Punzierung aus dem 15. Jahrhundert, dessen leicht gewölbter Deckel zur Mitte hin aufklappt (Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main), sowie ein aus Holz gefertigtes, mit Pergament überzogenes und feuervergoldeten Bronzebeschlägen versehenes Kastenbuch, das 1792 in dem Kartäuserkloster in Seitz in der Untersteiermark aufgefunden wurde. Vgl. Falke 1932. 100 Buchfutteral ohne Holzkern, Mailand, um 1540, H 15 cm, B 12 cm, Leder mit Lederschnitt und Punzierung, Deutsches Ledermuseum Offenbach a. M., Inv. Nr. 372.  









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Lyrikausgabe aus der Bibliothek des Ulrich Fugger.101 In das braune Kalbsleder der Einbände sind rundum Arabesken geprägt, die zusätzlich mit Goldfarbe akzentuiert wurden. Das Muster setzt sich im Schnitt fort, so dass die Bände Schmuckschatullen gleichen (vgl. Trost 1986, Textband S. 393). Weniger Stabilität als Schutz bieten Buchtaschen, aus einem sich dem Buchkörper anschmiegenden Material gefertigte mobile Hüllen, die dem Transport dienen und in entsprechender Ausführung auch Einbandfunktion übernehmen.102 Als Buchtaschen werden gegenwärtig auch modische Accessoires bezeichnet, die über ihre Materialität zwar einen Bezug zum Buch aufweisen, aber weder Bücher vorstellen noch explizit zur Aufbewahrung von Büchern bestimmt sind. Einer im Internet verfügbaren Nähanleitung ist zu entnehmen, wie aus Bucheinbänden solche Buchtaschen angefertigt werden können (Kahl online).  

Buchkästen (b): Xylothek, Dactylothek, Reisebibliothek. In funktionaler Äquivalenz zu Buchkästen stehen Schatullen, die Bücher aufbewahren, wie etwa die Koffer von Reisebibliotheken. Verwendung finden als Buchkästen zu bezeichnende Behältnisse auch zur Aufbewahrung von Sammlungen, deren Ordnungsprinzipien denen von Bibliotheken folgen. Um dem Charakter einer Bibliothek zu entsprechen, simulieren die die Sammlungsgegenstände aufnehmenden Behältnisse die Gestalt von Büchern. Das ist der Fall bei Xylotheken (Holzbibliotheken) und Dactylotheken („Ringsammlung“, „Ringkästchen“). Xylotheken wie Dactylotheken bestehen in einer Anzahl von Kästen, die äußerlich Büchern gleichen, aber keinen Buchkörper aufweisen. Die Bände einer Xylothek enthalten Teile von Holzgewächsen, wie Samen, Blätter, Fruchtstände, Holz- und Rindenproben einzelner Pflanzenarten. Nach Typen, Arten und Gattungen getrennt, sind den einzelnen Pflanzen je eigene Behältnisse zugewiesen, wobei das Holz des Kastens aus dem Holz des Baumes gefertigt ist, dessen Veranschaulichung der Inhalt dient. Entsprechend ist auch der Rücken mit der Rinde der im Kasten wiedergegebenen Baumart bezogen. Der einzelne Kasten bildet eine kompakte Einheit mit handbuchartigem Charakter. In komprimierter Form sind hier Eigenarten einer Pflanze mit ihren verschiedenen Wachstumszuständen zusammengefasst. Aus der Summe der Kästen ergibt sich ein Überblick, der die Xylothek zum Abbild der Natur werden lässt, in der jede Pflanze ihren eigenen Platz hat. Intakte Xylotheken finden sich u. a. im Zisterzienserstift Lilienfeld in Österreich oder im Bestand des Kasseler Naturkundemuseums. Auch die als Dactylotheken bezeichneten  

101 Henricus Stephanus, Genf 1560, zwei Bände einer Ausgabe griechischer Lyriker des Stephanus, Pergament, 13 x 6 cm, Bibliotheka Palatina Heidelberg, Membr VI 1+2, Vgl. Mittler 1986, Textband S. 92 f. und Bildband S. 262. 102 Aus Stoff gefertigt und mit Techniken weiblicher Handarbeit verziert findet die Buchtasche im privaten Kontext, für die individuelle Lektüre und innerhalb der Stammbuchkultur des 19. Jahrhunderts Verwendung. In dieser Zeit veränderten sich nicht nur die Form des Stammbuches, sondern auch die mit ihm verbundenen Praktiken. Vgl. Linhart 2006, S. 223.  















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Sammlungen von Gemmen, geschnittenen Steinen und Münz- oder Medaillenabgüssen werden in Behältnissen aufbewahrt, die äußerlich Büchern gleichen. Bücher simulierende Kästen, die sich zu bibliotheksartigen Sammlungen fügen, werden auch in der zeitgenössischen Kunst reflektiert, etwa in der Xylothek von Marion Gülzow (Gülzow online). Eine buchsimulierende Funktion übernehmen auch die ausgekernten Einbände alter Bücher in der Kartographie einer Reise, einem Werkkomplex von Sigrid Sigurdsson.103 Hülleneinband und Beutelbuch. Bei Hülleneinbänden, wie sie bei mittelalterlichen Gebrauchsbüchern bezeugt sind, verbinden sich die Buchkörper aufnehmenden und schützenden Funktionen von Kasten und Einband. Der Hülleneinband ist so konzipiert, dass der Bezugsstoff an allen Seiten über den Buchschnitt fällt. Auch bei Beutelbüchern geht das Einbandmaterial über den Einband hinaus, jedoch nur an den unteren Kanten, so dass der Materialüberschuss zu einer Schlaufe geschlungen und das Buch an einen Gürtel gebunden werden kann. In dieser Form standen die Bücher jederzeit zur Verfügung, was insbesondere für den wandernden Klerus bedeutsam war. Die meisten Beutelbücher enthielten zu Gebet und Andacht notwendige Texte. Originale solcher Beutelbücher haben sich nur wenige erhalten, doch ist einigen Darstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts zu entnehmen, wie sie gearbeitet waren und in welcher Weise sie getragen wurden.104 Die hier abgebildeten Beutelbücher sind schlicht und ohne Verzierungen gearbeitet. Ein Brevier im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aus dem Besitz der Familie Kress belegt hingegen, dass Beutelbücher auch aufwändig verziert und mit komfortsteigernden Zusätzen versehen sein konnten (vgl. Hanebutt-Benz 1985, S. 19; Kat. Ausst. 1985, S. 42). Das Nürnberger Beutelbuch ist an den Ecken mit Metallbeschlägen versehen, die von einer Schließe zusammengehalten werden und der Befestigung am Gürtel dienen. Eine buchkörperverhüllende Form ist der Mehrfacheinband. Mehrfacheinbände umschließen mehrere Buchblöcke so, dass zwar jeder Block seinen eigenen Einband hat, aber jeweils eine Hälfte mit dem nachfolgenden teilt. Dabei fällt der rückwärtige Einbandteil des einen mit dem vorderseitigen des anderen zusammen. Auch kommen die Buchrücken nicht nebeneinander auf einer Seite zu liegen, sondern wechseln von Block zu Block mit der zum Schnitt hin offenen Seite ab. Beim Übergang von einem Band zum nächsten muss dann, soll die Abfolge eingehalten werden, der gesamte Komplex gewendet werden.  





103 Ein weiteres an die Xylothek anknüpfendes Beispiel ist das Buchobjekt Salix, Plumbum. Hommage à Schildbach von H. R. Decker. In einer Schildbach vergleichbaren Vorgehensweise hat der Künstler Pflanzenteile zusammengestellt, um sie dann mit Blei zu übergießen und als Statement zur Umweltproblematik auszudeuten. Vgl. Kat. Ausst. 1980, S. 44. 104 Beispiele sind die Illumination im Stundenbuch des Meisters des Codex Rotundus, zwischen 1470 und 1480, fol 29v, Pergament, 230 fol, 9,8 x 6,9 cm, Museum Angewandte Kunst Frankfurt a. M.; Holbein, Hans d. Ä.: Tempelgang Mariae auf dem Weingartner Altar, 1493, Holz, Augsburger Dom, 222 × 126,5 cm; Porträt Elizabeth als Prinzessin, ca. 1546, Öl auf Holz, 93,5 x 72 cm, Royal Collection, Windsor Castle.  



















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Schuber. Als den Buchkörper schützende Einheit erfüllen Buchschuber eine Funktion des Buchkastens, weisen aber nicht dessen Geschlossenheit auf. Meist aus Pappe gefertigt, umhüllen sie das Buch banderolenartig oder aber sie bilden ein an seiner Längsseite offenes Behältnis. Im engeren Sinne findet die Bezeichnung ‚Schuber‘ als Schutzkarton für bibliophile Bücher Verwendung. Die entsprechenden Behältnisse sind vergleichsweise aufwändig gearbeitet, mit Papier, Stoff oder Leder bezogen, teilweise auch innen ausgeschlagen und als fest zum Buch gehörige Bestandteile zu betrachten. Die bei meist teuren Buchausgaben gebräuchlichen Schuber aus grauem Karton dienen lediglich als Schutz bis zum Verkauf des Buches. Bedruckte Schuber nehmen gelegentlich dem Schutzumschlag entsprechende zusätzlich werbende Informationen auf und sind dann Bestandteil des Buches. Variationen über das Behältnis. Über die geläufigen Funktionen von Schutz und Zusammenhalt hinaus können Buchbehältnisse und -umhüllungen Teil von experimentellen Buchformen sein, die nur mehr wenig oder keine Bezüge zur tradierten Kodexform aufweisen. Häufig verbindet sich ein von der Kodexform abgelöstes Behältnis mit experimentellen Verfahren der Textproduktion. Kommen anstelle fester Bindungen flexible Formen wie Hefter, Ordner, Hüllen, Schachteln oder andere Alternativen zum Einsatz, so verändern sich auch Funktion und Bedeutung der form- und haltgebenden Behältnisse. Der dem Moskauer Konzeptualismus angehörende russische Dichter Lev Rubinštejn wendet sich Mitte der 1970er Jahren einer Form des seriellen Schreibens zu, bei der er einzelne Worte und Satzfragmente auf Karteikarten fixiert und diese in einem Karteikasten zusammenfasst. Darauf nimmt die Bezeichnung „Kartothek“ Bezug, unter der diese Texte publiziert werden. Mit der offenen Form verleiht Rubinštejn seiner Auffassung von einem künstlerischen Text Ausdruck, der sich aus einem dialogischen Zusammenhang heraus entwickelt und seinerseits wieder Anlass zu weiterem Dialog gibt (vgl. Rubinštejn 2003b, S. 7). Auch die Ausgabe von Herta Müllers Collagengedichten Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren verfügt weder über einen Einband noch über eine einbandäquivalente Umhüllung. Die als Folge von rund 100 postkartengroßen Seiten publizierten Texte liegen lose in einer formatgerechten Schachtel aus festem Karton, die die Funktion von Einband und Schuber zugleich übernimmt und Teil des gesamten Konzeptes ist (Müller 1993).  

Verpackungen. Der für einen einzelnen Band konzipierte Buchkasten verselbständigt sich in Verbindung mit Reisebibliotheken, Hörbüchern und elektronischen Büchern mehr und mehr zu einer Verpackung, die nur mehr über die Form den Bezug zum Buch sucht. Eine Affinität zum Buch zeigt sich an der Verpackung, indem sie der äußeren Form nach wie ein Buch gestaltet ist. Äußerlich einem überdimensionalen Buch gleichen konnten Koffer für Reisebibliotheken. Diese boten Platz für eine Zusammenstellung von durchweg kleinformatigen Büchern, die während einer Reise zur Verfügung stehen und als Gesamtbestand handhabbar und transportabel sein sollten.

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Umhüllungen, Buchbehälter

Nachdem in London mit Pickerings Diamond Classics eigens zur Mitnahme bei Reisen zentrale Werk der Literatur im Miniaturformat erschienen waren, edierten J. B. Fournier Père & Fils in Paris 1802 die dezidiert für die Reise bestimmte Bibliothèque portative du voyageur (vgl. Bondy 1988). Sie enthält 49 Bände im Format 9,2 x 6,8 cm; diese werden in einem verschließbaren Kasten aufbewahrt, der in geschlossenem Zustand die Gestalt eines Buches aufweist. Die Verpackung eines Hörbuches ist in der Regel ebenfalls der Gestalt des Buches angenähert, wodurch nahegelegt werden soll, dass, obwohl es sich um einen Datenträger handelt, doch eine Äquivalenz zum Buch besteht. Geht das Hörbuch aus einer gedruckten Buchvariante hervor, kann die Verpackung der Gestaltung des Buchumschlages angenähert sein, um die Identität der Inhalte zu unterstreichen. Auch das Lesegerät, der Reader, simuliert Eigenarten des Buches, um dem elektronischen Buch, das ebenso wenig wie das Hörbuch über die Materialität des tradierten Kodex verfügt, eine entsprechende Gestalt zu verleihen. Zugleich wird deutlich, dass die mit dem gedruckten Buch gegebene Einheit aus Materialität und Substanz im elektronischen Buch eine andere Qualität hat.  







Das Behältnis als Funktionseinheit des Künstlerbuches. In Gestaltungskonzepten von Künstlern, die sich dem Buch zuwenden, erhalten Verhüllungen und Verpackungen vielfach werkkonstituierende Funktion. Die Box als buchäquivalentes Medium tritt mit Marcel Duchamps als Boîte bezeichneten Werken in Erscheinung, wird von den Vertretern der Fluxus-Bewegung aufgegriffen und hat im zeitgenössischen buchkünstlerischen Schaffen einen eigenen Stellenwert. Sie bilden Räume, in denen Verschiedenes zusammengeführt, aufbewahrt und für die Erschließung sichtbar gemacht wird. Mit dem Erschließen, Entdecken und Erkunden der Boxen verbundene Handhabungsweisen werden im künstlerischen Zusammenhang gelegentlich sinnkonstituierend eingesetzt. Die mit Materialien befüllte Box kann ein eigenständiges und in sich abgeschlossenes Werk sein, wie etwa die von Joseph Cornell, sie kann aber auch primär der Aufbewahrung von Teilen eines künstlerischen Œuvres dienen, wie Marcel Duchamps Boîte-en-valise. In diesem auch dem Transport und der Präsentation dienenden Behältnis hat der Künstler sein gesamtes bis 1936 entstandenes Werk zusammenstellt (vgl. Tomkins 1965, S. 60; Tomkins 1999, S. 367–383). Zeichnungen, Gemälde und Objekte sind en miniature reproduziert und als Objekte in ein Behältnis aufgenommen, das als Transportkoffer dient und in geöffnetem Zustand den Ausstellungsraum bereitstellt. Buchäquivalente Funktion übernimmt auch die Boîte verte, eine mit grünem Leinen überzogene Schachtel, in der Duchamp sämtliche Notizen und Skizzen zusammenführt, die in Verbindung mit seinem Hauptwerk La mariée mise à nu par ses célibataires, même, auch als Großes Glas bezeichnet, entstanden sind. Die hier vom Künstler aufgezeichneten Gedanken geben Anhaltspunkte für eine mögliche Ausdeutung und fungieren in dieser Hinsicht wie ein Kommentar zum Großen Glas. Eine dritte und letzte Schachtel Duchamps ist die 1966 zusammengestellte Boîte blanche, die wie die grüne Schachtel faksimilierte Notizen enthält. In Anspielung auf  



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das Große Glas sind sie zusätzlich in einem Plexiglasbehältnis zusammengefasst. Die Box selbst ist mit „À l’infinitif“ und der Signatur des Künstlers versehen. Duchamp hat, entsprechend den Auflagen von Büchern, für seine Schachteln Reproduktionen vorgesehen und dabei auch faksimilierte Übersetzungen seiner handschriftlichen Notizen eingeplant. Fluxus-Behälter. Die im Zuge der Fluxus-Bewegung entstandenen Boxen nehmen Materialien auf, die bei einer künstlerischen Aktion zum Einsatz kamen oder aus einer Aktion hervorgingen. In jedem Falle dienen sie der Manifestation und Dokumentation des Geschehens. Dem künstlerischen Konzept zufolge sollen die in den Boxen zusammengefassten Accessoires den Rezipienten zur Partizipation anregen. Anders als ein herkömmliches Buch bietet die Box Raum, die aus den Gattungsgrenzen überschreitenden Performances hervorgehenden Residuen aufzunehmen (Tonträger, Spielelemente, Aufzeichnungen). Sie ist bleibendes Zeugnis der zumeist transitiven Arbeiten. Als „Flux-Kit“ bezeichnet, erhält sie den Status eines eigenständigen Kunstwerkes, das ein Künstler autorisiert und das häufig auch über einen Herausgeber verfügt. Die Flux-Kits werden in Auflagen hergestellt und über einen Verlag vertrieben. Titel wie Rainbow Hokusai oder Communists must give Revolutionary Leaderships in Culture stellen die Box in einen spezifischen Kontext, andere Titel führen auf spezifische Handhabungsweisen hin, etwa die Finger Box oder Cleanliness Flux Kit.105 Geoffrey Hendricks assoziiert mit Flux Reliquary einen Reliquienkasten und erinnert damit zugleich an die weitreichende Geschichte jener Behältnisse, die mit dem Glauben verbunden sind, Wunder bewirkende Kräfte zu bergen. Hendricks durchsichtige, in Kompartimente aufgeteilte Flux Reliquaries enthalten Relikte der künstlerischen Praxis, wie ein Stück Elektrodraht, abgeschnittene Fingernägel, getrocknete Exkremente, einen Kugelschreiber und ähnliches mehr. Zusätzlich sind alle Objekte vom Künstler in einer den Reliquiensammlungen vergleichbaren Beschriftungspraxis mit Kommentaren versehen.106 Inhaltsbezug der Umhüllungen. Bei vielen zeitgenössischen Künstlereditionen haben die Behältnisse werk- und sinnkonstituierenden Charakter, indem sie über ihre Gestaltung und Funktion unmittelbar auf die Inhalte bezogen sind. Entsprechend sind

105 Andersen, Eric: Finger Box, 1970, o. O., Holzkasten, Inhalt zu ertasten durch 16 mit geschlitzten Gummimembranen versehene Öffnungen, 35 x 35 x 31,5 cm; Friedman, Ken: Cleanless Flux Kit, 1968/ 1969. Hg. von George Maciunas, Fluxus Edition, New York, durchsichtige Plastikschachtel mit Kompartimenten, 12 x 9,3 x 2,5 cm. 106 Beispiele der Beschriftung sind „Holy shit from diners of the Last Supper“, „The final stone that killed St. James the Less“ oder „Nails from the cross of St. Andrew“. Die Verkehrung ins Ironische findet ihre Steigerung durch die Aufnahme der Reliquien von Antiheiligen, dem aus der Hölle aufgenommenen Schweiß Luzifers. In anderen Fluxuseditionen wurden die heiligen Exkremente in einem Kaugummiautomaten dargeboten. Vgl. Conzen 1997, S. 75.  























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die Bücher von Bartleby & Co. oder die von Veronika Schäpers in Kisten, Kartons, Beutel oder Taschen verpackt, deren formale Eigenschaften die ins Werk gelegte Aussage veranschaulichen oder einen auf die Inhalte abgestimmten kontextuellen Rahmen bilden. Die aus leichtem Holz gefertigte Schatulle von Musahimaru, eine Edition, die die Geschichte eines Nashornkäfers zum Inhalt hat, erinnert an eine Zigarrenkiste. Die Künstlerin macht sich für ihre Absicht zunutze, dass solche Kisten gerne für die Aufbewahrung von Insekten eingesetzt wurden (vgl. Veronika Schäpers’ Kommentar zu Choukitsu Kurumatani, in: Klingspor Museum/Schäpers 2014, Eintrag Nr. 9, unpag.). Das Zedernholz, aus dem sie typischerweise gefertigt sind, schützt die Inhalte vor Geruch und vor Befall durch Insekten. Den Beutel, in dem die von Yoshinori Shimizu verfasste Sichere Anleitung zum Bestehen jeder Universitätsaufnahme im Fach Japanisch aufbewahrt wird, hat Schäpers am Ornamori orientiert, einem aus einem Stoffbeutel bestehenden Amulett, wie es an Shinto-Schreinen verkauft wird. Anstelle der in diesem Zusammenhang üblichen Schriftzeichen „Talisman für ein erfolgreiches Lernen“ ist auf den buchumschließenden Beutel der Titel der Kurzgeschichte aufgestickt (vgl. Veronika Schäpers’ Kommentar zu Yorshinori Shimzu, in: ebd., Eintrag Nr. 1, unpag.). Durs Grünbeins Text 26o57,3’N, 142o16,8’E berichtet von der Entdeckung eines Riesenkalmars. In eine kompakte Box aus Acryl aufgenommen, soll das von Schäpers gestaltete Buch mit Grünbeins Text wie ein in Harz eingegossenes Präparat wirken und darüber Konservierungsweisen in Erinnerung rufen, wie sie bei ungewöhnlichen biologischen Funden praktiziert werden (vgl. Veronika Schäpers’ Kommentar zu Durs Grünbein, in: ebd., Eintrag Nr. 6, unpag.). In Einzelfällen stellen Einbände den performativen Rahmen, etwa wenn der Einband als kompakte Verpackung fungiert, aus der das Werk in seinem vollen Umfang erst beim Öffnen hervortreten kann, wie beim Leporello, das entfaltet einen anderen Blick auf das Werk ermöglicht, als er sich beim Blättern der einzelnen Segmente zeigt. Auch die komplexe Faltstruktur von Ulrich Wagners Buchobjekt Dachau schließt das Werk wie ein Buchkasten ein.107 Erst im Zerlegen der kompakten Form wird ersichtlich, dass die grafischen Strukturen die Pläne von Konzentrationslagern nachzeichnen. VHS  





Visuelle Poesie So problematisch der Versuch auch erscheint, ‚Visuelle Poesie‘ trennscharf gegen ‚nicht-visuelle Poesie‘ abzugrenzen, gibt es doch ein für ihre Beschreibung und Kon107 Wagner, Ulrich: Dachau, Leporello, schwarzes handgeschöpftes Büttenpapier mit grauem aufgegossenem Grundriss des Konzentrationslagers Dachau aus pigmentierter Papiermasse, Seitengröße: 21 x 21 cm, Leporellogröße: 21 x 950 cm, Gesamtgröße (als Fläche ausgefaltet): 124 x 197 cm, Auflage: 10 Exemplare, 1994.  

















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zeptualisierung wichtiges Orientierungskriterium: Der jeweilige Textträger selbst fungiert direkt oder indirekt als Gestaltungsdispositiv; wer Visuelle Poesie betrachtet, nimmt wahr, wie sich der jeweilige Text von seiner Trägerfläche abhebt, und das heißt, allgemeiner gesagt, wie der Text auf seine Fläche bezogen ist, von ihr abhängt, sie aber auch seinerseits sichtbar werden lässt und gestaltet. Den Bezugsrahmen Visueller Texte bilden Flächen: in der Regel einzelne Textseiten (etwa bei Einblattdrucken Visueller Poeme) oder aber die Seiten von Büchern. Ausgehend von der Buchseite als Träger und Pendant des Textes ergeben sich für die Visuelle Poesie Möglichkeiten der Verräumlichung ins Buch qua ‚Volumen‘ hinein. Solche Spatialisierung kann auf der visualpoetischen Gestaltung ganzer Seitensequenzen beruhen, aber auch auf der Erzeugung räumlicher Effekte durch optische Mittel der Textgestaltung (etwa durch Texte, die wie perspektivisch dargestellte Kuben, Kugeln etc. aussehen). Visuelle Poesie nutzt einen breiten Gestaltungsspielraum zwischen mimetischen und abstrakten Formen (zu letzteren gehören beispielsweise geometrische Figuren und numerische Ordnungsmuster). Auch als ‚mimetisch‘ zu lesende Visualtexte (Flügel, Ei etc.) beruhen auf Formabstraktionen. Form und Inhalt sind hier vielfach aufeinander abgestimmt (etwa bei Flügel-Gedichten, die inhaltlich auf die Symbolik des Flügels Bezug nehmen). Auch bei abstrakten Textkompositionen erscheint die Semantik der jeweiligen Form als signifikant, etwa wenn die Lektüre im Zeichen von Blickrichtungswechseln oder Decodierungsbemühungen steht. Visualpoeme, die mehr als eine Seite füllen, verweisen indirekt auf die Architektur des Buchs als Seitensequenz. Viele Beispiele der Buch-Literatur legen es nahe, diese als Resultate der Expansion von der Flächengestaltung in den Buchraum hinein zu beschreiben. Ihre Prägung durch die Visualpoesie geben gerade programmatische buchliterarische Werke dadurch zu erkennen, dass sie historische Formen der Visualpoesie einbeziehen. Tradition und Innovation in der Visualpoesie. Visuelle Poesie hat eine bis in die Antike zurückreichende Tradition (Dencker 1972; Adler/Ernst 1987; Ernst 1991). Allerdings haben wichtige Vertreter Visueller Dichtung im 20. Jahrhundert, insbesondere solche der Konkreten Poesie, in ihren theoretischen Reflexionen wiederholt das Innovatorische an ihren Arbeiten betont. Auch dies ist berechtigt. Denn erstens hat Visuelle Poesie im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert eine Fülle neuer Spielformen hervorgebracht, und zweitens wurden und werden Visualtexte aus anderen Motiven und unter anderen Prämissen geschaffen als früher. Vor allem im Bereich der sogenannten ‚Konkreten Poesie‘ sind vielfältige Beispiele von Visualdichtung entstanden. (Terminologisch ist aber zwischen ‚Visueller‘ und ‚Konkreter‘ Poesie zu differenzieren, denn nicht alle Visualdichtung ist als ‚Konkrete Dichtung‘ konzipiert, und letztere hat neben einer visuellen auch eine akustische Spielform.) Die Frage nach der Möglichkeit einer Abgrenzung ‚visueller‘ von ‚nicht-visueller‘ Poesie ist von lyriktheoretischer Brisanz. Schließlich haben Texte prinzipiell eine visuelle Dimension, die gerade in Spielformen moderner Prosa noch oft einkalkuliert und genutzt wird. In der Lyrik ist die Bedeutung der visuell-optischen Seite des Textes nicht zu übersehen. Zudem ist eine  



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Visuelle Poesie

Abgrenzung zwischen Gebrauchsliteratur und sich als autonom verstehender Dichtung gerade im Feld der visuellen Textgestaltung oft unmöglich. Denn erstens findet sich unter den historischen Vorläufern der zeitgenössischen visuellen Textgestaltung eine Fülle von eindeutig anlassbezogenen Gebrauchstexten, und zweitens scheinen auch die Visuellen Texte jüngerer Zeit zum praktischen Einsatz (in Reklame, Design und Architektur) geradezu einzuladen; Eugen Gomringer, einer der wichtigsten Verfasser und Theoretiker Konkreter Poesie in den 1950er und 1960er Jahren, hat auf die Einsetzbarkeit Visueller Dichtung in alltagspraktischen, auch in kommerziellen Kontexten sogar besonderen Wert gelegt (vgl. Gomringer 1969b). Behelfsweise können ‚Visuelle‘ Texte als solche Texte bestimmt werden, deren visuell-optische Dimension in besonderem Maße signifikant erscheint. So unterschiedlich die in Europa, Amerika und Japan entwickelten Spielformen Visueller Dichtung auch waren und sind – als ein verbindendes Grundanliegen darf der Versuch gelten, die Ausdrucksmittel der Poesie zu erweitern und umzugestalten. Geht Klaus-Peter Dencker mit seiner Darstellung der Vorläufer moderner Visualdichtung bis in die griechische Antike zurück, so greifen Jeremy Adler und Ulrich Ernst in ihrer Dokumentation zur Visuellen Dichtung noch weiter aus; sie sprechen von einer Gattung mit dreitausendjähriger Geschichte (Adler/Ernst 1987, S. 9). Die historische Rückblende setzt in dieser Dokumentation mit ägyptischen Beispielen ein.  



Historische Muster und Kontinuitäten. In der modernen Visualdichtung kommt es oft zu zitathaften Rekursen auf die traditionelle Formensprache. Reinhard Döhls bekannter apfel ist im Prinzip mit analogen Mitteln konstruiert wie viele Figuralgedichte früherer Zeit, insofern Wörter den Umriss eines Gegenstandes bilden und sich dabei zudem Untergliederungen (im Fall des „apfels“ durch den auftauchenden „wurm“) ergeben können (Döhl 1972, S. 38). Zur Anknüpfung an die Tradition kommt es oft aber auch auf thematischer Ebene. Zwar könnte es zunächst so scheinen, als sei die Beschreibung Visueller Texte mithilfe der Kategorie des Thematischen völlig verfehlt, aber tatsächlich nehmen sich gerade viele Visuelle Texte gewichtiger Themen an, nur eben auf ihre eigene Weise: solcher Themen wie Tod, Zeit, Gedächtnis und Erinnerung. Es gibt Visuelle Liebes- und Naturlyrik, Visuelle politische Lyrik etc. Nicht selten erinnert die jüngere Visualdichtung aber auch an atavistische, prärationale Formen des Umgangs mit Schrift: an schriftmagische Praktiken, bei welchen die Lettern evokative Funktion besaßen, etwas beschwören oder bannen sollten. Vielfach liegt es nahe, Verbindungen zwischen Beispielen der Visualdichtung und geschichtlich frühesten Schriftzeugnissen zu ziehen. Nicht zufällig nehmen Darstellungen zur Geschichte der Visuellen Dichtung ihren Ausgang vorzugsweise in der Frühzeit schriftlicher Gestaltungspraxis.  

Grundformen Visueller Dichtung und ihre Modifikationen. In Klaus Peter Denckers kommentierter Dokumentation Visueller Poesie zwischen Antike und Gegenwart findet sich als erste Abbildung die Zeichnung eines antiken Beils, das eine Weih-Inschrift trägt

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und etwa auf das sechste vorchristliche Jahrhundert zu datieren ist; die Form des Beils bedingt dabei die Form, welche der kultische Text annimmt, und Dencker führt diesen archäologischen Fund als Illustration dafür an, dass Schrift und Gegenstand schon in antiker Zeit aus einer Art medialer Affinität heraus zur Deckung zu kommen suchten, wobei Schriftkonfigurationen dann die Form von Gegenständen annahmen (Dencker 1972, S. 8). Es erscheint nicht abwegig, dieses beschriftete Beil als Vorfahren jener späteren Umrissgedichte aus der Antike, aber auch aus dem Barock zu betrachten, die unter anderem die Form eines Beiles besitzen. Die Spiralform als Textstruktur wird von diversen Vertretern moderner Visueller Poesie aufgegriffen; sie verbindet etwa den berühmten und unentziffert gebliebenen Diskos von Phaistos mit den spiraligen sogenannten „Textscheiben“ von Ferdinand Kriwet (vgl. ebd., S. 8 f., Abb. S. 9). Weitere Beispiele für die antike Vorgeschichte moderner Visualdichtung zeigen nicht nur, dass sich tatsächlich früh verschiedenste Typen von Text-Bildern belegen lassen, sondern auch, dass die Grenze zwischen Gebrauchstext und ästhetischem Artefakt willkürlich ist. Die Kultinschriften sind in eine bestimmte Praxis eingebettet und insofern durch diese bestimmt; analoges gilt für Zauberinschriften. An diese Textformen angrenzend finden sich in der Antike schon Figurengedichte, bei denen das Textarrangement vermutlich unabhängig von einer bestimmten situationsgebundenen Gebrauchsabsicht erfolgte. In der Spätantike gibt es eine ganze Reihe kanonischer Formen; in verschiedenen Varianten überliefert sind etwa Figuralgedichte mit dem Umriss eines Flügelpaars, eines Altars, eines Musikinstruments oder eines Gefäßes. Trotz der Vielfalt von heteromorphen Spielarten Visueller Dichtung lassen sich bestimmte Grundtypen unterscheiden: erstens Umrisstexte (bei denen die Textkontur sinnbildend wirkt) – zweitens Texte, bei denen auch unabhängig von ihrem Umriss die Schriftordnung nicht linear ausfällt (wie im Fall spiraliger Textlinienführung) – drittens Intext-Gedichte, deren Besonderheit darin besteht, dass einem Text ein anderer eingeschrieben ist, welcher aus besonders hervorgehobenen Buchstaben besteht; diese Buchstaben bilden eine Figur, im Fall der sogenannten Gittergedichte ein gitterartiges Netz, über dem Gesamttext. Verwandt mit den Umrissgedichten sind die Piktogramme, die – in auffälligem Widerspruch zum Selbstverständnis Konkreter Texte – durchaus als ‚mimetisch‘, nämlich als stilisierte Abbilder von Objekten gelten können. Der Gattung Visueller Dichtung zuordnen könnte man auch das Palindrom. Klassifiziert man die Visualtexte grob nach Figuraltexten und Intext-Gedichten, so weist die Geschichte ersterer nach Großgriechenland, während sich Vorformen der späteren Gittergedichte bereits in den ägyptischen Intext-Kompositionen entdecken lassen.108 In visualpoetisch gestalteten Werken der  















108 Die erste Abbildung des chronologisch angelegten Teils bei Adler/Ernst 1987 zeigt eine Stele des Priesters Nebwenenef aus einem thebanischen Grab, ein Werk aus dem ersten Regierungsjahr des Pharaos Ramses II. (1290 v. Chr.). Hier liegt ein frühes Beispiel für die Bildung eines sogenannten ‚Intextes‘ vor, eines Textes, der dadurch sichtbar wird, dass man bestimmte (hervorgehobene) Zeichen eines umgebenden Textes herauslöst und separat liest, was voraussetzt, dass sie markiert und auf spezifische Weise angeordnet sind. Abb. bei Adler/Ernst 1987, S. 21.  



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Visuelle Poesie

Buch-Literatur werden die verschiedenen Spielformen Visueller Poesie aufgegriffen und teils unter Nutzung des Buchraums modifiziert. Entdifferenzierungen zwischen Text und Bild. Mit den kanonischen Typen Visueller Dichtung ist deren Fundus an Gestaltungsformen keineswegs erschöpft. Dies liegt auch daran, dass die Grenze zwischen Visueller Dichtung und ihren Nachbarphänomenen künstlich gezogen ist. Offen ist vor allem die Grenze zwischen Visualdichtung und bildender Kunst: Der Übergang vom figuralen Textgebilde zur bildhaften Konfiguration mit Schriftcharakter und zur Schrift-Plastik ist fließend. Manche Beispiele visueller Textgestaltung legen es darauf an, die Differenzierung zwischen Text und Zeichnung zu unterlaufen, etwa, wenn Porträts oder andere gegenständliche Darstellungen aus Schriftlinien entstehen. Die Grenze zur Grafik ist auch dort offen, wo die Verfasser von Visualtexten mit wenigen oder einzelnen Schriftzeichen, respektive mit fragmentierten Teilen solcher Zeichen operieren. Im Umfeld Konkreter Poesie gestaltet sich Visualdichtung oft als Spielform der Kunstgattung Collage. Mit solchen im Grenzbereich zwischen Literatur und Grafik anzusiedelnden Beispielen Visueller Dichtung verwandt sind diverse Formen der Text- und Schriftgestaltung, bei denen grafisch-malerische oder andere bildkünstlerische Gestaltungspraktiken zum Einsatz kommen. Solche Verwandten des Visualtextes sind – um nur einige Beispiele zu nennen – die grafisch gestaltete Initiale (die ihrerseits eine lange Tradition hat), das Bildalphabet (also das Alphabet, dessen Lettern grafisch zugleich als Gegenstände dargestellt werden; vgl. Massin 1970) – die Buchstaben-Plastik – und die mit farblichen oder anderen Mitteln auffällig gemachte Schrift, deren Signalcharakter für ihre Funktion entscheidend ist. Insgesamt konvergieren im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein künstlerische und kulturhistorische Interessen an der Bildlichkeit und ‚Sichtbarkeit‘ der Schrift, an Schrift-Bildern und Bilderschriften (vgl. Kiening/Stercken 2008; Rasula/McCaffery 1998). Hier liegt eine wichtige Anschlussstelle für buchgestalterische Arbeiten.  









Visualpoesie der frühen Moderne. Stéphane Mallarmés Gedicht Un coup de Dés (Ein Würfelwurf, publiziert 1897) gilt als Pionierwerk moderner Visualdichtung (Mallarmé 2007). Daneben sind andere wichtige Vorläufer zu nennen. So etwa Lewis Carroll, der in Alice’s Adventures in Wonderland (1865) einen Visuellen Text integrierte, der die Form eines Mauseschwanzes hat und The mouse’s tale heißt (Carroll 1992, S. 25), oder Guillaume Apollinaire, den Schöpfer der Calligrammes (Debon 2008). In Deutschland experimentierte Arno Holz mit neuen Formen der Typografie (Phantasus, 1889/1899; die hier enthaltenen lyrischen Texte sind mittelachsenzentriert; Holz 1968). Christian Morgenstern präsentierte – neben anderen Sprach- und Schrift-Spielereien 1905 mit Die Trichter (Morgenstern 1990a, S. 67) ein Umrissgedicht und mit Fisches Nachtgesang (Morgenstern 1990b, S. 65) ein (bis auf die Überschrift) buchstabenfreies typografisches Gedicht. Vom Futurismus sind wichtige Impulse für die sich entwickelnde Konkrete Kunst und Dichtung ausgegangen; dieser (zu dem als wichtigste Vertreter  







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Filippo Tommaso Marinetti und Umberto Boccioni gehören) war zunächst eine literarische Bewegung, bevor er auf andere Kunstformen übergriff. Auch die Dadaisten experimentierten auf dem Gebiet der Visuellen Dichtung, der Collage und der Typografie. Analoges gilt für Kurt Schwitters, der die Grenzen zwischen Literatur und bildender Kunst immer wieder durchbrach. Antizipationen des späteren Konzepts ‚Konkreter‘ Visualdichtung finden sich in den ästhetischen Programmschriften russischer Avantgardisten im frühen 20. Jahrhundert (Malevitsch, Chlebnikov, Majakowskij, Kruconych) sowie in den theoretischen Verlautbarungen der holländischen De Stijl-Gruppe um Theo van Doesburg und Piet Mondrian. Zu den Dichtern, welche der Konkreten Visualpoesie den Weg bereiteten, gehören die Amerikaner E. E. Cummings, William Carlos Williams, Ezra Pound und Gertrude Stein, die französischen Lettristen um Isidore Isou sowie die italienischen Spätfuturisten um Carl Belloli.  



Visualdichtung als Reflexion über Schrift. Als ein Kernmotiv Visueller Dichtung könnte man bei aller Verschiedenheit ihrer Spielformen die Selbst-Darstellung von Schrift betrachten – sei es durch explizite Autoreflexion über Schriftliches (was in der Konkreten Poesie wiederholt geschieht; vgl. Teil D, Art. „Konkrete Poesie“), sei es durch eine Anordnung von Buchstaben und Wörtern, welche Anlass gibt, über Schrift, ihre Wesen, ihre Funktionen, ihre Leistungen und ihre Grenzen nachzudenken, sei es auch durch ein visuelles Auffälligwerden der Lettern und Letternfigurationen. Wie Kommunikation durch Schrift funktioniert, was sie voraussetzt und impliziert, wird in der modernen Visualdichtung oft dadurch bespiegelt, dass nicht nur, teilweise nicht einmal primär auf der Basis von etablierten Schreib- und Lesekonventionen operiert wird: Etwa dadurch, dass Kommunikationsstörungen inszeniert werden; was Lesbarkeit bedeutet, wird demonstriert, indem sich Unlesbares zeigt. Claus Bremers Visualgedicht lesbares in unlesbares übersetzen thematisiert und visualisiert die Spannung zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit exemplarisch (Bremer 1972, S. 29; vgl. auch die anderen Texte von Claus Bremer ebd., S. 26–36).  





Poesie der Fläche. Ein wichtiges Prinzip Konkreter Visualpoesie liegt auch im bewussten und planvollen Umgang mit der (normalerweise weißen) Schriftfläche. Komplementär zu den Schriftzeichen wird in der Konkreten Dichtung der Schriftgrund als deren Gegenspieler wichtig: Von ihm müssen sie sich abheben, er durchdringt sie, wo Zusammenhänge durchbrochen werden, er ist vor allem für Umrissgedichte relevant, letztendlich aber überall konstitutiv, wo Schrift sich als positive Konfiguration vor einem Hintergrund von Nicht-Schrift abhebt. Wiederum ein dialektisches Bedingungsverhältnis also: Schrift stellt sich dar durch Bezugnahme auf das – also unter Voraussetzung dessen – was sie nicht ist (vgl. Mon 1972a; 1972b; 1972c). Als Ursache dafür, dass in der Poesie die Fläche vielfach vernachlässigt und im Rezeptionsprozess missachtet wurde, betrachtet Franz Mon die Auffassung, die Schrift sei bloßes Derivat der Lautsprache (Mon 1972a, S. 167). Konkrete Visualpoesie wirke dieser Auffassung entgegen und demonstriere die Autonomie des Geschriebenen als visuelles Phäno 





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men (ebd., S. 168). Hier bestehen deutliche Konvergenzen zur Ästhetik des Künstlerbuchs als einer das Buch selbst bespiegelnden und aus seiner dienenden, medialen Funktion befreienden Kunstform.  

Das Konzept der ‚Beweglichkeit‘ des Textes. Viele Visuelle Texte widmen sich der Simulation von Bewegung durch den Text und sein Arrangement. Als Darstellung eines Geschehens lässt sich etwa Guillaume Apollinaires ‚Regen‘-Gedicht (Il pleut) lesen: Die in steil von links oben nach rechts unten ‚abfallenden‘ Textzeilen, in denen vom ‚Regnen‘ die Rede ist, suggerieren den Fall von Regentropfen, die vom Wind leicht aus der senkrechten Fallrichtung gebracht werden. Gerade die Diagonale seiner Verlaufsrichtung erweckt einen Eindruck von Dynamik und Prozessualität (Abb. in Adler/Ernst 1987, S. 244). Ein ähnlich programmatischer Visualtext Eugen Gomringers besteht nur aus den Buchstaben des Wortes „wind“. Diese sind, mehrfach sich wiederholend, so auf die Textfläche gesetzt, dass sich das Wort „wind“ aus vier verschiedenen Richtungen – aus vier Himmelsrichtungen! – lesen lässt. Suggeriert wird, der Wind habe hier die Buchstaben durcheinandergebracht (Gomringer 1972a, S. 61). Andere Beispiele Konkreter Visualdichtung zwingen den Leser dazu, das Blatt zu drehen bzw. aus verschiedenen Richtungen auf den Text zu blicken. Der ‚bewegliche‘ Text ist unter anderem von Claus Bremer als zentrales Projekt konkreter Textgestaltung beschworen worden. Seine Charakteristik des dynamischen Textgebildes sowie des ihm korrespondierenden dynamischen Lesers spricht dabei nicht allein von äußerlichen Vorgängen; diese erscheinen vielmehr als Gleichnisse, als Metaphern innerer (intellektueller) Prozesse und Haltungen. Die Rede von einer Vermeidung von „Festlegungen“, von der Negation allgemeingültiger „Perspektiven“ etwa wird eher als ethische (ideologiekritische) Maxime zu verstehen sein denn als Beschreibung des physischen Umgangs mit einem typografischen Gebilde (vgl. Bremer 1974, S. 97f.). So zeitspezifisch die Metaphorisierung jener „Bewegung“ sein kann, in welche der Leser geraten muss, um den Text ganz zu lesen, so alt ist das Prinzip. So etwa ist aus dem Barock eine Reihe von Gedichten in Kreuzform erhalten, bei denen die Kreuzbalken aus Versen gebildet werden, die nacheinander zu lesen sind, indem man das Blatt zwischendurch um 90° dreht (vgl. Karst: Der seelige Herr redet aus dem Grab, in: Adler/Ernst 1987, Kat.-Nr. 29, S. 68). MSE  













Wendebücher Manche Bücher laden dazu ein, während ihrer Benutzung die Positionierung des Buchs und die Richtung des Durchgangs durchs Buch zu wechseln: Sie haben zwei Vorderseiten, aber keine Rückseite und präsentieren die Seiteninhalte in entsprechend wechselnder Ausrichtung. Schon bei Beginn der Lektüre muss man sich entscheiden, an welchem Eingang man anfängt, und wenn man im Mittelbereich ange-

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kommen ist, steht mit einem Mal der Text (oder die Bildweite) auf dem Kopf. Dann muss der Leser den Kodex wenden und von der anderen Seite neu anfangen. Durch eine solche Form stellt das Buch seine Materialität und seine räumliche Beziehung zum Leser und Betrachter besonders heraus. Der eigentümliche Doppelgängerstatus des Buchs innerhalb eines einzigen Paars von Buchdeckeln beeinflusst die Wahrnehmung des Buchinhalts, sei dieser nun im Wesentlichen schriftsprachlich (also etwa ein Roman) oder aber grafisch. Er kann sich mit unterschiedlichen Themen verbinden, die in den beiden Buchhälften zur Sprache kommen oder bildlich exponiert werden. Diese beiden Hälften können als einander komplementär oder auch als einander gegenläufig erscheinen, als Sinnbild der wechselseitigen Ergänzung und als Sinnbild des Widerspruchs; eventuell ist auch ihre Relation zueinander Ansichtssache. Zwei Seiten des Windes, zwei Seiten des Buchs. Milorad Pavić bietet in seinem Doppelroman Unutrašnja strana vetra, Ili roman o Heri i Leandru (1991; dt. Die inwendige Seite des Windes oder Der Roman von Hero und Leander, 1995) eine neue Version – oder vielmehr: zwei neue Versionen – der antiken Geschichte um Hero und Leander. (Vgl. Teil E 1.26) Sein Buch enthält zwei Romane, die sich jeweils von den beiden einander gegenüberliegenden Einbandseiten aus erschließen. Der eine erzählt die Geschichte eines Mannes, der (neben anderen) auch den Namen Leander trägt und im 17. Jahrhundert geboren wird; der andere Teilband erzählt von einer Frau, die Hero genannt wird und im 20. Jahrhundert lebt. Durch die Zeitverschiebung zwischen den beiden Geschichten erfolgt eine besondere Akzentuierung der antiken Fabel um die beiden Liebenden, die durch das Meer getrennt wurden und in Folge dieser Trennung schließlich den Tod fanden: Was Hero und Leander bei Pavić trennt, ist das Meer der Zeit. Diese unüberwindliche Trennung wird buchgestalterisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass beide Geschichten an den beiden einander gegenüberliegenden Seiten des Buches beginnen: Innerhalb des Buchraums auf die beiden Hälften verteilt, leben Hero und Leander gleichsam an zwei verschiedenen Ufern der Geschichte. In der Mitte des Buches findet sich eine blaue unbeschriftete Seite; diese symbolisiert farblich das die antiken Liebenden trennende Meer und markiert zudem die Stelle, an der, von beiden Seiten kommend, die beiden Geschichten, jeweils mit dem Tod der Hauptfigur, enden. Die beiden Teilromane enthalten manche Anspielungen auf die antike Basisfabel, obwohl sie in der Neuzeit bzw. der Moderne spielen; so geht es jeweils um die Trennung von Liebenden, aber auch um das Gefühl der beiden Protagonisten, auf traumhafte Weise mit einer anderen Dimension der Realität verbunden zu sein. Ohne dass sie in einem rational erklärbaren Sinn etwas miteinander zu tun hätten, sind beide durch Ähnlichkeiten ihrer Schicksale verknüpft, leben also auch insofern in zwei Welten. Ihre Spiegelbeziehung wird dadurch bekräftigt, dass auch die Unterscheidung zwischen Mann und Frau, weiblichen und männlichen Namen als reversibel erscheint (Pavić 1995, Hero S. 9). Zum einen ist der Doppelroman durch ein dichtes Netz an Analogien, Parallelen und Anspielungen strukturiert, das beide aufeinander zulaufenden Geschichten miteinander verbindet. Diese suggerieren eine Art Gleich 









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zeitigkeit des Ungleichzeitigen, eine Wiederholung alter Muster, eine Präsenz des Vergangenen und Zukünftigen. Zum anderen aber herrscht die Zeit über die Schicksale, auch über das des Lesers. Dieser kann zwar durch Wenden des Romans stückweise die eine und die andere Geschichte lesen – aber mehr als eine Geschichte auf einmal hat er nie vor Augen, dafür sorgt die Architektur des Buchs.  

Zwei Ansichten eines Falls, zwei Seiten eines Buchs. Benjamin Steins Roman Die Leinwand erzählt zwei Geschichten, die wie die beiden Seiten einer Leinwand erscheinen. Da diese nicht transparent ist, kann man zwar nicht von der einen Seite auf die andere schauen, aber es gibt doch Abdrücke, die gleichsam durch die Leinwand hindurch sichtbar werden: Vernetzungen der beiden Geschichten, die sie in eine PositivNegativ-Beziehung setzen (vgl. Teil E 1.43). Unter Anspielung auf den realen Fall des Autors Bruno Doesseker alias Binjamin Wilkomirski, der sich die Identität eines ehemaligen Auschwitz-Lagerinsassen zugelegt und fingierte Memoiren mit Erfolg publiziert hatte, dann aber wegen der Erfindung der eigenen Biografie unter massive öffentliche Kritik geraten war, konstruiert auch Stein den Fall einer fiktiven HolocaustAutobiografie. Deren Verfasser ist ein Schweizer Autor namens Minsky; sie löst nach der Aufdeckung seiner wahren Identität einen Literaturskandal aus. Minsky, von einem Journalisten bloßgestellt, vertraut sich einem Psychiater an. Die eine Hälfte des Buchs berichtet von diesem Fall aus der Perspektive des jüdisch-amerikanischen Psychiaters namens Amnon Zichroni, der Minsky therapiert. Zichroni hat eine besondere Begabung, momentan die Erlebniswelt von Patienten zu teilen, und er versucht aus professionellem Interesse, sich in Minsky und dessen Motive hineinzuversetzen. Die Gegengeschichte wird aus der Perspektive des Journalisten Wechsler erzählt, der eine in sich gespaltene Figur ist. Durch Indizien wird Wechsler darauf aufmerksam gemacht, dass er vielleicht mit eben dem Journalisten Wechsler identisch ist, der den Minsky-Skandal durch Entlarvung des Biografie-Fälschers ausgelöst hat, aber er kann sich an seine frühere Existenz nicht erinnern. Schließlich nähern sich, aus zwei gegenläufigen Richtungen kommend, die Geschichten Zichronis und Wechslers einem und demselben Ort: einem rituellen Bad an einem Ort in Israel, wo Zichroni inzwischen lebt und wohin Wechsler als Tourist reist. Dass beide sich begegnen, scheint klar, aber offen bleibt, je nachdem, welches Ende man liest, wer von den beiden (vielleicht) den anderen tötet. Die Doppelstruktur des Buchs korrespondiert zum einen mit der Doppelgängerthematik, die sich in beiden Teilgeschichten und bezogen auf mehrere Personenkonstellationen bzw. Figurenspaltungen entfaltet. Es vermittelt zudem die Einsicht, dass Fake- und Betrugsfälle wie der um Minsky aus verschiedenen Perspektiven (verschiedenen Richtungen) gelesen werden können. Zwei Leserichtungen, zwei Seiten des Buchs. Mark Z. Danielewski nutzt mit Only Revolutions das Prinzip des Wendebuchs auf sehr komplexe Weise: Der Band hat zwei „Eingänge“, von denen her zwei Figurenperspektiven und zwei Chronologien sich einander gegenläufig entfalten. Textuelle und grafische Mittel legen es im Durchgang

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durch den gesamten Band, aber auch jeweils seitenweise nahe, den Band zu drehen, ihn auf den Kopf zu stellen, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn die Perspektive zu wechseln (vgl. Teil E 1.39). Doppelgänger in einem Doppelbuch. Marc-Antoine Mathieu erzählt in seiner Graphic Novel L’Epaisseur du miroir eine Spiegelgeschichte, in der das Motiv des Spiegels auch inhaltlich eine tragende Rolle spielt. Der auch in anderen Episoden einer ganzen Graphic-Novel-Serie agierende Protagonist Monsieur Acquefacques (dessen Name ein Klangpalindrom zu „Kafka“ ist) tritt in zwei Variationen und als Held zweier Geschichten auf. Diese beginnen jeweils auf den beiden Umschlagdeckeln des Buchs, sind entsprechend umgekehrt ausgerichtet und laufen auf die Buchmitte zu. Acquefacques I und II, der eine das schwarz-weiße Negativ des weiß-schwarzen anderen, erleben ähnliche, aber nicht gleichartige Geschichten. Aus dem inneren Gleichgewicht geraten, begeben sie sich im Bereich der Buchmitte in ein Spiegelkabinett, von dessen Besitzer sie sich Hilfe versprechen – und betreten, von zwei Seiten aus und verglichen mit dem Doppelgänger jeweils auf dem Kopf stehend, dasselbe Spiegelkabinett. Schließlich durchsteigen sie denselben Spiegel, um nach dem Eintritt in die Spiegelfläche an dessen Kehrseite als der jeweilige Antagonist wieder aufzutauchen. Nur kurze Zeit lässt sich ihr Weg dann noch verfolgen; dann erreicht der Leser einen Bereich, der zur (auf dem Kopf stehenden) Geschichte der anderen Figur gehört. Man muss das Buch umdrehen, um von der Gegenseite die Komplementärgeschichte zu lesen. Mathieus Graphic Novels thematisieren, konsequent autoreferenziell, Struktur, Materialität und Rezeptionsbedingungen der Graphic Novel selbst, auch unter Akzentuierung buchgestalterischer Aspekte. Auf diesen liegt hier ein Schwerpunkt: Die Seitennummerierungen der beiden Geschichten setzen sich aus positiven und aus negativen Zahlen zusammen. Die Titel verhalten sich ‚spiegelverkehrt‘ zu einander („la fin du début“, „le début de la fin“), die inneren Titelseiten bilden das Positiv und das Negativ ein und derselben Szene, der Buchkörper macht auf sich selbst als einen Spiegelraum aufmerksam.  

Bücher zum Drehen. Neben Wendebüchern, deren Drehachse in der Buchmitte steht, sind auch solche Bücher gestaltet worden, die den Nutzer zu ständigen Drehungen anregen, weil die Seiteninhalte verschieden ausgerichtet sind und bei gleichförmigem Durchblättern entweder regelmäßig auf dem Kopf oder auch hochkant stehen. Stimuliert werden entsprechende buchgestalterische Experimente wohl nicht zuletzt durch Vexierbilder, die unterschiedliche Gegenstände zeigen, je nach der Richtung, aus der man sie betrachtet. Ferdinand Kriwets Collagebücher Apollo Amerika (1969) und Stars (3 Bände, 1971) veranlassen den Betrachter zu ständigen Drehungen. (Vgl. Teil E 1.12) Sie machen sinnfällig, dass Bücher die Orientierung ihrer Leser in der Welt prägen: nicht nur durch ihre Inhalte und Botschaften, sondern auch durch ihre Form. Eine Zeit, in der die Wissenschaft und die Politik auf je eigene Weise die gewohnten Ausrichtungen des Sehens und des Denkens relativieren und die Welt im buchstäblichen oder übertragenen Sinn auf dem Kopf stehen lassen, wird im Dreh- und Wendebuch

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ironisch-ernsthaft kommentiert. Dieses bietet sich an als Flugsimulator, mit dessen Hilfe man sich an eine Welt gewöhnt, die keine feste Ordnung von oben und unten, rechts und links mehr kennt. Gegenläufige Schriften und ein doppelter Katalog. Der Katalog zu einer 1978 in Teheran gezeigten Ausstellung mit Buchobjekten, die von Rolf Dittmar kuratiert wurde, nutzt ebenfalls die Möglichkeit, einen Kodex von zwei Seiten beginnen zu lassen (Kat. Ausst. 1978): Der Katalogband ist zweisprachig (Englisch, Farsi) und basiert auf zwei Schriftsystemen (Lateinisch, Arabisch). Da im arabischen Kulturkreis Bücher in gegenüber dem westlichen Kulturkreis gegenläufiger Richtung gelesen werden, ergänzen sich die beiden Lese-Richtungen auf zu den beteiligten Schrift- und Buchkulturen passende Weisen: Der westliche Leser durchläuft Inhaltsverzeichnis und Einleitungstext von vorn nach hinten, der arabisch-lesende Rezipient liest von hinten nach vorn. Den (umfangreichen) Mittelteil bilden die eigentlichen Katalogseiten mit Bildern der Objekte und zweisprachigen, in zwei Schriften verfassten Erläuterungsteilen dazu. Der Band hat eine doppelte Paginierung, den beiden Leserichtungen entsprechend. Aus einer schrifthistorischen Differenz zwischen arabischer und lateinischer Schrift wird unter Nutzung der Gestaltungsoptionen buchförmiger Kataloge so ein Gleichnis der Begegnung zwischen zwei Kulturen im Raum der (Buch-)Kunst. MSE

Zusammenstellungen: Bücher als Sammlungen, Museen, Kataloge, Listen Anne Mœglin-Delcroix hat in ihrer Monografie zum „livre d’artiste“ auf einige wichtige Berührungspunkte zwischen Buch und Sammlung hingewiesen: Beide sind Formen der Vereinigung von Vielem und Verschiedenem, beide dienen der Aufbewahrung, beide sind mit Klassifikations- und Ordnungsversuchen verbunden. Viele Bücher sind bzw. enthalten Sammlungen; ihre Seiten entsprechen funktional den Aufbewahrungsbehältern und -orten in einem Sammlungsraum. Aus Büchern wie aus Sammlungen kann man Nutzen ziehen, sie sind Schatz- und Vorratskammern. Der Katalog qua Objekt und Medium schlägt eine Brücke zwischen dem Buch (dessen Form er hat) und der Sammlung (die er darstellt) (Mœglin-Delcroix 1997a, S. 205).  

Das Buch als Kompilationsraum und Text-Sammlung (Illich). Die Nutzung des Buchs als Medium und Raum des Sammelns lässt sich insbesondere mit mittelalterlichen Buchformaten in Verbindung bringen, wie sie Ivan Illich analysiert hat. Eine neue Form der Textgestaltung ist, wie Illich dargelegt hat, charakteristisch für die gelehrte Kompilations-Praxis, die im 12. Jahrhundert anbricht (Illich 2010, S. 102): Das lesend Gesammelte wird erkennbar zur Basis der Textproduktion, und die Buchseite macht sichtbar, dass hier gesammelt und zusammengestellt wurde. Gerade die Kom 



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pilationskultur markiert insofern den eigentlichen Anbruch des Buch-Zeitalters. Die visuellen Präsentationsformen von Texten auf der „Bildfläche“ der Seite dienen dabei der Organisation von Vielfalt, der Markierung von Hierarchien (zwischen Primär- und Sekundär-Texten) und von Alternativ-Meinungen in Textform. In dieser Zeit gewöhnen sich die folgenden Leser-Generationen zunehmend daran, „Kompilationen zu benutzen“ (ebd., S. 102), und es entsteht ein neuer Lesertypus, der innerhalb einer kürzeren Studienzeit mehr Autoren kennenlernen kann als die früheren Lesergenerationen während ihres gesamten Leserlebens (ebd., S. 102 f.). Die Geschichte der Leseund Schreibpraktiken als ineinandergreifender, die Gestalt der entstehenden Texte prägender Arbeitsprozess ist gerade in jüngerer Zeit detaillierten Analysen unterzogen worden (vgl. u. a. Chartier/Cavallo 1999, S. 9–58; Décultot 2014). Insofern Leser und Schreibende respektive Schreibende in ihrer Eigenschaft als Leser sich jeweils spezifischer Praktiken des Sammelns bedienen, wirken sich diese Sammlungspraktiken auf Buchformate und den Umgang mit Büchern aus. Die Fülle des Gesammelten, das den eigentlichen Inhalt der Bücher ausmacht, wird seit dem Mittelalter durch ‚neue Verweisungs- und Erschließungsmittel‘ möglich gemacht: sie als Fülle zu erfassen wird als Leseziel suggeriert. Die dabei eingesetzten Hilfsmittel bleiben laut Illich im Prinzip kontinuierlich prägend für die abendländische Leserkultur, bis zum Eintritt ins Computerzeitalter (Illich 2010, S. 103). Gerade Formen der Buch- und Buchseitengestaltung in der neuen Buch-Literatur spiegeln Konzeptualisierungen des Schreibens als eines Arrangierens von Gesammeltem – schon in Form von Reihungen (scheinbar) inkohärenter, zusammengetragen erscheinender Textabschnitte, oft auch unterstützt durch grafisch-typografische Mittel, die dies hervorheben, oder auch durch buchgestalterische Mittel, welche den Kodex auflösen und die Idee der Kompilation sinnfällig machen – bis hin zur artifiziell arrangierten Zettelkasten-Optik.  















Buch, Museum, Archiv. Buch und Museum sind metaphorisch und metonymisch vielfach verknüpft worden; sie stellen einander wechselseitig dar und modellieren einander in mancher Hinsicht wechselseitig: Spezifische Bücher (vor allem Kataloge) beschreiben Museen und erläutern deren Ordnungsprinzipien; Museen machen umgekehrt Ordnungsmuster sinnfällig, die in Büchern stehen; manche Bücher heißen selbst „Museum“, um darauf zu verweisen, dass sie Gesammeltes darbieten, insbesondere wenn es sich um Sammlungen gelehrten Wissens oder um Kulturgüter (etwa auch dichterische) handelt. Die konkreten Funktionen von Buch und Museum innerhalb kultureller Gemeinschaften (Vermittlung, Fixierung und Konservierung von Informationen, Stützung der Erinnerung, Modellierung von ‚Welt‘, von ‚Geschichte‘, ‚Natur‘ etc.) sind einander in vielem analog. Auch zum Archiv als einem Sammlungsort unterhalten Bücher wichtige Analogien; nicht zufällig ist „Archiv“ ja ein durchaus geläufiger Buchtitel. Hier liegt der Akzent aber statt auf der visuellen Präsenz der Sammlungsobjekte auf deren dokumentarischer, memorialer und kulturbegründender Funktion, manchmal auch auf der Verborgenheit der aufbewahrten Informationen und auf der Mühe ihrer Erschließung sowie darauf, dass ihre Nutzung einen Weg zurück in die

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Vergangenheit impliziert bzw. katalysiert. Vergleiche zwischen Archiv und Museum sowie archivologische Diskurse akzentuieren unter anderem die Beziehung zwischen Archiv und Macht, die mit der Differenz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Archivalien bzw. zwischen Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit des Archivierten für differente Nutzer zusammenhängt (Ebeling/Günzel 2009, vgl. u. a. die Einleitung S. 8). Hier ergeben sich enge Korrespondenzen zur Geschichte des Buchs und der Bibliotheken, für die Analoges gilt (vgl. zu diesem Themenkomplex Eybl 2005). Buchwerke mit ‚Dossier‘-Charakter, die den Eindruck erzeugen, ‚Archivalien‘ zu enthalten, setzen auf die assoziative Verknüpfung von Buch- und Archivräumen – und auf das Interesse des Nutzers, Verborgenes zu enthüllen. Ein spielerisches Beispiel dafür bietet eine fiktionale Dokumentation zu den Ereignissen in dem fiktionalen Ort „Twin Peaks“ (vgl. Frost 2016). Daniel Spoerris Künstlerbuch Dokumente Documents Documenti zur Krims Krams Magie (1971) suggeriert durch sein Aussehen wie durch seinen Titel, besondere archivalische Materialien zu enthalten. Das Buch enthält acht Umschläge mit verschiedenen Dokumenten; das ganze Objekt ist also ein Dossier, das seine Inhalte doppelt schützt. In den Umschlägen befinden sich verschiedene gedruckte Arbeiten Spoerris und seiner Freunde Emmett Williams und Pierre Alechinski.  





„Papiermuseen“. Bücher als funktionale Analoga des Museums. Bücher und buchähnliche Sammlungen mit Abbildungen von Werken bildender Kunst haben eine lange, bis in die Renaissance zurückzuverfolgende Tradition. Solche „Papiermuseen“ bilden dabei teils reale Sammlungen ab, teils imaginäre, ‚ideale‘ Sammlungen (vgl. dazu Kat. Ausst. 2010b). In Formen des „Papiermuseums“ sorgten, so Walter Grasskamp, „schon früh Stiche, Holzschnitte, Zeichnungen oder Aquarelle für die Reproduktion von ‚artificialia‘ und ‚naturalia‘“; dazu gehörten die illustrierten Inventare von Kunst- und Wunderkammern (Grasskamp 2014, S. 156). Man hat zudem bildliche (gezeichnete, gedruckte, aquarellierte) Darstellungen künstlerischer Werke schon früh zu Sammelwerken vereinigt, die dann das Format von Mappen oder von aufgebundenen Büchern annehmen konnten (ebd.).109 Neben Formaten wie Klebeband und Druckgrafiken-Kollektion steht als ein weiterer Typus gesammelter Kunstreproduktionen das Galeriewerk: die Repräsentation einer existierenden Sammlung in Stichen (dazu Bähr 2009; Gaethgens/Marchesano 2011). Mit all dem ging es um Repräsentationen gesammelter Kunst, denen spezifische Kunst- und Sammlungskonzepte entsprachen (zur Geschichte der Kunstreproduktionen: Ullrich 2009).  

Imaginäre Museen. Mit den auf fotografischen Abbildern beruhenden „Papiermuseen“ tritt die Geschichte der buchförmigen Kunstsammlung in eine neue Phase me-

109 Forschungen von Gabriele Bickendorf und Ingrid R. Vermeulen gelten solchen Sammelwerken als frühen Formen vergleichender Kunstrezeption. Vgl. Bickendorf 2010, S. 10–23; Bickendorf 1998; Bickendorf 2007; Vermeulen 2010.  

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dial bedingter Optionen und Suggestionen (Grasskamp 2014, S. 90). André Malraux leistet 1947 einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung von Museen in Buchform (dt. Malraux 1987). Von „imaginären Museen“ spricht er mit Blick auf mit Reproduktionen von Kunstwerken illustrierte Bücher – und erörtert die mit dieser medialen Entwicklung verbundenen Folgen für die Rezeption von Kunstwerken, die Einstellung gegenüber Kunst und den Kunstbegriff im Allgemeinen. „Imaginäre Museen“ heißen die Bände, weil sie Abbildungen von Werken zusammenstellen, die sich eigentlich an ganz verschiedenen Orten befinden. Die fotografierten Originalarbeiten sind dabei teilweise als ‚Kunst‘ produziert und rezipiert worden, stammen andererseits aber auch aus Kulturkreisen, denen der abendländische Kunstbegriff fremd ist. Die unter dem Titel Musée imaginaire publizierten Bände enthalten hauptsächlich Fotos. Hinzu kommen erläuternde Texte: Bildkommentare von Kunsthistorikern und Museumsleuten. Malraux’ Textanteil ist unter quantitativen Aspekten nicht groß. Als Verfasser einleitender Reflexionen steuert er aber die Rezeption maßgeblich. Das Adjektiv „imaginaire“ im Titel des Unternehmens verweist sowohl auf den Charakter des Buch-Museums als eines Bilder-Museums, als auch auf eine imaginäre Dimension dieses BuchMuseums: Zusammengestellt finden sich hier, gleichsam in effigie, Werke, die so an keinem realen Ort versammelt sind (und auch wenn der Louvre viele enthält, stehen sie dort nicht wie in Malraux’ Buch-Museum nebeneinander). Das Buch-Museum kommt, anders als ein öffentlicher Raum wie das Museum, privat-individueller Nutzung entgegen; man kann es erwerben und zuhause aufbewahren. Löst schon das Museum die ausgestellten Exponate aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext, so ist das Buch-Museum hierin noch radikaler – werden doch die Werke selbst durch fotografische Repräsentanten ersetzt, die keinem bestimmten Ort angehören, sondern zum Zirkulieren disponiert erscheinen. Weit davon entfernt, diese Ersetzung eines Werks durch sein Foto als ein Defizit zu betrachten, sieht Malraux in der Lösung der ‚Kunst‘ von ihren materiellen Trägern einen befreienden Prozess, welcher einer Vergeistigung der Kunsterfahrung zuarbeitet. Zumindest die moderne Kunstrezeption ist für Malraux eine ausgeprägt intellektuelle Erfahrung. Dazu passt das Buch als Inszenierungsraum von Kunst besonders gut.  





Museum und Literatur. Literarische Texte gerade der letzten Jahrzehnte nehmen oft inhaltlich auf museale Sammlungen Bezug und lehnen sich zugleich in Form, Aufbau, Schreibweisen und Buchgestaltung an solche Sammlungen an. Manche weisen sich dabei bereits durch ihren jeweiligen Titel als Museen oder ähnliche Sammlungsformate aus. Ein Roman, der sich durch Form und Inhalt als literarisches „Museum“ präsentiert und dabei sammlungs- und erzähltheoretische Perspektiven miteinander verknüpft, ist Orhan Pamuks Roman Masumiyet Müzesi (2008; dt. Das Museum der Unschuld 2012).110

110 Pamuk hat nach eigenem Bericht während der Arbeit am Roman Dinge gesammelt, wie sie dort erwähnt werden. Diese Dinge wurden inzwischen in Istanbul im eigens von Pamuk eingerichteten „Mu-

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Als Museo de la Novela de la Eterna erschien 1967 ein aus dem Nachlass des Autors Macedonio Fernández edierter Meta-Roman (Fernández 1967, dt. 2014). Hier wird keine Geschichte erzählt, sondern die wechselvolle Geschichte eines Romanprojekts dargestellt und ‚dokumentiert‘; der imaginäre Roman wird anhand von Entwürfen, Varianten und angedeuteten Entwicklungsmöglichkeiten beschrieben, die Reflexions- und Arbeitsschritte werden dargestellt, ja in Form von ‚Dokumenten‘ gleichsam ausgestellt wie in einem Literaturmuseum. Und so ist das Buch als „Museum“ des konzipierten imaginären Romans ein ‚Buch-Museum‘ im doppelten Sinn. Ein Beispiel für die Affinität der neueren Buch-Literatur zur Museumsthematik und zu Themen der neuen Museologie bietet Reif Larsens Roman The Selected Works of T. S. Spivet: Diese durch das Buch selbst sinnfällig gemachte Geschichte der Genese eines auf einer Reise geführten Notizbuchs ist zugleich ein Museumsroman. Auf inhaltlicher wie auf grafischer Ebene erfolgen vielfältige Verweise auf museale Ordnungen und Räume, die mit buchgestalterischen Mitteln verdeutlicht, teilweise imitiert werden. Praktiken des Sammelns und Ausstellens spielen eine thematisch zentrale Rolle; zugleich ist der notizbuchführende Protagonist selbst ein Sammler. Er kompiliert dabei nicht nur Informationen und eigene Notizen, sondern verwendet auch fremdes Textmaterial, so die Aufzeichnungen seiner Mutter. Als Museum der unerhörten Dinge hat Roland Albrecht ein Buch publiziert, das sich auf ein reales Museum bezieht (Albrecht 2005). Es besteht aus fotografischen Abbildungen verschiedener Objekte und Texte, die deren jeweilige Geschichte erzählen, analog zu Bildlegenden in einem Museum. Das reale „Museum der unerhörten Dinge“ befindet sich in Berlin. Es bietet auf kleinem Raum eine Kollektion heterogener Dinge, an die sich Geschichten knüpfen – Geschichten der Objekte selbst, die durch Abbildungen dieser Objekte metonymisch repräsentiert sind und die in Albrechts Textbeiträgen erzählt werden. Den Anfang der im Buch präsentierten Objekt-Kollektion bilden „Zwei Teile der Schreibmaschine, auf der Walter Benjamin seinen berühmten Essay ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schrieb‘“ – so der entsprechende Kapiteltitel. Um „unerhörte“ Dinge geht es insofern, als diese vor ihrer Integration ins Museum übersehen wurden und unbeachtet blieben (vgl. ebd., S. 113).  







Buchgestalter als Sammlungsdesigner. Scrapbooks, Alben und andere Buchtypen, die der Nutzer selber füllen darf, können dann, wenn sie zur Aufbewahrung arrangierter Erinnerungsstücke dienen, ähnliche Funktionen annehmen wie ein Museum. Bücher zum Selber-Füllen sind Einladungen, sich sein eigenes Buch-Museum zu gestalten. Alben und Scrapbooks sind portable Museen. Aber nicht nur Erinnerungsstücke können in selbstgestalteten Museen aufbewahrt werden, auch Gemälde und Zeich-

seum der Unschuld“ ausgestellt. Dieses Museum wiederum wird durch eine weitere Buchpublikation dargestellt, an deren Gestaltung Pamuk mitgewirkt hat (vgl. Pamuk 2012).

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nungen, die Talent und künstlerische Interessen des Buchnutzers dokumentieren. Spielerisch umgesetzt findet sich diese Idee in The Missing Masterpieces Sketchbook, wo die Rolle des Buchgestalters und Ausstellungsmachers dem Rezipienten zufällt: Das Buch präsentiert sich als eine Galerie mit gerahmten Bildfeldern in einem gezeichneten Museumsambiente; die Rahmen sind gezeichnet und repräsentieren konventionelle Bilderrahmen, wie man sie in Museen sieht. Sie sind aber allesamt noch leer; der Nutzer soll selbst in sie hinein malen oder zeichnen (Weir 2011). Kunst- und Wunderkammern im Spiegel der Buchkunst. Das rezente Interesse an der Geschichte von Sammlungen und musealen Institutionen hat unter anderem ein intensives Interesse an historischen Formen und Vorformen des Museums stimuliert. Eine ‚Wiederbelebung‘ der Wunderkammer sieht Mauriès in einem spezifischen Buchtypus, wie er in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch Henry-René d’Allemagne geschaffen wurde: dem aufwendig gestalteten illustrierten Buch über Sammlungen unterschiedlicher Dinge (Mauriès 2002, dt. 2011, hier S. 214). Auch wenn solch museale Bücher eine wissensvermittelnde und somit praktische Dimension haben, so sind sie selbst doch auch ästhetisch ansprechende Objekte, und die Präsentationsweise verwandelte auch die dargestellten ‚Museums‘-Exponate in Objekte ästhetischer Erfahrung. Auch die Kunst der Assemblage steht in der Nachfolge der Wunderkammer. Kunst- und Wunderkammern, Naturalien- und Kuriositätenkabinette haben in jüngerer Zeit Kultur- und Kunsthistoriker, aber auch Künstler und Schriftsteller verstärkt beschäftigt. Barbara Fahrners Arbeit Das Kunstkammerprojekt (vgl. dazu Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1992, hier u. a. S. 13–19; vgl. dazu Drucker 2004, S. 116–118), hergestellt zwischen November 1987 und November 1988, gehört zu einer ganzen Reihe von buchkünstlerischen Arbeiten, in denen Fahrner die Analogien zwischen Buch und Welt zum Thema macht. 111 Das Projekt wurde, wie die Künstlerin selbst erklärt hat, durch die „Idee des Makrokosmos im Mikrokosmos“ sowie die „Idee des Buches als ein Symbol für die Welt“ stimuliert (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1992, S. 20f.). Modell stand ein Kunstkammer-Projekt der Renaissance, Giulio Camillos Idea del theatro,112 von dem Fahrner die Einteilung der gesammelten Objekte in sieben Kategorien übernahm. Camillos Bilderwelt stellt Mikro- und Makrokosmos in ihren Spiegelungsbezügen dar. Sein siebenteiliger Aufbau wird in Fahrners Kunstkammer nachvollzogen; die neue „Kunstkammer“ umfasst 84 Bücher und 16 Schautafeln zu verschiedenen Gegenstandsbereichen, die im Katalog zum Fahrnerschen „Kunstkammer“-Projekt als sie 











111 Johanna Drucker charakterisiert Barbara Fahrner als eine Künstlerin, deren Werke ihre philosophischen und poetischen Reflexionen über das Buch als Metapher für die Welt dokumentieren (Drucker 2004, S. 116). 112 Giulio Camillos Idea del theatro ist ein schriftlich ausgearbeiteter und 1550 posthum erschienener Plan für einen Theaterbau, der dazu dienen sollte, sich auf der Basis von Bildern mnemotechnisch zu üben.  

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ben „Ordnungen“ präsentiert werden. Camillos „Theater“ bildete ein komplexes räumliches Gefüge aus Nischen, Türen und Behältern, die ihrerseits weitere Behälter enthielten (sei es in Form von Büchern, Schriften oder Bildern).113 Fahrners Kunstkammer besteht zu einem erheblichen Teil aus Büchern, die, in die Gesamtarchitektur als ihren Behälter integriert, ihrerseits Behälter für anderes und Vielfältiges sind. Mauriès hat gerade dieses ‚Behältnis-im-Behältnis‘ als typisch für viele Wunderkammern charakterisiert.114 Das sentimentale Museum als Erzählung. Das in den 1970er Jahren entwickelte und mehrfach in Projekten realisierte Konzept des ‚sentimentalen Museums‘ beruht auf der Idee einer mit individualisierter Bedeutung aufgeladenen Exponatesammlung, welche eine Geschichte – die einer Stadt – erzählt.115 1977 entstand das „Musée Sentimental de Paris“; 1979 folgte das „Musée Sentimental de Cologne“; Installationen von Harald Szeemann aus den 1970er Jahren folgten einem ähnlichen Konzept. ‚Sentimentale Museen‘ zeigen dem Betrachter heterogene, teilweise an sich eher unauffällige, banale, alltägliche Dinge, welche jeweils für eine Geschichte stehen; diese Geschichte wird dem Betrachter auf Tafeln oder mittels des Katalogs erzählt. Orhan Pamuks enzyklopädischer Roman Die Unschuld der Dinge (2012) steht in der Tradition des sentimentalen Museums, das als Konzept im Roman auch erwähnt wird. Sein Pendant ist ein reales „Museum der Unschuld“ in Istanbul, das – wie auch der Roman – dieser Stadt, ihrer Geschichte und ihrer Kultur gewidmet ist und dabei zugleich eine fiktive Geschichte ‚erzählt‘. Roman und Museum Pamuks basieren auf zahlreichen ‚Istanbuler Geschichten‘ und erinnern an diese – vielfach Geschichten, wie sie nur die Istanbuler kennen. Buch, Museum und Museumsbuch binden erfundene und überlieferte Geschichten an Dinge, die zu Ausstellungsstücken werden. Zum überwiegenden Teil sind es triviale Alltagsdinge, die hier zu Semiophoren werden. Das Museumsbuch hat selbst narrativen Charakter; es bietet eine verdichtete Paraphrase der Romanerzählung.116 Einzelnen Romanthemen entsprechen im Museum jeweils ausgewählte Vitrinen – und im Museumsbuch gibt es analog dazu Vitrinen-Kapitel.  











113 Camillo hatte den Bilderschatz und die Erinnerungstechniken der antiken Überlieferung zu einer Architektur von höherer Komplexität gefügt. Vgl. Yates 1966, S. 129–172. 114 Vgl. Mauriès 2011, S. 35: „[…] die Wunderkammer war letztlich nichts anderes als eine Reihe von Behältnissen, die in sich weitere Behältnisse bargen, erfüllt von der steten Suche nach der sinnbildhaften Essenz eines bestimmten Wissensgebietes. Schubladen, die gemeinsam in einem architektonischen Modell, ähnlich einem Gebäude en miniature, die Elemente oder Einrichtung der Wunderkammer bildeten […].“ 115 Spoerri und von Plessen trugen das erste ‚Sentimentale Museum‘ 1977 bei der Eröffnung des Centre Pompidou zusammen; weitere analoge Projekte folgten. 116 Suggeriert wird durch das Arrangement des Buchs u. a., dass der Leser von einem Begleiter durch die Ausstellung geleitet wird. Und innerhalb der einzelnen Abschnitte sieht man die sequenziell angeordneten Vitrinen mit ihren Exponaten auf ganzseitigen Abbildungen. Dann werden jeweils einzelne  





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Kataloge. Der Begriff Katalog verweist sowohl auf spezifische Schreibweisen als auch auf buchförmige Kompendien, die entsprechende Texte enthalten. Kataloge können allein aus Wörtern oder auch aus Wörtern und Bildern bzw. visuellen Repräsentationen bestehen. Verschiedene Ordnungsprinzipien können ihnen zugrunde liegen. Dieser repräsentierende Grundzug des Katalogs wird am konventionellen Museums- oder Ausstellungskatalog besonders evident: Während die museale Sammlung selbst bestimmte Objekte sichtbar präsentiert, ist der Katalog nur ein Ensemble von Benennungen und ggf. von Beschreibungen. Allerdings hat der Katalog als ein Arrangement aus bloßen Zeichen der eigentlichen (präsenten und insofern dem Betrachter etwas präsentierenden) Sammlung auch etwas voraus: Er ist erstens weitaus leichter handhabbar und lässt sich zweitens multiplizieren; er lässt sich zudem gemäß beliebigen Prinzipien und Intentionen strukturieren. Manfred Sommer, demzufolge Sammlungen komplexe Ordnungssysteme bilden, für welche zum einen die (gedachte respektive hergestellte) Ordnung der gesammelten Dinge, zum anderen die räumlichen Gegebenheiten der Sammlung selbst konstitutiv sind (Sommer 2002), spricht dem Katalog erhebliche Gestaltungsoptionen zu: Mit (prinzipiell multiplizierbaren) Stellvertretern (Repräsentanten) lässt sich viel freier umgehen als mit den repräsentierten Objekten selbst (ebd., S. 226 f.).  



Literarische Katalogtexte. Katalogartige Textpassagen finden sich in literarischen Werken seit der Antike in vielfältigen Varianten – etwa bei Homer und Apollonios Rhodos (vgl. Regazzoni 2008). Katalog-Passagen können innerhalb des jeweiligen Werkkontextes unterschiedlich positioniert, unterschiedlich umfangreich sein und verschiedene Funktionen übernehmen. Auch kann der Katalogteil entweder in den Gesamttext integriert sein wie im Fall des Homerischen Schiffskatalogs oder aber durch seine Platzierung gegenüber dem restlichen Werk abgesetzt sein. Gerade in moderne und postmoderne Romane werden vielfach Kataloge im Sinn einer enzyklopädischen oder mit der Idee des Enzyklopädischen spielenden Auflistung von Dingen, Figuren, Ereignissen integriert. Im Extremfall ist der gesamte Roman katalogförmig. Dies gibt dem jeweiligen Buch ein spezifisches Aussehen und nimmt Einfluss auf seine Nutzungsoptionen.  

Grenzverwischungen zwischen Faktualem und Fiktionalem. Der Katalog gilt im Allgemeinen als faktuale Textform. Aber er lässt sich literarisch zur Entdifferenzierung zwischen Faktualem und Fiktionalem nutzen. So können Kataloge dazu dienen, Imaginäres als real auszugeben oder Reales an Imaginäres anzuschließen. Dies gilt beispielsweise für Malerromane wie Jusep Torres Campalans von Max Aub, wo sich im Katalogteil tatsächlich existierende bildkünstlerische Werke erfasst finden, die der Roman aber dem fiktiven Maler Campalans zuschreibt (vgl. Teil E 1.7).117 Einen Katalog116 Suggeriert wird durch das Arrangement des Buchs u. a., dass der Leser von einem Begleiter durch die Ausstellung geleitet wird. Und innerhalb der einzelnen Abschnitte sieht man die sequenziell ange 

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teil enthält auch Georges Perecs Roman Un cabinet d’amateur (1988, dt. Ein Kunstkabinett 1992), der auf verschiedenen Ebenen von Fiktionen handelt und anlässlich einer fiktionalen Geschichte die Differenzierung zwischen Originalen, Kopien und Fälschungen problematisiert. Bei Aub finden sich die katalogisierten Gemälde im Buch teilweise abgebildet (de facto hat der Autor die der Romanfigur Campalans zugeschriebenen Bilder gemalt); bei Perec sind die ‚katalogisierten‘ Bestände fingierte Werke, die allein in Form ihrer Beschreibungen Kontur annehmen. Auch andere Malerromane enthalten Werkkataloge mit imaginären Werken, so etwa Alessandro Barriccos Oceano Mare (1993). Christoph Ransmayr, dessen „Ovidisches Repertoire“ am Ende des Romans Die letzte Welt als alphabetisches Lexikon, aber auch als Katalog der Romanfiguren gelesen werden kann, spielt durch mehrfache Variation der mythischen Fabeln aus Ovids Metamorphosen mit der Grenze zwischen Fiktion und Sach-‚Information‘.118 Peter Wehrlis Katalog von Allem. 1111 Nummern aus 31 Jahren (Wehrli 1999) besteht aus einer großen Zahl von Einzelnotizen, die über einen erheblichen Zeitraum hinweg entstanden sind. Der Rahmenkonstruktion nach ersetzen die Einträge Fotos, die nicht gemacht worden sind. Allerdings ist die Beziehung des Schreibprojekts zur Idee der ‚Vollständigkeit‘ notwendig ironisch – ebenso wie der Titel Katalog von Allem. Es mag zwar sein, dass der erzwungene Verzicht auf die Kamera und die kompensatorische Benutzung eines Schreibgeräts zur Aufzeichnung von Beobachtungen den Sinn für die Fülle der Dinge eminent schärft und dazu führt, dass aus den Aufzeichnungen wirklich ein Katalog wird, der ‚alles Mögliche‘ im Sinne von ‚Verschiedenstes‘ enthält. Das „Alles“ freilich entzieht sich der Katalogisierung – und die Idee einer geordneten Katalogisierung wird durch Wehrlis „Katalog“ zumindest in Frage gestellt. Als ein potenziell enzyklopädisches Buchformat, das den Beständen der Alltagswelt gewidmet ist, nutzt Leanne Shapton den Katalog eines Versteigerungshauses – in ihrem Buch Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry (2009).  





Kataloge in der Buchkunst. Buchkünstlerische Werke können als Kataloge oder katalogähnlich gestaltet sein. Ein Beispiel bietet etwa Herman de Vries mit seiner Arbeit natural relations I – die marokkanische sammlung (1984; vgl. dazu und zum Katalogcharakter des Buchs Mœglin-Delcroix 1997a, S. 237). Katalogartig angelegt ist auch Sol LeWitts Buch PhotoGrids (1977); das für den Künstler typische Werk zeigt eine Serie von  



117 Aub 1999, dt. 1997. Aubs Roman spielt auf eine in ihrer Radikalität originelle Weise mit dem Präsenzbegehren des Rezipienten. Er setzt nicht nur narrative Mittel ein, um solche Präsenzeffekte zu erzeugen, sondern auch das Mittel der Bild-Reproduktion – indem er dem Leser physisch sichtbare Abbilder der angeblichen Campalansschen Werke vor Augen stellt. Das Buch ist Malraux und seinem Konzept des „musée imaginaire“ gewidmet. Durch Aubs Orientierung an Gattungsvorgaben der Biografie sowie durch die täuschende Verwendung ‚illustrativer‘ und ‚dokumentarischer‘ Materialien wird die Grenze zwischen Faktualem und Fiktionalem im Projekt Campalans gezielt verunklärt bzw. suspendiert. 118 So wie die Katalogeinträge in Aubs Malerroman unter anderem auch faktuale Informationen einbeziehen, so lässt sich auch Ransmayrs „Repertoire“ als mythografischer Katalog konsultieren.  

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Rasterformen, abfotografiert von Kanaldeckeln, gekachelten Wänden und anderen architektonisch genutzten Strukturen (vgl. dazu ebd., S. 273). Christian Boltanskis Künstlerbücher nutzen das Katalogformat wiederholt. In Form von „Inventarien“ der Besitztümer von (imaginären) Personen lassen sie deren Leben durch die repräsentierten Objekte wie durch eine Leerform einen – freilich unscharfen – Umriss annehmen.119 Vielfach sind die Kataloge zu Ausstellungen von Künstlerbüchern und Buchobjekten selbst künstlerisch gestaltete Bücher. Solche Kataloge sind dann Meta-Bücher im mindestens doppelten Sinn: als repräsentierende und erläuternde Darstellungen von Buchwerken sowie als eigenständige Beiträge zur ästhetischen Reflexion über bookness. Ein Beispiel bietet der Katalog Groh u. a. 1986, in dem es um Künstlerbücher und Buchobjekte geht, die auf einer Ausstellung zu sehen waren (Groh u. a. 1986, S. 9–23). Zwei gleichformatige quadratische Buchblöcke wurden jeweils diagonal durchschnitten; gebunden (und zusammengebunden) finden sich ausgehend hiervon vier dreieckige Bücher, die in zusammengeklapptem Zustand ein Buch mit quadratischem Einband bilden (je zwei Dreiecke zusammen ergeben ein Quadrat; die Quadrate liegen aufeinander), in auseinandergeklapptem, dabei aber nicht aufgeklapptem Zustand eine viermal so große Fläche bedecken (auf der die beiden quadratischen Arrangements aus je zwei Dreiecksbüchern liegen und je einen Quadranten bilden), während zwei weitere Quadranten frei bleiben. Klappt man die Dreiecksbücher jeweils in der Mitte auf, so füllen sich auch die leeren Quadranten. Nicht nur die quadratische Form lässt die 4 zur Schlüsselzahl werden: Auf den vorderen Seiten des ersten Dreiecksbuchs sind zudem vier Zustände des Buchobjekts skizziert. Der Katalog enthält in alphabetischer Anordnung Namen von und Angaben zu Buchkünstlern verschiedener Länder, Kurzbeschreibungen ausgewählter Werke, Fotos von Künstlerbüchern bzw. Buchobjekten (nicht alle genannten sind abgebildet), sowie Fotos von einzelnen Künstlern und Personengruppen.  











Listen. In weiterem Sinn gefasst, steht der Ausdruck ‚Liste‘ für Reihungen, Aufzählungen und Ansammlungen, welche jeweils eine bestimmte (manchmal große) Menge von Exemplaren eines Gegenstandstypus zusammenfassend darstellen – ‚darstellen‘ im Sinne von ‚sein‘ oder auch von ‚repräsentieren‘. Enger gefasst, bezeichnet ‚Liste‘ eine schriftliche Darstellung. Hiermit verbindet sich die Vorstellung einer bestimmten Form der Grafie (Mainberger 2003, S. 5). Spielformen und Funktionen der Liste sind in jüngerer Zeit aus verschiedenen Fachperspektiven erörtert worden.120 Das Arrangement von  



119 Vgl. Boltanskis Arbeit Inventaire des objets appartenant à un habitant d’Oxford précédé d’un avantpropos et suivi de quelques réponses à ma proposition. Verzeichnis der Objekte, die einem Einwohner Oxford’s gehören eingeleitet durch ein Vorwort und gefolgt von einigen Antworten auf meinen Vorschlag. Inventory of the objects belonging to an inhabitant of Oxford introduced by a preface and followed by some answers to my proposal (Münster 1973). Dazu Mœglin-Delcroix 1997a, S. 212. 120 Vgl. Goody 1977 und Stäheli 2011, S. 83–102, hier 87: „Das Herstellen einer Liste verlangt zwei Operationen: Erstens muß ein Gegenstand, eine Eigenschaft oder eine Aussage aus einem Zusammenhang  



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einzelnen Elementen zu einem listenartigen Zusammenhang, ist eine erste rudimentäre Formgebung. Eine Liste braucht keine spezifische Ordnung aufzuweisen. Es gibt aber Ordnungsmuster, etwa das alphabetische. Der Kodex kann unterschiedliche Arten von Listen enthalten. Buchführungspraktiken beruhen maßgeblich auf dem Anlegen und Führen von Listen. Ganze Buchformate sind dadurch geprägt, dass sie Listen sowie Tabellen (als erweiterte Listen) enthalten, so das Kassen- oder Kontobuch. Paratextuelle Listen sind auch in anderen Buchformaten wichtige Objekte der Buchgestaltung, darunter Inhaltsverzeichnisse, Referenzlisten (Literaturverzeichnisse), Register, Indizes und andere Navigationshilfen durch den Kodex. Listentexte gibt es in vielen Spielformen, im Alltag wie in der Literatur. Oft bestimmen Listen die Form literarischer Werke ganz oder teilweise; längere Listentexte können Werke vom Umfang ganzer Romane konstituieren. In seinen Erörterungen zur Listenform differenziert Eco zwischen zwei Typen von Listen, die zwei verschiedenen Funktionen entsprechen: Die einen haben praktische Zwecke (wie Einkaufszettel, Inventarien, Namensreihen im Telefonbuch etc.) Die anderen – Eco nennt sie ‚poetische Listen‘ – werden aus einer reflexiven Haltung des Schreibenden zu seiner Arbeit heraus verfasst: Sie drücken den Anspruch aus, eine unermessliche Vielfalt von Dingen darzustellen, und signalisieren meist zugleich das Scheitern dieses Anspruchs. Die Liste mit so vielen Dingen (die Aufreihung so vieler Namen, die Nennung so vieler Objekte etc.) steht stellvertretend für die Darstellung unermesslich vieler Dinge oder Wesen, aber eben nur stellvertretend. Ecos Erörterungen zur ‚listenartigen‘, aufreihenden, aufzählenden, katalogartigen Darstellung setzen diese also insbesondere in Beziehung zu dem Projekt, in seiner Ganzheit Unüberschaubares darzustellen. Entsprechend wichtig werden Listen in Kulturen respektive bei Autoren, die nicht mehr hoffen können, die Welt als Ganzes zu überblicken.  



Der Kodex als Liste. Umberto Eco, der in seine Romane wiederholt und variantenreich geschriebene Listen integriert und eine Reihe von themenbezogenen Bildbänden in Anlehnung an die Listenform gestaltet hat, hat der Liste selbst einen eigenen Themenband gewidmet,121 dabei aber den Listenbegriff weiter gefasst als üblich.122 Auf der Basis von Ecos Listenkonzept umfasst die Welt der Listen neben Texten auch bildliche Darstellungen mit visuell ‚aufgelisteten‘ Objekten und hier vor allem viele

isoliert werden, also listenfähig gemacht werden. Voraussetzung von Listen ist die Herauslösung von Einzelheiten aus einem Ganzen, das Zerschneiden eines Kontinuums […].“ 121 Vgl. Eco 2009a. Eco erörtert hier verschiedene Typen von Listen: Aufzählungen, etwa in der Wissenschaft und in anderen sachbezogenen Texten ebenso wie in literarisch-fiktionalen Texten. Auf letzteren liegt dabei sogar ein besonderer Schwerpunkt; Eco diskutiert im Durchgang durch die Literaturgeschichte, wie und warum Dichter Listen in ihre Texte einfügen. 122 Listen können im Sinne Ecos als simultane Arrangements strukturiert sein, etwa als Tableau, auf sich Gegenstände verschiedener Art zeigen, so, wenn auf einem Gemälde die himmlischen Heerscharen in Massen zu sehen sind (oder Massen von Menschen, von Kriegern, von Bauern etc.). Eco behandelt auch räumliche Installationen wie Sammlungen von Merkwürdigkeiten und Kostbarkeiten, Kunst- und Wunderkammer sowie das Museum als ‚Listen‘.

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Teil D Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z

Werke der bildenden Kunst, also nicht nur sprachlich basierte und schriftlich fixierte Aufzählungen (Namensnennungen, Objektnennungen, aneinandergereihte Objektbeschreibungen etc.), sondern auch als Darstellungen von vielen, aber vergleichbaren Dingen arrangierte Bilder. Auch künstlerische Installationen können Listen sein, wenn sich in ihnen unterschiedliche Gegenstände zusammengetragen finden. Dieser Ansatz bietet wegen seiner Einbeziehung flächiger Arrangements und nonverbaler Strukturen unter buchtheoretischen und buchästhetischen Aspekten insofern eine wichtige Anschlussstelle, als sich das Buch selbst unter dieser Perspektive als Liste auffassen und entsprechend gestalten lässt.123 Listenliteratur als Buch-Literatur. In Beispielen der neuen Buch-Literatur finden sich verschiedene Spielformen der Liste text-, seiten- und buchgestalterisch eingesetzt, so etwa – in großem Umfang und variantenreich – in den Büchern Mark Z. Danielewskis (The House of Leaves, Only Revolutions, The Familiar; vgl. Teile E 1.31, 1.37, 1.50) und Jonathan Safran Foers (Extremely Loud and Incredibly Close; vgl. Teil E 1.38). Schon wichtige Wegbereiter dieser neueren Buch-Literatur arbeiten gern mit Listen, darunter Raymond Federmann (Double or Nothing; vgl. Teil E 1.16) und Georges Perec (vor allem in den Vorarbeiten zu La vie mode d’emploi). Aka Morchiladze integriert in seinen aus losen Teilen bestehenden Roman Santa Esperanza Listen möglicher Erzählungen, welche sich aus diesen Bausteinen bilden lassen (vgl. Teil E 1.34). Listen müssen nicht aus aneinandergereihten Einzelwörtern, Einzelsätzen oder kurzen Textabschnitten bestehen; auch Reihen längerer gegenstandsbezogener (darstellender) Texte lassen sich als Listen lesen, wenn der Akzent auf der Reihung des Dargestellten liegt. Dieses Konstruktionsprinzip lässt sich literarisch nutzen, etwa um abwesende oder verschwundene Dinge aufzulisten, damit an das Vergehen der Zeit zu erinnern und die Erinnerung zu stützen. 2018 erschien Judith Schalanskys Buch Verzeichnis einiger Verluste (Berlin 2018). Die einzelnen Textbeiträge des Buchs gelten verlorenen, zerstörten, abhandengekommenen Dingen, so dem Palast der Republik, einem ausgestorbenen Tiger, nicht überlieferten antiken Gedichten von Sappho, einer versunkenen Insel und weiteren Dingen verschiedener Art. Sammler, Ruinenmaler und andere, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, erscheinen als personifizierter Widerstand gegen die Zeit; ihr Bemühen gilt der Aufrechterhaltung einer Kommunikation mit der Vergangenheit und den Toten. Auch die Auflistung der vergangenen Dinge in einem buchförmigen Archiv imaginärer Objekte trägt dazu bei, das Verlorene zumindest in der Erinnerung gegenwätig zu halten. MSE  



123 Ecos Buch selbst ist eine Liste von Listen: Es enthält neben dem erläuternden und argumentierenden Sachtext vielfältige Zitate aus literarischen Werken sowie viele Reproduktionen von Werken der bildenden Kunst: Es listet also Beispiele auf, wobei diese nicht einer strengen Ordnung unterworfen werden, auch wenn der erläuternde Text Ecos in Abschnitte gegliedert und sachlich-argumentativ strukturiert ist.

Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Ein Katalog mit Beispielen ‚Buch-Literatur‘. Im 20. Jahrhundert entdecken – in den Spuren wegweisender Vorläufer – viele Schriftsteller die Gestaltungsparameter des Buches als literarische Gestaltungsoptionen. Deren Spektrum ist breit; es umfasst die Typografie, das Seitenlayout, die Einbindung grafischer, bildlicher und textbildlicher Elemente, die Seitenfolge, die Bandstrukturierung, die Architektur des Kodex, seiner Derivate und Alternativformate, die paratextuelle Rahmung und anderes mehr – bis hin zu Größe, Gewicht, Handhabbarkeit und Konservierbarkeit des Buchs. Wenn derlei Gestaltungsparameter zu Komponenten der literarischen Gestaltung werden, eröffnen sich der Literatur neue und komplexe Darstellungsmöglichkeiten: So etwa nehmen Bilder, Materialien und andere ‚buchliterarische‘ Elemente konstitutiven Anteil an der Konstruktion fiktionaler Welten, formen Räume, Objekte, Charaktere und Ereignisse mit, geben (beispielsweise) Figuren ein Gesicht, ‚dokumentieren‘ Ereignisse durch das Vorzeigen ihrer Spuren, vermitteln Eindrücke von dinglicher Wirklichkeit in der fiktionalen Welt, regulieren temporale und andere Ordnungsmuster dieser Welt etc. Der Begriff ‚Buch-Literatur‘ signalisiert, dass die Literatur das Buch qua mediales Format sucht, es sich einverleibt respektive sich selbst von ihm einverleiben lässt. Literatur, zunächst einmal Ergebnis schriftsprachlicher Produktivität, macht sich die Gestaltungsoptionen von Schrift und Buch zu eigen respektive lässt sie mit den eigenen verschmelzen. Man könnte hier grob und zu heuristischen Zwecken verschiedene Wege bzw. Methoden oder Strategien unterscheiden: (a) Von Buch-Literatur im engeren Sinn kann dort gesprochen werden, wo Gestalt und Ausstattung des Buchs konstitutive Teile des Werks sind. (b) Viele literarische Publikationen erhalten eine spezifische Buchgestalt aber auch erst nach ihrer Fertigstellung als Texte – respektive werden von einem Buch gleichsam aufgenommen. Das Ergebnis kann mehr oder weniger durchdacht, mehr oder weniger originell sein. Auch die künstlerische Gestaltung von Büchern zu bereits existierenden Texten bringt in gewissem Sinn eine Art von ‚Buch-Literatur‘ hervor – eine, bei welcher das Werk in einem bestimmten Buch eine Erscheinungsform unter anderen annimmt – allerdings eine, die sich mit diesem Werk so eng verbindet, dass es in dieser Buchgestalt eine eigene spezifische Prägung annimmt. Die Spezifität dieser Prägung wird noch deutlicher greifbar, wenn der Text, der sich da in neuer Buchgestalt präsentiert, gegenüber seinem Ausgangstext als modifiziert erscheint, etwa durch Kürzung, Umstellung oder partielle Unlesbarmachung, durch Kombination mit anderen Texten oder durch grafische Verfremdungen. Künstlerbücher, denen literarische Texte als Bearbeitungsgrundlage gedient haben, mögen metaphorisch als ‚Inszenierungen‘ von Texten beschrieben und so implizit mit der Aufführung eines Dramentextes verglichen werden – mit einem Vorgang also, der ebenfalls zwischen Reproduktion und Transformation eines Ausgangstextsubstrats oszilliert. (c) Die Gestaltungsoptionen des Buchs können zudem gerade (wenngleich nicht allein anlässlich literarischer Texte) auf eine Weise  















https://doi.org/10.1515/9783110528299-021

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

eingesetzt werden, die sich reflexiv – und insofern zumindest im Ansatz schon distanziert – zu vertrauten kulturellen Praktiken, Vorstellungen und Diskursen im Umgang mit Texten und Büchern verhält. Dies kann sowohl Produktions- als auch Rezeptionsbzw. Nutzungspraktiken von Texten und Büchern betreffen, aber auch geläufige Konzepte davon, was ein Text respektive was ein Buch überhaupt ist. ‚Buch-Literatur‘ verhält sich in vielen Fällen auf handgreifliche Weise reflexiv zu Praktiken der Buchkultur im weiten Sinn dieses Wortes; hier konvergieren ein Interesse an Literarizität und an Buchhaftigkeit, an bookness. (Der Terminus ‚bookness‘, im Umfeld der Diskurse über Künstlerbücher etabliert, ist unter dieser ‚literarisch-reflexiven‘ Akzentuierung ein nützliches Instrument auch zur Beschreibung von ‚Buch-Literatur‘.) Buchwerke, die ein reflexives Interesse an Literarizität, Buchhaftigkeit und deren Verknüpfungsmodi sinnfällig machen, beruhen ganz besonders auf Abweichungen von Konventionen. Sie stellen geläufige Formen der Herstellung, Gestaltung und Nutzung von Büchern ebenso wie geläufige Schreib- und Lesepraktiken in Frage, sei es durch ostentative Imitation bis hin zu Überbetonung, sei es durch Brüche, die dann wiederum entweder als ernsthafter Protest gegen eingefahrene Praktiken der Literatur-Produktion und -Rezeption erscheinen mögen oder aber als eine spielerische Erprobung und Modifikation.  



Buchliterarische Formen. Buchliterarische Werke weisen ein breites Spektrum von Themen und Tendenzen auf; zu letzteren gehören insbesondere die verschiedenen Möglichkeiten typografischer und bucharchitektonischer Gestaltung. Eine ganze Reihe buchgestalterisch-innovatorischer Werke hat in der Literaturgeschichte ‚epochal‘ gewirkt, also eine Zäsur gesetzt und Nachfolgern neue Wege gewiesen. Dazu gehören Laurence Sterne, E. T. A. Hoffmann mit seinen Lebens-Ansichten des Katers Murr, Stéphane Mallarmé (der in der Literatur wie in der Buchkunst ein weitläufiges Echo findet); dazu gehören André Breton, Roland Barthes und W. G. Sebald, die im Zeichen verschiedener Poetiken die Effekte der Kombination von Texten und Fotos erkunden; dazu gehören Spezialisten für Schrift- und Textbildlichkeit wie Arno Schmidt und wichtige Repräsentanten der Konkreten Visualpoesie. Das Spektrum der Buch-Literatur erstreckt sich insgesamt von hochgradig experimentellen, manchmal provozierenden Werken bis zu Trendsetter-Publikationen, wie sie etwa in den USA und Kanada, aber nicht nur dort, in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden sind. Nicht nur mit Blick auf die jeweils zentralen buchgestalterischen Mittel lassen sich im weiten, dabei nicht klar eingrenzbaren Feld der Buch-Literatur Gruppen bilden, sondern auch mit Blick auf verschiedene Buchformate, die literarisch zitiert, simuliert oder parodiert werden – wie das Notizbuch, das Scrapbook, das ‚gebrauchte‘ Buch, das Lexikon etc. Selbst der Kodex als solcher kann aufgegeben, zerlegt, deformiert, parodiert werden. Welche Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Buchwerken aber auch immer bestehen, welche Konstellationen auch immer sich ergeben – wie andere literarische Werke verdienen, ja fordern die buchliterarischen ebenfalls, in ihrer jeweiligen Besonderheit betrachtet zu werden. Mit Blick darauf, dass sich BuchLiteratur als eine explorative, oft gestalterisch innovative und um ‚special effects‘ be 











Ein Katalog mit Beispielen

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mühte Spielform der Literatur gegen systematisierende Kartierungen eigentümlich sperrt, ist der folgende kleine Katalog von Beispielen chronologisch angelegt. Künstlerbücher zu literarischen Texten. Welche Literaturbezüge kann ein Künstlerbuch überhaupt aufweisen? (a) Evidenterweise ist ein solcher Bezug gegeben, wenn das Buchwerk selbst sich insgesamt als ‚Hypertext‘ eines ihm vorgängigen literarischen ‚Hypotextes‘ (im Sinne der Intertextualitätstheorie Gérard Genettes) präsentiert oder einzelne ‚hypertextuelle‘ Elemente aufweist, etwa Zitate oder Paraphrasen aus einem literarischen Text. Es reicht hier bereits, dass das Buchwerk in seinem Titel auf einen literarischen Hypotext Bezug nimmt, ihn womöglich übernimmt oder so abwandelt, dass sein Titel als modifiziertes Zitat erscheint. Ferner kann es sein, dass Fragmente und Residuen des Ausgangstextes bei der Betrachtung des Buchwerks sichtbar werden, oder dass es den Ausgangstext auf anderer medialer Basis ‚paraphrasiert‘, ihn also etwa in Form visueller Darstellungen ‚nacherzählt‘. Genettes (notgedrungen unscharfe) Formulierung von der „Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ (Genette 1993, S. 10) ließe sich bezogen auf ‚Literaturbezüge‘ des Künstlerbuchs modifizieren: Relationen zwischen literarischem Text und Künstlerbuch liegen vor, wenn der literarische Text im Buchwerk ‚präsent‘ ist – in welcher Weise auch immer. (b) Auch Genettes Konzept der ‚Architextualität‘ lässt sich für die Beschreibung von Literatur-KünstlerbuchBeziehungen aufgreifen. Wenn ein Buchwerk sich etwa ‚Roman‘, ‚Notizbuch‘ oder ‚Tagebuch‘ nennt oder wenn es einen Titel trägt, der (beispielsweise) Märchenwelten oder Utopien assoziieren lässt (ersteres gilt z. B. für einen Titel wie ‚Sheherazade‘), so besteht ein – wie auch immer konkret beschaffener – Bezug zu einem Textgenre der Literatur. Den Bezugsrahmen bilden kann mit Blick auf den Aspekt der Architextualität auch Literatur in weiterem Sinn, also nicht nur Dichtung oder Fiktionales, sondern auch bestimmte Sorten von Sachliteratur (Bestiarien zum Beispiel), also etwa naturkundliche Werke, aber auch religiöse, philosophische und praktisch orientierende Texte (Ratgeberliteratur etc.) sowie Nachschlagewerke (Lexika). (c) Auf Literarisches in einem weiteren Sinn nehmen Künstlerbücher bzw. Buchwerke auch dann Bezug, wenn sie durch Metaphern und andere Sprachbilder geprägt erscheinen, wie etwa durch die der Nahrung, des Hauses etc. Durch eine sich u. a. in Materialien und Arbeitstechniken konkretisierende Metaphorik sind die Werke in einem literarischen Sprachhorizont situiert und aus diesem heraus interpretierbar; nahe liegt zudem der Vergleich mit literarischen Texten, die mit derselben Metaphorik arbeiten. Viele Buchwerke erkunden und demonstrieren das, was man die Metaphorizität des Materiellen nennen könnte. Erscheint für ein Künstlerbuch sein Literaturbezug konstitutiv, so gilt dies nicht allein für Texte, die der jeweilige Buchgestalter als fremde, womöglich ältere Texte vorgefunden hat, sondern auch für solche, die er selbst verfasst hat, sei es unabhängig von seinem Buchprojekt, sei es für dieses. Letzterer Fall ist insofern besonders signifikant, als hier vielfach von einem Ineinandergreifen, von einer wechselseitigen Beeinflussung der Textgenese und der (konzeptuellen oder physischen) Arbeit am Buch auszugehen ist. Was der Text sagt, worüber er spricht und wie er geschrieben  











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ist, ergibt sich in solchen Fällen daraus, dass er für ein Künstlerbuch verfasst wurde. Mit dessen Gestaltung, seiner Bildsprache, Struktur und Materialität, ist er insofern per se enger verbunden als jeder Text, der unabhängig von einem Buchwerk entstand. Gestaltungsaspekte. Bei der Betrachtung von Künstlerbüchern unter dem Aspekt ihres Literaturbezugs stellen sich – mit Blick auf die Gestaltungsparameter von Buchwerken insgesamt – diverse spezifische Fragen. Sie betreffen die Relationen zwischen buchgestalterisch rezipiertem Text auf der einen, Buchstruktur, Buchmaterialien, Typografie und Layout, Bildern und Bildprogrammen auf der anderen Seite. In welchem Licht erscheint der rezipierte Text bedingt durch die jeweils konkrete Entscheidung für spezifische materiale, formale, seitengestalterische, typografische und bildlich-visuelle Optionen? Und wie nehmen sich letztere im Licht des Textes aus? Wirken Bilder und Bildprogramme, Papierbeschaffenheit, Seiten- und Einbandgestaltung sowie andere gestalterische Parameter bezogen auf den Text interpretationslenkend? Liegt ein interpretatorisches Moment in den erschließbaren Bearbeitungsprozessen? Bewirkt komplementär dazu der Text, dass die eingesetzten Materialien und Formen, dass Bearbeitungstechniken und -prozesse ihrerseits ‚bedeutsam‘ erscheinen? Verwandelt der Text etwa eine Form, ein materielles Verfahren oder ein materielles Objekt in eine Metapher?  



Besonderheit der Werke. Im Umgang mit Künstlerbüchern zu literarischen Texten, Schreibweisen und Texttypen kommt der Kategorie der Besonderheit eine ebenso wichtige Rolle zu. Hier wird entweder ein vorgegebener und bereits in anderer Form publizierter Text auf neue, allein durch solche Abweichung ostentativ ‚besondere‘ Weise ins Werk gesetzt – oder es wird im Zuge der Buchgestaltung eine ‚besondere‘ Version bzw. Modifikation eines vorgegebenen Textes geschaffen. Künstlerbücher zu literarischen Texten entstehen, anders als viele konventionelle Textausgaben in Büchern, meist nicht als Serien mit normierter Gestalt (und wenn, dann als ‚besondere‘ Serien). In vielen Fällen handelt es sich um Unikate. Aber auch Multiples signalisieren Besonderheit, sei es durch geringe Auflagen, Signaturen oder Einladungen an den Nutzer, sich das Buch als jeweils eigenes Exemplar anzueignen, sei es auch durch distanzierten Umgang mit den Mitteln standardisierter Buchproduktion und Buchnutzung. Wiederum lassen sich nach verschiedenen Kriterien Gruppen und Konstellationen bilden, nach materiellen und gestalterischen Kriterien ebenso wie nach thematischen und natürlich nach künstlerischen Stilen. Aber einer Systematisierung entziehen sich diese Buchwerke besonders konsequent. Das Spektrum an Variationen über das Buch ist so breit, dass allein das Konzept einer Reflexion über ‚Buchhaftigkeit‘ (bookness) als lockere, aber notwendige Klammer eine gewisse Kohärenz des Beobachtungsfeldes sichert – eines Feldes mit offenen Grenzen, unscharfen Rändern schon deshalb, weil von den Ausgangstexten oft nur Spuren und Reminiszenzen übrigbleiben. Künstlerbücher sträuben sich gegen ‚shelfmarks‘, die Ordnungssysteme signalisieren; darum hat Michael Hampton seine Zusammenstellung von „artists’ books“ als „unshelfmarked“ dargeboten (Hampton 2015; s. u.). Auch der folgende  





Ein Katalog mit Beispielen

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kleine Katalog wird ‚unshelfmarked‘ und mangels systematischer in chronologischer Folge präsentiert. Unshelfmarked. Als Ansatz zur ‚Rekonzeptualisierung‘ des Künstlerbuchs versteht sich Michael Hamptons 2015 publizierter Band Unshelfmarked. An ein Vorwort und eine Erläuterung des titelgebenden Stichworts „Unshelfmarked“ schließt sich die Präsentation von 50 Beispielen ästhetisch gestalteter Bücher an, die abgebildet und auf jeweils mehreren Seiten beschrieben werden. Insofern hat Unshelfmarked den Charakter einer Anthologie zum „artists’ book“. In der Mitte des Bandes ist unter dem Titel „A-Z Exposé“ eine Art Buch im Buch platziert, das eine eigene, die rahmende Seitenzählung unterbrechende Paginierung aufweist und zudem auf farblich abweichendem (grauem) Papier gedruckt ist. Hier finden sich theoretische Reflexionen über das Künstlerbuch, über seine ästhetischen und kulturellen Kontexte, über seine Vorläufer, seine Ästhetiken und über Vergleichsaspekte zu anderen Medien. Das ‚Kernstück‘ des Bandes bildet dieser theoretisch-reflexive Teil nicht nur mit Blick auf seinen Inhalt (also die explizite Thematisierung von Künstlerbüchern als Pendant zur Beispielsammlung), sondern auch ganz konkret: Von den 50 Artikeln über Buchwerke gehen ihm 25 voran, weitere 25 folgen ihm. Die den größten Teil des Bandes ausmachende Artikelserie irritiert auf den ersten Blick durch den ostentativen Verzicht auf eine konventionelle sachliche Ordnung. Dargestellt werden mittelalterliche Handschriften, künstlerisch gestaltete Druckwerke, buchgeschichtlich signifikante Kodizes sowie Künstlerbücher aus verschiedenen Jahrzehnten. Ein konkretes Selektionskriterium erschließt sich nicht. Hampton nutzt die alphabetische Anordnung als ein kontingentes Arrangement, zu dem man dann seine Zuflucht nimmt, wenn andere Ordnungssysteme nicht bestehen oder nicht greifen. Die Bedeutung der Alphabetreihe als Strukturmuster deutet sich in einem wichtigen Detail an: Die beiden Teile mit den je 25 Artikeln zu ausgewählten Büchern, die den Kernteil („Exposé“) rahmen, sind durch Zahlen paginiert; im Kernteil selbst wird eine alphabetische Paginierung („A-Z“) vorgenommen. Buchstaben und Zahlen werden also eingesetzt, um die vorgestellten ästhetischen Phänomene zu bändigen. Die Welt der Buchwerke („artists’ books“), so signalisiert gerade das Durcheinander der Beispielreihe, ist allzu reich und heterogen, um auf überzeugende Weise ‚sortiert‘ zu werden. Vorgestellt werden Buchwerke, bei denen die künstlerische Ausstattung des Buchs später als der Text entstanden ist (wie im Fall der Lindisfarne Gospels), und andere, bei denen Text und visuelle Gestaltung zeitgleich entstanden. Vorgestellt werden Bücher, die der Vermittlung von Wissen dienen sollten, neben solchen, die dezidiert als autonome Kunstwerke produziert wurden. Vorgestellt werden sogar Objekte, die im strikten Sinn keine Bücher sind – sondern (beispielsweise) die Repräsentation eines Künstlerbuchs auf einem Smartphone. Unikate und Multiples, buchähnliche Objekte verschiedener Materialität und Form stehen unter dem als Passepartoutbegriff verwendeten Terminus „artists’ books“ nebeneinander. Die Sammlung von 50 Beispielen enthält dabei auch solche Buchwerke, die normalerweise kaum als exem 

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plarische Fälle gelten würden, wenn sie denn überhaupt unter diesen Gattungsbegriff subsumiert werden (vgl. Hampton 2015, S. 17). Im Theorieteil wird auch keine homogenisierende Ästhetik angeboten. Ostentativ präsentiert sich bei Hampton die künstlerische Buchgestaltung als ein nicht-systematisierbarer ästhetischer Phänomenbereich. Darauf verweisen auch die Kommentare der Bibliothekarin Elizabeth James zum Titel „Unshelfmarked“, der aus der bibliothekarischen Praxis stammt. „Shelfmarks“, also Signaturaufkleber, dienen dem Ordnen von Bibliotheksbeständen, der Eingliederung von Einzelbänden in Bibliotheksbestände am Leitfaden einer Systematik. Selbst dann, wenn auf eine sachliche Systematik verzichtet wird (zum Beispiel, wenn Bücher einfach nach ihrer Größe sortiert werden), weist die „shelfmark“ dem einzelnen Buch doch seinen spezifischen Platz in der Bibliothek zu und ermöglicht seine Auffindung (ebd., S. 9). „Unshelfmarked“ hingegen bleiben Bücher, die sich jeder Klassifikation entziehen, Bücher ohne systematischen oder auch nur arbiträr festgelegten Ort. Bücher ohne „shelfmark“ sind Individuen. Im Umgang mit den gesammelten Beispielen literarisch-künstlerischer Buchgestaltung orientiert sich das vorliegende Handbuch an Hamptons Buch: Diese Beispiele unterliegen zwar der Auswahl und einer Anordnung, aber diese verstehen sich doch zugleich als arbiträr und kontingent. Mit den darzustellenden Praktiken künstlerischer und literarischer Buchgestaltung geht es gezielt um Besonderes, oft um unkonventionelle Formen, um Verfremdungen und Irritationen. Als besondere Beispiele entziehen sich die Bucharbeiten der Systematisierung. Die Kontingenzen beginnen bereits bei der Auswahl. Andere Beispiele als die gewählten hätten angeführt und damit andere Akzente gesetzt werden können. Mit der Beschränkung auf die hier vorliegenden Buchwerke verbindet sich gleichwohl die Absicht, am jeweils vielleicht austauschbaren Beispiel Tendenzen sichtbar zu machen, die nicht nur dieses Beispiel betreffen. Und es werden Konstellationen gebildet, die den Zugang zu den Objekten erleichtern mögen. Die Beispielserien zur Buch-Literatur und zum literaturrezeptiven Künstlerbuch machen im Verbund zwei grundsätzliche Ebenen der Beziehung zwischen Literatur und Buch auf komplementäre Weise sinnfällig. Buchliterarische Werke wie die hier erfassten repräsentieren eine Spielform von Literatur, welche von vornherein mit Blick auf ihre spezifische Inszenierungsform im Buch konzipiert und verfasst wurde – im Gedanken an die Gestaltungsmöglichkeiten des Buchs, seine Materialität und seine Strukturen. Was generell für Literatur gilt, insofern sie in einer Buchkultur produziert und rezipiert wird, machen buchliterarische Werke in besonderem Maße sinnfällig: Die Idee konkreter Gestaltung begleitet und leitet schon den Erfindungsprozess. Komplementär dazu stehen die literaturrezeptiven Künstlerbücher exemplarisch für die Möglichkeiten, die sich bei der nachträglichen Präsentation bereits existierender Texte in Büchern bieten. Wiederum verweist die künstlerische Nutzung einer solchen Präsentationsaufgabe auf Allgemeines – darauf nämlich, dass die Inszenierung literarischer Texte im Buch (in welchem Zeitabstand zur Textgenese auch immer sie erfolgt) mehr als deren Verpackung ist: Sie ist aktive und latent kreative Interpretation. MSE  







E 1 Buch-Literatur E 1.1 Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767) Sterne sei, so schreibt Butor in seiner Abhandlung über Das Buch als Objekt (Le livre comme objet) „der größte mir bekannte Künstler im Aufbau des ‚Volumens‘“ (Butor 1968, S. 61). Zu Recht gilt Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman als ein auf epochemachende Weise innovativer Roman. Dies betrifft seine narrative Form ebenso wie, in engem Zusammenhang mit dieser, die eingesetzten buchgestalterischen Mittel. Auf neuartige Weise, deren Impulse bis in die Gegenwart nachwirken, wird das Buch als materielles und räumliches Objekt nicht einfach nur zum Medium, sondern zum Primärobjekt literarischer Arbeit. Der neueren Buch-Literatur hat Sterne in mehrfacher Hinsicht den Weg gewiesen. Der neunteilige Roman kündigt durch seinen Titel wie durch den Auftritt eines Ich-Erzählers eine autobiografische Erzählung an. Allerdings erhält der Leser über das Leben des erzählenden Tristram Shandy keinen zusammenhängenden Bericht; über andere Figuren wird streckenweise zudem ähnlich ausführlich berichtet.  

Form-Extravaganzen. Tristrams Geschichte wird nicht linear, sondern in Form verstreuter Bruchstücke dargestellt und von vielfältigen Reflexionen und Abschweifungen überlagert. Auch an buchgestalterische Konventionen wird nur erinnert, um gegen sie zu verstoßen. Die Widmung, normalerweise an den Anfang gestellt, erfolgt irgendwann in Buch I, und sie hat die Gestalt eines Formulars ohne Adressatenangabe – ist also genau genommen das Gegenteil einer Widmung. Kapitel IX (Buch I) enthält die Zueignung des Werks, die an niemanden speziell adressiert ist; der Autor bietet die „Virgin-Dedication“ demjenigen an, der sie gebrauchen kann und bereit ist, dafür fünfzig Guineen zu bezahlen (Sterne 1971, Buch I, Kap. IX, S. 16). Das Vorwort steht erst im III. Buch, und der Erzähler lässt sich explizit darüber aus, warum er es erst jetzt vorbringt. Auch gibt der Erzählerbericht vor, er sei die gegenüber einer ersten Textfassung gekürzte Version. In Buch IV, Kap. XXV teilt Tristram mit, er habe sich gezwungen gesehen, aus seinem Buch ein Kapitel über die Reise Corporal Trims und seines Dieners Obadiah herauszureißen. Es sei stilistisch so glänzend ausgefallen, dass es zu den anderen nicht gepasst habe (vgl. ebd., Buch IV, Kap. XXV, S. 284). Die Kapitel der neun Bücher sind von sehr unterschiedlicher Länge. Manche bestehen aus einzelnen Sätzen. Manche enthalten Bruchstücke zu Kapiteln, die als ganze nicht vorliegen. Manche bestehen aus Texten, die der fiktionalen Konstruktion zufolge nicht vom Haupterzähler, sondern von anderen Verfassern stammen. Die ersten Episoden des Romans spielen 1718, die letzten 1713. In die Geschichten Tristrams, seines Vaters Walter Shandy und seines Onkels Toby sind verschiedene Geschichten über andere Personen eingefügt, so die der Familie peinliche Geschichte Tante Dinahs, die eine  











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Liaison mit dem Kutscher hatte (1699), die traurige Geschichte des von Onkel Toby fürsorglich betreuten Soldaten Le Fever, der 1706 starb, die skurrile des Dieners Obadiah, der 1712 heiratete, die sentimentale des Pfarrers Yorick, der 1749 an der Ungerechtigkeit seiner Mitmenschen scheiterte und aus Kummer starb, die Geschichte einer Kuh, die sich in Onkel Tobys kunstvoll angelegtes Festungsmodell verlief, die Geschichte eines Mannes mit einer übergroßen Nase (dieser Mann unterhält zur Familie Shandy keine verwandtschaftlichen Beziehungen) – und nicht zuletzt die Geschichte der Niederschrift des Romans (1759–1766), denn der Erzähler unterbricht seinen Bericht immer wieder, um über seine Schreibsituation zu reflektieren.  

Erzählweise, Erzählreflexion, Leseradressierung. Das Leben der Figuren verläuft nicht linear-folgerichtig, sondern als eine von Zufällen vielfach gebogene und gekrümmte Linie. Immer wieder wird demonstriert, dass die Welt allzu komplex ist, als dass man eine einzige Figur oder ein bestimmtes Ereignis herauspräparieren könnte, ohne dass zugleich an diesem Präparat wieder ein ganzes Gewirr von Fäden hinge – ein ungeordnetes Knäuel. Faden und Linie sind zugleich gestaltungsfähige Metaphern des Erzählens selbst. Der Erzähler nimmt für sich das Recht in Anspruch, statt eines geraden Fadens einen krummen zur Leitlinie des Erzählens zu nehmen – und sich an diesem abwechselnd vor- und rückwärts entlangzubewegen (vgl. ebd., Buch V, Kap. XXVI, S. 287f.). Tristram unterbricht die Darstellung seiner Geschichte immer wieder, um über sein Erzählen selbst zu sprechen. Auch Vater Walter, der mehrfach anhebt, eine Theorie, ein Exempel oder einen Gedanken zusammenhängend darzustellen, wird immer wieder unterbrochen. Mit Tristrams Reflexionen über das eigene Tun verbinden sich vielfache Anreden des Erzählers an die Leser. So profiliert sich eine romanimmanente Figurengruppe von Lesern, die eine Art Gegenüber des Erzählers darstellen. Buch II, Kap. II enthält sogar eine Art Gästezimmer für die Leser und Kritiker. Er habe, so der Erzähler, für seine Kritiker ein halbes Dutzend Plätze frei gelassen und zolle ihnen allen nun seine Höflichkeit; er fordert seine Gäste zum Platznehmen auf und spricht einen weiteren siebten Leser an, dem er aber erst für das nächste Jahr einen Platz in Aussicht stellt (vgl. ebd., Buch II, Kap. II, S. 77). Gelegentlich fordert der Erzähler den Leser sogar zur aktiven Mitwirkung auf: Er solle seine Phantasie benutzen und die ihm vorgesetzten Mitteilungen selbst ausgestalten. Das Ergebnis kann per se nicht eindeutig und definitiv sein, da ja jeder Leser auf eigene Weise phantasiert. Auch für das, was in unserer Phantasie aus dem Text wird, gilt: Alles könnte ganz anders sein (vgl. ebd., Buch II, Kap. XI).  























Das Buch als Raum. Die Idee vom Buch als einem Raum, in dem sich Erzähler und Leser treffen und durch den sie sich gemeinsam bewegen können, wird mehrmals zum Anlass skurriler choreografischer Einfälle. In Buch I, Kap. XX schickt der Erzähler eine Leserin zur Strafe ein Stück zurück, weil sie unaufmerksam gewesen sei. Nun soll sie sich im Roman ein Stück rückwärts bewegen, das Überlesene nachholen und dann wiederkommen (vgl. ebd., Buch I, Kap. XX, S. 53f.). Die anderen Leser warten unter 









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dessen auf sie und plaudern ein wenig; auch der reale Leser muss warten. Andernorts wandert der Erzähler mit seinen Lesern durch das Buch wie durch eine Landschaft (vgl. ebd., Buch VI, Kap. I). Als verkleinertes Modell von Räumen rückt das Buch selbst in Analogie zu Onkel Tobys Modell-Schlachtfeldern, auf denen Kriegsereignisse in verkleinertem Maßstab nachgespielt werden. Wiederholt wird die Idee des BuchRaums, in dem sich Leser, Figuren und Erzähler begegnen, durch den Hinweis auf architektonische Strukturen bekräftigt. Wenn etwa Walter und Toby Shandy, in ein Gespräch vertieft, eine Treppe heruntersteigen, so weist der Erzähler darauf hin, dass sein Bericht dazu tendiert, Gestalt und Erstreckung der Treppe abzubilden. Und wenn er sich selbst unterbricht, dann ist das, als baue er ein Hindernis auf (vgl. ebd., Buch IV, Kap. X).  



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Typografische Einfälle. Mit verschiedensten Mitteln werden der Prozess des Schreibens und der des Lesens zu einer Bewegung im Raum stilisiert. Typografische Zeichen wirken wie Gebärden – sie haben gestischen Charakter und die Funktion von Gesten, mit denen etwa eine Tür aufgemacht oder eine Tür geschlossen, ein Weg gewiesen oder ein Weg versperrt wird. Gedankenstriche dienen dem Erzähler u. a. dazu, sich selbst oder einem gedachten Leser Einhalt zu gebieten. Sternchen, die an die Stelle ausgeschriebener Namen oder Wörter treten, signalisieren ein Verschweigen (wobei dies eine auffälligere Weise sein kann, auf etwas hinzudeuten, als jedes ausgesprochene bzw. ausgeschriebene Wort). Kontinuierliche gerade Linien stehen oft für Prozesse der Trennung und des Abbruchs; ungerade Linien stehen für fortgesetzte Bewegungen. Tristrams abschweifender und fragmentarisch wirkender Lebensbericht suggeriert in seiner von einer konventionellen Autobiografie abweichenden Form, dass vieles nicht berichtet wird. Vieles scheint ausgespart und ungesagt zu bleiben. Anderes kommt zwar zur Sprache, lässt sich aber nach Meinung des Erzählers nicht angemessen darstellen und sprachlich vermitteln. Wiederum anderes ließe sich zwar sagen, wird aber aus Gründen des Anstands und der Rücksichtnahme auf den Leser nicht direkt gesagt. Die Sprache – so wird aus verschiedenen Perspektiven bekräftigt – ist als Darstellungsmedium innerer wie äußerer Erfahrung defizitär. Dies legt auf der Ebene typografischer Textgestaltung zunächst den Einfall nahe, die Darstellung sprachlicher Repräsentationsformen (also den Druck geschriebener Wörter) durch den Einsatz anderer typografischer Mittel zu erweitern – und zwar insbesondere solcher Mittel, welche auf ‚Grenzen‘ des Sprachlichen besonders aufmerksam machen. Das Sternchen, als Serie (*****), gehört zu den beliebtesten typografischen Zeichen im Tristram Shandy. Es dient dazu, Stellen zu markieren, an denen etwas nicht gesagt oder genannt wird, sondern der Leser sich seine eigenen Gedanken machen soll. Gerade durch seinen Gebrauch werden Stellen dann aber besonders hervorgehoben, und wo es um Dinge geht, die ‚man nicht sagt‘, werden sie anzüglicher, als wenn die ausgesparten Wörter wirklich gebraucht würden. Tobys Modell einer belagerten Festung tritt in einen Spiegelungsbezug zum Roman als einem ebenfalls ‚räumlichen‘ Modell allzu komplexer Ereignisse; in Tobys Sinn für gestalterische Details spiegelt  









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sich die buchgestalterische Passion des Tristram-Erzählers. Der Roman weist eine ganze Reihe typografischer und buchgestalterischer Besonderheiten auf. Dass krumme Linien ein Sinnbild für das digressive Erzählen Tristrams sind, betont dieser selbst durch diverse krumme Linien im Buch, die ihm als Leitfäden des Erzählens dienen sollen (vgl. ebd., Buch VI, Kap. XL, S. 431).  





Grafische Extras. Das Thema Bewegung (akzentuiert als Bewegung durch das Buch) wird grafisch mehrfach visualisiert. Ein Kapitel mit einem Gespräch zwischen Toby und Trim über die Ehe und die Vorzüge der Freiheit enthält eine halbseitige Zeichnung der Bewegungsspuren eines Stocks auf dem Boden – und der Erzähler erklärt die Aussagekraft der Linien für größer als die von tausend subtilen Syllogismen (vgl. ebd., Buch IX, Kap. IV, S. 552). Insbesondere stehen nicht auf allen Seiten des Romans Texte. Buch I, Kap. XII enthält ein schwarzes oder annähernd schwarzes Blatt – und zwar genau an der Stelle, wo vom Tod des liebenswürdigen Pfarrers Yorick und von einer ihm von einem Freund ans Grab gelegten schwarzen Grabplatte die Rede ist (vgl. ebd., Buch I, Kap XII, S. 32). Die schwarze Seite signalisiert Trauer, das Ende eines Lebens, ein Innehalten angesichts des Todes – und vielleicht ganz konkret auch den Grabstein Yoricks. Demnach wäre diese Stelle im Buch für den Leser der Ort, um an Yoricks Grab zu trauern. Dem Leser werden noch andere Orte geboten, an denen er selbst etwas tun soll: In Buch VI, Kap. XXXVIII etwa soll er ein Bild seiner Geliebten skizzieren, um sich selbst einen Eindruck von der sinnlichen Witwe Wadman zu verschaffen (vgl. ebd., Buch VI, Kap. XXXVIII, S. 428f.). Angeboten wird ihm dazu ein leeres Blatt. Auf der Rückseite dieser weißen Seite steht ein Dialog zwischen imaginärem Leser und Erzähler über die reizvolle Erscheinung. Eine mit einer an Marmor erinnernden Fleckenstruktur bedruckte Seite findet sich in Buch III, Kap. XXXVI; der Erzähler deklariert sie zum buntscheckigen Sinnbild seines Romans, also zu einem Mikromodell, einer Art mise en abyme des Werks selbst. Die marmorierte Seite gleicht den Papieren, wie Buchbinder sie für die Innenseiten von Buchdeckeln verwenden; Tristram bezieht das ‚Material‘ seines Romanmodells also aus der Buchbinderwerkstatt. Das Buch als Produkt handwerklicher Arbeit rückt in den Blick, wobei Materielles zur Metapher wird: das marmorierte, das weiße und das schwarze Papier, das verwendete Repertoire grafischer Formen – und die Eigenschaft des Buchs, ein dreidimensionaler (räumlicher) Gegenstand zu sein. In doppelter Hinsicht wird bei Sterne die Räumlichkeit des Buchs zum ‚sprechenden‘ Sinnbild: im Sinn des Buchs als eines dreidimensionalen (räumlichen) Objekts – und im Sinn der Vorstellung von einem ‚Innenraum‘ des Buchs. Der Innenraum des Buchs erscheint als der Raum, an dem sich Erzähler und Leser treffen, an dem sie Platz nehmen oder den sie gemeinsam ‚begehen‘; er steht sinnbildlich für die Interaktion zwischen Erzähler und imaginierendem Leser, welche mit dem Kernthema des Romans – der ‚Verwirrung‘ der Dinge durch multiple ‚Meinungen‘ eng verknüpft ist. Als räumlich-materielles Objekt genommen, repräsentiert das Buch die latente Metaphorizität des Materiellen – und schlägt damit eine programmatische Brücke zwischen dem, was scheinbar zufällig,  











































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kontingent, ‚nichtssagend‘ ist (wie die ‚bloße Materie‘) und dem Reich der Bedeutungen, die dort entstehen, wo Erzähler über Materielles sprechen oder es auch nur als Fremdkörper innerhalb ihrer Erzählungen inszenieren. Sternes Roman ist ein Schauplatz, auf dem auch typografische Zeichen, Diagramme, Papierbeschaffenheiten und Einzelblätter ihre Rollen spielen – keine beliebigen Zusatzrollen, sondern solche, mittels derer die Zentralthemen des Romans – und nicht nur dieses Romans – in Szene gesetzt werden. MSE  





E 1.2 Jean Paul: Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel (1812) Die dem Fibel-Roman zugrundeliegende Idee einer fiktiven Biografie, in der alle möglichen – auch banalen – Details aus der Lebensgeschichte des Helden berichtet werden, verhält sich parodistisch zu einer Reihe zeitgenössischer Kant- und Schiller-Biografien, die sich teilweise in der Reihung von manchmal banalen Einzelheiten aus dem Alltagsleben ihrer Gegenstände ergingen und diese als charakteristisch und signifikant interpretierten. Jean Pauls fingierte Fibel-Biografie verfährt mit ihren detaillierten Schilderungen analog, gilt aber einem fiktiven Helden: Gotthelf Fibel.  



Fibel und das ABC. Diesem wird die Autorschaft an der angeblich nach ihm benannten ‚Fibel‘ zugeschrieben – und konkreter noch an einer bestimmten Lesefibel: Die Bienrodische Fibel, ein zu Jean Pauls Zeiten allerdings längst veraltetes Schulbuch, stellt die einzelnen Buchstaben des Alphabets vor, kombiniert sie zu Silben und präsentiert Texte, an denen das Lesen und Buchstabieren geübt werden soll. Den Hauptteil dieser Fibel bilden die illustrierten Verse; sie sind inhaltlich schlicht und manchmal abstrus. So lautet der Vers zum Buchstaben A: „Ein Affe gar possirlich ist,/Zumal wenn er vom Appfel frißt.“ (Jean Paul 2000b, S. 555; im Bild gezeigt werden ein apfelessender Affe und ein Apfel); andere Buchstaben, wie etwa das H und das Z, werden durch noch seltsamere Reimpaare vorgestellt: „Gebratne Haasen sind nicht bös/Der Hammer giebt gar harte Stöß.“; „Der Ziege Käse giebt zwey Schock,/Das Zählbrett hält der Ziegenbock.“ (Ebd., S. 557, 562) Weitere Bestandteile der Fibel sind kleine Gebete und Segenssprüche, die Grundzahlen des Dezimalsystems, das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote und das Taufgelöbnis. Erzählt wird die Lebensgeschichte des angeblichen Fibel-Autors Gotthelf Fibel von der Kindheit bis zum Alter, wobei seine Alphabetisierung und sein Umgang mit den Schriftsystemen alter und fremder Kulturen ebenso ausführlich gewürdigt werden wie sein Umgang mit Schreibgeräten und -materialien.  





Geschichte zweier Bücher: Fibels Werk und seine Lebensbeschreibung. Die Phase der Arbeit am ABC-Buch erscheint dabei als signifikanter Anlass von Berichten und

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Reflexionen über die Reize und Mühen der Autorschaft. Detailliert schildert der sich als Fibel-Biograf vorstellende Erzähler, wie sein Held durch den Traum von einem Fibel-Hahn zu seinem Werk inspiriert wurde und wie er es konkret realisierte. Fibel hat nicht allein die Idee zur Fibel und verfasst dann als deren Kernstück die Merkverse. Er druckt die Fibel auch selbst mittels einer Taschendruckerei, koloriert sie mithilfe eines Assistenten, dediziert sie seinem Fürsten, erhält ein Privileg zu ihrem Vertrieb als Schulbuch und wird als ihr Autor rezensiert. Wenn auch in humoristisch-verzerrter Weise dargestellt, wird damit die Produktions- und Distributionsgeschichte von Büchern zum Kernthema. Erzählt wird aber auch die Geschichte des Buchs über das „Leben Fibels“, genauer: die fingierte Entstehungsgeschichte des Romans, den der Leser in Händen hält. Der Erzähler, Fibels angeblicher Biograf, der sich dem Leser mit dem Vor-Kapitel unter seinem ganzen Namen Jean Paul Fr. Richter vorstellt, möchte in seinem Werk die Leserwelt über den zu Unrecht vergessenen Fibel informieren. So sucht (und findet) er in Schulfibeln Hinweise auf den Ort Heiligengut, Fibels einstige Wirkungsstätte, und bei der Bücher-Auktion eines Händlers tauchen verschiedene Bücher auf, in die Fibel einst seinen Namen hineindrucken ließ, ohne sie verfasst zu haben. Ein Stapel leerer, aber wegen ihres materiellen Werts zum Kauf angebotener Bucheinbände verschafft ihm weitere Hinweise auf Fibel: Reste von bedrucktem Papier haben sich in ihnen erhalten. Hier spürt der Erzähler den Rest einer älteren ‚ersten‘ Biografie Fibels auf: Auf „anderthalb Ruinen Blätter[n]“ findet er den Titel „Curieuse und sonderbare Lebens-Historie des berühmten Herrn Gotthelf Fibel, Verfassern des neuen Markgrafluster, Fränkischen, Voigtländischen und Kursächsischen Abc-Buchs, mit sonderbarem Fleiße zusammengestellt und ans Licht gestellt von Joachim Pelz, der heil. Gottesgelahrtheit Beflissenem. Erster Tomus, so desselbigen Fata im Mutterleibe enthält.“ (Ebd., S. 374) Die weitere Suche gilt dem Papier, das aus den leeren Bucheinbänden herausgerissen worden ist. In Fibels einstigem Wohnsitz Heiligengut haben die Dorfbewohner das weggeworfene Papier aufgesammelt und zu allerlei praktischen Zwecken genutzt: als Papierfenster, Feldscheuen (Vogelscheuchen), Schnittmuster, Packpapier und anderes mehr. Der Biograf sammelt ein, was er finden kann und erzählt Fibels Leben auf der Basis dieser fragmentarischen ersten Biografie nach. Seine Kapitel tragen die Namen der Papierobjekte, von denen die Informationen stammen: „Haubenmuster-Kapitel“, das „Leibchen-Muster“, die „Herings-Papiere“, der „Zwirnwickler“, die „Pfeffer-Düte“, die „Kaffee-Düten“, der „Papierdrache“, die „Vogelscheuche“, hinzu kommen die sogenannten Judas-Kapitel, benannt nach dem Händler, der die eben doch nicht ganz leeren Buch-Einbände verkauft hat. Da die materiellen Informationsträger oft nur Bruchstücke von Berichten über Fibels Leben bieten, bleibt die zweite Fibel-Biografie fragmentarisch. Aber zuletzt trifft der Erzähler-Biograf immerhin mit seinem inzwischen 125-jährigen Helden selbst zusammen.  

Reflexion über Buchstaben und Schrift. Fibels Geschichte wird dem Erzähler immer wieder zum Anlass, über Buchstaben und Schrift zu sprechen: über Alphabetisierung

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und Schriftlichkeit, differente Schriftsysteme, Formen und Größen von Buchstaben, aber auch über die verschiedenen Phasen der Produktion von Büchern bis hin zu Verfahren der Kolorierung, über den Umgang mit Büchern durch verschiedene Arten von Lesern und sonstigen Nutzern. Fibel als der angebliche Verfasser eines ABC-Buchs wird wie der mythische Erfinder der Schrift selbst gepriesen, die Schrift als Zeiten und Räume überspannendes Kommunikationsmittel gewürdigt. Der angebliche ABC-Fibel-Verfasser wird in seiner (parodistisch auf Kant-Biografien anspielenden) Lebensbeschreibung als ein schöpferischer Geist gewürdigt, der durch seine Erfindung des „Alphabets“ die Elemente aller Wissenschaften erfunden und in einer Weise zu deren Kombination angeleitet habe, welche alles mögliche Wissen auf der Basis kombinatorischer Verfahren zugänglich mache. Fibels ABC wird als ein ‚hieroglyphisches‘ Werk charakterisiert – so etwa, wenn sich der Fibel-Biograf und Erzähler kritisch von einer rezenten Publikation distanziert, der „Enthüllung der Hieroglyphen in dem Bienrodischen Abcbuche. Arnstadt, in Kommission bei Klüger 1807“, weil diese das ABC-Buch einem Konrektor Bienrod in Wernigerode zuschreibe, statt den wahren Autor Fibel zu enthüllen (ebd., S. 370). Fibel wird als ein Universalgelehrter vorgestellt, „beschlagen fast in allen Wissenschaften durch die ganzen Bücher des Pfarrers und durch die halben des Krämers […]“ (ebd., S. 413). Sein Wissen von den verschiedensten Materien ist allerdings oberflächlich – ebenso wie sein Interesse an Texten, insofern er sich ausschließlich mit Textoberflächen befasst – und diese schließlich usurpiert, indem er seinen eigenen Namen in fremde Bücher eindruckt.  









Materialität der Texte. Die Bindung von Wörtern, Texten und Ideen an materielle Trägermedien wie Papier und Buch bespiegelt sich in verschiedenen Bildern und Metaphern. Insbesondere wird sie unter verschiedenen Akzentuierungen mit dem Zusammenspiel von Körper und Seele assoziiert, mit der Geschichte lebendiger Körper und der Hoffnung eines neuen, zweiten Lebens für die immateriellen Bedeutungen materialisierter Texte. Das Recycling des makulierten Papiers von Fibels erster Biografie durch den ‚Biografen‘ korrespondiert der Vorstellung einer neuerlichen Jugend, wie sie Fibel selbst ja erleben darf – allerdings auch nur auf eine bestimmte Zeit und in innerer Hinwendung auf seinen Tod (nach dem er sich allerdings eine spirituelle Auferstehung erhofft). Die Konstruktion des Romans hat an diesem Recycling-Prozess teil, der als Pendant einer Auferstehung erscheint, eben indem die alte Lesefibel als Teil des neuen Buchs wiederkehrt. MSE  

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E 1.3 E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann (1819/1821)  







Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr ist durch seine ungewöhnliche Form charakterisiert, die sich auch in unterschiedlichen Buchausgaben zur Geltung bringt, weil sie im Wesentlichen die Textarchitektur betrifft. Der Roman ist geprägt durch künstlich arrangierte Brüche im Textgefüge: Teile zweier verschiedener Geschichten wechseln einander ab, wobei sie manchmal mitten in Sätzen unterbrochen werden und auch später ohne Anschluss bleiben. Zwei durcheinander geratene Lebensbücher. Erklärt wird diese Ungewöhnlichkeit der fiktionalen Rahmenkonstruktion zufolge damit, dass die Texte verschiedener Schreiberfiguren durcheinandergeraten sind und versehentlich zusammen abgedruckt wurden. Teile aus der einen und aus der anderen Textschicht wechseln einander ab: Da ist zum einen die Autobiografie eines gewissen „Murr“, angelegt als Darstellung der eigenen Erlebnisse seit der Jugendzeit und in mehrere Teile gegliedert: „Gefühle des Daseins. Die Monate der Jugend“; „Lebenserfahrungen des Jünglings. Auch ich war in Arkadien“; „Die Lehrmonate. Launisches Spiel des Zufalls“; „Ersprießliche Folgen höherer Kultur. Die reiferen Monate des Mannes.“ Mehrfach unterbrochen wird dieser fiktionale autobiografische Bericht durch Fragmente der Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler, verfasst von einem nicht bestimmbaren Erzähler in der dritten Person. Hier werden nur Episoden oder Episodenbruchstücke aus Kreislers Leben dargestellt, die zu einem biografischen Bericht gehören, und dies ohne chronologische Ordnung. Präsentiert sich Kreislers Lebens insofern ohnehin nur in Stücken, so erfährt Murrs Lebensbericht einen dramatischen Abbruch: Am Ende des Romans teilt sein Besitzer dem Publikum mit, dass Murr verstorben ist, und ergänzt das Buch durch seine Traueranzeige. Die beiden Berichtsebenen über Kreisler und Murr werden gerahmt durch Vorwort, Nachschrift sowie andere Vorreden. In diesem (zur Fiktion selbst gehörenden) Paratext erfährt man durch einen „Herausgeber“, der dem Paratext des Romans zufolge mit Hoffmann gleichzusetzen wäre, dass Kater Murr beim Schreiben seiner Lebenserinnerungen die Blätter der Biografie Kreislers als Makulaturpapier zum Löschen der Tinte genutzt hat und dann das derart zweckentfremdete Papier zwischen den Seiten liegen ließ. Als das Manuskript in Druck ging, hat der Setzer versehentlich neben den Murrschen Seiten auch die dazwischen liegenden Textabschnitte gesetzt, so dass die ältere Biografie sich fragmentarisch in die „Lebenserinnerungen“ eingeschoben hat. Weitere Bestandteile des rahmenden Textes sind zwei Vorworte des Autors Murr, die einander in Diktion und Aussage völlig unähnlich sind; einmal adressiert der Kater demütig seine Leserschaft, das andere Mal selbstbewusst und eitel. Wie man aus einer Annotation erfährt, ist die Wieder-

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gabe des letzteren Vorworts ein Versehen. Hoffmanns Murr-Roman illustriert durch sein parodistisches Spiel mit der Idee der Autorschaft u. a. die Beziehung zwischen dieser Idee und der Vorstellung geschlossener und homogener Werke; beide Ideen werden spielerisch dekonstruiert. Kater Murr ist die Parodie eines Autor-Genies; er schreibt in wechselnden, einander widersprechenden Rollen und bedient sich sprachlicher Klischees und konventioneller Schreibweisen. Der Herausgeber erscheint als wenig souverän, und seine Erklärung der seltsamen Gestalt des Buches ist sogar unlogisch, denn wie sollte das erläuternde Vorwort ins Buch gekommen sein, wenn das Missgeschick mit den durcheinander geratenen Textteilen sich im Druck erst niedergeschlagen hatte? Auch die angebliche Orientierungshilfe für den Leser in Gestalt der Abkürzung „M. f. f.“ (für „Murr fährt fort“) hätte im Fall eines tatsächlichen Missgeschicks beim Drucken ja nicht mitgedruckt werden können. Seine angebliche Orientierungsfunktion wird also auf eine in sich unstimmige Weise begründet. Die eigentliche Funktion der „M. f. f.“-Formel besteht demgegenüber darin, auf die Unterbrechungen im Textfluss zusätzlich aufmerksam zu machen. Durch seine Textarchitektur spielt der Roman mit konventionellen Voraussetzungen der literarischen Kommunikation zwischen Buchautoren und Buchlesern nebst den Vermittlungsinstanzen, die störend zwischen sie treten können – wie Herausgeber, Verleger, Setzer, Drucker etc. Dem entspricht auf inhaltlicher Ebene sein subversives Spiel mit dem Konzept des Autors als der normalerweise unterstellten Instanz, welche Sinn und Intentionalität einer schriftlichen Botschaft verbürgt. Das fragmentiert erscheinende Textbild unterläuft, passend dazu, die Idee eines homogenen, inhaltlich einheitlichen und gedanklich kohärenten Werks.  











Materielle Aspekte von Büchern und Texten. Hoffmann nimmt das romantische Projekt einer selbstreflexiven Dichtung zum Anlass, auf die konkreten, auch die technisch-materiellen Bedingungen der Buchproduktion hinzuweisen. Zwar wird über deren Einwirkung auf die Gestalt des Romans eine erfundene Geschichte erzählt (und zwar keineswegs ausschließlich die des Schreibprozesses, sondern eben auch die des Druckprozesses und damit der Buchherstellung). Aber der Roman weist doch immerhin auf die realen Kontingenzen hin, denen die Buchpublikationen vermeintlich autonomer Autoren unterliegen. Der ‚Herausgeber‘ Hoffmann in seinem auf 1819 datierten Vorwort erwähnt wie zur Konkretisierung möglicher Störeffekte zudem eine Reihe von Setzfehlern in einem anderen seiner Bücher; auch der Murr-Roman soll eine Errataliste enthalten. Anlässlich eines Problems wie dem der Druckfehler gehen insofern Romanfiktion und reale Buchproduktion nahtlos ineinander über. Murrs Geschichte erinnert zudem daran, zu was beschriebene Blätter manchmal benutzt werden: Sie werden zweckentfremdet und auf ihre bloße Materialität reduziert. Gerade diese Reduktion der Kreisler-Biografie auf bloßes ‚Papier‘ hat dann aber dem vorliegenden Roman seine Gestalt gegeben. Auf ein reales Kontingenz-Moment wird am Ende des Romans auch durch den Hinweis darauf verwiesen, dass Murr gestorben sei. Entscheidend ist dabei nicht, dass Hoffmanns realer Kater, das Vorbild Murrs, tatsächlich wäh-

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rend Hoffmanns Arbeit am Roman starb; wichtiger erscheint, dass durch die Todesanzeige an die Zeitlichkeit und Endlichkeit aller Rahmenbedingungen schriftlicher Kommunikation erinnert wird. MSE

E 1.4 Lewis Carroll: Alice in Wonderland (1865) und Through the Looking-Glass (1872) Lewis Carrolls Romane Alice in Wonderland und Through the Looking-Glass können (wie auch Sternes Tristram Shandy und Mallarmés Coup de dés) zu den Wegbereitern neuerer Buch-Literatur gerechnet werden. Denn hier bilden nicht allein Text- und Bildteile ein Ensemble, wie es in dieser Form nur in Büchern arrangiert werden kann; indirekt verweisen die Texte zudem mehrfach auf Erfahrungen mit Büchern, auf Modi und Aspekte des Umgangs mit ihnen. Die zunächst in privatem Kontext für das Mädchen Alice Liddell geschaffenen Bücher waren von vornherein Kompositionen aus Text und Bildern. Carroll (eigentlich: Charles Lutwidge Dodgson) illustrierte die Texte zunächst mit eigenen Zeichnungen, beauftragte für die Publikationen aber den bekannten Illustrator John Tenniel. Die Bebilderung entstand in Zusammenarbeit zwischen beiden. Nach dem Erfolg der Bücher erbat und erhielt Carroll zudem von Alice Liddell die Erlaubnis, das Manuskript des ersten Teils mit seinen eigenen Zeichnungen zu veröffentlichen. Insgesamt hat Carroll die typografische und grafische Gestaltung seiner Buchpublikationen stets genau im Auge behalten.1 Zu Lebzeiten Carrolls und danach erschienen neben Neuauflagen der von Tenniel illustrierten Bücher auch verschiedene modifizierte Ausgaben; ihnen folgten nach seinem Tod und bis heute eminent zahlreiche weitere, geprägt u. a. durch modifizierte Textanteile und neue Illustrationen, aber auch vielfach durch Modifikation, Kürzung und Übersetzung des Textes sowie durch Verwendung neuer Bilder.  

Bilderbücher. Die erste Geschichte Alices beginnt nicht mit ihrem Sturz ins Kaninchenloch, sondern damit, dass Alice sich an der Seite ihrer lesenden Schwester langweilt: ein Anlass, über den Reiz bebilderter Bücher nachzudenken. Die Geschichte Alices selbst wird dann als Bilder-Buch inszeniert. Die Grafiken Tenniels und die Textfelder durchdringen einander nach wechselnden Anordnungsprinzipien – analog zu den Szenenwechseln und Verwandlungen, von denen erzählt wird. Auf besondere Weise visuell inszeniert wird der Durchstieg Alices durch einen Spiegel zu Beginn von Through the Looking-Glass, nämlich durch zwei komplementäre Bilder, die einmal das  

1 Vgl. dazu Schulz 2010, S. 11: „Der Verleger Alexander Macmillan übernahm lediglich die Vermarktung und den Vertrieb; für alle gestalterischen Fragen, die den Druck, die Wahl des Papiers, die Bindung und den Umschlag betrafen, war Dodgson als Auftraggeber der Publikation selbst verantwortlich.“  

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‚Vorher‘ (Alice vor dem Spiegel) und einmal das ‚Nachher‘ (Alice hinter dem Spiegel) zeigen; assoziativ ergibt sich hier zudem eine Beziehung zum Umblättern eines Buchs, vor allem bei Buchausgaben, die beide Momente auf zwei Seiten desselben Blattes präsentieren, wie in der Originalausgabe von 1872. Die erste Strophe des Jabberwocky-Gedichts, das Alice im Spiegelland liest, wird (entsprechend einer Vorliebe Carrolls für Spiegelschrift; Carroll 1965, S. 182) zunächst in Spiegelschrift gedruckt, um die Leser an der Irritation Alices teilhaben zu lassen. Dient die Buchgestaltung in der Jabberwocky-Episode der Darstellung eines komplexen Entzifferungsversuchs, so erinnert das aus Spielkarten bestehende Personal des ersten Romans an das Material, aus dem auch Bücher gemacht werden: an biegsames Papier, das sich auf manche Weisen ‚beleben‘ lässt.  

Visuelle Textdimension. Unschärfen und Undeutlichkeiten der von Alice beobachteten Figuren oder Objekte werden grafisch wiederholt in entsprechender Weise wiedergegeben. Das Verschwinden der grinsenden Cheshire Cat findet sich – wiederum durch zwei Bilder – bildlich in Szene gesetzt. Ein Visualpoem bildet die als geschlängelte Linie gesetzte lange Textzeile von „A Mouse’s Tale“; sie erinnert an den namensgleich klingenden Mauseschwanz (mouse’s tail); hier ist der Autor Carroll selbst der Designer des Textes; die handschriftliche Buchfassung zeigt, wie er selbst mit dem Textarrangement gearbeitet hat. Durch diese und andere Mittel wird Prozesshaftes, Zeitliches und Übergängliches visuell vermittelt. Der typografische Einsatz von Sonderzeichen wie Strichen und Sternen entspricht zwar zum einen gängigen Praktiken des Buchdrucks im Umfeld des 19. Jahrhundert, entspricht zugleich aber vielfach auch inhaltlichen Szenenwechseln, Grenzüberschreitungen und Transformationen. In Through the Looking-Glass, dessen Geschichte unter Schachfiguren in einer Schachbrettwelt spielt und dessen Kapitel den einzelnen von Alice durchlaufenen Schachbrettfeldern einer imaginären Schachpartie zugeordnet werden können, repräsentieren die Kapitelbegrenzungen auf den Buchseiten jeweils den Felderwechsel. Carroll markiert diese Übergänge in neue Abschnitte des Raums und des Romans in sehr auffälliger Weise typografisch; in den Buchausgaben erscheinen Schlangenlinien oder Sternchen. Jenseits der gedruckten Grenze findet sich Alice mehrfach unversehens in einen ganz neuen Kontext versetzt.  





Grenzen der Darstellung. Durch unscharf wirkende und mehrdeutige Motivgestaltung verweisen zudem manche Bilder Tenniels auf Undarstellbares, durch Bilder nicht Fixierbares. In „The Hunting of the Snark“, einem Versepos, das von der Jagd nach dem Snark als dem Inbegriff des Ungreifbaren und Unbegreifbaren berichtet, kommt es übrigens zum Einsatz einer besonderen Art von Seitengestaltung: Eine leerbleibende Seite repräsentiert im Kontext des Buchs die ideale Seekarte: die, auf der jeder Seefahrer das sehen kann, was er sucht. Carrol verbindet nicht nur Text- und Bildebene seiner Romane, sondern verknüpft über die Motive der papiernen Spielkarten und des von zwei Seiten betrachtbaren Spiegels zudem den Inhalt seiner Ge-

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schichten mit Material und Architektur des Buchs. In der Literatur wie in der bildenden Kunst sind die Alice-Geschichten intensiv rezipiert worden; auch Buchkünstler beziehen sich in verschiedenen Weisen auf Carrolls buchliterarische Werke (vgl. dazu Beyer, Jonas 2010). MSE

E 1.5 André Breton: Nadja (1928) In drei Büchern Bretons finden sich auch Fotos reproduziert; in Les vases communicantes (1932) und L’amour fou (1937) verbinden sich damit jedoch nur wenige bzw. keine erzählerischen Anteile; in Nadja hingegen wird eine Geschichte erzählt, der die Bilder zugeordnet sind.2 Nadja thematisiert Ideen des Surrealismus und setzt sie zugleich buchgestalterisch um. Das Buch von 1928 erscheint 1963 in überarbeiteter Form. Hatte es bei der Erstpublikation 44 Fotos enthalten, so ist die zweite Ausgabe um vier weitere Fotos ergänzt, die Breton nach eigenen Angaben für die erste Ausgabe noch nicht hatte verwenden können (vgl. Debaene 2002, S. 116). Die Fotos sind nun enger an den Text angebunden. Sie stammen teilweise von namentlich nicht bekannten Fotografen; andere sind von Man Ray, Jacques-André Boiffard oder Henri Manuel. Auf eine Einleitung erfolgt eine dreiteilige Erzählung. Dabei dominiert der Eindruck der Heterogenität von Gegenständen und Darstellung. Die Textabschnitte bilden jeweils separate Einheiten; sie behandeln unterschiedliche Dinge und Vorfälle.  

Unbegründbares, Kontingenzen, Rätsel. Die Geschichte, die an einer Reihe von Tagen des Jahres 1926 (4.-13. Oktober 1926) spielt, trägt autobiografische Züge; der IchErzähler ist ein textinternes Alter Ego Bretons. Er stellt dar, wie er am Ende eines langen Spaziergangs durch Paris auf eine junge, mental verwirrte Frau trifft, die sich Nadja nennt und ihr bald näherkommt; ihre Beziehung ist kurz, aber intensiv. Zufälle führen die beiden auch dann mehrfach zusammen, wenn sie sich verfehlen oder zu vermeiden suchen. Auch jeweils für sich überlassen sich die Figuren beim Durchstreifen von Paris dem Zufall, auf der Suche nach Zeichen und Botschaften. Nadja scheint über eine besondere Art von Hellsicht zu verfügen, die Gedanken ihres Freundes ahnen zu können. Er verliert sie aus den Augen und hört später, dass sie in ein Irrenhaus eingeliefert worden ist. Tendiert er dazu, in ihr ein magisch-auratisches Wesen zu sehen, so ist sie aus der Sicht der klinischen Psychiatrie ein pathologischer Fall, eine Geistesgestörte mit krankhaften Halluzinationen. Bretons Bericht nimmt diese ratio 

2 Für die Kombinationsmöglichkeiten von Fotos und Texten interessieren sich vor den Surrealisten bereits die Dadaisten und die Futuristen. Surrealistische Text-Foto-Ensembles entstehen u. a. aus der Zusammenarbeit Paul Éluards mit Man Ray (1935) und mit Hans Bellmer (1938). Yvan Goll illustrierte 1925 sein Langgedicht Paris brennt mit acht Postkarten. Insofern Golls Paris brennt die Bilder illustrierend einsetzt, ist Bretons davon abweichendes Buch Nadja aber doch etwas qualitativ Neues.  

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nale Perspektive auf das Geheimnis Nadja kritisch in den Blick. Die Erzählung geht auf eine tatsächliche Bekanntschaft Bretons mit Léona Delcourt zurück; sie ist protokollarisch angelegt und verzichtet – so gut dies geht – auf explizite Ausdeutungen des Erzählten. Breton möchte den Vorfällen keinen Sinn beilegen, sondern im Sinne der surrealistischen Programmatik einer Logik des Wunderbaren vertrauen, die aus seiner Sicht gegen die rationale Weltansicht steht. Der diaristische Bericht über die Bekanntschaft mit Nadja bildet nur einen Handlungsstrang des Buchs; berichtet wird auch von anderen Ereignissen, die, zusammen mit Assoziationen und Erinnerungen an Träume, das Erlebte ergänzen sollen.  



Fotos und andere gesammelte Zufälle. Ist die Verwendung von Fotos in einem literarischen Text Ende der 1920er Jahre an sich schon ungewöhnlich, so erscheinen Auswahl und Platzierung der Bilder in besonderem Maße innovativ – und durch die surrealistische Ästhetik stark geprägt. Die Surrealisten setzen auf den (gesteuerten) Zufall als Produktionsprinzip: Der Schöpfer eines Artefakts ist aus ihrer Sicht nicht für dessen Sinn verantwortlich. Zwischen Plan und Planlosigkeit oszilliert Nadja durch eine chronologisch und kausal unmotivierte Reihung von Einzelepisoden. Die Episoden und Reflexionen in Nadja sind Auseinandersetzungen mit Zufälligem, Ungeplantem, mit scheinbar oder tatsächlich zusammenhanglosen Dingen. Der Erzähler schildert viele Details, vor allem auf der Basis optischer Wahrnehmungen, losgelöste Einzelheiten, teils Unverständliches. Nadja selbst erscheint als Fundstück – so wie alles Mögliche, das den Roman geprägt hat, die Bilder inbegriffen (vgl. Beaujour 1982, S. 180). Dem surrealistischen Arbeitsprinzip des gesteuerten Zufalls kommt die Fotografie sehr entgegen. Fotografieren kann als mittelbare Zufallsproduktion beschrieben werden. Zwar trifft der Fotograf ein Arrangement, wählt ein Bildmotiv aus, doch was nachher auf dem Bild zu sehen ist, unterliegt nicht völlig seiner Steuerung. Und was die abgebildeten Dinge bedeuten, muss er als Fotograf nicht wissen. Was auf einem Foto auftaucht, hat zu weiten Teilen etwas Beliebiges. Darum ist die Fotografie mit dem surrealistischen Konzept des automatischen Schreibens analogisiert worden (vgl. Stiegler 2006, S. 81–83). In Nadja findet sich die Idee eines artistisch genutzten Zufalls nochmals potenziert, indem Fotos unterschiedlicher Provenienz gezeigt werden – eine Sammlung, deren Zustandekommen kaum einem System unterlag, zu weiten Teilen eine Zufallskollektion. Der Text findet in den Fotos folglich auch keine ‚Illustration‘ oder Bekräftigung, er tritt zu ihnen seinerseits in beliebige und wechselnde Beziehungen ein – analog der Beliebigkeit und Varianz der Beziehung zwischen dem Erzähler und Nadja. Das Buch, in dem sich Text und Bilder ‚treffen‘, entspricht damit funktional dem städtischen Raum, in dem die Geschichte spielt. Diesem Raum entstammt auch die Mehrheit der Bildmotive, handle es sich nun um Gebäude oder Straßenszenen, Figuren oder Objekte. MSE  











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E 1.6 Dinah Nelken/Rolf Gero: ich an Dich. Ein Roman in Briefen mit einer Geschichte und ihrer Moral für Liebende und solche, die es werden wollen (1939) Unter dem Titel ich an Dich bietet der in Kooperation der Autorin Dinah Nelken und des Buchgestalters Rolf Gero entstandene „Roman“ eine inhaltlich konventionelle, aber ungewöhnlich im Buch inszenierte Trägergeschichte (Nelken/Gero [1939] 1941; vgl. Dencker 2011, S. 412, Anm. 1396). Erzählt wird diese Geschichte nicht allein auf der Ebene des Textes, einer zeitgenössischen Modifikation des Briefromans, der im Wesentlichen aus den schriftlichen Nachrichten zwischen zwei Figuren besteht.  



Erzählen mit Dingen im Buch. Anteil an der Erzählung haben auch die materiellen Gestalten, in denen sich diese Texte präsentieren: Sie sind teils als reproduzierte Typoskripte oder handschriftliche Nachrichten auf die Buchseiten gedruckt, finden sich teils aber auch auf eingeklebten Objekten aus Papier wie etwa Briefbögen, Karten, Telegrammen, Rohrpostnachrichten, Rechnungen und Kino-Billets;3 hier ist dann jeweils nicht nur der Text selbst, sondern auch sein Trägermedium signifikant. Hinzu kommen zwei eingeklebte Fotos. Protagonisten der Geschichte sind eine Frau und ein Mann, die sich am Anfang des Romans gerade zufällig kennengelernt haben, woraufhin der Mann einen Briefwechsel aufnimmt (den Namen beider erfährt man im Buch gar nicht; beider Unterschriften, häufig zu sehen, sind unleserlich). Wie der Briefverkehr erkennen lässt, wird der Ton schnell persönlich; man trifft sich, kommt einander näher; ein Liebesverhältnis beginnt, dokumentiert u. a. durch die handbeschriebene Karte eines Blumenhauses, das ‚ihr‘ einen Rosenstrauß von ‚ihm‘ zustellt. Die Beziehung entwickelt sich in mehreren Etappen, begleitet, ja zu weiten Teilen getragen von (im Buch wiedergegebenen) schriftlichen Nachrichten. Dem nach bürgerlichen Begriffen naheliegenden glücklichen Ausgang der Entwicklung in Form einer Eheschließung stellen sich jedoch diverse Hindernisse entgegen, wodurch der fingierte Austausch des Paares den Umfang eines mitteldicken Buchs annimmt: Positionen sind zu klären, Wünsche zu erörtern und auszuhandeln; schließlich schieben sich andere Figuren zwischen das Paar: zunächst eine andere Frau (Lyda Lehmann, eine moderne und elegante femme fatale), die ‚ihn‘ (temporär erfolgreich) umwirbt und bei ‚ihr‘ Kummer und Eifersucht auslöst, dann ein anderer Mann, dem ‚sie‘ sich zuzuwenden scheint, nun zum Kummer ihres ehemaligen Freundes. Einen Tiefpunkt des Verlaufs markiert die vorübergehende Trennung zwischen beiden, die vielleicht endgültig wäre, wenn ‚sie‘ nicht von ihm schwanger wäre. Die Handlung spitzt sich dramatisch zu,  

3 Dencker 2011, S. 412, verweist auf ein sehr ähnliches Buch von Edith Rode: J. E. D. En roman in breve (Kopenhagen 1943), das ebenfalls Briefe, Kinobillets, Fahrkarten, Rechnungen, Spielkarten und andere Materialien enthalte und ebenfalls eine Liebesgeschichte erzähle.  

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als sie brieflich Suizidgedanken mitteilt, auf die er mit einem Telegramm reagiert; es kommt zur Versöhnung, zu (auch brieflichen) Aussprachen und zur Hochzeit. Diese wird abschließend durch eine eingeklebte Hochzeitsanzeige dokumentiert (auf der weiterhin kein Name steht). Die Geschichte versteht sich – und dies erklärt den Verzicht auf Protagonistennamen – als Modell einer Liebesgeschichte, wie sie jeder erleben kann, konkreter: als Dokumentation typischer Phasen solcher Geschichten. Ihr bei allen episodischen Einfällen insgesamt ausnehmend stereotyper Verlauf vom Sich-Verlieben über die Überwindung der Störfaktoren und Krisen zur Lebensbindung lädt dem Konzept Nelkens und Geros zufolge Leser und Leserinnen zur Identifikation ein. Eine entsprechend (nicht namentlich gezeichnete) Vorbemerkung drückt diese Idee eines letztlich allgemeinen Repertoires an Lebenssituationen und entsprechenden Ausdrucksweisen aus, bevor der eigentliche Briefwechsel beginnt.  



Heterogene Materialien. Die Buchgestaltung ist (trotz der Verwendung zeitbedingt vergilbungsanfälligen Papiers) insgesamt einfallsreich und aufwendig. Um eine Kollektion heterogener Nachrichten zu suggerieren, sind die Briefe teils auf weißes, teils auf hellblaues Papier gedruckt; für die eingeklebten Materialien wurden noch weitere Papiere verwendet. Eine Vielzahl von Zeichnungen in Rot und Schwarz begleiten die Texte auf den ‚maschinenschriftlichen‘ Briefen, die beide miteinander wechseln, aber auch in ‚seinen‘ Briefen an Lyda; diese Zeichnungen visualisieren, wovon die Rede ist, untermalen die Nachrichten durch symbolische Bilder, drücken Stimmungen aus – und verdichten sich gelegentlich zu kleinen Binnengeschichten rund um oder auch mitten auf dem Text. Man erfährt allerlei über die berufliche Situation beider; ‚er‘ zeichnet sogar ein skizzenhaftes Porträt von sich, das dann humoristisch kommentiert wird – auf dem Briefpapier des „Grossgaragenbetriebs“, in dem er tätig ist. Während die meisten eingeklebten Papierobjekte im Kontext der fiktionalen Romangeschichte ‚echte‘ Dokumente des rahmenden Alltagslebens und der persönlichen Korrespondenz sind, wird in einzelnen dieser Objekte mit der Form des Dokuments doch auch gespielt, so etwa mit einem fingierten ärztlichen Rezept „für eine nervöse Dame“: Unter dem spaßhaften Namen „Dr. Heilsam“ verschreibt ‚er‘ hier seiner Korrespondenzpartnerin allerlei Dinge, die ihr helfen sollen (darunter „100 % Liebe/3x täglich“) auf gezeichnetem Rezeptpapier (unpag.). Die eingeklebten Papierobjekte wirken wie ‚authentische‘ Dokumente, deren Design sie zitieren, oft ergänzt um Schriftzüge oder Zeichnungen der Figuren, die auf diese Weise sowohl auf den Buchseiten als auch auf den eingeklebten Materialien ihre (oft charakteristisch wirkenden) Spuren hinterlassen. Teilweise suggerieren diese Spuren auch bestimmte konkrete situative Details, so scheinbar hastig beschriebene Botschaften auf Papierfetzen oder Papiere mit Schnittspuren.  





Das Album als Modell. Das Buch als Ganzes erinnert an ein Album, in dem – so eine denkbare Interpretation – das Paar nachträglich die papierenen Zeugnisse seiner Geschichte bis zur Hochzeit zusammengestellt hat (dazu passt es allerdings nicht, dass auch die Korrespondenzen mit den störenden Alternativpartnern aufgenommen wur 



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den). Auf die Suggestion einer persönlichen Erinnerungskollektion abgestimmt, ist der Einband im Stil eines persönlichen Sammelalbums gestaltet: In dunkelblauer Leinenoptik und mit einer die Bindung verstärkenden hellblauen Schmuck-Kordel versehen, zeigt er auf der vorderen Umschlagseite typische Poesiealbum-Motive wie Herzen, Blumen, Turteltauben – und Briefe. In der Konzeption nimmt ich an Dich vorweg, was spätere Vertreter der Buch-Literatur wie Peter Handke, Wolf Vostell und Peter Faecke, Nick Bantock und Doug Dorst und J. J. Abrams aufgreifen werden. Vor allem Ship of Theseus des letzteren Autorenduos ist durch analoge Einfälle geprägt: Eine Paarbeziehung bildet das Handlungsgerüst; Dokumente der Kommunikation dieses Paares prägen den Roman, darunter auch unterschiedliche alltäglich-funktionale Schriftträger (vgl. E 1.47). Wie bei Dorst/Abrams geht unbeschadet der Fiktionalität der dargestellten Geschichte und der bloß fingierten Authentizität der imitierten Alltagsdokumente ein Stück zeitgeschichtliche Wirklichkeit in Form materieller Text- und Bildträger ins Buch ein. MSE  



Abb. E 1/1: Dinah Nelken/Rolf Gero: ich an Dich. Ein Roman in Briefen mit einer Geschichte und ihrer Moral für Liebende und solche, die es werden wollen. Berlin 1939, unpag.  

E 1.7 Jack Kerouac: On the Road (1957) Jack Kerouacs bald nach seinem Erscheinen zum Kultbuch avancierter autobiografisch grundierter Roman On the Road existiert als Buch in zwei Grundgestalten. Die erste ist die des Kodex, die den verschiedenen publizierten Ausgaben des Romans zugrundeliegt und in der dieser infolgedessen seit seinem Erscheinen rezipiert worden ist. Als eine zweite, andere ‚Buch‘-Form kann die Gestalt des Arbeitsmanuskripts gelten, das von Kerouac ähnlich einem Rotulus (einer Buchrolle) in Form eines langen Papierstreifens gestaltet wurde. Überliefert ist, dass er zur Vermeidung der Störungen, welche das Wechseln der Papierseiten beim Maschineschreiben bedeutet hätte, statt einzelner Blätter einen solchen zusammengeklebten Streifen herstellte und beim Tippen benutzte. Aus Hunderten von Bögen entstand so ein Papierstreifen von 37 Metern Länge, der gerollt werden musste, um handhabbar zu sein. Klebestreifen hielten die

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Blätter zusammen. Das Originaltyposkript des Romans existiert noch; seine Existenz ist öffentlich bekannt, und es hat als Objekt den Status einer Ikone der Literaturgeschichte erlangt. Bilder im Internet und in anderen medialen Formen machen es leicht, sich die Manuskriptform auch in Abwesenheit des Objekts vorzustellen, den Roman also mit der Rollenform zu verbinden, die er ursprünglich hatte. Reminiszenzen an die Rotulus-Form. Auch wenn der Romantext nicht in diesem Buchformat vervielfältigt und veröffentlicht wurde, unterhält er zur Papierstreifenoder Rotulus-Architektur doch auf mindestens zwei Ebenen prägende Beziehungen, sodass On the Road ein interessantes Beispiel dafür ist, wie ein literarisches Werk durch eine andere als die öffentlich greifbare Bucharchitektur geprägt ist. Erstens trug während des Produktionsprozesses der Papierstreifen als Schriftträger ja einem Bedürfnis Rechnung, möglichst ‚ununterbrochen‘ zu schreiben. Dieses Bedürfnis entspricht über seine konkrete individuell-arbeitspraktische Dimension hinaus (also über ein spezifisches idiosynkratisches Verhältnis Kerouacs zu seinen Schreibgeräten und -materialien hinaus) einem Leitgedanken der Poetik Kerouacs und diverser seiner zeitgenössischen Kollegen: Der Text sollte beim Schreiben gleichsam aus dem gelebten Leben herausfließen, möglichst ‚spontan‘, ungebremst, ungefiltert, allein dem Rhythmus des Schreibens folgend. Unreglementiert durch kontingente Rahmenbedingungen sollte das erstellte Manuskript und damit auch das Buch insgesamt den Fluss des Denkens, Assoziierens, Erinnerns und Erlebens auf dem Schreibpapier dokumentieren. Die Struktur des gegenüber dem Kodex ‚kontinuierlichen‘ Papierstreifens entspricht unter diesem dem literarischen Stil Kerouacs, der sich an der Idee spontansubjektiven, ‚authentischen‘ und aus dem Alltag hervorgehenden Schreibens orientiert. Gemäß dieser Poetik prägt die Umgangssprache den Text. On the Road repräsentiert als literarisches Werk programmatisch die für seine Entstehungszeit prägende Idee einer Literatur, die nicht auf Distanz zum Leben und seiner Sprache tritt, sondern sich als deren Fortsetzung (als ‚Verlängerung‘ auf Papier) präsentiert. Übergänge, Verknüpfungen, Passagen. Berichte über Kerouacs Arbeitsstil – er soll das Manuskript von On the Road im April in nur drei Wochen unter ununterbrochenem Tippen an der Maschine erstellt haben – entsprechen dem Mythos eines solchen ins Leben integrierten Schreibens – eines Lebens, bei dem sich der obsessiv Schreibende kontinuierlich und bis zur Erschöpfung an seinem Projekt verausgabt und insofern sein Leben in mehr als einem Sinn aufs Papier fließen lässt, so weit der Streifen reicht. Die einzelnen Kapitel des Romans sind zwar (in den Druckfassungen wie im Originaltyposkript) klar unterschieden, aber sie schließen ohne einschneidende Übergänge aneinander an. Fließende Übergänge, wie sie zum Strukturmodell des EndlosPapierstreifens passen, prägen zweitens auch das Schriftbild und den Sprachduktus des Originalmanuskripts. Kerouac verwendet Satzzeichen nur sparsam und verzichtet weitgehend auf Absätze. Seine Sätze erstrecken sich oft über halbe Seiten, wenn nicht sogar weiter. Drittens lässt sich die Form des langen, im Prinzip auch verlängerbaren  





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Streifens auch mit dem Kernmotiv der Straße (road) in Verbindung bringen und damit mit dem Inhalt des Romans. Die Hauptfiguren des Romans, der Erzähler Sal Paradise und sein Freund Dean Moriarty, unternehmen verschiedene Reisen, die sie kreuz und quer durch die USA sowie nach Mexiko führen, und nutzen dabei verschiedene Verkehrsmittel (Autos, Greyhound-Busse, Güterzüge, Lastwagen). Das Motiv der Straße bzw. des Schienenwegs ist der Handlung also gleichsam als Basis-Motiv unterlegt – und findet im Manuskript-Papierstreifen sein Modell. Sal und Dean, deren Reiseleben vor allem durch ihre Beziehungen zu Frauen, zu Jazz und zu Drogen geprägt ist, lassen sich unter anderem als literarische Nachfahren Tom Sawyers und Huckleberry Finns bei Mark Twain interpretieren, die zeitweilig eine Flussreise unternehmen. Sie und andere Figuren sind als literarische Spiegelbilder realer Figuren konzipiert, was die Idee eines ‚fließenden‘ Übergangs zwischen Leben und Text noch bekräftigt. In den Episoden und Stationen ihrer Reise porträtiert Kerouac die amerikanische Gesellschaft aus der Perspektive von Außenseitern; dies steht zwar unter kritischer Akzentuierung, aber doch nicht unaffiziert von Motiven des ‚amerikanischen Traums‘. Der Name des Protagonisten „Sal“ (ableitbar von Salvatore, Erlöser) lässt die Romanhandlung in eine assoziative Beziehung zu heilsgeschichtlichen Narrativen rücken; dies und andere Indizien (u. a. der Stationscharakter der Reise, die durch die verschiedenen Teilwelten der amerikanischen Gesellschaft führt) erinnern an das Modell der Pilgerreise, wie es in der englischen Literatur mit The Pilgrim’s Progress von John Bunyan einen Prototyp gefunden hat.  



Ein Kultbuch. Der Romantext wurde von Kerouac im Vorfeld der Drucklegung mehrfach überarbeitet. Insbesondere erfolgten Kürzungen und Streichungen, die der Verlag aus Gründen der Vermarktbarkeit und der Rücksicht auf die öffentliche Meinung forderte. Sex, Drogen, die Musikszene um Jazz und Rock’n’Roll sowie das ungebundene, ziellose Leben der Figuren widerspachen den bürgerlichen Leitvorstellungen der 1950er Jahre, erwiesen sich aber umso nachhaltiger als Kernthemen der jungen Generation, der Beat-Generation und anderer Akteure politisch-sozialer, kultureller und ästhetischer Revolten. 2007 erschien dann ein Text, der dem Inhalt der Originalschriftrolle entspricht. On the Road ist als Kodex weiterhin ein (wenngleich mittlerweile ‚historisches‘) Kultbuch. Erst eine Buchproduktion als Papierstreifen ohne trennende Segmentierung in Einzelblätter entspräche ganz dem Konzept, der Poetik und dem Inhalt des Werks. On the Road hat eine reiche Rezeptionsgeschichte in Literatur, Film, Musik und anderen Künsten gefunden. In Mark Z. Danielewskis buchliterarischem Roman House of Leaves wird anlässlich eines späten Nachfahren der Beat-Generation an die Idee eines endlosen, subjektiven Schreibflusses erinnert, der Seitengrenzen ignoriert und vergessen lässt: Die sich im Roman ausufernd breit erstreckenden Textanteile des drogensüchtigen Johnny Truant, der seinen Gedanken, Erinnerungen, Imaginationen in mehr als einer Hinsicht keine Grenzen setzt, erinnern auch inhaltlich an die Welt Kerouacs und seiner Figuren (vgl. E 1.31). MSE

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E 1.8 Max Aub: Jusep Torres Campalans (1958) Max Aubs Biografie des fiktiven Künstlers Jusep Torres Campalans thematisiert das Verhältnis von Fiktion und ‚Realität‘ insbesondere über die Darbietung und Dekonstruktion etablierter medialer Präsentationsmodi. Das Werk setzt sich aus sieben Kapiteln zusammen, die sich formal als unterschiedliche Textarten erweisen: den Vorbemerkungen (Kap. I) und Danksagungen (Kap. II), den Annalen (Kap. III), der eigentlichen Biografie Jusep Torres Campalans’ (Kap. IV), dem ‚grünen Heft‘ mit Notizen des Künstlers (Kap. V), einem Gespräch des Biografen Max Aub mit Jusep Torres Campalans in San Cristóbal (Kap. VI) sowie einem Katalog von Campalans’ Werken (Kap. VII).  











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Reflexionen über Authentizität und Mischform. Schon die äußere Gestaltung der Erstausgabe von Aubs Werk verweist auf eine spezifische Textsorte – die der Künstlermonografie – und erzeugt somit beim Rezipienten eine Erwartungshaltung, den Inhalt des vorliegenden Werks betreffend. Aubs Roman erschien zuerst als gebundenes Buch, das in seinem Aussehen und Aufbau an Künstlermonografien aus der Reihe Le goût de notre temps des Schweizer Verlegers Albert Skira erinnert (vgl. Figueras 1997, S. 435). Ebenso wie bei den Skira-Büchern ist der Einband aus hellem Stoff gefertigt und Schriftzeichen sind zentral auf dem Titelblatt aufgebracht. Während die SkiraBücher ein S auf dem Cover zeigen, sind auf Aubs Werk die Initialen des Künstlers – JTC – zu sehen. Die Bände der Skira-Reihe befassen sich zumeist mit einem Künstler oder einer Stilrichtung der Malerei und tragen des Öfteren den Untertitel „Étude biographique et critique“. Text- und Bildelemente werden innerhalb des Buches nebeneinander arrangiert (z. B. Habasque 1959; Raynal 1953). Es handelt sich demnach um eine Mischform, sowohl auf medialer wie auf inhaltlicher Ebene, deren Strukturen und Wirkweisen in Aubs Werk reflektiert werden. Da es sich bei Jusep Torres Campalans um einen fiktiven Künstler handelt, rücken insbesondere die medialen Mechanismen in den Fokus, die Aubs Werk zunächst glaubhaft als Biografie eines ‚realen‘ Freundes Pablo Picassos ausweisen.4 Zum einen erzeugt die Aufspaltung in mehrere Kapitel, in denen das Dargestellte in diverse Kontexte eingebettet und von vermeintlichen Zeitgenossen Campalans’ bezeugt wird, Authentizität. Zum anderen bedingt die für die Künstlermonografie charakteristische Zusammenstellung von Text und Bild eine gegenseitige Bekräftigung. Die Vielzahl an Zeichnungen und Gemälden aus Campalans’ Œuvre5 sowie die Beigabe von Fotos erhöhen zunächst den Eindruck der Faktizität des Dargestellten, weisen jedoch bei eingehender Auseinandersetzung deutliche Inkonsistenzen auf. Beispielsweise finden sich in Kapitel IV – der Biogra 













4 Figueras spricht in diesem Zusammenhang von einer „literarische[n] Trompe-l’œil“ (Figueras 1997, S. 427). 5 Die Zeichnungen und Gemälde Campalans’ sind von Max Aub erstellt worden (vgl. Buschmann 2009, S. 683).  



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fie – Fotografien von Campalans’ Eltern und von ihm zusammen mit Picasso in Barcelona. Während die Fotos die biografischen Beschreibungen zu bezeugen scheinen, wird insbesondere bei der Ablichtung von Picasso und Campalans deutlich, dass es sich wahrscheinlich um eine Fotomontage handelt, da der kahl rasierte Kopf Juseps unpassend aus der Fotografie hervorsticht und zudem deutlich älter als die angegebenen 15 Jahre wirkt. Der dem Medium Fotografie zugeschriebene vermeintliche Zeugnis-Charakter kann vom Leser durch den Vergleich des Beschriebenen mit dem Abgebildeten zumindest in Zweifel gezogen werden. Aubs Werk macht somit das Angebot der kritischen Reflektion des Dargestellten, was sich wiederum auf die Rezeption ‚authentischer‘ Künstlermonografien im Allgemeinen auswirken kann. Das Wechselspiel der Vorspiegelung von Authentizität und anschließender Dekonstruktion vollzieht sich auch auf rein textlicher Ebene. Insbesondere die Angaben in den „Anales“ sind mit Widersprüchlichkeiten durchsetzt,6 die den grundsätzlich dokumentarischen Charakter dieser Textsorte – die zeitlichen Angaben vermögen das Geschehen zunächst in einen historisch-faktischen Rahmen einzubetten – untergraben. Wie Susanne Klengel ausführt, wird über die Auseinandersetzung mit Aubs Werk eine generelle Reflexion der Gattung (Künstler-)Biografie initiiert, die „zwischen Kunst und Wissenschaft, Literatur und Geschichtsschreibung, zwischen Fiktion und historischer Faktizität“ oszilliert (Klengel 2005, S. 84). Bedeutsam ist vor diesem Hintergrund die fiktionalisierte Aufladung von Künstlerbiografien. Diese folgen spezifischen Schemata, Themen und Motiven und fungieren mit Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani (1550) von Giorgio Vasari als Grundlage der Kunstgeschichtsschreibung. In Aubs Roman zeigt sich, dass ein Charakteristikum dieser Art der Biografie – die Verknüpfung von vermeintlichen Erfahrungen und Prägungen des Künstlers mit einer bestimmten Expression in dessen Werk – mitunter haltlos wirken kann. So interpretiert der Erzähler den Umstand, dass Campalans für seine Werke primär das Hochformat wählt als Ausdruck seiner Erfahrungen in Gerona:  











La obsesión de verticalidad patente en su obra decanta, sin duda, de la repetida visión de las tristes y solitarias calles de Gerona, cuyas casas daban ya marco a sus imaginaciones. (De la misma manera que pueden hallarse en Dalí rastros de los cuadros didácticos colgados en las paredes de la casa de su padre.) (Aub 1999a, S. 98)  

[Die in seinem Werk ganz eindeutig vorhandene Obsession für das Hochformat rührt sicherlich vom Anblick der traurigen, einsamen Gassen Geronas her, deren Häuser seiner Phantasie bereits einen Rahmen gaben. (Auf die gleiche Weise übrigens, wie sich bei Dalí Spuren der Unterrichtsbilder finden, die im Haus seines Vaters an den Wänden hingen.) (Aub 1999b, S. 114)]  

6 „In die Chronologie der ‚Annalen‘ beispielsweise sind bewußt Fehler und Retuschen eingebaut: Nicolás Guillén wird zweimal geboren (1902 und 1904), der Stierkämpfer Lagartijo stirbt zweimal (1900 und 1910), 1913 ist nicht, wie zu lesen, das Todesjahr des nicht existierenden Schriftstellers Isaak Bebel (wohl aber das von August Bebel!) […].“ (Figueras 1997 S. 429)  

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Dass es sich bei der oftmals ungerechtfertigten Verknüpfung von Künstlererfahrung und Gestaltung des Kunstwerks um eine beliebte Praxis innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung im Allgemeinen handelt, unterstreicht der Verweis auf die ‚Unterrichtsbilder‘, die Einzug in das Œuvre Dalís gehalten haben sollen. Es werden Topoi bedient, die bereits Bestandteil in Vasaris Vite sind und über die Jahrhunderte reproduzierbar bleiben. Die Biografie Campalans’ trägt ‚typische‘ Züge eines Avantgardekünstlerlebens, das als Narrativ kopierbar und ironischerweise keineswegs originell ist (vgl. Klengel 2005, S. 86).  

‚Kubistische‘ Literatur. Das Arrangement diverser Text- und Medienarten bedingt eine Aufspaltung der Perspektiven auf das Leben Campalans’ und wird in Aubs Werk explizit mit einem kubistischen Gemälde verglichen: „Es decir, descomposición, apariencia del biografiado desde distintos puntos de vista; tal vez, sin buscarlo, a la manera de un cuadro cubista.“ (Aub 1999a, S. 21)7 Diese Polyperspektivität drückt sich auf literarischer Ebene in dem Umstand aus, dass insbesondere in den Kapiteln IV und VI – der Biografie und den Gesprächen in San Cristóbal – vermeintliche Bekannte zum einen über das Leben des katalanischen Künstlers berichten und ihm zum anderen Dialoge ‚in den Mund gelegt‘ werden. Im Gegensatz zu den anderen Kapiteln scheint das abgedruckte „Cuaderno verde“ die einzige Primärquelle von Notizen des katalanischen Künstlers zu sein und somit ‚authentische‘ Zeugnisse von Campalans selbst zu liefern. Dies wird jedoch wiederum unterwandert durch den Hinweis des Erzählers, dass vielfach Zitate von Kropotkin in das Heft aufgenommen wurden. Es wird deutlich, dass die vielschichtige Sichtweise auf das Leben des katalanischen Künstlers eine Heterogenität zur Folge hat, die Reminiszenzen an die Art der Darstellung im kubistischen Gemälde zeigt. Analog zur neuen Darstellungs- und Sehweise innerhalb der kubistischen Kunst vollzieht sich bei der Rezeption von Aubs Werk teilweise eine Verschiebung vom konventionell linearen Leseprozess hin zum nicht-linearen, ‚sprunghaften‘ Lesen. Forciert wird dies primär durch die Fußnoten, die ihre charakteristische Bezogenheit auf eine Textstelle aufgrund ihres erheblichen Umfangs teils ablegen und den Leser vom eigentlichen Geschehen weg-, in einen neuen Themenbereich einführen (vgl. Ette 2001, S. 363). Das linear-sukzessive Lesen ist somit durch Brüche geprägt, es werden ständig neue Aspekte eines Sachverhaltes in den Fokus gerückt. PH  







7 „Das heißt, daß die Person, deren Biographie zu schreiben ist, in Einzelteile zerlegt, aus verschiedenen Blickwinkeln in Erscheinung tritt, gewissermaßen wie ein kubistisches Gemälde, wenn auch unbeabsichtigt.“ (Aub 1999b, S. 15)  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 1.9 Nanni Balestrini: Tristano (1966) Der vollständige Titel des von Balestrini als „Roman“ (romanzo) bezeichneten Buchs deutet dessen Besonderheit schon an: Vom Autor verfasst wurde ein ‚multipler‘ Roman respektive eine fast unvorstellbar hohe Zahl möglicher Romane. Deren (von keinem Leser oder Leserkollektiv) ausschöpfbare Vielzahl resultiert aus der Mobilität der Textteile: Balestrini hat eine größere Zahl von Textbausteinen geschrieben, die als kombinatorisches Material dienen respektive vom jeweils fertigen Buchexemplar her gesehen bereits gedient haben. Modi der Kombination. Konzeptuell bestehen deutliche Parallelen zu dem fünf Jahre zuvor entstandenen Sonett-Maschinenbuch von Raymond Queneau, aber auch wichtige Unterschiede. Queneaus Buch erlaubt es gleichfalls, eine endliche Menge von Elementen auf alle technisch möglichen Weisen zu kombinieren. Hier aber hat es ein festes Ausgangssubstrat von zehn Sonetten gegeben, die zerschnitten wurden, damit ihre Zeilen neu kombiniert werden können; Balestrini hingegen hat ausschließlich Textbausteine bereitgestellt; sein Ausgangstext hat keine feste Form, sondern ist ein Baukasten. Bei Queneau sorgt zudem die Kompositionsregel des Sonetts (14 Zeilen in einer bestimmten Strukturierung) für eine gewisse Einheitlichkeit der Ergebnisse, während es bei Balestrini keine solche Regel gibt. Gemeinsam ist beiden Kombinationsprojekten aber wohl, dass kein Baustein mehrfach verwendet werden kann. Die Frage, ob alle Bausteine verwendet werden müssen, bleibt bei Balestrini offen. Bei Queneau entsteht, bedingt durch die Buchkonstruktion aus kombinierbaren, am Rand aber fixierten Papierstreifen in jedem Fall ein ‚Sonett‘. Tristano steht nicht nur in Beziehungen zu Arbeiten und Konzepten der französischen Oulipo-Gruppe, sondern auch zu Experimenten mit computergenerierten Texten, wie sie seit den 1950er Jahren angestellt und beschrieben wurden (vgl. Schmitz-Emans 2009, S. 317–319). In seinem Aufsatz Cibernetica e fantasmi (1967) spielt Italo Calvino die Idee einer literaturproduzierenden Maschine durch (vgl. Calvino 1984, S. 7–26).  



Billionen potenzieller Romane. Kein aus der Textkombinatorik resultierendes TextExemplar von Balestrinis Tristano ist gegenüber dem anderen privilegiert: Weder gibt es eine dem Textmaterial zugrundeliegende (lineare oder auf andere Weise kohärente) Geschichte, welche puzzleartig wieder zusammensetzbar wäre, noch bieten andere Ordnungsmuster und -Kriterien einen Anhaltspunkt zur differenzierenden Bewertung der mehr als 109 Billionen ‚Romane‘. Eine weitere mit dem Projekt verbundene und durch neuere Buchproduktionstechnologien realisierbare Idee ist die, das einzelne realisierte Textexemplar in jeweils nur einem Buchexemplar zu präsentieren (also keine zwei Bücher gleichen Inhalts anzufertigen). Demnach wird aus den über 109 Billionen möglichen Büchern für jeden einzelnen Buchbesitzer eine je individuelle Möglichkeit realisiert. (Dass die genaue Zahl möglicher Exemplare sich einer präzisen Errechnung entziehen könnte, deutet das Vorwort Ecos in der deutschen Aus-

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gabe an; Eco 2009b, S. XII; drei Nullen am Ende der Billionen-Zahl deuten auf eine annähernde Berechnung hin.) Der Einzelne hat bzw. liest jeweils ein Buch-Unikat mit einem Unikat-Text. Dessen Unikatstatus (als ‚Buch-Individuum‘) kontrastiert dabei eigentümlich mit der so hohen Zahl der möglichen Exemplare, aber auch mit seiner technisch-kombinatorischen Realisierung. Der üblicherweise auratische Charakter von Buch-Unikaten, die sich durch ihre individuelle (manuelle) Produktion von anderen Exemplaren unterscheiden, wird hier unterlaufen: Alle Bücher ähneln einander, keiner hat sich bei ihrem besonderen Inhalt etwas gedacht; ihre jeweilige Besonderheit wird bedeutungslos wie die der einzelnen Bücher in der Biblioteca de Babel von Borges.  

Phasen der Realisierung. Die Geschichte der Buchausgaben des ‚mobilen‘ Romans verläuft – nach der Bereitstellung des kombinatorisch nutzbaren Textmaterials – in verschiedenen, durch technische Entwicklungen unterschiedenen Phasen. Zunächst erscheint Tristano 1966 als konventionelles Buch, bestehend aus zehn Kapiteln mit je 30 Abschnitten. Die Bindung legte die Reihenfolge fest; die Idee der kombinatorischen Variation zwecks Produktion eines eigenen Textes für jeden Leser war nur als Idee präsent – bzw. sie konnte durch ein Hin-und-Her-Blättern im Buch prinzipiell realisiert werden, ohne sich dabei aber in der Bucharchitektur zu materialisieren. Die Möglichkeiten digitaler Drucktechnik gestatten es dann nach der Jahrtausendwende, Balestrinis ursprünglicher Konzeption näher zu kommen. Ein Computer arrangiert die Textbausteine auf der Basis einer anfänglichen Selektion aus dem Ausgangsmaterial und kombiniert sie für jedes dann materialisierte Buchexemplar auf besondere Weise, erzeugt also lauter einander äußerlich ähnlicher Unikate, die dann nach einem bestimmten Selektionssystem nummeriert werden (vgl. dazu den – einheitlichen – Paratext der deutschen Ausgabe, Balestrini 2009; konkret genutzt werden für diesen Text die dt. Exemplare 6117 und 6588). Jedes Exemplar trägt auf dem vorderen Buchdeckel seine individuelle Nummer. Der hintere Buchdeckel verweist ebenfalls auf die Einzigartigkeit des jeweiligen Buchs und verknüpft sie mit Suggestionen eines individualisierten Bezugs zwischen Leser und Buch. („Das ist kein den anderen gleiches Exemplar, sondern Ihr persönliches, unwiederholbares Buch, das Sie ausgewählt hat. Denn die Geschichte von Tristano sind viele Geschichten, und jeder Leser hat das Recht auf seine eigene.“ Balestrini 2009, Umschlagtext hinten.) Diese Suggestion nimmt sich teils ‚literarisch‘ aus (das Buch erscheint als aktives Subjekt), teils ironisch (was fängt man als Leser mit einer dergestalt ‚eigenen‘ Geschichte an?).  









Konzeptuelle Grundlagen: Poetik(en) der Kombination. Balestrini selbst schickt seinem Text eine „Notiz des Autors“ voran. Er hat schon 1961 mittels einer elektronischen IBM-Rechenmaschine ein literarisches Experiment angestellt, das er Tape Mark I nannte.

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Bruchstücke von Sätzen wurden so hintereinander montiert, daß sie Sequenzen von Versen ergaben. Die Montage folgte einfachen Regeln, die in Algorithmen definiert waren, die die Maschine steuerten. Die Zahl der möglichen Resultate war riesig, und eine kleine Zahl der Varianten wurde 1962 im Almanach des Verlags Bompiani publiziert – gerade soviel wie nötig, um den Sinn der Übung zu demonstrieren. (Balestrini 2009, S. XIII)  



Die letztere Bemerkung deutet an, dass der „Sinn der Übung“ jenseits der konkret produzierten Texte selbst liegt. Ausgehend vom Konzept einer computergenerierten Textproduktion wurde die Idee eines entsprechenden Romans entwickelt. Dies hatte für Balestrini vor allem den Reiz, „daß man ein handfestes Objekt produzieren konnte, ein Buch also. Die Varianten dieses Buchs hätte man in einer großen Auflage herstellen können – jedes einzelne deutlich verschieden von den anderen“ (ebd.). Gerade das kombinatorisch erzeugte Buch erscheint Balestrini als analog zur Genese natürlicher Wesen, bei denen jedes Individuum einen Prototyp in spezifischer Weise realisiert, sowie als materielles Analogon der mündlich tradierten (und dabei abgewandelten) Erzählung. Schließlich beschreibt Balestrini sein Buch auch noch als Sinnbild der modernen Wirklichkeit und der dieser entsprechenden neuen Kommunikationsformen (vgl. ebd., S. XIV). Ein Essay Umberto Ecos (in die deutsche Ausgabe als Vorwort eingefügt) verortet Balestrinis Buch in der Geschichte des kombinatorischen Denkens und Schreibens. Eco erinnert an Pascal und die Idee, „daß Originalität und Kreativität nichts anderes sind als die gelungene Anwendung einer Kombinatorik“ (Eco 2009b, S. VII). Schöpferische Genies verstünden mit demselben Material, das auch anderen verfügbar sei, besser umzugehen: Sie hätten einen ausgeprägteren Sinn für das, was weggeworfen, und für das, was bewahrt werden könne. Zur Betonung der kreativen Potenziale kombinatorischer Verfahren erinnert Eco an das Alphabet, dessen Buchstaben zu genialen wie zu trivialen oder schrecklichen Texten zusammensetzbar seien (vgl. ebd.). Ecos Ausführungen machen implizit deutlich, dass es mit jedem ‚kombinatorischen Buchprojekt über den konkret erzielten Effekt hinaus um weiteres geht: um eine (Selbst-)Positionierung des Textes gegenüber dem Universum von Möglichkeiten der Textgenerierung. Mit dem Thema dieser möglichen Alternativen respektive des Spielraums von Möglichkeiten verknüpft ist die Frage nach den Regeln der Kombinatorik – die sich im Fall der Kombinatorik von Buchstaben eben anders darstellt als in dem der Kombination von Wörtern (wenn man denn einen grammatikalisch korrekten Text erzeugen will). Wann sind Textblöcke dazu disponiert, kombinatorisch auf verschiedene Weisen arrangiert zu werden? Eco spricht metaphorisch von den „Noppen und Röhren“, mit denen Balestrini seine Textbausteine versehen hat, um sie miteinander verknüpfbar zu machen – analog zu Legobausteinen, die aneinanderhaften, weil sie entsprechende Kopplungsstellen aufweisen (Eco 2009b, S. XI). Balestrinis Vision sei, so Eco, erst durch die moderne Computertechnologie umsetzbar geworden. Ecos leise ironische Bemerkung über die Möglichkeit, verschiedene Exemplare zu vergleichen („[…] er [der Leser] kann eine x-beliebige Anzahl erwerben und sie miteinander vergleichen (wenn er so viel Zeit hat).“ Ebd., S. XII), führt auf die Frage nach möglichen Motivationen eines solchen Vergleichs – und einer Lektüre dieser Bücher  















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überhaupt. Soll man sich dabei selbst zur Textperson machen und beobachten, wie die eine und die andere Romanvariante auf einen wirkt? Soll man Spekulationen darüber anstellen, inwieweit die eine, die andere und eventuelle weitere Varianten einer Autorintention entsprechen? Eco erörtert differente Lesestrategien, wobei sich indirekt bestätigt, dass solche Kombinationstexte implizit die Rolle des Lesers und seine Verfahrensoptionen thematisieren (ebd., S. XII). Und Eco verweist anlässlich des Tristano auf die Doppel- bzw. Komplementär-Thematik von Autorschaft und Leserschaft als zwei Aspekten oder Spielformen von Produktivität. Kombinatorische Textproduktionsverfahren bzw. kombinatorisch erzeugte Texte sind immer auch Modelle: Als sichtbare, konkrete Gebilde verweisen sie auf Texte, die im Stadium des Möglichen verblieben sind, sowie auf Textkonzepte und Lesemodelle. Balestrini hat neben Queneau als erster das Buch als ein solches Modell gestaltet. MSE  

E 1.10 William Gass: Willie Master’s Lonesome Wife (1968) Wegen seiner einfallsreichen typografisch-grafischen Gestaltung ist William Gass’ Buch mit Laurence Sternes Tristram Shandy und Lewis Carrolls Alice-Büchern zu vergleichen. Es enthält Texte, Bilder und verschiedenste textgrafische Elemente, die zusammenwirken, um umrisshaft eine Figur darzustellen: Babs Masters, die im Titel genannte einsame Ehefrau. Babs Masters, die vor allem auf ihre körperlichen Reize aufmerksam macht (der Text wird hier gestützt durch entsprechende Fotos weiblicher Körperteile; in der Originalausgabe zeigt das Cover einen nackten Frauenkörper) ist deutbar als allegorische Repräsentantin des Buchs selbst, das ‚einsam‘ ist, bevor es einen Leser findet, und darum um diesen Leser wirbt. Als ihr Ehemann „Willie“ wäre mit William Gass der Autor zu denken; ein potenzieller Liebhaber taucht unter dem Namen „Gelvin“ im Text auf. Dass dessen Buch-Frau sich als ‚einsam‘ präsentiert, macht auf die Distanz zwischen Autor und Buch aufmerksam – und auf die seit den 1960er Jahren theoretisch erörterte Absenz des Autors aus dem Text. Schon weil hier die erotische Beziehung zwischen Mann und Frau zur Allegorie der Beziehung zwischen (vom Buch ersehntem und umworbenen) Leser und Buch wird, ist die aufwendige Gestaltung des Buch-Körpers keine bloße Äußerlichkeit. Das Buch selbst fordert durch die Stimme des Textes sinnliche Zuwendung, ironisiert diese Forderung aber zugleich kunstvoll durch den vielfältigen Einsatz spielerischer Elemente. Zu den umworbenen Lesern gehört letztlich auch der empirische Autor selbst, dessen Beziehung zum Buch ja niemals definitiv festgelegt ist, sondern ständige Erneuerungen zulässt, ja fordert. Man kann in der Konzeption eines den Autor als Leser umwerbenden Textes auch eine Reaktion auf die Einsamkeit des Autors sehen, der mit der phantastischen Vorstellung eines ‚lebendig‘ gewordenen Artefakts begegnet wird. Der reale Leser wird gelegentlich ebenfalls angesprochen, so wenn er im Buch die (offenbar ihm geltende Frage) liest, ob er wirklich bis hierher gelesen habe („Really, did you get so far?“).  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Der Text als Körper. Ist „Babs“ im Buch inkorporiert, so stellt der Text die Stimme dieses Körpers dar. Er gib in Anlehnung an die Stream-of-Consciousness-Technik über weite Strecken Gefühle, Gedanken und Assoziationen der Protagonistin Babs wieder, die trotz der fotografischen Darstellungen ihrer physischen Reize vor allem durch sprachliche Reize für sich wirbt und sich mehrfach selbst auch mit der Sprache identifiziert – mit einer sinnlichen, formenreichen, stilistisch variablen und den Leser in mehrfacher Hinsicht affizierenden Sprache. Körperlichkeit ist dabei ein dominantes Thema dieser Sprechstimme, oft unter Akzentuierung sexuell-erotischer Themen bzw. im Zeichen des Interesses an männlichen und weiblichen Körperteilen und ihren Namen. Aber auch die Stimme des Autors schaltet sich in den Text ein, spricht über seine Autorschaft und warnt vor Fehllektüren. In den Text eingeflochten sind Reminiszenzen an zahlreiche Werke der Weltliteratur, vorwiegend der anglophonen: an Shakespeare, Dryden, Joyce (Analogien bestehen zwischen Babs und Molly Bloom aus Ulysses), Hardy, Baudelaire, Gertrude Stein, Apollinaire und Beckett). Neben Prosapassagen stehen lyrische und dramatisch-dialogische Textbausteine.  

Typografisch-seitengestalterische Extravaganzen. Auf der Ebene von Layout und Typografie kommen variantenreiche Mittel zum Einsatz: verschiedene Schriftfonts und Schriftgrößen, Fett- und Kursivdruck, Fußnoten, Textgrafiken und visualpoetische Elemente, aber auch ungewöhnliche Textarrangements. So tritt neben eine Seite eine zweite in spiegelschriftlicher Wiedergabe genau desselben Textes. Gelegentlich scheint es, als seien ausgeschnittene oder ausgerissene Textträger stückweise ins Buch einmontiert worden; imitiert wird oft die charakteristische Schriftbildlichkeit von Reklame und Massenmedien. Die fotografischen Elemente wirken teilweise wie einmontiert und erinnern insofern an Alben oder Scrapbooks, aber auch an das Layout von Zeitschriften (absichtsvoll auch von solchen, die vorwiegend weibliche nackte Körper zeigen). Simuliert werden wiederholt auch Kaffee- oder andere Flecken, die spielerisch auf einen engen physischen Kontakt zwischen Buch und Leser verweisen und insgesamt die Körperlichkeit des Buchs betonen, vor allem, weil die kreisrunden Flecken visuell mit den Brustwarzen und dem Nabel einer Frau parallelisiert werden. Insgesamt demonstriert und thematisiert Willie Master’s Lonesome Wife die physisch-sinnlichen Dimensionen eines Buchs, die realen (visuellen) in Gestalt der Bilder ebenso wie die imaginären (die beim Lesen ‚hörbare‘ Stimme des Textes), erweitert um die Imagination eines erotisch anziehenden Körpers als Allegorie des Buchkörpers. Das buchgestalterische Spiel wird dabei zum Anlass der Frage nach den am literarischen Kommunikationsprozess beteiligten Instanzen und ihren Beziehungen zueinander. MSE

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Abb. E 1/2: William Gass: Willie Master’s Lonesome Wife. Illinois 1968, unpag., letzte Doppelseite.  

E 1.11 Peter Handke: Deutsche Gedichte (1969) Ähnlich dem zeitnah erscheinenden Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt präsentiert der Band Deutsche Gedichte sprachlich-textuelle Fundstücke aus der Alltagswelt der zurückliegenden Jahre – Texte, die nach konventionellem Verständnis keine Gedichte sind, da sie zur Erfüllung praktischer Funktionen entstanden, analog zu den als Kunstobjekte ausgestellten Alltagsdingen in der ready-made-Ästhetik Marcel Duchamps (vgl. dazu Pompe 2009). Der Fundstück-Charakter der Texte wird durch die Form ihrer Präsentation im Buch unterstrichen: Sie stehen auf Bögen, die sich in 20 Briefumschlägen befinden – entsprechend dem vom Verlag (euphorion-Verlag) als Reihe vertriebenen Typus des „Umschlagbuchs“.8 Die Einbände, in denen sich die Umschläge finden, sind entweder schwarz, rot oder golden, entsprechen zusammen also den Farben der deutschen Flagge; jeder konkrete Einzelband ist aber immer nur ein Teil des entsprechenden Farbspektrums.  



Fundstücke. Das ‚Umschlagbuch‘ präsentiert nicht allein verschiedene Textfundstücke als aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgerissene Fragmente; es suggeriert zugleich auch eine analoge Fragmentierung des konventionellen Buchs, denn die

8 Die Umschlagbücher erschienen meist in sehr geringer Auflage; die demgegenüber hohe Auflage der Deutsche(n) Gedichte wird vom Verlag mit 1000 angegeben. Der 1968 von Heinz Jacobi und Ulrich Raschke gegründete euphorion-Verlag sortierte sein recht breites Angebot an Umschlagbüchern nach Themenfeldern. So findet sich in der Sparte „Wissenschaft“ Das Große Postwahnsinnigenbuch für den Postlosen (das ausschließlich Antwortkarten und Formulare bietet), in der Sparte „Politik“ u. a. Das Große Heinrich-Lübke-Quizbuch für das deutsche Sauerland, in der Sparte „Aberglauben“ Das Große Liebes-, Ehe- und Sternenbuch für das deutsche Weib. Handkes „Gedichte“-Buch fiel in die Sparte „Literatur“. Vgl. Bandel 2006, S. 169.  



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konventionellen paratextuellen Bestandteile eines Buchs finden sich hier ebenfalls auf Umschläge verteilt. Ein Umschlag enthält die Titelseite des ‚Buchs‘, einer eine Art Vorwort. In anderen Umschlägen finden sich als Deutsche Gedichte verschiedener Provenienz und Indexikalität etwa Angaben zum Hörfunkprogramm der deutschen Rundfunkanstalten vom 21.11.68, Börseninformationen aus Wien vom 20.11.68, eine Repräsentation des Finales der Schachpartie Reshewsky (UDSSR) – Larsen (Dänemark), einen Aufruf zur Entspannungspolitik in Form einer Namensliste, Buchempfehlungen durch bekannte Kritiker, eine Liste mit Waren eines Wochenmarktes, eine Liste mit Terminen von katholischen Sonntagsgottesdiensten in Garmisch-Partenkirchen, gedruckte Glückwünsche, eine FAZ-Selbstreklame, eine Übersicht zu neuen Stücken in der DDR für 1969, die Lottozahlen vom 30.11.1968, einen „Witz des Tages“ vom 18. November 1968, eine alphabetische Liste der Lieblingskrimiautoren von Richard Alewyn. Hinzu kommt ein Zustellungsformular mit überklebter Absenderangabe des Verlags. Insgesamt sind also allerlei Bruchstücke von „Welt“ ins Buch eingegangen, aber nicht im Sinne der Aufhebung in einem bedeutungsvollen Zusammenhang, sondern als aus ihren Ursprungskontexten gelöste und weitgehend ephemere Informationen. Viele gedruckte Mitteilungen veralten ja schnell; als Ensemble allerdings verweisen sie eben durch ihre Tagesdatierungen auf Zeit und Zeitlichkeit. Rund 50 Jahre nach der Entstehungszeit des Bändchens wirken die verwendeten Materialien in besonderem Maße ‚historisch‘, erinnern sie doch an technisch mittlerweile überholte Produktionsverfahren und Kommunikationsmedien.  



Autorschaft und Fundstück-Ästhetik. Als ein Arrangement aus Text-Fundstücken kann Handkes Buch auf die zeitspezifische kritische Diskussion über die Instanz des Autors, aber auch pointierter, als kritische Antwort auf die Idee einer gerade in Gedichten artikulierten ‚Subjektivität‘ interpretiert werden. Nachdem Handke bereits in seinem ersten Gedichtband kritische Distanz zum Konzept des Autorsubjekts bezogen hatte und auch sein erster Roman und das erste Sprechstück das Verfügen über Sprache kritisch in Frage stellten, präsentiert er mit den Deutschen Gedichten Texte, die die Zuordnung zu einem Autor-Subjekt ebenso wie die Bemühung um eine dezidiert subjektive Sprache persiflieren. Handke hat den Deutschen Gedichten als Bestandteilen seines Œuvres offenbar nicht viel Bedeutung beigemessen; brieflich charakterisiert er es gegenüber dem Verleger Unseld als kaum erwähnenswerte „pure Nebenarbeit“ (Handke/Unseld 2012, S. 108). Die Idee des Text-ready-mades war ja auch andernorts schon durchgespielt worden; die spezifische Gestaltung des Buchs ging auf ein Konzept des euphorion-Verlags zurück. Und insofern repräsentiert Handkes Publikation eher noch als sein eigenes Frühwerk ein dominierendes Interesse seiner Erscheinungszeit an unkonventionellen und interpretationsträchtigen Formen der Buchgestaltung sowie an Gebrauchsformen des Buchs, welche durch seine physische Gestalt katalysiert werden. Gerade die Trivialität seiner Inhalte weckt das Interesse am Buch als solchem (vgl. Weingart 2006, S. 197). Das Öffnen der Umschläge anstelle des simplen Umblätterns von Seiten erfordert ein höheres Maß an Aktivität seitens des Lesers,  



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der zudem nach der Lektüre die Verantwortung dafür trägt, dass das auch in seinen Ausgangszustand zurückversetzt wird und intakt bleibt. Während der Nutzung unterliegt das Buch ja durchaus massiven Modifikationen; die Verletzung seiner Intaktheit ist dabei Voraussetzung des Lesens. Die zu öffnenden Briefumschläge verheißen dann Signifikantes, womöglich Geheimnisvolles, jedenfalls Überraschendes, ohne diese Verheißung einzulösen – es sei denn, man betrachte die Trivialität und Heterogenität der Inhalte selbst als überraschend. MSE  

E 1.12 Ferdinand Kriwet: Apollo Amerika (1969) und Stars. Lexikon in 3 Bänden Band 1: A-H, Band 2: I-Q, Band 3: R-Z (1971) Ferdinand Kriwet hat den amerikanischen Raumfahrtprojekten der 1960er Jahre, insbesondere der Mondlandung von 1969, in gleich mehreren Büchern ein Denkmal gesetzt – ein ironisches Denkmal allerdings, insofern sich Bilder aus der Massenpresse und technische Bilder, die auf die Eroberung des Weltraums verweisen, mit anderen Bildern gekoppelt finden, die Produkte menschlicher Technik und Zivilisation unter eher kritischer Akzentuierung darstellen. Neben den Weltraumfahrten sind die USA und mit ihnen verschiedene Bereiche zeitgenössischer sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Realität das Thema der Bände, wobei die USA in manchem als repräsentativ für die gesamte westliche Kultur erscheinen. Apollo Amerika und der Buch-Dreiteiler Stars enthalten ausschließlich Collagen, zu deren Herstellung bedruckte PapierMaterialien aus Zeitungen und Zeitschriften sowie anderen öffentlichen Medien (Flugblatt, Reklame) genutzt wurden; hinzu kamen diverse Formulare und Dokumente, öffentliche Verzeichnisse und Listen, Fotos und Filmstills sowie vergleichbares TextBild-Material. Die Durchsetzung der Alltagswelt mit Schrift ist ein Kernthema, die Entgrenzung zwischen Bild und Text wird auf vielfache Weise demonstriert. Manche Textgrafiken mit reduziertem oder aus seinem Kontext gelöstem Buchstabenmaterial erinnern an Beispiele Konkreter Poesie. Unter dem Namen Apollo Amerika hat Kriwet auch einen Hörtext (1969) geschaffen, sodass neben der Differenz zwischen Bild und Schrift auch die zwischen visuellem und akustischem Artefakt umspielt wird.  

Räumliche Irritationen. Die Collagen sind in den Raumfahrt-Büchern so platziert, dass diese Bücher kein eindeutiges ‚Oben‘ und ‚Unten‘ haben; die einen stehen relational zu den anderen hochkant oder auf dem Kopf. Beim Betrachten und Lesen müssen die Bände ständig gedreht werden. Sofern man von der konventionellen Blätterbewegung vom oberen Blattstapel nach unten ausgeht, haben die Bücher daher auch keine eindeutige ‚Vorder-‘ und ‚Hinterseite‘. Sie erzeugen insofern bei der Benutzung eine Art Desorientierung, die man mit der eines Flugsimulators vergleichen könnte, bei dessen Gebrauch ja ebenfalls die Unterscheidung zwischen Oben und Unten unterlaufen, geläufige Orientierung im Raum außer Kraft gesetzt wird. Passend dazu ver-

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zichtet Kriwet auf eine Paginierung. Schwindelerregend im übertragenen Sinn erscheint aber auch die dargestellte Welt aus Bildern und Texten, aus massenmedialen Informationen und vielfältigen Informationsquellen. Bilder von Politikern, Astronauten, Medienstars, aber auch Alltagsdinge und Alltagsszenen, Schauplätze von Gewalt und verlockende Reklamebilder finden sich in einer Anordnung gemischt, die keine argumentative oder chronologische Anordnung aufweist. So wie für den Raumfahrer die konventionelle Unterscheidung zwischen der Erde ‚unten‘ und dem Himmel ‚oben‘ suspendiert erscheint, so wird auch der Betrachter der Kriwetschen Bücher dazu stimuliert, sich von geläufigen Differenzierungen abzuwenden. Um eine Entdifferenzierung zwischen ‚Oben‘ und ‚Unten‘ geht es aber auch im übertragenen Sinn: Populärkulturelles und Hochkulturelles werden in den Bild-Text-Collagen gemischt; das Spektrum der visuell und textuell evozierten Referenzen spannt sich gleichsam von der massenmedialen Alltagswelt des Raumfahrt-Zeitalters (auf das u. a. der Name „Apollo“ verweist) bis zu den antiken Grundlagen der westlichen Kultur, die – in manchen Bildern zitatweise präsent – ebenfalls mit dem Namen „Apollo“ assoziiert ist. Da viele Bildmaterialien aus der Presse und anderen Foren öffentlicher Kommunikation stammen, dokumentieren sie die Alltagswelt, Politik, soziale Unterschiede, Kriege und andere Formen der Gewalt auf eine Weise, die den Büchern allein bedingt durch ihre Materialien einen zeit- und sozialkritischen Zug verleiht. Als konzeptionelles Pendant dazu erscheint ein ludistischer Grundzug; der Betrachter ist dazu eingeladen, zu entziffern und zu decodieren, zu assoziieren und auf dieser Basis hypothetisch das Gesehene zu interpretieren.  





Apollo Amerika hat zwei ‚vordere‘ Coverseiten und gliedert sich in verschiedene Sektionen. Der Verlag (Suhrkamp) hat das Buch zwar in einen Schutzumschlag gesteckt, dessen Design dem der Publikationsreihe entspricht, aber man kann diesen Umschlag ja abnehmen und dem Band von beiden Seiten her anlegen. Als eine Art Leitthema des Bandes erscheinen unbeschadet der Mischung von Text- und Bildmaterialen Praktiken und Formen des Ordnens, die allerdings spielerisch dekonstruiert werden. Dies gilt etwa für den Einfall, die USA in Form einer Namensliste zu repräsentieren. (Auf einer der Seiten ist unter dem Titel „Massnahmen aus Manhattan“ eine Liste mit Namen zu lesen, deren Einträge um Millimeterangaben ergänzt sind. Ein Asterisk hinter dem Titel verweist auf eine erläuternde Anmerkung: „zitiert und gemessen aus dem Telefonbuch von Manhattan, New York City, N. Y., USA“. Kriwet 1969, unpag.) Stars präsentiert sich als „Lexikon in 3 Bänden“, also als eine Art Taschenenzyklopädie der Gegenwartswelt in Form zusammengestellter Text- und Bildfragmente. Im Spiegel einer solchen Enzyklopädie erscheint die dargestellte Welt selbst als fragmentiert und vexatorisch. Band 1 wird durch sein Cover den Buchstaben „A-H“ zugeordnet, Band 2 denen von „I-Q“, Band 3 denen von „R-Z“. Dass die dargestellten bzw. evozierten Gegenstände alphabetisch gegliedert sind, zeigt sich allerdings erst beim genaueren Hinsehen – anlässlich der Identifikation des jeweils Gezeigten über seinen  

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Namen. Wenn eine der Buchstaben-Sektionen zwischen A und Z beginnt, so signalisiert dies immerhin ein Bild mit dem jeweiligen Buchstaben. Der Titel Stars ist wie der Name „Apollo“ mehrdeutig, evoziert unterschiedliche Teilwelten und ihre Darstellungsmodi. Neben der Sphäre der zu den ‚Sternen‘ reisenden Astronauten spielen vor allem Film- und Medien-Stars und ihre Sphäre eine leitmotivische Rolle, aber auch die Sterne auf der USA-Flagge, die symbolisch auf Amerika verweisen. Indirekt bespiegelt sich im Vorstellungsbild der Sterne auch das konstellative Verfahren des Collagisten und Buchgestalters Kriwet, der es dem Buchnutzer überlässt, in den zusammengestellten (konstellierten) Materialien Relationen, Ähnlichkeiten und Muster zu entdecken, also ‚Sternbilder‘ zu entziffern. MSE

Abb. E 1/3: Ferdinand Kriwet: Stars. Lexikon in 3 Bänden. Köln 1971. Band 2: I-Q, unpag.  

E 1.13 Arno Schmidt: Zettel’s Traum (1970, Entstehung 1963–1969) Arno Schmidts Werk Zettel’s Traum (die Schreibung mit Genitiv-Apostroph findet sich bei Schmidt selbst; bekannt ist das Buch aber auch als Zettels Traum), das sich schon infolge der eigenwilligen dialogischen Form einer Einordnung in geläufige literarische Gattungsmuster widersetzt und eher behelfsweise „Roman“ heißen kann, stellt auch mit Blick auf die konkret-handgreiflichen Parameter seiner Materialität (Umfang, Gewicht) einen literaturgeschichtlichen Sonderfall dar.9 Es ist gleichzeitig ein wichtiger Indikator von zu seiner Entstehungszeit neuen Impulsen literarischer und buchgestalterischer Produktion. Das Schrift-Bild ist in vielen Arbeiten Schmidts vom jeweiligen Text-Inhalt nicht zu trennen. Form und Platzierung der Textteile, die ver-

9 In den folgenden Zitaten wurde angestrebt, die typografischen Eigenheiten (fehlende oder überzählige Leerzeichen, Tilgungen, Kodierungszeichen statt An- und Abführungszeichen, Unterstreichungen) soweit wie möglich wiederzugeben.

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wendeten typografischen Zeichen (nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Satzund sonstigen Sonderzeichen) sind von eigener Signifikanz. In der Akzentuierung seiner eigenen Räumlichkeit durch typografische Mittel lässt sich Zettel’s Traum mit Laurence Sternes Tristram Shandy vergleichen; Schmidt setzt dabei aber konsequent auf die mit der Schreibmaschine erzeugbaren Effekte. Zettel-Sammlung. Der Romantitel erinnert u. a. daran, dass Schmidts Werk auf umfangreichen Materialsammlungen beruht, die sich in Form einer großen Zettelsammlung konkretisierten. Rund 120.000 Zettel hatte Schmidt während der Arbeit an seinem Buch mit Einfällen und Exzerpten beschriftet. Auch die Blätter des Typogramms werden als „Zettel“ präsentiert; in den Buchausgaben findet sich als Seitenangabe in der Kopfzeile jeweils der Hinweis auf ‚Zettel‘ („ – zettel 4 -“ etc.). Angespielt ist mit dem Titel zudem auf die Figur des träumenden Nick Bottom aus Shakespeares A Midsummer Night’s Dream, der in deutschen Übersetzungen „Zettel“ heißt. Schmidts Typoskript umfasst 1334 dreispaltig beschriebene Schreibmaschinen-Seiten; neben dem dominierenden maschinenschriftlichen Text weist es auch handschriftliche Glossen und Korrekturen auf. 1970 erschien eine Reprografie des Typoskripts im DIN-A3-Format und in einer Auflage von 2000 Exemplaren (Stahlberg Verlag), die trotz ihres recht hohen Preises schnell vergriffen war. Im selben Jahr wurde ein Raubdruck publiziert; bis 2010 folgten verschiedene weitere Faksimile-Ausgaben des Typoskripts, darunter 2002 eine Leseausgabe im annähernden Format des Originalseitenstapels (Frankfurt, Fischer). 2010 erschien der Text als gesetztes Buch im Rahmen der Bargfelder Schmidt-Ausgabe (Werkgruppe IV/1), gesetzt durch Friedrich Forssmann.  



Sprachlich-stilistische Besonderheiten. Mit seinen über 1300 Seiten ist das Buch auch bei zweiseitiger reprografischer Wiedergabe allein physisch bereits schwer handhabbar. Hinzu kommen andere Herausforderungen auf stilistischer und inhaltlicher Ebene (wobei sich typografische, stilistische und inhaltliche Ebene in Zettel’s Traum zwar begrifflich unterscheiden lassen, praktisch aber ineinandergreifen). Schmidts eigentümlicher Stil ist vor allem durch zwei Besonderheiten geprägt: durch phonetische Schreibungen kolloquialer, dialektaler, von der Norm des Schriftdeutschen abweichende Ausdrücke sowie durch Wortspiele, oft unter Einbeziehung differenter Sprachen. All dies regt zu Decodierungsversuchen an, deren Gelingen dann im Roman selbst vielfach auch vorgeführt wird, die aber doch letztlich unabschließbar erscheinen. Der Text ist in acht Bücher gegliedert. Das Inhaltsverzeichnis, das deren Titel nennt, präsentiert sich bereits als Spiel mit Rätseln und Anspielungen; so verweist der Titel von Buch 1, Das Schauerfeld, oder die Sprache von Tsalal, auf Edgar Allan Poes Erzählung über Arthur Gordon Pym. Zettel’s Traum ist eine Hommage an „Übersetzungen“ im engeren und weiteren Sinn; der von vielen fremdsprachlichen Elementen durchzogene Text setzt buchstäblich von Sprache zu Sprache über und lädt den Betrachter dazu ein, manchen Transferprozess nachzuvollziehen oder selbst zu initiieren. Die äußerlich ereignisarme Handlung spielt im ländlichen Umfeld des

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Poe-Übersetzers Daniel (Dän) Pagenstecher und beschränkt sich auf einen Sommertag in einer ländlichen Gegend bei Celle. Dän, vom Übersetzer-Ehepaar Paul und Wilma Jakobi und deren Tochter Franziska besucht, führt mit ihnen weitläufige Gespräche über Wörter, Texte und das Übersetzen, vor allem über Edgar Allan Poe, dabei beeinflusst durch psychoanalytische Denk- und Deutungsmuster. Dän ist insofern ein Alter Ego Schmidts selbst, als er dessen „Etym“-Theorie, eine Theorie über Wörter, deren Elemente und deren Wirken, explizit vertritt, allerdings in betont anti-systematischer Form. „[…] Ich stelle nie Theorien auf : ich probiere Arbeitshypothesen, & wie weit Parallelen tragen. Auch im vorliegenden Fall POE sehe ich ein Textgewebe – [Tilgung] die Kette (engl. bottom) aus Worten […]“ (Schmidt 2002, S. 26).  



Die Etyms. Schmidt betrachtet Wörter und Wortelemente gern als aktive, lebendige Wesen, die miteinander und mit dem Leser ihre Spiele treiben. (Dän plädiert dafür, die „ETYMS, denen wir uns nunmehr nähern […] als [unleserlich] halb=selbständige [Tilgung] Fremdwesen zu betrachten“; ebd.) Der im Zentrum seiner Sprachreflexion stehende Neologismus „Etyms“ bezeichnet Wortelemente, die unterschiedliche Bedeutungsebenen besitzen, auf der Basis dieser differenten semantischen Pozentiale in unterschiedliche Gruppierungen zueinander treten und so simultan mehrerlei sagen („die Etyms sagen nichts […] Dummes ! Sie [Tilgung] fügen lediglich einen zweiten, parallel im Individuum vorhandenen, Gedankenzug hinzu.“ Ebd., S. 27). Der Leser muss diese Gruppierungen selbst entdecken; Sprach-Klänge sind wichtige Anhaltspunkte. Denn den „Etym“-verwandtschaften bekunden sich vielfach Klanganalogien; oft steht ein Ausdruck für einen ähnlich klingenden anderen, oft klingt in einem ein anderer mit. Ausgangsbasis dieser spekulativen Etymologie sind vor allem Freudsche Ansätze: die Traumdeutung und die Psychopathologie des Alltagslebens. Dän zufolge stehen „Etym“-Verwandtschaften vor allem im Zeichen der Subvertierung von SprachTabus – und hier wiederum vor allem sexueller Tabus. Die Frage, in welchem Maße Däns Anschauungen diejenigen Schmidts sind, entzieht sich der Beweisführung. Die Abwegigkeit der von Dän gelegentlich ins Spiel gebrachten Argumente und Assoziationen10 verweist auf den modellhaften Charakter des Unternehmens, das aber als Spiel gleichwohl ernst genommen werden will. Auch die Joycesche Spielform literarischer Polyglossie hat die ‚Entdeckung‘ der „Etyms“ inspiriert und Schmidts Sprachdenken geprägt, ebenso das Œuvre von E. A. Poe. Dieser hatte schon zwischen einem Unter- und einem Oberstrom, einem ‚undercurrent‘ und einem „‚uppercurrent‘ of  







10 Dazu gehört auch die Erörterung des Namens Poe, den Dän als Motiv dafür anführt, dass Poes Phantasie sich so intensiv mit der unteren Körperhälfte beschäftigt habe. Als Wilma Dän vorhält, für den Amerikaner „Poe“ sei die Assoziation „Po=Po“ keineswegs naheliegend gewesen, dergleichen werde nur durch Däns „föllkische Herkumft“ suggeriert, wagt dieser den assoziativen Sprung zum „POE de chambre“, also zum französischen Wort für den Nachttopf, und sinniert darüber, wie sich Poe gefühlt haben möge, da er „von Kindes=Beinen an den Namen 'Nachttopp=EDE' erdulldet habm wird“ (Schmidt 2002, S. 126).  

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meaning“ in Texten, unterschieden.11 Schmidt bezieht dieses Modell konkreter auf das einzelne Wort und weitet es aus.12 Die in Zettel’s Traum erörterten, präsentierten und analysierten „Etyms“ sind zwar nicht immer sofort transparent, doch ihre „Unterströmungen“ erscheinen als grundsätzlich entschlüsselbar. Voraussetzung dafür ist eine intensive, mehrphasige, auf der Basis mehrerer Hypothesen operierende und idealiter dialogische Verfahrensweise. Entsprechend bemerkt Pagenstecher einmal: „Jaaberwilma –:múßDu; (müssen Wir=als=Leser), nicht [Tilgung] 1 Sache 5–10 Mal sehen, bis wir Sie schön & befriedijend kennen […]?“ (Ebd., S. 112) Jeder der über 1300 „Zettel“ gibt dem Leser Rätsel auf, und eine erste notwendige Orientierung beginnt schon beim Blick auf die Textseiten. Innerhalb der Textblöcke ist zwar grundsätzlich eine lineare Lektüre der Zeilen möglich, doch vielfach fordern Korrekturzusätze am Rand, mit Pfeilen markierte Einschübe und andere Eingriffe in den getippten Text andere Leserichtungen als die lineare. Gelegentlich sind Zeichnungen integriert: von der gekritzelten Darstellung kleiner Objekte bis zur seitenfüllenden Schemazeichnung (vgl. ebd., S. 109). Der Text wird als ein komplexes Gewebe sichtbarer Elemente ostentativ flächig präsentiert.13  





Text-Architektur, Sonderzeichen, Polyvalenzen. Er gliedert sich in Kolumnen, welche differenten Handlungssträngen und Artikulationsebenen entsprechen: in der Mitte spielt sich (meist) die Haupthandlung um die Protagonisten ab, rechts steht in der Regel eine Kolumne mit den Gedanken des Erzählers und Poe-Übersetzers (Dän), links eine vorwiegend aus Poeschen Zitaten bestehende Spalte. Gerade diese Gliederung erzeugt eine Suggestion von Beweglichkeit und Interaktion (in der Regel bilden die Reflexionen Däns sowie die eingeflochtenen Zitate kleinere Blöcke, welche den Haupttext der Handlung mit ihren Dialogen umkreisen). Den Eindruck eines mobilen, dynamischen Textes unterstützen auch erkennbare Nachbearbeitungen des Typogramms, etwa durch Tilgungen. In einem Text, dessen sprachtheoretische Reflexionen den verdrängten und subkutanen Bedeutungsdimensionen der Wörter gewidmet sind, erscheint die Durchsetzung des lesbaren Textes mit schwarzen Balken als Visualisierung eines anderen ‚Verdrängungs‘-Prozesses, und als Einladung zur Suche nach unterschwelligen Botschaften. Die Schreibung des Textes muss man sich oft ausge11 Vgl. Poe 1974, S. 292: „Das sind nun, in äußerst kläglichen Umrissen, die Hauptereignisse der Erzählung; die, obschon nur kurz, so doch von reichen Details wimmelt. Und unterhalb von allem verläuft die Grundwasserströmung einer mystischen zweiten Bedeutung, vom einfachsten und leichtest-verständlichen, dabei aber tiefsinnigsten philosophischen Charakter.“ 12 „(W, verdachtsvoll): "Wenn ich Dich recht fasse, Dän: Du meinst also, jeglicher Text wäre doppelsinnig=gestaucht, bawdy=verrenkt, zu lesen ? – Jeder ? " . […] (Und Fr endlich): "Ich kann also gar nich (w)hole sagen?:– ohne an mehrerlei zu denken ?“ Schmidt 2002, S. 25. 13 Auf die Bedeutung der ‚Textur‘ des Werks deutet bereits dessen Titel hin, der (auch) auf die Figur des Nikolaus Zettel (im Original: Nick Bottom) aus Shakespeares Stück A Midsummernight’s Dream anspielt – und damit die Textilmetaphorik dieses Stücks aufgreift; in Wielands Übersetzung von 1762 taucht auch die Wendung „Zettels Traum“ auf.  







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sprochen denken, um seine Bedeutung (bzw. Bedeutungspotenziale) zu erfassen. Wie bei Joyce, so sind viele Stellen auf mehrere Sprachen beziehbar und entsprechend mehrdeutig. Besonders eigenwillig ist Schmidts Interpunktion. Zettel’s Traum ist ein Roman fürs Auge; dies betrifft nicht nur seine im konventionellen Sinn lesbaren Teile. Viele Worte, teilweise auch längere Abschnitte, wurden im Typoskript getilgt und bilden als getilgte Zeichenfolgen einen Teil des Textes. Sie lassen sich zwar nicht im konventionellen Sinn lesen, wohl aber interpretieren, und der Text selbst leitet zu einer Interpretation an. Getilgte Zeichen, eingeschwärzte Wörter und Passagen stehen demnach für Unterdrücktes, für ‚Verdrängtes‘. In seiner visuellen Konkretheit macht der Text vor allem durch Störfaktoren auf sich aufmerksam. Dem entspricht auf der Handlungsebene u. a. ein Gespräch über die rätselhaften Zeichen aus Poes Erzählung über Arthur Gordon Pym (ebd., S. 31). Auch der in dieser Erzählung erwähnte mysteriöse Ruf Tekeli-li wird von Dän kulturgeschichtlich kontextualisiert und etymologisch kommentiert. Das Buch selbst inszeniert die Leitidee der „Etyms“ und ihrer ‚Interaktionen‘ durch sein Textbild; die visuell-konkrete Dimension des Textes hebt immer wieder dessen etymo-logische Textur hervor. Darauf abgestimmt werden auch anlässlich der Kommentierung der Werke Poes typografische Besonderheiten hervorgehoben, so etwa der Umstand, dass Poe zwar „Music Room & Library“ mit Majuskeln schreibt, „'palace, church'“ jedoch „mit nichtn !“ (Ebd., S. 175) Erwähnung findet auch Poes Vorliebe für „dashes“ und für das typografische Kürzel „&“, das auch bei Schmidt (und gerade in Zettel’s Traum) sehr oft vorkommt.14 Der Übersetzer Dän interpretiert zugunsten des Lesers also nicht allein Wörter, Sätze und Texte; er ‚übersetzt‘ dem Text-Betrachter zugleich das Schrift-Bild in seiner Bedeutsamkeit. Da dies wegen der Sichtbarkeit der Schrift vor den Augen des Lesers geschehen soll, bedarf es einer sichtbaren Bühne; diese bieten die Seiten des Buchs, dessen einzelne „Zettel“ wie Szenen eines Stücks erscheinen, das auf mehreren Ebenen (der der Handlung und der der Zeichen) spielt und demonstriert, wie sich durch das Zusammenspiel der Akteure multiple Bedeutungsoptionen ergeben. MSE  





14 Dän erstellt sogar eine Tabelle, welche eine Übersicht über die Verteilung von Gedankenstrichen und Kopula-Zeichen in einem Poeschen Text bietet, jeweils aufgeschlüsselt nach einzelnen Absätzen, und er zieht daraus semantische Schlussfolgerungen (ebd., S. 172f.). „Dergestalt könntesD U’s […] brutal auszählen, in welcher Schtimmunk sich der Mann befand“ (ebd., S. 172). Die durch den Diskurs über das „&“-Zeichen erzeugten Suggestionen überschreiten gleichsam lustvoll die Grenze zum Abstrusen, wenn Dän das Zeichen „&“ gesprächsweise „mi’mm Finger auf ’n Sandweg“ malt und Schmidt es am Spaltenrand zeigt: Die gezeichnete Figur, in mehr als einem Sinn am Rande des Diskurses platziert, gleicht einem stilisierten Männchen mit einem überdimensionalen Po (ebd.).  



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E 1.14 Wolf Vostell/Peter Faecke: Postversandroman (1970–1973) Mit dem Postversandroman knüpfen Vostell und Faecke an verschiedene Konzepte und Tendenzen der 1960er Jahre an. Sie sind insbesondere der Konzeption der Mail Art als einer kommunikativen Kunstpraxis verpflichtet, welche so konsequent wie eigenwillig eine Integration von Kunstpraxis in den Lebensvollzug betreibt (vgl. Crane/ Stofflet 1984; Held 1991; Röder 2008). Durch das Abheften sukzessive von den Autoren Vostell und Faecke versandter Lieferungen kam der Postversandroman bei seinem jeweils einzelnen Empfänger allererst zustande – ohne Mitwirkung des Buchhandels. Geliefert wurden nicht nur Dokumente und Informationen, sondern auch Aufforderungen, Anleitungen oder Hinweise zu diversen Tätigkeiten, insbesondere zur Abfassung von Texten, die dann in den Postversandroman integriert werden konnten.  

Mehrdeutige Leseradressierung. Die einzelnen Teile des Postversandromans erzeugen Kippeffekte zwischen einer Einladung, an einem Spiel nach vorgegebenen, wenn auch kontingenten Regeln teilzunehmen – und einer Provokation, über diese Einladung und das (Mit-)Spielen selbst nachzudenken. Der unkonventionelle Einband, ein mit spiegelnder Folie überzogener Pappkarton, ist deutungsträchtig: Sieht jeder Nutzer so doch sich selbst auf dem Einband. Die Schrauben, mit denen Einbanddeckel und abgeheftete Inhalte zusammengehalten werden, machen den Nutzer als erstes zum Bastler. Die Titelseite des Objekts, ein mehrfach gefalteter brauner Bogen, legt seine Interpretation als Spielobjekt mit integrierter Spielanleitung nahe. Von einem „SPIEL OHNE GRENZEN“ ist in dieser „Gebrauchsanweisung“ die Rede, unter anderem in Anspielungen an eine langjährig ausgestrahlte Fernsehunterhaltungssendung mit Wettkampfcharakter. Die Texte sind maschinenschriftlich und (dazu ergänzend, mit Pfeilen, Linien und als Überschreibungen dazu positioniert) handschriftlich (im Druckschriftduktus). Sie bilden eine Serie von 19 durchnummerierten Erläuterungen zum Postversandroman. Die Autoren des „Romans“ stellen den Dialog mit einem imaginären (!) Leser als Gesprächspartner dar; was auf den ersten Blick protokollarisch wirken könnte. Die Suggestion von Spontaneität und Unvermitteltheit wird aber gebrochen durch die im Typoskript angebrachten handschriftlichen Korrekturen. Dem Leser, der zusammen mit ‚Vostell‘ und ‚Faecke‘ als Mitspieler figuriert, wird eine kolloquiale Redeweise zugeschrieben – aber auch das ist Bestandteil des Spiels selbst, ebenso wie der Umstand, dass der ‚Leser‘ im Wesentlichen als Stichwortgeber für die ‚Autoren‘ dient, von ihnen also in mehr als einer Hinsicht funktionalisiert wird.  



Die abzuheftenden Materialien. Unter den verwendeten Dokumenten ist das Stammbuchblatt eines Siamkaters namens „Jocki von Brabant“, in das Faecke handschriftlich den eigenen Namen als den des Besitzers eingetragen hat. Der (scheinbare) Zufallsfund des Blattes erinnert aber an einen anderen literarischen Kater, der einst dafür gesorgt hat, dass ein Roman (angeblich) aus Einzelabschnitten verschiedener beschrifteter Materialien zusammengestückt war: an E. T. A. Hoffmanns Kater Murr  



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(Hoffmann 1820–1822; vgl. Teil E 1.3). Auf weiteren ebenfalls faksimilierten Papieren überlagern sich allerlei Spuren; da sind diverse dpa-Nachrichten auf Briefpapier des Eastgate Hotels in Chicago, überschrieben mit persönlichen Notizen (u. a. über Schlafstörungen), ergänzt um Alltagstexte (eine Mahnung über Parkhausmietgebühren), ferner diaristische Teile. Wie die persönlichen Notizen sich auf dem Palimpsestpapier der Nachrichtenagenturen, öffentlichen Orte (Hotel) und Massenmedien ausbreiten, so steht das Leben des Einzelnen auf dem ‚Text‘ der Geschichte geschrieben. Die Suggestion einer dokumentarischen Zusammenstellung verstärkt auch allerlei Nachrichtenmaterial wie Presseberichte (u. a.: „Vietnam. One Week’s Dead“, ein Zeitungsartikel mit Passfotos von amerikanischen Vietnamkriegsopfern, die zwischen dem 28. Mai und dem 3. Juni 1968 zu Tode kamen). Der Appellcharakter des Unternehmens wird an Vorschlägen zu Aktionen besonders gut greifbar.  







Exposés zu Aktionen. So wird die Aktion „Der Thermo-elektronische Kaugummi/Ein Happening-Raum“ in Form einer Gebrauchsanweisung dargestellt; der in der zweiten Person angesprochene Leser soll eine Sendekapsel und einen Kaugummi in den Mund nehmen und die von einer technischen Vorrichtung äußerlich hörbar gemachten Kaugeräusche anhören. Die 3. Lieferung des Postversandromans trägt den Titel „11 Romane in 6 Minuten und 5 Sekunden“ und den Autornamen Peter Faecke. Dahinter abgeheftet ist ein Dossier mit dem Titel: „Umgraben. 30 Tage Telefon-Kunst von Wolf Vostell“. Zu Beginn ergeht die Aufforderung, auf einem abgehefteten Blatt Zeitungsausschnitte oder eigene Bankauszüge einzukleben. Die Telefonaktion ist repräsentiert durch Texte vom automatischen Anrufbeantworter Vostells. Dieser gab dem Anrufer Anweisungen, was getan werden sollte, bis hin zur Aufforderung vom 31.10.1969: „Machen Sie Ihre eigene Telefonkunst“. Ein weiteres Dossier beschreibt eine von Vostell konzipierte kollektive Aktion: „Ein 72 Stunden-Happening für den Bahnsteig 7 b des Kölner Hauptbahnhofes/zum Beethoven-Jahr 1970/Mitwirkende alle mit den Zügen ankommende Fahrgäste“. Ein Fahrplan des Kölner Hauptbahnhofs ist reproduziert; zu ausgewählten Einträgen hat Vostell dann Anweisungen dazu ergänzt, was getan werden soll. Ein Dossier enthält die Kopie eines Briefes an den „Bundesverteidigungsminister [Helmut] Schmidt“ im Bonner Verteidigungsministerium: Auf dem Briefkopf der „art intermedia“ (Köln) bittet Briefverfasser Helmut Rywelsi im Namen von Wolf Vostell Helmut Schmidt um ein altes Maschinengewehr für eine Ausstellung über „Politische Kunst“. Er erhält von einem Sachbearbeiter eine Ablehung.  

Leserpost. Ein hierauf folgender Komplex ist übertitelt „Leserbriefe (Elternschule)“ und bietet die faksimilierten Reproduktionen von Leserpost. Das Spektrum bewegt sich von Vorschlägen zu neuen Aktionsspielen bis zu recht trivialen Versuchen, den Tonfall von Vostell/Faecke zu imitieren. Ein weiteres Projekt gilt Formen und Medien mündlicher Kommunikation im Radio; Ziel ist, „auf die noch bestehende Einwegkommunikation des Hörfunks“ hinzuweisen „und andere Möglichkeiten der Arbeit im und mit dem Rundfunk“ aufzuzeigen. Eine weitere Rundfunkproduktion, die im Postver-

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sandroman dargestellt wird, gilt der Arbeit „mit Texten“; die Gäste arbeiten mit literarischen Texten, die zunächst verlesen werden. Dann werden die Teilnehmer aufgefordert, „sich für einen der drei Texte zu entscheiden und etwas damit zu machen“. Sie kommentieren dann die Texte, geben ihre Eindrücke wieder: Auch dieses Unternehmen ist eine inszenierte ‚Rezeptionsästhetik‘ – aber eben eine inszenierte, bei der möglicherweise mit der Idee einer Beteiligung der Rezipienten am ästhetischen Geschehen unbeschadet ihrer Konkretisierung zugleich auch gespielt wird. MSE  

E 1.15 Jochen Gerz: Annoncenteil. Arbeiten auf/mit Papier (1971) Gerz’ Publikation von 1971 versammelt zwar einerseits mehrere zum Publikationszeitpunkt rezente Arbeiten und Projektdokumentationen, sodass das Buch zunächst einmal die Funktion eines Sammelbehälters übernimmt. Die (teilweise zuvor schon andernorts publizierten) Arbeiten und Projekte zielen aber allesamt auf Erkundungen von Zeichen, Gestaltungsmodi von Texten und Materialitäten, und dies in einer Weise, welche auch die Elemente, Gestaltungsformen und materiellen Beschaffenheiten von Büchern betrifft und einbezieht. Insofern geht es mittelbar mit diesem Buch auch um ‚das Buch‘. Differente Texttypen. Ein erster Teil präsentiert „Statische Texte“ von 1967 und 1968; der Begriff wird einleitend erläutert („Statische Texte sind visuell, stehen der Konkreten Poesie nahe, gehen z. T. jedoch über den vorhandenen Zeichenbestand des Alphabets hinaus. Sie setzen sich mit der Schrift-Sprache auseinander, dem hangover, den die Gutenberg-Kultur mit ihren abstrakten, verarmten Zeichen, ihrem autoritären vonlinks-nach-rechts Lesemechanismus hinterliess.“ Gerz 1971, unpag.). Statische Texte im Sinne Gerz’ zielen auf eine verfremdende und insofern kritische Auseinandersetzung mit Konventionen der Textgestaltung. Pointierend spricht Gerz von einer sich vollziehenden „Handlung“, deren „Ort […] die Papierfläche“ sei (ebd.); das Buch selbst ist demnach ein solcher Handlungsschauplatz. Die gezeigten Statischen Texte bestehen teils aus vergrößerten Teilflächen von Buchstaben, teils aus sequenziellen Beispielen Konkreter Poesie, teils aus Text-Bild-Kombinationen. „Progressionstexte“ bilden einen zweiten Teil der im Buch ausgestellten Arbeiten; auch dieser Begriff wird expliziert; der Akzent liegt auf Dynamik und Prozessualität der Texte („Progressionstexte sind vom-Papier-weg Texte, zu Plätzen-Strassen-Häusern-Menschen-hin Texte und wieder-ins-Papier-zurück Texte. […] Sie konstituieren sich nicht auf dem Papier, finden überall, jederzeit und öffentlich statt. Sie haben unzählige anonyme Autorenleser.“ Ebd.). Wiederum bestimmt Gerz diese Texte über die Beziehung zu ihrem Ort, als welcher nun nicht mehr das Papier, sondern der gesamte öffentliche Raum erscheint. Genau genommen wären damit die folgenden Beispiele die Repräsentanten solcher Gedichte, nicht die Gedichte selbst. Mit einem der „Progressionstexte“, der  

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unter der Ziffer „329“ steht, wendet sich „Das Buch“ selbst an den Leser – respektive die Instanz, die „das Buch“ schreibt: „Wenn Sie die obige Nummer auf einer blauen Karte gefunden haben, so sind Sie Teil des Buches[,] an dem ich schon seit langem schreibe […]/Das Buch“ (ebd.). Die ebenfalls zu den „Progressionstexten“ gehörende Arbeit „Karten“ besteht aus einer Sequenz von Seiten, auf deren oberer und unterer Hälfte kurze Texte in jeweils gleich mehreren Sprachen stehen. Über die Seitenmitte verläuft horizontal eine gestrichelte Linie, die zusammen mit dem von Bastel- und Schnittmusterbögen geläufigen Scherensymbol den Vorschlag impliziert, die Buchseiten dieser Markierung entlang zu zerschneiden, um sich aus dem Buch „Karten“ herzustellen (ebd.). Unter dem Titel „Prozesstexte“, der wiederum mit einer Definition verbunden ist, bietet der dritte Buchteil eine Serie von Dokumentation von Aktionen respektive Prozessen, die durch Fotoserien und Texte repräsentiert werden. („Prozesstexte sind Rekonstitutionen, die nicht am Tatort stattfinden. Sie tragen Spuren, Indizien zusammen (Fotos, Papiere etc.), die erst der Prozess der Rekonstitution lesbar macht. Ihre Funktion ist es, das wiederzugeben, was innerhalb einer Intention, d. h. Anordnung und der dadurch gegebenen Bedingungen, an Raum und Zeit ‚war‘.“ Ebd.) Durch ihre ‚rekonstitutive‘ Darstellung, also erst im Buch, werden sie lesbar. Das erste Projekt „Ein Tag, ein Monat, ein Jahr“ (ebd.) ist ein Papierprojekt, beruht also auf dem Einsatz des Materials, aus dem auch das Buch selbst besteht: Papiere wurden an verschiedenen Orten im Freien platziert, den daraus resultierenden Transformationen ausgesetzt, nach einer bestimmten Frist (einem Tag, einem Monat oder einem Jahr) wieder eingesammelt und aufbewahrt. Ein zweites Projekt, das „Stück für 1, 2, 3, 4“, materialisiert sich im Buch als Handlungsanweisung an vier Gartenarbeiter sowie in Form dokumentierender Fotos (vgl. ebd.). Die letzte Dokumentation gilt streng genommen keinem Projekt, sondern einem Zufallsresultat: Gezeigt werden diverse rätselhafte Luftaufnahmen, begleitet von Bemerkungen über ihre Entstehung, welche, laut Begleittext, erfolgte, ohne dass der Kamerabesitzer dies gemerkt hätte. Wie auch immer die Fotos wirklich entstanden sind – die Darstellung des (tatsächlichen oder simulierten) Aufnahmeprozesses suggeriert ein produktives Geschehen, bei dem sich unabhängig vom menschlichen willensgesteuerten Handeln Dinge ‚selbst‘ bekunden.  





Das Buch als ästhetisches Objekt. Das Buch ist mehr als ein bloßer Repräsentant der drei Kunstformen, die es präsentiert. Denn es ist erstens der Ort, an dem diese durch ihre Definition gleichsam performativ erst selbst hervorgebracht werden oder ihre Genese durch die gegebenen Definitionen doch performativ nachvollzogen wird. Zweitens wird durch die Verwendung von Papier bei Aktionen die Materialität des Buchs selbst ebenfalls in Erinnerung gerufen. Drittens schließlich konzeptualisiert und komponiert Gerz auch und gerade sein Buch als ästhetischen Gegenstand: Die drei Teile rücken nacheinander zunächst die Inhalte von Büchern (vor allem Texte und Buchstaben) in den Blick, dann das Material von Büchern (Papier), dann Aktionen, die sich im Ausgang von schriftlichen Anleitungen ergeben, aber dann auch wieder, angerei-

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chert um ein Stück Welt, ins Buch zurückführen. Das Buch als solches ist für Gerz ein zur Gestaltung einladendes, aber auch ein durch Definitionen ohne weitere Eingriffe selbst zum ‚Kunstwerk‘ deklarierbares Kunstobjekt. Noch vor dem ersten Teil mit den „Statischen Texten“ findet sich, quer über eine Doppelseite gedruckt, ein Zitat Jewgenij Samjatins von 1920, in dem der „Eisenbahn-Fahrplan“, also ein textuelles ready made, als das „grösste aller uns erhaltene[n] Denkmäler der Literatur“ bezeichnet wird. Als Pendant dazu findet sich auf der letzten Buchseite ein kurzer Dialog, in dem die „Frage“ lautet: „Welches von allen Büchern, die du kennst, hättest du am liebsten geschrieben“; die „Antwort“ lautet, dies sei „das Telefonbuch von Paris“. Innerhalb des Buchs findet sich als einer der „Progressionstexte“ eine Seitensequenz mit faksimilierten Seiten aus dem Pariser Telefonbuch, „Das Neue Telefonbuch von Paris“ (ebd.). In einem einleitenden Text wird die Leserschaft eingeladen, die eigene Adresse und Telefonnummer in eine Folge leerer Zeilen einzutragen, sei es um beim Schreiben des „Telefonbuchs von Paris“ zu helfen, sei es auch, um mit anderen Lesern in Verbindung zu treten; Gerz’ Pariser Adresse dient als Schaltstelle. Hier wird das Buch also zum Adressbuch, das der Leser selbst in sein Leben einbeziehen kann. MSE

Abb. E 1/4: Jochen Gerz: Annoncenteil. Arbeiten auf/mit Papier. Neuwied 1971, unpag., Doppelseite.  

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E 1.16 Raymond Federman: Double or Nothing (1971) Raymond Federmans zuerst 1971 erschienenes Buch Double or Nothing. A real fictitious Discourse bietet ein Kompendium visualpoetischer Formen, die im Raum des Buchs eine Geschichte erzählen. Der englische Roman enthält einzelne französische Passagen. Das Motto des Buches stammt von Robert Pinget und verweist auf die Idee, sich in Alternativen auszudrücken: „Ce qui est dit n’est jamais dit puisqu’on peut le dire autrement.“ (Federman 1971) Entsprechend beginnt der Romantext mit der Behauptung, dies sei nicht der Anfang. Konzeptuell prägend für den Roman ist die Verschachtelung der Geschichten verschiedener Personen: Der Erzähler erzählt von einem Mann, der sich entschließt, die Geschichte eines anderen Mannes zu schreiben; dieser andere schließt sich 365 Tage lang in ein Zimmer ein, um die Geschichte eines wiederum anderen Mannes, eines jungen jüdischen Emigranten in Amerika, zu schreiben. Miteinander verflochten finden sich vor allem zwei Handlungsstränge: Den ersten bildet die Geschichte des französischen Einwanderers, die in verschiedenen Städten und Milieus spielt und in deren Zentrum thematisch die Erfahrung des Fremdseins in den USA sowie die Erinnerung an die Judenverfolgung in Frankreich während der NS-Okkupation stehen. Der junge Mann, der seine Eltern und große Teile seiner Familie durch die Nazis verloren hat, ist selbst den Gefahren nur knapp entkommen und durch das Erlebte traumatisiert. Die Handlung um den jungen jüdischen Immigranten bleibt insgesamt skizzenhaft. Manchmal werden alternative Formulierungen nebeneinandergestellt. Die zweite Ebene diegetischer Wirklichkeit ist noch statischer. Der Schriftsteller, der während eines Jahres in selbstauferlegter Klausur die Immigrantengeschichte niederschreiben will, plant seinen Aufenthalt minutiös und in vielfachen Varianten, bleibt allerdings im Planungsstadium stecken, dessen Dokumente weite Teile des Buchs sind. Insbesondere stellt er detaillierte Berechnungen über die benötigten Lebensund sonstigen Verbrauchsmittel an. Typografische und visualpoetische Mittel. Insgesamt verbinden und durchdringen sich narrative und visualpoetische Darstellungsformen. Typografische Textgestaltung und das Seitenlayout ziehen ein Maß an Aufmerksamkeit auf sich, das es schwer macht, sich auf Inhaltliches zu konzentrieren. Eine linear erzählte Geschichte gibt es ohnehin nicht. Denn die dargestellten Ereignisse spielen sich auf gleich mehreren Ebenen der Diegese ab. Obwohl auf diesen verschiedenen Ebenen Verschiedenes abläuft, sind sie doch auch eng miteinander verbunden und durchkreuzen einander. Man könnte vielleicht mit Blick auf die Gesamtkonstruktion des Romans von einer ‚Verräumlichung‘ der dargestellten Zeit sprechen. Auch inhaltlich geht es um Räume und Räumlichkeit. Erzählerisch thematisierte Räume werden durch die typografische Gestaltung gespiegelt, so dass die entsprechenden Buchseiten sowie das Buch als Ganzes ihre eigene ‚Räumlichkeit‘ betonen. Typografisch gestaltet Federman sein Buch äußerst abwechslungsreich. Es enthält Umrissgedichte und andere Ikonogramme,

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Anagramme, Labyrinth-Texte und Permutationstexte. Zum Einsatz kommen unterschiedliche Schrifttypen und Schriftgrößen sowie unterschiedlich gefärbtes Papier. Federman integriert ‚mimetische‘ Umrissgedichte zusammen mit nichtmimetischen (abstrakten) Formen des Visualtextes. In der typografischen Gestaltung des Romans wiederholen sich nicht zuletzt verschiedene Muster des traditionellen Visualtextes: das Ikonogramm, der Labyrinth-Text, das Palindrom, der Permutationstext etc. Die Narration, insgesamt als großangelegtes Visualpoem gestaltet, nimmt ihren Ausgang von einem hypothetischen Zimmer (Federman 1971, S. 1), dem Handlungsraum. Dieser Raum wird typografisch oft durch Umrandung der Buchseite mit Textzeilen dargestellt. Rechtecke lassen wiederholt an Mauern mit dicken Wänden denken. Die typografisch suggerierten Bewegungen laufen alle auf ein Ende zu: Räume haben Mauern, Toilettenpapierrollen gehen zur Neige wie alle anderen Vorräte auch. Mehrfach wiederholt sich die schon im Barock bekannte Form des Sanduhrgedichts. Dies geschieht allerdings auf ironische und ambiguisierende Weise: Federmans Sanduhren könnten auch Nudeln sein. Figuraltexte, die aus einer breiten Zickzacklinie bestehen (ebd., S. 7), erinnern an Bandnudeln; Textflächen mit ausgesparten Rechtecken an andere Nudelformen (ebd., S. 10. 25, 111). Mehrere sanduhrförmige Poeme erinnern an die Zeit und zugleich an Nudeln (vgl. ebd., S. 27). Anschließend an eine Seite, auf der von einer „noodle-map of America“ die Rede ist (ebd., S. 109), findet sich ein typisches Umrissgedicht in Form einer Sanduhr (ebd., S. 110). Dem Verrinnen des Sandes als Sinnbild verrinnender Lebenszeit korrespondiert die Idee zu verzehrender Nudelvorräte.  













Traumata im Spiegel des Buchs. Das einfallsreiche Spiel Federmans mit Typografie und Buchform korrespondiert einem Schrecken, den es in Erinnerung bringt, ohne ihm im Sinne positiver Darstellbarkeit gewachsen zu sein. Ein Kernmotiv in Double or Nothing ist – vermittelt über das Thema des begrenzten Raumes und begrenzter Zeit – der Tod, und zwar nicht nur insofern es um den Holocaust geht, sondern auch in anderen Varianten, etwa als drohender Hungertod. Die Geschichte des sich einsperrenden Schriftstellers liest sich wie das Echo der Geschichte des jungen Juden, der eine traumatisierende Zeit in einem Schrank hinter sich hat. (Die traumatisierende Geschichte seiner Jugend erzählt Federman in noch einem weiteren Buch: A Version of my Life; Federman 1990.) Federman ordnet auch dem Tod ein visuelles Zeichen zu, das Zeichen der Tilgung. Das „X“ steht für die Erinnerung an die „Auslöschung“; es findet sich zusammen mit dem Wort Lager („camps“) und einem Hakenkreuz (ebd., 11.1). Daneben stehen andere makabre visualpoetische Einfälle, die deutlich machen, dass es im Roman wirklich um ‚alles oder nichts‘, Sein oder Nichtsein geht: Ein in stilisierter Form einer Hängelampe gesetzter Text besteht aus den Buchstaben der Wörter „THE CAMPS & THE LAMPSHADES“. Federmans Experiment mit der Beweglichkeit und scheinbaren ‚Freiheit‘ der Buchstaben und Wörter dient auf paradoxe und selbstironische Weise der Darstellung von Gefangenschaft, Begrenztheit und Endlichkeit. Mit scheinbar ludistischen Textgestaltungsverfahren geht es um ‚Alles oder Nichts‘. Krieg und Verfolgung bilden den bedrohlichen und beklemmenden Er 



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fahrungshintergrund des Spiels mit Buchstaben. Dargestellt wird gerade dieses Thema durch eine ostentativ verspielte Kunst, wie um ein Trauma ‚durchzuspielen‘ – und insofern erscheint Federmans Orientierung am Jazz als einer Kunst der Variation musikalischen Materials nur konsequent, ganz abgesehen davon, dass die Musik ja die Zeit-Kunst schlechthin ist. Motive, die Tod und Gewalt assoziieren lassen, verdeutlichen den Ernst des Spiels. MSE  

Abb. E 1/5: Raymond Federman: Double or Nothing. Chicago 1971, unpag., Doppelseite.  

E 1.17 gerhard rühm: MANN und FRAU (1972) Rühms schwarz eingebundenes quadratisches Buch (Rühm 1972) setzt die Idee des Spiel-Raums Buch auf besonders originelle Weise um. Es stellt auf 64 unpaginierten Blättern verschiedene Etappen der Geschichte eines Paares dar. Die Seiten sind vorwiegend weiß, bei gelegentlich wechselnder Papierqualität, vereinzelt schwarz; die gedruckten Zeichen (Buchstabe, Buchstabenfragmente) präsentieren sich weiß auf Schwarz oder schwarz auf Weiß. Im Zusammenspiel von Schwarz und Weiß, Mann und Frau profiliert sich die Idee eines dialektischen Zusammenspiels der Gegensätze

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zweifach. An Konstitution und Verlauf der Geschichte haben neben den Wörtern, die sich auf vielen (nicht auf allen!) Seiten gedruckt finden, die eingesetzten buchgestalterischen Mittel maßgeblichen Anteil. Exemplarisch demonstriert Rühm die Möglichkeiten, die Papierbeschaffenheit, Schriftpositionierungen und -formen, Sequenzenbildungen und andere Komponenten materieller Buchgestaltung bieten, um zwischen Anschaulichkeit und Abstraktion eine Geschichte zu erzählen. Das Buch als Bühnenraum. Das Buch erscheint wie eine Bühne, auf der die Episoden um MANN und FRAU sich zu einem Dramolett zusammensetzen, als ein Papier-Theater aus zwei durch ihre Namen dargestellten Protagonisten und einer Papierkulisse mit diversen szenisch nutzbaren Details, vorn und hinten gerahmt durch den Vorhang einer jeweils schwarzen Seite. Die Interaktion zwischen MANN und FRAU entfaltet sich als Geschichte der Zeichen, aus denen MANN und FRAU bestehen. Zunächst einmal müssen beide auftreten, und dieser Auftritt nimmt als erste Phase des Geschehens einen eigenen Teil des Buchraums ein. Hier durchqueren einzelne schwarze Linien diagonal, vertikal und horizontal die weitgehend nur einseitig (recto) bedruckten Seiten. Nach dem Durchlaufen verschiedener Variationen über diagonale, vertikale und horizontale Linien fügen diese sich sukzessiv allmählich zu Buchstabenformen, und so nimmt (auf grafischen Umwegen) zunächst MANN seine Form an. Auf zwei schwarzen Seiten kommt es zur ersten andeutenden Profilierung dessen, was später als FRAU mitspielen wird: Sichtbar werden Fragmente der Lettern ihres Namens. Nun folgen Seitensequenzen mit Variationen über „MANN UND FRAU“ (zu denen u. a. auch eine Seite mit dem Wort „MUND“ gehört); wie tänzerisch bewegen sich MANN und FRAU aufeinander zu, und MUND könnte für einen Kuss stehen. Doch nach gut einem Drittel des Dramoletts zeichnet sich eine Disharmonie in der Zweierbeziehung ab: Eine Seite, auf der MANN allein steht, ist zerknittert, die folgende (die Reste von MANN zeigt) sogar brutal zerrissen: Mehr als die Hälfte fehlt – und dahinter, auf der folgenden Seite also, sieht man Seite FRAU allein. Auf einer Serie von Seiten, auf denen nur raumbezogene Präpositionen zu lesen sind („auf, gegen, von, unter, zu“), scheinen Positionierungen der Figuren durchgespielt zu werden, bis schließlich das zentrale Wort „gegen“ durch ein „füreinander“ ersetzt wird.  



Das Leben der Textfiguren. In der folgenden Phase ‚leben‘ MANN und FRAU nebenund in höherem Maße ‚unabhängig‘ voneinander, und dies ganz konkret: die 13 (!) Buchseiten dieses Abschnittes sind in der Mitte vertikal so eingeschnitten, dass die MANN-Hälfte (oben) und die FRAU-Hälfte (unten) separat umgeblättert werden können. Die auf die MANN- und die FRAU-Halbseite jeweils folgenden Halbseitenblöcke, hier stets beidseitig bedruckt, konstituieren zwei parallele, aber getrennte ‚Lebensbücher‘, auf denen Verben und Adjektive Phasen eines Geschehens und wechselnde Befindlichkeiten andeuten. Schließlich stehen FRAU (nun oben) und MANN (nun unten) wieder auf einem gemeinsamen, ungeteilten Blatt.

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Eine letzte Phase des Buch-Dramoletts repräsentiert durch verbale und buchgestalterische Mittel Aspekte eines Zusammenlebens, beginnend mit einer semitransparenten Seite mit dem Aufdruck FRAU, deren Positionierung vor bzw. über der Folgeseite mit MANN das Paar simultan zeigt – einander optisch überlagernd. Eine Phase verbaler Auseinandersetzung folgt („alle fragen/wer was welcher woran worauf […]“). Dann sieht man zwei in der Mitte von einer Knicklinie durchzogene, aber geglättete Seiten, die eine mit einem NEIN, die andere mit einem JA bedruckt; geht es um den Fortbestand der Beziehung? „vereint solange du willst“ steht klein, aber programmatisch auf der nächsten Seite. Die beiden danach die Geschichte beendenden Blätter bieten ein kleines erotisches Extra: Durch zwei horizontale Einschnitte vom rechten Rand bis in die Blattmitte hat die obere (bzw. vordere) Seite in ihrer rechten Hälfte drei Laschen erhalten, die sich separat bewegen lassen. Die darunter liegende Seite ist durch einen Einschnitt in der Seitenmitte ein Stück weit vertikalen gespalten worden. Die Spalt-Länge entspricht genau der Breite der mittleren Lasche des darauf liegenden Blattes. Diese mittlere Lasche des oberen Blattes nun wurde in den Schlitz des darunter liegenden Blattes gesteckt: Rühm arrangiert einen Koitus zweier Buchseiten. Danach fällt, in Gestalt einer schwarzen Seite der Vorhang. Rühm hat das hier inszenierte Wort- und Zeichentheater als „Summe seiner Arbeit an der konkreten Poesie“ bezeichnet (vgl. dazu den Paratext auf der letzten Seite). Auf der Rückseite des Buchs findet sich ein Paratext, der, einem Theaterzettel vergleichbar, im Zeichen einer skizzierten Poetik semantisierter Materialitäten umschreibt und interpretiert, womit es der Betrachter dieses Buchs zu tun hat. Die Geschichte von MANN und FRAU wird hier pointierend als ein Sprachgeschehen charakterisiert, die performative Dimension vor allem der Wörter betont.  

‚der MANN bittet die FRAU bittet den MANN nun sind wir bereit‘ Mann und Frau – ein Prinzip wird durchgespielt, zu Anfang aus den Schriftzeichen entwickelt, mit Buchstaben eingeübt, mit Wörtern verändert, scheinbar in die Irre geschickt, wieder eingefangen, vieldeutig gemacht, durchsichtig gemacht, undurchsichtig gelassen, rückgängig gemacht und schließlich ganz dem Leser überlassen.  

Mann und Frau – ein Prinzip erzeugt spielend einen Spannungszustand, der Netze von Zeichen, Buchstaben, Wörtern, Begriffen sich aufbauen läßt und wieder zurücknimmt; ein System von Adjektiven wird gegen ein System von Verben ausgespielt, Widersprüche werden zu Übereinstimmungen, Übereinstimmungen bleiben widersprüchlich, Überlagerungen und Kombinationen – der dialektische Prozeß greift das Buch selbst an.  



Mann und Frau – ein Prinzip reißt ins Buch ein, beschädigt Seiten, reißt sie mittendurch, halbiert sie, macht Papier transparent, verändert die Oberfläche und läßt dem Leser mehr Freiheit als üblich. (Ebd., Paratext auf der Rückseite)  

Gestaltungsverfahren. Die Herstellung des Buchs ist teils manuell erfolgt; so erforderten die zerknitterte und die zerrissene Seite jeweils vor der Bindung der Exemplare entsprechende Bearbeitungen. Auch der Papier-‚Koitus‘ am Buchende musste ma-

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nuell inszeniert werden. Letztlich ist, bedingt durch die individuellen Resultate des Zerknitterns und Zerreißens einzelner Seiten, jedes Exemplar ein Unikat. Insofern illustriert das Buch auch die individualisierenden Potenziale einer Buchgestaltung, die sich als konkrete Material-Bearbeitung versteht. Dass künstlerische Gestaltung und Buchbeschädigung nicht immer zu unterscheiden sind, wird durch Zerknitterung und Zerreißung besonders unterstrichen. Auf dem Vorsatzblatt des Exemplars der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf steht handschriftlich der bibliothekarische Vermerk: „[Nicht defekt, sondern Kunst]“. MSE

E 1.18 Italo Calvino: Il castello dei destini incrociati (1973) Calvino hat zwei Zyklen mit Erzählungen verfasst, deren Inhalte sich auf ausgelegte Karten eines Tarockspiels beziehen: Il castello dei destini incrociati und La taverna dei destini incrociati folgen insofern demselben Konstruktionsprinzip (ein dritter Zyklus war zeitweise geplant), beziehen sich nur auf unterschiedliche historische TarockKartendecks. Beide Zyklen zitieren durch ihre Form die Tradition der renaissancistischen Novellenzyklen an, insbesondere den Decamerone von Giovanni Boccaccio. Auch hier gibt es eine Rahmengeschichte – die des Zusammentreffens einer Reihe von Personen an einem abgelegenen Ort – und hierin eingefügt eine Sequenz von Binnengeschichten. Die Rahmengeschichten der beiden Zyklen Calvinos bieten fiktionale Erläuterungen zu dem, was in den Binnengeschichten erzählt wird und wie es erzählt wird: In einem Schloss bzw. in einer Taverne treffen stumme Figuren zusammen, die zur Darstellung ihrer jeweiligen Geschichte Kartenreihen auslegen, welche der ebenfalls anwesende Rahmenerzähler dann (hypothetisch) in geschriebene Geschichten übersetzt. Da alle auf denselben Satz von (unterschiedlich semantisierbaren) Karten zurückgreifen, ergibt sich ein Netzwerk von Geschichten mit Kreuzungspunkten bei den gemeinsam genutzten Karten. Kleine Reproduktionen der Tarockkarten begleiten die einzelnen Erzählungen; am Ende der Zyklen findet sich das patienceartig ausgebreitete Gesamt-Kartentableau abgebildet.  



Kombinatorik als ästhetisches Verfahren. Durch dieses buchgestalterische Mittel wird die metaliterarische Thematik der Zyklen visualisiert: die Idee einer kombinatorischen Textproduktion, die einer Vernetzung aller Erzählungen untereinander (was nicht auf gemeinsame Erfahrungen, sondern auf gemeinsam genutzte Zeichen und Geschichtenbausteine zurückgeführt wird) sowie die Idee eines visuellen Erzählens anstelle mündlicher Artikulation. Eine Poetik des kombinatorischen Erzählens hatte Calvino in seinem Essay Cibernetica e fantasmi skizziert. Deutlich wird schon dort, dass es mit dem Durchspielen kombinatorischer Möglichkeiten der Reihung von Erzähl-Bausteinen nicht nur um die Produktion einer möglichst großen (endlichen) Zahl von Geschichten geht, sondern um die Öffnung des Verfahrens selbst für eine uner-

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messliche Fülle von Erzähloptionen sowie für eine Annäherung an Ungesagtes und Unsagbares. Die abgebildeten Tarock-Karten können unter anderem als eine Art von Schriftzeichen betrachtet werden, deren endliche Zahl erstens eine unausschöpfbare Fülle an Kombinationsmöglichkeiten eröffnet, wobei die Bedeutungsoptionen der entstehenden Texte durch die unbestimmte Zahl der Deutungsmöglichkeiten dieser Kombinationen letztlich bis ins Unendliche erweitert werden. Sinnbild des Buchs ist der Tisch, auf dem die Karten ausgebreitet werden. Reihen, die einmal ausliegen, werden nicht verändert. Aber jeder, der nach einer Ausdrucksform seiner eigenen (noch) unerzählten Geschichte sucht, kann die bestehenden Reihen ergänzen, bis der verfügbare Raum ausgefüllt ist. Dann ist das Spiel aber nicht zu Ende, sondern nun beginnt das Spiel der Interpretationen, in deren Verlauf sich die Bedeutungen der ausgelegten Reihen immer wieder modifizieren können. Gleichnis der produktiven Lektüre ist vor allem das Kartenlesen; über diese mantische Praxis besteht eine Beziehung zu Formen der Konsultation von Buchorakeln. MSE

E 1.19 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke – Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (1979)  

Rolf Dieter Brinkmanns literarisches Œuvre ist durch mehrere charakteristische Eigenarten geprägt, so insbesondere durch die betonte Subjektivität seiner Texte, deren Affinitäten zu Polemik und Konventionsbruch, sowie durch die Erkundung neuartiger Darstellungs- und Präsentationsformen; hierbei kommen unterschiedliche Bildmedien sowie gesammeltes Druckmaterial aus Presse, Reklame und privaten Nutzungskontexten zum Einsatz. Brinkmann sammelt Material und inszeniert damit seine Bücher, rekurriert auf Populärkulturelles und bricht Tabus. Die Collageästhetik diverser Buchpublikationen oszilliert zwischen der Parteinahme für das Nicht-Kanonisierte, Subkulturelle, Ephemere – und dem Protest gegen eine kulturfeindliche Konsumgesellschaft, welche ständig realen und ideologischen Müll produziert. Rom, Blicke entstand zwischen dem 14. Oktober 1972 und dem 9. Januar 1973 in Form von 448 Din-A4-Seiten, die nur teilweise paginiert und in Hefte geordnet wurden. Brinkmann war zur Zeit der Niederschrift Stipendiat der Villa Massimo in Rom; die Texte sind in Form von Briefen und tagebuchartigen Notizen verfasst, die Briefe zum überwiegenden Teil an seine Frau Maleen in Köln gerichtet. Brinkmanns Haltung zu seinem Romaufenthalt, der sich in Rom, Blicke wie in einem Diarium oder Scrapbook bespiegelt findet, war gespalten: Er konnte das Geld und wohl auch das Renommee gut gebrauchen, das mit dem Stipendiatenaufenthalt verbunden war, sah in der staatlich geförderten und nach festgelegten Regeln bewirtschafteten Institution aber auch einen Teil des kulturellen Establishments, das er verachtete, und des staatsbürgerlichen Ordnungs 





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sinns, der ihm tief suspekt war. Kritisch begegnet er auch klischeehaft-idealisierenden Vorstellungen über Italien. Rom erscheint ihm vor allem schmutzig, heruntergekommen und chaotisch, und in die Stipendiatengruppe integriert er sich nicht. Die Buchveröffentlichung von Rom, Blicke enthält einen gesetzten Text, der sich dem Originaltyposkript Brinkmanns anzunähern versucht. Brinkmann hatte seine Textseiten in drei Hefte eingeordnet, die Texte und collagierte Bildmaterialien enthielten, die maschinenschriftlichen Durchschläge von Briefen, ferner Tagebucheinträge sowie Postkarten und fotokopierte Postkarten, selbstgemachte Fotos, Stadtpläne und fotokopierte Stadtpläne oder Plan-Auszüge, handschriftliche topografische Skizzen, ferner einzelne andere bedruckte Materialien, Quittungen, Fundstücke, Auszüge aus gelesenen Texten. Nur Tippfehler und andere Flüchtigkeiten wurden für die Druckausgabe korrigiert, juristisch anfechtbare Einzelpassagen in geringem Umfang eliminiert. Immer wieder werden Räume und Landschaften dargestellt. Ein neuer Blick auf die Welt und seine Umsetzung in Heften. Rom, Blicke repräsentiert durch seine Sprache wie durch seine Form einen neuen Blick auf Rom als für die europäische Geschichte, Kultur, Kunst und Literatur prägende Metropole. Der Wahrnehmungsprozess als solcher wird stets mitreflektiert. Ein dominantes Motiv ist das der Fragmentierung, das in allen Foto-und-Text-Büchern Brinkmanns prägend erscheint und in Brinkmanns Buch Schnitte (Brinkmann 1988) sogar im Titel bereits anklingt. Brinkmann sammelt, notiert, dokumentiert Einzelnes in seiner Vereinzelung. Explizit reflektiert er über die Zerrissenheit aller Dinge, die vorzugsweise in Zuständen des Übergangs, des Verfalls, der Verrottung registriert werden. So erscheint der Park der Villa Massimo nicht als idyllischer und vergangenheitsgesättigter Ort, sondern als Sammelsurium heterogener und fragmentierter Relikte.15 In der Umgebung der Villa wie bei seinen Streifzügen durch Rom und durch die Umgebung der Stadt vergleicht Brinkmann als Sammler von Momentaufnahmen und Bruchstücken seine Fundstücke immer wieder mit klischeehaften Vorstellungen. Der Umgang der Zeitgenossen mit ihrer Umwelt steht im Zeichen der Zerstörung. Das Buch selbst – zusammengeklebt aus Notizen, die vom Verlauf der Zeit sprechen, aus Fundstücken, Momentaufnahmen, disparaten Elementen, aus Alltagsbildern und sprachlichen Fundstücken, aus Skizzen und Protokollierungsversuchen – wird zum subjektiven Protokoll von Brinkmanns Erfahrungen der fraglichen Zeit. Komplementär zum Bedürfnis, Verfalls- und Vernutzungsprozesse darzustellen und in der Buchgestalt möglichst konkret zu ver 



15 „Aus dem Mauergeranke der Villa blickt ein deutscher Kaiser Wilhelm auf römische Büsten-Art mit Orden. Im Park überall verstümmelte Figuren, der einen fehlen Arme, die hat statt eines Kopfes nur ein rostiges Stahlrohr, das aus dem Hals kommt, abgeschlagene Nasen, herausgehauene Augen, zerfressene Rümpfe, durchgesägte Körper, einem sind die Oberschenkel an die Hüfte geklammert mit rostigen Klammern, auszementierte Pinien, am zerfallenen Eingang zur Villa zwei kleine römische Kindersärge […] hinter dem Atelier quäkende Kinder und widerliches Plastikspielzeug […].“ Brinkmann 1987, S. 33.  

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anschaulichen, stellt sich der Wunsch ein, zeitenthobene Momente zu fixieren und der trivialen und hässlichen Alltagswelt ein Stück heiler Umwelt gegenüberzustellen. In seiner Räumlichkeit machen seine Aufzeichnungen mit ihren vielen eingeklebten Materialien sinnfällig, wie die Sedimente der Geschichte den Erfahrungsraum des Menschen prägen. Dass schon die romantischen Autoren und Künstler die Landschaft um Rom keineswegs idealisierten, sondern als sonderbar, befremdlich und abweisend registrierten, wird explizit registriert (vgl. den Eintrag über Olevano Romano, 1. Jan. 1973, Brinkmann 1987, S. 429f.). Und Brinkmann erinnert an die Modellierung der Beziehung zwischen verlassenem und machtlosem Menschen angesichts fremder und von ihrer Zeitlichkeit gezeichneter Landschaften bei C. D. Friedrich, als dessen Erbe er sich mit seinem Landschafts-Bilderbuch erweist (ebd., S. 430). Mit seiner pointierten Deutung der romantischen Malerei spricht Brinkmann nicht zuletzt über das eigene Werk (ebd., S. 431). MSE  











E 1.20 Italo Calvino: Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) Calvinos Winternachtroman ist in mehrerlei Hinsicht formal unkonventionell: Als Protagonist agiert eine Leserfigur, nur „Leser“, italienisch: „lettore“, genannt. Das durch diese rein funktionale Benennung dem realen Leser spielerisch gemachte Identifikationsangebot wird besonders dadurch verstärkt, dass vom „Leser“ in der zweiten Person Singular die Rede ist, sich ein ‚Leser‘ also angesprochen fühlen kann. Die Struktur des Romans, der sich in eine Rahmengeschichte, nämlich die des „Lesers“, und zehn von diesem gelesene Binnengeschichten gliedert, erinnert an Erzählungszyklen wie etwa Boccaccios Decamerone und die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht (auf die auch explizit angespielt wird). Sie unterscheidet sich von diesen aber dadurch, dass die Binnengeschichten stets fortsetzungslos abbrechen (während sie in den Tausendundeine-Nacht-Erzählungen zwar unterbrochen, dann aber fortgesetzt werden): Der „Leser“ bekommt immer nur Fragmente seiner Lektüren zu sehen, und die um ihn kreisende Handlung steht insgesamt im Zeichen der Suche nach den Fortsetzungen der angefangenen Romane. Die fragmentarischen Texte, die der „Leser“ auf verschiedenen Wegen in die Hand bekommt, repräsentieren unterschiedliche Romangenres. Als Gefährtin des „Lesers“ tauscht sich eine „Leserin“ mit ihm über die Lektüren sowie über Literatur und Lesen als solches aus. Der reale Leser teilt mit dem buchinternen „Leser“ nicht nur die Erfahrung, dass begonnene Texte immer wieder abbrechen; eine weitere Klammer bildet der Einfall, den „Leser“ eingangs nach Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore suchen und ihn am Romanende zu Ende lesen zu lassen (in einem kurzen XII. Kapitel, das Leser und Leserin zusammen im Bett – ital.: „nel letto“ – zeigt). Wie spielerisch und katalogartig unterbreitete Identifikationsangebote wirken auch kurz vor Romanende vorgestellte Modelle des Lesens, die von einer Gruppe von Lesern in einer Bibliothek skizziert werden (Kap. XI).  







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Ein metaliterarischer Roman. Se una notte d’inverno un viaggiatore eröffnet als ein insgesamt metaliterarischer Roman diverse Perspektiven auf das Buch. Die Figuren, mit denen der Protagonist auf den Stationen seiner Suche nach den Romanen zusammentrifft, repräsentieren insgesamt unterschiedliche Aspekte des Umgangs mit sowie der Produktion und der Rezeption von Büchern. Anteil an der Buchproduktion haben neben Schriftstellern auch Übersetzer, Verlagslektoren, Literaturagenten, Drucker und Buchbinder (was unter anderem dadurch betont wird, dass all diese Instanzen Fehler begehen können, die dann der Buchproduktion schaden). Die Buchrezeption wird durch Leser und Leserinnen, akademische und andere Rezipienten, durch Buchhändler sowie durch einen Buchobjekthersteller repräsentiert, wobei letzterer die Bücher gerade nicht liest, sondern zu Kunstobjekten weiterverarbeitet. Durch die dabei praktizierten Verfahren (etwa das Eingießen von Büchern in fixierende Substanzen) gerät die Materialität des Buchs in den Blick – aber auch und vor allem durch die technischen Fehler, die beim Drucken und Binden von Buchauflagen unterlaufen und mehrmals daran schuld sind, dass der „Leser“ auf defekte, fragmentarische Romanausgaben trifft. Lücken und Brüche im Text machen auf die Materialität der Textträger besonders aufmerksam, erscheinen aber nicht einseitig als Störfaktoren, sondern stimulieren manchmal die Phantasie. Thematisiert werden zudem die verschiedenen Phasen, in denen ein Text sich vom Manuskript bis zum fertigen Buch materialisieren kann, sowie verschiedene Formen der sinnlichen Affektion durch Bücher. Mit der Homonymie zwischen dem ‚Buch‘ qua Gegenstand der Lektüre (also im Sinne von ‚Text‘) und dem ‚Buch‘ qua physischem Objekt wird kontinuierlich gespielt. Die unterschiedlichen, teils widerstreitenden Lesemodelle der Bibliotheksbesucher in Kapitel XI deuten jedoch an, dass sich die zuvor thematisierte Vielfalt an Erscheinungsformen des (physischen) Buches noch potenzieren lässt, wenn ‚Bücher‘ auf unterschiedliche Weisen gelesen werden. Auf das konkrete Buch, das der reale Leser in seinen Händen hält, eröffnet der Roman mit seinen Beschreibungen von Büchern und seinen Reflexionen über den Umgang mit Büchern immer wieder Perspektiven. Dies gilt für die Wahrnehmung der Unstetigkeitsstellen und die Suche nach Zusammenhängen ebenso wie für die vielen Hinweise auf die materiellen und medialen Rahmenbedingungen, unter denen Bücher entstehen und unter denen sie gelesen bzw. genutzt werden. MSE  

E 1.21 Umberto Eco: Il nome della rosa (1980) Umberto Ecos erster Roman Il nome della rosa ist breit rezipiert und oft interpretiert worden. Er wurde im Bereich der ambitionierten wie auch der Unterhaltungsliteratur zum impulsgebenden Muster für zahlreiche im Mittelalter bzw. an der Schwelle zur Neuzeit spielende Romane. Literaturwissenschaftler und -theoretiker diskutierten ihn insbesondere als einen Musterfall literarischer Intertextualität und als einen Beitrag zum Intertextualitätsdiskurs selbst (vgl. Eco 1984a, S. 43; 1984b, S. 28), ferner auch als  



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einen Roman über Zeichen, Interpretation und Prozesse der (Re-)Konstruktion von Bedeutung sowie als literarische Parabel über Erkenntnismodelle und -prozesse; zahlreiche weitere Zugänge wären zu nennen. Buchstrukturierung. Für die buchgestalterische Ebene des Romans (als eine wichtige Komponente des intentional produzierten Werks selbst) ist die bereits am Inhaltsverzeichnis ablesbare Grobgliederung in die Zeitphasen des klösterlichen Tagesablaufs wichtig. Die für diesen prägende Siebenzahl entspricht zum einen der im Roman selbst erörterten Idee einer nach Maß, Zahl und Proportion geordneten Welt (sieben Wochentage, sieben Schöpfungstage), entspricht aber auch der Zahl der Mönche, die während der Romanhandlung gewaltsam zu Tode kommen. Eine Schemazeichnung des Grundrisses von Klosteranlage (Eco 1980, unpag.; in der dt. Ausgabe auf der Innenseite des Bucheinbandes) und Bibliothek (vgl. ebd., S. 323) erleichtert dem Leser, sich den Schauplatz vorzustellen; die Schemazeichnung der Bibliothek als Labyrinth visualisiert dabei prägnant nicht allein das mittelalterliche Weltbild, sondern auch den Rätselcharakter des vom Detektiv-Protagonisten zu lösenden Falles. Auch eine Zeile in kryptografischer Verschlüsselung (vgl. ebd., S. 170) lässt den Leser am Rätsel teilhaben, dem sich die Hauptfiguren widmen. Die von Eco nachträglich verfassten Nachschriften zum Roman (Postille) bieten dann weiteres Bildmaterial, das zwar nur zum Paratext des Romans gehört, aber dessen Rezeption doch begleitet, vor allem, wenn die Nachschrift als Appendix des Romans selbst im selben Buch abgedruckt erscheint. Zusammen mit einer Art Mittelaltermode in der Unterhaltungsliteratur hat auch der Einsatz scheinbar oder tatsächlich historischer Bildelemente und ‚Dokumente‘ nach dem Erfolg von Ecos Roman weite Verbreitung gefunden. Buchgestalterisch signifikant sind auch weitere, (teils aus der älteren Geschichte des Buchdrucks vertraute) typografische und paratextuelle Mittel, etwa die Form des Inhaltsverzeichnisses und die Markierung der zahlreichen Zitate durch Kursivsatz, die in unterschiedlichen Romanausgaben zwar nicht immer genau gleich aussieht, aber doch einer gemeinsamen Regel folgt. Die ‚Polyphonie‘ des Romans auf der Ebene seiner Intertextualität sowie auf der Ebene der fingierten Figuren erhält ein visuelles Pendant im Einsatz ausdifferenzierter textgrafischer Mittel.  



Ein Roman über Bücher. Inhaltlich wendet sich der Roman in mehrfacher Hinsicht nicht allein einer historischen Buchkultur, sondern auch konkret-materiellen und gestalterischen Aspekten des Buchs zu, vor allem des Kodex, aber auch seiner Vorläufer. Die Produktion illuminierter Bücher spielt eine handlungstragende Rolle; die Bestände der fiktiven Bibliothek werden zum Anlass der Schilderung verschiedener Buchtypen, ihrer Materialien, ihrer Bebilderung, ihres Schriftbildes und der Konstitution der Texte auf der Basis differenter Schriftsysteme. Thematisiert werden vielfältige Aspekte und Facetten der Buchgeschichte seit ihrer Frühzeit: Spielformen der Materialität und der Funktion, der Produktion und der Nutzung von Büchern. Die Suche nach einem bestimmten (in Anlehnung an Historisches fingierten) Buch, dessen Aussehen und

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Materialität dabei eine wichtige Rolle spielen, ist für die Romanhandlung konstitutiv und fungiert hier als Auslöser diverser Teilhandlungen. Auch die mehrschichtige Rahmengeschichte der Romanerzählung ist eine Geschichte des Umgangs mit Büchern – und bietet mehrfache Anlässe zur Thematisierung von Form, Gestalt, Materialität und Nutzung differenter Bücher. Der Vorredner berichtet von einem gefundenen Buch als dem Auslöser alles Folgenden. Der Haupterzähler Adso von Melk hat seinen Erzählerbericht der Fiktion zufolge auf der Grundlage gesammelter Relikte aus der niedergebrannten Klosterbibliothek verfasst, deren Schilderung implizit einmal mehr auf Buchmaterielles verweist, vor allem auf die Vergänglichkeit dieser Materialien und auf Prozesse der Vernichtung und Fragmentierung. Die in der Vorrede geschilderte weitere (fiktionale) Geschichte von Adsos Manuskript und den verschiedenen Transformationen seines Textes in Übersetzungen und in gedruckte Ausgaben ist ebenfalls ein modellhafter Beitrag zu einem fast lehrbuchartigen Durchgang durch die Geschichte des Buchs, des Drucks und diverser buchbezogener und buchbasierter Praktiken. Kopisten und Kompilatoren, Übersetzer und Setzer, Herausgeber und Leser sind die Akteure dieser Rahmengeschichte, die sich insgesamt als Buch-Geschichte im mehrfachen Sinn präsentiert. Philologie ist, wie auch die Protagonistenfigur des Guglielmo de Baskerville bestätigt, von der Antike bis zur Gegenwart des rahmenden Herausgeberberichts auf prägende Weise Buch-Philologie gewesen, die Geschichte des Lesens eine Geschichte des Bücherlesens, die der Produktion von Wissen und von Kunst immer auch die der Produktion von Büchern. Durch seine ostentativ intertextuelle Faktur erinnert der Roman daran, dass er selbst – und dies gilt unbeschadet der Fiktionalität der angeblichen Kompilationsgeschichte Adsos nach dem Bibliotheksbrand – ein großangelegtes Kompilationswerk ist, entstanden aus (buchstäblich und im übertragenen Sinn) angehäuften und miteinander verbundenen Arbeitsmaterialien. Er spiegelt sich zudem auch in jenem (fingierten) Büchlein, das, zusammengesetzt aus Heterogenem, neben ganz anderen Textseiten auch die des zweiten Buchs der Aristotelischen Poetik enthält (vgl. Eco 1980, S. 442; die Aristoteles-Handschrift ist Teil eines ‚liber acephalus‘, eines ‚kopflosen‘, nichtbetitelten Kodex, der noch andere Texte verschiedener Kultur- und Sprachräume enthält, einen arabischen Text über Narrensprüche, einen syrischen Text aus Ägypten sowie den Kommentar Magister Alcofribas zur ‚Coena Cypriani‘; dieser Name enthält eine Anspielung auf François Rabelais und einen bei diesem auftauchenden (anagrammatisch auf den Autor deutenden) Namen).  







Poetik des Buchs. Ecos Poetik profiliert sich maßgeblich in der Schilderung jener vom Buchilluminator Adelmo gestalteten Bilder an den Rändern von Manuskripten, die Eco in Anlehnung an reale Produkte mittelalterlicher Buchkunst schildert (vgl. ebd., S. 84): Marginale, monströse und karnevaleske Figuren repräsentieren die Subversivität eines Gegendiskurses zum autoritären Diskurs der herrschenden Ideologie – und stehen damit metonymisch für die autoritätskritischen, inventiven und autonomen Potenziale der Kunst. Die Aufteilung des Romans in sieben Teile verweist auf die  



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‚architektonische‘ Dimension der literarischen Arbeit, welche sich stets auch in der Architektur des Kodex niederschlägt. Insgesamt macht der Roman auf ‚das Buch‘ in den verschiedenen Auslegungsoptionen dieses Terminus aufmerksam – im Sinn des Buchs als physisches Objekt, als Behälter von Texten und Bildern, als Raum einander begegnender Texte, Diskurse, Schriftsysteme und Sprachen, als Metonymie einer Buchkultur und nicht zuletzt als Metonymie der Literatur. Dazu eingesetzt werden, bilanzierend gesagt, narrative und deskriptive textgestalterische Mittel, typografische und buchgestalterische Mittel – sowie zahlreiche Anspielungen auf die Geschichte der Buchmetaphorik, insbesondere auf die der Metapher vom ‚Buch der Welt‘ bzw. vom ‚Buch der Natur‘. Als ein Roman, der sich konsequent mit ‚Buchhaftigkeit‘ (auch, aber nicht nur der eigenen) auseinandersetzt, tritt Il nome della rosa neben das Künstlerbuch, insofern es durch seine Akzentuierung von bookness geprägt ist. Il nome della rosa als Roman über das ‚Buch‘ in der ganzen Breite des Spektrums, den dieser Terminus haben kann, setzt in Ecos Romanwerk einen Anfangspunkt für mehrere weitere seiner Romane. Hier werden andere, tendenziell zahlreichere grafische Elemente einbezogen (vgl. unten den Artikel über La misteriosa fiamma della regina Loana, Teil E 1.33), bereits verwendete buchgestalterische Mittel (wie die Typografie) weiter ausdifferenziert, neue Formen der Bucharchitektur ausprobiert. Auch wenn in diesen Romanen teils andere Medien ins thematische Zentrum rücken (wie etwa Produkte der Massenpresse, Zeitungen, Flugblätter, Comics, Alltags- und Unterhaltungslektüren), bleiben das Buch als deren Pendant, seine Gestaltungsoptionen und Nutzungsformen doch stets ein signifikanter Bezugspunkt. MSE  



E 1.22 Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie (1980) Roland Barthes’ zwischen Erzählung und Essay changierendes Buch La chambre claire (1980) ist vor allem im Kontext theoretischer Reflexion über die Fotografie intensiv rezipiert und interpretiert worden (vgl. Wolf 2002; Amelunxen 1995), aber auch mit Blick auf seinen impulsgebenden Beitrag zur Geschichte der neueren Literatur, insbesondere des literarischen Foto-Textes (vgl. Steinaecker 2007). Der Text selbst ist unter anderem als literarisches Werk verstanden worden (vgl. Iversen 2002). Die romanhafte Erfindung der Fotografie solle, so M. Iversen, dazu dienen, den Tod erzählbar zu machen; kein anderes Medium liege für Barthes so nahe (vgl. ebd., S. 108, 109).  



Ein Buch mit und über Fotos. La chambre claire enthält einen Text und eine Reihe reproduzierter älterer Fotografien, die in lockerer Folge über den Text verteilt sind und meist im Text kommentiert werden. Bei diesen Fotos handelt es sich weitgehend um Arbeiten bekannter Fotokünstler des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Bilder wären (obgleich der Text auf sie Bezug nimmt) als ‚Illustrationen‘ inadäquat beschrieben,  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

bedingt schon durch eine zentrale Thematik des Textes, der von der Subjektivität der Beziehung des Erzählers zu Fotos handelt, die sich wegen ihrer Besonderheit per se eben nicht verallgemeinern, nicht durch Illustrationen ‚belegen‘ lässt. Das Buch bietet ein Arrangement aus Text und Bildern, bei dem diese aus ihrem Spannungsbezug heraus wahrgenommen werden müssen. Der Text selbst entwirft trotz seiner Anschlussstellen an medien-, kultur- und insbesondere fototheoretische Diskurse keine Foto-Theorie im eigentlichen Sinn, sondern weist in mehrerlei Hinsicht literarische Züge auf. In ein Rahmennarrativ (das der Auseinandersetzung mit dem kurz vor der Niederschrift erfolgten Tod der Mutter) eingebettet, enthält er wiederholt im engeren Sinn erzählende und memoriale Passagen, ist geprägt durch eine literaturaffine Sprache und insbesondere durch eine gewollt subjektive Sprech- und Darstellungsperspektive. Im Text verwendete Termini wie ‚studium‘ und ‚punctum‘ ähneln zwar disziplinären Fachbegriffen, werden aber als Produkte eines im Ansatz doch subjektiv-besonderen Zugangs zu fotografischen Bildern ausgewiesen – und dienen auch primär dazu, über eben diesen besonderen Zugang zu schreiben, der die Frage der Verallgemeinerbarkeit von Eindrücken, Empfindungen und Wünschen als solche und grundsätzlich offenlässt. Laut Rahmenerzählung in einer bestimmten lebensgeschichtlichen Situation betrachtet und kommentiert (eben nach dem rezenten Verlust der Mutter und beim Betrachten von Fotos), stammen die im Buch verwendeten Fotos zwar gerade nicht aus einer Sammlung mit exklusiv-privaten Fotos aus den Beständen der Familie Barthes und sind schon gar nicht vom Autor selbst aufgenommen worden, haben aber als Katalysatoren der Reflexion des Schreibenden über sich selbst und seine Besonderheit aber immerhin doch vergleichbare Funktionen wie ‚private‘ Bilder.  

Das Arrangement des Buchs. Ein Album und seine Leerstellen. La chambre claire ist nicht nur mit Blick auf die Geschichte der Reflexion über Fotografie, sondern auch als Beitrag zur Buch-Literatur des späten 20. Jahrhunderts signifikant und wurde für viele literarische Autoren zum entsprechenden Impulsgeber. Barthes hebt an anderer Stelle das Format des „Albums“ als Leitvorstellung seines Schreibens gegen das des Kodex ab, weil es, anders als das fertige Buch, offener für Gestaltungsoptionen des jeweils besonderen Nutzers ist (Barthes 2003, S. 246f.). Das Buch La chambre claire ist zwar in seiner Architektur für den Rezipienten nicht mehr gestaltungsflexibel, verweist durch sein Arrangement aber auf die Subjektivität und die Kontingenzen, die sein Arrangement prägten, auf die Besonderheit seines Anlasses und der Motive, die es geprägt haben. Die Heterogenität der jeweils nach subjektiven Kriterien ausgewählten Fotos verleiht dem Buch weitere Ähnlichkeit mit einem (Sammler-)Album, wenn auch mit einem abgeschlossenen und nicht dem, was in Die Vorbereitung des Romans mit „Album“ gemeint ist. Die Bedeutung des Buchs als Raum eines Arrangements aus Textabschnitten und Fotos wird vor allem anlässlich des Umstandes sichtbar, dass der Text schließlich auf ein bestimmtes Foto besonderen Akzent legt, welches der Erzähler in seinen privaten Bilderbeständen gefunden hat, das er aber im Buch gerade  



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nicht zeigt. Ausgelöst durch den Tod der Mutter, kulminiert die Beschäftigung mit Fotografien laut Erzähltext im Moment der Auffindung einer Aufnahme der Mutter, auf welcher der Erzähler das Wesen der Verstorbenen wiedererkennt – ein Wesen, das offenbar nicht an ein altersspezifisches Erscheinungsbild gebunden ist, denn es handelt sich um eine Aufnahme der Mutter als kleines Mädchen. Wie zur Betonung der Subjektivität des jeweiligen Bezugs zu manchen Fotografien – einer Subjektivität, die sich nicht durch codierte Zeichen vermitteln lässt – enthält der Erzähler dem Leser das Bild vor, auf dem letzterer aber ohnehin ja nicht sehen könnte, was der Erzähler sieht, weil er dessen Mutter und ihr Wesen nicht erlebt hat. Das Kompositionselement des im Buch ‚fehlenden‘ Bildes, konkretisiert unter Nutzung des Buchs als rahmendem Inszenierungsraum, ist mehr als eine thematisch signifikante Pointe. Vielmehr konkretisiert sich in diesem buchgestalterischen Einfall die für La chambre claire leitende Idee der Fotografie als eines Bildtypus, der per se mit Besonderheit verbunden ist, wobei Besonderheit bei Barthes vor allem bedeutet, dass ein Phänomen nicht codiert und nicht auf der Basis von Codes zu erschließen ist: Die entscheidende Suggestion fotografischer Bilder (Barthes schreibt im Zeitalter der Analogfotografie) ist die der Darstellung eines je besonderen Moments und der Bindung an ein je besonderes Motiv; ‚besonders‘ ist auch die Beziehung des Betrachters zu Fotos, zumindest wenn sich der ‚punctum‘-Effekt einstellt. Zwischen der Fotografie als dem ‚Besonderen‘ auf der einen, dem Codierten, Vermittelbaren und Allgemeinen auf der anderen Seite besteht eine unaufhebbare, aber fruchtbare Spannung. Eben diese Spannung wird in La chambre claire durch Text, Bildauswahl und Bucharchitektur erzeugt, und zwar auf mehreren Ebenen: indem über Fotos auf eine Weise gesprochen wird, die zwischen dem Allgemeinwissen des ‚studium‘ und dem Verweis auf ‚punctum‘-Effekte, zwischen dem Mitteilungswillen des Erzählers und seinem Beharren auf der Inkommunikabilität mancher Erfahrungen oszilliert, indem eine Bildersammlung präsentiert wird, die keine Beweisfunktion hat, sondern trotz der Fremdprovenienz der Bilder als Ausdruck subjektiver Neigungen und Interessen erscheint – und indem durch das fehlende Bild (das nur im Rahmen des Buch-Arrangements als ‚fehlend‘ profiliert wird) via negationis auf ein Nichtrepräsentierbares verwiesen wird. Barthes’ Buch erscheint zu einer Zeit, als sich (u. a. bedingt durch reproduktionstechnische Entwicklungen sowie durch literarische Erkundungen der gestalterischen Möglichkeiten von Fotos in Büchern) die Verwendung von Fotos als konstitutiven (und nicht bloß dekorativen und prinzipiell verzichtbaren, auch nicht bloß illustrierenden) Teilen literarischer Gesamtarrangements in Beispielen verschiedener Literaturen verstärkt zu etablieren beginnt. Vor allem die Suggestion ‚fehlender‘ Bilder lässt sich im Rahmen bebilderter Texte durch ein aussparendes buchinternes Arrangement erzeugen. MSE  









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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 1.23 Luigi Serafini: Codex Seraphinianus (1981) Der Codex Seraphinianus des Architekten Luigi Serafini erschien als voluminöses Buch in Anlehnung an das Format eines einbändigen bebilderten Nachschlagewerks erstmals 1981 und wurde 25 Jahre später neuaufgelegt, ergänzt um eine kleine Broschüre (betitelt Decodex) mit Artikeln verschiedener Autoren zu Entstehung, Inhalt und Wirkungsgeschichte. Allerdings ermöglicht der Decodex keine Decodierung des Codex. Enzyklopädische Züge. Als ein aus zumindest scheinbaren Grafien und Bildern bestehendes Buch weist der Codex Seraphinianus formal große Ähnlichkeiten mit einem enzyklopädischen Kompendium auf, das verschiedene Arten von Objekten und verschiedene Bereiche und Disziplinen des Wissens im Überblick systematisch erschließt und in dem die Textteile durch zahlreiche Illustrationen sowie tabellarische und andere textgrafische Darstellungen ergänzt werden. Doch seine Bilder irritieren nicht weniger als der ‚Text‘, obwohl sie durchaus am Stil sachkundlicher, populärer Wissensformate orientiert sind. Sie zeigen seltsame, fremdartige und rätselhafte Wesen und Objekte, Schauplätze, Gebäude, Maschinen, Situationen und Prozesse. Bezogen auf die ‚Texte‘ ist nicht einmal sicher, dass ihnen ein codiertes Zeichensystem zugrunde liegt; es könnte sich auch um bloße Ornamente handeln.16 Vage erinnert der Duktus an orientalische (insbesondere an arabische) Manuskripte. Die Paginierung der Buchseiten entspricht nicht dem Einsatz eines konsistenten Zahlensystems, zumindest nicht einem sinnvollen Einsatz. Die zwischen die einzelnen bebilderten Abschnitte eingeschobenen ‚tabellarisch‘ wirkenden Übersichten lassen keinen Rückschluss auf ein ihnen zugrundeliegendes Ordnungssystem zu. Die Bilder zeigen phantastische Objekte und Welten, wirken ‚mimetisch‘, werfen aber viele unlösbare Rätsel hinsichtlich der Kategorisierung, des Funktionierens und des Zusammenhangs dieser Objekte und Weltausschnitte auf. Unentscheidbar bleibt so, ob die Bilder ange-

16 Beziehungen bestehen zum sog. Voynich-Manuskript, einem rätselhaften illustrierten Manuskript, das von einem unbekannten Verfasser in einer unverständlichen Schrift verfasst worden ist. Die These, es handle sich nicht um Kryptografie, sondern um bedeutungslose Zeichen, wurde immerhin diskutiert. Sein heute geläufiger Name verweist auf den Buchhändler Wilfrid Michael Voynich, der es 1912 erwarb; später kaufte es die Beinecke Rare Book Library der Yale University. 2005 erschien eine Faksimile-Ausgabe. Anhand einer Untersuchung der Materialien und des Schreibstils wurde die Entstehung auf die Zeit um 1500 datiert. Anhaltspunkte für eine Datierung geben auch Illustrationen (Kleidung und Frisur einiger Figuren). Als Herstellungsregion vermutet man Norditalien. Der Einband des in Pergament eingebundenen Manuskripts ist ohne Titel und ohne Autorenvermerk. Orientiert man sich an den Illustrationen, so ergeben sich innerhalb des heute aus 102 Blättern bestehenden (ursprünglich aber wohl etwas umfangreicheren, 116 Seiten umfassenden) Kodex diverse Sektionen, darunter etwa eine „kräuterkundliche“, eine „astronomische“, eine „anatomische“ oder auch „balneologische“ (bäderkundliche), eine mit rosettenförmigen Figuren (die auch als „kosmologische“ verstanden wurde), sowie eine „pharmazeutische“.

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messen als Abbildungen zu interpretieren sind. Durch Analogiebildungen lassen sich auf der Basis der Bildmotive allerdings Wissensbereiche benennen, welche hier bildlich und grafisch repräsentiert zu werden scheinen. Dazu gehören Biologie (Artenkunde, Physiologie, etc.), Chemie, Geografie und andere (zumindest normalerweise) empirisch basierte Wissenschaften; dazu gehören aber auch kulturwissenschaftliche und ästhetische Disziplinen, künstlerisch-gestaltende Praktiken (etwa die Architektur, Landschaftsgestaltung, Gartenbau, Mode und Design etc.) sowie Formen performativer Kunst (wie Tanz, Feste, Spiele). Gut vertreten sind technische Gegenstände (wobei die Grenzziehung zwischen natürlichen Wesen und Artefakten unterlaufen wird); diverse Bilder repräsentieren unterschiedliche anthropomorphe oder teilanthropomorphe Wesen, offenbar nach Rassen und Kulturen ausdifferenziert. Schreibprozesse im Spiegel des Codex. Auf Prozesse des Schreibens und dazu eingesetzte Hilfsmittel verweisen diverse Bilder; auch lässt sich die ‚ornamental‘ wirkende Schrift als eine faksimilierte Form von ‚Handschrift‘ interpretieren. Beschlossen wird der Codex Seraphinianus durch ein Bild, das auf dem Ende einer (ihrerseits abgebildeten) Schriftrolle zu sehen ist. Unterhalb des Schriftträgers ist eine skelettierte Hand zu sehen; dieses Bildmotiv deutet eine (allerdings wiederum rätselhafte) Rahmengeschichte des Codex an. Wie verhält sich hier die Rolle zum Codex? Ist sie als seine historische Vorläuferin ins Bild gesetzt oder als seine Alternativoption in einer Parallelwelt? Vielleicht hat ja ein Enzyklopädist die einzelnen Wissensbereiche zusammenfassend dargestellt, die zu einer sei es fernen, sei es imaginären Welt gehören, und ist dann gestorben; vielleicht also ist der Codex Seraphinianus ein altes, womöglich geheimes und darum kryptografisch angelegtes Kompendium. Aber wer hat dann die Seite mit der Knochenhand des Enzyklopädisten gestaltet? Die Ambiguität dieser angedeuteten Rahmengeschichte eines Schreibprozesses erinnert an die der Erzählung La Biblioteca de Babel von Jorge Luis Borges. Diese enthält neben dem Erzählerbericht über die das ganze Universum füllende Bibliothek mehrere Fußnoten, welche den (damit unvereinbaren) Rückschluss auf eine Welt außerhalb der Bibliothek nahelegen; zuschreiben lassen sich die Fußnoten niemandem, und es gibt Indizien dafür, dass sie gar nicht einer einheitlichen Perspektive auf den Text entsprechen. Aber auch an eine andere Borgessche Erzählung erinnert der Codex Seraphinianus: an Tlön, Uqbar, Orbis tertius, den Bericht über das kollektive Projekt der Abfassung der Enzyklopädie einer imaginären Welt. MSE

E 1.24 Péter Esterházy: Bevezetés a szépirodalomba (1986) – Einführung in die Schöne Literatur (2006)  

Die Dopplung des Buchtitels auf der Titelseite von Esterházys Buch ist bereits ein erstes Indiz dafür, dass die Einführung in die schöne Literatur als Metabuch konzipiert ist;

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

wird der Titel doch in doppelter Funktion als Name des Buchs und als Genrebezeichnung (analog etwa zu ‚Roman‘) eingesetzt, was spielerisch-selbstironisch suggeriert, der Band biete die Einführung in die schöne Literatur schlechthin – also ein metaliterarisches Kompendium, das dem Leser die ‚schöne Literatur‘ als solche erschließen will. Auch dafür, dass diese metaliterarische Hinführung zur ‚schönen Literatur‘ das Buch als den Ort dieser Literatur in besonderem Maße akzentuiert, gibt es noch vor jeder Lektüre ein Indiz: Das 892 Seiten umfassende Buch macht bereits durch seinen Umfang deutlich auf sich aufmerksam – und zudem durch den Einsatz einer Fülle buchgestalterischer Mittel auf der Ebene der Inhaltsstrukturierung, des Layouts, der Typografie, der Bebilderung. Esterházys Buch zeigt in seiner „Einführung…“ die „Literatur“ in einem breiten Spektrum von Formen und Genres – und verdeutlicht im Zusammenhang damit, dass die Vielfalt des Literarischen unter anderem auch eine Vielfalt seiner Erscheinungsformen im wörtlich-konkreten Sinn ist: von Modi der Strukturierung und der visuellen Präsentation im Buch. Der ins Buch integrierte „Leitfaden für die Genossen Ästhetiker […]“ (Esterházy 2006, S. 670) spricht zwar vom Lesen und von der Literatur, bietet aber keine Lektürehilfe.  







Kompilierte Materialien. Beruhen Einführungen in Sachgebiete stets auf MaterialKompilationen, so ist dies in diesem Kompendium auf ostentative Weise der Fall, und zwar auf zugleich mehreren Ebenen: Das Inhaltsverzeichnis am Buchende listet 19 Teile auf (die ihrerseits weiter unterteilt sind); es handelt sich um Texte unterschiedlicher Art, die wie locker zusammengestellt wirken, obwohl sie durch gemeinsame Motive miteinander vernetzt sind. Erzählungen, Dialoge, darunter ein „Drehbuch“ (ebd., S. 678–682), essayistische, beschreibende Partien wechseln einander auch innerhalb der Einzeltexte vielfach ab; manchmal tragen Buchteile Titel oder Untertitel, die auf Textsorten verweisen – wie „Roman“, „Drehbuch“, „Tschechownovelle“, „Kitschfragment“, etc. Ein Teil präsentiert sich als „Das Tagebuch des Gastwirts“, ein anderes als „Halassis Schreibheft“, jedes also gleichsam ein Buch im Buch. Hinzu kommen Aufzählungen verschiedener Art, tabellarische Formen, scheinbare Paratexte wie Fußund Randnoten, ‚dokumentarisch‘ wirkende faksimilierte Textseiten, typografische Visualtexte, die an Optische Poesie erinnern, sowie Text-Montagen und Collagen. Die Bildmaterialien sind vielseitig, auch hinsichtlich ihrer Medialität: Fotos, Zeichnungen, Grafiken, Schattenrisse und ornamentale Elemente werden eingesetzt. Dass das Buch auch in einer weiteren Hinsicht auf einer Sammlung beruht, betont ferner eine sechsseitige Liste (ebd., S. 883–888), in der auf dichtbedruckten Seiten und alphabetisch geordnet die Namen der Autoren verwendeter Zitate (nebst ergänzenden Hinweisen auf verwendete bildliche Fundstücke) stehen. Die Zahl der Quellen, die in welch spezifischer Weise auch immer Eingang ins Buch gefunden haben, wäre einer konventionellen „Einführung in die schöne Literatur“ durchaus angemessen, wobei es sich allerdings nicht nur um im engeren Sinn literarische Zitate handelt und zudem der überwiegende Teil ungarischer Provenienz ist. Wichtige Anregungen bezieht Esterházys Buch u. a. von J. L. Borges (auf dessen Erzählung Das Aleph angespielt wird, also  











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auf den Text über einen Ort, der alle anderen Orte in sich enthält) und von Italo Calvino (von dem er unter anderem die im Tarock-Geschichtenzyklus erprobte Verwendung sich wiederholender spielkartenartiger Bildmotive übernimmt); am Anfang des ersten Teils „Flucht der Prosa“ steht die Datumsangabe 16. Juni, die auf den „Bloomsday“ und damit auf James Joyces Ulysses verweist. Insgesamt enthält der Text ein Pastiche aus intertextuellen Referenzen, vor allem aus der modernen Literatur. Fremdsprachige Elemente finden sich als verbale ‚Fremdkörper‘ über den Band verstreut. Inhaltlich decken die Texte des 19-teiligen Buchs eine Fülle von Themen und Mustern ab, verweisen auf ein breites Spektrum von zwischenmenschlichen Beziehungen, Handlungsweisen, Verhaltensmustern. Sie entstanden noch zur Zeit des kommunistischen Regimes, was ihre Inhalte und Motive deutlich geprägt hat; so enthält der Band allerlei typische ‚Ostblock‘-Episoden, -Witze und -Szenarien (vgl. ebd., etwa S. 568); an das Jahr des Ungarnaufstands 1956 wird wiederholt erinnert. Beim Erscheinen der deutschen Ausgabe 20 Jahre nach der ungarischen Erstausgabe nehmen sie sich, bedingt durch den neuen historischen Kontext, anders aus als bei der Originalpublikation; einige Teile sind zudem früher bereits separat auf Deutsch erschienen, wodurch das Kompilatorische des Bandes noch unterstrichen wird. Listen, verbale und visuelle, tauchen in verschiedenen Spielformen auf und bekräftigen die Idee, ‚alles Mögliche‘ darzustellen, d. h. eine enzyklopädische Fülle an Dingen, Figuren, Themen und Ereignissen auszubreiten. Gegenstände, die mit der Literaturgeschichte zusammenhängen, spielen eine zentrale Rolle; so findet sich, partiell reproduziert, etwa eine Bildtafel mit den Porträts historischer Autoren literarischer und wissenschaftlicher Werke (ebd., S. 525).  







Das Buch als Gebäude. Eine die Einführung prägende Metapher, die den Aufbau des Werks charakterisiert und sich zugleich auf das Buch als solches beziehen lässt, ist die des Raumes; in dieser Hinsicht steht Esterházy in der Nachfolge Laurence Sternes, betrachtet selbst aber die Interpretation des literarischen Artefakts in räumlichen Metaphern vor allem als einen Ansatz, der auch vermeintliche Diffusionstendenzen der Texte im Zeitalter des Computerschreibens überdauert. Im Klappentext, den er selbst verfasst und unterzeichnet hat, wird (auf dem Schutzumschlag platziert und insofern den Band ‚umfassend‘) das Buch als Gebäude interpretiert; in Hinweisen auf andere eigene Buchpublikationen vergleicht der Autor auch diese mit differenten Gebäudetypen. Die Arbeit am Buch erscheint als Entwerfen und Konstruieren, aber auch als ein Einrichten von Räumen mit Texten – wobei der schreibende ‚Architekt‘ seine Räume erst nachträglich arrangiert wie separate Container.  

Anfang 1978 sah ich plötzlich ein ‚Gebäude‘ vor mir, ein ‚Texthaus‘, also ein Buch, an dem ich dann bis 1985 arbeitete. Damals konnte man noch glauben, daß der Computer einen starken Einfluß auf die Literatur haben wird – sagen wir, die die Linearität zerstörenden Bestrebungen, die beispielsweise in Julio Cortázars ‚Rayuela‘ zu sehen sind, würden sich auf diese Weise entfalten. Es geschah nicht so, und auch ich habe diese Arbeitsmetapher fallengelassen, es blieb bei Raum, Dimensionen, Gebäude. (Ebd., Umschlagtext, verfasst von Esterházy)  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Auf die Idee eines ‚aufzubauenden‘ Hauses beziehen lässt sich eine Vielzahl von Einfällen und Inhalten. So spricht der erste Buchteil, „Flucht der Prosa“, einleitend vom ‚Einmarsch‘ der anschließend aufgelisteten Wörter (ebd., S. 8). Die folgende mehrseitige Vokabel- und Namensliste ist alphabetisch strukturiert. Diverse textgrafische Elemente bekräftigen und variieren im Folgenden die Vorstellung eines Text-Raums, unter anderem mit Blick auf den „Text als Landschaft“ (ebd., S. 11). Durch wiederholte Referenzen auf das Alphabet als Repertoire der Buchstaben und als Anordnungssystem (vgl. ebd., u. a. S. 41) wird eine andere Facette des ‚Bauens‘ von Texten betont.  







Extravaganzen in Typografie und Layout. Durch den Einsatz vielfältiger typografischer Mittel und eines ständig wechselnden Layouts werden zahlreiche Varianten der Textpräsentation vorgeführt. Dazu gehören u. a. verschiedene Formen des Spaltendrucks und des Arrangements separater Textblöcke, wechselnde (auch ‚dynamisch‘ wachsende oder schrumpfende) Schrifttypengrößen, diverse Formen von Textrahmungen und Kolumnendruck. Gelegentlich bilden die Textblöcke geometrische Figuren (vgl. ebd., S. 756f.). Leere und weitgehend schwarze Seiten (vgl. ebd., S. 812, 843) stehen für die Pole des Spannungsraums zwischen weißer Buchseite und schwarzer Druckfarbe, die ausgenutzt werden. Die zentrifugalen Tendenzen der disparaten und heterogenen Textteile in Esterházys Buch werden durch Elemente der Verklammerung ausbalanciert. So tauchen bestimmte Bildelemente über den Band hinweg immer wieder auf: eine Raupe, eine Ratte, ein Puppenkopf, ein räumlich paradoxes Dreieck, eine Tarotkarte mit dem Bild des Gehängten. Als buchgestalterisch besonders auffälligen Teil enthält der Komplex mit dem Titel „Wer haftet für die Sicherheit der Lady?“ unter dem Untertitel „Daisy“ ein Daumenkino. Auf den fraglichen Seiten geht es um ein Opernlibretto, die Textseiten eröffnen eine Bühne, ein Dialog beginnt – und begleitend zu diesem die Seitenmitten füllenden Geschehen findet sich jeweils in der oberen äußeren Seitenecke eine weibliche Figur, die zu tanzen beginnt, wenn man die Seiten schnell durchblättert. Am Ende des Tanzes (ebd., S. 334–396) fällt der ‚Vorhang‘; die Seite bleibt leer bis auf die Tänzerin. Esterházy, der auch in anderen Buchpublikationen mit buchstrukturellen, typografischen und paratextuellen Formen bis hin zur Paginierung einfallsreich spielt (vgl. auch Esterházy 2013, 2016), hat seine Einführung in die schöne Literatur konsequent als Einführung in die ‚schöne Buch-Literatur‘ angelegt. MSE  









E 1.25 Raymond Federman: The Voice in the Closet. Die Stimme im Schrank. La voix dans le cabinet de debarras (1989) Mit The Voice in the Closet. Die Stimme im Schrank. La voix dans le cabinet de debarras (1989) hat Federman eine weitere literarische Variation über die eigene Familiengeschichte und, von dieser ausgehend, über das Trauma der NS-Judenverfolgung und

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die ambigen Erfahrungen der Emigration in die USA geschaffen, die auch in Double or Nothing (1971) buchgestalterisch inszeniert werden (vgl. Teil E 1.16). Bereits der Titel von The Voice in the Closet verweist auf die Geschichte des Emigranten Federman, der als jüdischer Junge im deutsch besetzten Frankreich der Festnahme durch die Behörden und der Deportation nur dadurch entkam, dass er von seiner Mutter in einen Schrank gesperrt worden war, wo er eine Weile blieb, bevor er sich heraustraute, die Flucht antrat und Frankreich nach einiger Zeit verlassen konnte; seine Familienmitglieder hingegen wurden festgenommen und kamen zu Tode. Kommen in Double or Nothing ungewöhnliche typografische Gestaltungsmittel sowie mehrere Sprachen (vorwiegend Englisch und gelegentlich Französisch) in einer Weise zum Einsatz, die diese Kerngeschichte im Zusammenspiel mit dem Text vermittelt und dabei den gesamten Buchraum organisiert, so gilt Analoges auch für The Voice in the Closet. Die beiden Bücher unterscheiden sich jedoch in Textgestalt, Aussehen und Struktur erheblich, begonnen beim Einsatz der Sprachen. Das Buch von 1989 besteht aus drei Teilen, die man auch als drei verschiedene, mittels des Einbandes vereinigte Bücher interpretieren könnte, denn jeder Teil enthält eine eigene Titelseite, eine eigene Titelei, eine eigene Widmung und einen räumlich klar gegen die anderen abgegrenzten Text: Die erzählte Geschichte wird in den drei Teil-Büchern in drei verschiedenen Sprachen geboten (englisch, französisch, deutsch), sodass die Teile sich zueinander verhalten wie Original und Übersetzungen – respektive wie drei Übersetzungen eines (hinzu zu denkenden) Originals.  

Ein Wendebuch. Die Form des Buchs wird bei der Präsentation der drei verschiedensprachigen Teile auf unkonventionelle Weise eingesetzt. So hat das Buch nicht Anfang und Ende, sondern zwei Anfänge; es lässt sich von beiden Seiten lesen. Von der einen Seite ausgehend, bietet es den englischen, von der anderen Seite her den deutschen Text; dementsprechend sind diese beiden Textteile unterschiedlich ausgerichtet; von der ‚englischen‘ Eingangsseite her betrachtet, steht die deutsche Fassung auf dem Kopf und umgekehrt. Zwischen beiden Teilen dann ist der französische Text lokalisiert; seine Zeilen bzw. Textblöcke stehen hochkant auf den Buchseiten, sodass man das Buch bei der Lektüre um 90° drehen muss. Diese Positionierung der drei Sprachen im Buch zueinander entspricht der Positionierung der von Federman biografisch durchlaufenen Sprachräume: Auf die frühe Lebenszeit in Deutschland folgte nach der Frankreich-Emigration der jüdischen Familie die Emigration Federmans in die USA. Anders als in Double or Nothing sind die Texte bzw. ist der Text von The Voice in the Closet. Die Stimme im Schrank. La voix dans le cabinet de debarras eine Erzählung, vorgetragen von einem Ich-Erzähler, allerdings in einer sprachgestalterisch unkonventionellen, stilistisch experimentellen Prosa. Alle drei Texte präsentieren sich ohne jedes Satzzeichen und ohne andere Zäsuren (wie Absätze oder Leerzeilen) als Endlostexte, die sich Zeile für Zeile, blockweise und gleichförmig auf den Buchseiten ausdehnen. Der deutsche Text weist zudem konsequente Kleinschreibung auf; was im englischen und französischen Text weniger auffällt, ist hier irritierend. Es gibt keine

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Paginierung. Die drei Teile sind allerdings auf je unterschiedliches Papier gedruckt; der mittig platzierte französische auf ein leicht gelbstichiges. Alle drei Texte sind in Times-Schrift gesetzt, aber in unterschiedlichen Typengrößen, wodurch unter anderem der Umstand ausgeglichen wird, dass deutsche Texte gegenüber ihren englischen Äquivalenten länger auszufallen pflegen. Gelegentlich finden sich zwischen den Wörtern längere freie Intervalle, visuelle Pendants eines stockenden Redeflusses. Räume, Verschachtelungen. Inhaltlich spielt der dreifache Erzähltext auf die Geschichte des Jungen Raymond Federman im Wandschrank zwar an, umspielt aber das Motiv der Gefangenschaft durch Variationen. In einer Art Stream-of-ConsciousnessTechnik überlagern sich Vorstellungs- und Erinnerungsbilder verschiedener Provenienz, Reminiszenzen an verschiedene Erlebnisse, so dass sich die Erzählerinstanz zeitlich und räumlich nicht verorten lässt. Aber auch die einzelnen Bestandteile des Endlossatzes, aus dem der durch keine Interpunktion gegliederte Text besteht, sind oft nicht eindeutig der einen oder anderen Erlebnis- und Erinnerungsschicht zuzuordnen. Dadurch erscheinen sie teilweise doppelbödig, vielfach surreal. Mehrere Stimmen scheinen sich in der Erzählerstimme zu durchdringen. Bei insgesamt offenen Deutungsoptionen dominieren doch oft Suggestionen von Bedrängnis. Hier jetzt wieder selectric-hengst bringt mich zum sprechen mit seinen bällen alles quatsch foutaise sagt sam oben in seinem schrank aber diesmal wird es ernst kein masturbieren mehr im zweiten stock auf die bäume flüchten nein die bäume sind gefällt worden lügner jetzt ist winter keine ausflüchte mehr keine falschen anfänge gestern flog ein stein durch die fensterscheibe stimmen und alles […]. (Federman 1989, unpag., Anfang des deutschen Textes)

Alle drei Textteile tragen in drei verschiedenen Sprachen dieselbe, an Federmans umgekommene Familie erinnernde Widmung „in memoriam Simon Marguerite Sarah Jacqueline“ (dt. Teil), „A la Mémoire de Simon Marguerite Sarah Jaqueline [!]“, „In Memory of Simon Marguerite Sarah Jacqueline“. Die Textabsätze nehmen immer nur die eine Hälfte der Doppelseiten des Buchs ein, im Fall des deutschen und des englischen Textes die rechte Hälfte, im Fall des hochkant stehenden französischen Teils die untere. Die jeweils komplementäre Doppelseitenhälfte zeigt – in allen drei Teilen analog – grafische Elemente, und zwar in einer Anordnung, durch die sukzessive, Seite für Seite und Stück für Stück, eine bestimmte grafische Figur entsteht: die Linien von fünf Rechtecken, die bei gleicher Proportionierung ihrer Seitenlängen ineinander liegen. Diese fünf Rechtecke mit ihren je vier Seiten bauen sich im Durchgang durch die Seitenfolge der drei Teile systematisch auf: Aus einer Linie werden nacheinander vier fürs erste Rechteck, dann konstituiert sich das ihm eingelagerte zweite etc. Am Ende der drei Teile steht dementsprechend die Gesamtfigur, die ähnlich analogen Verschachtelungen in Double or Nothing das Motiv der mehrfachen Gefangenschaft symbolisiert, einer Gefangenschaft, die schützt und zugleich bedrängt. Durch die Anordnung der grafischen Elemente, die auf stets an analoger Stelle auf den Seiten platziert sind, lassen sich die Buchteile wie ein Daumenkino betrachten. Das Wiederabspulen  



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eines Films wird so zum Sinnbild des thematisch prägenden Erinnerungsprozesses, das Buch zum Raum, in dem sich dieser Erinnerungsfilm abspielt. Die Rechtecke haben innerhalb der drei verschiedenen Teile übrigens jeweils eigene Formen (so ist das französische quadratisch, die anderen sind auf unterschiedliche Weisen länglich), wie um zu betonen, dass Erinnerungs-‚Filme‘ in unterschiedlichen Sprachräumen unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Das Buch selbst hat quadratisches Format und zwei Coverseiten, deren eine den englischen und (kleiner) den französischen Titel trägt, während die andere den deutschen (und kleiner den französischen) zeigt. Auf dem englischen Cover ist in ein graues Rahmenquadrat ein rotes kleines Quadrat integriert; auf dem deutschen verhält es sich umgekehrt. Die Binnenquadrate enthalten in verschiedenen Spiegelungen die Buchstabenreihe des Namens „federman“, zu einem weiteren, um 45° gedrehten typografischen Quadrat arrangiert. Strukturierungen von Raum und Zeit. Sehr konsequent nutzt und semantisiert Federman in seinem Buch die verschiedenen Parameter der Strukturierung und Ausgestaltung des Buchs, begonnen beim dreifachen Papier (das auf unterschiedlich ‚getönte‘ und ‚strukturierte‘ Erinnerungsdarstellungen verweist) über das Buchformat (bei dem das Quadrat zur Metonymie des Raumes wird, in dem dann andere Räume stecken, wie auch bei den Rechtecken innerhalb des Buchs – Räume der verschachtelten Wahrnehmungen und Erinnerungen), über die Seitenfolge (Daumenkino-Effekt) bis zur typografischen und literarisch-stilistischen Ebene, die neben vielen physischen Drehungen und Wendungen auch auf Interpretationsebene eine erhebliche Flexibilität des Lesers erfordert. Was die „Stimme im Schrank“ erzählt, oszilliert zwischen Repetition und Variation und verleiht dem Buch eine mehrdeutige Zeitstruktur, die auf die (offene) Frage nach der Präsenz von Erinnertem verweist. Was der Buchnutzer sieht, oszilliert zwischen symmetrischer Spiegelung und Verzerrung, Konstruktion und Fragmentierung, und auch dies lässt sich auf die Ambiguität von Erinnerungsprozessen beziehen. In einem theoretischen Text unter dem Titel Surfiction hat Federman Lektüre als einen flexiblen Prozess modelliert; das Buch als Gestaltungsobjekt kommt diesem Postulat in seiner (auch materiellen) Qualität als ein Raum einander durchkreuzender Lese- und Deutungsrichtungen entgegen.  

Der bloße Akt des Lesens, auf der ersten Seite oben anzufangen und von links nach rechts fortzufahren, von oben nach unten, Seite für Seite bis zum Ende, in einer aufeinanderfolgenden vorgefertigten Weise ist restriktiv und langweilig geworden. Jeder intelligente Leser sollte sich in diesem vorbestimmten Lesesystem frustriert und eingeengt fühlen. Deshalb muß die ganze traditionelle, konventionelle, fixierte und langweilige Art des Lesens in Frage gestellt, angegriffen und demoliert werden. Und der Schriftsteller selbst (nicht die moderne Drucktechnik) muß durch Innovationen im Schreiben selbst – in Typografie und Topologie des Textes – unser Lesesystem erneuern. (Federman 1991, S. 66)  





Pendant des Lesbaren ist für Federman stets etwas Unlesbares, Pendant des Sagbaren stets etwas Unsagbares, vor allem in der Literatur, deren Mittel er daher zur Auseinandersetzung mit seinem persönlichen Schicksal, aber auch mit dem umfassenderen

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Trauma des Holocaust erprobt. Gerade Texte von unkonventionellem Erscheinungsbild, Bücher von unkonventioneller Struktur, mehrsprachige und unkonventionell geschriebene Texte erinnern indirekt auch an das, was sie nicht sagen und zeigen, weil sie auf die Arbitrarität und Selektivität aller verbalen und buchgestalterischen Darstellung verweisen. […] Schreiben heißt, einen Raum füllen (Seiten schwärzen); und in den Räumen, in denen es nichts zu schreiben gibt, kann der Schriftsteller jederzeit Material einfügen (Zitate, Bilder, Diagramme, Karten, Entwürfe, Stücke aus anderen Diskursen, Kritzeleien, usw.), die absolut nichts mit der Geschichte zu tun haben, die er gerade schreibt. Oder er kann einfach diese Räume weiß lassen, denn Literatur besteht zu einem ebenso großen Teil aus dem Gesagten wie aus dem Nichtgesagten, denn das Gesagte muß nicht notwendig wahr sein, da das Gesagte stets auch anders ausgedrückt werden kann. (Ebd., S. 71)  

MSE

E 1.26 Milorad Pavić: Unutrašnja strana vetra, Ili roman o Heri i Leandru (1991) – Die inwendige Seite des Windes oder Der Roman von Hero und Leander (1995)  

Pavićs Roman über „Hero und Leander“ (so der Untertitel) knüpft an eine Geschichte aus der alexandrinischen Erotik an, die in Literatur und bildender Kunst häufig gestaltet worden ist. Die Verbindung der Aphroditepriesterin Hero und ihres Geliebten Leander scheitert am Widerstand von Heros Eltern und wird konkret behindert durch das sie trennende Meer, den Hellespont. Doch nachts durchschwimmt Leander diesen regelmäßig, und Hero weist ihm den Weg durch eine Fackel (oder Lampe). Als eines Nachts dieses Licht erlischt oder gelöscht wird (in einer Version der Geschichte durch Heros Bruder), ertrinkt Leander. Hero findet seinen Leichnam und nimmt sich das Leben. Ein Wendebuch, zwei komplementäre Geschichten. Pavićs Roman setzt durch seine Buchgestalt die räumliche Vorstellung zweier getrennter Ufer um. Das Buch lässt sich von beiden Seiten lesen, ausgehen von beiden Einbandflächen. Die Seiten und ihre Texte sind, um in beiden Leserichtungen eine konventionelle Umblätterbewegung zu gewährleisten, entgegengesetzt ausgerichtet; von ‚vorn‘ gesehen, steht das jeweils ‚hintere‘ Buchstück also auf dem Kopf. Die Texte halten beide auf die Buchmitte zu und enden dort. Ein Buchteil (von einer Einbandseite ausgehend 86 Seiten lang) steht unter dem Titel „Leander“, der Komplementärteil unter dem Titel „Hero“ (er geht bis zu S. 72 des anderen Teils). Die erzählten Geschichten spielen zu unterschiedlichen Zeiten (im 17./18. sowie im 20. Jahrhundert) und haben jeweils eine eigene Hauptfigur: im einen Fall den Architekten Leander, der in die kriegerischen Unruhen verwickelt ist, die sich zu seiner Lebenszeit bei der Feste Belgrad und in ihrem Umland abspielen, im anderen Fall die Chemiestudentin Heroneja Bukur, genannt  



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Hero, die aus Belgrad stammt und nach Prag zu ihrem Bruder Manasija Bukur zieht. Beide Figuren, die einander natürlich nie treffen, setzen sich mit der antiken Geschichte um Hero und Leander auseinander und fühlen sich von dieser eigentümlich berührt. Leander, der seine Namen mehrfach wechselt, wegen eines Kommentars zu jener Fabel aber fortan „Leander“ genannt wird, interpretiert die Zeit selbst als die eigentlich trennende Instanz. Er wußte, das Europa von Asien nicht nur durch das Wasser getrennt war, sondern auch durch den Wind, das heißt, durch die Zeit. Deshalb sagte er, daß es vielleicht nicht das Wasser und seine Wellen gewesen seien, die Hero und Leander getrennt hätten, sondern etwas anderes, was sie hätten überwinden müssen, um zueinander zu finden. […] „Vielleicht war es der Wellenschlag der Zeit, und nicht der des Meeres, der Hero und Leander voneinander trennte. Vielleicht war Leander durch die Zeit geschwommen und nicht durch das Wasser.“ (Pavić 1995, S. 50)  

Analog dazu sind Heroneja und Leander ja durch die Zeit getrennt. Lesezeiten. Dies gilt zum einen für die Lokalisierung ihrer Geschichten in verschiedenen Jahrhunderten, zum anderen aber auch für die Lesezeit des Romans: Anders als im Fall der literarischen Versionen von Heros und Leanders antiker Geschichte, kann man die Geschichten der Protagonisten in Pavićs Roman nicht simultan lesen. Und doch gehören beide Teilromane zu einem und demselben Buch, einem Buch allerdings, das sich beim Lesen drehen lassen muss, als ergreife es der Wind. Beide (Teil-)Geschichten enden jeweils mit dem Tod der Zentralfigur, wobei sich in beiden Fällen Prophezeiungen und Vorahnungen bestätigen – so als wiederhole der Tod der beiden nur etwas, was in anderer Form bereits geschehen oder gedanklich antizipiert worden ist. Auch sprechen manche Indizien, nicht zuletzt Träume, Erinnerungen und Prognosen, dafür, dass es neben dem logisch-kausalen Zusammenhang einer empirisch beobachtbaren und vermessbaren Welt zwischen den Menschen verschiedener Zeiten noch andere, geheimnisvolle Verbindungen gibt. Heros tragische Geschichte ähnelt der ihrer antiken Namensschwester, wenn auch unter charakteristischer Abwandlung: Ihre Liebesbeziehung zu dem Leutnant Jan Kobala (bei der eine Kerze als Signal fungiert) endet wegen der Intervention ihres Bruders. Dieser wird selbst der Liebhaber des Leutnants. Insgesamt scheint es vielfach, als lebten beide Hauptfiguren simultan in parallelen Welten, in einer alltäglich-realen und einer onirischen Sphäre. Die Architektur des Buchs entspricht der Doppelgeschichte um die beiden Reinkarnationen Heros und Leanders. Sind die antiken Figuren durch das reale Meer und die beiden späteren Figuren durch das ‚Meer der Zeit‘ getrennt, so wird dieses symbolisiert durch ein blaugefärbtes Blatt in der Buchmitte, das die beiden Geschichten trennt. Aber so, wie Hero und Leander trotz ihrer physischen Trennung zusammengehören, so sind die beiden von Pavić erzählten Geschichten durch zahlreiche Motive und analoge Einfälle geprägt. Dazu gehört auch die gelegentliche Schwierigkeit, trennscharf zwischen männlichen und weiblichen Charakteristika, Namen und Körpermerkmalen zu unterscheiden. MSE  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 1.27 Nick Bantock: Griffin & Sabine (Serie; 1991–2016) Nick Bantock, Autor und Gestalter der Griffin & Sabine-Serie, hat verschiedene Buchpublikationen vorgelegt, die durch ihre einfallsreiche Gestaltung auffallen. Die bisher aus zwei dreiteiligen Zyklen und einem weiteren Band bestehende Serie steht in der Tradition des Briefromans. Die beiden Zentralfiguren Griffin Moss und Sabine Strohem schreiben einander Briefe und Postkarten. Der Text dieser Korrespondenz bildet den Romantext; die Karten und Briefe sind in den Büchern selbst zu betrachten: die Vorderund Rückseiten der Karten auf Recto- und Verso-Seiten der Bücher, die Briefe als eingelegte gefaltete Faksimiles, die man aus Briefumschlägen ziehen kann, welche auf die Buchseiten geklebt sind. Griffins und Sabines Briefe und Karten sind abwechslungsreich und bunt ausgestattet und erzählen vieles durch ihre Details. Briefpapiere, Zeichnungen, Kartenmotive, Stempel, Papierobjekte sowie viele andere grafische Elemente sind faksimiliert wiedergegeben. Auch Typogramme gehören zu den Korrespondenzen. Griffin und Sabine haben unterschiedliche Handschriften. Am Wechsel des Schriftduktus sowie an anderen Verfahren der Textgestaltung werden Stimmungs- und Perspektivenwechsel der Figuren ablesbar. Die Geschichte um Griffin und Sabine, in Briefen und Postkarten dargestellt, ergänzt um jeweils knappe Hinweise des Herausgebers, wird nicht als ein Kontinuum rezipiert, sondern stationsweise. Paralleluniversen. Die aus den Briefschaften hervorgehende Geschichte der Beziehung zwischen Griffin und Sabine ist vor allem deshalb mysteriös, weil die beiden Figuren zunächst zwei Paralleluniversen zugeordnet sind und sich daher physisch nicht treffen können. Griffin Moss, die männliche Hauptfigur, arbeitet nach einem Kunststudium als Postkartendesigner und lebt als Einzelgänger in London. Eines Tages erhält er von einer ihm Unbekannten, Sabine Strohem, eine Postkarte von einer entlegenen pazifischen Insel, mit der sie ihn um eine von ihm gestaltete Postkarte bittet. Dass Sabine Details über seine Arbeit weiß, die eigentlich nur er allein kennen kann, löst eine Korrespondenz aus. Sabine besitzt telepathische Fähigkeiten und kann seit 13 Jahren in tagtraumartigen Visionen Griffin beim Arbeiten zusehen. Um ihre Herkunft rankt sich ein Rätsel. Aus dem Postkarten- und Briefwechsel zwischen der Insel Katie und London entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Griffin möchte sich der Existenz Sabines vergewissern, an der er manchmal zweifelt. Dem stellen sich dann rätselhafte Schwierigkeiten entgegen. Der erste Band, Griffin & Sabine. An Extraordinary Correspondence, endet mit der von einer anonymen (Herausgeber-)Instanz stammenden Mitteilung, der Briefwechsel zwischen Griffin und Sabine sei im leeren Studio Griffins aufgefunden worden, Griffin sei verschwunden. Insgesamt wird die konstruierte Geschichte unter anderem zum Anlass, Aspekte, Formen und Funktionen grafischen Gestaltens von Büchern und anderen Druckwerken zu thematisieren. Das Resultat solcher Arbeit wird dann in einer Beispielsammlung dem Leser des Buchs präsentiert. In Band 2 (Sabine’s Notebook) nehmen Griffin und Sabine ihren Kartenund Briefwechsel wieder auf. Der Versuch eines physischen Zusammentreffens schei-

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tert; die Signifikanz der Korrespondenz wird dadurch betont. Später treten einige weitere Korrespondenten in die Handlung ein; der Fall wird zunehmend rätselhafter, insofern zwischen den Beteiligten offenbar mysteriöse Korrespondenzen bestehen. Insgesamt mischen sich in die Fabel allerlei okkultistische Zutaten, Anspielungen auf die Götter und Mythen Ägyptens, auf Hermes Trismegistos, auf Mythen anderer verschiedener Völker – und auf die Archetypenlehre C. G. Jungs. Daraus entsteht eine ebenso heterogene Collage wie aus den zu Postkarten und Briefpapier montierten Bildmaterialien. Als Ergänzung der zwei Trilogien bietet ein Band von 2016, The Pharos Gate, das, was in den früheren Bänden angeblich fehlte: Griffin & Sabine’s Lost Correspondence; suggeriert werden wiederum okkulte Zusammenhänge.  





Interaktion mit dem Buch bei der Lektüre. Obwohl Briefe und Postkarten als Hauptkommunikationsmedien inszeniert werden, sind Bantocks Bücher auch buchreflexiv. Denn sie erzeugen auf gebrochene Weise die Suggestion, der Leser selbst könne mittels des Buchs von seinem Paralleluniversum aus die Universen der beiden Figuren beobachten, ja berühren. Der Leser muss mit dem im Buch enthaltenen Material interagieren – und wenn die Briefbögen und Kartenreproduktionen auch Faksimiles sind, so sind doch die Briefumschläge reale Briefumschläge. Parallel verlaufen die Briefroman-Handlung und die Handlungen des Lesers, der dasselbe tut, wie – der Fiktion zufolge – die Protagonisten: Er berührt Briefe und Karten. Medien- und Darstellungsreflexivität ist für die Handlung schon deshalb prägend, weil beide Protagonisten Designer sind. Ihr Austausch gilt vielfach Bildern, und über die Projekte Griffins, die Sabine in Visionen erlebt, kommt es ja auch zum Kontakt der beiden. Ägypten als ein Reich, das mit Archäologie, mit dem Totenreich und mit der Erfindung der Schrift konnotiert ist, wird wiederholt beschworen. Und Anspielungen auf Gegen- und Unterwelten, auf Geister- und Totenreiche dienen vor allem dazu, die Schrift in den Büchern als grenzüberschreitendes Medium zu inszenieren. MSE  





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Abb. E 1/6: Nick Bantock: Sabines Notebook: In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin and Sabine Continues. San Francisco/Vancouver 1992, unpag., erste Doppelseite.  

E 1.28 Nick Bantock: The Egyptian Jukebox. A Conundrum Created by Nick Bantock (1993) Das Titelobjekt „Jukebox“ in Nick Bantocks Buch The Egyptian Jukebox (1993b) ist ein Kasten mit diversen Schubfächern, die laut Text (ähnlich einer echten Jukebox) bei entsprechender Bedienung auch Geräusche von sich geben; man hört die Geräusche beim Lesen aber nicht. Auf den Buchseiten abgebildet sind allerlei Behälter mit verschiedenen Inhalten. Auf der Rückseite der entsprechenden Seiten findet sich jeweils eine Schemaskizze zur Identifikation der einzelnen Inhalte des vorderseitigen Behälters. Kurze Erzählungen erläutern, was es mit den Objekten auf sich hat. Verfasst hat sie der Rahmenfiktion nach ein Mann, Hamilton Hasp, der die Dinge gesammelt hat und inzwischen unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Diese angeblich autobiografisch fundierten Aufzeichnungen bestehen aus separaten Kurzgeschichten über geheimnisvolle Ereignisse und Zusammenhänge um mysteriöse Objekte. Ihren Ausgang nimmt die Geschichtensequenz in Ägypten. Der Klappentext sowie eine Art Vorwort berichten, dass die Tochter des Verschwundenen, Tanis Hasp, die Spuren des Vaters, darunter die „Jukebox“ gesichtet habe. Als sie die Schubladen der „Jukebox“, eines „wondrous-quirky museum cabinet“ geöffnet habe, sei im Inneren der Box jeweils eine Tonaufnahme mit der Stimme des Vaters erklungen, der die im Folgenden abgedruckten Geschichten erzählt habe. Die kurzen Mystery stories bleiben allesamt ebenso offen wie die Geschichte des verschwundenen Hasp. Die in ihnen erwähnten mysteriösen Objekte werden nicht gezeigt; die gezeigten Objekte sehen ihnen nur ähnlich oder sind assoziativ mit ihnen verbunden. Manche Behälter erinnern an krimina-

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listische Sammlungen, andere an private Sammlungen von Erinnerungsstücken. Die Ästhetik des Buches korrespondiert mit Bantocks Ästhetik der Sammlung und Montage, die er in Anleitungsbüchern zur kreativen Gestaltung von Büchern und Objekten auch explizit beschrieben hat. MSE

E 1.29 Ronit Matalon: Seh im hapanim eleinu [elenu] [=„Das, was uns gegenübersteht“] (1995) – The One facing us (1998) – Was die Bilder nicht erzählen (1998)  



An einem fingierten Fotoalbum entlang erzählt Matalons Roman Episoden aus der Geschichte einer aus politischen und wirtschaftlichen Gründen über mehrere Länder und Kontinente verstreuten jüdischen Familie, die ursprünglich aus Ägypten stammt. Das Sammeln von Fotos erscheint als Versuch einer Kompensation der Diaspora-Situation, aber auch der Zerstreuung und Zerstörung von Zusammenhängen, die allein schon aus dem Verlauf von Zeit resultiert. Die Erzählerin, die 17-jährige Esther, gehört der jüngsten Generation der Familie an. Die anlässlich der Bilder episodisch rekonstruierte Geschichte untergliedert sich grob in die eines Aufenthalts von Esther bei ihrem Onkel Cicurel (Sicourel) in Duala, Kamerun, 1976, sowie in die Vorgeschichte, die Esther teils miterlebt hat, teils aus Erzählungen kennt oder imaginiert. Die Kapitel sind schwerpunktmäßig einzelnen Familienmitgliedern gewidmet. Albumstruktur. In das Buch sind reproduzierte Fotos integriert, welche hauptsächlich Mitglieder von Esthers fiktiver Familie ‚zeigen‘; die Autorin Matalon hat diese Bilder aus verschiedenen Quellen bezogen, auf die sie im Paratext auch verweist. Die einzelnen Kapitel sind jeweils spezifischen Bildern zugeordnet und nehmen (auf unterschiedliche Weisen) Bezug auf deren Motive, manchmal auch auf die Aufnahme selbst und ihre Qualität. Neben gezeigten Fotos sind an vielen Kapitelanfängen fehlende Fotos registriert, die dann aber trotz ihrer Abwesenheit ein weiteres Kapitel grundieren. In den Erzählungen über die Familiengeschichte werden Fotos und ein Fotoalbum des Öfteren explizit erwähnt; sie stehen in Beziehung zu den Fotos, an denen im Roman entlang erzählt wird. Unklar ist, ob Esther der Rahmenkonstruktion zufolge die Fotos allein betrachtet; auch das Datum der Sichtung wird nicht genannt. Ein Indiz (Kap. 28) spricht für die mittleren 1980er Jahre. Weitere Indizien sprechen dafür, dass es sich bei der Quelle der von Esther betrachteten Bilder um das Album ihrer Mutter Ines handelt, manche Fotos passen dazu aber nicht recht. Esther ist nur auf S. 317 (als Kind) zu sehen – manchmal ist sie eine Figur auf fehlenden Fotos (Matalon 1998a, S. 317; 1998b, S. 242). Die Beziehungen zu den Fotos halten die Familie lose zusammen, aber die Bilder bedeuten den unterschiedlichen Familienmitgliedern Unterschiedliches. Die Kapitel geben viele Hinweise auf individualisierte Beziehun 









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gen zu Fotos. Oft wird in einer Weise erzählt, als ‚lebten‘ die Bilder oder als schauten die Dargestellten in die Welt der Betrachter hinein. Manche Kapitel enthalten Bruchstücke zu einer Ästhetik des Umgangs mit Fotos, dies gilt insbesondere für die Episode zwischen Esthers Cousine Susa und Esthers Mutter Ines. Auch eine Traumepisode enthält eine implizite Poetik des Fotos – als Stimulus von Träumen. Eine Ausnahme unter den Bildern im Roman stellt die Reproduktion eines Gemäldes dar: Kap. 25 beginnt nicht mit einem Familienfoto, sondern mit der Reproduktion des Gemäldes Nof Brecha von Jitzchak Livne (Darstellung einer Bassinlandschaft), Öl auf Leinwand, fotografiert von Medad Sochovolsky. Die Legende zu diesem Bild spricht von einem Foto: „Foto: Der mit dem Gesicht zu uns“ (Matalon 1998a, S. 300). Der Text zum Bild spricht von einer fehlenden Fotografie: „Missing photograph: The one facing us“ – und von einem Mann am Pool-Rand, der versuche, aus seinem Raum ‚herauszutreten‘: „A man stands facing us at the edge of a pool, casting his shadow, trying, it seems, to emerge.“ (Matalon 1998a, S. 229f.) Der Swimming-Pool ist ein wichtiger Schauplatz des Romans. Er dient als Familientreffpunkt, erinnert aber auch an das Entwicklerbad des Fotografen – und an das Album, in dem die Betrachter ihre abwesenden, ihre gestorbenen und fernen Familienmitglieder wiedertreffen.  











Ein Raum der Geschichten. Insgesamt steht die Zeit thematisch im Mittelpunkt des Romans – eine erinnerte Zeit, wobei die Erinnerung zu weiten Teilen als gebrochen und vermittelt erscheint. Formal und gestalterisch ähnelt der Roman einem Fotoalbum – auch mit Blick auf das Fehlen einer linearen Chronologie und die offensichtlichen Fehlbestände. Als eine Spezialform des Buchs ist das Familienfotoalbum zum einen durch seine enge indexikalische Beziehung zur dargestellten Familiengeschichte charakterisiert, zum anderen aber auch durch die Kontingenz seiner Inhalte, die durch an Bilder geknüpfte Erinnerungen allenfalls partiell in größere Zusammenhänge eingefügt werden können. Der Text zu den Bildern leistet dies in Matalons Roman zumindest episodenweise und damit überlagert sich dem Buch-Raum eines Albums ein Geschichten-Raum, der die verstreute Familie wenigstens im Buch zusammenbringt, auch wenn viele Bilder ‚fehlen‘. MSE  



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Abb. E 1/7: Ronit Matalon: Was die Bilder nicht erzählen. Reinbek b. Hamburg 1998, S. 300 f. (Orig.: Seh im hapanim eleinu. Tel Aviv 1995).  





E 1.30 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995); Austerlitz (2001)  

Ein charakteristisches Merkmal verschiedener von W. G. Sebald publizierter Bücher ist ihre spezifische Bebilderung; dies gilt für die Erzähltexte (die teils auf faktualen Geschichten und autofiktionalen Elementen beruhen) ebenso wie für seine Essays und die Zürcher Poetikvorlesungen über Luftkrieg und Literatur (Sebald 1999). In literarischen Werken wie Schwindel. Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992), Die Ringe des Saturn (1995) und Austerlitz (2001) kombiniert Sebald seine Texte mit jeweils zahlreichen reproduzierten Bildelementen, insbesondere mit analogen (meist älteren) Fotos, aber auch mit Faksimiles von Schriftstücken, grafischen Darstellungen, Schemazeichnungen etc. Das verwendete Bildmaterial stammt aus verschiedenen Quellen; nur in Ausnahmefällen verwendet Sebald eigene Aufnahmen (vgl. die Bildersammlung in Bülow 2008).  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Metonymien und Modelle von Zeit und Geschichte. Aus ihren ursprünglichen Entstehungs- und Verwendungskontexten herausgenommen, die sie metonymisch repräsentieren, werden die Bildanteile ohne weitere technische Modifikation wie unbearbeitete Fundstücke präsentiert. Sie begleiten den Text des jeweiligen Erzählers, werden manchmal auch explizit thematisiert, sind dabei stets mehr als nur Illustrationen. Vielmehr dienen sie zur zusätzlichen bildlich-visuellen Inszenierung des jeweils sprachlich-narrativ evozierten Themas oder Themenkomplexes, wobei die literarischen Werke Sebalds insgesamt starke thematische Analogien aufweisen. Prägende Themen Sebalds sind vor allem Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Erinnerung. Ausgehend von der Zeitlichkeitsthematik werden Geschichte und Geschichtsmodelle, historische Ereignisse und Wandlungsprozesse, vor allem historische Schrecknisse und Katastrophen, in diese eingeflochten dann auch individuelle Schicksale, zum dominanten Gegenstandsfeld der Darstellung und Reflexion. Zum Netzwerk der Themen gehört, ebenfalls bedingt durch die Fokussierung auf Zeitlichkeit, auch der Themenkomplex um Erinnerung, Verdrängung und Vergessen, ferner die Geschichtlichkeit, Wandelbarkeit und Zeitverfallenheit der Natur wie der Zivilisation (im Zeichen eines vielfach analogisierenden Vergleichs) sowie die psychische und mentale Disposition von Subjekten, die bedingt durch Traumata und die Unzuverlässigkeit ihres Gedächtnisses dazu tendieren, sich selbst zu verlieren, mit sich selbst zu zerfallen. Eine geschichts-, diskurs- und machtkritische, damit latent politische Dimension erhalten die Texte Sebalds durch die häufige Fokussierung menschlich verschuldeter Katastrophen, Kriege, Kolonialismus, Genozid, ökologischer Desaster und verschiedener anderer Formen destruktiver Gewalt. Das Buch Die Ringe des Saturn (1995) präsentiert sich als Bericht eines (autofiktional geprägten) Ich-Erzählers über eine Wanderung, wobei sich die Erinnerungen an die Reisestationen assoziativ mit der an andere Orte, Personen, Ereignisse und historische Entwicklungen verknüpfen, insbesondere an Kapitel aus der Geschichte der Kriege, des Kolonialismus und der Ausbeutung, der Gewalt und der Grausamkeit. Überlagerungen. Die Romanhandlung von Austerlitz (2001) spielt auf zwei Ebenen: Der (namenlose) Ich-Erzähler berichtet von seinen Treffen mit dem Architekturhistoriker Jacques Austerlitz, der als jüdisches Kind seinerzeit der Judenverfolgung entkam, weil ihn seine Mutter von Prag nach England bringen ließ. Erst als Heranwachsender über seine Herkunft aufgeklärt, erst als Erwachsener dann auf die Spur der Kindertransporte geraten, versucht Austerlitz, der alle Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre und seine Eltern verloren hat, diese durch Recherchen über seine Herkunft und die Geschichte der Juden in der NS-Zeit zu reanimieren. Dabei trägt er zwar viele Informationen und Bilder zusammen, aber die erinnernde Revokation des Vergangenen gelingt nur in fragmentarischer und schemenhafter Weise. Der Haupterzähler bettet in seinen Bericht Austerlitz’ Erzählungen ein, in welche sich teilweise weitere Erzählerberichte integriert finden, so dass sich ein mehrschichtiger Komplex von (meist erinnernden) Erzählerstimmen ergibt. In ihrer Komplexität entspricht die Text-

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konstruktion dem Konzept der Zeit, das im Roman entwickelt wird (vgl. Sebald 2001, S. 153f.): der Idee einer geisterhaften Präsenz der Toten und der Vergangenheit, welche die Gegenwart überlagert. Diverse Bilder dienen dazu, diese Vorstellung zu evozieren, so etwa die von Gräbern. Der Saturn-Erzähler berichtet nicht allein von seiner Wanderung durch Suffolk im Jahr 1992 und seinem Hospitalaufenthalt 1993, sondern auch von der Niederschrift des Erinnerungs-Buchs im folgenden Jahr. Die Bilder begleiten seinen Bericht in wechselnden Funktionen; insgesamt muss man sich die in diesem Punkt nicht explizit gemachte Rahmengeschichte der Buchgenese als die eines Wanderers und Bildersammlers vorstellen, der aus seiner Kollektion von Fotos, Postkarten und anderen visuellen Dokumenten schöpft, um seinen Bericht zu ergänzen, ohne dabei einem strengen Illustrationsprinzip oder einer Systematik zu folgen. In Austerlitz ist der titelgebende Protagonist selbst ein solcher Bildersammler. Austerlitz hat viele Fotos gemacht und weiteres Bildmaterial gesammelt, das er (der impliziten Konstruktion des Romans zufolge) dem Haupterzähler (seinem ‚Biografen‘) teilweise überlässt respektive zugänglich macht.  

Bildtypen, Bildprogramme, Bildqualitäten. Vielfach zeigen die Bilder in Sebalds Büchern Motive, die mit Vergänglichkeit, Zerstörung und Verfall assoziiert sind. Darstellungen von Landschaften, Objekten, Gebäuden und Räumen finden sich in recht großer Variationsbreite; menschliche Figuren tauchen oft in Form von Gruppenbildern auf, es gibt aber auch Porträts herausgehobener Einzelner. Gelegentliche Gemäldereproduktionen haben eine direkt oder indirekt metaisierende Funktion. Das Format der Bilder bewegt sich zwischen eher winzigen, wenige Quadratzentimeter großen Beispielen bis zu ganzseitigen, in Ausnahmefällen auch doppelseitigen Bildern. Alle Abbildungen sind schwarzweiß. Als charakteristisch für Sebald erscheint insbesondere die Nutzung von Bildern schlechter Qualität, von unscharfen und dilettantisch wirkenden Aufnahmen mit manchmal unspezifischen Motiven. Genutzt werden aber auch professionelle Fotos, wie etwa Postkartenbilder und Aufnahmen aus Massenmedien. Sebald aktiviert insgesamt verschiedene Konzepte der Fotografie, darunter das der Dokumentation und der Zeugenschaft, aber auch das der Erstarrung und Mortifikation sowie ferner die Metaphorik des ‚Fensters‘ auf die Dinge oder des Kamera-‚Auges‘, durch welches sich dem Subjekt die Dinge zeigen.17 Mit der Kernthematik um Zeitlichkeit, Vergessen und versuchte Erinnerung sind die Fotos schon durch ihre kulturell bedingte Memorialfunktion verbunden. Teilweise dienen sie im Kontext der erzählten Geschichten auch als Stützen der Erinnerung oder doch als Projektionsfläche entsprechender Wünsche. Verschiedene Störfaktoren schieben sich zwischen fotografierte Objekte und Betrachter und bespiegeln einander wechselseitig: Zu weit entfernte, unkonturierte oder unscharfe Gegenstände, Unzulänglichkeiten des

17 Fenster und Augen sowie scheinbare (verschlossene) Fensteröffnungen und scheinbare Augen übernehmen in Sebalds Büchern mehrfach leitmotivische Funktionen.

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Auges, die Unfähigkeit das Gesehene bzw. sein Bild einzuordnen, die fundamentale Unfasslichkeit der dargestellten Sachverhalte – und die defiziente Qualität der Bilder. Durch ihre häufige Konturarmut oder Unschärfe, ihre Vieldeutigkeit und Kontextlosigkeit bekräftigen diese im Kontext der Sebaldschen Text-Bild-Arrangements eher das Vergessen und den Verlust. Die dargestellte Welt erscheint in der Folge verrätselt, vieldeutig, oft im intellektuellen wie im physischen Sinn un(be)greifbar. Fotosammlungen, von Austerlitz einmal wie ein Memoryspiel ausgelegt (ebd., S. 175), ohne dabei einen sinnvollen Zusammenhang zu ergeben, verweisen auf die Erinnerungslücken nicht nur des Protagonisten, sondern auch der historischen Gesellschaften, der kollektiven Subjekte von Geschichte. Innerhalb der einzelnen Bücher, aber tendenziell auch die Einzelwerke übergreifend, bilden die Fotos und ihre Motive Netzwerke; in Die Ringe des Saturn wird das Motiv des Netzwerks auf selbstreferenzielle Weise mit der Figur des Thomas Browne und dem Strukturmuster der Quincunx verknüpft (Sebald 1995, S. 31). Die Erzählerinstanzen schaffen solche Muster, lassen dabei aber auch stets die Kontingenz und Beschränktheit erkennen. Vielfach reihen sich Textund Bildmotive auf der Basis von Assoziationen, die zwischen Beliebigkeit und Offenbarungscharakter changieren.  





Das Buch als Inszenierungsraum. Der prägende Anteil der Bilder am literarischen Arrangement wird vor allem dort deutlich, wo Bildsequenzen einen narrativen Zug annehmen und auf spezifische Weise der Inszenierung von Themen dienen. So macht eine Sequenz von Fotos, die Austerlitz (bzw. Sebald selbst, dessen Spiegelbild schemenhaft auf einer Aufnahme zu sehen ist) in Theresienstadt gemacht hat, durch Wiederholung des Bildmotivs verschlossener Fenster und Türen sowie durch einen geschlossenen Antiquitätenladen die Unzugänglichkeit der Vergangenheit sinnfällig (Sebald 2001, S. 270–284). Das Scheitern von Austerlitz’ Bemühungen, in seinem traumabedingt gestörten Kindheitsgedächtnis eine lebendige Erinnerung an die verlorene Mutter aufzuspüren, wird durch eine Sequenz von Frauenporträts visualisiert, deren letztes zwar (wie es heißt) tatsächlich seine Mutter darstellt, aber ohne dass er diese erkennt (vgl. ebd., S. 350, 360f.). Hier präsentiert sich der Roman als Kontrafaktur zu Barthes Foto-Buch La chambre claire (vgl. dazu Teil E 1.22). Das Buchformat und seine textuell-bildlichen Gestaltungsoptionen dienen bei Sebald der Reflexion über die Grenzen von Darstellung, Repräsentation und Interpretation. Zwischen Buchgestaltung und zentralen Bildern bestehen mehrschichtige Korrespondenzen. So konkretisiert sich in den Buchseiten mit ihren einander ähnelnden und vernetzten Bildmotiven das Konzept einer Vernetzung der Dinge. Durch verschiedene Arten von TextBild-Kombinationen nutzt Sebald das Buch – nicht nur die Seite – als Raum spannungsvoller Arrangements, die ständig zwischen Repräsentation und Nicht-Repräsentation oszillieren. Oszillationen ergeben sich auch zwischen der Etablierung von ähnlichkeitsbedingten Mustern und dem immer wieder erzeugten Eindruck der Fragmentarizität, der Defizienz und Kontingenz des sprachlich und bildlich Dargestellten. Das Buch bildet einen Sammlungsraum, ähnlich einem Archiv, wie es sich  







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der Erzähler in Die Ringe des Saturn und Austerlitz in dem nach ihm benannten Roman angelegt haben. Die Elemente dieser Kollektion erscheinen als immer nur vorläufig zueinander konstelliert; ihre Anordnung spiegelt keine absolute Ordnung der Dinge. Der Buchnutzer kann sich am Konstellationsspiel insofern beteiligen, als er beim Hin- und Her-Blättern selbst mögliche Beziehungen zwischen den visuellen und verbalen Teilen des Buchs (re-)konstruieren muss – unter Einbeziehung des Undarstellbaren, auf das sie verweisen. MSE  

E 1.31 Mark Z. Danielewski: House of Leaves (2000)  

Mark Z. Danielewski knüpft in House of Leaves auf gleich mehreren Ebenen an das Konzept des Labyrinths an (Danielewski 2000): Inhaltlich geht es um labyrinthartige Räume und Topografien; die verschiedenen Handlungsebenen verschlingen sich auf irritierende Weise und eine an J. L. Borges erinnernde Figur tritt auf. Darstellungsund dargestellte Zeit unterlaufen jede Linearitätserwartung. Neben inhaltlich-stofflichen Elementen werden auch Optionen der Buchgestaltung sowie der Buchkörper selbst genutzt, um auf Struktur und Mythologem des Labyrinths zu verweisen. In vielem zeigt der Roman Spuren der Rezeption von Borges-Texten.  





Das Buch als Labyrinth. Die erzählten Geschichten bilden keine lineare Sequenz und sind verschiedenen Ebenen dargestellter Wirklichkeit zuzuordnen. Analog zu Borgesschen Verfahren wird ein Textkorpus präsentiert, durch Anmerkungen kommentiert und um einen weitläufigen (nur scheinbar untergeordneten) Paratext ergänzt. Dieses Korpus setzt sich aus Heterogenem zusammen: So präsentiert (a) eine Figur namens Johnny Truant einen Text, den er zudem mit langen eigenen Annotationen versieht, in denen sein Leben episodenweise dargestellt wird. Der von Truant präsentierte Text bildet eine weitere Textebene (b); es handelt sich um den Bericht eines verstorbenen blinden alten Mannes, der sich Zampano nennt. Zampano beschreibt und kommentiert Filmmaterial, das vor allem ein gewisser Will Navidson gedreht hat. Navidsons solcherart indirekt dargestellter Film (c) wiederum handelt von seinem Haus, in dem sich unversehens und wider die Gesetze der Geometrie unermessliche und labyrinthische Innenräume auftun (die Verstörung der Hausbewohner beginnt damit, dass plötzlich eine Tür da ist, wo zuvor keine war. Dann stellt Navidson fest, dass sein Haus innen größer ist als außen. Bei weiteren Recherchen tun sich Abgründe auf, die sich dann auch noch als beweglich erweisen). Neben der Verknüpfung von verschiedenen Teilgeschichten (deren Protagonisten sich teils kennen, teils nicht kennen) enthält der Roman eine Fülle an Textsorten und Schreibweisen, die als ‚Paratexte‘, ‚Materialien‘, ‚Fußnoten‘ etc. präsentiert werden. Die eigentlichen Geschichten um die Figuren sind relativ schlicht und teils nahe an der Trivialität. Die ‚Herausgeber‘Fiktion (d) bildet eine eigene Ebene der Romankonstruktion. Nicht weiter identifizier-

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te Editoren legen den Berichten, die sie veröffentlichen, allerlei Material bei, das unter Nutzung der Polysemie von ‚Labyrinthen‘ auf dessen Bedeutungsdimensionen verweist und Interpretationen (vor allem psychologische) suggeriert (vgl. den Anhang F mit Zitaten, eine Zusammenstellung von Materialien, die dem Komplex beiliegen, den der Fiktion nach die Herausgeber publizieren). Das unpaginierte, auf das Inhaltsverzeichnis folgende „Vorwort“ deutet an, das Buch könne sich noch ‚ausdehnen‘ – wie das Labyrinth-Haus.  

Die Navidson-Geschichte. Der Fotojournalist Will Navidson kauft für sich und seine Familie (seine Lebensgefährtin Karen Green und die beiden Kinder Chad und Daisy) ein Haus in Vermont. Nach einiger Zeit entdeckt man, dass dieses Haus sich ausdehnt und zusammenzieht, dass es in seinem Inneren unermessliche Erstreckungen aufweist, die ebenfalls Extensionen und Kontraktionen unterliegen, insgesamt nicht den Gesetzen der Geometrie gehorcht, sondern eine andere Form von Räumlichkeit repräsentiert. Will (auch „Navy“ genannt) möchte das Geheimnis des Hauses erkunden. Da Karen dies nicht zulassen will, begeben sich in Wills Auftrag zunächst drei andere Männer (Holloway Roberts, Jed Leeder und Kirby „Wax“ Hook) in die rätselhaften Räume, die sich von Durchgängen innerhalb des Hauses her eröffnen. Zum Team gehört auch der gelähmte Rollstuhlfahrer Billy Reston, ein Freund Navys mit einschlägiger wissenschaftlicher Vorbildung. Die Erkundung der labyrinthischen Räumlichkeiten unterhalb des Hauses wird zum Desaster. Auf einzelne kürzere Erkundungszüge folgt ein längerer, in dessen Verlauf es zu Todesfällen kommt. Holloway wird wahnsinnig und schießt zunächst auf Wax, später auch auf Jed, der tödlich getroffen wird. Wax hingegen wird gerettet, Holloway verschwindet in den Abgründen des Labyrinths. Navys Bruder Tom, der sich ebenfalls im Haus aufhält, rettet die Überlebenden knapp mittels eines Flaschenzugs. Nach dem Entkommen der Männer aus den Abgründen spielt das Haus verrückt; Zwischenräume öffnen sich und drohen, die Familie zu verschlingen. Tom rettet die kleine Daisy, kommt dabei aber selbst um. Die Familie zieht fort. Noch bevor er ahnte, dass es mit dem Haus etwas Besonderes auf sich hat, hatte Navy in den Zimmern Kameras installiert, um das glückliche Familienleben aufzuzeichnen; als Fotojournalist verwandelt er Wirklichkeit habituell in Bilder. So werden die Entdeckungen aufgezeichnet, die das Haus und seine Eigenarten betreffen, ferner die verschiedenen Reaktionen der Familienmitglieder und des Teams, das zur Erkundung des Hauses angereist ist. Während der Erkundungszüge erfolgen ebenfalls Aufzeichnungen, da Navy über eine entsprechende Ausrüstung verfügt. Die langen Wanderungen, die Attacken Holloways, das seltsame Verhalten der Räumlichkeiten und die dramatische Rettung sind dokumentiert. Navy hat aus dem gesamten Filmmaterial einen Film gedreht („The Navidson Record“). Dieser Film wurde zunächst in kleinerem Kreis, später in größeren Zusammenhängen gezeigt und viel kommentiert. Nach einer Zeit der Trennung von Karen kehrt Will Navidson ins Haus zurück und begibt sich allein auf eine (wiederum filmisch dokumentierte) Erkundung in die Tiefen unterhalb bzw. jenseits des Hauses. Dabei verhält sich der Raum aggressi-

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ver und exzentrischer denn je. Navidson wird schließlich durch den sich verändernden Raum in einen Abgrund gestürzt; sein Fall währt sehr lange. Gerettet wird er gleichwohl, nämlich durch Karen, die aus Liebe zu Navy trotz ihrer Angst ins Haus zurückgekommen ist, wo sie nach einiger Zeit (es sind dieselben Tage, die Navidson im Labyrinth verbringt) Signale von Navidson aufnimmt. Sie schaut sich Filmmaterial an, das auf rätselhafte Weise in eins der Zimmer geraten ist, dabei öffnet sich eine Wand, die einen Ausblick in den Abgrund freigibt, und auf unerklärliche Weise gelingt es Karen, Navy mittels ihrer Willenskraft aus dem Abgrund zu retten. Er verliert als Folge der erfahrenen Unterkühlung eine Hand und ein Auge, überlebt aber, und die Familie findet wieder zusammen. Zampanos Geschichte. Ein alter Mann, der sich Zampano nennt, hat eine Fülle von Material über den Fall Navidson gesammelt. Offenbar hat er sich mit dem Rätsel des Hauses intensiv auseinandergesetzt. Er ergänzt das Material durch eigene Aufzeichnungen, und auf dieser Basis verfasst er einen langen Bericht über Navidson und sein Haus, ergänzt um die Wiedergabe von Kommentaren, Meinungen, wissenschaftlichen Hypothesen und Pressereaktionen, die sich auf den Fall beziehen oder zu ihm in Beziehung setzen lassen. Zampanos Bericht ist der fiktiven Romankonstruktion zufolge derjenige Text, aus dem der Leser des Buches die Geschichte des mysteriösen Hauses, seiner Bewohner und seiner Besucher erfährt. Zampanos Bericht ist als Buch im Buch in The House of Leaves integriert. Eines Tages wird Zampano, der unter ärmlichen Verhältnissen in einem unordentlichen Zimmer lebte, tot aufgefunden. Ein Mitbewohner, Lude, findet ihn und das Material über den Navidson-Fall. Er führt seinen Freund Johnny Truant an den Fundort, und Johnny nimmt das Material an sich. Der Tod des alten Mannes erscheint zwar niemandem besonders bemerkenswert; die Polizei geht nicht von einem gewaltsamen Tod aus – aber Johnny und Lude finden am Ort des Todes eine seltsame Krallenspur auf dem Fußboden. Seltsam ist auch, dass die Katzen, mit denen Zampano sich lange Zeit umgeben hatte, in der Vorphase seines Todes alle aus der Umgebung verschwunden sind. Zampano war blind, allerdings nicht von Geburt an. Er hatte sich nach seiner Erblindung von diversen Frauen vorlesen lassen, seine wissenschaftlichen Interessen, die sich dann auf den Navidsonfall konzentrierten, mit Hilfe der Vorleserinnen und von Büchern in Brailleschrift weiterverfolgt, hatte auch diktiert – was die Entstehung des Berichts über „das Haus“ zumindest glaubwürdig macht. Dieser ist aber nicht abgeschlossen, und neben kontinuierlichen Kapiteln gibt es viele Zettel und lose Notizen. Teilweise hat Zampano auch Aufzeichnungen zu vernichten versucht (die sich in seiner Wohnung dann aber, wenngleich stark beschädigt und nurmehr partiell lesbar, finden). Andere Notizen sind wohl auch zufällig durch Kleckse in ihrer Lesbarkeit beeinträchtigt. Johnny nimmt das Material an sich.  



Johnny Truant. Johnny Truants Geschichte – also die des Mannes, der Zampanos Aufzeichnungen findet, liest und selbst weiter kommentiert – rahmt als Geschichte  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

eines (Zampano-)Lesers die Zampano-Geschichte sowie die von Zampano berichtete Navidson-Geschichte. Truant ist ein junger, aber durch Drogenkonsum zerrütteter Mann. Seine Kindheit war durch diverse Traumatisierungen überschattet: seine psychisch labile Mutter scheint versucht zu haben, ihn aus übergroßer Liebe zu töten und wurde vom Vater in eine Heilanstalt gebracht, wo sie auch den Rest ihres Lebens verbrachte, lange Zeit in Briefkontakt mit ihrem Sohn. Johnnys Vater war, als sein Sohn noch klein war, durch einen Unfall ums Leben gekommen. Johnny hatte in immer wieder wechselnden Pflegefamilien gelebt, war dort u. a. auch zum Opfer von Gewalttätigkeiten geworden und hatte sich zu einem schwer erziehbaren Jugendlichen entwickelt. Bei all dem intelligent und nicht ohne Bildung, ist er ein Außenseiter geblieben. Als seine Geschichte einsetzt, arbeitet er als Praktikant in einem Tattoo-Studio, wo er die Instrumente und Farben vorbereiten und Termine arrangieren muss, während sein Chef seine eigenen Tattoo-Entwürfe missachtet. Johnny wird durch Zampanos bzw. Navidsons Geschichte stark in den Bann geschlagen, zumal sie für ihn offenbar in Beziehung zu Erfahrungen steht, die er selbst gemacht hat. Er verfasst Aufzeichnungen, die zwischen nüchternem Bericht und Protokollen von halluzinatorischen Träumen changieren. Oft ist nicht unterscheidbar, was er wirklich erlebt hat und was er sich unter Drogen- und Alkoholeinfluss zusammenträumt. Johnnys Texte enthalten viele verworrene Szenen, changierend zwischen grammatikalisch und syntaktisch klaren Texten auf der einen Seite, wirren Notaten auf der anderen. Feinde und Verfolger spielen in seinen autobiografischen Notizen eine zunehmend wichtigere Rolle. Wo hier der Verfolgungswahn beginnt, ist nicht entscheidbar. Dass Johnny durch Kindheitserlebnisse traumatisiert ist und dass dabei vor allem die eigene Mutter als Thema ausgespart wird, deutet sich an. Sein Freund Lude scheint schließlich zu Tode zu kommen (aber Johnnys Erzählerbericht ist auch in diesem Punkt unzuverlässig); was mit Johnny selbst genau geschehen ist, bleibt unklar, aber er scheint ebenfalls zuletzt tot zu sein. Seine Aufzeichnungen, die in diese integrierten (von ihm abgeschriebenen) Aufzeichnungen Zampanos sowie die von Zampano zusammengetragenen Unterlagen zum Fall Navidson werden von einem namenlosen ‚Herausgeber‘-Team der Öffentlichkeit präsentiert, ergänzt um Anmerkungen sowie um weitere Materialien, die den Fall Navidson, die Arbeiten Zampanos und das Leben Johnny Truants betreffen.  

Die ‚Herausgeber‘. Der Fall Navidson ist der Romanfiktion zufolge von vielen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Texten kommentiert worden; auf diese verweisen zahlreiche, teils ausnehmend lange Fußnoten. Die ‚Herausgeber‘ repräsentieren eine Textebene und eine intradiegetische Ebene fingierter Realität, die sich rahmend noch um den Rahmen der Johnny-Truant-Geschichte legt. Ein erheblicher Teil des Buchs besteht aus Anhängen, die sich als Präsentation von Materialien ausgeben. Diese zeigen durch Auswahl und Arrangement sowie durch Paratexte (Betitelungen, Kommentierungen…) die Handschrift der Herausgeber, auch wenn diese – der fiktiven Konstruktion zufolge – nur präsentieren, was sie selbst zusammengetra 



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gen haben. Dabei ergeben sich neue Zusammenhänge bzw. Alternativversionen zu Informationen, die aus den anderen Teilen stammen. So hat man nach Johnny Truants Bericht den zeitweiligen Eindruck, seine Mutter habe ihm aus der Heilanstalt nur einen Brief geschrieben. Der Anhang hingegen präsentiert ein umfangreiches Konvolut von Briefen der Mutter an ihren Sohn. Buch- und Haus-Labyrinth. Navidsons Haus-Labyrinth und das Buch-Labyrinth bespiegeln sich wechselseitig. Ein „House of Leaves“ ist das Navidson-Haus selbst, weil es sich auf Blättern beschrieben findet. Zugleich ist der Roman als aus Blättern gebundenes Buch selbst ein ‚House of Leaves‘. Im Buch findet sich das Wort „Haus“ (bzw. „house“) – auch als Bestandteil von Komposita – immer in Blau gesetzt, so dass das markierte Wort das Buch wie ein ‚blauer Faden‘ durchzieht. Die Komplexität der Textstruktur eröffnet im Übrigen verschiedene Leseoptionen. Viele Textpassagen des Buchs sind kaum dazu gedacht, gelesen zu werden – eher dazu, sie wie von fern zu betrachten – so wie es in den Gängesystemen des Hauses Passagen gibt, die man eher nicht begeht. Dazu gehören vor allem die teilweise seitenfüllenden Auflistungen von Namen, Titeln, Objekten etc. So werden anlässlich einer Bemerkung über den „Mut, sich auf ein Objekt einzulassen und es auf eine außergewöhnlich originelle Weise zu gestalten“ (Danielewski 2000, S. 85; eine Bemerkung, die u. a. auf das Buch selbst zu beziehen ist), in Fußnote Nr. 75 über zweieinhalb Druckseiten hinweg (so lange zieht sich die Fußnote) Namen von Personen genannt, an die hier wohl zu denken wäre; es handelt sich um Künstler, Architekten etc. Aber man wird die Liste normalerweise kaum gründlich durchlesen, sondern die Seiten des Buches in der Regel eher überschlagen (ebd., S. 86f.). Ähnliches gilt für Annotationen, die sich fern vom Bezugsort finden, sowie (S. 100–103) für Endnoten, die ebenfalls als ein relativ separater Nebenweg erscheinen.  

















Intertextualität. Danielewskis Roman ist nicht zuletzt ein intertextuelles Labyrinth. Die erzählten Geschichten und die Art ihrer Verbindung erinnern nicht allein Borges, sondern auch an viele andere Muster, so an Erzählungen von H. P. Lovecraft, Flann O’Brian, James Joyce, Stephen King sowie an Stanley Kubrick. Unkonventionell ist vor allem die Buchraum-Gestaltung: Die verschiedenen Ebenen der Darstellung durchdringen einander, sind dabei aber typografisch abgehoben. Die Passagen, in denen Johnny Truant zu Wort kommt, sind inhaltlich der amerikanischen underground-Literatur verpflichtet. Die Idee eines Hauses, dessen labyrinthische Qualitäten maßgeblich darauf beruhen, dass es sich ständig verändert, erinnert an ein Motiv aus Michael Endes Die unendliche Geschichte: an das „Änderhaus“ (dazu Hocke/Hocke 2009, S. 30). Zitate aus der weitläufigen Literatur über Labyrinthe haben besondere Signalfunktionen. Kapitel IX ist dem Labyrinth als einem Thema des Mythos gewidmet. Es beginnt mit einem Vergil-Zitat: „Hic labor ille domus et inextricabilis error“ – „Hier ist das Haus der Qual und das nie zu entwirrende Irrsal“ (Aeneis, 6, 27). Ein weiteres einleitendes Zitat ist von Ascensius: „laboriosus exitus domus“ – „Das Haus mühsa 









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men Aushangs“, ein drittes von Nicholas Trevet: „laboriosa ad entrandum“ – „mühsam zu betreten“ (Basel 1490) (Danielewski 2000, S. 142). Die Stellen stammen, wie Truant anmerkt, aus dem Buch von Penelope Reed Doobs: The Idea of the Labyrinth: From Classical Antiquity through the Middle Ages (Ithaca 1990). In räumlicher Nähe zu einem Text über Minos und Minotaurus stehen Bemerkungen zur Gestalt des labyrinthischen Raumes. Zampano erinnert sich assoziierend an Derrida, der Bemerkungen „zur Frage von Struktur und Zentralität“ gemacht habe. Die französische Originalversion einer Passage aus L’écriture et la différence wird ebenso zitiert (und kommentiert) wie andere Konzeptualisierungen des Labyrinths (ebd., S. 148). Mehrfach gestaffelte Fußnoten (Fußnoten zu Fußnoten) erinnern an die Gestalt des Hauses, bei dem sich unterhalb dessen, was man an der Oberfläche sieht, weitere Abgründe auftun. Analogien zwischen Seitengestaltung und Form des Haus-Labyrinths ergeben sich ferner dadurch, dass die Fußnoten einander nicht konsequent folgen (manchmal kommt es zu Unterbrechungen der Reihe bzw. zu Rückwendungen). Sie stammen auch von verschiedenen fiktiven Verfassern, sind entsprechend in unterschiedlicher Typografie – und manchmal durchgestrichen (wie verworfene Sackgassen).  







Buchgestaltung, Schriftbildlichkeit, Typografie. Um dem Leser die Orientierung angesichts der diversen Fiktionsebenen zu erleichtern, werden verschiedene Drucktypen eingesetzt: Times für Zampanos Texte, eine an Typoskripte erinnernde Courierschrift für Truants Texte sowie jeweils eine eigene Schrift für die Anmerkungen und Hinweise der ‚Herausgeber‘ und für die Briefe der Mutter Truants. Mit typografischen Mitteln werden gelegentlich Episoden förmlich inszeniert. Ein Beispiel bietet Kap. XIII, „Der Minotaurus“, wo die Angst vor dem Ungeheuer sich im Textbild niederschlägt. Das Wort „Minotaurus“ ist durchgestrichen, mit ebenfalls durchgestrichener Anmerkungsziffer 123 versehen; die Anmerkungsziffer verweist auf eine Anmerkung, die auf S. 146 steht, wo sie ebenfalls durchgestrichen ist, ebenso wie die dazu gehörige Ziffer. In der Anmerkung geht es um den Minotaurus und seine Deutungsoptionen. Auf S. 147 findet sich eine Anmerkung Truants, demzufolge das Durchgestrichene Textpassagen von Zampano sind, die dieser verschwinden lassen wollte, die Truant mit Terpentin und Lupe aber wieder lesbar gemacht hat (und dann transkribierte).

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Raum- und Bewegungseffekte. Zu Labyrinthik des Buchs tragen vor allem Praktiken der typografischen Suggestion von Räumen und Bewegungen bei. Auf nur teilweise bedruckten Seiten visualisiert werden Stimmen aus Diskussionen über das Erleben von Räumen und Architektur (ebd., S. 215). Texte präsentieren sich ‚kopfüber‘; Buchstabenfolgen verlaufen diagonal, kreuz und quer; Wörter werden in Buchstaben, Texte in Wörter zerlegt, Tunnel-Effekte durch kleine gedruckte Rechtecke erzeugt (ebd., S. 531–548), die sich verändern und eine Raumverengung darstellen. Die Schwierigkeiten, das Haus in seinen Veränderungen zu beobachten, werden durch Reihen von XXXX wiedergegeben (ebd., S. 551). Gelegentlich sind Fußnoten abweichend von der  





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Norm gesetzt, z. B. kreisförmig (ebd., S. 554). Das Ende einer ‚wilden‘ typografischen Sequenz markiert zugleich das Ende von Navidsons Film. Wie die Figuren durchs Labyrinth, so soll sich der Leser durchs Buch bewegen – auf gewundenen und vorab unüberschaubaren Wegen. Eine Sequenz von Seiten erzeugt die Suggestion von rechteckigen Löchern im Papier, die sich durch den Buchkörper zu graben scheinen. Der Effekt ergibt sich durch Platzierung entsprechender Farbfelder auf den Buchseiten; hinzu kommt die Verwendung von Spiegelschrift, welche signalisiert, man lese einen Textausschnitt abwechselnd von vorn und von hinten. Insgesamt ergibt sich der Eindruck eines den Buchraum durchziehenden Tunnels. Der gedruckte „Tunnel“ beginnt (ebd., S. 157) anlässlich einer weitläufigen Beschreibung des Labyrinths und seiner Erkundung in den Notizen Zampanos. Die zunächst blau gerahmten Rechtecke enthalten (bis kurz vor S. 188) architektonische Spezialbegriffe, dann (ebd., S. 189) werden sie fortgesetzt durch ein ausgespartes weißes Rechteck. Die Positionen der Rechtecke zwischen S. 157 und S. 189 verschieben sich mehrfach leicht, ihre Größe modifiziert sich – als bildeten sie einen pulsierenden Gang. Ab S. 189 prägen weiße Rechtecke bzw. leere Flächen die Seitengestaltung. Um das ‚Tunnelviereck‘ herum finden sich Textbausteine zu verschiedenen Themen, jeweils über längere Seitensequenzen fortgeführt. Sie betreffen vielfach das Thema Architektur, sind durch Fußnoten erweitert bzw. stellen manchmal Fußnoten dar. Manche sind von Zampano, andere von Truant oder den Herausgebern; entsprechend variieren die Schrifttypen. Die Texte sind zu erheblichen Teilen in Spiegelschrift und manche in durchgestrichener Schrift gesetzt. In der Tunnel-Sequenz beginnt eine Diskussion über den Realitätseffekt von Navidsons Film und deren Stil (vgl. ebd., S. 189), es gibt kontroverse Meinungen über Authentizität oder die Nutzung von ‚special effects‘. Die Verwendung verschiedener Druck- und Papierfarben unterstützt die Suggestion komplexer räumlicher Strukturen. Viele Ausgaben des Buchs sind so gestaltet, dass der äußere Einband gegenüber dem eingebundenen Buch selbst um ein Stück zu kurz ist, entsprechen der Diskrepanz zwischen den Innen- und den Außendimensionen des NavidsonHauses. MSE  





















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Abb. E 1/8: Mark Z. Danielewski: House of Leaves. New York 2000, S. 168f.  



E 1.32 W. G. Sebald/Jan Peter Tripp: „Unerzählt“. 33 Texte und 33 Radierungen (2002)  

Der Band mit dem (negativ gefassten, implizit reflexiven) Titel „Unerzählt“ (auf der Titelseite in Anführungszeichen) bietet auf seinen Doppelseiten jeweils Konstellationen eines Bildes und eines Textes. Es enthält 33 Grafiken des Malers Jan Peter Tripp, die allesamt spezifische Ausschnitte aus Gesichtern, nämlich jeweils Augenpaare, darstellen, sowie zu jeder Grafik je einen kurzen Text Sebalds (eine „Miniatur“, so die paratextuelle Bezeichnung; der Ausdruck suggeriert eine Analogie zwischen Sebaldschen Texten und einem malerischen Genre). Das Buch war als Gemeinschaftswerk geplant, konnte von Sebald wegen seines Todes aber nicht mehr mit vervollständigt werden, sodass sein Schulfreund Tripp das Projekt allein fortführte und unter anderem die Zuordnung der dazu bereits vorliegenden Sebald-Texte zu den Bildern vornahm. Sebald hat dem Künstler Tripp einen längeren Essay gewidmet, der die Würdigung von dessen Kunst mit grundlegenden Reflexionen über Fotografie und Malerei sowie über ästhetische Darstellung überhaupt verbindet. Der Fotograf sei ein „Agent des Todes“, seine Bilder seien „so etwas wie Relikte des fortwährend absterbenden Lebens“; Fotos seien zudem ‚tautologisch‘, so Sebald. Demgegenüber stehen andere, malerische Darstellungsformen (wie die Tripps), die gekennzeichnet sind durch die

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„Transzendierung dessen, was […] der Fall ist“ (Sebald 2003, S. 178). Tripps ‚realistisch‘ wirkende Bilder erscheinen Sebald als Kabinett der Deformationen, als pathografische Kunst. Stil und Sujets des Malers werden Sebald zum Anlass, die Prinzipien des eigenen Darstellens zu reflektieren, insbesondere die Idee eines Durchdringens von Oberflächen und einer Freilegung der „Todesstarre“, die sich hinter vermeintlich Lebendigem verbirgt. Tripps Bilder haben, so Sebald anlässlich konkreter Beispiele, trotz ihres „hohen Realismusgrades die […] Illusion weit hinter sich [ge]lassen.“ (Ebd., S. 181). Implizit erschließen sich aus diesem Aufsatz damit auch poetologische Leitideen Sebalds selbst.  



Augenpaare, Leitfiguren. Die in „Unerzählt“ zu sehenden Augenpaare wurden nach Fotos dargestellt, die Tripp als Vorlagen für Grafiken in dem für ihn charakteristischen realistischen Stil nahm, teilweise nach Fotos von Gemälden. Die Auswahl der Porträtierten kommt einem ästhetisch-poetologischen Programm gleich; es handelt sich vor allem um Vorbilder und Impulsgeber des Malers Tripp und des Autors Sebald, deren ästhetische Positionen in vielem konvergierten. Zu den in „Unerzählt“ ausschnittweise Porträtierten gehören u. a. William Burroughs (Sebald/Tripp 2002, S. 6), Jan Peter Tripp selbst (ebd., S. 10), Francis Bacon (ebd., S. 20), La comtesse d’Haussonville (eine Figur auf einem Ingres-Gemälde; ebd., S. 30), Ror Wolf (ebd., S. 32), Michael Hamburger (ebd., S. 40), Jorge Luis Borges (ebd., S. 42), Rembrandt (ebd., S. 44), Jasper Johns (ebd., S. 62), Marcel Proust (ebd., S. 64), Samuel Beckett (ebd., S. 66), Anna Sebald (ebd., S. 68) und W. G. Sebald selbst (ebd., S. 70). Hinzu kommt der Kopf eines Hundes (ebd., S. 12). Sebalds Text-„Miniaturen“ auf den jeweils anderen Doppelseitenhälften nehmen auf indirekte, erschließungsbedürftige Weise Bezug auf die dargestellten Personen bzw. Figuren, etwa durch Anknüpfungen an überlieferte Zitate oder Anspielungen auf literarische Werke. Verrätselt wie die Text-Bild-Relationen wirken auch die Bilder selbst, da man die Dargestellten auf den ersten Blick meist nicht erkennen kann und die Namen (als Bildtitel) erst im anschließenden Inhaltsverzeichnis genannt werden. Die auf Fotos basierenden Bilder Tripps zitieren einen Bildmotivtypus, der in Sebalds von fotografischen Bildern durchdrungenem Roman Austerlitz (vgl. dazu Teil E 1.30) programmatisch am Anfang steht. Dort sind vier Augenpaare zu sehen; zwei davon gehören Nachtvögeln, eines Wittgenstein und eines Tripp. Die Augenpaar-Bilder sind dem Bericht des Ich-Erzählers über seinen Besuch in einem Nocturama zugeordnet, das als Allegorie der insgesamt ‚finsteren‘ historischen und natürlichen Welt interpretiert werden darf, die im Roman thematisiert wird. Insofern entfaltet sich hier bereits dessen Leitthema. Es geht um den Versuch zu sehen, auch im Sinn eines inneren, erinnernden Schauens, und um die damit verbundenen Erfahrungen des Entzugs bzw. des Scheiterns. Der Verlust der Sehkraft (wie er Austerlitz droht) signalisiert Desorientierung angesichts der Schrecken der Welt, während die sehfähigen NocturamaBewohner die Dinge auch im Dunkeln sehen. Die Augenpaare der Nachtvögel und der beiden in übertragenem Sinn scharfsichtigen Weltbeobachter haben angesichts der Finsternisse von Natur und Geschichte Leitbildcharakter. Dieses Konzept wiederholt  































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sich in „Unerzählt“ (auch ein von Tripp gemalter Hund, den Sebald in seinem Essay über den Maler kommentiert, hat einen solchen durchdringenden Blick; er durchschaut den Betrachter). Mit den Augenpaaren geht es in Austerlitz wie in „Unerzählt“ nicht nur um die Idee des Blicks auf die Welt, sondern auch darum, dass sich der Betrachter der Buchseiten von den dargestellten Objekten ‚angeschaut‘ fühlen soll. Darin manifestiert sich wiederum ein Anspruch der gemalten Bilder Tripps und der Sebaldschen Texte selbst: Auch diese wollen als schauendes Gegenüber rezipiert werden, haben Appellcharakter, fordern den Betrachter heraus. Austerlitz und „Unerzählt“ sind also mehrfach verschränkt: Wie Sebald ein Foto von Tripps Augenpaar in seinen Fototext integriert, so hat Tripp Sebalds Augenpaar porträtiert, und zwar gleich doppelt, denn im Unterschied zu den anderen Porträtierten ist Sebald gleich zweimal im Bild (ebd., S. 70). Die Dopplung verbindet sich in „Unerzählt“ wie in Austerlitz mit einer Gegenüberstellung zweier Darstellungsformen: der von Text und Bild, die einander einerseits zugeordnet sind, andererseits aber nicht im Sinn einer direkten bildlichen Illustration oder sprachlichen Explikation, sondern eher im Sinn eines Spannungsraums zwischen beiden Relaten, der verschiedene Deutungsoptionen eröffnet. Wenn etwa unter dem (doppelten) von Tripp gemalten Augenpaar Sebalds Zeilen stehen, die von Zeit und Verschwinden sprechen, wird damit Sebalds zentrales Themenfeld in komprimierter Form zum Ausdruck gebracht, der Autor also sprachlich ‚porträtiert‘, auch, ja gerade weil der Text deutungsoffen ist: „Zuletzt/werden bloß soviel/überbleiben als/herumsitzen können/um eine Trommel“ (ebd., S. 71). Auch Texte und Bilder ‚schauen‘ einander gleichsam an, ohne dabei einfach dasselbe zu bedeuten. Das Thema Sehen klingt in den Sebaldschen Text-„Miniaturen“ wiederholt an und erzeugt in Kombination mit dem jeweils bildlich dargestellten Augenpaar insofern einen typischen Echo-Effekt (vgl. ebd., etwa S. 31).  





Ästhetische Leitideen. In seinem Essay über Jan Peter Tripp hat Sebald das Wesen der Kunst programmatisch über ihr Thema bestimmt: dieses sei „die Todesnähe des Lebens“, also die Vergänglichkeit aller Dinge (vgl. Sebald 2003; Sebald entwickelt hier anlässlich zweier Verfahren der Bildreproduktion, Fotografie und Malerei, eine Ästhetik in nuce; die Ausführungen lassen sich auch auf andere Darstellungsformen beziehen). Alle ästhetische Darstellung selbst ist – wie Sebalds Bücher an und durch sich selbst demonstrieren – um dieses Themas willen von Zeitlichkeit geprägt und lässt sie an sich selbst ablesbar werden: Die Zeit bestimmt über den Weg, den der Re-Produzent von Texten und Bildern durch kulturelle Archive nimmt, über die Ergiebigkeit seiner Recherchen, über Anfang, Verlauf und Ende der Reise durch Erinnerungslandschaften. Wenn Kunst die Todesnähe aller Dinge zu reflektieren hat, dann sind Bilder eine besondere Herausforderung – vor allem in der ihnen zugeschriebenen Eigenschaft, den Moment zu fixieren, die Zeit stillzustellen. Das Buch, in dem Texte und Bilder einander gegenüberstehen, aufeinander bezogen und doch voneinander getrennt, erscheint als Modell eines Echoraums in mehrfachem Sinn: eines Erinnerungsraums, eines Raums der Kommunikation über große Distanzen hinweg, eines  





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Raums für die Auseinandersetzung mit Zeit – aber auch eines Raums zwischen dem, der schaut, und dem der angeschaut wird, also dem (appellierenden, ansprechenden) Kunstwerk und seinem Rezipienten. Die von Tripp für das Bucharrangement aus Bildern und Texten genutzte Doppelseitenstruktur erscheint als besonders signifikant, weil sie die offene und polyvalente Gegenüberstellung von Bildern und Texten in ihrem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis sinnfällig macht. Entsprechend ist sie ja auch für Sebalds Werke prägend, auch wenn die dort kompositorisch verwendeten Bildmaterialien andere sind als hier. Sebald betrachtet die Fotografie eher abfällig, aber die Bilder in Sebalds Fototexten sind ja auch niemals ‚nur‘ Fotos, auch wenn sie meist aus Fotos generiert wurden (so wie Tripps hochrealistische Gemälde)18: Sie sind Bearbeitungen, Transformationen und durch die Kombination mit dem Text literarisierte Bilder. Der Titel „Unerzählt“ lässt sich auf die Bilder Tripps beziehen, aber auch auf die Text-„Miniaturen“ Sebalds, die allenfalls wie Fragmente aus nicht-lesbaren Erzählungen wirken, aber auch auf das Ensemble beider, den ‚stummen‘ Dialog zwischen zwei Darstellungsformen, die mehr an Erzählbarem verheißen als sie bieten, dabei aber auch auf die Grenzen des Erzählbaren hinweisen. Schließlich lässt sich „Unerzählt“ als Titel eines Gedenkbuchs für Sebald auch als Hinweis auf das verstehen, was dieser nun nicht mehr erzählen kann.  

Ein Memorial-Buch. „Unerzählt“ (von dem 2002 auch zwei Vorzugsauflage mit den Originalradierungen Tripps erschien) ist ein hochformatiger, in graues Leinen gebundener Band, auf dessen Cover ein großformatiges Porträt Sebalds (von Tripp) zu sehen ist, der ja vor Fertigstellung des Buchs starb. Nicht nur das Buchäußere erinnert vage an eine Grabstätte, sondern auch die schwarzen Seiten am Bandanfang und -ende, das einleitende epitaphartige Gedicht Enzensbergers (Ein Abschied von Max Sebald; Sebald ließ sich Max nennen; Sebald/Tripp 2002, unpag.) sowie die Platzierung von Texten und Bildern im Buch: Sie stehen hochkant und verlangen beim Lesen daher eine Drehung des Buchs um 90°; das Buch ist aufzuklappen wie eine Kiste, ein Dokumentenbehälter, ein Sarg. MSE

18 Bei Tripp, so Sebald, diene das „photographische Material“ nur als Ausgangsbasis der Gemälde. „Die mechanische Schärfe/Unschärferelation wird aufgehoben, Hinzufügungen werden gemacht und Abstriche. Etwas wird an eine andere Stelle gerückt, hervorgehoben, verkürzt oder um eine Geringfügigkeit verdreht. Farbtöne werden verändert, und es unterlaufen bisweilen auch jene glücklichen Fehler, aus denen sich dann unversehens das System einer der Wirklichkeit entgegengesetzten Darstellung ergibt. Ohne dergleichen Eingriffe, Abweichungen und Differenzen wäre in der perfektesten Vergegenwärtigung keine Gefühls- und keine Gedankenlinie.“ (Sebald 2003, S. 179)  

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E 1.33 Umberto Eco: La misteriosa fiamma della regina Loana. Romanzo illustrato (2004) Umberto Ecos Roman La misteriosa fiamma della regina Loana, eine fiktive Autobiografie, spielt (typisch für Eco) auf eine Fülle literarischer und nichtliterarischer Texte an, insbesondere auf Prousts Recherche: Ein Mann sucht am Leitfaden erinnerter Eindrücke und sinnlicher Empfindungen nach seinem vergangenen Leben. Ecos Held Yambo Bodoni zieht sich hierzu in ein weitläufiges privates Archiv voller Bücher, Zeitschriften, Bilddokumente und Tonträger zurück. Im alten Landhaus seiner Familie erobert er sich nach einem unfallbedingten Verlust seines persönlich-biografischen Gedächtnisses die Bilder- und Wörterwelt seiner Kindheit neu, erschließt sich auf dem Weg über die Dokumente der Alltagskultur seiner Zeit Mosaikstein für Mosaikstein all das wieder, was zu seiner persönlichen Geschichte gehört. Mit dem privaten Leben taucht auch die Zeitgeschichte wieder auf: das faschistische Italien, die Zeit der Resistenza, Europa im Krieg und in der Nachkriegszeit. Ein Archiv der Text- und Bildmedien. La misteriosa fiamma della regina Loana ist als Roman über die Suche und Entzifferung von Spuren ein Pendant zu Ecos Erfolgsroman Il nome della rosa (Eco 1980). Dort waren es in erster Linie die tradierten ‚Text‘Bestände gewesen – die Bücher, die die Ordnungen des Wissens spiegeln, ein umfassendes Netzwerk bilden und sich über die einzelnen Leserköpfe hinweg miteinander unterhalten –, in denen ‚Welt‘ kondensiert und aufgehoben war. Das Universum der Bücher spiegelte das kulturelle Universum und seine Geschichte, seine Lesemuster und Lebensformen. Es galt, in mehr als einem Sinn, die Welt zu ‚lesen‘, und wenn dabei auch Werke der bildenden Kunst zu Objekten der Lektüre wurden, so geschah dies jeweils eingebettet in die Lektüren geschriebener Texte. Texte machen Geschichte, Texte ‚sind‘ die Geschichte – so die Leitidee des Rosenromans. In der regina Loana nun tritt an die Stelle der Bibliothek das Archiv der alltagskulturellen Text- und Bildmedien sowie der Tonträger. Geschichte, individuelle wie kollektive, wird nicht mehr vorrangig durch Texte dokumentiert, sondern auch und gerade von Bildern: so die Leitidee dieses neuen Romans. Eco, mit dem aktuellen kultur- und medienwissenschaftlichen Diskurs schon in seiner Eigenschaft als dessen prominenter Teilnehmer bestens vertraut, hat die Welt-Bibliothek, in der es zwar auch illustrierte Handschriften zu sehen gab, visuelle Darstellungen aber letztlich auf ihre dienende und illustrative Funktion beschränkt blieben, durch ein Archiv ersetzt, in dem die Bilder sich unübersehbar als wichtige Speichermedien des kulturellen Gedächtnisses zur Geltung bringen. Geschichte will nicht nur gelesen, sie will auch betrachtet werden. Wenn demnach die Rekonstruktion des zeitgeschichtlichen Panoramas und der persönlichen Geschichte des Helden in Ecos letztem Roman in weit höherem Maße an Bildmedien gebunden ist als in seinem ersten, so darf dies als Indikator umfassender diskursiver Verschiebungen angesehen werden, in deren rezentem Verlauf die Bilder als Träger des kulturellen Gedächtnisses aufgewertet worden sind. Allerdings lässt  





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Eco seinen Helden Bodoni keineswegs in ein wortloses Bildarchiv abtauchen. Stattdessen geht es in der regina Loana vielfach um Text-Bild-Ensembles: zum einen um Bilder, die gelesene Geschichten begleiten, um Buchillustrationen und Zeitungs-Bilder, zum anderen um aus Visuellem und Sprachlichem kombinierte Darstellungsformen. So etwa wird (im Zeichen persönlicher Erinnerungen) ein Kapitel in der Geschichte des Comics beleuchtet. Auch solche Bilder, die unbegleitet von Texten aufgespürt werden, sind bei Eco in dem Sinn von Wörtern umgeben, wie es Michel Butor in seinem Essay über Die Wörter in der Malerei dargelegt hat (Butor 1969). Denn die Wahrnehmung dieser Bilder ist unauflöslich verbunden mit der Erinnerung an Schlagworte, Formulierungen und Texte, an Dialoge und Lieder. Der zwischen dem Rosenroman und der regina Loana vollzogene ‚visual turn‘ kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass wirkliche (und nicht nur beschriebene) Bilder sich hier in den Romantext selbst einmischen und gegen Ende die dargestellten Ereignisse streckenweise tragen oder doch zu tragen scheinen: Ecos Buch enthält einen umfangreichen Bildanteil mit Reproduktionen verschiedenster Bildtypen; seine Geschichte über Bilder ist eine Bilder-Geschichte (in dieser Hinsicht ist es symptomatisch für einen interessanten und facettenreichen Trend in der Gegenwartsliteratur. Für viele rezente Werke der literarischen Fiktion und der angrenzenden Essayistik ist die Integration von Bildelementen und die Erzeugung von Spannungsbeziehungen zwischen Text und Bildern konstitutiv). Bildregie des Romans. Eco fügt die Bilder nicht beliebig zum Text, sondern entwickelt eine raffinierte Bildregie. In der Phase des Gedächtnisverlustes von Bodoni sind noch keine Bilder zu sehen, dafür liest man allerdings vielfältige literarische Zitate. Bodoni hat nämlich nur einen Teil seines Gedächtnisses verloren – den, der sich auf Persönliches und Lebensgeschichtliches bezieht –, während sein unpersönliches Lesergedächtnis bestens funktioniert; er spricht und denkt in angelesenen Wendungen, ganz jener Intertextualitätstheorie gemäß, die schon im Rosenroman narrativ inszeniert worden war. Parallel zur sukzessiven Rekonstruktion seiner persönlichen Vergangenheit breiten sich im Buch die Bilder aus; sie werden zahlreicher, größer und verdrängen tendenziell den Text. So vollzieht sich innerhalb des Buches auf sinnfällige Weise ein ‚visual turn‘. Metonymisch steht dafür die Gestalt der Königin Loana, einer Comicfigur, deren visueller Auftritt im Roman für die Initiation des Helden (und des Lesers) in eine populärkulturelle Bilderwelt steht. Den Höhepunkt markiert hier eine längere Sequenz von Seiten, auf denen nur Bilder zu sehen sind – in der Logik des Romans Traumbilder des Helden, der den Comicfiguren und sonstigen Gestalten seiner Kindheitswelt hier wiederbegegnet wie bei einer Show; alle Figuren zeigen sich auf einer langen Treppe. (Anlässlich des Revue-Charakters ihrer Inszenierung wäre an die Etymologie des Wortes ‚Revue‘ zu denken, das auf ein Wieder-Sehen hindeutet.) So wie Bodoni in diese Bilderwelt eintaucht, so auch der Betrachter der Seitensequenz. Auf den letzten Seiten erfolgt dann eine Rückkehr zum verbalen Erzählerbericht. Diese suggeriert aber nicht, dass sich nur die Sprache (und mit ihr die Reflexion) der  





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zeitweilig dominanten Bilderflut bemächtige, sondern es scheint eher, als sei der IchErzähler von einer Welt imaginierter Bilder absorbiert worden, die nun auch über seine Worte bestimmen. Eine andere Form des ‚visual turn‘: zweideutiger noch als der erste. Dass der Protagonist Bodoni heißt, also den Namen einer bekannten Schrifttype trägt, darf als ironische Reminiszenz an den Topos vom Buch der Welt gedeutet werden, der im Rosenroman eine so prägende Rolle spielte:19 Bodoni ist eine Letter im Buch der Zeitgeschichte. Als lebendes Schriftzeichen changiert er – ebenso wie als Erzähler eines bebilderten Romans – zwischen dem Sprachlichen und dem Bildlichen. Einerseits sind Schriftzeichen ja dazu da, Worte zu fixieren. Doch andererseits sind sie selbst etwas Sichtbares, und eine spezielle Schrifttype wie die Bodoni unterscheidet sich von den anderen gerade durch ihre visuelle Erscheinungsform. MSE  



Abb. E 1/9: Umberto Eco: La misteriosa fiamma della regina Loana. Romanzo illustrato. Mailand 2004, S. 422f.  



19 Eine Fülle anderer Analogien verbindet La misteriosa fiamma della regina Loana mit seinem ersten Roman; so übernimmt der Name der Königin Loana die Funktion des Namens der Rose; er steht für einen unablässig gesuchten, aber hinter seinen medialen Repräsentanten ungreifbaren Referenten. Ecos Buch proklamiert keine Paradigmenwechsel, sondern demonstriert, inwiefern der Bildmediendiskurs an den Diskurs über Textualität anschließt.

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E 1.34 Aka Morchiladze: Santa Esperanza (2004) Aka Morchiladzes Roman Santa Esperanza (Morchiladze 2004; 2006) besteht aus einem Stapel loser Hefte in einer rotbraunen Filztasche. Vorn durch eine Lasche geschlossen, macht diese die Heftrückenfarben sichtbar und hält die Kollektion locker zusammen. Die Umschläge der Hefte ähneln Spielkarten. In vier Farbgruppen (Rot, Gelb, Grün, Blau) liegen insgesamt 36 Hefte vor. Die jeweils 9 Hefte einer Gruppe tragen bestimmte Spielkarten-Symbole auf dem Umschlag. In den Heften selbst finden sich keine abgeschlossenen Geschichten, sondern fragmentierte Episoden, die in anderen Heften ihre Fortsetzung finden; hinzu kommen weitere Informationen über den Schauplatz des Romans und die Figuren. Ein weißes Beiheft – nur scheinbar ein ‚Paratext‘ – enthält den fiktionalen Bericht über die Entstehungsgeschichte des Romans, diverse Vorschläge zur Lektüre sowie andere Materialien.  



Schauplatz, Geschichte, Akteure. Schauplatz der netzwerkartig verknüpften Geschichten im Roman sind die (fiktiven) Johannesinseln im Schwarzen Meer, vor allem die Hauptinsel Santa Esperanza mit der Kapitale Santa City. Die Inselbewohner sind Nachfahren verschiedener Siedlergruppen, die sich seit dem Mittelalter hier niedergelassen haben, und nach wie vor bestehen kulturelle und religiöse Differenzen, auch wenn der Inselstaat auf eine jahrhundertelange Geschichte der Durchmischung und Hybridisierung, der Konversionen und der Assimilationen zurückblickt. Quantitativ in deutlicher Überzahl sind die Nachfahren von Georgiern, die im Mittelalter hier angesiedelt wurden. Eine alte Elite von Inselgeorgiern, die sich als eigenständig begreift, ist kulturell dominant, dabei allerdings von einer anderen Gruppe, den Sungalis, abhängig, die traditionell Wächter- und Dienstleistungsfunktionen wahrnehmen. Weitere Vorfahren der heutigen Esperantiner waren muslimische Türken, von denen die Insel zeitweilig beherrscht wurde, wobei man die Verwaltung in den Händen der Einheimischen beließ. Auch italienische Kaufleute, meist als „Genuesen“ bezeichnet, haben Kultur und Population geprägt; hinzu kommt der Einfluss einer britischen Besatzungspopulation und ihrer Kultur. Santa Esperanza ist mehrsprachig, wobei das Georgisch der esperantinischen Georgier von dem der Mutterland-Georgier abweicht. Seit dem Krimkrieg hat Santa Esperanza unter britischer Verwaltung gestanden. Dieser Zustand endet laut Pachtvertrag zwischen Briten und Esperantinern im Jahr 2002; ab nun sollen und wollen letztere selbst ein parlamentarisches Staatssystem etablieren. Agenten des britischen Geheimdienstes bereiten eine friedliche Übergabe vor; die Nachfahrin einer alten esperantinischen Familie wird von den Briten als Königin Agatha installiert. Doch zwischen den einflussreichen Familienclans des Landes besteht Uneinigkeit über die künftigen Machtstrukturen, und die Königin wird Opfer eines Attentats. Nach einem Bürgerkrieg erholt sich das Land; Teile der Insellandschaft werden als Ferienparadiese gestaltet und als Einkunftsquelle genutzt.

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Die Hefte als Träger vernetzter Geschichten. Die Hauptakteure gewinnen durch die in den Einzelheften erzählten fragmentarischen Geschichten Profil; die Handlungsstränge vernetzen die Hefte untereinander. Die reichste der esperantinischen Familien sind die georgischen Wisramiani, eigenwillig, aber auch untereinander zerstritten. Kurz vor dem Bürgerkrieg stirbt der alte Konstantin Wisramiani, lange Zeit ein machtbewusster Patriarch, der erst sterbend einsieht, welch verhängnisvolle Folgen sein Machtkampf erbracht hat, den auch seine Frau Kaya aktiv getragen hat. Unfähig seine Einsichten noch zu kommunizieren, schreibt der Sterbende seinem Enkel Data das Wort inti („lauf“, „run“) aufs Bettlaken. Das Leben der Tochter Konstantins und Kayas, Salome, ist durch die Herrschsucht der Eltern geprägt worden: Die Liebe zwischen Salome Wisramiani und ihrem Schulfreund, dem Genuesen Sandro da Costa, ist Jahrzehnte vor der Haupthandlung vom Wisramiani-Clan missbilligt, Salome gegen ihren Willen mit einem anderen (aus Georgien stammenden und von dort geflohenen) Mann verheiratet worden. Dieser Mann, Nick, ist ein Kleinkrimineller, der von den mächtigen Wisramiani vereinnahmt wird, weil es der Familienregel entspricht, dass Töchter nur Georgier heiraten dürfen. Nick hasst schließlich seine neue Familie. Salome, die vor allem ihre Mutter Kaya verabscheut, wird im Lauf zweier unglücklicher Jahrzehnte drogensüchtig und aggressiv; mit eisernem Willen bestimmt sie schließlich die Geschicke des Clans. Sandro, der sie immer noch liebt, begeht als alternder Mann Selbstmord. Seine persönlichen Aufzeichnungen enthüllen im Roman Etappen der langen unglücklichen Liebesgeschichte. Martia, der die Sicherheitstruppe der Wisramiani anführt, liebt die herrische Salome ohne alle Hoffnung. Salomes ungeliebter Ehemann Nick wird zum Gefolgsmann der kurzzeitig amtierenden Königin Agatha, gemeinsam mit seinem Freund, dem Berufsspieler Parna, dem Fahnenträger der Königin; zusammen mit der Königin gehen beide im Bürgerkrieg zugrunde. Data Wisramiani, Erbe des Clans, ist ein passionierter Inti-(Intee)-Spieler. Er verfällt der Klagesängerin Kesade, die im Bürgerkrieg zu Tode kommt, indem sie nach ihrer Verhaftung von der Zitadelle springt. Schließlich gelingt es der mit dem eigenen Clan zerfallenen Salome, den Kampf der Clans zu beenden. Allerdings sind die meisten Hauptakteure da schon tot, und die zuvor blühende Kultur Santa Esperanzas ist weitgehend zerstört. Traditionen und ihr Echo im Buch. Santa Esperanza hat seine eigenen kulturellen Traditionen. Eine traditionsreiche kulturelle Praxis ist der Klagegesang (Blue Song), der ausschließlich von verschleierten Frauen praktiziert wird, deren Namen unbekannt bleiben und die ihre wortlosen Gesänge ursprünglich am Meeresufer performierten. Sie agieren in der Gegenwart neben ihrer (meist bescheidenen) Alltagsexistenz als Sängerinnen und schlagen ihre Zuhörer in den Bann. Wegen der starken emotionalen Wirkungspotenziale dieses Gesangs darf er in der Gegenwart nur in Clubs und kontrolliert ertönen. Gegenstand lokaler Legenden ist auch die berühmte Pfeife des früheren Gouverneurs Ali-Bey. Diese soll so lang gewesen sein, dass sie das Meer zwischen der Hauptinsel und einer Nachbarinsel überbrückte; Reste der Pfeife

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werden als Kultobjekte aufbewahrt. Im Nachlass der Königin Agatha findet Alfredo da Costa die übrigen Bruchstücke. Von britischen Agenten zusammengesetzt, erweist sich die Pfeife als kürzer als allgemein geglaubt. Das ethnisch und kulturell teils gespaltene, teils hybride Inselreich von Santa Esperanza bespiegelt sich selbst vor allem im Kartenspiel „Intee“ (esperantinisch für „Lauf!“, „Run!“), das man nur hier spielt, das als ein Herzstück der authentisch esperantinischen Kultur gilt und dessen Karten in aufwendig ausgemalter Sonderausstattung zudem als wertvolle Geschenke und Souvenirs zirkulieren. Die Karten des Intee-Spiels gliedern sich nach vier Farben (Weinrebe, Brombeere, Distel und Säbel, denen die Farben Rot, Gelb, Grün und Blau entsprechen); zu jeder Farbe gehören neun Karten mit Symbolen, so dass ein Kartensatz aus 36 Einzelkarten besteht. Der Spielverlauf erscheint als Metapher für das Spiel der Geschichte und des Lebens, in denen Glück und Geschick, Zufall und menschlicher Wille in wechselnder Durchmischung das Geschehen bestimmen. Es gibt übrigens ‚gute‘ und ‚böse‘ Farben. Kartenspiel und Welt-Geschichte bespiegeln einander. Das Intee-Spiel unterscheidet sich von allen anderen Kartenspielen, so wie Santa Esperanza als Inselreich ja ebenfalls eine besondere Teilwelt darstellt. Verweisen die vier Farben auf die vierfache ethnisch-kulturelle Prägung der Inselbewohner (Georgier, Türken, Italiener, Engländer), so korrespondieren die Symbole auf den Spielkarten Motiven aus der Überlieferung des Landes, Objekten und Figurentypen, die als typisch gelten. Eine reiche Fülle an Geschichten zirkuliert, in denen sich Historisches und Imaginäres vermischt. Intee und seine Karten sind mit vielen dieser Geschichten assoziiert. Rahmengeschichte. Ein georgischer Schriftsteller, der sich viel im westlichen Ausland aufhält, textinternes Alter Ego von Morchiladze, besucht die Johannesinseln 1997 das erste Mal und hält sich dabei in der Hauptstadt Santa City (Saint John’s Citadel) vier Tage auf. Sieben Jahre später kehrt er zurück, nachdem er als Georgier nicht ohne Probleme ein Visum für das Land erhalten hat; seit seinem ersten Besuch hat der esperantinische Bürgerkrieg stattgefunden. Während des zweiten, nun halbjährigen Aufenthalts sammelt der Schriftsteller vor allem Geschichten aus und über Santa Esperanza und seine Bewohner, historische und eher fabelhafte, Liebes-, Staats- und Abenteuergeschichten, Legenden und Mythen, Geschichten Einzelner und ganzer Familienclans, mündlich erzählte und geschriebene Geschichten. Er kompiliert all dieses Geschichtenmaterial in insgesamt 141 Schreibheften, wie man sie in Santa Esperanza kaufen kann, bearbeitet und ergänzt dabei die unvollständigen Geschichten. Auf der Basis der Sammlung soll ein Buch entstehen. Ein Freund aus Santa City schenkt dem Erzähler wenige Tage vor dessen Abreise im Namen einer ganzen Freundesgruppe einen Satz johanneischer Spielkarten (Intee-Karten), als kunsthandwerkliches Produkt ein wertvolles Unikat, von einem Meister handgemalt, mit dem Namen des Besitzers (also des Erzählers) auf der Packung. Nach London zurückgekehrt, macht sich der Schriftsteller daran, sein Material gestalterisch zu bearbeiten. Der Anblick der ausgelegten Karten gibt den Anstoß zu dem Einfall, eine

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Verknüpfung zwischen den Spielkarten und den Heften mit den gesammelten Geschichten herzustellen; die weitaus höhere Zahl der Hefte (über 140) erfordert jedoch weitere Dispositionen, zu denen der Erzähler durch seinen Freund Ahmed Kaya angeregt wird. Kaya rät dem Erzähler zunächst, alle Geschichten zuerst auf einen Karton zu ‚malen‘ und diesen dann zu zerschneiden (Morchiladze 2006, S. 21). Gesprächsweise entwickelt sich dann der Plan, das gesammelte Geschichtenmaterial so auf 36 Hefte von jeweils neun mal vier Farben zu verteilen, dass sich die Bausteine in unterschiedlichen Reihungen lesen lassen: so etwa zunächst farbenweise – oder aber, die Farbengruppen übergreifend, zuerst nummernweise („viermal die Eins, viermal die zwei…“, ebd., S. 22). So breitet der Erzähler all sein Material aus und legt Listen der Materialien an; er zerschneidet, klebt neu zusammen, und so werden die über 140 Hefte auf 36 reduziert, gefüllt mit Geschichten, die allesamt untereinander vernetzt sind.  





Metaliterarisches. Metaliterarischen Charakter gewinnt der Roman durch diverse Autoren- und Erzählerfiguren, zu denen unter anderem der schriftstellernde Haupterzähler gehört (s. u.). Als Repräsentanten des Literarischen erscheinen aber auch andere Beobachter und Chronisten, Romanciers, Publizisten, Journalisten, Geschichtenerzähler und Geschichtenhändler – sowie Institutionen, die als das ‚Gedächtnis‘ von Santa Esperanza dessen Geschichtenbestände verwalten. Ein wichtiger Schauplatz ist (auch und gerade in dieser Funktion) das Orthodoxe Kloster, das älteste Steingebäude der Hauptinsel und seit Jahrhunderten Wohnsitz von Mönchen, die die Chroniken von Santa Esperanza führten. Kloster und Stadt (Zitadelle) beobachten einander stets gegenseitig; repräsentiert werden sie jeweils durch zwei einander gegenüberliegende Fenster. Nick, der Georgier, wird durch eines dieser Fenster mit einem Pfeil erschossen, nachdem er im Kloster Zuflucht gesucht hat. Durch das andere Fenster in der Zitadelle stürzt die Klagesängerin Kesane zu Tode. Im Kloster lebt der Mönch Pantheleimon, Data Wisramianis enger Freund. Verwalter der Geschichte von Santa Esperanza ist auch Alfredo da Costa, der Onkel Sandros und Direktor des Städtischen Museums auf der Zitadelle, also des säkularen Pendants zum Kloster. Nach dem Bürgerkrieg beschäftigt er sich als letzter Vertreter seiner Familie mit der Familiengeschichte. Der frühere Seemann Luka, der ein einziges erfolgreiches Buch über Santa Esperanza geschrieben hat, repräsentiert in der esperantinischen Gesellschaft die Literatur in doppelter Hinsicht: wegen seiner (kurzfristigen) Autorschaft und weil er selbst wie eine aus Romanen zitierte Figur wirkt. Lukas Neigung gilt Salome Wisramiani. Er ist ein liebenswürdiger und unermüdlicher Geschichtenerzähler. Seine geschiedene Frau Jessica de Rider hat einige Unterhaltungsromane geschrieben. Ihr Rivale ist der Schriftsteller Edmond Clever. Lamur Mosiarule (Lamour the Walker/der Läufer) lebt wie seine Vorfahren vom Aufspüren und Verkaufen von Neuigkeiten. Er agiert u. a. als Privatdetektiv und lebt von Klatschgeschichten. Die junge Frau Monica Uso di Mare liebt Sandro da Costa und arbeitet als Journalistin.  





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Kombinatorik. Morchiladze knüpft mit seinem Roman an mehrere ästhetische Praktiken, Traditionen und Konzepte an. Das auffälligste Merkmal seines Romans resultiert aus dem Verzicht auf die Form des gebundenen Buchs, aus der Modifikation des Kodex. Als Roman aus losen Teilen ähnelt Santa Esperanza anderen Romanen und literarischen Werken, die materialiter aus isolierten Kapiteln oder Seiten bestehen – wie etwa Bryan Stanley Johnsons Roman The Unfortunates (1969) und Marc Saportas Composition No. 1 (zuerst 1962). So wie dort der Leser teils explizit, in jedem Fall aber implizit eingeladen ist, Lektüre als ein kombinatorisches Spiel zu betreiben, so lädt auch Morchiladzes Roman im Beiheft zur Herstellung von Kombinationen aus den einzelnen Geschichtenbausteinen ein. Das Beiheft stellt die Heftgruppen nach Farben zusammen und gibt Lesehinweise, ohne die Lektüre zu determinieren. Die Weinrebe ist die erste Farbe im Intee-Spiel. Morchiladzes Serie der neun Weinrebenkarten (rot) ergibt „Das Buch der Zurufe“ (ebd., Beiheft, S. 26). Dieses handelt von der Geschichte der Johannesinseln („Santa Esperanza“ genannt). Liest man die Hefte nach Farbgruppen, so ergeben sich vier Geschichten. Die Serie der neun Brombeer-Karten (zweite Farbe, gelb) erzählt eine Lebensgeschichte. Die Distel-Serie (dritte Farbe, grün) ergibt als Ensemble eine Geschichte mit dem Titel „Das Buch des unglückseligen Tigers“ und behandelt laut Beiheft das „Schicksal der Frauen“ (ebd., Beiheft, S. 28). Die blauen Hefte stehen im Zeichen des Säbels als Symbolfarbe; es erzählt, wie es heißt, unter dem Titel „Das Buch vom Ausreißen und Sterben“ von geschwungenen Säbeln und davon, wie einige ihr Leben beginnen, andere es beenden (ebd.). Dieselben Karten, die (jeweils unter den Nummern 1 bis 9) die je neunteilige rote, gelbe, blaue und grüne Geschichte bilden, lassen sich auch anders gruppieren, nämlich nach Zahlen. So kann man die Einser-, Zweier-, Dreier- etc. Karten bis hin zu den Neuner-Karten jeweils als Ensemble lesen und dabei dann jeweils zunächst das Weintraubenmotiv, dann das Brombeer-, das Distel- und das Messer/Säbel-Motiv zu einer Viererreihe legen. So ergibt sich eine neue Gruppe von (nunmehr neun) Geschichten. Aber es bleibt nicht bei den vier plus neun Geschichten; der Haupterzähler weist auf weitere Vernetzungsmöglichkeiten hin. Die im Beiheft genannten Reihen („Inhaltsverzeichnisse“ der potenziellen Bücher) sind nicht gleich lang. Kriterium der Konstellierung ist die inhaltliche Verknüpfung der Hefte. Im Durchspielen der Kombinationsmöglichkeiten enthüllt sich die Unerschöpflichkeit des Buchs (ebd., S. 41). Man könne zwar die Hefte selbst nicht mehr verändern, „aber selbstverständlich kann man nach Gutdünken neue Hefte hinzufügen“ (ebd., S. 41f.).  











Materialität. Ein originelles Beispiel rezenter Buch-Literatur ist Santa Esperanza vor allem deshalb, weil seine ungewöhnliche Materialität (die Kombination von 37 Heften und einer Filztasche) nicht allein als Einladung zum kombinatorischen Lesen konzipiert ist, sondern außerdem mit dem Inhalt des Romans korrespondiert. Aktiviert werden die Metaphorik um den Verlauf von Geschichte als ein Spiel sowie die spezifischen Konnotationen von Kartenspielen. Als Metaphern dienen aber auch die Ma-

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terialien und ihre Beschaffenheit. Die Farbgebung der Hefte verweist auf vier die Welt des Romans bestimmende Ethnien bzw. Kulturen, der rotbraune Taschen-Einband auf das inhaltlich wie als Metapher signifikante Motiv der Reise. Die Reise wiederum erscheint als Gleichnis der Lesereise, die durch die einzelnen Geschichten führt, welche die Heftekollektion enthält. Der Raum für mögliche Passagen wird damit bereitgestellt, aber jeder Leser kann seine Route selbst wählen. MSE

E 1.35 Steve Tomasula: VAS: An Opera in Flatland (2004) VAS: An Opera in Flatland weist ein hohes Maß an grafisch-typografischer Gestaltung auf, die dabei nicht ornamental, sondern handlungstragend eingesetzt wird. Papierfarben und Sequenzbildungen grafischer Elemente bzw. grafisch gestalteter Seiten übernehmen narrative und deskriptive Funktionen. Grafische und Bildelemente entstammen vor allem dem Bereich naturwissenschaftlicher Darstellungen und Codes, genauer: der Genetik, abgestimmt auf die zentrale thematische Bedeutung der Humangenetik für den Roman. Modi der Buchgestaltung. So zeigen mehrfach ganze Seitenkomplexe Flächen mit DNA-Codes; reproduziert werden Seiten aus bebilderten naturkundlichen Darstellungen (Tomasula 2004, S. 115, vgl. auch S. 70). Manche Seiten ähneln Screenshots (ebd., S. 254), andere ähneln Computergrafiken mit sich überlagernden Motiven (ebd., S. 255). Manche Seiten erinnern an Comics (ebd., S. 126f.) und lassen Science-FictionStoffe assoziieren. Fotos von Orten und Objekten verweisen u. a. auf Stätten der Reproduktionsbiologie (vgl. ebd., S. 267). Die Bildflächen des Buchs wechseln mit Textflächen in schnellem Rhythmus ab. Neben einer Hauptgeschichte, die in Textblocks präsentiert wird, findet sich eine Vielzahl anderer, auf jeweils besondere Weise gedruckter Texte: Nebentexte, Bildlegenden, Fragen und Thesen. Wie die Bildbestände des Romans, so sind auch seine Textbestände zu weiten Teilen Zitate oder PseudoZitate. Insgesamt durchdringen sich textliche und bildliche Ebene eng. Bildtypen, Textformen, Zeichen, Layoutelemente und Farben erscheinen dabei stark semantisiert. So weist das Buchcover einen von Adern durchzogenen Fleischton auf, der an den menschlichen Körper erinnern soll. Eine in den Band eingebundene ausfaltbare Dreifach-Seite zeigt ein Diagramm zur naturgeschichtlichen Entwicklung hin zur Square- und Circle-Population (ebd., S. 57).  



   









Flatland-Geschichten. Tomasulas der Science Fiction zuzuordnender Roman verweist schon durch seinen Untertitel auf einen wichtigen Hypotext: auf Edwin Abbotts Roman Flatland: A Romance of Many Dimensions (1884), dessen Handlung in einem zweidimensionalen (flächigen) Universum spielt. So wie bei Abbott ein Flatland-Bewohner die Gelegenheit erhält, ein dreidimensionales Universum (Spaceland) kennen

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zu lernen, von dem er im heimischen Flatland dann berichtet, so suggeriert die in VAS vermittelte Hauptgeschichte, dass die Menschheit an der Schwelle zu einer neuen Dimension ihrer Geschichte steht: an der zwischen Humanismus und Posthumanismus. Anlässlich der Geschichte des Paares Square und Circle sowie ihrer Tochter Oval wird von einer wissenschaftlich-technologischen Entwicklung berichtet, welche den Weg zu einem neuen Design dessen öffnet, was bislang als gegebene ‚Natur‘ galt, nun aber zunehmend in den Zugriff der Technik gerät: Pflanzen, Tiere und Menschen lassen sich gentechnologisch modifizieren und neu entwerfen. Unter diesem Vorzeichen verzichten Square und Circle auf weitere Versuche einer natürlichen Reproduktion; der Romantitel VAS steht als Kürzel für die Vasektomie, die Square im Lauf der Romanhandlung an sich vornehmen lässt; der Roman beginnt mit Squares Signatur, mit der er sein Einverständnis für den Eingriff gibt, und endet mit einer text-bildlichen Darstellung der Operation, die in ein entsprechendes motivliches Umfeld eingebettet ist (Darstellungen von Operationsnähten, Bilder von Versuchstieren etc.; zuletzt repräsentieren schwarze Seiten die Anästhesie). Insgesamt erscheinen humane (oder, wie Square, humanoide) Figuren vor allem als Gegenstände der Vermessung und Analyse, der Planung, (Re-)Produktion und Bearbeitung. Flankiert durch Zeitungsartikel über ideale und entsprechend zu gestaltende Körper (vgl. ebd., etwa S. 260f.) finden sich viele Bilder aus dem Bereich der Biologie, der Genetik, der Chirurgie.  

Kodierungen, Strukturierungen. Szenario, Text- und Bildsprache des Romans stehen, was die Darstellung des Entwicklungsstandes in Richtung Posthumanismus angeht, im Zeichen ironisch-sarkastischer Überzeichnungen; sie geben aber durchaus Anstöße zur Reflexion über die Frage nach dem (Selbst-)Verständnis des Humanen. Zugleich bietet die für Text- und Bildebene typische Mimikry an wissenschaftliche Darstellungsmodi und Theoriebildung Anlass, auch über Wissenschaft und ihren Welterklärungsanspruch sowie über die Bindung wissenschaftlicher Weltauslegungen an Codes und Darstellungsformen kritisch nachzudenken. Faktisches und Fiktionales sind nicht klar unterscheidbar, wie unter anderem die Bilder- und Formelsprache des Romans illustriert. Insofern sind Formen der Kodierung und ihre konstitutive Bedeutung für die erfahrene Realität und deren Interpretation das (zweite) Kernthema des Romans neben der Frage nach dem (Post-)Humanen. Codes erscheinen als gleichermaßen konstitutiv für die natürlichen Wesen sowie für ihre technologisch indizierten Nachfolger – und für das literarische Artefakt, hier: den Roman. Neben den Codes und Bildprogrammen, Bildzitaten und Spielformen der Schriftbildlichkeit treten diverse strukturierende Maßnahmen in den Dienst der Vermittlung des Kernthemas Gentechnologie und Posthumanismus. So lässt sich die nicht-lineare Form des Romans, seine Tendenz zu motivlichen und narrativen Verzweigungen als Analogon eines zeitgenössischen Verständnisses der Geschichte des Lebens verstehen: Das (evolutionistische) Modell des linearen Progresses von ‚Natur‘ ist durch das einer Verzweigung in alternative, technologisch induzierte Entwicklungsverläufe abgelöst worden. MSE  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 1.36 Salvador Plascencia: The People of Paper (2005) Salvador Plascencias The People of Paper (Plascencia 2007) enthält eine Fülle inhaltlich motivierter typografischer Besonderheiten, bezieht aber auch die Räumlichkeit des Kodex ins ästhetische Kalkül ein. Gelegentlich muss das Buch um 45 Grad gedreht werden, um gut lesbar zu sein (vgl. ebd., S. 213, 215, 217).  

Papierfiguren. Im Roman agieren Figuren, die einerseits im wörtlichen, andererseits im übertragenen Sinn aus Papier gemacht sind: Erzählt wird von Menschen und Tieren, die aus Papier bestehen; gemeint sind aber auch literarische Figuren als ‚papierne‘ Buchgeschöpfe. Plascencias metaliterarischer Roman erzählt eine Geschichte, die sich auf differenten Ebenen fiktionaler Wirklichkeit abspielt und vom Konflikt eines Schriftstellers mit seinen Figuren handelt. Letztere fühlen sich von ihrem Schöpfer Saturn kontrolliert und fremdbestimmt, kämpfen um ihre Autonomie und gegen ihre Traurigkeit.20 Der romaninterne ‚Autor‘, ein literarisches Alter Ego Salvador Plascencias, ist nicht nur ein schwacher und trivialisierter Nachfahre des Prometheus, sondern er wird auch „Saturn“ genannt. (Die polyvalente Gottheit Saturn ist mit Ackerbau und mit den Saturnalien assoziiert. Auch „Kronos“ genannt, wird sie mit Chronos, dem Gott der Zeit, oft konfundiert. Als Gott der Zeit ist Saturn-Chronos zugleich Herr des Gesetzes und der Schrift – ein Tyrann, der die Macht der Schrift zugleich verkörpert und behauptet und streng über die Einhaltung der Buchstaben des Gesetzes wacht.) Die Geschichte seiner Figuren spielt in Südkalifornien sowie in mexikanischen Dörfern. Die Armut der Chicanos und Wanderarbeiter wird sinnfällig im Bild eines Dorfs, das sich in permanenter Auflösung befindet, bis alles zerfällt, auch die Bewohner. Hauptschauplatz ist die kalifornische Kleinstadt „El Monte“, in der mexikanische Arbeitsmigranten Blumen und Früchte ernten und über der sich Saturns Himmel aufspannt. Gegen den verantwortungslosen Saturn rebelliert die Gang der „El Monte Flores“, die sich der Kontrolle durch den Autor-Gott dadurch entzieht, dass sie die eigenen Gedanken für diesen unlesbar werden lässt. Denn Bleipanzer, wie man sie durch Zerlegung bleigepanzerter mechanischer Schildkröten gewinnt, schützen vor Saturns Blicken. Von einem schwachsinnigen Kleinkind, dem „kleinen Nostradamus“, lernen sie vermittelt durch das Mädchen Little Merced sogar die Kunst, ihre Gedanken vor Saturn zu verbergen. Bandenmitglied Smiley spürt Saturns Anwesen in San Gabriel, nahe bei El Monte, auf – in einem Himmel aus Papiermaché. Ein Alter  



20 Plascencias Roman hat im 20. Jahrhundert diverse Vorläufer: Miguel de Unamunos Roman Niebla (1914) und Felipe Alfaus Roman Locos: A Comedy of Gestures (1936) erinnern mit ihren Geschichten über Konflikte zwischen ‚Autoren‘ und ihren Figuren an Luigi Pirandello, der analoge Rebellionen von eigenwilligen Figuren gegen ihren Autor und das ihnen zugedachte Schicksal als Dramenautor und Regisseur, aber auch im Medium narrativer Texte inszeniert, vor allem in Texten, die dem Werkkomplex um Sei personaggi in cerca d’autore (1921) angehören.  

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E 1 Buch-Literatur

Ego Saturns (und Plascencias) ist der kunstreiche Antonio, der lebendige Wesen aus Papier schaffen kann. Stimmenmischung. The People of Paper ist, wie er selbst signalisiert, ein in sich widersprüchlicher Komposit-Text. Ein erster Teil ist der vom Autor Plascencia schmerzlich vermissten Liz gewidmet, die sich am Ende dieses Teils aber zu Wort meldet, Plascencia seine Lügenhaftigkeit vorhält und fordert, aus diesem Roman herausgehalten zu werden. Der zweite Romanteil beginnt mit ähnlichen, aber böseren Worten als zuvor. Der Autor, so scheint es, hat mit der Arbeit von neuem begonnen; Titel und einleitende Teile wiederholen sich in modifizierter Form. Verschiedenste Sprecher kommen im Roman zu Wort, dargestellt durch variationsreiche typografische und buchgestalterische Mittel. Zahlreiche Passagen in Mehrspaltendruck suggerieren die Simultaneität verschiedener Stimmen, die sich auf die erlebte Welt aus verschiedenen Perspektiven beziehen. Unter die Menschenstimmen mischt sich gelegentlich auch die Stimme einer mechanischen Schildkröte, die sich mittels eines digitalen Codes artikuliert („0000011100011000 […]“; ebd., S. 97). Zuletzt versickert Saturns Monolog; die Schrift verblasst und mündet ins Weiß der Seite. Als Zeichen-Repertoires eingesetzt werden u. a. auch (gezeichnete) Handzeichen, Spielkarten und diverse Logos. Für Kommunikationsstörungen zwischen den Figuren stehen immer wieder graue Flächen, die den Text unlesbar machen: Mit ihren wechselnden Größen und Formen visualisieren sie vor allem, wie die Figuren ihre Gedanken vor Saturn verstecken. Zuletzt begleitet das Mädchen Little Merced seinen gegen Saturn rebellischen Vater Federico aus dem Reich Saturns hinaus; beide verschwinden von den Seiten des Buchs. Ein großer schwarzer Punkt markiert die Stelle, an der sie die Welt Saturns (und das Blickfeld des Lesers) unter einem Schirm verlassen.  



Typografische Gestaltung. Diverse Formen des Buchlayouts lassen die dialogischen Partien des Romans einem Dramentext ähneln. Die dadurch suggerierte ‚Theatralik‘ des Buchs korrespondiert mit den inhaltlich-thematischen Affinitäten zu Pirandello, dessen Schauspiel Sei personaggi in cerca d’autore von Figuren handelt, die nach einem für sie verantwortlichen Autor suchen. Insgesamt wird die Handlung des Romans über ihre verbal-erzählerische Vermittlung hinaus durchgängig auch visuell inszeniert. Das Geschehen findet selbst zu erheblichen Teilen auf dem Papier statt – da, wo (hypothetische) Reden und Dialoge unter grauen Flächen verschwinden, wo Texte sich in Kolumnen aus Stimmen ausdifferenzieren oder in Fragmente zerbrechen. Insbesondere der metaliterarische Charakter des Romans beruht zu erheblichen Teilen auf dem Einsatz typografischer Mittel. Durch Spaltendruck und andere seitengestalterische Maßnahmen werden die Figuren und ihre Relationen zueinander sinnfällig gemacht; der Einsatz von Störfaktoren bei der Textpräsentation spiegelt das Geschehen im Roman und lässt den Leser daran teilhaben. Die immanente Poetik des Romans ist insgesamt geprägt durch eine spielerisch-postmoderne Anknüpfung an den Diskurs um Autorschaft und Autorität sowie durch eine damit verbundene explizite  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Selbstthematisierung, vergleichbar mit Michael Endes Die Unendliche Geschichte (1979) und Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979). MSE

Abb. E 1/10: Salvador Plascencia: The People of Paper. London 2006 (zuerst San Francisco 1998), S. 188f.  



E 1.37 Mark Z. Danielewski: The Fifty Year Sword (2005, 2012)  

Danielewskis Buch erzählt eine mysteriöse Geschichte, zentriert um den Motivkreis um gespenstische und magische Erscheinungen. Die Gestaltung des Buchs steht im Zeichen eines spezifischen Vorstellungs- und Bildreservoirs: Praktiken der Textilarbeit wie Nähen und Sticken bestimmen Bildprogramm und Buchausstattung. Variationen der Text(il)-Metapher. Damit nimmt das Buch implizit Bezug auf die ‚Text‘-Metaphorik sowie auf die Geschichte poetologischer Schneide- und Nähmodelle. Die Textanteile des aus Text- und Bildelementen komponierten Bandes werden nicht als konventionelle gedrängte Absätze präsentiert, sondern in einer locker wirkenden Verteilung über die Seiten, die dabei unterschiedlich viel Text tragen; platziert sind diese Textteile stets auf der linken Hälfte der Doppelseiten – so als habe  

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man es mit einer Stapel von Seiten zu tun, die jeweils nur eine ‚Oberseite‘ haben. Diese Suggestion passt zu dem Textilobjekt, das die Optik des Bandes prägt: zum Näh- oder Stickbild (das ja eine Ober- und eine Unterseite hat). Die grafischen Elemente, welche auf den meisten Buchseiten zu sehen sind, teils auf der jeweils rechten Hälfte der Doppelseite, teils auch auf beiden Hälften, sehen mehrheitlich aus wie Stickbilder oder wie die Fadenstrukturen, die mit einer Nähmaschine im Zickzack auf einer Unterlage angebracht wurden. Dabei sieht man teils die Ober-, teils die Unterseite solcher Näh- und Stickbilder. In der Regel abstrakt, haben manche der Textilbilder doch auch figurative Formen. In diversen Varianten zeigen sich die Umrisse herunterbrennender Kerzen, die als Sequenz den Verlauf der Zeit signalisieren, sowie Schwert-, Blatt- und Flügelformen. Weitere Bildelemente stellen Flächen mit Einoder Ausschnitten sowie Löcher-Linien dar, die man sich als Vorlage für anzufertigende Stickbilder denken kann. Das Buchcover zeigt eine solche Stickarbeit; der Schutzumschlag weist echte Lochungen auf wie die Vorlage für ein Stickbild, und auf der Innenseite des vorderen und hinteren Covers sind Nester aus bunten Fäden abgebildet. Die Fadenheftung des Bandes macht beim Durchgang durchs Buch durch auffällige rote Fäden ständig auf sich aufmerksam. Weit vorn, wie zur Einleitung (Danielewski 2012, S. 9), findet sich ein im Umriss an eine Säule erinnerndes Stickbild. Als dessen Reversseite (ebd., S. 10) zeigt sich beim Umblättern ein Text mit entsprechendem Umriss, indem sich ein antizipatorischer Hinweis auf die Deutbarkeit des folgenden Textes als Gespenstergeschichte findet. Als ein ständig gegenwärtiges Bindeglied zwischen Text- und Bilddimension des Buchs fungieren die gut sichtbaren Anführungszeichen innerhalb des Textes, der als Darstellung von Gesprächen gestaltet ist und entsprechend viele Anführungszeichen, manchmal auch doppelte, enthält. Verwendet werden Anführungszeichen in fünf verschiedenen Farben, was angesichts des ohne narrativen Kontext präsentierten Dialogs aus Gesprächsfetzen die Orientierung im Gewirr der Stimmen von fünf Personen erleichtern soll. Wo keine Anführungszeichen zu sehen seien, so die einleitende Erläuterung auf der Reversseite des Stickbildes, sei Schlimmes zu befürchten: die Intervention einer weiteren Person, des Lesers oder des Verfassers (vgl. ebd.). Letzterer habe die Teile seines Textes zusammengeborgt, gesammelt und zu einer Geschichte verbunden (ebd.). In den Textilarbeiten, die die Geschichte begleiten, bespiegelt diese sich demnach selbst. Sie wirkt wie die Stickbilder skizzenhaft.  



Ein Flicken-Text. Die umrisshaft dargestellten Ereignisse werden von der Näherin Chintana erzählt und spielen auf einer Party zum 50. Geburtstag von Chintanas Rivalin Belinda Kite, die ihr den Mann ausgespannt hat. Schauplatz der Party ist ein Waisenhaus. Zur Unterhaltung der Kinder und Gäste wurde ein Geschichtenerzähler engagiert, der mit einer schwarzen Kiste erscheint, von seinen geheimnisvollen Abenteuern berichtet und sein „Fifty Year Sword“ aus der Kiste holt. Die von diesem magischen Schwert geschlagenen Wunden zeigen sich, wie er sagt, bei den Opfern erst an deren 50. Geburtstag. Belinda schmäht den Erzähler und versucht spielerisch, sich mit

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

dem Schwert zu verwunden, zunächst folgenlos (ebd., S. 250–253). Als um Mitternacht ihr neues Lebensjahr beginnt, zerfällt sie in Stücke, von eigener Hand zerschnitten. Ein rotes Stickwerk auf weißem Grund visualisiert das blutige Ereignis (ebd., S. 278f.). Chintana gibt sich Mühe, Belinda zusammenzuflicken; fraglich erscheint die Haltbarkeit ihrer Stiche. Wie auch in anderen Büchern, versichert Danielewskis Paratext den fiktionalen Charakter der Geschichte und die allenfalls zufällige Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen. Wenn gelegentlich die Stick- oder Nähbilder mimetische Formen anzunehmen scheinen, so bleiben diese unscharf, verschwommen wie Geistererscheinungen. Manchmal illustrieren selbst abstrakte Bildsequenzen das Erzählte, so etwa eine Serie von Stickbildern, die die Wanderung des Geschichtenerzählers begleiten (ebd., S. 89–98). Die Geschichte der Heldin, die bei der Ausübung ihres Berufs Stücke zu einem allerdings fragilen Ensemble zusammennäht (und damit die von Belinda sich selbst zugefügten Blessuren zu reparieren versucht), erscheint als Gleichnis der erzählerischen Tätigkeit als eines Zusammennähens von Bruchstücken, als Reparatur von Schnitten, als Kompositionsarbeit, mit der auf zerteilte Figuren und eine fragmentierte Welt reagiert wird. Dieser metaphorischen Bespiegelung des literarischen Textes entsprechen die den Text begleitenden (und in Form von Anführungszeichen auch durchdringenden) Textilbild-Elemente als seine Pendants und Spiegelungen. So wie die Textilbilder je eine Vorder- und eine Hinterseite haben, so hat auch die erzählte Geschichte eine ‚unerzählte‘ Reversseite, die geheimnisvoll bleibt; die Hinter- und Untergründe der Ereignisse erschließen sich nicht. MSE  





E 1.38 Jonathan Safran Foer: Extremely Loud and Incredibly Close (2005) In Jonathan Safran Foers Roman Extremely Loud and Incredibly Close verliert der neunjährige Oskar Schell seinen Vater Thomas bei den Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center vom 11. September 2001. Erfahrungen des Verlusts und der Verlustangst prägen nicht nur Oskar nachhaltig, sondern auch die Leben seiner weiteren Familienmitglieder: Die Familien seiner Großeltern starben bei den US-amerikanischen und britischen Luftangriffen auf Dresden im Februar 1945. Der Bildhauer Thomas Schell sen., Oskars Großvater, hatte sich kurz zuvor mit Anna, der älteren Schwester von Oskars Großmutter verlobt und erwartete ein Kind mit ihr, als die Flächenbombardements die werdende Mutter auslöschten. Mit Anna und dem ungeborenen Kind verliert Oskars Großvater sukzessive seine Sprache, bis ihm auch das letzte gesprochene Wort, das englische „I“, abhandenkommt. Thomas kommuniziert nun über seine Hände, in deren Flächen er links das Wort „Yes“, rechts das Wort „No“ tätowiert hat. Darüber hinaus füllt er leere Bücher mit Phrasen, die ihm den zwischenmenschlichen Verkehr partiell ermöglichen. Durch Zufall treffen sich Oskars Großmutter und Großvater in New York. Sie heiraten unter der von Thomas sen. aufgestell 

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ten Bedingung, dass aus der Ehe keine Kinder hervorgehen. Nachdem Oskars Großmutter dennoch schwanger geworden ist, verlässt ihr Ehemann sie. Thomas jun. begibt sich auf die Suche nach seinem Vater – ein Motiv, das sich auch in der Interaktion mit seinem Sohn Oskar widerspiegelt: Thomas erteilt seinem Sohn diffizile Suchaufträge, denen Oskar auch nach dem Tod des Vaters noch folgt, um diesem ‚nah zu sein‘.  

Oscars Scrapbook. Die Materialität von Büchern und Texten. Oskar findet nach dem Ableben seines Vaters in dessen Ankleidezimmer einen Schlüssel in einem mit dem Namen „Black“ beschrifteten Umschlag. Er legt ein Register mit allen New Yorkern an, die den Nachnamen Black tragen und stattet ihnen in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Vornamen einen Besuch ab, um zu erfahren, ob die betreffende Person seinen Vater kannte und wo das Schloss zum Schlüssel zu finden ist. Auf seinen Exkursionen durch die Stadt und bei seinen Internetrecherchen findet und fotografiert Oskar diverse Dinge, die er in sein „Stuff That Happened to Me“-Scrapbook einklebt. Am Ende des Romans konstatiert er: „The whole world was in there.“ (Foer 2005, S. 325) – eine Feststellung, die Stéphane Mallarmés Idee von der Welt als einem Buch aufruft (zur Mallarmé-Rezeption im Künstlerbuch vgl. Teil A 1.7). Dass dem Kodex jedoch materielle Grenzen gesetzt sind, aufgrund derer er nicht die gesamte Welt zu fassen vermag, zeigt sich anhand der Tagebücher von Oskars Großvater. Im letzten an seinen verstorbenen Sohn gerichteten Eintrag beklagt Thomas sen., dass sein Tagebuch bald vollgeschrieben sei und der Platz nicht ausreiche (vgl. das Kapitel „Why I’m Not Where You Are. 9/11/03“, Foer 2005, S. 262–284). Die Zeilenabstände verringern sich im Fortlauf der Seiten zunehmend, bis die Buchstaben sich so überlagern, dass der Leser den Text nicht mehr entziffern kann. Auch Oskars Großmutter schreibt; im Gegensatz zu den unentzifferbaren Buchstabenüberlagerungen ihres Mannes bleiben ihre ‚beschriebenen‘ Seiten leer. Über Jahre ist sie damit beschäftigt, ihre Lebensgeschichte mit der Schreibmaschine ihres Ehemannes zu tippen, der zuvor das Farbband aus der Maschine entfernt hat und glaubt, dass seine Frau aufgrund einer ausgeprägten Sehschwäche nicht erkennt, dass die Buchseiten ihrer Lebensgeschichte unbedruckt geblieben sind (vgl. ebd., S. 121–124). Als ihr Mann sie ermutigt, weitere Details aus ihrem Leben in ihren Bericht zu integrieren, versichert sie ihm, dass sie bereits alles und jeden in ihrem Leben umfassend dargestellt habe. Sie verschweigt, dass sie beim ‚Verfassen‘ ihrer Autobiografie ausschließlich die Leertaste genutzt hat. Die vollgeschriebenen Seiten des Großvaters kontrastieren mit den leeren Seiten der Großmutter, analog zu den ihrer Ehe zugrundeliegenden Gegensätzen von ‚Leben‘ (Oma) und ‚Tod‘ (Opa), ‚Etwas‘ (Oma) und ‚Nichts‘ (Opa) sowie ‚Reden‘ (Oma) und ‚Schweigen‘ (Opa) – Dualismen, die sich auch auf die Doppelseite im Kodex auswirken: Die mit „Yes“ und „No“ tätowierten Hände des Großvaters werden in aneinandergelegter Haltung mit zwei Buchdeckeln analogisiert. („I signify ‚book‘ by peeling open my clapped hands, every book, for me, is the balance of YES and NO, even this one, my last one, especially this one.“ Foer 2005, S. 17). Die linke und die rechte Seite kön 











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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

nen somit einerseits als Oppositionen ausgewiesen werden, als Polaritäten, ohne Möglichkeit des Ausgleichs. Andererseits ist es möglich, die Buchseiten als Spannungsraum zwischen den Optionen „Yes“ und „No“ zu deuten. Buch und Sammlung. Bücher sind in Foers Roman neben ihrem Status als Medien der Selbstreflexion und der Kommunikation mit anderen vor allem ‚Sammelbehältnisse‘ (vgl. Teil D, Art. „Album und Scrapbook“). Die in Oskars Scrapbook und Thomas’ sen. Tagebüchern eingeklebten Fotografien (vgl. Teil D, Art. „Fotografie und BuchLiteratur“), Visitenkarten usw. sind im Buch selbst abgebildet. Mitunter stehen eine Abbildung und die im Text beschriebenen Hintergründe ihrer Anfertigung in unmittelbarer Nähe, zuweilen sind sie jedoch durch viele Seiten getrennt, sodass nicht immer ersichtlich ist, in welchem Zusammenhang die Bilder stehen. Direkt zu Beginn des Romans etwa zeigen das Cover und die folgenden fliegenden Blätter den Umriss einer Hand, ein Schlüsselloch, eine Schar fliegender Tauben und eine durchfensterte Häuserfront. Erst im Verlauf des Romans werden für den Leser die Beziehungen der Abbildungen zum Inhalt des Romans evident – er ist im gewissen Sinne ebenso wie Oskar auf der Suche nach Sinnbezügen zwischen Hinweisen, die von kontextualisierenden Informationen befreite Materialien ihm liefern.21  

Buchmetaphorik. Das Buch an sich wird in Foers Roman vielfältig metaphorisiert: Bücher werden bspw. im Verbund mehrerer Exemplare als Schutz präsentiert, indem sie als Füllung von Regalen die Wände der Laube von Oskars Urgroßvater bilden. Zudem werden Bücher mit etwas Lebendigem assoziiert. Nachdem Thomas sen. seine schwangere Frau verlassen hat und in seine Heimat zurückgekehrt ist, findet er am ehemaligen Standort des Gartenhauses eine Bibliothek vor, was die Vorstellung von Büchern als ‚Samen‘ nährt, die durch ihre Zerstörung und Einbringung in den Erdboden ‚keimen‘ konnten und mehr Bücher als zuvor an gleicher Stelle ‚wachsen‘ lassen (vgl. Foer 2005, S. 208). Bücher oder viele Papierseiten können jedoch ebenso aufgrund ihrer Materialität (und durchaus auch wegen ihrer Inhalte) als verheerender ‚Brandbeschleuniger‘ wirken: So befürchtet Oskars Großmutter, dass ihre gesammelten Briefe, die sie im Obergeschoss ihres Elternhauses während der Luftangriffe auf Dresden gelagert hatte, die Ausbreitung des Feuers im Gebäude begünstigt hätten, während Oskar darüber sinniert, ob eine papierlose Gesellschaft den Kollaps der Türme des World Trade Centers hätte verzögern können und sein Vater den Terroranschlag so vielleicht überlebt hätte (vgl. ebd., S. 325). Am Ende des Romans stellt Oskar fest, dass sein „Stuff That Happened to Me“-Album voll ist und bald ein neuer Band begonnen werden muss. Er nimmt die materielle Verfasstheit seines Scrapbooks nicht  



21 Bei den im Beispiel genannten Abbildungen handelt es sich u. a. um Hinweise auf die tätowierten Hände von Thomas sen., Oskars Suche nach dem passenden Schloss zum Schlüssel von Thomas jun., Oskars Erfindung eines ‚Vogelfutterhemdes‘, mit dem tödliche Abstürze aus großer Höhe verhindert werden könnten sowie um Oskars Fotografie der Appartmentfenster seiner Oma.  

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hin und reißt die Bildserie des „falling body“ heraus, dreht den zuvor im Album fixierten zeitlichen Ablauf um und arrangiert die Fotografien in umgekehrter Reihenfolge, sodass der Stürzende zum aufwärts Fliegenden wird. Das Zerreißen und die Neukombination der Buchseiten führt dabei die sich im Kodex manifestierende Möglichkeit der Erschaffung alternativer Welten vor. Dass es sich in Oskars Geschichte um eine modifizierte ‚Wirklichkeit‘ handelt, verdeutlicht sich anhand der ‚Verletzung‘ des Buchkörpers und der fortwährenden Sichtbarkeit der Seitenrisse. PH

Abb. E 1/11: Jonathan Safran Foer: Extremely Loud and Incredibly Close. New York 2005, S. 260f.  



E 1.39 Mark Z. Danielewski: Only Revolutions (2006)  

Mark Z. Danielewskis literarische Arbeit steht im Zeichen der Erkundung von Gestaltungsoptionen des Buchs und hat innerhalb der gegenwartsliterarischen Tendenz zur Buch-Literatur insofern repräsentativen Status. In Only Revolutions geht es um Wendungen und ‚Revolutionen‘ verschiedener Art, um inhaltlich dargestellte (politische, private) und um buchgestalterisch arrangierte (visuell bzw. bucharchitektonisch stimulierte). In seiner einfallsreichen Handhabung typografischer und anderer buchgestalterischer Mittel schließt der Roman an Danielewskis House of Leaves (2000) an, insbesondere durch wechselnde Ausrichtungen der Textverläufe.  

Ein Wendebuch. Während der Leser von House of Leaves ausgehend vom vorderen Einbanddeckel immer tiefer in ein sich zunehmend verzweigendes Text- und Geschichten-Labyrinth hineingezogen wird, beginnt die Desorientierung bei Only Revolutions schon vor dem Eintritt ins Buch – nämlich mit der Entscheidung für den Einstiegsort: Der Band hat zwei Vorderseiten, von denen ausgehend er sich jeweils lesen lässt, so dass bereits die Benutzung des Buchs selbst eine ‚Revolution‘ (Umwendung)  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

nahelegt, die der Leser zu vollziehen hätte. In unkonventioneller und aufwendiger typografischer Gestaltung, die die Aufmerksamkeit vor allem kontinuierlich auf die jeweilige Doppelseitenstruktur und ihre Symmetrie lenkt, bietet das Buch eine Fülle von Informationen und ein Geflecht angedeuteter Geschichten, zentriert vor allem auf zwei Figuren. Die Idee, damit einen Kreis von Gegenständen und Themen abzuschreiten, wird durch die Zahl der Buchseiten unterstrichen, die gerade 360 beträgt, also der Zahl der Grade eines Kreisumfangs entspricht. Wer den Roman einmal durchgegangen ist, hat damit entlang einer Kreislinie eine Umdrehung (also auch in diesem Sinn eine ‚Revolution‘) vollzogen. Revolutionen und Komplementäres. Protagonisten sind Sam und Hailey, beide sechzehn Jahre alt, und zwar für immer – was u. a. eine ‚Revolution‘ (Verkehrung) der Zeitordnung impliziert. Die Geschichte dieses Paares erstreckt sich – in weiterer Modifikation geläufiger Zeitordnungsmuster – über einhundert Jahre – von 1863 bis 1963. Beide Jahreszahlen markieren wichtige Einschnitte in der US-amerikanischen Geschichte: den Beginn des Bürgerkriegs (der u. a. die Abschaffung der Sklaverei zur Folge hatte) und die Ermordung John F. Kennedys. Sam und Hailey werden vom Umschlagtext der amerikanischen Ausgabe mit Romeo und Juliet verglichen (sind also in die USA transponierte Zitate). Zugleich repräsentieren die beiden ihr Land, die (geteilten bzw. aus verschiedenen Richtungen zu betrachtenden) USA, die Sam und Hailey durchstreifen. Die beiden Protagonisten werden im Paratext als Autoren bzw. neben dem Autor Danielewski genannt. Öffnet man das Buch an der einen Seite, so heißt es auf der Titelseite: „Only Revolutions/by/Hailey“ (zusammen mit der danebenstehenden Seite aber „Mark Z. Danielewski’s/Only Revolutions/by/Hailey“, die andere Titelseite verheißt „Only Revolutions/by/Sam“, auch hier ergänzt um Danielewskis Namen. Sams und Haileys Texte ziehen sich jeweils durch sämtliche 360 Seiten des Buchs: Die Seiten sind in beide Richtungen bedruckt, so dass man Sams Textanteil lesen kann, während Haileys auf dem Kopf steht, und vice versa; alle Seiten tragen doppelte Paginierungen. So verschlingen sich die beiden Protagonisten zu einem kontrastiven, aber auch komplementär empfindenden und denkenden Paar, analog zur Yin-und-Yang-Figur. Die Bedeutung der numerischen Ordnung wird dadurch bekräftigt, dass sich auf jeder halben Seite ein Haupttext von genau 90 Wörtern findet, die sich demnach zu 180 Wörtern pro Seite addieren – und zu 360 Wörtern pro Doppelseite. Neben den Zahlen 360, 180 und 90 wirkt die 8 strukturbildend: Liest man das Alphabet von vorn und von hinten, so ergeben sich als achte Buchstaben das H und das S, also die Initialen der Namen Hailey und Sam. Auf der Innenseite des Schutzumschlags empfiehlt der Verlag dem Leser, nach jeweils acht Seiten die Perspektive und d. h. die Positionierung des Buches zu wechseln. Abwechslungsreich sind auch Sprech- und Darstellungsweisen. Lyrische und visualpoetische Partien verbinden sich mit Passagen einer Stream-of-Consciousness-Prosa. Neben dem Haupttext findet sich auf jeder Seite eine Kolumne mit historischen Daten, die entsprechend dem Konzept des Revolutionsbuchs ebenfalls aus zwei einander komplementären Perspektiven zu  















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lesen sind. Zitiert werden Informationen und Einschätzungen aus dem 19. bis zum 21. Jahrhundert. Zur Orientierung des Lesers im Geflecht der einander begegnenden Stimmen, Eindrücke, Reflexionen und Äußerungen dienen verschiedene typografische Mittel, so die Kursivierung der wörtlichen Rede, die sich so von anderen Textbestandteilen abhebt. Die Anfangsbuchstaben der aus jeweils acht Seiten bestehenden Buchabschnitte sind größer als die anderen Buchstaben und fett gedruckt; diese Initialen lassen sich als Akrostichon lesen: von der einen Buchseite (der Sams) her ergibt sich die Buchstabenfolge „Sam and Hailey and Sam […]“, von Haileys Seite aus „Hailey and Sam and Hailey […]“. Das Akrostichon bildet also zugleich ein Wortpalindrom. Zur Kontrastierung der beiden Figuren werden noch weitere typografische Signale eingesetzt. Wo Hailey erzählt, werden Pflanzennamen fett gedruckt, in Sams Text Tiernamen. Typografisch ist der Band auch sonst abwechslungsreich gestaltet. Die Schriftgröße verringert sich jeweils von beiden Anfangsseiten bis zur Mitte hin. Farbelemente unterstreichen die Zweiteilung des Textes zusätzlich: die Null (0) und das O sind in Haileys Text bräunlich-gold gefärbt, in Sams Text grün; die historischen Kolumnen sind mit violetten Daten überschrieben. Den ausgeprägt ‚kompositorischen‘ Charakter des Textes signalisiert eine Anspielung auf Musikalisches: Gelegentlich sind einzelne Buchstaben nicht genau auf der ihnen entsprechenden Zeile platziert, sondern verschoben, so wie Noten oberhalb oder unterhalb von Linien stehen können. Gemeinsam wirken sie visuell wie Akkorde – und erinnern durch ihre Konstellation vage an Akkorde aus Wagners Oper Tristan und Isolde.  



Buch und Geschichte. Als ein ‚Geschichtsbuch‘ über die USA ist Only Revolutions verwirrend, nicht nur, weil die gebotenen historischen Daten und Informationen sich auf einem so ungewöhnlichen Lese-Parcours darbieten und man immer wieder das Buch auf den Kopf stellen muss, um weiterzulesen. Auch das Konzept des Buchs weist in zwei entgegengesetzte Richtungen: Einerseits suggeriert die Zahl von 360 Seiten Überschau und Abrundung: Das Buch erscheint als ein im buchstäblichen Sinn ‚enzyklopädisches‘ Wissenskompendium. Auf der anderen Seite fehlt dem gebotenen Wissen die einheitliche Ausrichtung, was Desorientierung, wenn nicht sogar Schwindel erzeugt. Was könnte besser zur Darstellung von ‚Geschichte‘ passen als ein an eine Uhr erinnerndes Buch? Unter diesem Aspekt liegt es nahe, die vom Buch dargestellten sowie die dem Buchbenutzer vorgeschlagenen „Revolutions“ als Sinnbilder historischer Umwälzungen zu verstehen. Allerdings hat in Only Revolutions die dargestellte Geschichte ja zwei Richtungen. Damit kommt die Idee einer verkehrten Zeit, einer Reversibilität des Zeitverlaufs ins Spiel. Als Verfasser einer Neuen Widerlegung der Zeit und als später Apologet der Idee einer „ewigen Wiederkehr“ – in einer ‚verdrehten‘ Variante – hat Borges für Danielewskis Only Revolutions zweifellos wichtige Impulse gegeben (vgl. Borges 2003b). MSE  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 1.40 Germar Grimsen: Hinter Büchern. Der Reigen/ein- und ausgeleitet von Hexametern aus der Feder Bernd Lüttgerdings, mit einem notwendigen Register ausgestattet und einem Nachwort des Verlegers versehen (2007) Grimsens Roman spielt in der Welt der Bücher und Bücherleser und weist parodistische Ähnlichkeiten mit einem Kriminalroman auf; beides (und anderes) erinnert an Umberto Ecos Roman Il nome della rosa (1980). Der schrullige Bibliophile Christian Keller hat ein Antiquariat gekauft und muss nun den damit verbundenen Aufgaben gerecht werden, vor allem den Schwierigkeiten mit Kunden und Buchverkäufern. Dass er eine Kostbarkeit besitzt (ein bis dato unbekanntes Hölderlin-Autograf in einem schlecht erhaltenen, unauffälligen Buch, das ihm eine gewisse Wiebke geschenkt hat), weiß er nicht, verschenkt das Buch und begreift erst später, was er da getan hat. Um dieses Buch entbrennt eine lebhafte Auseinandersetzung zwischen Bremer Antiquaren und anderen Interessenten; Beteiligte, Verlauf und Folgen dieser Turbulenzen werden auf burleske Weise geschildert. Ein Antiquariat in Buchform. Der Roman selbst präsentiert sich als Pendant des Antiquariats, von dem er handelt. Er ist erstens mit rund 400 Seiten noch umfangreicher, als es zunächst scheinen mag, da ein großer Teil des Textes (vielfach annähernd komplette Seiten) mit Anmerkungen in kleingedruckter Schrift bedruckt ist; hinzu kommt ein rund 50-seitiges Namenregister mit Angaben zu Personen, die im Roman genannt werden. Aber nicht nur sein Umfang lässt das Buch als eine Art Bücher-Sammlung erscheinen, sondern auch seine ausgeprägte Intertextualität; zitiert wird gleichsam der Bestand einer ganzen Bibliothek – oder eines Antiquariats. Der Text, gerahmt durch einen „Prolog“ (Grimsen 2007, S. 5f.) und einen „Epilog“ (ebd., S. 394), gefolgt vom Register, gliedert sich in zehn Kapitel. Diese enthalten in an Barockromane erinnernder Manier vorausdeutende Hinweise auf ihren jeweiligen Inhalt („1. Wiebkes Fund/darin Wiebke im Schneetrieb zwei Bücher findet,/eines davon Keller überläßt,/Keller es achtlos in gute Hände befiehlt/und ein Professor dagegen angeht, daß er nicht zahlen soll“, so der erste erweiterte Kapitel-Titel; ebd., S. 9).  







Hybride Textform. Zu weiten Teilen besteht der Romantext aus Dialogen, die wie ein Dramentext gesetzt sind, also jeweils die Namen der Sprecher nennen und dann deren Sprechtext nennen. Hier bestehen deutliche Ähnlichkeiten zu Werken Arno Schmidts, der auch hinsichtlich des Umfangs, der Intertextualität und Anspielungsfülle, der Neigung zu vielfältigen Komposita und Neologismen sowie der Darstellung einer Gesellschaft weitgehend schrulliger Zeitgenossen als Vorbild in Frage kommt. Die Kapitel beginnen aber mit narrativen Partien, welche die jeweilige Rah-

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men- oder Ausgangssituation schildern, sodass sich insgesamt ein Gemisch aus epischen und dramatischen Elementen ergibt, das durch die teils abundanten, gelegentlich ganze Seitensequenzen mit einer einzigen Anmerkung füllenden Fußnotentexte um eine weitere Schreibweise ergänzt wird. Diese Fußnoten, in denen sich eine unüberschaubare Masse enzyklopädischen Faktenwissens versammelt findet, wirken oft wie exzerpiert aus einem Konversationslexikon. Der einleitende Prolog in Hexametern deutet eine Art Rahmengeschichte der Romanerzählung an, die dem beliebten Motiv des mysteriösen Handschriftenfundes folgt und über den schlechten Erhaltungszustand des (angeblich) im Folgenden abgedruckten Manuskripts die Frage nach dessen Geschichte noch nachdrücklicher in den Raum stellt (ebd., S. 5). In ironisch-parodistischem Grundton leitet das Ende des „Prologs“ auch zum Haupttext über: „[…] Es beginnet/Reißerisch, drastisch und hundereich, auch kriminell nicht zum Letzten“/„Der Reigen“ (ebd., S. 6f.). Durch seinen (zweiten) Titel „Der Reigen“ spielt Grimsens Roman humoristisch auf Arthur Schnitzlers gleichnamiges Stück an, bei dem es um Paarbeziehungen geht, die sich reigenartig fortsetzen.  



Irritierende Buchgestaltung. Architektur, Schrifttypengröße, Layout und Dicke des Buchs sind signifikante Bestandteile des Romans – ebenso wie das Fehlen paratextueller Orientierungshilfe (es gibt kein Inhaltsverzeichnis) auf der einen Seite, üppige Quasi-Paratexte in Form des Registers und der Fußnoten auf der anderen Seite. Zumal das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses oder ähnlicher Orientierungshilfen (wie Kapitel-Kopfzeilen) den Leser vor die Wahl stellt, den Roman entweder systematisch von vorn bis hinten zu lesen oder aber willkürlich zu durchstreifen und sich überraschen zu lassen. Gerade letztere Lesestrategie käme dann dem Erkundungszug durch ein Antiquariat gleich. Dessen (teils ‚antiquarische‘) Bestände lässt das Namenregister ja ahnen. Neben „Epilog“ findet sich – als einziges Bild im Roman – die Reproduktion einer Fotografie: Sie zeigt die Plastik „Das Ende“, laut Bildlegende eine „Bronze von Bernd Altenstein“ (ebd., S. 395). Die etwa mannshohe Skulptur besteht aus einer senkrechten Wand und einer menschlichen Figur, die gerade in dieser Wand zu verschwinden (in sie hineinzukriechen oder von ihr aufgesogen zu werden) scheint. Die Wand ähnelt entfernt einem Buch, in dem hier jemand verschwindet. MSE  







E 1.41 Reinhard Jirgl: Die Stille (2009) Jirgls Roman ist durch sein unkonventionelles Textbild charakterisiert. Der erzählende Text weicht von der kodifizierten Orthografie der deutschen Schriftsprache ab und modifiziert diese in einer Weise, die an die Texte Arno Schmidts erinnert und damit einen (bei Schmidt ebenfalls wichtigen, aber nicht alleinigen) spezifischen Zweck ver-

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folgt: Der Rahmenkonstruktion der Romanerzählung zufolge betrachten die Protagonisten Fotos, kommentieren das Betrachtete und lassen es zum Auslöser von Erinnerungen werden. Was sie dabei (zu sich und anderen) sagen, gibt der Text wieder. Zumindest auf den ersten Blick wirkt der Text daher wie das Protokoll mündlicher Monologe; Wiederholungen, Ellipsen, umgangssprachliche Wendungen und andere Stilmittel tragen dazu bei. Unkonventionelle Grafie. Die ungewöhnliche Grafie unterstreicht die Distanz zu Schriftsprache und den Fluss der Ideen und der Rede. Dabei werden – und dies macht Jirgls Text dann eben doch zu einem dezidiert schrift-literarischen Artefakt – etwa Satzzeichen und typografische Sonderzeichen (wie etwa „0“, „&“, und „§“) vielfältig eingesetzt, um den Rede-Duktus zu charakterisieren; Wörter werden, teils unter Verwendung dieser Zeichen, ungewöhnlich geschrieben („Menschen=Dummheit“; Jirgl 2009, S. 193), Artikulationsweisen und Sprechgesten simuliert („-!Menschen=!Dummheit. !Ha..“; ebd.), syntaktische Konstruktionen dem oralen Diskurs angeglichen. In den Erzähltext integriert sind zudem zahlreiche drucktechnische Simulationen textgrafischer Dokumente unterschiedlicher Art, die wie zur Illustration des Erzählten einmontiert erscheinen. Hinzu kommen, jeweils zu Beginn der einzelnen Textabschnitte, Angaben wie „Photo 1“, „Photo 2“ etc.; auf kleine freie Seitenflächen zu Kapitelbeginn gesetzt, wirken sie wie ‚Platzhalter‘ für (nicht sichtbare) Fotografien – die Fotos, welche den folgenden Erinnerungsbericht auslösen. So wie die (scheinbare) Darstellung mündlicher Rede im Zeichen des Einsatzes komplexer schriftsprachlich-typografischer Mittel steht, so sind auch die ‚dokumentarischen‘ Bauelemente des Romans und die ‚Leerstellen‘ für Fotos Produkte eines druckschriftlichen Arrangements, also keineswegs direkte Repräsentationen mit illudierendem Effekt, sondern gebrochene Verschriftlichungen von Objekten, die man gerade nicht sieht (und die mittels ihrer textgrafischen Darstellung simuliert werden). Die sich auf die fiktionale Romanhandlung beziehenden ‚Dokumente‘ wirken nicht wie Faksimiles, sondern bestehen aus Drucktypen, allerdings zu weiten Teilen aus solchen, die für ‚Handschriftliches‘ stehen sollen. Es handelt sich um für die Romanfiguren und ihre Familien biografisch relevante Schriftstücke wie einen Rentenbescheid (vgl. ebd., S. 89), Zeugnisse (vgl. ebd., S. 95) und amtliche Auskünfte über Personen (vgl. ebd., S. 87), eine Deklaration zur Erwerbsunfähigkeit (vgl. ebd., S. 90), einen Taufschein (vgl. ebd., S. 94), einen Militärpass (vgl. ebd., S. 98–102), Todesanzeigen (vgl. ebd., S. 108), eine „Besitzbescheinigung“ (vgl. ebd., S. 154) und andere Formate nicht-privater Schriftkommunikation.  























Imaginäre Fotos und der Roman als Album. Der Roman besteht aus drei Büchern sowie zwei weiteren Großabschnitten, betitelt „Eiserne Immortellen“ und „Kein Epilog“. Jedes Buch ist in nummerierte und nicht weiter betitelte Abschnitte (oder Kapitel) gegliedert; diese Abschnitte bzw. Kapitel zerfallen ihrerseits in Unterabschnitte, die jeweils durch die stichwortartige Beschreibung eines nummerierten Fotos eingeleitet werden (also durch Nennung der Motive – meist sind es Figuren – auf „Photo 1“,  



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„Photo 2“ etc.).22 Die verbal evozierten rund 100 Fotos sind der Rahmenfiktion nach Bilder aus einem Familienfotoalbum. Der Romantext besteht aus monologischen und (verfremdet) dialogischen Erzählpassagen mit reflexiven Einschüben und Exkursen, jeweils bezogen auf die Fotos des Albums, die ‚nacheinander‘ durchgegangen werden. So wird anhand der Fotokollektion die Geschichte zweier Familien sowie ihnen nahestehender Personen erzählt, die durch familiäre Beziehungen (Heiraten und andere Bindungen) ein Netzwerk von Figuren bilden.23 Gelegentlich ‚fehlen‘ Fotos, wie an einzelnen Stellen des Romans vermerkt wird; hieraus lassen sich dann jeweils hypothetische Rückschlüsse ziehen. Auch das wiederholte Rekurrieren auf bestimmte Bilder hat erzählstrategische Bedeutung. Die erzählerisch (und der Fiktion nach auch auf den Albumfotos) dargestellte Familiengeschichte reicht grob von den Jahren um 1900 bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Die dargestellten Etappen und Verzweigungen der Familiengeschichte sind Anlass der Darstellung von Zeitgeschichte; wichtige Themen sind so die beiden Weltkriege und die Zeit dazwischen, dann die Geschichte der DDR und die der BRD sowie die Zeit nach 1989 – erlebt jeweils aus der Perspektive von Romanfiguren und aus den Fotos indirekt erschließbar bzw. mit den Bildsujets mehr oder weniger verknüpft. Zwar sind die (fingierten) Fotos keineswegs einfach Illustrationen dessen, was in dem ihnen jeweils zugeordneten Abschnitt über die Familie, ihre Mitglieder erzählt wird; hier geht der Bericht weit über mögliche fotografisch vermittelte Informationen hinaus. Aber sie zeigen meist die Figuren, um die es in den Abschnitten jeweils geht, und stehen oft in Korrespondenz zur Zeit der erzählten Handlung. Dabei ist diese aber im Roman nicht linear-chronologisch gestaltet, sondern verläuft unter vielen Hin-und-Her-Bewegungen zwischen unterschiedlichen Zeitphasen und Generationen. Die (nicht gezeigten) Bilder lösen in denen, die erzählen, offenbar Erinnerungen aus – doch die Relation zwischen Bildern und Erinnerungen ist subjektiv. Hinzu kommt, dass gelegentlich in den Abschnitten Hinweise auf andere Abschnitte bzw. auf die diesen zugeordneten Fotos erfolgen – so, als werde in einem Album geblättert.  







Wechselnde Erzählerstimmen. Die Erzählerinstanzen bzw. anlässlich des Fotoalbums dialogisierenden Figuren wechseln. Wichtigste Erzählerfigur ist Georg Heinrich Adam, geboren 1939, der zum einen einen besonders großen Teil der Erzählabschnitte bestreitet, zum anderen eine inhaltlich wichtige Figur in der Familiengeschichte ist.

22 Die Informationen zu den Fotos beschränken sich fast immer auf die Nennung des Sujets, d. h. der dargestellten Figuren und Figurengruppen auf den Bildern, verbunden mit Angaben zu Ort und Datierung der Aufnahme. Diese Information präsentiert sich manchmal allerdings in einer Weise, die bei vordergründiger Nüchternheit suggestiv wirkt. 23 Zum Teil werden zu Bildern aus der Familiengeschichte auch die Geschichten familienfremder Personen erzählt (vgl. etwa die Fotos 53–54 und weiter, Jirgl 2009, S. 189–299), wie denn insgesamt die Beziehungen zwischen den durchnummerierten Fotos und den ihnen zugeordneten Texten assoziativ ist.  



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Ähnlich wichtig ist sein Sohn Henry, geb. 1960, der sich mit dem Vater Georg anlässlich des Fotoalbums lange unterhält. Mit einem Besuch des Vaters bei seinem Sohn, dem er das Fotoalbum bringen soll, setzt die Romanhandlung ein, und das damit ausgelöste lange Gespräch zwischen Georg und Henry ist lange Zeit der Rahmen aller Teilerzählungen und Erörterungen. Abwechselnd sprechen Vater und Sohn über die Bilder. Sie rollen dabei die Geschichten um ihre eigenen Vorfahren auf und nehmen dies zum Anlass, nicht nur Zeitgeschichtliches, sondern auch grundlegende Fragen zu erörtern, die ihre Haltung zur Welt, ihre Verantwortung und Schuld sowie die Verantwortungsund Schuldfähigkeit von Menschen überhaupt betreffen. In späteren Phasen übernehmen andere Instanzen zeitweilig die Erzählerrolle, immer auf das Album gestützt und an den Fotos entlang die Geschichte der Familie abschnittweise rekapitulierend. So erzählt auch ein Arzt, der den während des Besuchs bei Henry schwer verletzten Georg Adam betreut, und Henrys Frau Dorothea. Gelegentlich mischt sich scheinbar auch die Stimme von Georgs zu Beginn der Romanhandlung verstorbener Frau Henriette ein; diese Passagen einer scheinbaren Stimme aus dem ‚Off‘ können aber auch als Protokoll der Vorstellungen und Imaginationen Georgs interpretiert werden, der Henriette sehr vermisst und sich mit ihr auch nach ihrem Tod ‚unterhält‘. Ganz zuletzt meldet sich ein Autor (ein literarisches Alter Ego Jirgls) zu Wort, der von Dorothea angeblich das zuvor von wechselnden Familienmitgliedern verwahrte Album erhalten hat und es als eine Art von Vermächtnis hütet. Er scheint die noch lebenden Mitglieder der Familie zu kennen oder doch über sie Bescheid zu wissen; suggeriert wird indirekt, er könne den zurückliegenden Bericht über Gespräche und Monologe auf der Basis anderer Gespräche und anhand des Albums rekonstruiert haben. Inszenierte Dokumente. Die Familiengeschichte (so wie sie von Georg, Henry und Dorothea rekonstruiert wird) lässt die Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts als die einer Kette von Variationen staatlichen Machtmissbrauchs erscheinen. Sie zeigt u. a. immer wieder den Einzelnen als Opfer der Politik (sei es der des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der NS-Zeit oder der Nachkriegszeit in BRD, DDR und wiedervereinigtem Deutschland), als Opfer des Kriegs, der legalisierten Ausbeutung und der Zerstörung von Lebensräumen. Außenseiter und Einzelgänger werden ebenso zu Opfern wie diejenigen, die sich der offiziellen Doktrin nicht fügen oder verfolgten Minderheiten angehören (wie in der NS-Zeit die Juden). Die textgrafischgrafische Repräsentation hat bei der Konstruktion dieses familienzentrierten Geschichtspanoramas mehr als nur ornamentale Funktion. Sie trägt maßgeblich zur Konstitution des fiktionalen Erzählanlasses bei, insbesondere zur Akzentuierung der Bedeutung, welche die (fingierten) Fotos als Auslöser fiktionaler, aber zeitgeschichtlich-faktual grundierter Erinnerungen haben. Dass die typografisch simulierten Dokumente im Roman allesamt auf Amtliches, auf Behörden und Verwaltungsapparate verweisen, unterstreicht die Kernthematik des Romans, seine Akzentuierung der Spannung zwischen staatlicher Macht und individuellem Leben. Die grafische Gestaltung der ‚Dokumente‘ wird dabei genutzt, um diese Spannung auch intern nochmals  



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zu visualisieren: Neben Layouts und Drucktypen, die auf je zeitspezifische Weise an Behörden und staatliche Instanzen erinnern, stehen typografische Simulationen handschriftlicher Einträge. Dass diese erkennbar keine wirklichen Handschriften (bzw. deren Faksimiles) sind, wie auch die Personen auf den abwesenden Bildern eben nicht wirklich sichtbar werden, trägt auf konstitutive Weise zum geschichtspessimistischen Grundzug des Romans bei. MSE

Abb. E 1/12: Reinhard Jirgl: Die Stille. München 2009, S. 98f.  



E 1.42 Leanne Shapton: Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry (2009) Leanne Shaptons Buch Important Artifacts and Personal Properties from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry hat die Form eines Versteigerungskatalogs. Mittels der hier enthaltenen Fotos zu versteigernder Objekte samt Bildlegenden und hinzugefügten Erläuterungen wird eine fiktive Geschichte erzählt: die eines Paares, das sich kennenlernt, eine Zeit lang zusammenbleibt und dann wieder auseinandergeht. Die fiktiven, im Buch durch Fotos anderer, realer Personen dargestellten Protagonisten dieses recht alltäglichen Beziehungsromans sind die kanadische New-York-Times-Kolumnistin Lenore Doolan und

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der britische Fotojournalist Harold Morris. Zwar entsteht zwischen den beiden eine enge Vertrautheit, die sich u. a. darin dokumentiert, dass viele Objekte des täglichen Gebrauchs für sie eine besondere, auf ihre Beziehung verweisende Bedeutung besitzen und viele Erinnerungsobjekte aufgehoben werden, die mit bestimmten Situationen verbunden sind. Doch führen differente Erwartungen der beiden an ihre Beziehung schließlich zur Trennung. Daraufhin kommen am Valentinstag des Jahres 2010 vielfältige persönliche Gegenstände der beiden in dem bekannten New Yorker Auktionshaus Strachan zur Versteigerung; Shaptons Buch imitiert die Optik der Strachan-Kataloge.  

Sprechende Alltagsdinge. Die Bedeutung, welche die Objekte für Lenore und Harold einmal hatten, wird durch Präsentation und Kommentare angedeutet, dem Leser bleibt es aber überlassen, diese Andeutungen aufzunehmen und Genaueres hypothetisch zu erschließen. Beide Figuren werden konsequent durch die Bilder der Objekte porträtiert, die nun angeblich zur Versteigerung stehen. Diese Objekte sind Alltagsdinge von allenfalls persönlichem Wert (den sie der fiktionalen Konstruktion zufolge nun aber auch verloren haben): getragene Kleidungsstücke, Bücher, Nippsachen, Kosmetika und Medikamente, Dinge des persönlichen Gebrauchs, Fotos und andere Erinnerungsstücke. Wichtige Träger der Erzählung sind vor allem verschiedene Medien und Dokumente der Kommunikation zwischen Lenore und Harold: Gegenstände (Geschenke, Postsendungen) und Texte – vom lakonischen Notizzettel über Postkarten und E-Mails, handgeschriebene Einladungen und kassiberartige Notizen bis hin zu Briefen. Abfotografierte Briefe, Notizzettel, Einträge in Büchern, Kurzbotschaften etc. finden sich im Katalog in größerer Zahl. Die Beförderung allerlei gebrauchter Gegenstände zu Versteigerungsobjekten erinnert an die Aufwertung entsprechender Dinge in Fan-Kulturen. Die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal hat ausgehend vom Konzept ‚sprechender‘ Dinge 2002 vorgeschlagen, neben Texten und anderen geläufigen Erzählmedien auch Sammlungen von Dingen als Erzählungen zu interpretieren (Bal 2006, hier Kap. 5: „Vielsagende Objekte“, S. 117–145). Die Fotos gesammelter Dinge bei Shapton setzen diese Idee um, wobei allerdings die durch die Objekte konstituierte Erzählung durch die begleitenden Texte (Bildlegenden, Katalogtexte und Paratextuelles) ergänzt und konkretisiert, ja letztlich mitkonstituiert wird. Als Buch, das wie ein Katalog gestaltet ist, demonstriert Shaptons Arbeit das narrative Potenzial dieses spezifischen medialen Formats und verweist dabei indirekt auf die verschiedenen Gestaltungsparameter von Büchern, die zu diesem Potenzial beitragen.  





Katalogformate. Das Interesse an katalogartigen Bildserien sowie am narrativen Potenzial nicht-verbaler Darstellungsformen prägt auch andere Bücher Shaptons. Dabei werden mehrfach spezifische Buchformate und -typen zum Modell genommen. Der Band Was she pretty? (Shapton 2006), gestaltet wie ein Notizbuch, enthält reproduzierte Zeichnungen sowie Textbruchstücke, die diesen locker zugeordnet sind. Auf den Textseiten stehen teilweise ganze Abschnitte, teilweise einzelne Wörter. Die Bilder stellen

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Personen (vor allem Frauen), Objekte und gelegentlich Teile von Interieurs dar. Der Rahmenkonstruktion zufolge dokumentiert das Tagebuch eine längere gedankliche und dialogische Auseinandersetzung mit dem Thema zerbrochener Paarbeziehungen und mit den imaginierten ‚Ex‘-Freundinnen des neuen Freundes der Zeichnerin. In The Native Trees of Canada (Shapton 2010) finden sich auf sämtlichen Seiten gemalte Darstellungen (vor allem Aquarellbilder) der verschiedenen Blatt- oder Fruchtformen kanadischer Bäume reproduziert; der Textanteil beschränkt sich auf die Nennung der Baumnamen. Der Paratext des wie ein Skizzenbuch wirkenden Bandes (dessen obere Blätter, die Coverseite inbegriffen, einen Einschnitt wie von einem Axthieb aufweisen) ist sehr spärlich, erwähnt aber die Inspiration des Buchs durch eine Buchpublikation der kanadischen Forstverwaltung über die Bäume Kanadas von 1956. In dem Buch Swimming studies (Shapton 2012) kombiniert die ehemalige Leistungsschwimmerin Shapton eigene Texte über das Wasser und den Wassersport, vor allem über die Lebensumwelt von Schwimmern, mit Bilderserien aus eigenen Aquarellen und Fotos: Aquarell-Porträts von Schwimmszenen und von Schwimmsportlern, aquarellfarbige Umsetzungen von schwimmhallentypischen Gerüchen, Fotos von Badeanzügen. Der querformatige Band Sunday Night Movies (Shapton 2013) besteht aus den Reproduktionen schwarzweißer Aquarellen von Filmstills zahlreicher bekannter Filme, und zwar aus den Titeleien wie aus den Filmhandlungen. Die solcherart visuell zitierten Filme werden abschließend gelistet, bildstilistisch orientiert am Abspann von Filmen. Toys Talking (Shapton 2016), auf dickem Karton gedruckt und auch im Format an Bücher für kleine Kinder angelehnt, zeigt auf seinen in unterschiedlichen Farben gehaltenen Doppelseiten jeweils die Zeichnung eines Spielzeugtiers und einen kurzen Satz. Zwar besteht die Möglichkeit, diesen Satz auf das jeweilige Bild zu beziehen, aber daraus ergeben sich meist eher rätselhafte, hochgradig deutungsoffene Konstellationen. MSE

Abb. E 1/13: Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Berlin 2010 (engl. Orig.: 2009), S. 66f.  



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E 1.43 Benjamin Stein: Die Leinwand (2010) Benjamin Stein spielt in seinem Roman Die Leinwand auf den öffentlich intensiv und kontrovers diskutierten Fall des Binjamin Wilkomirski (eigentlich Bruno Doessekker, geboren als Bruno Grosjean) an. Unter dem Namen Wilkomirski hatte Doessekker 1995 im Jüdischen Verlag (Verlagsgruppe Suhrkamp) das Buch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 veröffentlicht, das sich als autobiografisches Erinnerungsbuch präsentierte (und entsprechend auch beworben wurde): Geschildert werden, beobachtet aus der Perspektive eines Kindes, dessen Erinnerungen bruchstückhaft und oft vage sind, Verfolgung und Schicksale lettischer und anderer Juden zur NS-Zeit. Der Erzähler erinnert sich, als Kind im KZ den Tod eines Mannes miterlebt zu haben, der vielleicht sein Vater war, und eine sterbende Frau getroffen zu haben, die vielleicht seine Mutter war – und schildert seinen eigenen rettenden Weg in die Schweiz über verschiedene Stationen. Das Buch wurde in diverse andere Sprachen übersetzt und international intensiv rezipiert. 1998 enttarnte der Publizist Daniel Ganzfried in der Schweizer Zeitschrift Weltwoche die angeblichen Holocaust-Erinnerungen als gefälscht und machte die wahre Identität des (Schweizers) Dössekker publik, der weder jüdischer Herkunft war noch je selbst ein KZ gesehen hatte. Das Buch verschwand vom Markt. Eine intensive öffentliche Diskussion und weitere Recherchen zu diesem Fall schlossen sich an. Kontrovers eingeschätzt wurde vor allem die Motivation des Verfassers Dœssekker alias Wilkomirski, dessen angeblicher KZ-Erinnerungsbericht auf der Basis von Dokumenten und eigenen traumatisierenden (Schweizer) Kindheitserinnerungen entstanden war. Ob ein Fall absichtlichen Betrugs vorlag oder der Verfasser einer Selbsttäuschung unterlag, ließ sich nicht verbindlich feststellen. Mit der Kontroverse hierüber verbanden sich Auseinandersetzungen um die Angemessenheit und den Erkenntniswert therapeutischer Versuche (etwa in der „Recovered Memory Therapy“), verschüttete Erinnerungen rekonstruieren zu wollen, Diskussionen aber auch über den Umgang mit Holocaust-Erinnerungen, deren Darstellungsmodi und die Frage nach dem Recht zu solcher Darstellung. Sowohl die (von Ganzfried fortgesetzte) Recherchearbeit als auch die Vorgeschichte des Buchs Bruchstücke wurden zu Gegenständen weiterer Recherchen (u. a. durch den Schweizer Historiker Stefan Mächler 2000) und Positionierungen. Dœssekker/Wilkomirski gilt den einen als egozentrischer Fälscher und appropriator ihm nicht zukommender Erinnerungen, den anderen als Schriftsteller, der trotz der Fiktionalität seines Textes zur empathischen Beschäftigung mit jüdischen Schicksalen beigetragen hat.  



Ein von zwei Seiten lesbarer Roman. Daniel Steins Roman besteht aus zwei Teilen, deren Geschichten aber miteinander verbunden sind. Jeder hat eine andere Zentralfigur, aus deren Perspektive jeweils die Teil-Geschichte erzählt wird: den Journalisten Wechsler und den Psychoanalytiker Zichroni. Beide erzählen jeweils ihre eigene Geschichte. Diese Geschichten müssen von den beiden äußeren Umschlagseiten des Buchs her gelesen werden; sie laufen aufeinander zu und stoßen in der Mitte gleich-

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sam zusammen. Hier muss der Leser – an welcher Seite er auch angefangen hat – den Band umdrehen und die Gegen-Geschichte lesen. (Auf jeden der Romanteile folgt ein Glossar (mit je identischen Einträgen). Die Titelei findet sich genau zwischen beiden Teilen.) Die beiden Teile sind jeweils selbständig paginiert. Die Seitenzahlen sind dabei ergänzt durch eine Initiale, die den Buchteil signalisiert (also etwa „Z. 80“ und „W. 80“). Das Glossar hat eine eigene Paginierung (mit „G.“ als Sigle; etwa „G. 8“). Wechsler und Zichroni sind beide, aber in ganz unterschiedlichen Rollen, mit einem Mann beschäftigt, der ein angeblich autobiografisches Erinnerungsbuch über seine Kindheit im KZ verfasst hat (wie in der Realität Wilkomirski/Dœsseker) und im Roman Minsky heißt. Der Psychoanalytiker Zichroni ist Minskys Therapeut und trägt durch seine Gespräche mit diesem über verschüttete Kindheitserinnerungen letztlich zur Genese des von Minsky veröffentlichten (sachlich aber irreführenden) Holocaust-Erinnerungsbuchs bei. Der Journalist Wechsler übernimmt die Rolle des Enthüllungsjournalisten Ganzfried und zerstört damit nicht nur die Glaubwürdigkeit Minskys, sondern auch den Ruf Zichronis. Erzählt wird dies aber von einem späteren Zeitpunkt aus, zu dem der Skandal bereits stattgefunden hat und sich Wechsler (zumindest scheinbar) an seine Teilhabe daran nicht mehr erinnert, ja ein anderer geworden zu sein scheint.  









Gespaltene Figuren. Eine zusätzliche Komplexität gewinnt Steins Roman, über seine Allusionen auf Faktuales hinaus, durch die Konzeptualisierung und Darstellung seiner Figuren (aus deren Perspektive ja berichtet wird, sodass der Leser an den Ambiguitäten der Berichte teilhat): Alle sind gespaltene Figuren, Doppelgänger ihrer selbst, die über kein homogenes Selbstbild verfügen und insofern auch nicht als ‚identische‘ Personen gelten können. Welcher Art diese Identitätsdissoziationen sind, lässt sich für den Leser aber wiederum nicht entscheiden, da die Doppelgänger ja das Wort führen. Wechsler scheint sich in eine andere Identität geflüchtet zu haben und Teile seiner Vergangenheit zu verdrängen. Zichronis Bild changiert zwischen dem eines telepathisch begabten, für das Seelenleben anderer hypersensiblen Ausnahmemenschen einerseits und dem eines sich selbst überschätzenden Anhängers fragwürdiger Psychotherapien andererseits (sein Erfolg als Therapeut beruht maßgeblich darauf, dass es – zumindest seiner Darstellung zufolge – manchmal zum Rapport zwischen seiner Psyche und der anderer Personen kommt). Minskys Motive bleiben dunkel wie die Wilkomirskis; unübersehbar ist nur seine Identitätsstörung als solche, über die er auch klagt, indem er meint, man wolle ihm seine Erinnerungen nehmen. Wenn die Geschichten Wechslers und Zichronis in der Buchmitte aufeinander zulaufen, ergibt sich hier eine weitere unhintergehbare Ambiguität. Jeder der beiden könnte den anderen getötet haben; auch könnten sich tiefere innere Beziehung zwischen beiden enthüllt haben – aber es lässt sich nicht einmal entscheiden, wer die Begegnung überlebt, und die Datierungen passen auch nicht zusammen. Der Ort der (mutmaßlichen) Begegnung, geschildert in der Buchmitte, ist eine Anlage für rituelle jüdische Bäder, deren Nutzung eine spirituelle Entgrenzungserfahrung auslösen kann.  





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Kontroverse Deutungsansätze. Steins Roman konfrontiert den Leser konsequent mit kontroversen Interpretationen von Figuren, Motiven, Ereignissen und Bewertungen – und zwar unter Bezugnahme auf einen konkreten Fall, der analoge Kontroversen ausgelöst hatte. Der Roman oszilliert insofern nicht nur auf inhaltlicher Ebene zwischen gegenläufigen Deutungsmustern, sondern als literarisches Werk auch zwischen Fiktionalität und Faktualität. Der Buchkörper tritt in den Dienst der Dopplungsthematik: Die Gestaltung des Buchs als ein Doppelroman aus zwei gegenläufig ausgerichteten Teilen entspricht dem aus differenten Perspektiven dargestellten Inhalt und seiner Ambiguität. Implizit appelliert das Buch an den Interpreten dieser und der dem Roman zugrundeliegenden Geschichte, alle Dinge von zwei Seiten zu betrachten. Seine Architektur wendet sich also gegen einseitige Bewertungen und gegen den Glauben an eindeutige Fakten. Als ‚Doppelgänger‘-Buch im doppelten Sinn (Buch über gespaltene Figuren und gespaltenes Buch) optiert der Buch-Roman für Perspektivwechsel, ist selbst aber auch Metonymie der Desorientierung. Er hat keinen eindeutigen Anfang, keinen eindeutigen Helden, keine eindeutige Fabel, und das jeweilige Ende der beiden Erzählungen in der Buchmitte handelt vom Eintauchen in eine rätselhafte Sphäre der Ich-Auflösung. MSE  

E 1.44 Jonathan Safran Foer: Tree of Codes (2010) Jonathan Safran Foers Tree of Codes (Foer 2010) entstand aus dem Wunsch „to create a die-cut book by erasure, a book whose meaning was exhumed from another book“ (Nachwort des Autors, ebd., S. 138). Tree of Codes ist ein skulptiertes Buch, das durch vielfältige Ausschneidungen keine gewöhnliche Lektüre zulässt und selbst auf eine ungewöhnliche Lektüre zurückgeht (vgl. ebd., Nachwort, S. 139). Auf allen Buchseiten finden sich Löcher, die sich quer über die Seite erstrecken und meist den Raum mehrerer Textlinien einnehmen, die in der Bearbeitungsvorlage zunächst existierten und deren Verschwinden hier visuell inszeniert wird. Aber es sind jeweils keine regelmäßigen Rechtecke, die hier ausgestanzt wurden, und es wurden nicht immer die kompletten Textzeilen gelöscht. In jedem Rechteck sind vielmehr Reste der Ausgangszeilen stehengeblieben. Sichtbar sind teils größere, ganzzeilige oder aus weitgehend kompletten Zeilen bestehende Reste, teils kleinere Reste bis hin zu einzelnen Wörtern, einzelnen Buchstaben oder Interpunktionszeichen. Ausgangssubstrat der Bearbeitung war ein Band mit ins Englische übersetzten (im Orignal polnischen) Texten des galizisch-jüdischen Autors Bruno Schulz. (Ein Abschnitt des Nachworts erinnert an die Ermordung Schulz’ durch einen Gestapo-Offizier 1942, an den Verlust eines Großteils seines literarischen und bildkünstlerischen Œuvres sowie an den Verlust der Werke, die er noch hätte schaffen können, wäre er nicht ermordet worden; ebd., Nachwort, S. 138.) Die von Foer bearbeitete Sammlung Schulzscher Texte trägt den Titel Street of Crocodiles. Dieser Titel wurde von Foer  





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durch Buchstabentilgung verkürzt – analog zum Ausschneiden der Papierrechtecke aus den Buchseiten: Aus „sTREEt OF CrOcoDilES“ wurde „TREE OF CODES“. Schulz’ Text war vor der Bearbeitung durch Foer – die dann die Grundlage zur Herstellung des Buch-Multiples bildete – auf nur einseitig (recto) bedruckten Buchseiten abgedruckt; entsprechend sind auch die vielfach durchlöcherten Seiten stets nur recto zu lesen. Mag es zunächst auch naheliegen, Foers Bearbeitung von Schulz’ Text vorrangig als einen Tilgungsprozess zu beschreiben, so hat der Bearbeitungsprozess doch auch einen komplementären konstruktiven Aspekt. Denn es ergeben sich ja durch die Ausstanzungen Durchblicke auf darunterliegende Seiten, oft auch auf mehrere weiter darunterliegende, da ja auch die jeweils folgenden Seiten durchlöchert sind. Wurden durch die Ausstanzung der Seiten also einerseits Wörter, Satzteile und Sätze zum Verschwinden gebracht, so bewirken die Ausstanzungen andererseits doch auch, dass man beim Aufblättern einer bestimmten Seite durch sie hindurch Textfragmente sieht, die sonst verdeckt geblieben wären – und zwar bis teilweise weit in den Buchraum hinein. Die Zerstörung eines Ausgangstextes hat einen neuen Text hervorgebracht, bedingt durch neue Betrachtungsoptionen des Ausgangstextes. Die Tunneleffekte sind konstitutiv für den neu entstandenen Text, der sich bedingt durch die Überlagerung der Blätter im Raum erstreckt. Tunnel sind Hohlräume, also räumliche ‚Leerstellen‘ – aber sie sind auch potenzielle Passagen.  









Materielle Tilgung als Sinnbild. Die für den Band prägende Durchlöcherung der Blattflächen ist als Gleichnis konzipiert, als solches aber mehrdeutig. Sie verweist zum einen auf Praktiken der Tilgung und Fragmentierung, der bedingt durch Praktiken der Vernichtung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur auch Schulz’ Werke zum Opfer fielen – zudem aber auch auf die Möglichkeit ‚unterhalb‘ von Oberflächen weitere, zunächst verborgene Texte zu entdecken, Verschüttetes freizulegen. Betrachtet man Foers Tree of Codes als skulpturales Werk, so mag die Erinnerung an ein von Michelangelo überliefertes Diktum nahe liegen, demzufolge die Kunst des Bildhauers darin besteht, das, was nicht zur angestrebten Plastik gehört, aus dem Marmorblock als dem Ausgangssubstrat wegzunehmen. („Ich verstehe unter Skulptur das, was man durch Wegnahme schafft, per forza di levare […]“. Michelangelo, zit. nach Tolnay 1949, S. 94.) Foers Bearbeitungsgrundlage, der Street of Crocodiles betitelte Band, wurde in Abstimmung auf die Deutungsoptionen der Foerschen Buch-Skulptur gewählt. Bruno Schulz’ Texte handeln von der zerstörten jüdischen Kultur Osteuropas, von der Welt des ‚Stetls‘. An diese wird auch und gerade durch das verfremdete Buch erinnert, in dem sich Schulz’ Texte nicht mehr lesen, sondern nur mehr als Fragmente betrachten lassen, so wie die Welt, von der Schulz geschrieben hatte. (Schon Foers Roman Everything is illuminated, wo sich das fiktive Stetl Trachimbrod geschildert findet, verdankte Schulz wichtige Anregungen.) Im Nachwort zu Tree of Codes erzählt Foer von Schulz’ Schicksal, von der Klagemauer, dem Rest des von den Römern zerstörten Tempels, und den kleinen Notizen/Zetteln, die dort hinterlassen werden. Und er weist explizit darauf hin, dass es mit dem Ausschneideverfahren darum gehe, den  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

fragmentarischen Charakter der galizisch-jüdischen Überlieferung sinnfällig zu machen. Die Kurzgeschichten Schulz’ stehen laut Foer für einen verlorenen größeren Zusammenhang, den einer ganzen Kultur (in diesen gehört auch Schulz’ Roman Messias, der während der Pogrome verloren gegangen ist). Eine Welt ist verloren; die Lücken im fragmentarisch Überlieferten sprechen von ihrer Zerstörung. Texte verstummen, manches lässt sich nicht sagen – aber dieser Sprachverlust wird vorgezeigt. Foers neuer Text besteht aus Partikeln von Sätzen und Satzfolgen, bildet aber keinen im konventionellen Sinn kohärenten Zusammenhang, erzählt keine Geschichte, bietet nur selten ganze Sätze. Er lässt keine Inhaltsparaphrase zu, wie sie bei Schulz’ Erzählungen unbeschadet ihrer Komplexität und Polysemie doch näherungsweise möglich ist. Figuren, darunter ein Ich („I“) und Familienmitglieder („father“, „mother“) zeichnen sich bei Foer ebenso vage ab wie Räume und Szenarien; eher erahnbar als nachvollziehbar wird ein insgesamt verhängnisvolles, wenn nicht katastrophisches Geschehen. Gerade in einem Textraum, der sich gegen Lektüren eher sperrt, gewinnen einzelne lesbare Sätze allerdings an Prägnanz, vor allem, wenn sie sich als selbstreferenzielle Aussagen des Buchs oder als Hinweise auf die suggerierten Geschehnisse deuten lassen – wie etwa „our creations will be temporary“ (Foer 2010, S. 51), „a screen — placed to hide the true meaning of this“ (ebd., S. 91), „Reality is as thin as paper“ (ebd., S. 91) oder „through the rooms — the great book of — catastrophes“ (ebd., S. 131).  











Räumlichkeit und Haptik des Buchs. Tree of Codes vermittelt ungewöhnliche Leseerfahrungen. Dass auf den Einzelseiten jeweils sechs untereinander liegende Felder (mit unregelmäßigen, eckigen Konturen) ausgestanzt wurden, rhythmisiert den aus der Textvorlage generierten neuen Text. Denn die auf den einzelnen Buchseiten zu sehenden Strukturen – Textfelder mit Wörtern, Buchstaben, Satzteilen – bieten sich wegen der guten Sichtbarkeit der Stanzränder ja zunächst einmal als ein jeweils sechsteiliges Gebilde dar (dabei kommt es vor, dass einer der sechs Teile minimiert erscheint; auf S. 30 besteht eines der sechs Glieder aus einem ausgestanzten Rechteck von einem Flächenumfang, der einem oder zwei Buchstaben entspricht). Bleiben, bedingt durch die Form und die Überlagerungen der ausgestanzten Seitenflächen, nach jedem Umblättern Teile des zuvor gelesenen Textes noch sichtbar, während andere verschwunden und neue aufgedeckt worden sind, so steht die Sequenz der nacheinander aufgeblätterten Seiten im Zeichen einer kontinuierlich verlaufenden Verwandlung, bei der Wiederholungen eine konstitutive Rolle spielen. Manchmal bleiben Wörter oder Wortketten über mehrere Umblätterphasen hinweg sichtbar; sie kommen aus der Tiefe des Buchraums auf den Leser zu, bis sie ganz an der Oberfläche liegen – und dann beim nächsten Umblättern verschwinden. Dabei zeigen sich die zeitweilig über mehrere Seiten hinweg sichtbar bleibenden Textpartikel in wechselnden Umgebungen; insofern erinnert Tree of Codes an permutative Prozesse der Textgenerierung, bei denen Textbausteine ebenfalls in wechselnde Kontexte eintreten. Sowohl die Rhythmisierung der Buchseiten und der entsprechenden Textfelder durch eine Sechser 







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struktur als auch die vielfältigen Wiederholungen bzw. Variationen von Textpartikeln, die den Leser durch ganze Seitensequenzen begleiten, bewirken eine Art Lyrisierung des Textes (die Einzelseiten bilden dabei Sinneinheiten, wie sie in traditionellen Gedichten vor allem die Einzelstrophen übernehmen). Der durch die Materialität des Buchs erzeugte Effekt ist so ambig wie das Bearbeitungsverfahren, aus dem Tree of Codes entstanden ist: Zum einen werden Seiten und Seitensequenzen als widerständig erfahren, widersetzen sich schnellem Gebrauch, erfordern besondere Sorgfalt der Handhabung – und erzeugen doch die Suggestion, nur partiell zu enthüllen, was jenseits des sichtbaren Textes ‚verborgen‘ liegt. Zum anderen bewirken vor allem die durch übereinanderliegende Ausstanzungen erzeugten Löcher im Buch Sogeffekte, zumal sie die Suggestion verstärken, dass nicht nur die Textteile, sondern auch die Elemente und Figuren der von ihnen evozierten Welt selbst aus der Tiefe des Buchraums auf den Leser zukommen – in immer neuen Konstellationen und unter Entfaltung verschiedener Bedeutungsoptionen.  



Kabbalistische Reminiszenzen. Neben der handgreiflichen Gleichnisfunktion des Auslöschens von Textteilen in einem sichtbaren Buch als Analogon zu anderen ‚Auslöschungen‘ erinnert Foers Lückentext-Buch auch an die kabbalistische Praxis der Textverwandlung durch Umstellung von Textelementen und auf die damit verbundene Vorstellung, auch zwischen den sichtbaren Partien eines Textes sei ein Text verborgen. Auf den Komplex kabbalistischer Vorstellungen, denen zufolge der sichtbaren Schrift der Thora eine andere, ‚unsichtbare‘ Thora entspricht, hat als einer der prominentesten und meistrezipierten Kabbala-Kenner Gershom Scholem in seinem Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik aufmerksam gemacht, das erstmals 1960 erschien und zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen erfuhr (Scholem 1989). Die ‚unsichtbare‘ Thora der Kabbalisten ist eine „unentfaltete Tora“ (ebd., S. 70). Sie ist mit der Farbe Weiß als dem Gegenstück der schwarzen lesbaren Buchstaben und mit dem Modus der Potenzialität assoziiert, und was immer sichtbar und lesbar ist, kann als deutende Konkretisierung der unsichtbaren, weißen Urschrift gelten, die ‚hinter‘ allen Texten ist (ebd., S. 70f.). Die Vorstellung einer weißen, unlesbaren Urschrift, die in schwarzen, lesbaren Schriftzügen jeweils zur begrenzten Konkretisierung oder Materialisierung findet, verweist auf die Idee einer der Urschrift inhärenten unerschöpflichen Sinnfülle (ebd., S. 72). Foers Buch-Skulptur lässt sich zum Konzept einer sich aus unsichtbarer Schrift emanierenden sichtbaren Schrift in Beziehung setzen, und dies nicht nur, weil die lesbaren Textpartikel auf einen unsichtbaren größeren Textzusammenhang verweisen, sondern auch, weil beim Durchblättern von Tree of Codes der seitenweise jeweils sichtbare Text in besonderer Weise die Suggestion erzeugt, aus einem Raum unsichtbarer Schrift hervorzutreten. Auch in Umberto Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel (Il pendolo di Foucault) von 1988 werden kabbalistische Konzepte in Erinnerung gerufen; sie wirken sich auf Inhalt und Form des Romans streckenweise prägend aus. Eine Figur, Diotallevi, geht unter anderem explizit auf die Idee der unsichtbaren Thora ein. Er erläutert den mit dieser Vorstellung verbun 





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denen Appellcharakter des (Heiligen) Textes: Dieser lädt dazu ein, durch Permutation der Textelemente in immer neuen Kombinationen rezipiert zu werden, wobei jeweils neue – und im Fall der wahren, der unsichtbaren Thora unerschöpfliche – Sinnpotenziale freigesetzt werden (Eco 1989, S. 45). Die in Ecos Roman inszenierte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn und der Wahrheit von Texten erfolgt nicht zuletzt dadurch, dass kabbalistische Textkonzepte (wie das der unsichtbaren Schrift) zum ‚Bearbeitungssubstrat‘ werden, ähnlich wie in Il nome della rosa (1980) bereits alt- und neutestamentarische Passagen über das ‚Wort‘. Die Struktur von Il pendolo di Foucault ist bestimmt durch den ‚Baum‘ der zehn kabbalistischen Sefiroth, der vorn im Buch zu sehen ist und die Kapitelfolge gliedert; zudem geht es bei Eco in mehrfachem Sinn um ‚Codes‘. Permutative Textverfahren im Stil kabbalistischer Praktiken werden im Roman nicht nur beschrieben, sondern auch exemplarisch vorgeführt.  





Sichtbarer und unsichtbarer Text. Foer spekuliert im Nachwort zu seinem Buch explizit über die Idee, Schulz’ Buch selbst sei in Auseinandersetzung mit einem anderen, unsichtbaren Text entstanden. Die Seltsamkeit der Schulzschen Sätze, so Foer, spreche gegen einen konventionellen, planvoll-intentionalen Arbeitsprozess. Foer umreißt hier ein Textmodell, das ein spezifisches Licht auch und gerade auf Tree of Codes wirft. Seine Arbeit mit und an Schulz’ Text wäre demnach die Fortsetzung der Suche nach einem solch verborgenen Text (Foer 2010, S. 139). Neben den Hinweisen auf Deutungsoptionen, die Foers Nachwort mit der Anspielung auf ein anderes, ‚größeres‘ Buch („some yet larger book“, ebd.) hinter dem lesbaren Text gibt, stellt es noch einen weiteren Gleichnisbezug zur Geschichte jüdischer Kultur her. Foer erinnert an die Überlieferung, der zufolge bei der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem die vierte Wand allen Zerstörungsbemühungen hartnäckig Widerstand leistete. Ein römischer Soldat habe diesen Widerstand der verbliebenen vierten Wand aus römischer Perspektive interpretiert: Als stehengebliebener Tempelteil werde diese an die Größe des römischen Siegs erinnern. Für die Juden aber sei die Klagemauer als ein Ort des Gedenkens an ihre eigene Vergangenheit entstanden. Die identitätsstiftende Wirkung gerade dieses Ortes beruht dabei nicht zuletzt auf dem Brauch, in die Risse der Klagemauer „small notes of prayer“ zu stecken, also beschriftete Zettel in der Mauer als Medien einer spezifischen Kommunikation zu verwenden; für Foer sind sie wie Seiten eines nicht-gebundenen magischen Buchs. „It could be said that these [notes of prayer] form a kind of magical, unbound book, conjuring the enormity of the desperation of the world, the needs we haven’t defeated“ (ebd., S. 137). Suggeriert, wenn auch nicht ausformuliert wird hier die These einer Vergleichbarkeit der von Rissen durchzogenen Klagemauer mit dem von Ausschneidungen durchzogenen Buch Tree of Codes, dessen Aussparungen, dessen Leerstellen und Löcher ja letztlich die besondere Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen. Dies gilt unabhängig davon, in welch konkretem Sinn man sie als Gleichnis deutet – ob als negative Repräsentationen von Getilgtem, Zerstörtem, Verlorenem, ob als Verheißungen eines künftig zu entdecken 





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E 1 Buch-Literatur

den Textes oder aber als symbolische Hinweise auf die Unerschöpflichkeit des Deutungsprozesses, zu dem der Leser eingeladen ist. MSE

Abb. E 1/14: Jonathan Safran Foer: Tree of Codes. London 2010.  

E 1.45 Reif Larsen: The Selected Works of T. S. Spivet (2010)  

In Reif Larsens Roman The Selected Works of T. S. Spivet erlebt der 12-jährige Ich-Erzähler, der Kartograf Tecumseh Sparrow Spivet, eine abenteuerliche Reise von seiner Heimatranch im Westen Montanas nach Washington D. C.  





Grafische und typografische Besonderheiten als Reflexion medialer Bedingungen. Tecumseh Sparrow – kurz T. S. – fertigt Karten seiner Umgebung und seiner Erlebnisse an. Dabei handelt es sich sowohl um geologische, topografische und ökologische Kartierungen als auch um umfassende Aufzeichnungen von alltäglichen Beobachtungen – beispielsweise von menschlichen Handlungen – und deren Systematisierungsversuche. Diese Grafiken und singulär auch Aufzeichnungen anderer Romanfiguren wie von T. S.s Mutter, der Koleopterologin Dr. Clair, werden innerhalb des Textes oder auf dem Seitenrand abgebildet. Gestrichelte Pfeillinien führen den Leser an ausgewählten Stellen auf nahezu jeder Seite zu den Ergänzungen am Rand. Der Eindruck liegt nahe, dass diese Marginalien von nebensächlicher Bedeutung für die Romanhandlung sind und vor allem als Ergänzungen dienen. Dem ist jedoch nicht so, denn hier werden u. a. bedeutende Details, beispielsweise zum Tod von T. S.s jüngerem Bruder Layton (Larsen 2010, S. 65), erläutert. Layton stirbt in T. S.s Beisein durch einen Gewehrschuss in der Scheune der Coppertop Ranch. Die Brüder fertigen seismografische Aufzeichnungen diverser Schüsse von Gewehren aus Laytons Sammlung an, als eine Ladehemmung einer Winchester sich just in dem Moment löst, da T. S. das Gewehr am Kolben abstützt und Layton in die Laufmündung schaut. Das Trauma des Verlusts seines Bruders vermag T. S. nicht innerhalb seiner Familie zu verarbeiten, da niemand über Laytons Tod spricht. Die typografische Gestaltung des Romans verdeutlicht dieses Schweigen visuell, indem der Leser zu Beginn der Erzählung von Laytons  























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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Tod in der Marginalspalte erfährt (vgl. ebd., S. 11); einem Ort, der ‚abgerückt‘ ist vom eigentlichen Romangeschehen und der Erläuterung von Sachverhalten dient, die innerhalb des Romans nicht oder nicht umfassend ‚zur Sprache kommen‘. Wie im genannten Beispiel zeigt sich die Verbindung von grafischer und typografischer Gestaltung an diversen Stellen medienreflexiv. So wird beispielsweise die Linearität literarischer Erzählungen innerhalb einer Tabelle reflektiert, die die Gedanken, die T. S. und seine ältere Schwester Gracie in Bruchteilen von Sekunden denken, auflistet. Es wird hierbei deutlich, dass der Prozess des simultanen Denkens beider Figuren nicht adäquat in einer linearen Erzählung abgebildet werden kann (vgl. ebd., S. 34). Der Leser wird über Pfeile – die die lineare Rezeption des Gleichzeitigen visuell betonen – in die Tabelle hinein und durch ihre einzelnen Spalten hindurchgeführt. Innerhalb der jeweiligen Spalten ist eine Gedankenkette Gracies T. S.s Gedanken im zeitlichen Verlauf von Sekundenbruchteilen gegenübergestellt. Mittels der Pfeillinien wird das Vergehen von Zeit sowohl im Kontext der Erzählung als auch in der Sphäre des Lesers von Larsens Roman visualisiert. Als T. S. beim Lesen von Dr. Clairs Notizbuch eine Zeichnung seiner Mutter am Seitenrand entdeckt, in deren Rundformen die Wörter „I/don’t/love/him“ (ebd., S. 195) eingeschrieben sind, gerät T. S. in Aufregung, da er annimmt, dass diese Äußerung seiner Mutter auf T. S.s Vater bezogen ist. Am Seitenrand reflektiert T. S. die Beziehung seiner Eltern. Er versucht sich einzureden, dass seine Eltern einander lieben, stellt dies jedoch zugleich in Frage. Eine mehrfach gewundene Pfeillinie führt die Augen des Lesers vom Ende von T. S.s verschriftlichten Gedanken zur Frage: „Right?“ (ebd.). Die ‚Pause‘, die beim Nachvollzug des Pfeillinienverlaufs entsteht, korrespondiert T. S.s verunsichertem Grübeln aufgrund der verwehrten Möglichkeit, eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Die Linearität der Erzählung und das Vergehen von Zeit wird an einer weiteren Stelle im Roman durch die am Seitenrand visualisierte Bahnstrecke thematisiert: Auf seiner Zugreise liest T. S. im Notizbuch seiner Mutter, das er kurz vor seiner heimlichen Abreise aus ihrem Büro entwendet hat. Die Seiten aus dem Notizbuch werden als mise en abyme in T. S.s Erzählung eingefügt. Zugleich scheint die erzählte Zeit der Erzählzeit zu korrespondieren, wenn der Leser von Larsens Roman und dessen Hauptfigur dasselbe lesen (vgl. ebd., S. 181–194).  































Ein Notizbuch als Buch im Buch. Der Inhalt aus dem Notizbuch der Mutter ist zu Beginn als Abdruck ihrer Handschrift im Roman eingebettet. T. S. reflektiert das ‚Persönliche‘, eng mit der jeweiligen Biografie Verbundene, das sich im Erscheinungsbild einer Handschrift ausdrücke in einem Kommentar am Seitenrand. Im Anschluss setzt die Wiedergabe des Inhalts von Dr. Clairs Notizbuch in Maschinenschrift ein (vgl. ebd., S. 142–144). Die Typografie ist größer als im sonstigen Romantext. Zudem sind die einzelnen Buchstaben weniger klar konturiert, sie erinnern an Kopien eines maschinell hergestellten Drucks. Zum einen kennzeichnet die typografische Abweichung zu T. S.s Erzählung die jeweilige Autorschaft. Zum anderen wird ein Moment der Distanznahme implementiert: Das ‚Persönliche‘ von Dr. Clairs Handschrift wird dem  





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Blick des Lesers entzogen. Dass die maschinenschriftliche Wiedergabe von Dr. Clairs Aufzeichnungen darüber hinaus wie eine Kopie wirkt, betont den distanzierenden Effekt. Die Charakteristika und möglichen Verflechtungen unterschiedlicher Medien werden thematisiert, als T. S. versucht, einen Güterzug zu besteigen, mit dem er sich auf den Weg nach Washington D. C. begeben will. Er stellt sich die Szenerie am Gleisbett mitten in der Landschaft Montanas filmisch vor: Die Kameraanweisungen am Seitenrand beinhalten den spannungsgeladenen Wechsel zwischen weiten Kameradistanzen und Detaileinstellungen. Mit einem ironischen Unterton werden Darstellungsformeln bemüht, die insbesondere aus Westernfilmen bekannt sind und die im Zusammenspiel mit musikalischer Untermalung eine dramatische Atmosphäre verbreiten („BASS and CELLOS play three descending notes to indicate COLLECTIVE DREAD“; ebd., S. 99). Obwohl T. S. Westernfilme nicht ‚aktiv‘ schaut, sind ihm diese filmischen Motive äußerst vertraut, da im Wohnzimmer seines Vaters stets – auch während dessen Abwesenheit – ein Western im Fernsehen läuft. Diese permanente Hintergrundberieselung führt bei T. S. zu einer persönlichen Aneignung der WesternInhalte, die auf ihn folglich wie eigene wiederkehrende Träume wirken (vgl. ebd., S. 14). Zudem dienen ihm die Eigenschaften und Handlungsweisen, die Cowboys medial zugeschrieben werden und die er bei seinem Vater und seinem Bruder Layton wiedererkennt, als Konfrontationsmoment mit der eigenen charakterlichen Konstitution, die mit dem Wesen eines ‚echten‘ Cowboys zu kontrastieren scheint. Das Setting am Gleisbett entspricht der filmischen Inszenierung eines klassischen Western und verdeutlicht T. S.s Wunschdenken, charakterlich mehr seinem Bruder und seinem Vater zu entsprechen. Die Kameraanweisung innerhalb des Romans offenbart die Verflechtung medial in spezifischer Form vermittelter Inhalte, die narrative Zuschreibung über Mediengrenzen hinweg und die fiktionalisierte Aufladung von Orten. Durch charakteristische filmische Mittel in Szene gesetzt, gerät T. S. zum „reckless, wildeyed outlaw“ (ebd., S. 99). Eingebettet in den Roman betont die Kameraanweisung als ‚Fremdkörper‘ jedoch, dass T. S. sich nicht in das Schema eines schablonenhaft im Westernfilm dargestellten Banditen einfügen lässt.  























Die Funktion der Karten: Reflexion des Verhältnisses von Fiktion und ‚Realität‘. Anders als der ‚klassische‘ Bandit im Westernfilm produziert T. S. umfangreiche Karten, die Verknüpfungen interdisziplinärer Wissensbereiche offenbaren sollen. Nachdem T. S. bereits mehrere Karten in US-amerikanischen wissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert und auch für das Smithsonian Institute gezeichnet hat, wird er unwissentlich von dem befreundeten Wissenschaftler Dr. Terrence Yorn für ein Stipendium der Baird Society im Smithsonian Institute vorgeschlagen und ausgewählt. Der Anruf von Mr. Jibsen vom Smithsonian Institute mit der Einladung nach Washington initiiert T. S.s Versuch, eine Karte von Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851) anzufertigen. T. S. wird in der Auseinandersetzung mit Melvilles Roman herausgefordert durch das dem Werk zugrundeliegende Konglomerat aus ‚Realität‘ und Fiktion. Er sieht sich nicht in der Lage, diese Gemengelage zu bewältigen (vgl. ebd., S. 36). Die  









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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Reflektion der Durchdringung von ‚realen‘ Sachverhalten mit Fiktivem ist ein dominantes Thema in Larsens Roman. Evident wird dies in der Zusammenstellung fiktiver und historisch verbürgter Figuren und Personen innerhalb der Erzählung: So wird zum einen vom ‚realen‘ Naturwissenschaftler Louis Agassiz berichtet, mit dem T. S.s Ururgroßmutter Emma Osterville einen Dialog über eine mögliche Aufnahme an Agassiz’ Schule für Mädchen führt. Zum anderen gibt es neben T. S.s Versuch der Verarbeitung des Moby-Dick-Stoffes in einer Karte einen weiteren intertextuellen Bezug zu Barry Holstun Lopez’ Kurzgeschichte The Mappist (Lopez 2000). Die Werke des – unter diversen Pseudonymen veröffentlichenden – Romanautors und Kartenzeichners Corlis Benefideo beeindrucken die Hauptfigur Phillip Trevino in Lopez’ Kurzgeschichte so sehr, dass er wiederholt an diversen, sich über Jahrzehnte erstreckenden Punkten in seinem Leben versucht, dessen Identität zu klären und ihn aufzusuchen. Dies gelingt ihm schließlich und Corlis Benefideo zeigt ihm die bisherigen Ergebnisse seiner ‚Lebensaufgabe‘, der ganzheitlichen Kartierung North Dakotas. Einmal besucht Larsens T. S. einen Vortrag Benefideos. Ebenso wie der Corlis Benefideo in Lopez‘ Kurzgeschichte arbeitet das Pendant in Larsens Roman seit Jahrzehnten an einem umfangreichen Kartierungsprojekt North Dakotas. Nach Benefideos Vortrag äußert T. S. seinen Entschluss, ein ähnlich umfangreiches Projekt für seinen Heimatstaat Montana umzusetzen. Die Karten von Benefideo und T. S. bilden nicht lediglich ab, wo sich etwas verortet: „‚A map does not just chart, it unlocks and formulates meaning; it forms bridges between disparate ideas that we did not know were previously connected.‘“ (Larsen 2010, S. 138) Es sind also Karten gemeint, die nach den Zusammenhängen dessen fragen, was die Umwelt vorgibt zu sein. Bedeutend ist dabei, dass die Oberflächlichkeit einer rein deskriptiven Abbildung von Orten aufgegeben wird zugunsten einer interdisziplinären Erforschung und Interpretation von Phänomenen. In Larsens Roman wird dabei deutlich, dass die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion bei der Auslegung von Informationen zuweilen fließend sein können, da ein Sachverhalt in der intensiven Auseinandersetzung in mannigfaltige Einzelbegebenheiten zerlegbar ist. Die hohe Anzahl an Karten, die T. S. und Benefideo produzieren, verdeutlichen das stets Ausschnitthafte von Weltaneignung. In The Mappist bezeichnet Benefideo dies so: „‚The world is a miracle, unfolding in the pitch dark. We’re lighting candles. Those maps – they are my candles.‘“ (Lopez 2000, S. 161) Der subjektive Anteil, den vermeintlich objektive ‚Wahrheiten‘ beinhalten, wird anhand der Lebensgeschichte von Emma Osterville deutlich, die Dr. Clair mithilfe weniger Quellen zu rekonstruieren versucht. Ihr ist bewusst, dass Emmas Biografie im erheblichen Anteil aus ihren – Dr. Clairs – Spekulationen besteht (vgl. Larsen 2010, S. 142). Das Vorgehen von Dr. Clair und T. S. beim Verfertigen ihrer jeweiligen Werke funktioniert in ähnlicher Weise: Fragmentarische Überlieferungen werden angereichert durch persönliche Erfahrung und Interpretation und schließlich – schriftlich oder bildlich – visualisiert. PH  

































E 1 Buch-Literatur

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Abb. E 1/15: Reif Larsen: The Selected Works of T. S. Spivet. Zuerst New York 2009; Paperback 2010, S. 132f.  





E 1.46 John Berger: Bento’s Sketchbook (2011) John Berger, Schriftsteller, Maler, Kunstkritiker, hat die Beziehung zwischen Bildern und Wörtern, Gemälden und Fotos hier, Bildlegenden und Erzählungen dort, vielfältig erörtert und seine Überlegungen in diversen Büchern publiziert, die selbst aus Texten und Bildern komponiert sind (vgl. John Bergers und Jean Mohrs Fotoessay Another way of Telling. London 1982). Dabei besteht kein einseitiges Unterordnungsverhältnis (etwa im Sinn von Text subordinierten Illustrationen oder von den Bildern bloß dienenden Explikationen), sondern Berger inszeniert spannungsvolle Text-Bild-Beziehungen, mit denen nicht zuletzt auf das (verbal) Ungesagte und das im Bild Unsichtbare hingewiesen wird (vgl. Berger 1990). Das Modell des Skizzen- und Notizbuchs. Auch Bento’s Sketchbook ist eine Komposition aus Textabschnitten und Bildern. Hier wird die Buchgestaltung in höherem Maße als bei anderen Text-Bild-Publikationen signifikant: Auf das Buch als Ort der Begegnung und des Dialogs von Texten und Bildern, Wortsprache und visuellen Darstellungen wird schon durch den Titel hingewiesen, der das Werk als einen bestimmten Buchtypus (ein Skizzenbuch) ausweist. Die gebundene englische Originalausgabe (2011) weist durch die Umschlaggestaltung die Optik eines in ein vergilbtes Material eingebundenen Notizbuchs auf, das allerlei Gebrauchsspuren (Flecken und zwei Zeichnungen) trägt. Innerhalb des Bandes wechseln Zeichnungen und Texte einander

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

ab wie in einem Notizbuch, das über einige Zeit der sukzessiven Sammlung beider gedient hat. Die Zeichnungen stammen alle von Berger selbst, wobei sich gelegentlich Nachzeichnungen von Motiven aus Gemälden anderer finden, ausnahmsweise auch einmal die Reproduktion eines fremden grafischen Werks, so als sei dieses ins Notizbuch eingeklebt. Ein integriertes Arbeiterinnenporträt von Käthe Kollwitz wird im Text kommentiert (vgl. Berger 2011, S. 40–44). Der überwiegende Teil der Bilder präsentiert sich aber als Sammlung von Skizzen unterschiedlicher direkt beobachteter Objekttypen: Pflanzen und Blüten, Menschengesichter und -gestalten, Tiere, natürliche und Alltagsdinge (eine Jacke, ein Fahrrad, Steine etc.), Orte und Räume (eine Häuserfront, Landschaftsausschnitte); hinzu kommen einzelne Textbilder, in denen sich Gezeichnetes und Geschriebenes durchdringen. Die Texte sind (neben Berichten über erlebte Situationen, über Bekannte und Begegnungen) weitenteils Notizen seiner Beobachtungen und Reflexionen über verschiedene Dinge, werden aber von Zitaten fremder Provenienz unterbrochen (was in Notizbüchern ja durchaus üblich ist). Bergers Texte verbinden autobiografische und reflexiv-essayistische Schreibweisen, narrative und beschreibende Passagen; sie berichten von Bekannten, von Erlebnissen, von Situationen. Erzählt wird von einem verschenkten Pinsel, von einer Schlossbesichtigung unter Leitung einer Zwergin, von einem alten Fahrrad, von der Auseinandersetzung mit einem Satz von Tschechow, von der Ausleihe zweier Exemplare von Dostojewskis Die Brüder Karamasow und einer Fülle anderer Episoden. Viele Textabschnitte unterhalten zu den Bildern explizite oder implizite Beziehungen. Auf Bilder vor allem holländischer Maler kommt Berger wiederholt zurück, schreibend und (nach-)zeichnend.  

Spinoza-Referenzen und Reflexionen über das Sichtbare. Während der einleitende Abschnitt des Notizbuchs vom Zeichnen handelt und die Haltung des Zeichners als Weltbeobachter zum Ausdruck bringt, der den Dingen zeichnend näher kommen möchte, erklärt der folgende Abschnitt die Bedeutung des Buchtitels: Der Name Bento verweist auf den Philosophen Baruch/Benedikt/Bento Spinoza/de Espinoza (1632– 1677), der als Linsenschleifer arbeitete (also mit der Idee eines genauen Sehens assoziiert ist) und mit seinen philosophischen Hauptwerken einen eigenständigen Beitrag zur Geschichte der europäischen Erkenntnistheorie und Ethik erbracht hat. Spinoza („Bento“) soll angeblich stets ein Skizzenbuch bei sich geführt haben, das nach seinem Tod aber nicht gefunden wurde. Spekulationen und Imaginationen des Erzählers Berger kreisen um dieses Skizzenbuch, und das sich dabei profilierende imaginäre Buch mit seinen Notizen und Zeichnungen steht Modell für Bento’s Sketchbook. Von einem Bekannten mit einem in Wildleder gebundenen Notizbuch beschenkt, habe er, so der Erzähler, dieses zu Bentos Skizzenbuch erklärt und allmählich gefüllt, wobei er sich im Akt des Schauens mit Bento immer mehr identifiziert habe, verbunden durch die für das Zeichnen (aber auch für das Denken) grundlegende Haltung der Aufmerksamkeit („awareness“, ebd., S. 6). Der Name des Philosophen und Linsenschleifers Bento steht metonymisch für diese Aufmerksamkeit auf die Welt und ihre Dinge, auf  

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E 1 Buch-Literatur

Menschen und Dinge, die sich im Notizbuch verbal und visuell materialisiert. Die Auseinandersetzung mit dem Sichtbaren erscheint dabei, typisch für Berger, aber auch unter Rückbezug auf Spinozas Denken, zugleich als eine Hinwendung zu Unsichtbarem, den Sinnen Transzendentem. Programmatisch statuiert eine selbstreferenzielle Passage: „We who draw do so not only to make something observed visible to others, but also to accompany something invisible to its incalculable destination.“ (Ebd., S. 11) Bento’s Sketchbook enthält im Zeichen der Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem (die thematisiert und zugleich inszeniert wird) eine Fülle selbstreflexiver Bemerkungen über das Beobachten, Zeichnen und Schreiben und ist insofern ein Meta-Skizzenbuch. Die Zeichnung auf dem vorderen Buchcover, im Notizbuch wiederholt, zeigt eine halb offene Tür und trägt (im Buch) den knappen handschriftlichen Eintrag „It began like this“, der vom gedruckten Text aufgenommen wird (ebd., S. 21), um eine erzählte Episode einzuleiten. Das Motiv der Tür steht zugleich metonymisch für das Sehen und Zeichnen als einen ersehnten Zugang zu den zunächst nicht gesehenen (und insofern ‚unsichtbaren‘) Dingen. Die integrierten Passagen aus Texten Spinozas dokumentieren das Streben, die Grundlagen und Strukturen des Erkennens im Zusammenspiel von Erfahrung und Denken genauer zu bestimmen, den Weg von unbestimmten und verworrenen sinnlichen Eindrücken sowie von mittelbar empfangenen Informationen zur geistigen Durchdringung der Welt zu modellieren. Unter anderem zitiert wird die Forderung, die Benennungen den benannten Dingen anzupassen, um Irrtümer zu vermeiden (ebd., S. 56). Bentos Reflexionen gelten u. a. der spezifischen Präsenz vorgestellter Dinge, die unbeschadet ihrer physischen Abwesenheit Affekte erzeugen (Ethik, III. Teil, 18. Lehrsatz, vgl. Berger 2011, S. 23), der Relation zwischen Körpern und Ideen (Ethik, II. Teil, 15. Lehrsatz; vgl. Berger 2011, S. 34) und dem Wesen der Körper als solchem (Ethik II. Teil, Definition I; vgl. Berger 2011, S. 47); diese Bestimmung von „body (corpus)“ als „a mode which expresses in a certain and determinate manner the essence of God“ wird flankiert von zwei Blüten-Zeichnungen (ebd., S. 46f.). Die den Bergerschen Text wie die Spinoza-Zitate nicht nur begleitenden, sondern in mancher Hinsicht interpretierenden und bekräftigenden Zeichnungen verbindet vielfach die Fokussierung von Details, sei es aus der Alltagswelt, sei es aus Werken der Malerei (Berger thematisiert ja u. a. verschiedene Gemälde, die der Zeit und der Welt Spinozas entstammen).  







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Zeichnen und Schreiben. Nicht als Rivalen, sondern als Partner präsentieren sich Zeichnen und Schreiben, was ihre Hauptfunktion angeht, Welt dem Betrachter zugänglich zu machen, deren Dinge Gestalt annehmen zu lassen und zugleich über das sinnlich Perzipierbare hinaus zu führen. So wird den Akt des Zeichnens als eine Formgebung des zunächst Unförmigen und insofern Unsichtbaren beschrieben, bei der widerstrebende Dekonturierungstendenzen ebenfalls visuell vermittelt werden.

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Any fixed contour is in nature arbitrary and impermanent. What is on either side of it tries to shift it by pushing or pulling. What’s on one side of a contour has got its tongue in the mouth of what’s on the other side. And vice versa. The challenge of drawing is to show this, to make visible on the paper or drawing surface not only discrete, recognisable things, but also to show how the extensive is one substance. And, being one substance, it harasses the act of drawing. If the lines of a drawing don’t convey this harassment the drawing remains a mere sign. (Berger 2011, S. 113)  

Bento’s Sketchbook ist unter diesem Vorzeichen auch ein Buch über das Erzählen. Das dem Unsichtbaren, dem Verborgenen zugewandte Erzählen, das Berger als ‚introvertiert‘ charakterisiert, erscheint als eines, das der Welt näherkommt als sein Pendant, das offenlegende, entlarvende ‚extravertierte‘ Erzählen. Dass Bento’s Sketchbook sich auf die Spuren Spinozas begibt, ist auch insofern eine programmatische Entscheidung: eine Option für die Orientierung am Ideal der Genauigkeit und der Strenge des Denkens unter Einbeziehung und gleichzeitiger Transgression dessen, was sich empirisch verifizieren lässt. Betont und demonstriert wird das Prozessuale aller Wahrnehmungs- und Darstellungsversuche. Das Skizzieren (wie Berger es zeichnerisch und schreibend praktiziert und zugleich thematisiert) erscheint als eine Umkreisung von Gegenständen und Ideen, die nicht vorgibt, ihren Gegenstand endgültig zu repräsentieren, sondern dem Ethos des Sehen- und Erkennenwollens gerade durch ihre Unabgeschlossenheit gerecht werden möchte, im Sinne der Beweglichkeit der Konturen aller Dinge, wie sie statuiert wird (ebd., S. 113). Im Sketchbook materialisiert sich dieses Streben: im konkreten Skizzenbuch als eine Serie von Wahrnehmungsund Denk-Spuren, aber auch im imaginierten Notizbuch (dem Buch Bentos), das einer Denkspur folgt und einen Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit den Reflexionen eines Vorläufers bietet. Unter Akzentuierung beider Wortbestandteile ist das Skizzen-Buch der Raum eines Dialogs zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem über die Jahrhunderte hinweg. MSE  

E 1.47 J.[effrey] J.[acob] Abrams/Doug Dorst: S. Ship of Theseus (2013) In S. Ship of Theseus (Abrams/Dorst 2013) überlagern sich zwei Romane: erstens ein ‚Primärroman‘, der Ship of Theseus heißt, einem Autor namens V. Straka zugeschrieben und komplett als gedrucktes Buch präsentiert wird, sowie zweitens die (fingierte) Geschichte der Rezeption dieses Romans durch zwei Leser, welche sich in Gestalt ausführlicher Randnotizen und sonstiger Gebrauchsspuren am Primärroman im Textbild manifestiert. Der als Text bereits verwirrende Primärroman wird durch die Fülle und Diversität dieser Lesespuren auf buchgestalterisch ungewöhnliche und zusätzlich verwirrende Weise präsentiert. Zudem handelt es sich bei den Annotationen der beiden fingierten Leser zum Text nicht um einen kohärenten und in sich konsistenten Kommentar, sondern um eine dialogische Auseinandersetzung mit verschiedenen Gegen 

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ständen, Ideen und Hypothesen. Diese stehen zwar insgesamt in einer Beziehung zum kommentierten Primärroman, beziehen aber auch die Lebensgeschichten der beiden fiktiven Leser sowie andere Themen ein. Labyrinthische Lesewege. Nicht nur wegen des im Romantitel stattfindenden Verweises auf den Labyrinthgänger Theseus erscheint das Buch als Labyrinthbuch: Inhalt, Thematik (Suche und Irrgang) und Struktur sind auf narrativer wie auf visuellgestalterischer Ebene labyrinthisch, insofern sie den Leser buchstäblich wie im übertragenen Sinn zu ständigen Richtungswechseln veranlassen, ihn mit Rätseln konfrontieren, an seinen Spürsinn wie an sein Durchhaltevermögen appellieren, ihm also die Rolle eines Theseus zuweisen. Die einzelnen Exemplare des Buchs befinden sich in einem schwarzen Schuber, der als ‚Black Box‘ auf den Rätselcharakter des Werks bereits hindeutet und als Anspielung darauf gelten kann, dass sich Labyrinthe dem Durchblick des Betrachters zumindest zunächst verweigern und grafische Darstellungen des Labyrinths u. a. als Verschwiegenheitsdevise verwendet wurden. Auch sind Labyrinthe Orte der Initiation, die der Labyrinthgänger auf gewundenen Wegen durchläuft; die Rezeption dieses nicht linear lesbaren (Doppel-)Romans erfordert einen entsprechenden Parcours. ‚Labyrinthisch‘ im Sinne von irritierend ist Ship of Theseus aber vor allem mit Blick auf die Besonderheit der Fiktion, die er vermittelt und die zwei Ebenen umfasst: die im Primärroman erzählte Geschichte und die der beiden fiktiven Leser. Mit den letzteren scheint der reale Leser das Buchexemplar zu verbinden, das er in Händen hält; die zweite Fiktionsebene der Lektüre materialisiert sich, so die buchgestalterisch erzeugte Suggestion, im gelesenen Buch als konkretem Objekt. Um Zugang zum Buch zu erhalten, muss der Nutzer eines zuvor nicht gelesenen Exemplars sogar zunächst ein Papiersiegel aufbrechen – eine erste von zahlreichen Spuren, die auf eine Geschichte hindeuten, welche das konkrete Buch-Exemplar hinter sich zu haben scheint. Verwirrend ist vor allem diese für das Gesamtkonzept grundlegende Entdifferenzierung zwischen dem Buch als Multiple und dem jeweils einzelnen BuchExemplar: Der Roman ist von J. J. Abrams so gestaltet worden, als handle es sich bei dem Exemplar, das der Leser gerade in Händen hält, um ein ganz bestimmtes Bibliotheksexemplar mit reichlichen Gebrauchsspuren, hinter denen eine Geschichte zu stecken scheint. Tatsächlich sind diese Gebrauchsspuren Bestandteil des für das gedruckte Multiple konstitutiven grafischen Designs; dieses hat entscheidenden Anteil daran, dass hier eine zweite Geschichte (die ‚Leser‘-Geschichte) erzählt wird.  







Ein Roman im Roman und seine Leser. Doug Dorst ist Verfasser des Primärromans Ship of Theseus, als dessen Autor auf dem Titelblatt aber ein gewisser V. M. Straka angegeben wird. Abrams hat die Präsentationsform geschaffen. Diese suggeriert, dass ein bestimmtes Bibliotheksexemplar des Romans von zwei jungen Leuten, der Studentin Jen und dem Doktoranden Eric, als Kommunikationsmedium genutzt wurde: Die Botschaften Jens und Erics finden sich in Form von üppigen Randkommentaren auf den Seiten des Buches. Die (fingierte) Geschichte des schriftlichen Austauschs  



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zwischen beiden lässt sich in groben Zügen rekonstruieren: Eric hat sich seit längerem mit Recherchen zu dem mysteriösen Autor „Straka“ befasst und dabei die bestehende Straka-Forschung und andere Paratexte konsultiert; seine wissenschaftliche Arbeit wird aber nicht anerkannt. (Straka sowie die häufig erwähnte Strakaforschung sind Fiktionen; hier bestehen Korrespondenzen zu den Autor-Fiktionen und fingierten Kritiken und Forschungsberichten in den Erzählungen von Jorge Luis Borges.) Jen findet das von Eric benutzte Bibliotheksexemplar, fügt seinen Einträgen eigene hinzu, die Eric nach Wiederauffindung des Buches beantwortet; so entspinnt sich ein schriftlicher Austausch, der persönlicher und intensiver wird. Der sich über längere Zeit erstreckende schriftliche Dialog gilt dem Roman Strakas, dessen Person, denen, die sich für ihn interessiert haben, aber auch privaten Erfahrungen Jens und Erics. Die Randglossen sind durch die unterschiedlichen fingierten ‚Handschriften‘ Jens und Erics dem jeweiligen Dialogpartner leicht zuzuordnen;24 die Verwendung unterschiedlicher Farben ermöglicht zudem, diverse Phasen des Schreibens zu unterscheiden. Gelegentlich finden sich neben den geschriebenen Anmerkungen auch Zeichnungen. Die Fabel des Binnenromans Ship of Theseus – also des angeblich von Straka stammenden Werks – erinnert auf inhaltlicher wie auf textstruktureller Ebene an ‚Labyrinthisches‘. Erzählt wird in der dritten Person, aber aus der Perspektive eines Protagonisten, von dessen Namen man nur die Initiale („S.“) erfährt. Durch diese Initiale besteht eine subkutane Beziehung zum fiktiven Romanautor Straka, aber auch zu einem im Text wiederholt visuell auftauchenden und von S. registrierten stilisierten S-Zeichen sowie zu den Initialen von Frauengestalten, deren Identität oder Nichtidentität nicht eindeutig geklärt werden kann (Sola, Szalome, Samar). S. leidet unter Amnesie, so dass die Episoden um seine einzelnen Erlebnisse und Abenteuer jeweils als Wiedergabe der jeweiligen Handlungsgegenwart angelegt sind. Durch diesen Erzählmodus gestalten sie sich noch rätselhafter, als sie ohnehin schon sind. Unklar ist (auch für S.), ob er zufällig oder planvoll in die erzählten Ereignisse hineingerät, ob seine vergessene Vergangenheit vielleicht einen Schlüssel zu diversen Rätseln bildet und wie er zu den ihm begegnenden Figuren steht. (Er wird auch von der anonymen Erzählerinstanz erst „S. genannt“, nachdem er in seiner Manteltasche einen Zettel mit der Initiale „S.“ gefunden hat und dies als Hinweis auf etwas deutet, das ihn angeht, wovon er aber nichts (mehr) weiß; Abrams/Dorst 2013, S. 14.) Ähnlich wie Figuren in Beispielen des Nouveau Roman irrt der die Perspektive bestimmende Protagonist durch eine ihm intransparente Welt. Ähnlichkeiten bestehen zu Michel Butors L’emploi du temps, der von einem labyrinthischen Irrgang in einer dem Protagonisten fremden Stadt handelt, wobei dieser Protagonist allerdings einen Namen hat (Jacques Revel); größer ist die Ähn 





24 Die eher runden, fließenden Buchstaben Jens und die eckigen, nüchtern wirkenden Buchstaben Erics deuten auf unterschiedliche ‚Charaktere‘ hin; ähnlich sind in Nick Bantocks Griffin & Sabine-Zyklus die Textanteile der beiden Korrespondenten gegeneinander abgesetzt (obwohl es hier später zu Annäherungen und Hybridisierungen kommt).

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lichkeit zur Geschichte eines namenlosen Soldaten in Alain Robbe-Grillets Dans le Labyrinthe, wo der Leser nicht weiß, mit wem er es zu tun hat und auch über die von der Hauptfigur durchstreifte Stadt nur das erfährt, was diese Figur wahrnimmt. Eine desorientierende Romanwelt. Im ersten Kapitel beobachten wir den Protagonisten auf seinem offenbar ziel- und orientierungslosen Weg durch die alten Viertel einer ungenannten Hafenstadt. Er findet in der Manteltasche den Zettel mit dem SZeichen; in einer Taverne trifft er eine rätselhafte, aber attraktive Frau. Auch Seeleute kreuzen seinen Weg. Er wird von Seeleuten entführt und auf ein Schiff gebracht (‚shanghaied‘), wo er nun zwar gefangen ist, aber sich doch umherbewegen kann. Über Ziel und Zweck der Fahrt bleibt er ebenso im Unklaren wie über das ihm zugedachte Schicksal, seine eventuelle Aufgabe oder die Ursachen, aus denen er verfolgt wurde (Kap. 2). Von der mysteriösen Mannschaft spricht überhaupt nur ein Seemann (der später „Maelstrom“ genannt wird, was an Poes Erzählung über The Descent into the Maelstrom erinnert), der S. aber vor allem signalisiert, dass er keine Aufklärung über die Ursache seiner Gefangenschaft erthalten werde, obwohl ein Plan dahinter zu stecken scheint. Zudem spricht der Mann sehr undeutlich. Unter anderem fällt der rätselhafte Name „Sola“, den S. als den einer Drahtzieherin deutet und mit der Frau aus der Hafenkneipe in Verbindung bringt. Seine Gefangenschaft auf dem Schiff endet, als dieses in einen Sturm gerät und (scheinbar) kentert. S. geht über Bord und rettet sich schwimmend an eine unbekannte Küste, wobei er annimmt, das Schiff sei gesunken. An der Küste gerät er in gewaltsame Unruhen (Kap. 3): Eine Gruppe von protestierenden Arbeitern begehrt auf gegen einen als verbrecherisch geltenden Fabrikanten namens Vévoda. In Vévodas Fabrik werden Waffen hergestellt, und er beutet die Arbeiter aus, aber wie es scheint, ist zudem ein kriminelles Projekt in Vorbereitung. Zunächst von den Arbeiterführern als potenzieller Spitzel der Vévoda-Partei verdächtigt, schließt sich S. diesen an, als sie fliehen müssen (Kap. 4). Jemand hat ein verheerendes Bombenattentat begangen, und ihnen wird die Schuld in die Schuhe geschoben. S. verlässt die Stadt in Gesellschaft des älteren Arbeiterführers Stenfalk, Stenfalks Lebensgefährtin Corbeau und der Arbeiter Ostrero und Pfeifer. Ihre Flucht führt die von Feinden verfolgte Gruppe durch öde Gelände und schließlich durch ein Höhlenlabyrinth, dessen Ausgang zu einer Steilküste führt (diese Topografie erinnert an Lawrence Durrells Labyrinthroman…). Nacheinander kommen alle Gefährten auf der Flucht zu Tode (Kap. 5), zuletzt die Frau, nur S. überlebt den Sprung von der Klippe. Vor dem Ertrinken rettet ihn ein Schiff: es ist das, aus dem er zuvor geflohen ist. Wiederum Gefangener auf dem Schiff (Kap. 6), wird S. in eine exotisch wirkende Stadt gebracht. Hier macht er die Bekanntschaft eines gewissen Osfourne, der zu wissen behauptet, wer S. ist und andeutet, man habe Pläne mit diesem. Die Stadt wird bei einem Angriff mit machtvollen Waffen auf apokalyptische Weise in Trümmer gelegt. Schließlich findet sich S. wieder auf dem Schiff (Kap. 7), sichtet rätselhafte Fotos, erhält von Maelstrom weitere rätselhafte Andeutungen, beschäftigt sich in Gedanken weiterhin mit Sola. Er trifft auf eine schrecklich entstellte, fast ge 











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sichtslose Frau, die ihm einen Auftrag andeutet; sein weiterer Weg führt in eine Bibliothek sowie zu weiteren Stationen einer verrätselten und mysteriös bleibenden Geschichte. Konstruierte Paratexte. Wird eine zweite Ebene der Fiktion durch die wuchernden Pseudo-Paratexte begründet, so ist hier nochmals zwischen mehreren ‚Paratext‘-Ebenen zu unterscheiden: Ein Teil gehört der Fiktion zufolge zum gedruckten Buch (wie etwa das Vorwort der angeblichen Übersetzerin: „Translator’s Note and Foreword/by/ F. X. Caldeira“), ein anderer besteht aus dem Schriftverkehr der beiden Leser Jen und Eric. In diesem geht es unter anderem auch um Versuche, die Genese des Primärromans und ihre Rahmenbedingungen zu erschließen. Die so hypothetisch konstruierte (fiktive) Entstehungs-, Publikations- und Interpretationsgeschichte des Romans hat selbst labyrinthische Züge, insofern sie mehrfache Verzweigungen aufweist. Strakas Identität ist rätselhaft wie die des berühmten B. Traven. Der Fiktion zufolge ist Ship of Theseus Strakas neunzehnter und letzter Roman, den er bei seinem Tod unvollendet zurückließ. Seine Übersetzerin F. X. Caldeira hat sich darum bemüht, im Rückgriff auf vorliegende Aufzeichnungen das letzte Kapitel zu vollenden; spätestens hier ist der Text also nicht mehr ‚autorisiert‘. Über die Bedeutung des Romans, seine Interpretationsoptionen, insbesondere auch seine Beziehungen zur Realität (er könnte ein Schlüsselroman sein) gehen die Meinungen auseinander, was durch die Annotationen Erics und Jens deutlich wird. Jen und Eric verknüpfen fremde Interpretationen mit eigenen, meist in hypothetischer, also wieder auf Alternativen verweisender Form. Dabei wird noch eine andere Interpretenstimme vernehmbar: Die Übersetzerin Caldeira hat den Romantext nicht nur in eine andere Sprache übertragen (das fiktive Original lesen wir gar nicht!), sondern zudem einen umfangreichen Anmerkungsapparat hinzugefügt, der eigene Text-Verzweigungen erzeugt. Hier werden unter anderem Hypothesen erörtert und Forschungsergebnisse bilanziert. Jen und Eric kommentieren auch den Anmerkungsteil.  









Typografie, Buchausstattung, Materialität. Die Aufmachung des Buchs ist konstitutiver Bestandteil des Romans. In Druckbild und Aufmachung (von der Typografie über die leicht gelblichen Seiten bis hin zum Einband in Leinenoptik) simuliert das Buch, man habe es mit einem im Jahr 1949 gedruckten Werk zu tun. Während Bibliotheksaufkleber und -stempel auf den fingierten Standort des Exemplars in der „Laguna Verde Highschool“ verweisen, deuten zahlreiche Einlagen auf die diversen Leser hin, die das Buch bereits benutzt haben: handbeschriebene Papiere, Dokumente zur Geschichte Strakas, Fotos, Postkarten, eine Campuszeitung, Zeitungsausschnitte, eine Papierserviette mit einem Lageplan, Briefe, schließlich eine Dechiffrierscheibe. Neben intentionalen Spuren des Gebrauchs, wie sie sich als eingelegte Lesezeichen und Randbemerkungen manifestieren, finden sich (scheinbare) nicht-intentionale Spuren in Form von Flecken.

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Die Frage nach der Identität des Textes. Der Romantitel Ship of Theseus ruft aber nicht nur Erinnerungen an den Mythos um Theseus im Labyrinth auf (und verweist insofern auf die ‚Labyrinthik‘ des Romans und des Buchs, in welchem dieser sich materialisiert), sondern steht auch für ein bereits in der Antike erörtertes philosophisches Paradoxon, das in mehreren Varianten überliefert ist und dessen älteste erhaltene Ausformulierung von Plutarch stammt (Plutarch, Vita Thesei 23; vgl. Essler 1995). Plutarch berichtet, dass das Schiff des auf Kreta siegreichen Theseus nach seiner Heimkehr in Athen lange aufbewahrt wurde, wobei aber nach und nach alte Holzteile durch neue ersetzt wurden. Diverse Philosophen, so Plutarch, nahmen dies zum Anlass einer Diskussion darüber, ob das solcherart restaurierte Schiff nun noch das Schiff des Theseus sei oder ob es nicht mehr als mit diesem identisch gelten könne. In einer Variante des Schiff-Paradoxes wird das Schiff des Theseus auf dessen eigenen Wunsch in einer Werft durch Ersetzung von tausend alten Planken durch tausend neue restauriert. Der Werftbesitzer entnimmt die alten Bauteile, setzt aus diesen dann aber ein neues Schiff zusammen. Welches der beiden Schiffe ist nun das Schiff des Theseus? (Vgl. Rosenberg 1993, Kap. 4, S. 64ff.) Die durch das alte Paradox aufgeworfene Frage nach den Kriterien von Identität lässt sich bezogen auf das unter dem Titel Ship of Theseus publizierte Buch ebenfalls erörtern, und sie verweist auf grundsätzliche text- und literaturtheoretische Fragen, welche insbesondere den Status der Rezeption betreffen. Wie das ursprüngliche Schiff des Theseus durch die Athener bzw. durch den Werftbesitzer bearbeitet wird, so ‚bearbeiten‘ die (fiktiven) Leser Jen und Eric den Roman Strakas; das Ergebnis ist die Überlagerung des Ausgangstextes durch einen neuen Text. Lesen wir noch den Roman Strakas selbst oder dessen durch Bearbeitung bedingte Modifikation? Bzw. kann diese beanspruchen, noch der Roman Ship of Theseus zu sein? Unter dieser Akzentuierung geht es um die Frage nach der Identität eines ‚interpretierten‘ Textes mit dem Ausgangsobjekt der Interpretation: Verändert die Interpretation das Interpretandum? Behält es im Interpretationsprozess seine Identität? Oder besitzt ein Text – anders als ein Schiff – womöglich ohnehin keine ursprüngliche Identität, weil er dazu disponiert ist, sich mit jedem Interpretationsprozess wieder zu verändern? Die aufwendige und facettenreiche Ausstattung des Romans als Inszenierung seiner Druck- und Nutzungsgeschichte macht den Leser auf die verschiedenen buchgestalterischen Parameter aufmerksam, welche Lektüreprozesse begleiten und beeinflussen. Das konstruierte Rätsel um Straka, die Fiktion einer Übersetzungs- und Forschungsgeschichte verbinden den Roman mit Diskursen über Autorschaft, Textbedeutung und Interpretationsoffenheit, wie sie die Texttheorien des späten 20. Jahrhunderts geprägt haben, insbesondere mit der Kontroverse über die Instanz des ‚Autors‘. Die grafischen Interventionen der beiden fiktiven Leser, aber auch der Anmerkungsapparat Caldeiras lassen die Rezipienten des Romans als dessen Ko-Autoren erscheinen und spielen insofern auf rezeptionsästhetische Positionen an. Das Durcheinander kontroverser Hypothesen, Deutungsstrategien und Decodierungsoptionen macht den Roman zum Musterfall intertextuell fundierter Polyphonie. Als rhizomatischer Text  









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korrespondiert er mit dekonstruktivistischen Texttheorien. Als vieldeutiger Schnittpunkt der Diskurse und Hypothesen, Theorien und Deutungen wird das Buch inszeniert – in seiner mehrfachen Dimensionierung als konkretes Objekt und als Metonymie des ‚Werks‘.  

Leserichtungen, Deutungsoptionen. Der Titel des Romans weist – wie angedeutet – bereits in verschiedene mögliche Interpretationsrichtungen. Zum einen bildet der Name des Theseus ein Bindeglied zur Geschichte der Labyrinthliteratur und zur Kulturgeschichte des Labyrinths insgesamt, insbesondere aber zu Formen labyrinthischer Buch-Literatur, wie sie J. L. Borges imaginierte und andere Autoren realisierten, so rezent Danielewski mit House of Leaves, das 2000 erschien – im Jahr des letzten der fingierten Bibliotheksstempel in Ship of Theseus. Als mythischer Labyrinthgänger personifiziert Theseus den Leser als Suchenden und Irrenden im Buch-Labyrinth. Zum anderen verweist der Titel ja auf das erwähnte philosophische Problem, dessen älteste überlieferte Formulierung von Plutarch stammt. Auch aus der damit eröffneten Perspektive ergeben sich übrigens mehrere Möglichkeiten der Betrachtung des Romans. Dieser enthält als lose Elemente eine große Zahl von Einlagen: (faksimilierte) Postkarten, reprografierte Fotos, Prospekte, Eintrittskarten und allerlei andere Druckerzeugnisse, die der Suggestion nach als Lesezeichen oder per Zufall im Buch gelandet sind. Auch diese Papierobjekte tragen mit zur Profilierung der (fingierten) Rezeptionsgeschichte des Buchs bei. Wie wichtig sind die Vollständigkeit und die genaue Platzierung der Objekte? Ist der Roman noch ‚derselbe‘, wenn einzelne entnommen, anderweitig platziert, womöglich ersetzt werden? Am Leitmotiv des Schiffs lässt sich der Rezeptionsprozess literarischer Werke als Kernthema durch den Roman verfolgen. Eine Randnotiz Erics zu einer Liste von Schifftypen im Roman lautet: „many ships, many traditions“ (Abrams/Dorst 2013, S. 285). Heißt es im Romantext selbst einmal „You have choices to make“ (ebd., S. 287), so löst dies bei Jen und Eric dialogische Reflexionen aus. Von einer Passage über den „gap between what was intended and what turned out to be“ fühlt sich Jen zu Fragen stimuliert (ebd., S. 291). Viele Einträge der beiden Leser verweisen auf poetologische Themen – kaum zufällig bei zwei professionellen Buchlesern. So schreibt Eric etwa: „Storytelling transforms writer/speaker and reader/listener“ (ebd., S. 149). Ein exemplarisches Stück Buch-Literatur ist Ship of Theseus in mehr als einer Hinsicht: Der schriftliche Dialog, den Jen und Eric auf der Ebene der Pseudo-Paratexte (vor allem der Randbemerkungen) führen, gilt nicht nur der Geschichte eines ‚Romans‘, sondern auch der eines ‚Buchs‘, konkret: der Publikationsgeschichte des Werks von Straka von der hypothetisch rekonstruierten Arbeit des Autors bis zum Eintritt des Primärromans in die Leseöffentlichkeit. Zur Inszenierung der doppelten Ebene fingierter Wirklichkeit (Romanhandlung und Handlung um die beiden Leser) werden verschiedene Optionen der Buchgestaltung eingesetzt; diese ist entscheidend dafür, dass die Doppelgeschichte erzählt werden kann. Der Buchraum wird als modellhafter Schauplatz der Interaktion zwischen den verschiedenen Teilnehmern des literarischen Kommunikations 



















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prozesses arrangiert – zwischen Autoren und ihren Vorläufern, Lesern, Übersetzern, Forschern etc. MSE  

Abb. E 1/16: J.[effrey] J.[acob] Abrams/Doug Dorst: Ship of Theseus. New York 2013, S. 112f.  



E 1.48 Nick Thurston: Of the Subcontract, Or Principles of Poetic Right (2013) Der Konzeptkünstler Nick Thurston hat für eine Buchpublikation von 2013 eine Gedichtanthologie kompiliert und arrangiert, die auf den ersten Blick unauffällig wirkt; sie enthält Gedichte, die inhaltlich und formal wenig überraschen. Auffällig erscheint zunächst allenfalls der Anthologie-Titel Of the Subcontract, Or Principles of Poetic Right; auch das Buchcover zieht Aufmerksamkeit auf sich, da es aus einer spiegelnden, mit nur sparsamem Ausdruck versehenen Silberfolie besteht, die schemenhaft den Buchnutzer selbst spiegelt. Eine Anthologie anonymer Gedichte. Die 100 Gedichte des Bandes stammen nicht von Thurston selbst; auch das entspricht konventionellen Anthologien, weniger aber deren konkrete Entstehungsgeschichte, und diese ist es dann auch, die die Besonderheit des Buchs bedingt. Thurston hat die Gedichte gekauft, nicht einfach nur für die Abdruckrechte gezahlt, sondern diese Rechte erworben; er nutzte dabei das Unternehmen „Mechanical Turk“ (AMT), ein Subunternehmen von Amazon. (AMT vermittelt Texte und andere Produkte menschlicher Arbeit. Über die Internetplattform von AMT werden dann entsprechende Verträge zwischen Anbietern und Nutzern geschlossen.) Vermittelt werden via AMT neben vielen anderen Dienstleistungen auch Formen der Textproduktion. Thurston, nun Besitzer der Gedichte, nennt deren Verfasser (mit denen ihn außer dem ‚Subcontract‘ mit AMT nichts verbindet) in der Anthologie nicht. Sie erscheinen damit – bedingt durch das paratextuelle Defizit – als anonyme Elemente einer Produktions- und Distributionsmaschine, bei der es auf individuelle Personen und Botschaften nicht ankommt. Die Texte sind durchnummeriert von 1 bis 100 und  



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werden jeweils unter Angabe der Kosten präsentiert, die dem Anthologisten von AMT in Rechnung gestellt wurden. In weiteren paratextuellen Angaben wird beziffert, welche Arbeitszeit in die Verfassung der Gedichte investiert wurde und welcher Stundenlohn sich daraus ergab; hinzukommen weitere quantifizierende Angaben. Das Vorwort des Buchs scheint zunächst von einem Medientheoretiker, McKenzie Wark, verfasst zu sein. Das Nachwort allerdings (von Darren Wershler) teilt mit, es sei von einem Ghostwriter via www.freelancer.com erworben worden. Das Prinzip der ‚gekauften‘ Arbeit bestimmt also nicht nur die Gedichtsammlung, sondern auch andere Partien des Bandes. Poesie wird ostentativ als Ware präsentiert – und damit auf den Warencharakter von Büchern überhaupt verwiesen, der mit geläufigen Vorstellungen über Gedichtbücher, deren immateriellen Wert und deren Nutzung aber besonders stark kontrastiert. Unter dem selbstentlarvend-reklameartigen Titel „Earn Money Just by Writing Your Mind“ spricht das Vorwort über „poetry“ und die im Band enthaltenen Gedichte; es häuft ‚Bildungs‘-Zitate und Klischees und preist die Gedichte an wie ein Reklametext.  

‚Of the Subcontract‘ is a new collection of evocative poetry. The poems in this book capture nature’s moods as well as feelings of majesty, love and emotion. They awaken memories and dreams, sadness and laughter. ‚Of the Subcontract‘ is a celebration of the changing seasons and the beauty of love, which is everywhere,/Poetry has great power to touch the heart. (Thurston 2013, S. 9)  

Die von Thurston ostentativ inszenierte Verwandlung von literarischem Schreiben, Dichtung und Buch in konsumierbare Waren wird im Sinne kapitalistischer Euphemismen allenthalben propagiert.25 Aber auch viele Gedichte wirken wie aus Stereotypen montiert. So klingen die ersten Zeilen des ersten Gedichts (0.01. Pain, Thurston 2013, S. 20) unfreiwillig trivial und darum komisch: „The pain and burden she carries/ Has left her legs broken and hairless“, das ganze Gedicht bewegt sich auf Reklameund Unterhaltungsniveau: „I cannot sleep, I cannot cry/One does not simply say goodbye.“ (Ebd., S. 16) Dass nirgends Autornamen stehen, signalisiert – mit implizit kritischer Akzentuierung – eine Entpersönlichung der literarischen Kommunikation, ja der schriftlichen Kommunikation überhaupt. Was aber mindestens ebenso irritierend wirkt, ist der Umstand, dass sich in diesen Gedichten auch so viele Stereotype finden. Die Textverfasser sind nicht nur in eine Maschine hineingeraten, sie agieren auch als reproduktive Bestandteile einer ‚Maschinerie‘ des Lyrik-Produzierens. Titel- und Programmfigur von Of the Subcontract, Or Principles of Poetic Right ist der sogenannte ‚Schachtürke‘ Wolfgang von Kempelens aus dem 18. Jahrhundert, ein  









25 Typisch für das Vorwort ist der fließende Übergang von der Schwärmerei über ein Gedicht („imagination […] at its zenith“, Thurston 2013, S. 16) zum kommerziellen Aspekt der literarischen Produktion: „Today earning money is important. Freelancers can earn as much as they want just by writing for websites via peer-to-peer labour pooling schemes. Pooling schemes not only help writers to earn well, but also give them an opportunity to enjoy an outlet for their feelings. […] Isn’t it a great idea that you can earn money just by writing your mind? Of course it is a great idea.“ (Thurston 2013, S. 9)  

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berühmter Trickautomat, der sich im Buch Thurstons zweimal abgebildet findet, einmal von hinten (erste Seite) und einmal von vorn (letzte Seite). Die verwendeten Reproduktionen historischer Darstellungen des Kempelenschen ‚Schachtürken‘ stammen aus Karl Gottlieb von Windisch: Briefe über den Schachspieler des Hrn. von Kempelen nebst drey Kupferstichen die diese berühmte Maschine vorstellen (Pressberg 1783). Der ‚Schachtürke‘ war zwar ein mechanischer Android (eine bewegliche orientalisch gekleidete Puppe in Menschengröße), doch als Schachspieler keine echte Maschine. Entgegen dem Anschein steckte ein kleinwüchsiger Mensch in der Konstruktion und bewegte indirekt die Schachfiguren. Der ‚Türke‘ Kempelens erscheint im Kontext von Thurstons Buchkonzept als Verweis darauf, dass hinter der in die Anthologie eingespeisten Textsammlung reale, wenn auch unsichtbare lebendige Schreiber stecken. Sichtbar ist für den Nutzer nur die Maschine, welche die Gedichte vermarktet und distribuiert, die Namen der Autoren erfährt man nicht. Angespielt ist mit dem Türken-Motiv auch auf umgangssprachliche Diskurse über das AMT-Prinzip: Die Leistungsanbieter werden ‚turks‘ genannt, nennen sich oft auch selbst so, nicht zuletzt in Thurstons Band. Durch seine Anonymisierung der Bandbeiträger sensibilisiert das Projekt dafür, dass die Nutzung von Internet-Arbeit, die ‚Türken‘ für zahlende Kunden erbringen, in der Alltagskommunikation zunimmt. Im Nachwort zitiert wird aus einer Umfrage einer Internet-Plattform; die Nutzer der Plattform haben sich von anderen via Internet offenbar mit Liebesbriefen und anderen ‚persönlichen‘ Texten versehen lassen (ebd., S. 136). Die Maschine, in der der unsichtbare Schachspieler bei Kempelen saß, wird zur Allegorie kapitalistischer Produktion und Distribution von Gütern26 und zum Sinnbild des von Thurston produzierten Buchs selbst: ‚Innen‘ im Buch-Kasten, hinter der sichtbaren Oberfläche, ‚sitzen‘ verborgen die anonymen Gedichtverfasser. Wer dieses Buch liest, tritt in eine anonymisierte ‚Maschinen‘-Sphäre ein.27 ‚Maschinen‘ wie AMT durchdringen alle Lebensbereiche, auch die persönlichsten, auch die Kunst. Thurstons Projekt zielt kritisch auf den Prozess der Ausbeutung anonymer Arbeit durch kommerzielle Strukturen, vor allem im Zeichen digitaler Arbeitsprozesse. Dabei übt der Band durchaus Selbstkritik, die auf sein eigenes Zustandekommen zielt.28 Auf dem hinteren Cover erklärt der Anthologist:  

26 In seinem Nachwort kommentiert Darren Wershler den Umstand, dass AMT selbst den Schachtürken als Sinnbild gewählt hat („to describe their low-rent Internet-based crowdsourced labour pool“), als „both wholly appropriate and eye-wateringly honest“ (ebd., S. 134). „We’re entertained by how impressive it all looks, even though we already know that what is really inside the cramped and stuffy confines of the box is at least one small, sweaty, poorly-paid human being.“ (Ebd.) 27 Das Motto klingt wie das Entrée zu einer Internet-Dienstleistungsseite: „You have chosen NOT to use Master Workers. We Strongly enoucourage [sic] you to use Masters as these Workers have demonstrated accuracy in performing a wide range of HITs. Are you sure you want to continue?/(gezeichnet:) MTURK ->2013.“ 28 „‚Of the Subcontract‘ needs to be read as a critique of artists and poets who employ networked digital outsourcing as a production method. […] There is no neutral place on which to stand.“ (Darren Wershler, Nachwort, ebd., S. 138)  



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This is a book about computational capitalism. It reverses out of the database-driven digital world of new labour pools into poetry’s black box: the book. It reduces the poetic imagination to exploited labour and, equally, elevates artificial intelligence to the status of the poetic. In doing so, ‚Of the Subcontract‘ explores the all-too-real changes that are reforming every kind of work, each day more quickly, under the surface of life. (Thurston 2013, hinteres Cover; der Text stammt vermutlich von Thurston; er trägt, anders als zwei weitere Zitate, keine Verfasserangabe.)

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E 1.49 Peter Pan by J. M. Barrie, with Illustrations by MinaLima (2015); The Jungle Book by Rudyard Kipling, with Illustrations by MinaLima (2016) Auf der Idee, das Lesen von Romanen zu einem interaktiven, visuell-haptischen Bucherlebnis zu machen, basieren die buchgestalterischen Arbeiten des Teams „MinaLima Design“ (Miraphora Mina, Eduardo Lima), von dem diverse Bücher aufwändig ausgestattet wurden. Mit den MinaLima-Ausgaben von James Matthew Barries Peter Pan (Erstpublikation 1894) und Rudyard Kiplings Jungle Book (1904 als Schauspiel produziert, 1911 erstmals in Romanform veröffentlicht) werden zwei ältere und bis heute bei allen Leser-Altersklassen populäre Schmöker auf einfallsreiche Weise in Buchform inszeniert. Genutzt werden dabei dezidiert Gestaltungsmittel, die für das 19. Jahrhundert, seine Buch- und Papiergestaltungskultur typisch sind: In Leinenoptik gehalten, zeigen die Einbände auffällige Bildmotive aus den Romanen, jeweils in den Farben Rot, Grün und Schwarz gehalten und mit reichen Goldprägungen geschmückt. Die für Einbandgestaltung und Teile des Buchinneren verwendeten verschiedenen Schrifttypen erinnern ebenso wie die Vorsatzblätter aus gemustertem Papier mit inhaltsbezogenen Bildmotiven an Druckwerke des 19. Jahrhunderts. Charakteristisch erscheint auch der Einsatz vielfältiger illustrativer Elemente, wie sie sich im 19. Jahrhundert verstärkt durchsetzten und etwa bei der Ausstattung von Unterhaltungsliteratur und Klassikerausgaben das Lesen auch zu einer visual-ästhetischen Erfahrung werden ließen. Eine Fülle von Illustrationen zu Szenen und Figuren des Romangeschehens erinnert an die Bilderfreudigkeit in der Buchkultur dieser Epoche; hinzu kommen viele schmückend eingesetzte Bildmotive und Ornamente, Bildseiten mit strukturierender Funktion zwischen den Einzelkapiteln, ornamental gerahmte Seitenzahlen und diverse Spielformen schriftbildlicher Gestaltung. Eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert, seine Spiel- und Bücherkultur sind vor allem die Papierkonstruktionen innerhalb beider Romanausgaben: In den Kodex hineinmontierte mobile Teile, ausfaltbare, drehbare und ausklappbare Papierobjekte, Bewegungsbuch-Elemente und andere Spezialkonstruktionen nehmen sich aus wie eine Hommage an die große Blütezeit des mechanischen Kinderbuchs mit seinen Zieh-, Dreh- und Klappvorrichtungen. Barries und Kiplings Romane entstanden im Kontext einer bürgerlichen Romanlesekultur des  







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späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die an der Darstellung fremder Welten großen Gefallen fand. Beide tragen in mancher Hinsicht die Signatur ihrer Zeit und ihrer politisch-kulturellen Herkunftswelt (Kiplings in Indien spielendes Jungle Book die des britischen Kolonialreichs, Barries Peter Pan die einer in Schottland und England noch lebendigen Überlieferung volkstümlichen Glaubens an Elfen, aber auch die einer bürgerlichen Leitvorstellung von Heim und Familie). Und beide sind insbesondere durch phantastische Motive geprägt: Kiplings Mowgli lebt unter sprechenden Tieren mit menschenanalogen Charakteren und Verhaltensweisen. Der vom Erwachsenwerden befreite Peter Pan, die Fee Tinker Bell und ihre kindlichen Freunde erleben wundersame Abenteuer und erkunden die Zauberinsel Neverland. Ausgehend von solchen Romanstoffen lassen sich einfallsreiche buchgestalterische Effekte generieren, bei denen der physische Buchraum zur Schwelle in eine andere phantastische Welt wird: in exotische und wundersame Regionen, bevölkert von Tieren, Märchen- und Fabelwesen.  

Mobile Buchelemente. Vor allem die mobilen Elemente, in regelmäßigen Abständen in den Bänden platziert, lassen solche Welten im Buch greifbare Gestalt annehmen. Mehr als bloße Illustrationen, interpretieren sie die Romanhandlung und setzen eigene inhaltsrelevante Akzente. So findet sich in Peter Pan früh ein gefaltetes ‚Dokument‘ mit faksimilierten Handschriftelementen und Stempeln eingeklebt („Medical Notes/ Patient Card“), das über die Protagonisten (die „Darling Children“) Auskunft gibt (Barrie 2015, S. 19); entfaltet bietet es zunächst eine Art Kartografie der Köpfe der Figuren, und beim weiteren Ausfalten verbirgt sich an der Rückseite dieser Kopf-Karten eine Karte von Neverland. Tinker Bell hat ihren Auftritt in Gestalt einer blau-goldenen glänzenden Papierkarte, aus der sich ein ausgestanzter Elfenflügel hebt, hinter dem dann ein Teil der nächsten Buchseite sichtbar wird (ebd., S. 45). Eine drehbare Pappscheibe auf einem eingeklebten Pappfeld, die an mobile Elemente in Sachbüchern erinnert, gestattet es, aufgedruckte Figuren im Kreis über eine Insel ziehen zu lassen (ebd., S. 79). Eine weitere Drehkonstruktion stellt eine Uhr dar, über die als bewegliche Zeiger die beiden Körperhälften eines Krokodils ziehen (ebd., S. 150). Eine Karte enthält einen Bausatz mit auszuschneidenden Teilen zum Basteln eines Papierdrachens (ebd., S. 139; „Pocket Kite Kit“). Einen interaktiven Zug gewinnt das Buch auch, wenn es gelegentlich am Textrand separate Felder mit Fragen und Aufforderungen an den Leser enthält, so etwa die, einen kurzen eigenen Text über eigene Erfahrungen zu schreiben (ebd., S. 115). Auch erhält man (zumindest scheinbar) Gelegenheit, den Fortgang des Romans zu beeinflussen: Unter einer Grafik etwa in der Mitte des Buchs, die vier Buchumschläge mit verschiedenen Titeln zeigt („The Pirates Cake“, „The Mischief of the Fairies“, „The Never Bird’s nest“, „Peter & the Lions“; ebd., S. 119), steht die Frage „Which of these adventures shall we chose?“, die zumindest Spekulationen über differente potenzielle Fortsetzungen auslöst, wenn der Roman dann auch unabhängig von konkreten Leserinterventionen von selbst weitergeht – und zwar mit dem Kapitel „The Mermaids’ Lagoon“. Diesem ist ein weiteres abgebildetes Buch mit  















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entsprechendem Titel vorangestellt (ebd., S. 120), so als sei nun aus einer kleinen Bibliothek verfügbarer Bücher eines ausgewählt worden. Insgesamt trifft man auf diverse Variationen über das (implizit selbstreferenzielle) Modell des Buchs im Buch; das Kapitel „Wendy’s Story“ wird durch eine Seite mit der Abbildung eines entsprechend betitelten Buchs eingeleitet (ebd., S. 158), wodurch die Differenz zwischen gelesenem Buch und abgebildeten Buch einmal mehr eingeebnet erscheint. Neben dem Buch ist die Karte, Metonymie des Eintritts in fremde Regionen, ein Kernmotiv und zugleich wichtiges Strukturelement der Bücher. Mehrere Kapitel nehmen ihren Ausgang von Karten; eingefaltete Karten im Buch bilden Schwellen in die imaginären Szenarien. Analoges gilt für andere Druckerzeugnisse, die sich dokumentarisch geben wie etwa ein Zeitungsausschnitt, der von seltsamen Lichterscheinungen berichtet (ebd., S. 231), eine Karte mit Hand-Umrissen, die den Zusammenhang zwischen Händeklatschen und Feenflug illustriert und andere Schwellenobjekte. Der Übergang zwischen physischer Realität und imaginärer Welt wird vor allem durch die Erhebung flächiger Darstellungen in die dritte Dimension modelliert und inszeniert. Das Bildprogramm von The Jungle Book setzt vor allem auf die Exotik Indiens und die Tierwelt des Romans, verknüpft mit ständigen Reminiszenzen an indische Ornamente und Bildkompositionen. Auf grafisch hervorgehobenen Partien werden Lieder und Erzählungen aus der Romanwelt als Einlagen in den Roman arrangiert (vgl. Kipling 2016, u. a. S. 42f.). Wiederum erheben sich diverse ausfaltbare Teile bei entsprechendem Gebrauch aus dem Band heraus (so etwa ein Affe, der entfaltet zu einer Affengruppe samt Mowgli wird, ebd., S. 57, oder ein Tempel im Dschungel, ebd., S. 167). Eine Drehscheiben-Konstruktion macht die sich ringelnde Schlange Kaa und ihre hypnotische Wirkung sinnfällig (ebd., S. 81), eine andere den Tanz einer Elefantenherde, ebd., S. 206). Mittels einer Laschenzug-Konstruktion werden auf einer Oberfläche Tierspuren sichtbar (ebd., S. 111). Als mehrfach variiertes Buchelement tauchen wiederum Karten auf (ebd., S. 142).  

















   

Buch-Poetik. Ein konkretes Buch im Buch bildet ein früh eingeheftetes „Travel Journal“ in der Optik eines Notizhefts mit handschriftlichen Einträgen und Zeichnungen, das „The Laws of the Jungle“ erläutert (ebd., S. 17). Variiert findet sich das Buch-imBuch-Motiv auch in der ganzseitigen Abbildung eines Bücherregals mit lesbaren Titeln, welche auf die möglichen Bücher hinweisen, die man der Bildlegende zufolge mit dem Romanstoff hätte füllen können („…it would fill so many books“). Durch Inszenierung der Texte mit druckgrafischen und papiergestalterischen Titeln präsentiert sich in diesen Büchern für Auge, Hand und Phantasie das Buch als ein Raum, in dem imaginäre Welten ihre Spuren hinterlassen, ja als Behälter von Objekten, in denen diese Welten partiell greifbar werden. Auf verschiedene Weisen verweist das Buch auf sich selbst, auf historische Ausprägungsformen der Buchkultur, auf andere, vergleichbare Medien (Karten, Druckwerke, Dokumente) und auf seine multiplen Funktionen als Raum der Bilder, der Lieder, der Geschichten, der praktischen Informationen. Die Bände treten durch ihre diversen Spezialeffekte gleichsam in eine Kon 

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kurrenz zu den diversen anderen Medien (Film, Fernsehen, Videospiele) ein, die sich der bekannten Stoffe Barries und Kiplings seit der Entstehung ihrer Texte angenommen haben. Ihr nostalgischer Zug erscheint als Bekräftigung der Unersetzbarkeit des Buchs in seiner besonderen Medialität, die viele Spezialeffekte ermöglicht und dabei vor allem auf eine durch Sinneseindrücke katalysierte produktive Vorstellungskraft der Leser setzt. MSE

E 1.50 Mark Z. Danielewski: The Familiar, Bd. 1–5 (2015–2017). Vol. 1: One Rainy Day in May (Mai 2015), Vol. 2: Into the Forest (Oktober 2015), Vol. 3: Honeysuckle & Pain (Juni 2016), Vol. 4: Hades (Februar 2017), Vol. 5: Redwood (Oktober 2017)  







Danielewskis Romanprojekt ist auf insgesamt 27 Bände angelegt; die ersten fünf bilden dabei die Abteilung „Season I“. Die Bände sind umfangreich und schwer. Danielewski hat sich bei Plotgestaltung und Arrangement nach eigenem Bekunden am Format der TV-Familienserie orientiert; die geplanten 27 Bände sollen eine entsprechende Serie ergeben. Danielewskis Buchserie entsteht unter Mitarbeit verschiedener Spezialisten (Layoutern, Grafikern, Übersetzer etc.), die zu seinem „Atelier Z“ gehören. Die bisher vorliegenden Familiar-Bände folgen kontinuierlichen Prinzipien der Bandgestaltung. Der Text repräsentiert die Perspektiven, Erfahrungen und Stimmen unterschiedlicher Personen, die kapitelweise abwechselnd auftreten und denen zwecks Charakteristik sowie zur besseren Unterscheidung für den Leser unterschiedliche Schriftfonts zugeordnet sind. Im Frühjahr kündigte Danielewski öffentlich (via Facebook) an, die Serie müsse fürs erste ausgesetzt werden, da Verkaufszahlen und entsprechende Verlagseinnahmen die aufwändigen Produktionskosten der Bände nicht gerechtferigt hätten; angekündigt wurde zunächst noch ein 6. Band. Komplexes Textlayout, vielfältige Codes. Wie auch in anderen Büchern Danielewskis ist das Textlayout auf den Seiten abwechslungs- und einfallsreich. Verwendet werden verschiedene Schriftformen und Größen, Form, Seitenplatzierung und Umfang der Textabschnitte variieren; Mittel der visuellen bzw. typografischen Dichtung kommen zum Einsatz. Neben einer Vielfalt an Erscheinungsformen von Schrift tauchen Beispiele unterschiedlicher Bildtypen und Bildprogramme auf. So werden Kapitel durch textlose Doppelseiten eingeleitet, auf denen sich zum Inhalt passendes collagiertes Bildmaterial findet (vgl. Danielewski 2015, S. 158–159). Eine an ein Fotoalbum erinnernde Bildseite mit reproduzierten alten Fotos leitet in die Welt armenischer Einwanderer ein (ebd., S. 396). Ein stilisiertes Smartphone repräsentiert die mit ihm assoziierten Bilderwelten, auch wenn seine Oberfläche auf ein gelöschtes Bild verweist (ebd., S. 337). Sequenzen von Smartphone-Oberflächen wirken wie Phasen eines Spielverlaufs (ebd.,  





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S. 434–435). Darauf, dass Bildersequenzen auch Geschichten erzählen können, deuten Comic-Elemente hin (ebd., S. 374, 620–621). Dass die Figuren unterschiedlichen Kulturräumen angehören, wird durch eine Mischung von Sprachen und Schriftsystemen dargestellt. Zu den von den Charakteren gesprochenen Sprachen gehören neben amerikanischem Englisch als Hauptsprache das mexikanische Spanisch, das ägyptische Arabisch, ferner u. a. Armenisch, Mandarin, Russisch, Thailändisch, Türkisch. Im ‚Abspann‘ des Buchs werden die Übersetzer aus dem Armenischen, Deutschen, Hebräischen, Chinesischen (Mandarin/Kantonesisch), Russischen und Türkischen aufgelistet (ebd., unpag.). Die Bandcovers weisen zahlenförmige Ausstanzungen auf, entsprechend der jeweiligen Bandnummer; diese eröffnen den Durchblick auf erste Beispiele für die den jeweiligen Einzelband prägenden Bildprogramme, analog zu den Eingangssequenzen von TV-Serien. Die Architektur der Bände ist homogen wie die Prinzipien der Text- und Bildgestaltung: Sie bestehen aus jeweils 880 Seiten und gliedern sich in je 30 Kapitel, fünf Akte und fünf Zwischenakte. Die Einleitung bilden an TV-Filme erinnernde „Previews“, den Abschluss entsprechend umfangreiche „Credits“. Alle Buchseiten weisen farbige obere Ecken, sogenannte „dog-ears“, auf, welche die aktuelle Handlungszeit des rahmenden Tagesablaufs angeben; jeder Band endet mit einer Sequenz, in der ein Tier eine Rolle spielt, sowie mit dem Ausblick auf den nächsten Band, also die nächste Episode.  





Multiple Akteure, Stimmen, grafische Repräsentationen. Der erste Band One Rainy Day in May (der im Zeichen der Katze steht; eine Hommage an die Katze ist neben der Handlung u. a. eine Seite mit collagierten Katzenfotos im Anhangsteil, unpag.) erzählt abschnittweise (und episodenweise wechselnd) neun Geschichten von Charakteren aus verschiedenen Kontinenten. Jeder dieser neun Handlungen ist ein eigener Schriftfont und eine eigene „dog-ear“-Farbe zugeordnet. Eine der zentralen Figuren ist die zwölfjährige Epileptikerin Xanther Ibrahim, die zusammen mit ihrem Stiefvater Anwar eine Katze findet und bei sich aufnimmt, auch wenn ihre Mutter Astair sich dagegen sträubt. Weitere Episoden kreisen um den mexikanischen Bandenchef Luther Perez in Los Angeles, den Drogenabhängigen Jingjing in Singapur und die Heilerin Tian Li, um den Computerfachmann Cas (alias The Wizard) in Marfa/Texas, um den türkisch-armenischen Detektiv Özgür Talat, den armenisch-amerikanische Taxifahrer Shnork Zildjian und den existenzialistischen Außenseiter Isandòrno in El Tajín (Mexiko). Kommentare zum Romangeschehen geben innerhalb des Romans die so genannten „Narcons“ ab: mysteriöse Wesen, die es vielleicht gibt, vielleicht auch nicht. Im Eingangsteil findet sich u. a. eine Sequenz von Seiten, die jeweils mit zwei schwarzen Rechtecken bedruckt sind, auf welchen in weißer Schrift die Stimmen unsichtbarer Wesen sichtbar werden, die auf mysteriöse Weise in die folgende Geschichte einleiten; die Seitensequenz erinnert an das Format des Film-Vorspanns und wirkt wie die Repräsentation eines auditiven Geschehens im Dunkel.  



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Vernetzung als Leitkonzept. Thematisch prägend ist für die Einzelbände wie für das Gesamtprojekt die Idee der Vernetzung und Verflechtung. Die (an Film- und FernsehFormaten orientierte) Anlage der mehrsträngigen Handlung und ihre buchgestalterische Präsentation stiften selbst zwischen den Lebensläufen von Personen verschiedenster geografischer und sprachlich-kultureller Räume Beziehungen. Dieser Idee einer ‚globalen‘ Vernetzung von Ereignissen und Lebensläufen entspricht das häufig verwendete, auch unterhalb der Coverseite bereits sichtbare Motiv der Kugel (des Globus), das sich im Band in verschiedenen Varianten wiederholt findet (vgl. etwa ebd., S. 43). Das Buch inszeniert mit narrativen und visuellen Mitteln die Synchronizität verschiedener Ereignisse; nicht nur durch einander berührende Handlungen und Zwischenglieder (wie die Katze), sondern auch durch ihre Simultanität erscheinen die neun Ereignisstränge verknüpft. Insofern ist die Zeit selbst thematisch signifikant. Visualpoetisch und narrativ wird sie auf verschiedene Weisen repräsentiert, so etwa durch kreisförmige, aus den Zahlen von 1 bis 60 gebildete Figuren (ebd., S. 242f.), die sich dann in Halbkreise und Kreisumfangsegmente auflösen (ebd., S. 244–253), oder durch kreisförmige, teils räumlich wirkende Arrangements von Drucktypen (ebd., S. 623–655). Der Einsatz von Leerformen, die einander auf Seitensequenzen folgen, erinnert dabei zudem an Strukturen des Tunnelbuchs. Auf die Zeit verweisen permanent die Zeitangaben in den „dog-ears“. Explizit sowie durch diverse gestalterische Mittel verweist das Buch immer wieder darauf, wie es gemacht ist. So finden sich die Falten inmitten vieler Doppelseiten grafisch in einer Weise markiert, die an Risse oder Sprünge erinnert. Am Bandende werden die verwendeten Schriftfonts detailliert gelistet – analog zu den abschließenden Darstellerlisten in Filmen; tatsächlich sind die Buchstaben ja auch maßgebliche Akteure. MSE  









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Abb. E 1/17: Mark Z. Danielewski: The Familiar, Vol. 4: Hades. New York 2017, S. 36f.  



E 2 Künstlerbücher E 2.1 Paul Verlaine/Pierre Bonnard: Parallèlement (1900) Paris: Vollard, 1900. Texte von Paul Verlaine. 109 Lithografien und 9 Holzschnitte von Pierre Bonnard. Druck: Text in der Imprimerie Nationale; Lithografien bei Auguste Clot; Holzschnitte von T. Beltrand. Schrift: Garamond. 142 S., ungebunden, Bl.: 29,5 x 24 cm. Aufl.: 200 nummerierte Exemplare, darunter 10 auf China-Papier mit einer Folge der Lithografien ohne Text, numm. 1–10, 20 auf China-Papier, ohne Folge, numm. 11–30, und 170 auf holländischem Vélin van Gelder, numm. 31–200. Ganzfranzband, Rosa Maroquinleder mit Lederauflagen in verschiedenen Grün-Tönen mit reicher Linienvergoldung; beide Spiegel, Vor- und Nachsatz aus braunem Leder mit Lederauflagen in Grün und Linienvergoldung; auf dem vorderen Spiegel Stempel in Gold: H. Blanchetière. Halbleder-Chemise und Schuber mit Marmorpapier. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 98.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 9/200 der Bayerischen Staatsbibliothek München.  







Bezugstext: Paul Verlaine: Parallèlement (Gedichte, 1889)

Parallèlement (1900) ist das erste vom Kunsthändler und Verleger Ambroise Vollard (1865–1939) verlegte ‚Luxusbuch‘ und gilt als das erste große Malerbuch moderner Prägung überhaupt (vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 98). Es ist Beispiel dafür, dass die Geschichte des französischen livre de peintre immer auch als Verlegergeschichte zu denken ist, die ohne die emphatische Haltung von Kunsthändlern und Verlegern wie Tériade, Daniel Henry Kahnweiler, Iliazd und Vollard kaum stattgefunden hätte (vgl. Hildebrand-Schat 2013b, S. 85). Gewöhnlich waren sie es, die die Bücher in Auftrag gaben. An der Entstehung eines Malerbuchs sind maßgeblich Verleger, Schriftsteller, Künstler sowie Experten für künstlerische Drucktechniken beteiligt – es ist als Gemeinschaftswerk zu verstehen. Darin unterscheidet es sich vom sog. ‚Künstlerbuch‘ (artists’ book)29 – zumindest da, wo ab den 1960er Jahren in Verbindung mit der konzeptionellen Kunst „Künstler das Medium Buch für die Vermittlung von künstlerischen Gedanken entdeckten und zu nutzen begannen“ und das „Medium […] mit den ihm typischen Eigenschaften zur Projektionsflache künstlerischen Ausdruckswillens, gleichzeitig aber auch in seinen spezifischen Eigenarten hinterfragten“ (Hildebrand-Schat 2015b, S. 17). Für sein Buchprojekt wählte Vollard Gedichte des unlängst verstorbenen symbolistischen Lyrikers Paul Verlaine (1844–1896) aus dessen Publikation Parallèlement (1889, 2. Aufl. 1894) aus und nahm den Maler der Nabis-Künstlergruppe Pierre Bonnard (1867–1947) unter Vertrag. Vollards bibliophile Edition gilt als „Inkunabel des modernen Malerbuchs“  







29 Zur Diffizilität der begrifflichen wie phänomenalen Differenzierung zwischen „Malerbuch“ und „Künstlerbuch“ siehe Hildebrand-Schat 2013b; Thurmann-Jajes 2002b, S. 10–15, siehe Teil A 1.4.  

https://doi.org/10.1515/9783110528299-023

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(Szeemann 1973, S. 90)30 und als „unumstrittenes chef d’œuvre, [als] ein Buch, das wohl kaum mit größerer Originalität oder Meisterhaftigkeit hinsichtlich seiner graphischen Illustration und größerer Harmonie zwischen all den Elementen, die ein Buch ausmachen, hätte entworfen werden können“ (Watts 1994, S. 107). Die in der Forschung vertretene These scheint einstimmig, dass in Parallèlement „Text und Bilder eine vollkommene Einheit bilden“ (Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 98). Anja Grebe hingegen kommt durch eine genaue Lektüre zu einem anderen Ergebnis; in ihrer Analyse Die inszenierte Seite: „Parallèlement“ und die Erfindung des Malerbuchs diskutiert sie kritisch die an das Buch herangetragenen positiven Vorurteile (Grebe 2001, S. 94–103). Das Erscheinen des Buches zur Jahrhundertwende bot Konfliktstoff; das Buch zeigte Ungewohntes, an dem man sogar Anstoß nahm. Wie Béatrice Hernad betont, war es „für die Zeit um 1900 die Freiheit und scheinbare Regellosigkeit der Komposition der Seiten sowie die ungewöhnliche Plazierung der Abbildungen[, die] ebenso skandalös wie der Text selbst“ (Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 98) wirkten. Tatsächlich verwendete Bonnard die Seiten als einen frei auszuschöpfenden Raum. Ob neben, über dem Text oder ihn unterlaufend, immer wieder wechseln die Grafiken als bewegliche Elemente den Ort bzw. scheinen diesen selbst zu bestimmen. Dies zeigt: Bonnard hat sich mit dem Medium Buch differenziert auseinandergesetzt. So kommt eine Vielzahl buchspezifischer Bildgattungen zum Einsatz: vom Frontispiz und der ganzseitigen Illustration über Vignetten und Marginalien bis hin zu dekorativen Randzeichnungen (Grebe 2001, S. 115). Bonnards Illustrationen erwecken – mit skizzierendem, verspieltem, jedoch sicherem und elegantem Strich geführt – den Eindruck von Spontaneität und Sinnlichkeit: als trieben sie ein „genußvolles Spiel“ (Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 100) mit den (musikalisch) durchkomponierten, erotischen Versen Verlaines. Der Künstler hatte sogar „darauf bestanden, daß seine Lithographien in Rosa gedruckt werden sollten, da diese Farbe am besten die Atmosphäre der Gedichte“ (ebd.) vermitteln könne. Die weiblichen Akte, die in ihrem Ausdruck zwischen jugendlich-zarter Unschuld und Laszivität changieren, ergänzen die von Verlaine entworfenen Szenen. Auch die Sprache der Gedichte wechselt zwischen sanft-verzückten und vulgären Ausdrucksweisen.31 Besonders eindrucksvolle und anziehende Bilder findet Bonnard für die les 

















30 Siehe auch Watts 1994, S. 105–135; zur Spezifik des Malerbuchs in Bezug zur Tradition des illustrierten Buchs siehe Grebe 2001, S. 94–103. 31 Die zurückhaltende, wenn auch unmissverständliche Umschreibung der sexuellen Beziehung zwischen zwei jungen Frauen im Gedicht Sur le balcon (aus les Amies) „Couple étrange qui prend pitié des autres couples,/Telles, sur le balcon, rêvaient les jeunes femmes. […] Derrière elles, au fond du retrait riche et sombre,/[…] Et plein d’odeurs, le Lit, défait, s’ouvrait dans l’ombre“ (Verlaine/Bonnard 1900, S. 10) unterscheidet sich von der derben Ansprache des weiblichen Hinterteils im Gedicht Séguidille (aus Les Filles) „Splendides, glorieuses,/Bellement furieuses/Dans leurs jeunes ébats,/Fous mon orgeuil en bas/Sous tes fesses joyeuses!“ (Ebd., S. 29)  







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bischen Begegnungen junger Frauen in der Gedichtfolge les Amies sowie für den männlich begehrenden Blick in der Gedichtfolge über Prostituierte (les Filles): Bonnard zeigt den Reiz des einzelnen nackten Körpers wie die sinnlich-verführende Zugewandtheit der Körper – doch ohne jeglichen bloßstellenden pornografischen Zug, die derben Provokationen der Gedichte werden abgemildert. Spannungsloser erscheinen die Bildarbeiten dort, wo sie vor allem als Bühnenbild und Requisite für die Verlaineschen Szenen aus dem Großstadtleben der Jahrhundertwende oder provozierende Karikaturen der bürgerlichen Gesellschaft verwendet werden: Landschafts- und Stadtansichten, Genreszenen wie auch die einzelnen Porträts, wenngleich handwerklich überzeugend, bleiben etwas blass. Insgesamt nehmen sich die Bonnardschen Illustrationen viele Freiheiten und lenken „zusammen mit der Typographie und der bibliophilen Aufmachung, vom zynisch-verbitterten Ton vieler Gedichte“ ab, widersprechen diesen oder aber schwächen deren Aussage (Grebe 2001, S. 117). Wie Anja Grebe betont, ist „auf inhaltlicher Ebene noch ein recht enger Textbezug“ (ebd.) festzustellen, „wobei der Künstler nach dem Muster der Wortillustration auswählend-fragmentarisierend, bisweilen auch frei hinzufügend verfährt“ (ebd., S. 118). Auf der Bedeutungsebene jedoch ergibt sich „ein Auseinanderfallen bis hin zu einem Gegeneinander von Bild und Text“ (ebd.). Das Buch hatte keinen Erfolg, es gab viel Kritik (dazu Grebe 2011, S. 116–118), so auch, „daß man anstelle von Holzschnitten Lithographien gewählt hatte, da diese angeblich nicht zur Typographie paßten“ (Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 100). Dabei korrespondiert die elegant-eilige Linie in Bonnards Lithografien mit der kursiv gesetzten elegant-schwungvollen Garamond-Type. Freilich „die Schrift versieht selbst die lasterhaftesten Gedichte mit einer nobilitierenden Aura“ (Grebe 2001, S. 117). Gemäß der französischen bibliophilen Tradition wurde das Buch ungebunden geliefert, dem Käufer blieb die individuelle Entscheidung über Einband und Bindung vorbehalten (vgl. Grebe 2001, S. 115). So finden sich Exemplare von Parallèlement in den unterschiedlichsten Gewändern. Im Fall des Exemplars Nr. 9, das sich im Besitz der Staatsbibliothek München befindet, hat der Einband eine kunstvolle Ausstattung erhalten (siehe oben, Angaben zum Druckvermerk). MSch  















E 2.2 Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben (1908) Wien: Wiener Werkstätte, 1908. 10 Lithografien von Oskar Kokoschka, darunter 8 farbige. Druck: Offizinen Berger und Chwala, Wien. 10 Bl., gebunden, Bl.: 24 x 28,6 cm. Einband mit hellem Naturleinenbezug, mit aufgeklebter Vignette von Kokoschka auf der Vorderseite. Auflage: von der ersten Ausgabe von 500 nicht nummer. Exemplaren wurden 275 Abzüge im Sommer 1917 durch den Kurt-Wolff-Verlag, Leipzig, in den Handel gebracht. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 110.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt ein Ex. (Nr. o. A.) der  









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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Sammlung der HAB (wahrscheinlich Exemplar der nicht nummer. 500 Ex., Signatur des Autors fehlt).32 Bezugstext: Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben (Text für das Buchprojekt)

Mit Oskar Kokoschkas (1886–1980) Die träumenden Knaben liegt ein Werk der Buchkunst der frühen Avantgarden vor, bei dem ein Autor sowohl für die Dichtung als auch für die Grafik verantwortlich zeichnet. Die bibliophile Edition ist ein frühes Beispiel für den „inneren Dialog der Künste“ (Manger 2014, S. 222)33 und Auftakt einer Reihe von Künstlerbüchern, die Kokoschka schreibt und illustriert. Mit Der weiße Tiertöter erhielt das Werk seine Fortsetzung. Nach den ersten Vorarbeiten, die in Kokoschkas Ausbildungszeit an der Wiener Kunstgewerbeschule (die nach Vorbild der britischen Arts & Crafts-Bewegung 1903 gegründet worden war) entstanden, wurden Die träumenden Knaben 1908 im Verlag der Wiener Werkstätte publiziert und im Rahmen der Wiener Kunstschau im selben Jahr ausgestellt. Die in der Darstellung über die Wiener Secession34 herausreichenden Tendenzen zur Abstraktion und den sich bereits andeutenden Expressionismus lassen stilistische Rückgriffe auf die Kunst indigener Völker, „orientalische Miniaturen und die Einfachheit alter Holzschnitte“ (zit. n. Schweiger 1983, S. 44) erkennen. Kokoschkas Verserzählung sorgte für Furore, Ausstellungsbesucher sahen sich „einem Nervenchoc ausgesetzt“ (ebd., S. 67). Fritz Waerndorfers Auftrag an den Künstler hatte ursprünglich gelautet: „ein Kinderbuch“ zu zeichnen, „es sollten farbige Lithographien sein. Aber nur im ersten Blatt hielt ich mich an die Aufgabe“, schreibt Kokoschka – „die anderen Blätter entstanden dann mit meinen Versen als freie Bilddichtung“ (Kokoschka 1971, S. 52). Noch im Schulkatalog 1907/ 1908 der Kunstgewerbeschule waren Kokoschkas Vorarbeiten als „Illustrationen für ein Märchenbuch“ verzeichnet (zit. n. Schweiger 1983, S. 28). Bedient sich Kokoschka einer märchenhaft anmutenden, metaphorisch aufgeladenen Sprache, so sind die lancierten Anspielungen jedoch recht drastisch und „nicht für Philisterkinder“ (Ludwig Hevesi, zit. n. Schweiger 1983, S. 61) geeignet, wie der Zeitgenosse Ludwig Hevesi pointiert. Das erwachende sexuelle Begehren eines heranwachsenden Sprechers und seine Begegnung mit dem „Mädchen Li“ werden in ausgestalteten Traumsequenzen zum Ausdruck gebracht.35  













32 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. 33 Zum livre de dialogue, siehe Peyré 2002, insbes. S. 30–34, und Teil E 2.8. 34 Bildnerische Reminiszenzen an das Werk von Gustav Klimt unterstreicht Kokoschka durch eine dem Buch vorangestellte Widmung. Klimt ist nicht nur Mitorganisator der Kunstschau, sondern auch selbst vertreten mit einer größeren Bildgruppe, u. a. mit dem berühmt gewordenen Der Kuß (1908). Siehe dazu: Hadermann 1985. 35 Am 04.02.1908 schreibt Waerndorfer an den Grafiker Carl Otto Czeschka, einige Verse zitierend: „Na servus, und das ist der Lehrer meiner Kinder. Aber die Bilder sind glänzend.“ Zit. n. Schweiger 1983, S. 59f.  





E 2 Künstlerbücher

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Bild-Text-Korrespondenzen. Es ist ein kleinformatiges Büchlein (24 × 28,6 cm) mit zehn Blättern, fadengeheftet, das durch sein Querformat auffällt. Jedes Blatt ist gegliedert in ein quadratisches Bildfeld und eine schmale Textrandleiste rechts, jeweils schwarz gerahmt. Der kleine Textstreifen am rechten Blattrand erscheint wie eine Legende zum großflächigen Bildfeld. Dem übermächtig wirkenden Bildfeld, das einen starken visuellen Reiz evoziert, wird ein zunächst unscheinbares Textfeld beiseite gestellt, das mit wenigen aber einfallsreichen Kunstgriffen den Leser anzieht. Ein „die Versenden überspielender Blocksatz, durchgehende Kleinschreibung und die atmungsmarkierenden Virgeln rhythmisieren den Traumfluß“, bemerkt Klaus Manger (Manger 2014, S. 228). Der Leser-Betrachter gerät durch Bild und Text in die Erzählung wie in einen Sog, eben desjenigen des Traumgeschehens. Bild- und Textfolge ergänzen sich, eine schematisierende Zuordnung (vgl. ebd.) wird jedoch vermieden. Kokoschkas Bilder dienen nicht unbedingt der Veranschaulichung des Textgehalts; sie kreieren mit textlich nicht eingeführten Figuren und Handlungen eine neuartige BildErzählung. Auffällig ist die schlichte, abstrahierte Bildsprache mit Cloisonné-Technik, die auf eine perspektivische Darstellung weitestgehend verzichtet (siehe Abb. E 2/1). Die Figuren werden durch Umrisslinien vom Hintergrund abgehoben, eine modulierende Binnenzeichnung findet sich kaum. Umso expressiver erscheinen die reinen leuchtenden Farben, die häufig auf den Bildtafeln komplementär zueinander gesetzt sind (rot/grün; gelb/blau). Die zweidimensionale Darstellungsweise lässt Personal und Landschaft wie stillstehend oder schlafend wirken; häufig finden sich tatsächlich auch Schlafende, während im Text allein das erzählende Ich von seinem Träumen berichtet. Leitmotivisch wird wiederholt: „und ich fiel nieder und/träumte“; „und ich fiel und träumte die kranke Nacht“ u. ä. ‚Das Niederfallen‘, die „kranke Nacht“ verweisen dabei auf die empfundene starke Wirkung der Traumbilder. Hier zeigt sich ein unerfülltes Begehren, das auf eine pathologische Disposition des Träumenden deutet. 1900 hatte Sigmund Freud sein bahnbrechendes Werk Die Traumdeutung vorgelegt und damit, wie er meinte, den Königsweg („Via regia“) „zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben“ gewiesen (Freud 1987, S. 613). Freud provozierte seine Zeit mit dem Verständnis vom Traum als Wunscherfüllung eines verdrängten, unbewussten, infantilen und zumeist sexuellen Wunsches. Kokoschkas Büchlein, nur acht Jahre danach erschienen, ist vor diesem gedanklichen Hintergrund zu lesen (siehe Berland 2008). Das Sprechen des erzählenden Ichs lässt phantastische Bilder und Landschaften entstehen36 und verknüpft diese mit in der Literaturgeschichte erprobten Metaphern. Verwendete Metaphern sind z. B. der fremde zauberische Garten als Sinnbild für die begehrte Frau und das Schiff bzw. die Galeere, die durch die Überfahrt eine einschneidende Lebens 







36 So heißt es z. B.: „ich warte bei einem peruanischen baum/seine vielfingrigen blätterarme greifen wie geängstigte arme und finger dünner/gelber figuren/die sich in dem sternblumigen gebüsch unmerklich wie blinde rühren“.  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

veränderung oder einen feindlichen Vorstoß anzeigt, eben in jenes fremde weibliche Gebiet. Die ersten sexuellen Erfahrungen des träumenden Ichs sind kaum die eines Zartfühlenden (es spricht von sich auch als „wärwolf“). An einigen Stellen der Verserzählung werden recht martialische Bilder des Deflorationsaktes entworfen (der Vorgang des Ejakulierens wird mit dem des Eiterns gleichgesetzt): wenn die abendglocke vertönt/schleich ich in eure gärten/[…] breche ich in euren friedlichen kraal/mein abgezäumter körper/mein mit blut und farbe erhöhter körper/kriecht in eure laubhütten/[…] kriecht in eure seelen/schwärt in euren leibern

Sehr direkt geht der Text auch dort vor, wo das biblische „Erkennen“ ein auf sich selbst bezogenes der Masturbation ist: „ein zögerndes wollen/das unbegründete schämen vor dem wachsenden/und die jünglingsschaft/das überfließen und alleinsein/ich erkannte mich und meinen körper“. Erstaunlich disparat stehen neben dem ausdrucksstarken und hoch emotionalen Text die ‚unbewegten‘ Bilder, die ‚märchenhafte‘ Landschaften, Gärten, Seestücke zeigen – allein die benannten „roten Fischlein“, die immer wieder auftauchen, sogar in geradezu beängstigender Größe, rekurrieren hier mit großer Wahrscheinlichkeit auf das beschriebene sexuelle Verlangen.37 MSch  

37 Die Verserzählung beginnt „rot fischlein/fischlein rot/stech dich mit dem dreischneidigen messer tot/[…]/daß dem stummen kreisen ein ende sei//rot fischlein/fischlein rot/[…]/in der schale sinkt ein fischlein tot“. Im Kapitel „E Die Darstellung durch Symbole im Träume“ der Traumdeutung macht Freud darauf aufmerksam, dass von Tieren, die in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwendet werden, auch im Traum mehrere diese Rolle spielen, so z. B. der Fisch (Freud 1987, S. 362); währenddessen „Dosen, Schachteln […] dem Frauenleib [entsprechen] […] und alle Arten von Gefäßen“ (ebd., S. 359) – bei Kokoschka die „schale“. Der zu Eingang des Gedichts noch Wachende sieht sich mit dem gesellschaftlich-moralischen Blick konfrontiert, obgleich er dem sexuellen Begehren stattgeben will: Der Wunsch nach dem Deflorationsakt und die Kastrationsangst stehen im Konflikt und können nur im Traum aufgelöst werden: „und ich fiel nieder und träumte“.  







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Abb. E 2/1: Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben. Wien 1908.  



E 2.3 Henri Matisse: Jazz (1947) Paris: Tériade, 1947. 20 farbige Schablonendrucke nach den Collagen und Papiers découpés von Henri Matisse. Druck der Platten au pochoir von Edmond Vairel; Umschlag und Manuskriptseiten bei Draeger Frères. 1 Bl. + 146 S. + 6 Bl.: 42,2 x 32,5 cm, Auflage: 250 Exemplare auf Vélin d’Arches, nummeriert 1 bis 250; 20 Exemplare hors commerce, nummeriert I bix XX. Alle Exemplare vom Künstler signiert. Dazu 100 Alben mit sämtlichen Tafeln des Buches. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 169.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 43/250 der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München.  









Bezugstexte: Henri Matizze: Jazz (Texte für das Buchprojekt)

Henri Matisse beginnt auf Anregung des Verlegers Tériade seine Arbeit am Künstlerbuch Jazz im Jahr 1943. Bis ins Folgejahr erstellt er die insgesamt 20 ‚papiers découpés‘, die den Bildanteil des Kodex ausmachen. Matisse nutzt zuvor mit Gouache gefärbte Papiere, die er zerschneidet und anschließend auf Leinwand in Buchformat anordnet.38 Die anfänglichen Druckergebnisse überzeugen den Künstler nicht, woraufhin sich Tériade und er darauf verständigen, die originalen ‚papiers découpés‘ mithilfe von Schablonen zu vervielfältigen. Vor allem die möglichst imitative Übertragung der Farbigkeit seiner Scherenschnitte ist für Matisse eine bedeutsame Forderung an den Druck. Da er und der Drucker Edmond Vairel für die Produktion von Jazz dieselben Gouachefarben nutzen (vgl. Suffmann 2002, S. 49), konnte Matisses Anspruch schließlich umgesetzt werden und das Buch erscheint am 30. September 1947 in Tériades Edition Verve (vgl. Buchholz 1985, S. 24). Im Jahr zuvor, Mitte 1946, verfasst Ma 





38 „Die originalen Scherenschnitte sind auf Leinwand aufgezogen und befinden sich im Musée National d’Art Moderne (Centre Pompidou) in Paris.“ (Wiethege 2000, S. 18, Anm. 13)  



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tisse die Texte für Jazz. In den Vorbemerkungen zum Künstlerbuch weist er diese als „Zwischenräume eigenständiger Art“ aus, die die Farbtafeln „so vorteilhaft wie möglich herausheb[en]“ sollen.39 Diese handgeschriebenen ‚Spatien‘ sollen laut der Intention des Künstlers primär eine dekorative Funktion übernehmen (vgl. Matisse 2000, S. 60f.). Jedoch scheinen sie in einem engen Zusammenhang mit den Abbildungen zu stehen. Bild und Text reichern sich gegenseitig erläuternd an. Vor dem Hintergrund, dass die Texte nach den Scherenschnitten entstanden sind, lässt sich ihr Verhältnis als eine Art Umkehrung der konventionellen Illustration interpretieren, in der ein Bild einen zuvor geschriebenen Text ‚erhellt‘ (vgl. Flam 1977, S. 43). Die handschriftlichen Beigaben kreisen u. a. um Implikationen von Matisses künstlerischem Schaffen – im Speziellen um den Scherenschnitt. Ebenso wie die Farbtafeln scheinen die Texte weniger einem kohärenten Zusammenhang zu folgen, vielmehr wirken sie assoziativ – ein Umstand, der auch aus der nach Fertigstellung der Bilder erfolgten Festlegung der formalen Vorgaben für das Künstlerbuch resultiert (vgl. Wiethege 2000, S. 18, Anm. 12). Bevor sich Tériade und Matisse dazu entschließen, das Künstlerbuch unter dem Titel Jazz zu veröffentlichen, firmiert es zuweilen als Cirque. Dies zeigt sich anhand der Bildthemen: Das Werk wird von Le Clown eröffnet, es folgt eine Abbildung des Cirque, auf der die Buchstaben des Titels in den Scherenschnitt integriert wurden, was diesen im Gegensatz zu den anderen Farbtafeln wie ein alternatives Cover wirken lässt. Matisses ‚papiers découpés‘ sind sowohl einseitige als auch doppelseitige Arrangements. Während die einseitigen Scherenschnitte stets rechts platziert und mit dem Text auf der linken Seite konfrontiert sind, fungieren die doppelseitigen Farbtafeln entweder als eine zusammenhängende Abbildung, die den Buchfalz zu überbrücken sucht (z. B. Le cauchemar de l’Éléphant blanc, S. 26) oder als ‚Diptychon‘. Letzteres ist bspw. bei Formes (S. 62) der Fall: Die beiden runden Formen erinnern an Torsi, ihre ähnliche Größe und Proportion animiert den Betrachter zunächst zu der Annahme, dass es sich bei dem Dargestellten um die Wiedergabe von Positiv- und Negativform eines Scherenschnitts handelt. Während der dunkelblaue ‚Torso‘ auf der rechten Seite auf dem hellgrünen Grund zu liegen scheint, wirkt sein linkes Pendant wie dessen Negativform. Bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass dieser suggerierte Zusammenhang nicht stimmen kann, da insbesondere die linke Ausbuchtung in der oberen Hälfte der Verso-Form nicht ihrem Gegenüber entspricht. Matisses Formes rufen also einen Eindruck von Ähnlichkeit hervor, präsentieren jedoch zugleich ihre Verschiedenheit. Der Betrachter begibt sich unweigerlich auf die Suche nach formalen Kongruenzen, erreicht jedoch nicht das Ziel, die eine Form in der anderen aufgehen zu lassen. Dadurch, dass die beiden ‚Torsi‘ nicht direkt auf die weiße Buchseite, sondern auf einen hellgrünen Grund gesetzt sind, der einen Abstand zum Seitenrand und zum Buchfalz aufweist, wird zum einen die Auseinandersetzung mit dem Davor und Da 



















39 Zit. nach der Übersetzung von Egbert Baqué; Original: Matisse 2000, S. 60f.  

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hinter forciert. Zum anderen wird so der Eindruck eines Satzspiegels evoziert, was den Buchstatus von Jazz pointiert. Das Medium des Buchs nutzt Matisse, um sein künstlerisches Schaffen in Bildern und Texten zu reflektieren. Die Nähe des Werks zum titelgebenden Jazz kann vor dem Hintergrund formaler und temporaler Aspekte der Scherenschnitttechnik ausgedeutet werden: Sowohl der Jazzmusik als auch Matisses ‚papiers découpés‘ ist eine spezifische unwiederholbare Originalität eigen; beide bedienen sich der ‚Improvisation‘, die auf einigen Grundregeln bzw. -formen wie z. B. Matisses ‚Korallen‘ fußt. Das ‚Buchsein‘ von Jazz, die Überführung des einmaligen Schnitts in einen auf Dauer fixierten Zustand, steht jedoch dem Ephemeren entgegen: „Im Jazz sind der Gegensatz und die zeitliche Distanz von Komposition und Ausführung im Spiel des Musikers überwunden, in ‚Jazz‘ sind der Gegensatz und die zeitliche Distanz von Skizze und Ölbild im Scherenschnitt zusammengeführt.“ (Wiethege 2000, S. 12) Innerhalb des Buchs ist der Betrachter angehalten, das Situative des jeweiligen Scherenschnitts zu reflektieren. Dadurch, dass der Rezipient im Buch die Unmittelbarkeit von Scherenschnitten und Handschrift erfährt, wird ihm umso mehr bewusst, dass der Kodex dies nachhaltig zu konservieren vermag. PH  



E 2.4 Pierre Reverdy/Pablo Picasso: Le chant des Morts (1948) Paris: Tériade, 1948. Texte von Pierre Reverdy. 125 rote Pinsellithografien von Pablo Picasso. Druck: Text und Typografie bei Draeger Frères, Paris; Lithografien bei Mourlot Frères, Paris. 117 S., lose Blätter im Papierumschlag, teilweise paginiert, Bl.: 42,5 x 32,5 cm. Aufl.: 270 nummerierte und vom Autor und Künstler signierte Exemplare, auf Arches-Bütten; nummer. 1–250, nummer. IXX H.C. (Druckvermerk vgl. Müller 2002, S. 76.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 211/250 der Sammlung der HAB. 40  









Bezugstexte: Pierre Reverdy: Le Chant des Morts (Gedichte, 1945)

Der französische Lyriker Pierre Reverdy (1889–1960) hatte die Arbeit an seinem Gedichtzyklus Le Chant des Morts 1944 aufgenommen und 1945 beendet (vgl. Kat. Ausst. 1970a, S. 188). Gedanklicher Hintergrund für die 43 Gedichte sind die Geschehnisse des 2. Weltkrieges, die Okkupation durch die deutsche Besatzungsmacht, die Deportationen in die Lager. Im September 1948 erscheinen Reverdys Gedichte in ‚Zwiesprache‘ mit lithografierten Pinselzeichnungen von Pablo Picasso (1881–1973), dem Freund des Dichters, in einer bibliophilen Edition.  



40 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial.

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Anknüpfen an die Tradition der Buchillumination. Picasso entwirft Lithografien, in denen er die inhaltlichen Aspekte der Gedichte nicht motivisch vermittelt. Er „kreiert eine graphische Kürzelschrift und schafft hiermit ein minimalistisches Vokabular, das ein Höchstmaß an Kombinatorik ermöglicht“ (Müller, Markus 2002, S. 38): eine zeichenhafte Formensprache, die sich auf Punkte und Linien reduziert, an manchen Stellen auch zu kreisförmigen und rechteckigen Farbflächen heranwächst (siehe Abb. E 2/ 2). Picassos Formelemente nehmen auf den Buchseiten viel Raum ein; sie interagieren mit den Texten und dem Weiß der ‚Leer- und Zwischenräume‘. In einem auffälligen Rot41 wurden sie neben, über und unter den Gedichten platziert, verdecken diese zuweilen sogar und bringen die darunter liegende Schrift zum Leuchten, lassen sie hervortreten. An die Geschichte der Buchillustration anknüpfend, erinnern sie an die Rubrizierungen mittelalterlicher Handschriften und stellen das Buch in die Tradition der Buchillumination. Eine Bemerkung im Druckvermerk liest sich wie ein Hinweis darauf: „Ce livre manuscrit de Pierre Reverdy enluminé de lithographies originales de Pablo Picasso“; „enluminé“ kann sowohl mit „koloriert“ als auch mit „illuminiert“ übersetzt werden. Im Unterschied zu mittelalterlichen Prachthandschriften, deren Schriftzüge durch die erfahrenen Hände der Schreiber kalligrafisch ausgeführt wurden und von Gleichmäßigkeit wie auch Fehlerlosigkeit geprägt sind, generiert Reverdys Handschrift eine Wirkung von Unmittelbarkeit und Spontaneität. Die Schriftzüge entfalten sich mit ausladender Geste, beanspruchen viel Raum um sich und sind an anderer Stelle dichtgedrängt, krakelig, unruhig, zeigen Ermüdungserscheinungen.42 Selbst Streichungen, Überschreibungen, Ausbesserungen werden gedruckt und erinnern an die Praxis der Marginalien.43 Tatsächlich verändert sich auch die ‚Materialität‘ der Wörter durch die geschriebenen Buchstabenzeichen. Der Leser kann sie als „Schrift-Bilder“ (Schneider 2016, S. 201) wahrnehmen, Picassos grafische Kürzel als „Text-Bilder“ (ebd.), wenngleich letztere nicht im gewöhnlichen Sinne zu lesen sind.44  



Konzeptuelle Verbindung zum Kubismus. Reverdys Texte und Picassos Bilder in Le Chant des Morts bringen stilistische Besonderheiten hervor, denen kunsttheoretische

41 In Verbindung mit dem in den Gedichten häufig aufgerufenen „sang“ (Blut): „L’eau perfide/Le sang mêlé à bras-le corps“ (aus dem Gedicht Ma chambre noire); „Thermomètre de sang/Dressé/Thermomètre de songes/Gelés“ (aus dem Gedicht Les hauts dégrés de la famine) wird der Eindruck erzeugt, die Lithografien seien – wenn nicht mit Blut selbst – so doch mit blutroter Farbe gedruckt. 42 Genau entgegengesetzt argumentieren erstaunlicherweise Schneider und Hattendorf und sprechen von „wortmalerisch schöne[m] Schreiben“. Hattendorf 1992, S. 128; siehe auch Schneider 2016, S. 201. 43 Siehe dazu Lars Schneiders Überlegungen zum margo, ‚Rand‘ und Leerräumen in Reverdys Dichtung und Poetik, die der Äußerung Reverdys folgt: „Importance énorme de la marge, dans ce qui est écrit, dans ce qui est vécu. Le plus vrai est là, qui ne jamais montrera.“ Reverdy 2010, S. 785; vgl. auch Schneider 2016, S. 196f. 44 Siehe dazu Isabelle Chols Studie zur „Poésie plastique“ bei Reverdy; Plastizität in Lithografien Picassos und Gedichten Reverdys: Chapitre VI Poésie et arts plastiques. Le livre de dialogue, in: Chol 2006, S. 253–254.  













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bzw. poetologische Überlegungen vorausgehen, die in konzeptueller Verbindung zum Kubismus zu verstehen sind. Reverdys und Picassos Interesse am Kubismus entzündet sich an der „Befragung der ontologischen Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit“ (Schneider 2016, S. 186). Die Wahrnehmung der gegenständlichen Realität und ihrer Verwendung im Kunstwerk sollte nicht länger nach dem Mimesis-Prinzip erfolgen, sondern durch Konstruktion und Komposition eine neue Wirklichkeit im Kunstwerk geschaffen werden, in die Elemente der realen Lebenswelt integriert werden.45 Reverdys poetische Bilder in Le Chant des Morts beeindrucken (oft als Neuschöpfungen) und erschüttern durch ihre Drastik; erzeugen aber auch ‚malerische Effekte‘, abstrahiert von der erfahrbaren Lebenswirklichkeit.46 Die akustisch-auffällige Musikalität der Verse verstärkt die Schärfe der Sprach-Bilder, wie beispielsweise im Gedicht Figure delayée dans l’eau: „Dans le silence/Trop de poids sur la gorge/Trop d’eau dans le bocal/Trop d’ombre renversée/Trop de sang sur la rampe/Il n’est jamais fini/Ce rêve de cristal.“ Die Titelbezeichnungen entstammen aus der Ausgabe ‚von letzter Hand‘, Main d’oeuvre: Poèmes, Paris 1949; in der Tériade-Ausgabe werden allein die Anfangszeilen im Inhaltsverzeichnis genannt.47 Markus Müller liest das Bezugssystem aus Gedichten und Grafiken als Partitur: „Die Rhythmik und Musikalität der Gedichte […] wird durch die Arabesken wie eine Partitur lesbar. Das parataktische Staccato der Verse wechselt hier mit Umklammerungen und Ligaturen.“ (Müller, Markus 2002, S. 38) Der Dialog zwischen der Dichtung Reverdys und der Grafik Picassos wurde von Johannes Strugalla buchkünstlerisch reflektiert: Rund 60 Jahre nach Erscheinen von Le Chant des Morts erarbeitete Strugalla unter Mitwirkung von Françoise Despalles ein Künstlerbuch mit gleichnamigem Titel (vgl. Teil E 2.45). MSch  



45 Hier akzentuiert Schneider Reverdys Bildtheorie des „l’image“, Schneider 2016, S. 181–201. Picassos Bilddenken, das von einem Anti-Illusionismus ausgeht, äußert sich zugespitzt in einem Gespräch mit dem Künstlerfotografen Brassaï: „L’art est le langage des signes. […] Ce qui est le plus abstrait est peutêtre le comble de la réalité.“ Brassaï 1998, S. 11. Siehe dazu Reverdys Artikel Sur le cubisme in seiner Zeitschrift Nord -Sud, in dem er sich ‚gegen‘ eine reproduzierende und ‚für‘ eine schaffende Kunst (un art de création) ausspricht „Nous sommes à une époque de création artistique où l’on ne raconte plus des histoires plus au moins agréablement mais où l’on crée des œuvres qui, en se détachant de la vie, y rentrent parce qu’elles ont une existence propre, en dehors de l’évocation ou de la reproduction des choses de la vie. Par là, l’Art d’aujourd’hui est un art de grande réalité. Mais il faut entendre réalité artistique et non réalisme.“ Reverdy 1917, S. 7. 46 Vgl. das Künstlerbuch: Reverdy, Pierre/Strugalla, Johannes: Le Chant des Morts. Unter Mitarbeit von Françoise Despalles. Paris/Mainz 2010/2011. 47 Als Lektürehilfe die Übersetzung von Johannes Strugalla: Verschwommene Gestalt im Wasser: „In der Stille/Zu viel Schwere im Rachen/Zu viel Wasser im Glas/Zu viel vergossener Schatten/Zu viel Blut auf der Rampe/Nie geht zu Ende/Dieser Traum aus Kristall.“ Ebd., S. 17.  







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Abb. E 2/2: Pierre Reverdy/Pablo Picasso: Le Chant des Morts. Paris 1948.  



E 2.5 Tristan Tzara/Joan Miró: Parler seul (1948/1950) Paris: Maeght, 1948/1950. Texte von Tristan Tzara. 72 Lithografien von Joan Miró. Druck: Typografie Fequet et Baudier, Paris; Lithografien Mourlot Frères, Paris. 112 S., Bl.: 38 x 28 cm. Auflage: 250 Exemplare, davon nummeriert Ex.-Nr. 1 – 20 auf vélin de Montval; 21 – 50 auf vélin d’arches; Ex.-Nr. 51–250 Normalausgabe auf malacca pur chiffon. Alle Exemplare wurden vom Autor und Künstler signiert. (Druckvermerk vgl. H. Watts, in: Haenlein 1989, S. 177.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 231/250 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  

















Bezugstexte: Tristan Tzara: Parler seul (Gedichte, 1945)

Der rumänische Schriftsteller Tristan Tzara verfasste im Jahr 1945 während eines zweimonatigen Aufenthaltes in einer psychiatrischen Klinik in Saint-Alban die insgesamt 24 Gedichte, die 1950, in sechs Abschnitte unterteilt („Étrangère“, „Égarées“, „Le Rire de l‘Eau“, „Les Paroles des Vieux et des Jeunes“, „Les Mots de Paille“ und „Parler seul“, vgl. das Inhaltsverzeichnis in Tzara/Miró 1948/1950, unpag.), in Kombination mit 72 Lithografien Joan Mirós unter dem Titel Parler seul publiziert wurden. 1948 wurden Tzaras Texte im Auftrag des Galeristen Aimé Maeght in Paris gedruckt, zwei Jahre später war die Ergänzung von Tzaras Texten um Lithografien seines Freundes Joan Miró abgeschlossen.48 Tzaras Lyrik ist zumeist assoziativ, zuweilen scheint er auf seinen Aufenthaltsort, die Klinik und die psychische Verfassung der dortigen Patienten, einzugehen.49 Dem Rezipienten von Tzaras Texten gelingt es größtenteils nicht,

48 Vor dem Erscheinen von Parler seul haben die beiden Künstler bereits zwei andere Buchkunstwerke publiziert: 1930 erscheint L’Arbre des voyageurs und 1949 L’Antitête; vgl. Cramer 1989, S. 8f. 49 So heißt es im ersten Gedicht „Étrangère“: „étrangère dans le soleil des cloches/je t’ai vue fugitive aux bras de feuilles mortes/rien qu’une fenêtre donnant sur l’air des libres barques/le feu s’est étranglé dans la tête errante.“ Übers.: „Fremde in der Sonne/der Glocken/Ich habe dich gesehen flüchtig/am Arm von toten Blättern/Nichts als ein Fenster/mit Blick auf die Luft freier/Barken/Das Feuer hat sich im/verwirrten Kopf erwürgt.“ Übersetzung von Ackermann/Hortolani 2015, S. 63.  



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die vom Verfasser erstellten Begriffsketten in einen logischen, kohärenten Zusammenhang zu überführen. Tzaras Sprache ist bildhaft und gegenständlich, indem sie Konkretes („cloches“, „feuilles mortes“, „fenêtre“) benennt, die spezifische Kombination seiner Sprachbilder erschwert jedoch die Generierung eines vermeintlichen Textsinns. Die imaginären Bilder, die sich während der Rezeption von Tzaras Text einstellen, bleiben unbestimmt und dynamisch. Lithografien zwischen Schriftzeichen und Malerei. Bewegtheit und Prozessualität zeichnen auch die Lithografien Joan Mirós aus, die, für den Künstler charakteristisch, in reduziertem Kolorit ausgestaltet wurden (dominierend ist die Farbe Schwarz in Kombination mit den Grundfarben Rot, Gelb, Blau und der Farbe Grün): Die bildlichen Beigaben erinnern an Pinselstriche und scheinen zuweilen von kalligrafischen Zeichen inspiriert zu sein (vgl. Ackermann/Hortolani 2015, S. 63; Hubert 1982, S. 229). Die Grafiken changieren zwischen Schrift, Bild und der Suggestion von Körperlichkeit. Zum einen verweist die auf einfache geometrische Formen reduzierte Gestalt der Illustrationen auf Schriftlichkeit, zum anderen evoziert die Zusammenstellung der Grafiken auf der jeweiligen Blattseite einen gegenständlichen Zug der Lithografien: Sich nach oben verjüngende breite Striche in Kombination mit einem farbigen Kreis deuten somit z. B. eine Landschaft mit Figur und Himmelskörper an. Tzaras Text und Mirós Grafiken scheinen motivisch nicht miteinander in Beziehung zu stehen. Objekte, die Tzaras Text benennt, erscheinen etwa nicht als Lithografie verbildlicht (vgl. Hubert 1988, S. 12). Mirós Lithografien loten das Verhältnis zwischen Schrift und Bild aus, sind für den Rezipienten jedoch weitestgehend nicht decodierbar; sie präsentieren sich vielmehr als Ausweise eines in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Bewusstseins für sich verunklärende Gattungsgrenzen zwischen Schrift, Grafik und Malerei; sie prononcieren ihr assoziatives Potenzial, das eine sich stets wandelnde Rezeption ermöglicht. Parler seul gibt zudem einen Hinweis auf sich abwechselnde surrealistische und dadaistische Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst. Dass Miró sich nicht primär vom Unbewussten leiten ließ,50 verdeutlichen Anklänge von Systematik innerhalb der Lithografien im Fortlauf des Werks. Ähnliche Formen nehmen zu, römische und arabische Ziffern sind erkennbar, die logisch, konsequent im Prozess des Werks an Wert zunehmen (vgl. z. B. Tzara/Miró 1948/1950, S. 73, 79). Vergleicht man die sich andeutenden Zahlenwerte mit dem Inhaltsverzeichnis von Parler seul, so zeigt sich die Identität der Kapitelzahl einer jeden Sektion und der dargestellten Zahl. Mirós Lithografien sind somit auch als Reminiszenz an tradierte buchgestalterische Traditionen zu verstehen, in denen der jeweilige Kapitelanfang zuweilen mit einer sich vom sonstigen  













50 „Miró praktizierte eben keine écriture automatique, sondern ging mit System und immer ähnlich vor. Der Text ist bei ihm erster Impulsgeber, nicht das Unbewusste.“ Rimpau 2015, S. 32 [Hervorhebungen wie im Original]. Rimpau sieht Miró eher als Dadaist denn als Surrealist.  

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Textarrangement abhebenden Gestaltung korrespondiert. Obwohl sowohl Tzaras Text als auch die Lithografien Mirós den Rezipienten zunächst mit Unvertrautem und Unverständlichem zu konfrontieren scheinen („Neither Tzara nor Miró grants the reader/ viewer the reassurance of recognition or familiarity.“ Hubert 1988, S. 289), bedingt der Rekurs auf die ‚Konvention‘ der Kapitelanfangsgestaltung ein Moment des Wohlvertrauten, das jenseits von surrealistischer Indienstnahme des Unbewussten im ironischen Spannungsverhältnis zur dynamischen Rätselhaftigkeit der übrigen Grafiken und Tzaras Text steht. PH  

E 2.6 François Rabelais/Antoni Clavé: Gargantua (1955) Paris: Les Bibliophiles de Provence, 1955. Text von François Rabelais. 61 Farblithografien und Initialen von Antoni Clavé. 250 S., ungebunden, in lithografiertem Pappumschlag mit Leinenrücken, in Schuber. Bl.: 38 x 28 cm. Aufl.: 200 Exemplare und 25 Lithografie-Suiten. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 159/200 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  







Bezugstext: François Rabelais: Gargantua (2. Bd. des Romanzyklus Pantagruel et Gargantua, 1534)

Im Jahr 1534 erscheint Gargantua, der zweite Teil von François Rabelais’ Pentalogie zu den beiden Riesen Gargantua und Pantagruel. Zwei Jahre zuvor wurde das von einem anonymen Autor verfasste Volksbuch Grandes et inestimables croincques du grant et enorme geant Gargantua publiziert. Wahrscheinlich erhielt Rabelais die Anregung zur eigenen literarischen Produktion über die Themen und den ökomischen Erfolg der Volksbuchpublikation (vgl. Roloff 1996, S. 859). Ebenfalls im Jahr 1532 veröffentlichte Rabelais die Geschichte von Gargantuas Sohn Pantagruel (vollständiger Titel: Les horribles et espoventables faictz et prouesses du tresrenomme Pantagruel Roy des Dispodes, filz du grand geant Gargantua, Composez nouvellement par maistre Alcofrybas Nasier). Im zwei Jahre später erscheinenden Gargantua schildert Rabelais die Vorgeschichte zum Pantagruel: Die Geburt, Kindheit, Jugend und Erziehung des Riesen, dessen Einsatz im Krieg gegen Picrochole sowie die Errichtung der Abtei Thélème, die entgegen konventioneller klösterlicher Direktiven von harmonischer Selbstbestimmung und Liberalität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner geprägt ist. Beide Geschichten, sowohl Pantagruel als auch Gargantua, sowie die Volkserzählung als ihr Vorläufer, verknüpfen Elemente des Ritter- und Abenteuerromans, die wiederum durch satirische Anteile persifliert werden. Die Erlebnisse und Taten der beiden Riesen initiierten eine umfangreiche bildkünstlerische Auseinandersetzung mit Rabelais’ Werk: Bereits kurz nach der erstmaligen Veröffentlichung des Pantagruel erscheinen illustrierte Ausgaben (vgl. z. B. Janot 1537 online), als einer der bekanntesten Illustratoren hat Gustave Doré Mitte des 19. Jahrhunderts die beiden Riesen in zahlreichen Grafiken dargestellt (vgl. z. B. Doré 1854 online). Gut vierhundert Jahre nach der Veröffentlichung des Gargantua ge 







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ben die Bibliophiles de Provence den Auftrag, den Roman illustriert als Künstlerbuch zu produzieren. Nach mehr als drei Jahren ist das Künstlerbuch mit Lithografien von Antoni Clavé, der Typografie von Henri Jonquières und Initialholzschnitten von Blaise Monod fertiggestellt. (Die Arbeit am Buch begann im Oktober 1951 und endete im Juni 1955. Vgl. Passeron 1977, S. 175.) In der Mitte des Jahres 1955 erscheint Gargantua auf Vélin d’Arches in einer Auflage von 200 Exemplaren. Die Publikationsgeschichte von Rabelais’ Riesen-Pentalogie zeigt, dass der chronologisch früher erschienene Pantagruel-Roman – der Abfolge der Ereignisse innerhalb der Riesengeschichten folgend – meist hinter der Gargantua-Erzählung eingeordnet wird (vgl. Roloff 1996, S. 860; so z. B. in Rabelais 2003). Die Dominanz der erzählerischen Chronologie zeigt sich auch anhand der Sujetwahl der provenzalischen Bibliophilen, die ihr in Auftrag gegebenes Künstlerbuch dem Gargantua und nicht dem zuerst erschienenen Pantagruel widmen.  









Die ‚gargantueske‘ Grafik. Als technisch vielseitig arbeitender und interessierter Künstler – er betätigte sich unter anderem in der Malerei, schuf Bühnenbilder und skulpturale Objekte – widmete sich Clavé ab 1939 verstärkt der Lithografie (vgl. Passeron 1977, S. 5). Da sich Clavés Grafiken anfänglich nur mäßig verkauften, sollten neue Vertriebswege erschlossen werden. Wahrscheinlich begann der Künstler auf den Rat eines Freundes hin, seine Lithografien in der Künstlerbuchproduktion einzusetzen und literarische Werke zu illustrieren.51 Obwohl für das Medium der Grafik im Grunde ungeeignet, bekundet Clavé seine Vorliebe für die großformatige Lithografie. Da er seinen Lebensunterhalt zeitweise notgedrungen mit der Illustration kleinformatiger Bücher verdienen musste, dient die Erstellung großformatiger Grafiken dem Künstler als befreiender, künstlerisch emanzipatorischer Ausgleich:  





Pour me libérer, j’ai attaqué des supports de grandes dimensions, pierres, zincs ou cuivres et je trouve qu’ils ne sont pas encore assez grands. Je me sentirais très à l’aise en faisant une gravure, une eau-forte, de un [sic] mètre cinquante si elle pouvait passer sous ma presse. [Um mich davon zu befreien, habe ich mich großformatigen Stein-, Zink- oder Kupferplatten zugewandt, und ich finde sie noch jetzt nicht groß genug. Ich würde mit Vergnügen eineinhalb Meter große Stiche oder Radierungen anfertigen, wenn sie in meiner Presse Platz fänden.“] (Zit. und übers. ebd., S. 7)  

Insbesondere die Vermittlung der Größe des Gargantua durch ein großes Format bietet sich an. Über das Atypische der großen Grafik wird formal das Exzeptionelle des Riesen ausgedrückt. Angesichts von Clavés lithografischen Wunschmaßen weisen die

51 „So entstanden die – nach wie vor einfarbigen – Lithographien zu Chansons du Passé du XVe au XVIIIe siècle […]; aber das Buch erschien erst 1944. Im gleichen Jahr schuf Antoni Clavé seine ersten Farblithographien für Lettres d’Espagne von Prosper Mérimée im Verlag Galatéa. Der Verleger Jean Porson, der ihn durch Grau Sala kennengelernt hatte, forderte ihn auf, Prosper Mérimées Carmen und Voltaires Candide zu illustrieren, die 1945 und 1948 erschienen. Unterdessen schuf Clavé auch die einfarbigen Lithographien für Puschkins Pique-Dame.“ Passeron 1977, S. 6.  





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Grafiken des Gargantua-Künstlerbuchs ein kleines Format auf und wurden konsequenterweise 1954 um eine Farblithografie mit deutlich größeren Maßen des Gargantua zu Pferd ergänzt.52 Auch wenn die Grafiken innerhalb des Gargantua-Buchs zunächst unauffällig in ihrer Größe wirken, betont die außerhalb des Buchkontextes erschienene Lithografie die Korrespondenz von gargantueskem Inhalt des Künstlerbuchs und den formal-ästhetischen Präferenzen Clavés. Die Übertragung des Inhaltlichen auf den formalen Ausdruck des Mediums stellt eine Konstante in der Publikationsgeschichte zu Rabelais’ Riesen dar. Bereits die frühesten Ausgaben des Gargantua fallen durch ihr ausgeprägtes Hochformat auf (vgl. Rabelais online). Auch Clavés Bearbeitung des Gargantua weist große Ausmaße auf, vor allem in der Tiefe.53 Die Größe des Riesen ist als Thema nicht nur formal evident. Auch innerhalb von Rabelais’ Erzählung betonen die sich zum Teil widersprechenden Größenangaben die riesenhaften Körpermaße. Dies scheint Clavé in einer seiner Illustrationen zum 17. Kapitel zu thematisieren: Analog zum Geschehen innerhalb des Textabschnitts zeigt die Abbildung Gargantua in der rechten Bildhälfte frontal dem Betrachter zugewandt mit den Glocken von Notre-Dame in den Händen. Links ist die glockenlose Kathedrale zu sehen. Die Konfrontation der Figur des Riesen rechts mit dem Kirchengebäude links induziert ein Vergleichsmoment: Gargantua und Notre-Dame wirken zunächst gleich groß, das Kirchendach und das Haupt des Riesen schließen die Abbildung am oberen Rand auf nahezu gleicher Höhe ab. Der zunächst flächig wirkende Bereich ‚unterhalb‘ des Kirchenportals deutet den Platz vor der Kathedrale an und stellt somit räumliche Tiefe dar, die die Kirche im Hintergrund, den Riesen im Vordergrund verortet und die Größenverhältnisse zwischen Riese und Gotteshaus verunklärt. Ebenso wie der Leser von Rabelais’ Erzählung kann sich der Betrachter von Clavés Lithografie keine exakte Vorstellung von den Dimensionen des Riesen machen, die sowohl im Text als auch im Bild durch die Relation zu Gebäuden verdeutlicht werden soll. Während im Text die widerstreitenden Größenangaben Information andeuten und zugleich vorenthalten, geschieht dies innerhalb der Grafik mit den der Abbildung genuinen Mitteln der Perspektive, die die dargestellten Dinge vermeintlich zum Riesen in Beziehung setzen und zugleich der Uneindeutigkeit preisgeben.  

Clavés ‚malerische‘ Lithografie und die mittelalterliche Buchmalerei. Ein Charakteristikum von Clavés Grafiken ist ihre direkte Erstellung auf dem Lithografiestein, wobei die Drucke hinsichtlich ihres Ausdrucks und ihrer Komposition eine Nähe zur Malerei aufweisen (vgl. Passeron 1977, S. 6, 8). Die einzelnen Farben des Drucks wirken teilweise durchmischt, die Ausgestaltung von Figur und Ornament scheint den Duktus eines zum Malen genutzten Pinsels aufzuweisen. Clavés Grafiken zeigen zu 

52 Farblithografie des Gargantua auf seinem Pferd, 1954, 72,5 x 54 cm auf Papier im Format: 81 x 63 cm, vom Künstler herausgegeben (Passeron 1977, Nr. 39). 53 „Das Format der Mappe entspricht der Größe des Riesen.“ Ehret-Pohl 2003a, S. 82.  















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meist Gegenständliches, das ins Ornamentale abstrahiert wird: Figuren und Objekte sind ganz oder teilweise erkennbar, zuweilen erscheinen sie wie durch einzelne Teile zusammengesetzt. Die Fragmentierung des Dargestellten vermittelt einen ornamentalen Eindruck: Rundliche oder eckige Formen, die der Konstitution der Figurationen dienen, lösen sich in schmückende Elemente auf. Die Darstellungen oszillieren zwischen plastisch wirkender Figurenausgestaltung und flächig wiedergegebener Umgebung. Dass der Künstler seine Grafiken mit einem malerischen Ausdruck versieht, kann als Strategie des visuellen Anschlusses an Bildkonventionen der Buchmalerei interpretiert werden. Obwohl Clavés Lithografien maschinell unterstützt vervielfältigt werden, weisen die Grafiken einen deutlichen manuellen Ausdruck auf. Sie evozieren somit eine Rückbindung an buchgestalterische Verfahren vor der Erfindung des Buchdrucks, insbesondere an die mittelalterliche Buchmalerei. Auch Clavés Motive – beispielsweise die Darstellung und Ausgestaltung von architektonischen Abbreviaturen, in und vor denen die Figuren wiedergegeben sind – erinnern an Erzeugnisse mittelalterlicher Buchgestaltung: Die Konvention der Darstellung von proportional zu großen Figuren in simplifiziert wiedergegebenen Architekturen wird von Clavé für die Gestaltung des Gargantua übernommen, die Bildkomposition suggeriert somit zum einen eine Bezugnahme auf mittelalterliche Bildformeln. Zum anderen verdeutlicht sie ganz konkret anhand der im Vergleich zu Gargantua kleindimensionierten Architektur dessen Riesenhaftigkeit. Ein weiteres prägnantes Beispiel für die Anschlussfähigkeit von Clavés Bildmotiven an Erzeugnisse mittelalterlicher Buchmalerei findet sich in einer Lithografie zum 23. Kapitel, die Gargantua in einer Schreibstube zeigt. Die Darstellung erinnert an den im Kodex des Mittelalters gängigen Topos der schreibenden Verfasserfigur. Auch Gargantua sitzt an einem Pult innerhalb eines durch Brauntöne angedeuteten Innenraumes, der sich als solcher durch den ein Gewölbe implizierenden halbrunden oberen Bildabschluss andeutet und von zwei Säulen eingerahmt wird. Oftmals wird innerhalb des mittelalterlichen Kodex mittels der Darstellung einer schreibenden Figur der Autor im Prozess des Verfassens des vorliegenden Schriftstücks präsentiert. Das Bild lenkt die Aufmerksamkeit somit auf den Verfasser und die Entstehung des jeweiligen Textes. Die Darstellung des Autors diente dabei weniger der Identifizierung eines Individuums als vielmehr der Inszenierung des Verfassers als Schreibenden – es handelt sich primär um ein Porträt seines Berufs bzw. der schreibenden Tätigkeit an sich.54 Wie dem Text zu entnehmen ist, übt sich Gargantua im Schönschreiben (vgl. Rabelais 2003, Kap. XXIII, S. 98). Mit Mühe versucht er, die Buchstaben graziös auf das Blatt Papier zu setzen, wobei die Grafik Gargantuas Bestreben einen mangelhaften Erfolg bescheinigt. Obwohl die weit aufgerissenen Augen und der gespitzte Mund höchste Konzentration und Sorgfalt andeuten, sind auf dem Schreibpapier neben drei  











54 Vgl. zu den „[…] in Miniaturen fixierten imagines, mit denen die Erzeugung von Texten assoziiert wird“ Wenzel 1998, S. 5–12.  

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Buchstaben vor allem Tintenkleckse erkennbar (vgl. Clavé 1955, Kap. XXIII, unpag.). Wie dem Text zu entnehmen ist, zeigt Clavés Grafik den Riesen an einem bedeutenden Wendepunkt in seinem noch jungen Leben: Der misslungenen Erziehung seiner vormaligen Lehrer Holoferne und Bridé entkommen, befindet sich Gargantua nun in der erzieherischen Obhut des Ponocrates, der den Intellekt des Riesen in geeigneter Weise formen wird.  

Bücherfrust und Bücherlust des Riesen Gargantua. Bevor Gargantua unter Ponocrates’ Anleitung mit leichter Feder und Tinte in einem Buch schreibt, lernt er das langwierige Memorieren und Abschreiben von Büchern durch seinen Lehrer Holoferne mittels eines großen, schweren, unhandlichen Schreibwerkzeugs (vgl. Rabelais 2003, Kap. XIV, S. 75). Nicht nur die Produktion von Schrift, auch deren Rezeption wird in den ersten Kapiteln von Rabelais’ Werk als Mühsal dargestellt: Ein Vorteil des Kodex, transportabel zu sein und seine Inhalte somit ortsunabhängig vermitteln zu können, gilt nicht für die Bücher, mit denen sich Gargantua auseinandersetzen muss. Obwohl der Riese über übermenschliche Kräfte verfügt, muss ihm sein schweres Brevier beim täglichen Besuch der Messe hinterhergetragen werden (vgl. ebd., Kap. XXI, S. 90). Vermittelt über unhandliche Produktionstechniken und Formate werden Bücher und ihre Inhalte im Gargantua zunächst als schwere Last dargestellt, der Umgang mit Büchern gestaltet sich als unpraktisch.55 Wie Bettina Rommel gezeigt hat, kontrastiert Rabelais in seinen Ausführungen zur intellektuellen Erziehung des Gargantua ein als überkommen ausgewiesenes Modell der Wissensaneignung einem als zeitgemäß empfundenen humanistischen Lehrkonzept. Auf mittelalterliche Praktiken des Erlernens mittels der unreflektierten Reproduktion von Buchwissen rekurrieren Gargantuas Lehrer Holoferne und Bridé. Das stupide Memorieren und Kopieren von Wissen führt in Anknüpfung an die mittelalterliche Technik der Buchvervielfältigung des Abschreibens zwar zu mehr und mehr Büchern, auf den Intellekt des Lesers Gargantua hat dies jedoch eher nachteilige Auswirkungen: Wie der in Rabelais’ Sinne ‚bessere‘, weil humanistisch geprägte und schließlich den Riesen erfolgreich ausbildende Lehrer Ponocrates feststellen muss, machte die bisherige Auseinandersetzung mit Büchern Gargantua „tant fat/niays/& ignorant“ (Rabelais 1823, Kap. XXI, S. 72). Erst der Anschluss von aus Büchern übernommenem Wissen an die Lebenswelt Gargantuas bedingt dessen fruchtbare schriftkulturelle Ausbildung (vgl. Rommel 1997, bes. S. 108f.). Bedeutsam ist hier die praktische Auseinandersetzung mit Buchinhalten, die sich mittels der erfolgreichen Transferleistung vollzieht. Ponocrates erzieht seinen Schützling zur kreativen Auseinandersetzung mit Buchwissen, indem er ihn lateinische Epigramme erstellen lässt, die anschließend in französische Rundgesänge und Balladen zu übersetzen sind. Zusammen mit seinem Lehrer  













55 „Das Medium der Gelehrsamkeit, die sich Gargantua anzueignen sucht, ist ebenso unhandlich, wie es den Zugang zur Schriftkultur praktisch erschwert und verdeckt.“ Rommel 1997, S. 98.  

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stellt Gargantua zudem polytechnische Experimente an und erprobt somit praktisch, was Bücher ihm theoretisch vermitteln (vgl. Rabelais 2003, Kap. XXIV, S. 104). Dem im Gargantua thematisierten ganzheitlichen Bildungsansatz ist der kreative Umgang mit Buchinhalten impliziert, der die Erzählung insbesondere zur Bearbeitung innerhalb des Künstlerbuchs prädestiniert: Auch das Medium des Künstlerbuchs kontextualisiert Buchinhalte neu, ‚übersetzt‘ sie und deutet sie dabei meist bildlich aus, wie Clavé es innerhalb seiner Lithografien realisiert hat. PH  



E 2.7 Hesiod/Georges Braque: Théogonie (1955) Paris: Maeght, 1955. Text von Hesiod. 20 Radierungen von Georges Braque, darunter 17 ganzseitige. Druck: Text bei Fequet et Baudier, Paris; Radierungen im Atelier Visat, Paris. Schrift: Capitale Europe. 3 Bl.+ 78 S. + 3 Bl.: 44 x 33 cm, teilweise pag. Auflage: 150 vom Künstler signierte Ex. auf Auvergne-Papier. Im Umschlag mit von Braque gefirnißter Farbradierung. Schwarzer Klappdeckel und schwarzer mit Collagen versehener Schuber. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 182.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 124/150 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  











Bezugstext: Hesiod: Θεογονία (Theogonie, ca. 700 v. Chr.)  

Als Ambroise Vollard Anfang der 1930er Jahre Georges Braque den Vorschlag unterbreitete, ein Künstlerbuch anzufertigen, entschied sich Braque sogleich für die Bearbeitung von Hesiods Θεογονία (vgl. Müller 2007, S. 94), die ungefähr 700 v. Chr. entstanden ist. Im Jahr 1932 fertigte Braque 16 Radierungen zur Théogonie, die bis 1939 – dem Sterbejahr Vollards – in der sogenannten Suite Vollard zusammengestellt und bei Galanis in Paris gedruckt wurden. Der Tod des Verlegers und Kunsthändlers unterbrach die weitere Künstlerbuchproduktion, bis sich Aimé Maeght Anfang der 1950er Jahre des Projekts annahm. Im Jahr 1953 ergänzte Braque ein paar Radierungen, unter anderem für den Buchdeckel, und das Frontispiz und zwei Jahre später war der Druck von 150 Buchexemplaren, bestehend aus handgeschöpftem Auvergne-Bütten, beendet. Das Künstlerbuch umfasst 16 lose Bögen und gibt Hesiods Text von der Entstehung der Welt und der Götter in griechischer Majuskelschrift wieder. In der Θεογονία ist der Genese von Universum und Gottheiten die Weihung des Dichters Hesiod durch die Musen innerhalb des Proömiums vorangestellt. Anschließend wird die Entstehung von sechs ursprünglichen Gottheiten und deren Vermehrung wiedergegeben, die in ein verzweigtes Geflecht von Figuren mündet. Braques Grafiken stellen die Figuren aus der Θεογονία dar und sind dem Text gegenübergestellt. Bis auf eine Darstellung des Hesiod, der von einer Muse einen Lorbeerzweig empfängt (vgl. Hesiod 2012, S. 9, Z. 30f.), geben die Grafiken das Textgeschehen nicht direkt wieder. Konturen und Körperteile der Gottheiten und deren Umgebung werden von filigranen, Dynamik evozierenden Linien angedeutet. Kreuz- und Parallelschraffuren ergeben im Wechsel mit nicht schraffierten Bereichen einen Hell-Dunkel-Kontrast, der die Grafiken rhythmi 











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siert. Die Ausdeutung der grafischen Elemente ermöglicht dem Betrachter von Braques Radierungen das Erkennen der jeweiligen Figuren und weiterer Staffage wie Tieren oder Pflanzen. Mitunter kippt die Darstellung jedoch auch soweit ins Unbestimmte, dass die Ausdeutung der von den Linien angedeuteten Formen vage bleibt. Die Polyvalenz der Linie. In Braques Théogonie werden Text und Bild voneinander getrennt auf unterschiedlichen Seiten platziert. Einem Textblock auf der linken Seite ist eine Illustration auf dem rechten Pendant gegenübergestellt. Die Maße des Textkörpers wie der Abbildung sind nahezu identisch. Die ähnliche Anlage von Text und Bild evoziert einerseits einen Eindruck von Ebenbürtigkeit und Egalität der beiden Medien. Andererseits animiert die Konfrontation von Illustration und Text zur Reflexion der Abhängigkeiten und Abgrenzungen von Schrift und Bild. Die leichte Einprägung der Bilder in die Seiten ist dem Druckprozess von Braques Radierungen geschuldet und stellt zugleich das Bild als solches geradezu aus, indem es dieses in einer Art Rahmen einfasst. Die Linie als dominantes Element in Braques Illustrationen korrespondiert der schmalen, serifenlosen Versalschrift des Textes. Die in den Bildern dargestellten mythologischen Figuren wurden teilweise von Braque beschriftet. Die Schriftzeichen wirken in ihrer formalen Konstitution und Anordnung wie ein Bindeglied zwischen der ebenfalls schmalen, aber statisch wirkenden Schrift des Textes und den dynamisierten Linien der Illustrationen. Analog zum bewegt wirkenden Liniengefüge in Braques Grafiken verlaufen die Buchstaben von oben nach unten und vice versa und bilden zusammengenommen als Bezeichnung zuweilen einen leicht gekrümmten Bogen aus. Braque interessierte sich sehr für die griechischen Antike (vgl. Mundy 1993, S. 19). Er war mit antiker griechischer Kunst aus der Sammlung des Pariser Louvre vertraut und überführte abstrakte Linienornamente und eingeritzte Figurenbezeichnungen in Studienblätter und Werke, die mit der Théogonie in Relation stehen (vgl. Bowness 2000, S. 209). Die auf antiken griechischen bzw. etruskischen Darstellungen erscheinende Linie umschließt und definiert Figurenkörper; mithilfe der Linie werden sie aus einem monochromen Hintergrund herausgelöst und zu anderen Figuren abgegrenzt. Die Linie als Reminiszenz an antike Kunst vermag in Braques Grafiken die Körperlichkeit der dargestellten Figuren zugleich zu konstituieren wie zu dekonstruieren (vgl. Müller 2007, S. 94). Als geschlossene Kontur grenzt die Linie zum einen Körper voneinander ab, zum anderen oszilliert die nicht zu einer Gestalt geschlossene Linie zwischen einer Andeutung von fester Form und bewegter Veränderlichkeit. Die Funktion der Linie wird somit erweitert: Sie ist nicht bloß Kontur, sondern verbindendes Element. Sie grenzt nicht nur ab, sondern öffnet das Dargestellte, indem stets wandelnde Beziehungen zwischen den einzelnen Bereichen der Abbildung angedeutet werden (vgl. Hofmann 1961, S. XII). Die in Hesiods Text genannten Motive der Dynamik, wie beispielsweise der Tanz der Musen (vgl. Hesiod 2012, S. 7, Z. 1–4), finden so ihren Ausdruck nicht primär über das Bildmotiv, sondern über die formale Anlage der Grafik. Das Mäandern der Linien bedingt einen Nachvollzug der im Text dargestellten Schöp 











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fung: Der Konkretisierung von Objekten aus dem anfänglichen Chaos mittels der Genese aus der Linie.56 Das Unbestimmte, Offene von Braques Linienzeichnungen überführt auch die dargestellten Figuren und Gegenstände in ihrer Unabgeschlossenheit in einen Zustand des steten Werdens. Die Grafiken erfassen einen Moment von Entstehung, von Konkretisierung, der jedoch noch nicht abgeschlossen ist. Obwohl die Darstellung fixiert ist, ermöglicht die Offenheit der Formen eine Unbeständigkeit des Abgebildeten. Von Braques mythologischen Gottesfiguren kann sich der Rezipient nur schwerlich ‚ein Bild‘ machen, die Grafiken zeigen das Dargestellte vielmehr in einem Status des ‚Unfertigseins‘, der die Vorstellung von einem Objekt zwangsläufig offenhält. Dass das Bild eines Gegenstandes bzw. einer Figur als nicht fixierbar postuliert wird, korrespondiert Ansichten Braques, die insbesondere die Möglichkeit der steten Aktualisierung der Dinge innerhalb ihrer Darstellung fordern.57 Braques Théogonie als Buch. Die Bedingtheit der Dinge durch ihre Beziehungen zu anderen Dingen ist für Braque ein Ausdruck der Poesie. Diese bezeichne etwas Allumfassendes, das alles Lebende betreffe, indem sie sich in Beziehungen äußere, die die Dinge in ihren sich stets aktualisierenden Korrespondenzen vitalisierten.58 In Braques Verständnis bezieht sich der Poesiebegriff nicht ausschließlich auf Texte, sondern auch auf bildliche Darstellungen. Die Zusammenstellung von Text und Grafiken innerhalb des Théogonie-Buchs ist von der Tendenz geprägt, mediale Unterschiede zwischen Schrift und Bild aufzuheben. Beide geben als Poesie verstanden die veränderlichen Beziehungen der Dinge zueinander wieder, auf der Metaebene ermöglichen sie die Reflexion der Korrespondenzen von Abbildung und Text, unterstützt durch die Einschließung innerhalb eines Buchkörpers. Dieses Ganze, die Théogonie, spiegelt als Kodex die Entstehung der Welt und knüpft somit an die seit dem Mittelalter virulente Metaphorisierung des Buches als Bild der Welt und ihrer Entstehung an. PH

56 „Der künstlerische Akt der Formerfindung wird zum Gleichnis des göttlichen.“ Hofmann 1961, S. XII; Hesiod 2012, S. 15, Z. 116. 57 „Wir entdeckten die Primitiven wieder, diejenigen vor der Renaissance, die schöpferischen Künste. Ihnen haben wir uns in unserem Vorgehen angenähert. Zuerst war ich mißtrauisch. Aber eines Tages verstand ich diese grundlegende Tatsache plötzlich. Es gibt nicht die Dinge an sich, es gibt nur die Zusammenhänge. […] Die Dinge existieren nur in der Gegenwart.“ Braque 1958, S. 54 f. und „Ich will nicht, daß die Vorstellung in mir das Ding ersetze.“ Ebd., S. 58. 58 „Poetry is something which applies to life as a whole: it is relationships, new relationships, which give life to all they touch.“ Braque zitiert in Bowness 1997, S. 23.  













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E 2.8 Pierre Lecuire/Étienne Hajdu: Règnes (1961) Paris: Éditions Pierre Lecuire, 1961. Text von Pierre Lecuire. 22 Prägedrucke von Etienne Hajdu, darunter 13 verschiedene, einige wurden im Buch mehrmals verwendet. Druck: Prägedrucke von Hajdu; Text bei Marthe Fequet et Pierre Baudier, Paris. Schrift: Elzévir ancien. 38 Bl., ungebunden, Bl.: 47,5 x 36 cm. Auflage: 98 Exemplare, nummeriert 1–98, und 20 Exemplare h.c., nummeriert I–XX; alle Exemplare auf Auvergne-Papier du Moulin Richard-de-Bas und vom Autor und vom Künstler signiert. Pergamentumschlag mit Prägedruck. Buchkassette mit gebrochen weißem Leinen überzogen. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 194.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 35/98 der Sammlung der HAB.59  











Bezugstext: Pierre Lecuire: Règnes (Gedicht)

Étienne Hajdu (1907–1996), im damaligen Siebenbürgen als István Hajdu geboren, war ein Bildhauer und Reliefkünstler, dessen Arbeiten v. a. durch Hans Arp und Brancusi stark geprägt wurden: Anders als diese beiden Künstler suchte er weniger nach absoluten Elementarformen, stereometrischen oder biologischen Grundformen, er kreierte mit seinen Arbeiten „kompliziertere Formgewächse, die sich näher bei der menschlichen Gestalt, bei Vögeln und entwickelteren Pflanzen aufhalten“ (Werner Schmalenbach, in: Kat. Ausst. 1961, S. 4). Der französische Schriftsteller und Verleger Pierre Lecuire (1922– 2013) trat vor allem mit seinen vielzähligen Gemeinschaftsprojekten mit bildenden Künstlern hervor. Buchprojekte fanden bspw. mit Nicolas de Staël, Geneviève Asse, Pierre Tal Coat oder Zao Wou Ki ihre Umsetzung. Hajdu und Lecuire erarbeiteten das Künstlerbuch Règnes, das sie im Dezember 1961 fertigstellten. Aufschlussreich ist es, das Buch von seinem Ende her anzuschauen. Im Druckvermerk finden sich die üblichen Hinweise zur Genese des Buches: Die Prägedrucke60 Hajdus sind in der eigenen Hauspresse entstanden; das von Pierre Lecuire geschriebene Gedicht ist bis dahin unveröffentlicht, auf den Bögen des Papier d’Auvergne handgesetzt. Doch die vorliegende Edition sei außerdem „realisée en commun“, so heißt es, ein Gemeinschaftswerk (vgl. Hertrich zu Lecuires Buch Le livre réfléchi; Hertrich 1978, S. 11–14). Yves Peyré bezeichnet es als ein livre de dialogue61 (Peyré 2002, S. 170) und spricht auf ein nicht-illustrieren 







59 Der HAB gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. 60 „Es wurde ein speziell für das Druckverfahren vorbereitetes Papier ausgewählt. […] Zuerst druckte man den Text. Dann wurden die von Hajdu gezeichneten und ausgeschnittenen Formen sehr kräftig mit der Handpresse in das nasse Papier geprägt. Nach einer längeren Trocknungszeit entstanden plastische Bilder, die auf der Vorderseite des Blattes als Vertiefungen, auf der Rückseite aber als Flachreliefs erscheinen.“ Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 194. 61 Peyré diskutiert in Peinture et poésie verschiedene Phänomene von bibliophilen Büchern. So müßig es ist, zwischen dem Amalgam bibliophiler Buchwerke wie livre à figures, livre d’artiste, livre de peintre oder l’album (dt. Entsprechungen: Illustriertes Buch, Künstlerbuch, Malerbuch, Album) trennscharf unterscheiden zu wollen, kristallisiert sich durch Peyrés Beobachtungen eine durchaus hilfreiche Begrifflichkeit heraus: Das livre de dialogue sei jene Form des Buchkunstwerks, in der jegliche hierarchische Beziehung zwischen den beiden Künsten vermieden werde. Es eröffne einen anderen Horizont: Die künstlerische Arbeit (ob Text oder Bild) stelle sich nicht in den Dienst der anderen, erfolge nicht zeitlich  

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des, ebenbürtiges Bezugs- bzw. Kommunikationsverhältnis von Text und Bildern an. Von Illustrationen in einem engeren Sinn kann tatsächlich nicht gesprochen werden – motivische Entsprechungen bestehen gleichwohl und werden sogar auf typografischer Ebene reflektiert. Durch das im Gedicht durchgehend präsente Licht-Motiv wird das Spannungsverhältnis zwischen Licht und Dunkelheit thematisiert und grafisch wie buchgestalterisch gespiegelt. Allgegenwärtig ist das Lichte, Helle; der Text beginnt mit dem Bild der Morgendämmerung („l’aube/est/à l’aube/sa lueur“), Licht begegnet im Gleißen eines Komets, auf der weißen Seite und erhellt auch die Schatten, sodass es am Ende des Gedichts sogar heißt, es gäbe keine Dunkelheit mehr („pas d’ombre“). Damit korrespondiert das Erscheinungsbild des Buches: Durch Hajdus Prägedrucke wirkt es geradezu durchlichtet, ohne Druckfarbe wurden diese als sogenannte „Blinddrucke“ tief in das naturweiße Papier eingedrückt. Die Verse des Gedichts sind – nach ihren Sinneinheiten getrennt – auf den Buchseiten platziert. Teilweise wurden sie sogar über die Prägedrucke gedruckt. Es entsteht ein Zusammenspiel zwischen dem Weiß der Buchseite und dem Schwarz der gedruckten Buchstaben; die Prägungen vermitteln zwischen den scharfen Kontrasten; je nach Lichteinfall kreieren sie auf den Buchseiten dunkle Konturen (siehe Abb. E 2/3). Auf inhaltlicher Ebene des Gedichts legen sich verschiedene Realitätsebenen über- und ineinander, verdichten sich. Naturräume unterschiedlichster Art werden miteinander verbunden, sie werden – makroskopisch als Küstenlandschaft oder mikroskopisch als Bauminneres – mit Artefakten wie Worten und Bildern in eine metaphorische Beziehung gesetzt. Dieses Verdichten ist ein weiteres Motiv, das sich in Grafik und Typografie wiederfindet. Im Gedicht wird es veranschaulicht durch den natürlichen Vorgang der Sedimentation: vom ‚Torf (tourbe) des Gedichts‘ ist die Rede („la sève attire la tourbe du poème et ses/myriades d’initiatives/restées secrètes“). Hajdus Prägedrucke scheinen das Bild der Sedimentation, die Schichtung unterschiedlicher natürlicher Ablagerungsteilchen zu bekräftigen. Die Bildfolge von 22 Prägungen umfasst schlichte Formelemente (zwei in die Seite eingeprägte Ovale) und komplexere Gebilde, die an pflanzliche (blumen-, samenartige Formen) oder auch an anorganische (mineralisch-kristalline) Erscheinungsformen erinnern. In poetologischer Akzentuierung befragt das Gedicht die Materialen des (eigenen) Sprechens. Die semantisch aufgeladenen Sprachsilben werden von den noch nicht deutungsbesetzten Lauten  









rückbezogen, sondern zeitlich parallel und gemeinschaftlich (vgl. Peyré 2002, S. 30–34; siehe hierzu auch Hagemann 2013). Auch Erhart Kästner sprach in seinem Vortrag Das Malerbuch unserer Zeit über die Spezifik einer bestimmten Ausprägung des Buchkunstwerks. Recht emphatisch rückt er das dialogische Miteinander zweier Künstler bzw. zweier Künste im Malerbuch (livre de peintre) in den Mittelpunkt: „Man kann so weit gehen, hierin die Seele des ganzen Genres von schönen Büchern zu sehen, ich meine das Zusammengehen von Malern und Dichtern. […] Die Dichter bringen ihre Theorien, ihre Verse herzu und die Künstler ihr Bilddenken. […] Der natürliche Gewinner solcher Künstlerfreundschaften wird immer das Buch sein, […], das aus zeitgenössischen Händen als ein zeitgenössisches Neues entsteht, Dokument einer Verbundenheit der sich ereignenden Künste.“ Kästner 1962, S. 13.  



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unterschieden: „Navigateur/courtisan de l’oreille/le poete à ses solen/nités convie les sons./Une figure de liberté,/sur les syllabes pré/cipitée, tranche l’at/tache des choses“. Wird die semantische Bindung der Sprachsilben gelöst, entstehen Klänge und Töne sowie auf Schriftebene Buchstabenbilder. Dies wird typografisch veranschaulicht. Der Zeilenumbruch erfolgt mitten im Wort, jedoch ohne dies anzuzeigen. Der gesamte Textlauf im Buch verzichtet auf Bindestriche. Dadurch sieht man die Buchstaben nicht nur als Zeichen, sondern auch als Bilder. Das Motiv der Verdichtung wird im Gedicht in einer ähnlich paradoxen Grundspannung gehalten wie jene von Licht/Dunkelheit und zum Ende des Textes aufgelöst: Da keine Dunkelheit mehr herrscht, gibt es auch keine Knoten („nœuds nuls“) – der Prägedruck Hajdus, auf den diese Phrase gedruckt wurde, konterkariert jedoch die Aussage (zeigt ein Knotengebilde, siehe Abb. E 2/3) und hält das Spannungsgefüge aufrecht. Auf den Buchseiten spiegelt sich auch eine Verdichtung typografisch in der fortschreitenden Verdunkelung des Druckbildes. Zu Beginn des Buches finden sich nur wenige Verse auf den Seiten, viel Platz wird den Bildern eingeräumt (siehe Abb. E 2/3). Zur Buch- und Textmitte hin wird der Wechsel zwischen Text und Bildern aufgehoben, sechzehn Einzelseiten sind allein durch den Text bestimmt. Die Seiten werden hier von den groß gedruckten Buchstaben eingenommen (die alte Elzévir-Type ist stark vergrößert und hat eine Buchstabenhöhe zwischen 15 und 24 mm), deren Schwarz sich plastisch vom papierweißen Hintergrund abhebt (siehe Abb. E 2/4). Die generell leuchtende Helligkeit des Buches kommt dadurch noch stärker zur Geltung.  

MSch

Abb. E 2/3: Pierre Lecuire/Etienne Hajdu: Règnes. Paris 1961.  



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Abb. E 2/4: Pierre Lecuire/Etienne Hajdu: Règnes. Paris 1961.  



E 2.9 Warja Lavater: Wilhelm Tell (1962) Basel u. a.: Basilius Presse, 1962. Text von Friedrich Schiller. Illustrationen von Warja Lavater. 1 Bl. in Leporellofaltung: 12,3 x 9,2 cm. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. der Sammlung der HAB (Ex. nicht numer., 2. Aufl., 1966, in Englisch herausgegeben von The Junior Council, The Museum of Modern Art, New York; Druck: Leonardi Offset-Reproduktionen, Zürich).  







Bezugstext: Friedrich von Schiller: Wilhelm Tell (Schauspiel, 1804)

In Warja Lavaters Leporello wird die Gründungslegende der Schweiz um die Figur Wilhelm Tell erzählt. Als Grundlage für ihr eigenes Werk wählt die Künstlerin Passagen aus der Bearbeitung Friedrich von Schillers für die Bühne. Auf elf Doppelseiten wird das einschlägige Personal ausschließlich über abstrakt-geometrische Formen und ohne Textbeigaben in Aktion dargestellt. Lavater zeigt in ihren Darstellungen Schlüsselszenen aus Schillers Tell-Adaption. Die Geschichte setzt im Leporello mit der dritten Szene aus dem dritten Akt von Schillers Stück ein: Zu sehen ist der rote Hut des Landvogts Gessler, der ohne seinen Träger auf einem Stab aufgebracht ist und vor dem sich die Bürger verneigen. Tell und sein Sohn unterlassen es, diesem ‚Stellvertreter‘ des Hauses Habsburg die Reverenz zu erweisen und werden in der Folge von den Soldaten des Landvogts – visualisiert als graue Dreiecke mit Lanzen suggerierenden Linien – bedroht. Es schließt sich die Apfelschuss-Szene an, in der Tell von Gessler genötigt wird, seinem Sohn einen Apfel mit einem Pfeil aus seiner Armbrust vom Kopf zu schießen. Nachdem Tell den Apfel getroffen hat, werden er und sein Sohn erneut vor den Landvogt gebracht. Obwohl Tell zuvor das Leben und die Freiheit versprochen worden sind, hindert die habsburgische Armee ihn daran, sich zu entfernen: Eine Phalanx aus Dreiecken sperrt die Tells von den Bürgern und der sonstigen Umgebung ab und zwingt den Jäger zur weiteren Konversation mit Gessler. Dieser fragt Tell, wofür der zweite Pfeil vorgesehen ist, den er mit sich führt. Tell offenbart dem Landvogt, dass dieser für ihn bestimmt gewesen sei, hätte er seinen Sohn und nicht den Apfel getroffen. Erneut werden Tell und sein Sohn von der Armee Gesslers be 



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drängt, ihnen gelingt jedoch die Flucht zu Wasser in einem Boot. Tell lauert seinen Verfolgern in einem Wald auf und erschießt Gessler mit dem verbliebenen Pfeil aus seiner Armbrust. Die Szenerie wechselt: auf den letzten beiden Doppelseiten des Leporellos ist Tell mit seinem Sohn und zwei weiteren ‚Figuren‘ – vermutlich Berta von Bruneck und Ulrich von Rudenz – vor der zerstörten Zwingburg umringt von jubelnden Schweizer Bürgern zu sehen.  



Figurendarstellung. Über basale Kontraste zeigt Lavater die Verschiedenheit der Figuren. Während die Figur Tell durch einen blauen Kreis repräsentiert wird, stellt ein schwarzes Rechteck den Körper und zwei rote Rechtecke Kopf und Hut seines Antagonisten, des habsburgischen Landvogts Gessler dar. Die Zeichensprache der Künstlerin vermittelt zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, indem sie in der Darstellung von Dingen und Figuren charakteristische Formen aufnimmt, dabei jedoch stets einer strengen Reduktion verpflichtet bleibt. Eine Legende zu Beginn des Leporellos weist die Bedeutung der einzelnen Zeichen aus. Im Gegensatz zu einer Vorstellung der Figuren innerhalb eines Theaterstücks präsentiert Lavaters Zusammenstellung auch Gegenstände wie beispielsweise Armbrust und Pfeil, den Apfel und das Schiff. Die Zeichen sind in ihrer Form und Farbigkeit so angelegt, dass sie leicht als das gelesen und wiedererkannt werden können, was sie darstellen sollen. Zuweilen orientieren sich die Zeichen an rudimentären Formen des Repräsentierten. Der Status des jeweiligen ‚Abbilds‘ oszilliert zwischen der Möglichkeit, das wenige, was die Form vorgibt, mit eigener Imagination anzufüllen, und der Erkenntnis, dass Lavaters Zeichen gerade durch ihre Einfachheit einer Beliebigkeit der Ausdeutung anheimfallen könnten: Dass es sich bei einem gelben Kreis, der in seiner Mitte einen roten Kreis aufnimmt in um den Apfel handeln soll, den Tell vom Kopf seines Sohnes schießt, erschließt sich nicht direkt über die Darstellung an sich. Das dunkelgraue Rechteck mit einer Art Turm auf der linken Seite kann wiederum leicht als imposante Zwingburg imaginiert werden. Ähnlich den Konstellationen in ihren anderen Folded Stories arbeitet Lavater im Wilhelm Tell mit Zeichenadditionen und einer Logik von Form und Farbigkeit, um Bedeutung zu transportieren (vgl. zu Lavaters Chaperon Rouge auch Teil C 4). So ist der kleine blaue Punkt folgerichtig der Sohn des großen blauen Punktes. Landvogt Gessler und seine Ritter weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie aus einem auf der Spitze stehenden Dreieck und einem dunkelgrauen Rechteck gebildet werden. Während Gesslers Rechteck rot ist, erscheinen die Ritter gänzlich in Grau. Sie unterscheiden sich wiederum von den Soldaten durch ihr Rechteck. Dieses kann folglich als eine Art Podest interpretiert werden, das die Figur über andere konkret ‚erhebt‘ und so hierarchische Strukturen bildlich evoziert. Die Farbigkeit bindet die Figuren zudem an die Zwingburg. Innerhalb dieser Systematik lässt sich auch die Begleitung von Wilhelm Tell und seinem Sohn auf der letzten Leporello-Doppelseite identifizieren, obwohl diese nicht eigens in der Legende erwähnt ist: Während der ebenfalls kleine blaue Punkt über das rote Dreieck als Ulrich von Rudenz charakterisiert werden kann, ist der neben ihm dargestellte hellblaue Kreis seine Verlobte, Berta von Bruneck.

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Leporelloformat. Dass Lavater für die Wiedergabe des Wilhelm Tell und ihrer weiteren Folded Stories das Leporelloformat nutzt, überführt die Legende in eine Kohärenz, die verschiedene legendarische Ursprungstexte in sich vereint. Bereits Schiller stützte sich bei seiner Tell-Adaption auf unterschiedliche Quellen, die er innerhalb seines Stücks zu einem linearen Handlungsverlauf fügte.62 Lavaters Leporelloformat drückt gegenüber der bruchstückhaften Überlieferung der Tell-Geschichte Linearität aus. So ist es möglich, die einzelnen Doppelseiten im ausgeklappten Zustand als Abfolge zu betrachten. Die einzelnen Formen werden ‚in Szene gesetzt‘. Zäsuren innerhalb der Erzählung wie beispielsweise Wechsel des Settings werden in Lavaters Werk nicht etwa expressis verbis durch Ausweisung eines eigenen Aktes oder einer eignen Szene gekennzeichnet, vielmehr sind es die Formenkonstellationen, die in der Sukzession visuell zu verstehen geben, dass sich die Umgebung geändert hat. Dass Lavaters Werk auch als ins Buch eingeklappte Seitenfolge rezipiert werden kann, lässt die Folded Story zwischen Bühnenstück und in Kodexform gedrucktem Stück oszillieren. PH

E 2.10 Thomas Bayrle/Bernhard Jäger: Kleines Welttheater (1964) Bad Homburg: Gulliver-Presse, 1964. Lithografien von Thomas Bayrle und Bernhard Jäger auf 10 S. in Leporellofaltung: 31,2 x 23 cm, Pappband mit Leinenrücken. Auflage: 25 Exemplare. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 5/25 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  







Bezugstexte: Texte von Bertolt Brecht, Heinrich von Kleist, William Shakespeare und anderen zum Welttheaterkonzept

Thomas Bayrles und Bernhard Jägers Kleines Welttheater erstreckt sich über insgesamt zehn Seiten in Leporellofaltung. Es beinhaltet Textfragmente unter anderem von Bertolt Brecht, Heinrich von Kleist und William Shakespeare. Ist die Leporellofaltung in den Bucheinband eingeklappt, lässt sich im Künstlerbuch blättern wie in einem konventionellen Kodex, die Grafiken und Texte können auf Doppelseiten rezipiert werden. Wenn das Leporello ausgefaltet ist, erstreckt es sich auf den Raum außerhalb des Einbands und offenbart als Ganzes besehen ein zusammenhängendes, sich teils überlagerndes Geflecht aus Bildern und Schrift. Das Leporello ist einseitig bedruckt,

62 „Als Quelle diente Schiller vor allem das Chronicon Helveticum (Erstdruck 1734) des Aegidius Tschudi, dessen handschriftliche Fassung im 16. Jahrhundert entstand, sowie Johannes Müllers Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft (1786/87); auch dürfte ihm das Urner Tellenspiel aus dem frühen 16. Jahrhundert bekannt gewesen sein. Dennoch sind die historischen Fakten als solche für Schiller letztlich nur von marginaler Bedeutung; sein Drama handelt erneut – wie schon sein Erstling Die Räuber – von der Problematik des Selbsthelfers, der hier allerdings nicht außerhalb der Ordnung gerät, sondern vielmehr durch sein Eingreifen Geschichte als Heilsgeschichte offenbart.“ Redaktion Kindlers Literatur Lexikon 1996a, S. 955.  









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sodass der Rezipient sowohl im eingeklappten wie im ausgefalteten Zustand sämtliche Inhalte des Künstlerbuchs einsehen kann. Die polychromen Lithografien werden von den Farben Schwarz, Rot, Gelb und Blau dominiert, die Texte wurden schwarz gedruckt und variieren in ihrer Schriftgröße und ihrer Anordnung auf den Seiten. Die einzelnen Textblöcke sind sowohl links-, rechtsbündig und zentriert angelegt und vereinzelt schräg auf das Papier gedruckt. Die Grafiken changieren zwischen Jägers großformatig angelegten Köpfen und Figuren, die ihr Innenleben zu offenbaren scheinen, und Bayrles kleineren, an Kritzeleien erinnernde Zeichnungen, die sowohl Gegenständliches andeuten als auch als abstrakte Gebilde einen expressiven, gestischen Eindruck vermitteln (vgl. Ehret-Pohl 2003b, S. 92). Erkennbar sind neben menschlichen auch tierische Figuren und Gesichter, die teilweise in Reihen untereinander angeordnet sind und so die Darbietung einer Handlungssequenz suggerieren.  

Implikationen des Welttheaters in Bayrles und Jägers Künstlerbuch. Bezüge zum Theater und im Speziellen zum Topos des Welttheaters lassen sich im Künstlerbuch sowohl auf textlicher wie auf grafischer Ebene finden:63 Zumeist handelt es sich bei ersterem um Monologe, die von Figuren aus Theaterstücken wie von historisch verbürgten Autoren vorgetragen werden und das Theater bzw. die Schauspielerei zum Thema haben. So ist eines der ersten Textfragmente des Künstlerbuchs ein Exzerpt aus Kleists dialogisch angelegtem Essay Über das Marionettentheater (erschienen 1810 in den Berliner Abendblättern). Über die ersten beiden Seiten des Künstlerbuchs erstreckt sich ebenfalls ein Zitat des Herrn Ascot aus Gottfried Benns Der Ptolemäer, in dem das Scheitern der Schauspielerei zur Überwindung der Eintönigkeit menschlicher Existenz postuliert wird.64 Die Grafiken scheinen die Bezüge zum Schauspiel wie zu den Implikationen des Welttheaters zu unterstützen. Jägers Köpfe und monumental wirkende Figuren erscheinen in ihrer Durchsichtigkeit fragmentiert: sie setzen sich aus allerlei – jedoch nicht aus menschlichen Organen – zusammen. Ihre Anatomie lehnt sich formal an Lage und Verlauf humaner Knochen und Muskulatur an. Bei genauer Betrachtung der Figuren überwiegt jedoch der Eindruck der Klitterung eines menschlich anmuten 



63 Das Welttheater verweist metaphorisch auf die Scheinhaftigkeit der Welt. Die lateinische Bezeichnung Theatrum mundi entspreche „der Weltanschauung, in der das ganze Welttreiben ein vorüberziehendes Schauspiel ist und infolgedessen jedes menschliche Wesen seine ihm vom Schicksal (in der Antike) oder vom Gott (im christl. Theater) auferlegte Rolle zu spielen hat, bis der Tod sie ihm abnimmt.“ Hass 2001, S. 1127. Der Begriff des Theatrum mundi bezieht sich zudem auf eine Form des Puppentheaters im 19. Jahrhundert, das in Gänze von mechanisch bewegbaren Figuren bestritten wird und sowohl aktuelle wie historische Ereignisse zeigt. Vgl. Till 1986, S. 175. 64 „Der Schauspieler verleiht sich zwar durch angeklebte Bärte noch die Gunst, seine existenzielle Monotonie in sogenannte Figuren zu überlagern, dann hebt er den rechten Arm und dann den linken, das gibt sich als Ausdruck, fuchtelt er mit beiden Extremitäten, so ist das schon Schrei und kreatürliches Schwinden, aber es ist Leichenfleddern und Angeberei.“ Benn 1949, S. 116; Bayrle/Jäger 1964, unpag. [S. 1f].  









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den Körpers aus heterogenem Material. Vor dem Hintergrund der Texte, insbesondere der Ausführungen von Kleists C. erscheinen Jägers Figuren zuweilen als Marionetten, die unbeeinflusst von der Schwerkraft auf der Leporelloseite schweben (vgl. Bayrle/ Jäger 1964, unpag. [S. 4]). Eine sich anhand von Fäden an ihrer rechten Hand als Marionettenspieler ausweisende Figur zeigt dieselbe körperliche Konstitution wie die scheinbar im Raum gleitenden Puppen. Obwohl der Puppenspieler seinen rechten Fuß in die Luft erhoben hat, evoziert der feste Stand des linken Pendants eine Bodenhaftung, die die Figur im Zusammenhang mit dem Zitat aus Über das Marionettentheater als menschlichen Tänzer ausweist. Die Analogie der Darstellung von artifizieller Puppe und Mensch suggeriert ihre Gleichartigkeit. Der tänzelnde Puppenspieler scheint zwar die Fäden der Marionetten in der Hand zu halten und ihre Handlung zu bestimmen, innerlich gleicht er jedoch den Puppen, deren Taten er steuert. In Jägers Grafik und der Einbettung von Kleists Textfragment drückt sich somit bildlich wie textlich die Fremdbestimmtheit des Menschen innerhalb des Welttheaters aus. Die Fäden des Marionettenspielers sind mit Bayrles Strichzeichnungen verbunden, die teilweise menschliche Konturen anzudeuten scheinen. Im Zusammenhang mit einem schwarz umrandeten Viereck, das als einsehbarer ‚Kasten‘ (an dessen unterem Rand Figuren zu erahnen sind) als abstrahierter Theaterraum interpretiert werden kann, wirken Bayrles Zeichnungen wie Andeutungen von Schauspiel bzw. Handlung auf einer Bühne. Dass im Verlauf der zehn Leporelloseiten von Bayrles und Jägers Künstlerbuch ein eigenes Theaterstück ‚aufgeführt‘ wird, legt die Auswahl und Positionierung der Textfragmente nahe: So setzt das Werk mit dem Zitat der Figur des alten Herzogs aus Shakespeares Komödie As You Like It ein (verfasst wahrscheinlich 1599, 1623 erstmals publiziert): „Pfui!/schäme dich!/Ich kann schon/denken, was/du thun wirst.“ (Bayrle/Jäger 1964, unpag. [S. 1]) Zum einen verweist die Form des Futurs auf das Kommende; sie bildet die Eröffnungsformel, die das Künstlerbuch als ein eigenes Theaterstück eröffnet. Zum anderen richtet der Herzog diese Worte an Jaques, der wenig später in derselben Szene die berühmten Worte „All the world’s a stage…“ sprechen und somit das menschliche Leben als Schauspiel in unterschiedlichen Rollen deuten wird (vgl. Shakespeare 1876, II, 7, S. 32f.). Kurz nach der Mitte des aufgeklappten Leporellos wird das Schauspiel analog zum Bühnenprogramm durch die Wörter „Pause… Vorhang“ unterbrochen (vgl. Bayrle/Jäger 1964, unpag. [S. 6f.]). Auch der Epilog aus As You Like It wurde in Bayrles und Jägers Kleines Welttheater überführt, er schließt dieses gleichsam ab. Dass die Künstler Shakespeares Werk als eine Art Klammer um die weiteren Inhalte des Künstlerbuchs legen, betont die Medienreflexivität des Buchs. Auch das Ludische befolgt gemeinhin die Handlungsoptionen beschränkenden Regeln, weist aber die Besonderheit auf, dass Konventionen im Spiel durchaus gebrochen werden dürfen, was den Reiz des Spiels ausmacht.65 Die  







65 „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet

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Ausweisung der klassischen Implikationen des Welttheaters als Verweis auf die Nichtigkeit und Fremdbestimmtheit menschlicher Existenz in Kombination mit dem Motiv des Spiels ergänzt die Ausweglosigkeit des Welttheaterbegriffs und dehnt ihn aus auf eine Art Experimentierraum, der es seinen Protagonisten erlaubt, im Spiel, das gleichsam ihre Existenz darstellt, ihre durch Rollen auferlegten Zwänge zu überwinden. Theater und Welt – ‚inszeniert‘ im Künstlerbuch. Das Leporello unterstützt den Eindruck einer ‚Inszenierung‘ der innerhalb des Künstlerbuchs dargebotenen Texte und Grafiken. Es evoziert sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität (vgl. Teil D, Art. „Leporello“), der Rezipient von Bayrles und Jägers Kleinem Welttheater kann das Dargestellte zum einen innerhalb des Kodex, in Doppelseiten fragmentiert aufnehmen. Zum anderen ermöglicht die Ausfaltung des Leporellos aus dem Buchraum hinaus eine übergreifende, allumfassende Wahrnehmung der Künstlerbuchinhalte. Im Gegensatz zur fragmentierten Inhaltsdarstellung der einzelnen Buchseiten vermittelt das ausgefaltete Leporello den Eindruck eines zusammenhängenden zeitlichen Verlaufs: Das ausgeklappte Leporello weist die aus unterschiedlichen Jahrhunderten stammenden Textfragmente als miteinander verbunden aus. Die Expansion des Leporellos aus dem Kodex heraus kann als Metapher für die Verbundenheit des präsentierten Inhalts sowohl mit der literarischen Welt als auch mit dem realweltlichen Kontext des Rezipienten gedeutet werden. Insbesondere das Motiv der Montage, der Zusammenfügung von alten und neuen Inhalten, „von heilsgeschichtlichen Allegorien und ‚Gemeinheit‘ aktueller Geschehnisse“ (Greiner 1977, S. 139) sind Darstellungsprinzipien des Welttheatermotivs. Die Heterogenität der Ereignisse, die innerhalb des Theatrum-mundiMotivs zur Darstellung gelangen, korrespondiert der Diversität der Textgattungen, aus denen Bayrle und Jäger in ihrem Künstlerbuch zitieren, die jedoch durch das gemeinsame Thema Schauspielerei, Theater und Scheinhaftigkeit menschlicher Existenz zusammengefasst werden. Der Themenkomplex von der Welt als Theater wird durch Bayrles und Jägers Behandlung innerhalb eines Kodex als buchliterarischer Topos zur Disposition gestellt. Die Verknüpfung von literarischer Vorlage und Schauspiel auf der Theaterbühne wird insbesondere über das Buch-Sein des Kleinen Welttheaters bewusst, das die Möglichkeit der Inszenierung von Dramen und anderer Texte als Theatersequenz vor Augen führt. Die Trias aus Welt, Theater und Literatur wird somit als enges Gefüge dargestellt, in dem sich die einzelnen Elemente gegenseitig bedingen und durchdringen. Der Bezug zum Motiv des Welttheaters innerhalb des Kodex verweist dabei auch auf die Metapher der Welt als Buch. PH  



wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“ Huizinga 1987, S. 37 (im Original kursiv gesetzt).  

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E 2.11 Max Ernst/Ilya Zdanevič (genannt Iliazd): 65. Maximiliana. Ou l’exercice illégal de l’astronomie (1964) Paris: Le Degré quarante et un, 1964. Texte von E. W. L. Tempel und Iliazd. 34 farbige Radierungen (z. T. mit Aquatinta) von Max Ernst. Druck: Radierungen von Georges Visat; Typografie in der Imprimerie Union von Louis Barnier, Paris. 30 Doppelbl.: 41,6 x 31 cm. Aufl.: 65 Exemplare, arabisch nummeriert 1 bis 65, und 10 Exemplare I bis X; alle auf Japan-Papier. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 202.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 62/65 der Sammlung des Klingspor Museum, Offenbach.  











Bezugstexte: Ernst Wilhelm Leberecht Tempel (1821–1889): Astronomische Schriften; Iliazd: Texte für das Buchprojekt

Im Jahr 1964 publiziert Ilya Zdanevič (genannt Iliazd) in der Edition Le degré quarante et un das Künstlerbuch 65. Maximiliana. Ou l’exercice illégal de l’astronomie. Das Werk versammelt Schriften des Lithografen und Astronomen Ernst Wilhelm Leberecht Tempel, Radierungen wie hieroglyphisch anmutende écritures Max Ernsts sowie Texte von Iliazd selbst. Tempel entdeckte im 19. Jahrhundert mehrere Himmelskörper (vgl. Bianchi 2010, S. 46). Dass er neben seiner Ausbildung zum Lithografen keinen universitären Abschluss in der Astronomie vorweisen konnte, bedingte eine geringe Wertschätzung seiner Arbeitsergebnisse seitens Tempels Kollegenschaft. Ernsts Werk Maximiliana behandelt zum einen die mangelnde Anerkennung Tempels zu Lebzeiten und fokussiert sich auf eine Entdeckung, die er am 8. März 1861 auf der Terrasse des Sternenobservatoriums in Marseille machte: Asteroid 65 – Maximiliana, später in Cybele umbenannt (vgl. ebd.). Zum anderen kreisen die Themen innerhalb des Künstlerbuchs um das Sehen im Allgemeinen. Die Kombination von Texten und Grafiken kann als eine Anleitung zum ‚richtigen‘ Sehen interpretiert werden (vgl. Nazé 2016, S. 13), die optisch-technische Errungenschaften zur vermeintlich verbesserten visuellen Wahrnehmung kritisch hinterfragt. Ernsts Kodex besteht aus 30 aufeinandergelegten und ungebundenen Papierbögen, die jeweils als ganzer Bogen paginiert sind.66 Hierdurch ergibt sich eine Fokussierung auf das ‚Diptychon‘ der Buchdoppelseite. Formal und thematisch lässt sich das Buch in drei Teile zergliedern (S. 4–8, 10–22, 24–28), die jeweils durch einzelne Papierbögen gerahmt bzw. voneinander geschieden werden (S. 3, 9, 23, 29).67 Letztere  













66 In der digitalen Sammlung des Fine Arts Museum of San Francisco sind die gescannten Seiten der Maximiliana einsehbar: http://art.famsf.org/search?search_api_views_fulltext=maximiliana (abgerufen am 13.08.2017). 67 Nazé weist darauf hin, dass die Dreigliedrigkeit über die formale Ebene hinaus ein konstitutives Moment der Maximiliana ist: „In many ways, Maximiliana is a triptych: it is the result of the efforts of three men (Tempel, Iliazd, and Ernst); written in three languages (French, German, Italian); separated in three main parts; alluding to three types of objects (the controversial clouds, nebulae, and aurorae in the central part, the achievements in comet, asteroid, and nebula observations in the last part); and containing three types of text (scientific (excerpts of actual articles by Tempel); personal (excerpts of letters by

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bestehen ausschließlich aus Grafiken Max Ernsts – einer hochrechteckigen Radierung mit einer vertikal angelegten écriture-Zeile auf der linken und drei ebenfalls senkrecht verlaufende écriture-Zeilen zusammen mit ihren farbig und zumeist vergrößert angelegten ‚Schatten‘ auf der rechten Seite. Die Doppelseiten des ersten Teils (S. 4–8) bestehen allesamt aus in Versalien geschriebenen Wörtern auf der linken Seite sowie einer rechteckigen Grafik Ernsts und weiteren Wörtern auf der rechten Seite. Die Texte stammen sowohl von Tempel als auch von Iliazd und sind auf jeder Doppelseite in einer anders über die Blattseite verlaufenden Zeichenabfolge angeordnet, sodass der Leser sich zunächst in die ‚richtige‘, das heißt Wörter und Sätze ergebende Lesereihenfolge einfinden muss. Der zweite Teil der Maximiliana (S. 10–22) präsentiert auf den geraden Doppelseiten ein Gedicht Tempels, das er am 2. Januar 1849 verfasst hat – Der Glöckner.68 Die unkonventionelle Anordnung der Schriftzeichen ist hier aufgelöst, die Buchstaben formen sich auf horizontalen Zeilen zu den Wörtern und Versen des Gedichtes. Dieses wird begleitet von Ernsts Grafiken und écritures. Die ungeraden Seiten des zweiten Maximiliana-Teils bestehen aus Ernsts querrechteckig angelegten Radierungen, die sich in der oberen Hälfte über die gesamte Breite des Doppelblatts erstrecken. Darunter sind Texte von Tempel zu Wolken (vgl. Ernst/Iliazd 1964, S. 11; Tempel 1882), Nebeln und Aurorae zu lesen, die von Iliazd zum Teil leicht modifiziert wurden. Der dritte Teil des Künstlerbuchs (S. 24–28) folgt formal dem ersten: Wiederum finden sich auf jeder Doppelseite changierende Buchstabenanordnungen, die vom Leser zunächst in die richtige Reihenfolge gesetzt werden müssen, begleitet von einer Radierung Ernsts auf der rechten Seite. Während die Texte im ersten Teil der Maximiliana die Geschichte um die Entdeckung und Namensgebung des gleichnamigen Asteroiden thematisieren, fokussiert sich der letzte Teil des Künstlerbuchs auf die weiteren Observationen Tempels: Diese umfassen neben der Maximiliana vier weitere Asteroiden, mehrere Kometen und einen Reflexionsnebel innerhalb der Plejaden (vgl. Bianchi 2010, S. 46).  















Die Maximiliana als Anleitung zum ‚wahren‘ Sehen. Tempel stand technologischen Errungenschaften zur Erweiterung der menschlichen visuellen Wahrnehmungsleistung kritisch gegenüber. Er berücksichtigte bei seinen Himmelsbeobachtungen die u. a. durch regionale meteorologische Gegebenheiten bedingte Veränderlichkeit der Wahrnehmbarkeit von Himmelskörpern und trug diesem Umstand durch wiederholte, längerfristige Beobachtungen Rechnung; eine Arbeitsweise, die Tempel bei seinen  

Tempel); and literary/fictional) as well as three types of signs (common alphabet, Ernst’s hieroglyphs, and Ernst’s drawings).“ Nazé 2016, S. 12 (Hervorhebung wie im Original). 68 Vgl. Ernst/Iliazd 1964, S. 22. Das Gedicht bezieht sich wahrscheinlich auf Tempels Kindheit und Jugend, in der er für das Läuten der Kirchenglocken in seinem Heimatort Niedercunnersdorf Geld verdiente; vgl. Bianchi 2010, S. 43.  





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Kollegen vermisste.69 Dies wird in Maximiliana auf der der Entdeckung des PlejadenReflexionsnebels gewidmeten Doppelseite deutlich: Hier ist auf der rechten Seite zu lesen: „CE NE SONT PAS LES GRANDES LUNETTES QUI FONT LES GRANDS ASTRONOMES“ (Ernst/Iliazd 1964, S. 25). Dieses Textfragment stammt wahrscheinlich von Ernst und erinnert an dessen Maxime: „Ce n’est pas la colle qui fait le collage“ (Ernst 1970, S. 256; vgl. Nazé 2016, S. 11, Hubert 1984, S. 603). In seinen Observations de nuages expliziert Tempel die Wichtigkeit kontemplativen Sehens und Beobachtens. Dadurch, dass seine Kollegen ihre Erkenntnisse zumeist über automatisierte Instrumente erhielten, sei ihnen das ‚richtige‘ Sehen abhandengekommen. In der Konsequenz vermutet Tempel, dass ein Landschaftsmaler, der es verstehe, seine Umgebung zu beobachten und seine Wahrnehmungen zu reflektieren, seinen Ausführungen eher folgen könne als seine Berufskollegen aus der Astronomie.70 Mit seiner nachdrücklichen Pointierung genauer Beobachtungen befindet sich Tempel in gedanklicher Nähe zu Ernst, der im surrealistischen Kontext an einer ‚wahren‘, ganzheitlichen Sicht auf die Dinge interessiert war.71 Dem korrespondieren innerhalb der Maximiliana Ernsts abstrakte Grafiken und hieroglyphisch anmutende écritures – in ihrer Konstitution animieren sie den Rezipienten sowohl zum genauen Lesen als auch zum gewissenhaften Anschauen.72 Insbesondere das Buch-Sein von Ernsts Maximiliana evoziert die seit der Antike geläufige Vorstellung der Gestirne und ihrer Beziehungen als lesbare Schrift, die nun in Ernsts Kodex kompiliert wird.  









69 Tempels Observations de nuages sind ein Ausweis für seine genaue Beobachtungsgabe und sein exaktes Wissen zu regionalen Wetterphänomenen, vgl. Ernst/Iliazd 1964, S. 11 und Tempel 1882, insb. S. 516. 70 „Je crois qu‘un peintre-paysagiste, qui aurait l’habitude d‘observer et de réfléchir sur ces choses, se rangeraità mon opinion plus facilement que des météorologistes qui, entourés aujourd’hui d’une foule d’instruments qui notent et enregistrent automatiquement, ont désappris a se servir de leurs yeux.“ Ebd., S. 516 sowie: „Just as the human memory is less cultivated and exercised, owing to the mass of literature accumulated in the course of centuries, so the art of seeing truly is now being lost by the variety of instruments and artificial aids to vision.“ Tempel 1878, S. 404. 71 „Moreover, Ernst, and more generally surrealists, wanted to make the unconscious visible, emphasizing the power of the (true) sight. Finally, it likely appealed to Ernst that Tempel, a scientist, placed the judgment of an artist over that of his colleagues […].“ Nazé 2016, S. 7. 72 „Maximiliana ambitiously proposes to make one learn to see. To do so, the artists Iliazd and Ernst offer content in the form of progressive steps. First, there are Tempel’s notes and poem, which are readily understandable because they are written in plain language and with the usual placement of letters. Second are the calligrams: these are written in plain language, but the position of the letters is unusual so that one needs some time to be able to make up words, and then sentences – one thus needs to begin practicing the ‚art of seeing‘, i.e. uncovering hidden knowledge. Finally, there are Ernst’s hieroglyphs, which are novel and unprecedented – their actual meaning thus remains obscure, as we do not have the key to this graphic language. However, the argument is also double-edged. The actual meaning and importance of the ‚easy-to-read‘ text remains essentially hidden to the layman as it can only be understood in relation to Tempel’s life and with some knowledge of astronomy and geophysics, as well as of history of science. On the other hand, the secret writing of Ernst displays recognizable shapes, hence gives the impression of being readable or at least of always being on the edge of readability.“ Ebd., S. 13.  















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Rätselhaft-spielerische Bedeutungskonstitution. Innerhalb des ersten und dritten Teils der Maximiliana resultiert aus Iliazds typografischer Ordnung – der „construction en carré“ – ein räumlich wirkendes Arrangement des Textes.73 Entgegen der traditionellen westlichen Lesekonvention müssen die Buchstaben beispielsweise in vertikaler oder diagonaler Richtung zu Wörtern und Sätzen zusammengesetzt werden. Teilweise sind Wörter durch die Leserichtung verändernde ‚Umbrüche‘ unterbrochen oder sie präsentieren sich dem Betrachter als ‚Buchstabenhaufen‘ (vgl. Ernst/Iliazd 1964, S. 28), deren Entschlüsselungsprozess einen rätselhaft-spielerischen Zug erhält. Zuweilen erinnert die Anordnung der Texte an Figurengedichte wie beispielsweise Guillaume Apollinaires Gedicht Il pleut (1918; vgl. Ernst/Iliazd 1964, S. 6 und Greet 1982, S. 14; Max Ernst lernte Guillaume Apollinaire in den 1910er Jahren kennen; vgl. Derenthal online). Anders als bei Apollinaires Werk ist die ‚fallende‘ Anordnung der Buchstaben in Maximiliana in ihrer Ausdeutungsmöglichkeit offener. Natürlich kann die Lesebewegung von oben nach schräg unten beispielsweise als Nachvollzug eines ‚Kometenregens‘ interpretiert werden, die Verknüpfung mit dem Textinhalt ist hier jedoch weniger eindeutig. Vielmehr schreibt sich die analoge Manier der Buchstabenanordnung in eine künstlerische Tradition ein. Das Arrangement der einzelnen Buchstaben und Wörter steht darüber hinaus im Kontext von Wortspielen, die sowohl die namentlichen Übereinstimmungen Tempels und Ernsts als auch die Historie der Be- und Umbenennung von Tempels MaximilianaEntdeckung thematisieren.74 Der Rezipient wird hierdurch sensibilisiert für das potenziell breite Bedeutungsspektrum, das Bezeichnungen im Allgemeinen inne liegt. Dies zeigt sich z. B. bereits auf dem Titelbogen an dem Hinweis, die Maximiliana seien „mises en lumière“ durch Iliazd (vgl. Ernst/Iliazd 1964, unpag. [S. 2]): Über die kunstwissenschaftliche Bezeichnung der Illumination – die Ausstattung von Handschriften mit Buchmalerei – hinaus bedeutet diese Wendung ‚auf etwas aufmerksam machen‘ und ‚etwas ans Licht bringen‘ – also etwas dem Auge Verborgenes sichtbar zu machen. Dies assoziiert beispielsweise die Tätigkeit Tempels, der mit seinem Teleskop im ‚dunklen‘ – für die menschliche Wahrnehmung nur unzureichend beleuchteten und in seinen Dimensionen unbegreiflichen – All Himmelskörper entdeckt und anderen mittels der Übertragung seiner Beobachtungen in Lithografien ebenfalls (visuell) zugänglich macht. Zudem wird durch Iliazds Maximiliana-Publikation das Schaffen des zuvor weitestgehend in Vergessenheit geratenen Astronomen Tempel ‚beleuchtet‘ und bekannt gemacht.  























73 „On the same kind of graph paper where he [Iliazd, Anm. d. Verf.] was accustomed to map out an old Byzantine church or a new dance step, he now composed his makeup; he chose as his schema a geometric form and outlined it in small squares. The schema is recurrent, and it is not centered on the page. Instead, shapes are tilted and the design is off-center; part of a rectangle or spiral is missing, as if it sloped off into the void. Furthermore, letters are placed only in certain of the squares.“ Greet 1982, S. 10. 74 „Nothing appears more basic in a linguistic game than the act of naming. Tempel himself was preoccupied with a system of designation.“ Hubert 1984, S. 597.  



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Zeichen zwischen Text und Bild, Zweidimensionalität und Dreidimensionalität. Ebenfalls auf dem Titelblatt der Maximiliana wird das breite Spektrum der möglichen Zeichenausdeutung signifikant: Während die Radierung mit Ernsts hieroglyphisch wirkender ‚Geheimschrift‘ an nicht zu entschlüsselnden Text erinnert, evozieren die benachbarten Zeichen einen menschlich-figuralen Eindruck. Dass sie mit einem rötlichen ‚Schatten‘ versehen wurden, verleiht ihnen eine körperliche Dimension. Dieses Moment des Changierens zwischen bildlichem und schriftlichem Zeichen auf der einen Seite und zweidimensionalem und dreidimensionalem Gebilde auf der anderen Seite ist ein dem gesamten Künstlerbuch zugrundeliegendes Motiv. Dabei wird auch die Vorstellung vom ‚Schatten‘ als formaler Wiederholung eines Gegenstandes dekonstruiert, indem Ernst seine Figuren zum einen ähnlich erscheinen lässt, ihre Schatten jedoch zum Teil vertauscht – was dem Rezipienten nur durch aufmerksames Betrachten der Seiten und Vergleichen der Zeichen bewusst wird.75 Ernsts figurativ wirkenden Grafiken und écritures lassen sich insbesondere vogelartige Formen entnehmen. Der Rezipient wird hierdurch an Ernsts Loplop-Figur erinnert (vgl. Greet 1982, S. 10), die sich als autoreflexives Moment in vielen Werken seines Œuvres finden lässt und zudem mit der ‚Kunstfigur‘ Max Ernst selbst verbunden ist (vgl. u. a. Stokes 1983 und Zuch 2004). In der Kombination textlicher Ausführungen zu Tempels Leben und Wirken mit dem bildlichen Verweis auf den Künstler Ernst verweben sich die jeweiligen Biografien ineinander.76 Mitunter – insbesondere auf den Seiten mit dem Glöckner-Gedicht – fasst Ernst seine écritures in Formen zusammen, die wiederum bildliche Züge annehmen können.77 Dabei wird deutlich, dass die Größe und Anordnung von Ernsts Zeichen eine eher schriftliche bzw. eine eher piktorale Ausdeutung bedingen.78 Es stellt sich zumeist kein statischer Eindruck ein: schriftlich anmutende Zeichen changieren ins Bildliche und vice versa.79 Ernsts Radierungen zu  









75 Auf Doppelseite 9 der Maximiliana sind die ‚Schatten‘ der Zeichnungen im Vergleich mit der Gestaltungsweise auf dem Titelblatt und auf Seite 3 vertauscht: Die Zeichenreihe, die noch auf der linken Seite zu sehen ist, wird rechts in der rechten Leiste wieder abgebildet. Die linke Zeichenfolge auf der rechten Seite wird im mittleren Streifen, die mittlere Zeichenfolge im linken Streifen wiedergegeben, während die Zeichenfolge rechts ohne Schattenstreifen ausgestattet wird. Es zeigt sich: Die Zeichen wirken ähnlich, bei genauem Hinsehen jedoch werden Unterschiede sichtbar, das Rezipientenauge begibt sich auf die Suche nach Übereinstimmungen – die Maximiliana fordert zum genauen Hinsehen auf. 76 Dies wird auch deutlich in Peter Schamonis Kurzfilm Maximiliana – Die widerrechtliche Ausübung der Astronomie (1966). Ernst betont in dem Film, dass das ‚echte‘ Sehen verloren gegangen sei: https:// www.youtube.com/watch?v=SEyqDp5b2ok (abgerufen am 13.08.2017), 00:10:03–00:11:13. 77 Vgl. Ernst/Iliazd 1964, S. 10: Auf der linken Seite wirkt die Buchstabenansammlung rechts oben wie die Darstellung eines stilisierten Vogels im Profil. 78 Vgl. ebd.: Auf der Seite sind größere Zeichen und kleinere Zeichen zu sehen. Letztere sind linear angeordnet. Obwohl sämtliche Zeichen einen ähnlichen Ausdruck aufweisen, wirken die großen, isolierteren Zeichen eher bildlich, die Zeichenzeilen schriftlich. 79 Ähnlich wie in seinen Collagenromanen (bspw. Une semaine de bonté ou les septs éléments capitaux, 1934) übernimmt Ernst auch in Maximiliana Teile von Abbildungsvorlagen in seine Zeichenkonglomerate und lässt somit das Bild ins Zeichenhafte kippen. Dies ist z. B. auf der rechten Hälfte von Seite 10  







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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

den textlichen Ausführungen von und zu Tempel sind keine Illustrationen im Sinne einer bildlichen Wiedergabe des Textinhalts. Vielmehr halten die Grafiken den Rezipienten zum aufmerksamen Betrachten, zum Vergleichen und zur Reflexion des Gesehenen an. Sie verdeutlichen – in Analogie zu Tempels Darlegungen kontextuell bedingter wechselhafter Wahrnehmungen desselben astronomischen Phänomens – die veränderliche Bedeutungskonstitution, die sich formal gleichen bzw. ähnlichen Zeichen in divergierenden Begleitumständen entnehmen lassen. PH  



E 2.12 Walasse Ting/Sam Francis u. a.: 1 ¢ life (1964)  

Bern: Kornfeld, 1964. Hg. von Sam Francis. Texte von Walasse Ting. 68 Lithografien von 28 Künstlern (Alan Davie, Alfred Jensen, Sam Francis, Walasse Ting, James Rosenquist, Pierre Alechinsky, Kimber Smith, Alfred Leslie, Antonio Saura, Kiki O.K., Asger Jorn, Robert Indiana, Jean-Paul Riopelle, Karel Appel, Tom Wesselmann, Bram van Velde, Joan Mitchell, Allan Kaprow, Andy Warhol, Robert Rauschenberg, K.R.H. Sonderborg, Roy Liechtenstein, Öyvind Fahlström, Reinhoud, Claes Oldenburg, Jim Dine, Mel Ramos und Enrico Baj). Druck Lithografien: Maurice Beaudet, Paris. Typografie: handgesetzt von Georges Girard, Paris. 176 S., ungebunden. 40,8 x 28,8 cm. Auflage: 2000 nummerierte Exemplare als ‚regular edition‘, darunter numm. 1 – 100 als ‚special edition‘ auf handgeschöpftem Vélinpapier, von den Künstlern numm. und signiert. (Druckvermerk vgl. Hogben/ Watson 1985, S. 312, sowie „Collection online“ des British Museum, London (Davie online).) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 469/2000 der Sammlung der HAB.80  











Bezugstexte: Walasse Ting (Gedichte für das Buchprojekt)

Der chinesisch-amerikanische Künstler und Dichter Walasse Ting (1929–2010) konzipierte mithilfe des Künstlers Sam Francis (1923–1994) und des schweizerischen Kunsthändlers und Verlegers Eberhard W. Kornfeld in den frühen 1960er Jahren ein außergewöhnliches Künstlerbuch. Die Idee zum Buch 1 ¢ life entstand während eines Treffens mit Sam Francis, den Walasse Ting in dessen New Yorker Studio besuchte: Ein „wirklich internationales Buch“ (zit. n. H. Watts, in: Haenlein 1989, S. 152) sollte es werden, das „diverse artistic movements and artists from around the Western world“ (Kramer 2008, S. 56) umfasst.81 Und tatsächlich gelang es Ting und Francis nicht nur, eine bemerkenswert große Anzahl an Künstlern für das Projekt zu interessieren, sondern auch die bekanntesten Vertreter der führenden zeitgenössischen Kunstrichtungen bzw. -bewegungen zu versammeln (siehe oben). Zu 61 Gedichten Tings finden sich bildneri 





erkennbar: der ‚Unterleib‘ einer figurenartigen Zeichenansammlung links wird von der Reproduktion eines Insektenflügels gebildet. 80 Der HAB gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. 81 Zu Tings künstlerischem Werk: vgl. Lefebvre 2017; Comentale 2013, S. 46–55; zu seinem gesteigerten Interesse an ‚Text und Bild‘, ‚Malerei und Dichtung‘ auch in Verbindung zum kalligrafischen Schriftbild: Laurent 2017, S. 85–92.  

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sche Beiträge von 28 Künstlern der europäischen Künstlergruppe CoBrA, der in Amerika beheimateten Bewegungen des Abstrakten Expressionismus und der Pop Art, aber auch von Walasse Ting selbst. Unterschiedlichste künstlerische Darstellungs- und Ausdrucksweisen begegnen dem Betrachter in malerischen wie grafischen, abstrakt-gegenständlichen und informellen Bildbeiträgen, die ergänzt werden durch Reproduktionen nach Fotos von objets trouvés (Zeitungsausschnitte, Kitschpostkarten der 1920er Jahre und pornografische Fotos der Gegenwart) sowie durch Figurengedichte. Ein variabler Satzspiegel, verschiedene Schrifttypen, -größen und -stärken, Versalien und Gemeinen sowie wechselnde Druckfarben verstärken die bildnerische Wirkung und intensivieren die Beziehung zwischen Texten und Bildern. 1 ¢ life ist eine Komposition von Texten und Bildern, die durch Vielgestaltigkeit, gestalterische Expressivität und farbliche Wirkkraft beeindruckt (siehe Abb. E 2/5, Abb. E 2/6, Abb. E 2/7).82  





Kritik an Gesellschaft und Politik im Amerika der 1960er Jahre. Die Gedichte von Ting nehmen die Gegenwart in den Blick, reagieren mit ironischer Ernsthaftigkeit auf den (amerikanischen) Alltag, auf gesellschaftlich-politische Problemfelder und kreieren erotische Bilder sowie obszöne Darstellungen.83 Bewusst verwendet Ting die Behelfssprache des ‚pidgin-English‘ (H. Watts, in: Haenlein 1989, S. 152), das grammatikalische Konstruktionen stark reduziert; „ces poèmes sont parfois intentionellement obscurs dans leur imperfection syntaxique“ (Dal Lago 2017, S. 66). Die nach Perfektion strebende, technisierte (Um-)Welt wird kritisch beschrieben, in einfacher Sprache wird auf deren Missstände aufmerksam gemacht. Zum Thema werden u. a. Kalter Krieg, Vietnamkrieg, die kapitalistische Gesellschaft, die (instrumentalisierte) Werbung, weibliche und männliche Rollenbilder, die käufliche Liebe. Mit großer bildnerischer Vielfalt und in unterschiedlicher Intensität nehmen die Werke der 28 Künstler auf die Texte Bezug – als Ergänzung, Kommentierung, Hervorhebung. Aus dem Gedicht WHY DIE? (siehe Abb. E 2/5) sprechen die Bedrohung des Kalten Krieges und die Angst vor einem möglichen Atomkrieg mit der Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki, wenn es heißt: „Two billion grasshoppers fly to north/die in one second/white elephant die black tiger die yellow horse die/[…] one atom bomb red blossoming in blue sky“ (Ting 1964, S. 12). Die folgenschweren Schäden einer Explosion werden in einer schlichten und eindrucksvollen Farbantinomie zum Ausdruck gebracht: „sun black/river black/morning black/heart black/bomb white“ (ebd., S. 13). Der dem Gedicht zugeordnete bildnerische Beitrag äußert sich über die  















82 Wie Andreas Strobl auf den Punkt bringt, ist – was die Seiteneinteilung und Aufteilung von Text und Bild angeht – alles möglich, vor allem aber ausgewogen gestaltet: „Jede Lage besteht aus drei, jeweils gefalteten und ineinandergelegten Druckbögen, also zwölf Seiten; alle Kombinationen sind möglich: Doppelseiten mit Text, Doppelseiten mit Abbildungen, die Kombination von Text und Bild auf einer Seite oder auf einer Doppelseite, die Kombination von Text und Bildseite.“ Strobl 2002, S. 24. 83 Von den Gedichten „im Stil der Beat-Poeten“ (ebd.) spricht Andreas Strobl und betont Tings Nähe zur literarischen Strömung der Beat generation.  





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

sich wiederholenden Grausamkeiten des Krieges, ohne die Verse Tings zu illustrieren. Genutzt wird dafür eine ikonografisch interessante Motivadaption: Oberhalb des Gedichtes befindet sich eine Reproduktion nach Jacques Callot (1592–1635). Callots Radierung L’arbre aux pendus – Der Baum mit Gehängten (1632) entstammt einer Serie, die auf die Grausamkeiten des dreißigjährigen Krieges aufmerksam gemacht hatte, und wurde nahezu zwei Jahrhunderte später zum Vorbild für Francisco de Goyas berühmte Serie Los desastres de la Guerra (1810–14, bes. Blatt 36). Weitere 150 Jahre später findet sich das Motiv in 1 ¢ life: Im Vordergrund über einer lieblich-dörflichen Landschaft ragen drei imposante Bäume mit einer Vielzahl erhängter Männer empor; die zu den Bäumen hinaufführenden Leitern stehen noch immer angelehnt an den Stämmen. Die käufliche Liebe nimmt als Themenkomplex einen großen Raum im gesamten Buch ein. Eindeutig zielt darauf Robert Indianas Grafik, die wie ein Werbeplakat erscheint. Auf gelbem Grund wurde ein signalroter, geöffneter Mund platziert, zwischen dessen Lippen ein seitenverkehrtes Fragezeichen untergebracht ist; auffordernd finden sich in Großdruckbuchstaben darunter die Lettern „SEX ANYONE“ (ebd., S. 52). In kräftigen Farben, mit ausdruckstarken Gesten gemalt, zeigt eine Lithografie von Ting eine halbliegende weibliche Figur mit weit gespreizten Beinen zum Gedicht DANS LA RUE ST. DENIS (ebd., S. 49–56; Abb. E 2/6). Im Text illustriert das Ich mit obszöner Sprache seine Erfahrungen in der Gegend des Pariser Rotlichtviertels.  







Die Konsumkultur wird ad absurdum geführt. Die bunte Welt des attraktionshungrigen Konsumenten in der hochtechnisierten kapitalistischen Gesellschaft wird im Gedicht AMERICA persifliert. Hier gehen die Gehirnfunktionen auf das IT-Beratungsunternehmen und die zentrale Sicherheitsbehörde FBI zurück; das körperliche und seelische Wohlbefinden wird von Produkten des Lebensmittelunternehmens A & P, des Kosmetikherstellers Max Factor oder der koffeinfreien Limonade ‚7up‘ reguliert: „brain made by IBM & FBI/stomach supported by A & P/love supported by Time & Life/soul made by 7up/skin start with Max Factor“ (ebd., S. 153). Das Aufkommen einer ungebremsten Konsumkultur erfasst verschiedenste Lebensbereiche, die das Verhältnis zur Ware und die Ware selbst neu definieren. Die geradezu religiöse Haltung gegenüber Konsumartikeln zeigt sich in der Werbung der 1960er Jahre. Angepriesene Produkte werden oft in Begleitung von aufreizenden Frauen gezeigt, sodass eine Korrelation zwischen Produkt und weiblicher Staffagefigur entsteht und auch die Frau selbst Ware wird. Im Gedicht SHE (siehe Abb. E 2/7) wird eine weibliche Person in Vergleichen mit technisch hergestellten Konsumgütern beschrieben: „white skin shining like plastic tablecloth“, „arms white as porcelain toilet“, „breasts soft toothpaste/belly hot engine/buttocks round car tires“. Sehnsüchte werden geweckt, „my pants hot sweet sour cream“ (ebd., S. 158), nicht zu unterscheiden ist das Objekt des sexuellen Interesses. Die Verquickung von Ware und Mensch wird ad absurdum geführt, was dem Leser spätestens dann bewusst wird, wenn der Sprecher im Gedicht mit dem Gedanken an die ‚zahnpastaweichen‘ Brüste oder an die Arme der Frau, die so weiß wie das Porzellan von Toiletten sind, ejakuliert. Die Verse sind als Figurengedicht in  





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Form eines Sternes abgedruckt. Spiegelbildlich dazu findet sich eine Lithografie des Pop-Art-Künstlers Mel Ramos (*1935) auf der gegenüberliegenden Seite, die ebenfalls mit der Sternform operiert. Ramos übersetzt „she“ in „TIGERGIRL“ und entwirft ein Pin-up-Girl, das sich auf dem plastisch entworfenen Schriftzug freizügig in einem Bikini mit Tigermuster präsentiert. Text- und Bildseite stehen in einem ausgeklügelten Wechselverhältnis und nehmen motivisch wie formal Bezug aufeinander. MSch

Abb. E 2/5: Walasse Ting u. a.: 1 ¢ life, „Reproduction after Callot“. Paris 1964.  



Abb. E 2/6: Walasse Ting: 1 ¢ life. Paris 1964.  

Abb. E 2/7: Walasse Ting/Mel Ramos: 1 ¢ life. Paris 1964.  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 2.13 HAP Grieshaber: Totentanz von Basel (1966) Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1966. 40 Farbholzschnitte auf Japanpapier ‚Kochi‘, Textblätter und Titelblatt mit Holzschnitt; 45 x 35 cm, gebunden.  





Bezugstexte: Totentanzliteratur

Ende 1965 beginnt HAP Grieshaber mit der Anfertigung von Holzschnitten für sein Künstlerbuch Totentanz von Basel, das 1966 erscheint. Das Werk bezieht sich auf ein Bildprogramm, das um 1440 an der Friedhofsmauer der Basler Predigerkirche entstanden ist und in ständischer Abfolge Figuren zeigt, die mit dem personifizierten Tod konfrontiert sind. Im Angesicht des tanzenden Todes gliedern sich alle Figuren standesübergreifend und unentrinnbar in den Reigen ein. Die monumentale84 Basler Wandmalerei wurde mehrfach verändert, bevor die Mauer mit Bemalung 1805 abgetragen worden ist.85 Der ursprüngliche Zustand der Bilder und Texte des Frieses ist nicht überliefert (vgl. Mayer, Rudolf 1966, S. VII), die heute verfügbaren Nachbildungen der Wandmalereien erfassen ausschließlich einen überarbeiteten Stand des Totentanzes und gestalten die Wiedergabe darüber hinaus oftmals relativ frei, indem sie aktualisierte Bildformen und Inhalte in das Programm integrieren. Durch den Verlust der ursprünglichen Bildfolge entsteht Grieshabers Werk somit auf der Grundlage von Reproduktionen respektive Adaptionen des Basler Totentanzes, beispielsweise der Kupferstiche Matthäus Merians, die erstmals 1621 veröffentlicht wurden (vgl. Liß 2011, S. 65), oder auch Hans Holbeins Bilder des Todes aus den 1520er Jahren. Die Texte und Abbildungen für Grieshabers Totentanz wurden von ihm und Lehrenden wie Studierenden der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst in Holz geschnitten. Während das ursprüngliche Bildprogramm 39 Figuren umfasste,86 versammelt Grieshabers Künstlerbuch insgesamt 40 Figuren. Die Dialoge zwischen dem Tod und den Todgeweihten sind auf Französisch, Englisch und Deutsch angeführt. Eine Unterscheidung zwischen den deutschen und den anderssprachigen Textpassagen wird über das Schriftbild vorgenommen. Für die deutschen Dialoge entwarf Albert Kapr eine Frakturschrift, die französischen und englischen Übersetzungen der Verse sind in Gill-Grotesk ausgeführt (vgl. Grieshaber 1966, Impressum, unpag.). Die Texte gehen den Abbildungen voran, welche zunächst mehrfarbig und in einer späteren Edition schwarz gedruckt worden sind. Die Holzschnitte zeigen grob ausgeführte Figuren, zumeist wird der Bildraum von einem stilisierten Knochenmann mit Papst, Kaiser, Kaiserin usw. ausgefüllt. Ebenso wie in vorangegangenen Bearbeitungen des Themas wird die Stan 



84 Die Maße des gesamten Bildprogramms betrugen wahrscheinlich 2 x 60 m. Vgl. Heupel 2011, S. 81. 85 Vgl. zur Geschichte des Totentanzes von Basel u. a. Egger 1990. 86 Vgl. Werthmüller 1980, S. 76. „Einzig 19 Bildfragmente mit Gesichtern von Todgeweihten und einem Weltgericht sowie drei Textfragmente sind heute im Historischen Museum Basel erhalten.“ Liß 2011, S. 64.  











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deszugehörigkeit von Grieshabers Figuren über spezifische Attribute ausgewiesen, die teilweise auch dem personifizierten Tod beigegeben wurden. Die Ausgestaltung des Personals wird zuweilen von zeitgenössischen Beifügungen begleitet. Zur Genese des Totentanzthemas. Der Ausgangspunkt des Totentanzthemas (vgl. dazu Teil B 1.2) ist nicht rekonstruierbar, früheste Überlieferungen weisen Totentanzmotive in bebilderten Handschriften ab ca. 1350 nach (vgl. Vetter 1986, S. 7). Als Konglomerat aus christlichen und volkstümlichen Glaubensvorstellungen entstanden, integriert der Totentanz Charakteristika diverser literarischer Gattungen (vgl. Gassen 1986, S. 15). Wie Richard Gassen herausgestellt hat, stellen beispielsweise legendarische Dialoge zwischen Lebenden und Toten konkrete Vorläufer des Totentanzes dar. In diesen Zwiegesprächen verweisen die Verstorbenen auf ihre einstmalige Ähnlichkeit mit den Lebenden und dass diese ihr Schicksal teilen werden. Zuweilen knüpft sich dieses Memento mori an den Appell an die Lebenden, ein gottgefälligeres Leben zu führen, woran sich eine moralische Komponente des Totentanzthemas verdeutlicht (vgl. ebd., S. 16). Des Weiteren finden sich auch Eigenschaften der französischen Vado-mori-Verse aus dem 13. Jahrhundert innerhalb des Totentanzthemas, wie beispielsweise die Ordnung der Figuren nach Ständen, die titelgebende Vergegenwärtigung des eigenen Todes und die nachgelagerte Ergänzung des Textes um Illustrationen (vgl. ebd., S. 16f.). In einem seit Mitte des 14. Jahrhunderts tradierten lateinischen Totentanztext wird das musikalische Moment des Danse macabre eingeführt: Die noch monologisierenden Ständevertreter tanzen nach der Pfeife des Todes. Als ein wichtiges, auch in späteren Bearbeitungen des Totentanzthemas wiederkehrendes buchgestalterisches Element erscheint das Motiv des Rahmens, der den Reigen von Sterbenden und Tod umschließt.87 Weitere Einflüsse lassen sich in Memento-moriund Conflictus-Texten ausmachen.88 In den im Verlauf der Jahrhunderte entstehenden Totentänzen verstetigen sich das Charakteristikum des Dialogs von Tod und Sterblichen mit zuweilen moralisch-appellativem Impetus, das Arrangement der Figuren als Ständevertreter, die Vergegenwärtigung des Sterblichseins alles Lebenden sowie die Ergänzung der Texte um Illustrationen.  











Das Totentanzthema und der Kodex. Das Universale als primäres Charakteristikum des Totentanzthemas konkretisiert sich vor allem an der Vielzahl der Standesvertreter,

87 „Kennzeichnend für diesen Text wie auch für die späteren bildlichen Darstellungen ist das Rahmenmotiv: Am Anfang warnt ein Prediger den Leser vor der Hölle, es folgt die Ständerevue, ein Prediger mit einer weiteren Mahnung beschließt die Reihe.“ Gassen 1986, S. 17. 88 „Die Autoren dieser Literaturgattung [Memento mori, Anm. d. Verf.] beschränken sich jedoch nicht nur auf den allgemeinen Vergänglichkeitstopos, sondern verstehen sich auch als Kritiker der Zeit, die ihre Vorwürfe gegen die Mächtigen und Reichen richten und die Armen in Schutz nehmen. […] Die Conflictus-Literatur setzt sich in dialogischer Form mit der Unerbittlichkeit und Gewißheit des Todes sowie der rechten Art zu leben, um gut zu sterben, auseinander.“ Ebd., S. 18.  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

die zumeist unvorbereitet dem Tod begegnen. Dieses Überraschungsmoment motiviert das Zwiegespräch zwischen dem Tod und den Sterbenden. Die resultierende Fülle an Inhalt lässt sich konsequenterweise vornehmlich innerhalb eines Mediums transportieren, das genügend Platz bietet, die Dialoge in geeigneter Weise darzubieten. So verfügt insbesondere der mit vielen Seiten ausgestattete Kodex über ausreichend Kapazitäten zur Präsentation des ständeübergreifenden Totentanzes. Darüber hinaus ermöglicht die Dualität der Figuren – der Tod auf der einen, der Sterbende auf der anderen Seite – eine buchgestalterische Nutzung innerhalb des ‚Diptychons‘ der Buchseiten.89 Darüber hinaus kann die Darstellung des Totentanzes innerhalb des Kodex für die Ausdeutung des Themas fruchtbar gemacht werden. Dies belegt beispielsweise Holbeins Totentanz-Alphabet, eine Zusammenstellung von 24 bewohnten Initialen, die 1524 erstmals gedruckt wurde (der Buchstabe J fehlt, U und V wurden zusammengefasst). In den Initialen sind die mit dem als Knochenmann auftretenden Tod interagierenden Standesvertreter präsentiert. Das Motiv des Rahmens findet sich in den Buchstaben A und Z: Der erste Buchstabe des Alphabets steht vor einer BeinhausDarstellung mit dem ‚aufmarschierenden‘ und musizierenden Tod (vgl. Ellissen 1911, S. 15). Das Z wird kontextualisiert mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts (vgl. ebd., S. 61). Holbeins Totentanz-Alphabet verdeutlicht zum einen die Totalität des Todes insbesondere über die Einfassung innerhalb der Einheit des Buchkörpers. Das Alphabet wird vor diesem Hintergrund als ordnendes und zugleich jegliche Hierarchien unterwanderndes Element betont (vgl. Teile C 1.1 und C 1.2). Zwar wird die weltliche Machtordnung der Figuren über die Abfolge der Buchseiten, bzw. über die Zuordnung der jeweiligen Buchstaben aus dem Alphabet nachvollzogen (so wird dem Papst das B, dem Kind das Y zugeordnet). Bedeutsam ist jedoch, dass die Buchstaben – das A und das Z als exponiertere Anfangs- und Endbuchstaben ausgenommen und durch Holbein konsequenterweise durch rahmende Szenen begleitet – gleichrangig sind, das B also innerhalb des Alphabets nicht ‚wertvoller‘ ist als das C. Die Buchstaben sind Teile eines Ganzen, ohne dass einzelne Schriftzeichen eine herausgehobene Bedeutung hätten. Die räumliche Vorstellung von Hierarchie impliziert stets die Vertikale, an deren oberen Abschluss der Mächtigste seinen Platz hat. Diese profane Ordnung der Stände wird mithilfe des Alphabets und der Überführung in den Kodex in eine horizontale Abfolge von Buchstaben und Seiten überführt. Ausgehend von der Vorstellung eines senkrecht verlaufenden Machtgefälles manifestiert sich mittels des Kodex, dass sämtliche Figuren angesichts des Todes auf einer Stufe stehen.  











89 „Die Verbreitung der Totentanzbilder in Buchform führte schon im Mittelalter notwendig zu einer Zerlegung des Reigens in Einzelpaare, deren Verhältnis alsdann szenisch auszudeuten nahelag.“ Boeck 1966, S. III.  

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E 2 Künstlerbücher

Grieshabers ‚Reproduktion‘ des Totentanzes von Basel. Solche modernisierenden Tendenzen lassen sich bereits bei der Restaurierung des Wandgemäldes durch Hans Hug Kluber im Jahr 1568 konstatieren. Neben der Anpassung der Kleidung der Figuren an den zeitgenössischen modischen Stil wurden Teile des Personals den reformatorischen Umwälzungen entsprechend ergänzt, ausgetauscht oder gänzlich eliminiert: Eine bedeutsame Erweiterung Klubers, die von Grieshaber übernommen wird, stellt die selbstreferentielle Integration der Malerfigur in den Todesreigen dar (vgl. Liß 2011, S. 64f.). Grieshabers Werk zeigt sich von mannigfaltigen Einflüssen geprägt. Der Künstler erstellt seine Holzschnitte u. a. auf Grundlage der Stiche Merians, die 1621 erstmals veröffentlicht wurden (vgl. Heupel 2011, S. 80). Obwohl Merian seine Drucke bereits anderthalb Jahrhunderte nach der Entstehung des Wandbildes anfertigte, geben auch sie nicht den Originalzustand des Totentanzes von Basel wieder. Da der ursprüngliche Zustand der Wandmalerei nicht überliefert ist, wird der Status einer als Reproduktion des Wandbilds deklarierten Nachbildung disputabel. Wie Merian führt auch Grieshaber Elemente in seine Grafiken ein, die einen eindeutigen Bezug zur Zeitgenossenschaft des Künstlers aufweisen. So befindet sich der in einen mintgrünen OP-Kittel gehüllte Arzt in einem modern anmutenden OP-Saal, dem Kaufmann in Anzug und mit Aktentasche reicht der Tod einen Telefonhörer. In Grieshabers Totentanz kontrastieren diese modernisierten Figuren mit Personal, das seiner Ausgestaltung nach aus einem fernen Jahrhundert stammt. Der Ritter beispielsweise trägt keinerlei Attribute bei sich, die seine Verortung im 20. Jahrhundert plausibel erscheinen ließen. Im Gegenteil: Die Art der Darstellung lehnt sich vielmehr an Holbeins Präsentation des Ritters an. In beiden Werken versucht der Krieger den Tod mit seiner Lanze abzuwehren. Während die Waffe des Ritters am Skelett des Todes zerbricht, gelingt dem Knochenmann der verheerende Gegenschlag. Grieshabers Werk scheint somit unterschiedliche Zeitdimensionen zu vereinen. Dies zeigt sich auch auf technischer Ebene. Die Nutzung des Holzschnitts zur Anfertigung der Schriften und Grafiken als „der vollendete Anachronismus“ (Boeck 1966, S. II) verweist auf die lange Tradition des Totentanzthemas in Literatur und bildender Kunst und somit zudem auf den Umstand, dass auch das Wandbild, auf das sich Grieshabers Werk eigentlich bezieht, seine Vorläufer wahrscheinlich in Blockbüchern hatte. Die Überzeitlichkeit der Technik verdeutlicht die Genese des Totentanzes von Basel, der wahrscheinlich auf Grundlage von Blockbüchern entstand. Darüber hinaus wird die Stellung druckgrafischer Reproduktion im Hinblick auf das vermeintliche ‚Original‘ reflektiert:90 Insbesondere vor dem Hintergrund des Bezugs von Grieshabers Werk zu einer Wandmalerei, die nicht im Original überliefert ist, konkretisiert sich ein wechselhafter Zug der Reproduktion im Allgemeinen. Die Reproduktion muss eine ausge 









90 Originale werden über kulturelle Diskurse als solche ausgewiesen. Das scheinbar zuerst entstandene ‚Original‘ wird durch Übernahmen erst im Nachgang zum Original. Die Werke, die sich auf ein ‚Original‘ beziehen, weisen dieses durch Übernahmen erst als dieses aus. Vgl. Fehrmann u. a. 2004, S. 10.  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

prägte Nähe zum nachzuahmenden Werk aufweisen, um als solche erkennbar zu sein. Zugleich bedingen mit zeitlichem Fortschritt eintretende Veränderungen der Technik, Materialität sowie der gesellschaftlichen und sozialen Umstände, dass Reproduktionen immer auch zeitgenössische Interpretation des ‚Originals‘ darstellen (vgl. Brakensiek 2011, S. 34f.). PH  

E 2.14 Tom Phillips: A Humument (1966–2016) London: Tetrad Press, 1966–2016. Text von W. H. Mallock. Buchgestaltung von Tom Philipps. 1971 erstmals als in Boxen zusammengefasste Loseblattsammlungen in der Tetrad Press erschienen; 1980 Publikation der ersten gebundenen Edition bei Thames & Hudson, 2016 Publikation der sechsten und „final edition“. Bezugstext: William Hurrell Mallock: A Human Document (Roman, 1892)

Laut Tom Phillips’ Darstellung stieß er als junger Künstler durch einen ‚gesteuerten Zufall‘ auf Mallocks Roman A Human Document, der über fünf Jahrzehnte eine bedeutende Inspirations- und Materialquelle für Phillips’ gesamtes Œuvre darstellen sollte: Als er am 5. November 1966 zusammen mit dem Künstler Ronald Brooks Kitaj (1932–2007) die Buchabteilung in ‚Austin’s Furniture Repository‘ im Londoner Peckham Rye besucht, bestimmt Phillips, dass das erste Threepence-Buch, das er findet, die Grundlage für ein Langzeitprojekt liefern werde. Wenig später entnimmt Phillips dem Bücherregal Mallocks Roman, der sowohl ihm als auch Kitaj bis dato unbekannt gewesen ist (vgl. Phillips 2016, unpag. [S. 371f.]). In A Human Document wird die Liebesgeschichte zwischen Robert Grenville und Irma Schilizzi erzählt. Besonderheiten des Romans sind zum einen die einleitende Negation seines Status als solcher („The following work, though it has the form of a novel, yet for certain singular reasons hardly deserves the name.“ Mallock 1892, S. 1), und zum anderen die facettenreiche Erzählsituation, die das Buch als ein Sammelsurium unterschiedlicher Perspektiven auf eine Geschichte ausweist: Der Roman wird mit einer Einleitung eröffnet, in der der Erzähler schildert, wie er ein zu einem Album gebundenes Textkonglomerat von Gräfin Z. erhält.91 Die Gräfin weist die Textsammlung zunächst fälschlicherweise als fiktive Fortsetzung der historischen Tagebücher der Malerin Marie Bashkirtseff aus (vgl. ebd., S. 6), die postum im Jahr 1887 ediert wurden, sich erfolgreich verkauften und zum Gegenstand angeregter Diskussion wurden (zu den Tagebüchern Bashkirtseffs: Voigt 1997). Während der Erzähler das Album studiert, wird ihm bewusst, dass  







91 „It was a scrap-book in reality, not in appearance only; and its bulk was explained by the fact that its leaves were oft hick cartridge-paper, and that the manuscript, whose sheets varied in size and appearance, had been pasted on to these, with a liberal allowance of margin.“ Mallock 1892, S. 7.  

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E 2 Künstlerbücher

es sich bei dem vorliegenden Manuskript weder um reine Fiktion noch um ein homogenes Tagebuch handelt (vgl. ebd., S. 7): Es besteht aus diversen Textsorten, die von zwei unterschiedlichen Figuren – Robert und Irma – geschrieben wurden. Letztere kompilierte ihre und die Tagebucheinträge ihres Mannes sowie ihrer beider Briefe und weitere Schriftstücke zu einem Buch, um dessen weitere Bearbeitung und Veröffentlichung Gräfin Z. den Erzähler bittet. Nachdem der Erzähler das Gesuch der Gräfin annimmt, schließen sich die einzelnen Kapitel des Romans – im Kontext der Erzählung also das vom Erzähler bearbeitete Manuskript Irmas – an. Die von Irma und Robert überlieferten „fragments of actual life“ werden zwar vom Erzähler in einen kohärenten Zusammenhang überführt, das Fragmentarische des überlieferten Textkonglomerats bleibt jedoch für den Leser in der Heterogenität der Erzählsituation wahrnehmbar und erhebt vor dem Hintergrund dieses Variantenreichtums den Anspruch, ein ‚(lebens)echtes‘ Dokument darzustellen: „even if it is not a piece of literature, it is a piece of life: it is genuinely a human document.“ (Ebd., S. 24)  











Medienreflexion. Mallocks Roman regt den Leser zur medienreflexiven Auseinandersetzung an, indem literarische Genres und der Status des Buchs in der Einleitung aufgerufen und hinterfragt werden. Phillips’ Bearbeitungen von Mallocks Werk knüpfen hieran an und installieren als ‚work in progress‘ ein im Zeitverlauf stetig wachsendes intertextuelles Gefüge, das Inhalte innerhalb und außerhalb des Romans in A Humument integriert und gleichsam als bedeutsamer Bestandteil in Phillips’ weiteres Œuvre ausstrahlt: U. a. bilden die Bearbeitungen von Seiten aus Mallocks Roman ein Element in Phillips’ Künstlerbuch Dante’s Inferno (vgl. dazu Teil E 2.21). Bei diesen ‚treatments‘ traktiert Phillips den viktorianischen Roman Seite für Seite, indem er Mallocks Text überzeichnet bzw. übermalt und nur Fragmente ausspart, die sogenannten ‚rivers‘, die zusammengenommen als lyrisch anmutender Text rezipiert werden können. Die ‚rivers‘ erinnern an Sprechblasen und werden zuweilen auch als solche von Phillips eingesetzt. An ihnen verdeutlicht sich das Potenzial der bildlichen Anordnung von Text auf der Buchseite: Wie bereits die Bezeichnung ‚rivers‘ suggeriert, erfahren Mallocks Textfragmente durch Phillips’ Umrahmung eine Dynamisierung. Dieses ‚treatment‘ von Mallocks Roman kann als eine Art Genettescher „Transformation“ des Hypotextes interpretiert werden. A Humument ist fragmentierter Hypotext, der, in Gestalt von ‚rivers‘ lesbar, wiederum einen eigenen Hypertext erzeugt. Phillips’ dem viktorianischen Roman entnommene Texte oszillieren zwischen unterschiedlichen Stadien: Zum einen sind sie – dort, wo Phillips sie nicht überdeckt hat – identifizierbar als Teile von Mallocks Originaltext und dementsprechend fragmentierter Hypotext. Die Gruppierung von Wörtern und Wortteilen zu ‚rivers‘ hingegen erzeugt einen neuen, einen Hypertext, der mit Mallocks Vorlage auf mehreren Ebenen verbunden ist: Zum einen zeigt sich in Phillips’ ‚rivers‘ eine inhaltliche Nähe zu A Human Document, indem Hauptfiguren aus dem viktorianischen Roman in diese übernommen werden. Formal und materiell verweisen die ‚rivers‘ auf das Original, aus dem sie entstanden  





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

sind: Es sind dieselben Buchstaben an derselben Stelle wie auf der Originalseite.92 Phillips greift auf vielfältige Weise transformierend in den Text ein: Zum einen übermalt und überklebt er Bereiche der Buchseite, sodass es dem Leser zumeist erschwert bzw. zuweilen gänzlich verweigert wird, Mallocks Text zu rezipieren. Zudem bewirkt die Erweiterung des Mallockschen Figurenpersonals um den Akteur Bill Toge eine Transformation der inhaltlichen Ebene. Toge interagiert wiederum mit Figuren aus Mallocks Roman – intertextuelle Bezüge werden somit anhand des ‚Textmaterials‘ vorgeführt und angereichert. Die Übermalungen präsentieren sowohl Gegenständliches als auch Abstraktes. Dort, wo sie Dinge repräsentieren, scheinen die ‚rivers‘ im Zusammenhang mit dem Dargestellten zu stehen, wobei die Bilder nicht primär die ‚rivers‘ illustrieren; vielmehr scheinen die ‚rivers‘ das Bild zu kommentieren. Sie zeichnen sich dabei durch eine Offenheit aus, die sie anschlussfähig macht für Bezugnahmen auf weitere Inhalte des Werks – und darüber hinaus. Die bereits in der Einleitung von A Human Document herausgestellte Verschiedenheit der Texte bildet den fruchtbaren Ausgangspunkt für Phillips’ weitere Bearbeitungen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem einenden, Kohärenz suggerierenden Buchstatus und der Heterogenität der Perspektive und Textsorten wird durch Phillips’ Zugriff weiterentwickelt.  



Ästhetische Prinzipien. Ob Phillips’ eingangs wiedergegebene Geschichte der ‚Entdeckung‘ und Erwerbung von A Human Document authentisch ist oder nicht: Von primärer Bedeutung ist die Motivation des Künstlers, das eigene künstlerische Werk maßgeblich durch den Roman eines anderen beeinflussen zu lassen. Dezidiert stellt sich Phillips mit diesem aleatorische Züge aufweisenden Vorgehen in künstlerische Traditionen, die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzen und bis in Phillips’ Gegenwart virulent sind. In seinem Kommentar zu A Humument weist Phillips selbst auf künstlerische wie ideelle Vorgänger hin, in deren Kontext er sein Humument und bedeutende Teile seines weiteren Œuvres zu integrieren sucht:  

Like most projects that end up lasting a lifetime, my version had its germ in idle play. A relish of words plus the influence of William Burroughs’s and John Cage’s use of chance had already led me into casual experiments interfering with texts in the columns of The Spectator. I had indeed begun to toy with the idea of treating a book in the same fashion. Now the die was cast, the dice thrown: chance had become choice and a notion grown into an idea. (Phillips 2016, unpag. [S. 372])  

Bereits der Titel seines Werks spiegelt die Inspiration durch Burroughs’ Cut-up-Technik, mit deren Hilfe A Human Document zu A Humument kondensiert wird. Bedeutsam ist hierbei zum einen die weiterhin erkennbare Grundlage für Phillips’ Bearbeitung;

92 „Nor, more importantly (for otherwise the whole task would become too casual and easy) are there any but the smallest divergences from a general imperative that Mallock’s words should not be opportunistically shunted around: they must stay where they are on the page. Where they are joined to make some poetic sense or continuity of meaning, they are linked via the often meandering rivers in the typography.“ Phillips 2016, unpag. [S. 374].  

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zum anderen werden semantische und phonetische Potenziale durch die Komprimierung aufgerufen.93 Über den Hinweis auf den Würfelwurf gesellt sich zu den genannten Burroughs und Cage indirekt auch Stéphane Mallarmé, dessen Un coup de dés jamais n’abolira le hasard im Jahr 1897 veröffentlicht wurde (vgl. Teil A 6.7). Mallarmés coup de dés ist ein frühes Beispiel für moderne Visualdichtung, die auf das mit der Bildlichkeit von Schrift verknüpfte ästhetische Ausdrucksvermögen fokussiert. Mit bildlichen Qualitäten von Schrift experimentieren Buchkünstler im 20. und 21. Jahrhundert in vielfältiger Weise, so auch Phillips in seinem Humument und später in Dante’s Inferno. Als weiterer Impuls für buchkünstlerische Arbeiten im Allgemeinen und für Phillips’ Œuvre im Speziellen ist auch Mallarmés Idee des Buchs als etwas Allumfassendes, als ein Instrument, das die Welt enthält und in das alles, was auf der Welt existiert, eingehen wird.94 PH  

E 2.15 Jim Dine: The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde (1968) London: Petersburg Press, 1968. Text nach Oscar Wilde. 12 farbige Lithografien von Jim Dine. Druck: Im Atelier Desjobert und Atelier Leblanc, Paris. 38 Bl., gebunden, Bl.: 44 x 33 cm. Auflage: 500 Exemplare in 3 Editionen. Edition A: 200 Exemplare in rot-lila Samteinband mit Titel in Silber auf der Vorderseite, mit einer Folge von 6 vom Künstler signierten Lithografien; Edition B: 200 Exemplare in grünem Samteinband mit Titel in Silber auf der Vorderseite, mit einer Folge von 4 vom Künstler signierten Radierungen; Edition C: 100 Exemplare in Ledereinband mit einer Folge von 6 vom Künstler signierten Lithografien und 4 vom Künstler signierten Radierungen. Portfolio in 75 Exemplaren mit Radierungen, Lithografien und Text auf losem Japan-Vellum. Jedes Bild mit Collagen vom Künstler appliziert und von ihm nummeriert und signiert. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 220.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Ed. B, Nr. 96/200 der Sammlung der HAB.95  









Bezugstext: Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray (Roman, 1891)

Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray hat seit seiner Publikation 1891 eine große Popularität erlangt und vielfache Adaptionen in andere Medien erfahren. Der Roman wur-

93 „The book’s rechristening resulted from another chance discovery. By folding one page in half and turning it back to reveal half of the following page, the running title at the top abridged itself to A HUMUMENT, an earthy word with echoes of humanity and monument as well as a sense of something hewn; or exhumed to end up in the „muniment rooms of the archived world. I like even the effortful sound of it, pronounced as I prefer, HEW-MEW-MENT.“ http://www.tomphillips.co.uk/humument/introduction (20.04.2018). 94 „[…] tout, au monde, existe pour aboutir à un livre.“ Mallarmé 1998, S. 254. Vgl. Teil A 6.7. Zu Phillips’ Bezugnahme auf „Mallarmés Metaphysik und Eschatologie des Buches“ vgl. Ernst 2015, S. 190. 95 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial.  



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de in Theater-, Ballett-, Opern- und Filmfassungen transponiert, aber auch zahlreiche Hörspiel- und Comicadaptionen sind nach Wildes Textvorlage entstanden. Jim Dines Künstlerbuch The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde (1968) zeigt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Roman. Wildes Romanvorlage war Ausgangspunkt für eine Bühnenfassung, die aus der Zusammenarbeit von Jim Dine und Robert Kidd hervorging. Hierfür wurde der Originaltext gekürzt und teilweise umgeschrieben. Dine erarbeitete zudem Figurinen und Bühnenbild96, Robert Kidd sollte Regie führen. Zur Aufführung kam es jedoch nie. Deshalb machte die Petersburg Press den Vorschlag, das Typoskript der Bühnenfassung zusammen mit Dines überarbeiteten Skizzen und Bühnenbildentwürfen als Buch zu veröffentlichen (vgl. Schmied 1970, S. 7). Dines Künstlerbuch gibt nicht nur Aufschluss über die dramatisierte Fassung des Romans und die Überlegungen zu Kostüm- und Bühnengestaltung, sondern führt damit auch zum interpretativen Ansatz der Inszenierungsarbeit. Nachträglich erhält der Leser des Künstlerbuchs – als potenzieller Zuschauer der Inszenierung – Einblicke in die künstlerische Produktion. Neben dem abgedruckten Text finden sich Notizen, kreuz und quer über die Textseiten verteilt, als Randnotizen oder Zwischenbemerkungen, Skizzen des Künstlers wie auch originale Textausschnitte aus Wildes Roman. So wird eine Metaebene des Verstehens eröffnet, Einblicke in den Produktionsprozess werden gewährt. Der Leser findet Dines Hinweise an die Theaterwerkstätten97 wie auch die Anweisungen an die Druckerei, die den Druck des Künstlerbuchs betreut (einzelne Zeilen des working script wurden durchgestrichen und mit dem Hinweis versehen: „put on next page/too low to be printed J D“; andere wurden markiert mit: „print in small letters“). Das Künstlerbuch ist ein Arbeitsbuch („a working script“): als Text- und Memorierbuch innerhalb des vorgesehenen künstlerischen Prozesses und als Auftragsbuch für die Druckerei. Obgleich das Stück nicht aufgeführt und das working script seinem ursprünglichen Verwendungszweck nicht zugeführt wird, könnte es zumindest Inszenierungsideen in der Imagination des Lesers auslösen.  





Bühnenfassung des Romans. Die von Kidd und Dine erarbeitete Bühnenfassung bietet einen Überblick über die dramaturgischen Höhepunkte der Geschichte von Dorian Gray. Im Atelier des Malers Basil Hallward steht Dorian Modell. Von den Äußerungen des Dandys Lord Henry Wotton verführt, der „einem schamlosen Hedonismus und Non-

96 Harriet Watts informiert: „Jim Dine hatte die Vorarbeiten für die geplante Inszenierung zwischen November 1967 und Februar 1968 geleistet. Also unmittelbar nach seinem ersten Theaterprojekt, dem Sommernachtsraum von Shakespeare [unter Regie von John Hancock, M.S.], einer umstrittenen Neuinszenierung […]. Auch die Entwürfe zum Sommernachtstraum sind später veröffentlicht worden.“ H. Watts, in: Haenlein 1989, S. 133. 97 Beispielsweise werden Maße für den Bau des Wandschirms angegeben, der (anstelle eines schützenden Stoffes) vor dem Portrait Dorians aufgestellt werden soll; auch eine Skizze für eine eigenwillige Lampen-Konstruktion in Form eines Baumes, die sog. „Treelamp“, ist an entsprechender Stelle neben dem Text platziert.  



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konformismus mit provozierenden Aphorismen das Wort redet“ (Brosch 2009, S. 432) und die Zeit der Jugend glorifiziert, schwört Dorian, alles dafür zu tun, um die auf seinem Portrait festgehaltene Schönheit auf ewig behalten zu können. Anstelle seiner solle das Bild altern; dafür sei er bereit, seine Seele zu verpfänden. Der Handel gelingt; durch ihn verliert Dorian nach und nach sämtliche moralischen Hemmungen und führt ein rücksichtsloses, ausschweifendes Leben, das allein auf Genuss ausgelegt ist, außerhalb gesellschaftlicher Regeln und Konventionen. Allein das Bild verzeichnet diese Spuren des körperlichen und ethischen Verfalls, er selbst bleibt über 20 Jahre lang in der Gestalt des einst portraitierten Jünglings. Die Schönheit der physischen Erscheinung ist nur ein Aspekt des Ästhetik-Diskurses, den Lord Henry und Dorian (auch in Anlehnung an das verehrte „gelbe Buch“, À rebours [1884], von Joris-Karl Huysmans) führen und der auf eine totale Ästhetisierung der Welt zielt: eine (dekadente) Weltsicht, die in dieser Übersteigerung bewusst einer anti-bürgerlichen, anti-moralischen und anti-realistischen Haltung entspricht. Dine reflektiert dies als Bühnen- und Kostümbildner wie als Buchkünstler, veranschaulicht und hinterfragt es aber auch.  

Buchmaterielles. Dines Buch der Edition B ist in sehr auffälligen weichen, kaltgrünen Samt eingebunden,98 in den mit silberfarbenen großen Lettern der Titel eingeprägt wurde. Dies erinnert an reich ausgeschmückte Klassikerausgaben, knüpft aber auch an die ausschweifenden Beschreibungen der extravaganten Zimmerausstattung und der luxuriösen Gegenstände Lord Henrys und Dorians an.99 Doch bereits die verwendete krakelige Schrift scheint diesem Eindruck etwas entgegensetzen zu wollen. Aufgeschlagen überrascht das Buch noch mehr: Sein Inneres besteht aus recht einfachem druckbeständigem Papier mit einem maschinengetippten Text. Das Arbeitsbuch wird ausdrücklich als pragmatisches Hilfsmittel präsentiert. Auf den schönen Schein, der Dorian und Lord Henry so wichtig ist, wird ebenso angespielt wie darauf, dass er trügen könnte. Das dünkelhafte Auftreten des mode- und schönheitsbewussten Lord Henry und Dorian Grays wird in exzentrischen Kostümen und in ausgefallenen Einrichtungsgegenständen inszeniert: zum Teil in großformatigen Grafiken, die ganze Buchseiten einnehmen, oder in kleineren Skizzen, die sich in Verbindung mit handschriftlichen Notizen in Nähe des Textes finden. Eine der ersten Lithografien zeigt in wenigen, nur andeutenden Strichen Dorian Gray in Hose und Hemd (siehe Abb. E 2/8). Wie es bei Kostümzeichnungen oft der Fall ist, sind nur diejenigen Körperteile ausgeführt, die die Figur in ihrer Statur andeuten und die Besonderheit des Kostüms zeigen. Hemd und Hose sollen aus blauem Stoff sein, am auffälligsten jedoch  

98 Von Dine wurden insgesamt drei Editionen (A-C) konzipiert, siehe oben, Druckvermerk. 99 Ebenso steigert eine weitere Beigabe, eine kleine Suite von 4 Radierungen (in der Edition B), den Exklusivcharakter des Buches. Wie eine Zugabe auf der Bühne werden hier eigenständige grafische Arbeiten dem Buch mitgegeben – anders als es der pragmatische Charakter des Buches erlaubt, treten die Bilder in ihrer Bildhaftigkeit stärker hervor und ermöglichen auch eine andere Handhabung; sie können vom Leser einzeln in die Hand genommen oder sogar gerahmt werden.  

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soll der übermäßig lange vielfarbige Schal sein, der laut einer Notiz von Dine in den Farben des Regenbogens zu leuchten hat. Am rechten Seitenrand ist ein kurzer Buntpapierstreifen angebracht, der dies illustriert, aber auch als Schmuckelement im Buch dient. Auf dem Schulterbereich des Hemdes werden Schmucksteine sichtbar, die in ihrem Glitzern die aufsehenerregende Erscheinung Dorians bekräftigen. Dine zufolge sollen die (unechten) Schmucksteine von Woolworth bezogen werden, einer Einzelhandelskette mit Artikeln des unteren bis mittleren Preissegments. Der edle Kleidungsstil wird von Jim Dine konterkariert. Die Kostüme büßen nichts an Exklusivität ein, doch sollen sie nicht aus hochwertigen Stoffen, sondern aus Kunst(faser)stoffen gefertigt werden.100 Ein Abendoutfit von Dorian („he wears it to go out with Henry“) könnte aus einen Mantel aus frei beweglichen farbigen Vinyl-Streifen bestehen, die durch eine Art Kettenring eng am Hals zusammengehalten werden.101 Robert Kidd und Jim Dine denken die Hauptfigur und die Ästhetisierungsdebatte konsequent weiter. Sie konzipieren Dorian noch immer als Narzissfigur, die in ihrer Selbstverliebtheit vor allen Dingen auf ihr Äußeres bedacht ist, und verstärken diese Perspektive sogar noch. Indem billige Materialien verwendet werden, führen Produkte einer Massenfabrikation jene übersteigerte Künstlichkeit vor Augen, die Lord Henry und Dorian in ihren Gesprächen diskutieren und anstreben. Die ‚Semantik‘ des Bühnen- und Kostümbilds. Dorians rücksichtslose Selbstentfaltung (siehe Pfister 1989, S. 254–268), die der Roman problematisiert, zeigt sich deutlich an einer Stelle im Textbuch. Nach anfänglicher Verliebtheit in die Theaterschauspielerin Sybil wendet sich Dorian in jenem Augenblick vehement von ihr ab, als sie von der angebeteten Kunstfigur, die allabendlich als Shakespeares Julia auf der Bühne steht, plötzlich zu einem ganz normalen Mädchen wird. Er findet nur noch kalte Worte für sie. Zunächst beschäftigt ihn seine Grobheit, doch Lord Henrys äußerst klug lancierte Gedanken über die Gefährlichkeit der Ehe und die der Frauen im Allgemeinen, deren Bedrohlichkeit vor allem in der gefürchteten Langeweile eines (Ehe-) Alltags besteht, lassen Dorians Unbekümmertheit zu einem gefühlskalten Verhalten anwachsen.102 Gestalterisch wird dieser Gewissenskonflikt nicht gespiegelt, aber für  

100 „Dine kleidete seine Figuren nicht im zeitgenössischen Stil der Jahrhundertwende, sondern wie Peter Eyre, der die Rolle des Lord Henry hätte übernehmen sollen, es ausdrückte, in moderne phantasievolle, reiche Kostüme, die ‚die narzißtische und fast fetischisierende Begeisterung über Kleidung in den Jahren 1967/68 bewußt machen‘.“ Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 220. Siehe auch: Kat. Ausst. 1970b. 101 Im Buch wird Dorians Streifen-Gewand auf dünne Folie gedruckt, die sich über ein Blatt Papier legt, auf dem die Zeichnung von Kopf, Schulterpartie und Dorians linkem Arm angedeutet sind. Diese Folienseite ist ein weiteres Element, das neben der visuellen zu einer abwechslungsreichen haptischen Erfahrbarkeit des Künstlerbuches beiträgt. 102 An der betreffenden Textstelle im ‚working script‘ sagt Dorian: „I don’t feel as I think I ought to feel. I don’t feel anything really. Do you think I’m heartless?“/Harry: „No.“/Dorian: „No. I’m not. But this doesn’t affect me as it should. It has all the terrible beauty of a Greek tragedy, a tragedy in which I took a great part, but by which I have not been wounded.“ (Dine 1968, S. 1-8-19)  



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den Leser-Betrachter des Textbuchs über Kostüm- und Bühnenbildskizzen anschaulich gemacht. In provozierender Weise findet sich neben dem Text eine Skizze zu einem Einrichtungsgegenstand von Dorians Zimmer (siehe Abb. E 2/9). Dorian soll auf einer goldenen Couch sitzen, während Lord Henry ihm die Nachricht eröffnet. Weiter unten auf der Buchseite findet sich ein Detail für das Kostüm von Lord Henry: die Zeichnung eines Hosenbeins, um das zum Schmuck mehrere Bänder verknotet werden. Auch die Zeitungsanzeige der „gerichtlichen Untersuchung der Todesursache einer Schauspielerin“,103 die über Sybils Tod als Unglücksfall berichtet (und indirekt Dorian freispricht), fügt Dine hier als Textcollage ein. Damit werden Dorians radikale Ich-Bezogenheit und Genusssucht signalisiert. Der kurze Moment der moralischen Selbstbefragung als Reaktion auf die Nachricht von Sybils Tod wird von den Vorbereitungen zu einem Opernbesuch abgelöst. Demonstrativ gibt Dine in Bezug zu Textstelle und Zeitungsausschnitt zeichnerische Vorschläge zu weiteren Requisiten- und Kostümdetails und unterstreicht Dorians selbstbezogenes und gewissenloses Verhalten. MSch  

Abb. E 2/8: Jim Dine: The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde. London 1968. (Die Farblithografie zeigt Dorian mit „multi rainbow scarf“.)  



103 „INQUEST ON AN ACTRESS. – An inquest was held this morning at the Bell Tavern, Hoxton Road, by Mr. Danby, the District Coroner, on the body of Sibyl Vane, a young actress recently engaged at the Royal Theatre, Holborn. A verdict of death by misadventure was returned. Considerable sympathy was expressed for the mother of the deceased, who was greatly affected during the giving of her own evidence, and that of Dr. Birrell, who had made the post-mortem examination of the deceased.“ (Ebd., S. 1-8-19) Nicht nur hier, an mehreren Stellen im Buch werden zur atmosphärischen Rückbindung an den Ausgangstext unterschiedlich lange Passagen von Wildes Roman zitiert – angedacht für das Produktionsteam, nun für den Leser des Künstlerbuchs.  





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Abb. E 2/9: Jim Dine: The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde. London 1968. (Textseite mit Skizzen und Annotationen von J. Dine)  



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E 2.16 David Hockney: Six Fairy Tales from the Brothers Grimm (1970) London: Petersburg Press in Association with the Kasmin Gallery, 1970. Texte: sechs Kinder- und Hausmärchen der Sammlung der Brüder Grimm. 39 Radierungen von David Hockney. Druck: Radierungen von Piet Clement, Amsterdam; Text von Vivian Ridler, University Press, Oxford. 31 Bl., gebunden, Bl.: 45 x 30,7 cm. Auflage: 4 Auflagen von je 100 Exemplaren + 15 artist’s proofs, alle Exemplare mit je 6 Märchen und 39 Radierungen und vom Künstler signiert und nummeriert. Jedes Exemplar der jeweiligen Auflage mit 6 losen, vom Künstler signierten und nummerierten Radierungen in einem Umschlag; jede Auflage mit einer unterschiedlichen Folge von Radierungen. 100 Portfolio mit 15 artist’s proofs, signiert und nummeriert. Buch und Mappe mit den Radierungen in blauem Ledereinband bzw. -umschlag von Rudolf Rieser, Köln. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 230.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Ed. A, Nr. 79/100 der Sammlung der HAB.104  









Bezugstexte: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (hg. 1812–1858)

Jacob und Wilhelm Grimms berühmte Sammlung der Kinder- und Hausmärchen ist laut dem Erzählforscher Heinz Rölleke das meistaufgelegte, bestbekannte und am häufigsten übersetzte deutschsprachige Buch aller Zeiten […]. Wie kein zweites Buch bilden Grimms Märchen weltweit ein Anspielungsreservoir für Werbung, Film und Bebilderung, aber auch für Parodien sowie für andere Medien aller Art, besonders für die (moderne) Literatur. (Rölleke 2009, S. 615)  

Der Erfolg der Kinder- und Hausmärchen ist dabei auch in der immer wieder neugestalteten Verbindung zwischen Text und Bild zu suchen.105 Auftakt für eine bis heute anhaltende Illustrationsgeschichte ist die zweite Auflage (1819), die mit zwei Illustrationen von Ludwig Emil Grimm ausgestattet wurde. Hierbei handelt es sich um eine Darstellung zum Märchen Brüderchen und Schwesterchen und um das Porträt der ‚Märchenfrau‘ Catherina Dorothea Viehmann (vgl. Freyberger 2009, S. 55–58). 140 Jahre später beschäftigt sich der amerikanische Künstler David Hockney (*1937) mit Grimms Märchen. Schon zu Beginn der 1960er Jahre hatte Hockney eine einzelne Radierung zu dem Märchen Rumpelstilzchen angefertigt. Mit dem Gründer der Petersburg Press, Paul Cornwall-Jones, wurde daraufhin ein ganzes Buchprojekt beschlossen: Hockney sollte eine Auswahl von Märchen der Brüder Grimm illustrieren. Zwischen Mai und September 1969 zeichnete er 39 Radierungen (vgl. Hernad, in:  

104 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. 105 „Das Aufkommen neuer Reproduktionstechniken besonders seit den 1820er Jahren ermöglichte eine stärkere und preisgünstigere Bebilderung, was zu einer massenhaften Verbreitung bebilderter Märchenausgaben führte, wie sie dann vor allem, verbunden mit neuen Vermittlungsinstanzen, seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachten war.“ Uther 2008, S. 519; siehe auch Freyberger 2009.  





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dies./Maur 1992, S. 230) zu den sechs von ihm ausgewählten Märchen.106 1970 erscheint Six Fairy Tales from the Brothers Grimm in der Gestalt eines großes Vorlesebuchs – was Maße (45 × 30,7 cm), Ledereinband und die Buchseiten mit ihrem dicken, griffigen Papier sowie die reiche Bebilderung angeht (es gibt Radierungen, die ganze Seiten füllen, ober- und unterhalb des Satzspiegels platziert sind; andere finden sich als Bild-Zwischenkommentar innerhalb des Fließtextes). Ganz ausdrücklich verweist es auf den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Märchen und deren Sammelgeschichte: Als Frontispiz stellt Hockney dem Buch ein imaginäres Porträt der Erzählerin Catherina Dorothea Viehmann voran, die die Grimms mit einer Reihe von Märchentexten vertraut gemacht hatte (vgl. dazu Wilhelm Grimm im Vorwort zur 2. Auflage (1819) der Kinder- und Hausmärchen; Grimm/Grimm 1819, S. XI–XII).  











Keine Nacherzählung. Hockney interessiert sich nicht für eine Nacherzählung des jeweiligen Märchentextes, er greift einzelne Erzählmomente und -sequenzen heraus oder führt Bilder aus, die der Text sprachlich bloß umreißt und die ihn gestalterisch reizen (vgl. Glazebrook 1970, S. 17). Dabei gerät die Zeichnung jedoch nicht zum Selbstzweck, sie stärkt die Imaginationskraft des Lesers und hebt die narrative Relevanz ausgewählter Motive heraus. Die sechs Radierungen zu Rumpelstilzchen dokumentieren Hockneys Blick auf das Märchen. Nur ein Teil der agierenden Figuren ist dargestellt. Ähnlich wie in seiner Malerei interessiert Hockney „bei der Grafik […] trotz erkennbarer Motive nicht die realistische Wiedergabe der Figur, sondern das Verhältnis der Figur zur Fläche“ (Kling 2008, S. 73). So ist weder der prahlerische Müller zu sehen, der vorgibt, seine Tochter könne Stroh zu Gold spinnen, noch der goldgierige König. Allein die Müllerstochter und das „Männchen“ begegnen sich auf den Bildern. Beliebte Motive107 früherer Illustrationen umgeht Hockney; die Stunde der Not, in der die Müllerstochter allein in der mit Stroh angefüllten Kammer sitzt, stellt er nicht dar. Das Männchen, das der Müllerstochter bei der schier unlösbaren Aufgabe zu Hilfe kommt, wird nicht beim Spinnen gezeigt. Noch auf einer Studie aus dem Jahr 1961 Study for Rumplestiltskin108 sind die Figur des Königs, Spinnrad und Spule im entsprechenden ‚Bühnenbild‘ zu sehen: Hohe Raumbögen deuten eine Schlossumgebung an. Die Radierungen, die im Künstlerbuch 1970 veröffentlicht werden, erfahren eine neue Ausrichtung. Hockney gibt hier einem  



106 Dies sind: The little sea hare (Das Meerhäschen), Fundevogel, Rapunzel, The boy who left home to learn fear (Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen), Old Rinkrank (Oll Rinkrank) und Rumpelstilzchen. Der Text geht auf die in Zürich erschienene Originaledition des Manesse-Verlages zurück, aus der im Folgenden zitiert wird: Helbling 1946, S. 383–387. Die Übersetzung lieferte Heiner Bastian in Berlin. 107 Rumpelstilzchen vor seinem Häuschen im Wald, am Feuer tanzend (Fritz Kredel, 1940)/Variation: Bote des Königs beobachtet tanzendes R. (Paul Hey, 1912); R. vor dem Spinnrad mit Prinzessin/Königin am Kinderbett (Grete Wolfinger, 1925); R. im Königssaal mit Königin und Gefolge zur Namensverkündung (George Cruikshank, 1823), in Freyberger 2009, S. 490, 338, 393, 61. 108 Study for Rumpelstiltskin umfasst eine Serie von vier Radierungen, publiziert bei Petersburg Press, London 1972. Die genannte Studie führt der Katalog David Hockney: prints 1954–1995 unter der Nummer 11. (Kat. Ausst. 1996b, S. 47)  





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anderen ‚Akteur‘ Vorrang und beschäftigt sich vor allem mit der Darstellung des Strohs. Wie auf einer Werbetafel ist gegenüber dem Text – unterhalb einer knäuelartigen Verdichtung von Strohhalmen – das Endprodukt des metamorphotischen Zaubers dargestellt: Ein kleiner Quader, der mit dem Schriftzug „Gold“ versehen wurde; um ihn sind einzelne Strohhalme strahlenförmig angeordnet und zeigen wie in einem Cartoon die Leuchtkraft des Goldbarrens an. Hockneys Grafik könnte als eine zeitgenössische Kapitalismuskritik gelesen werden. Folgenden Sätzen des Originaltextes widmet sich Hockney intensiv: Wenn es heißt, die Müllerstochter werde Tag für Tag in eine Kammer geführt, die „ganz voll Stroh lag“ (Helbling 1946, S. 383), dann in eine „andere Kammer voll Stroh“ (ebd., S. 384) und zuletzt in „eine noch größere Kammer voll Stroh“ (ebd., S. 385), ist auf einer Radierung ein Zimmer mit hoch aufgetürmtem Stroh zu sehen (siehe Abb. E 2/10); Hockney ist es nicht wichtig, das Bild einer mittelalterlichen Burgkammer zu zeigen. Das Stroh liegt in einem mit Dielen ausgelegten hohen Wohnraum mit hohem Fenster, das die Sicht nach ‚Draußen‘, auf einige Baumzweige zulässt. Auf der gegenüberliegenden Textseite folgt eine Detailstudie. In Nahaufnahme zeigen zwei kleinere Häufchen „Straw on the Left, Gold on the Right“, also ‚Vorher und Nachher‘ der zauberischen Umwandlung von Stroh zu Gold, die weiche Textur des Strohs und die harte Spanstruktur des Metalls.  











Eigenständige Bildfindungen generieren neue Interpretationsmöglichkeiten. Hockney rekonstruiert nicht die Aktionen des Märchenpersonals und konzentriert sich nicht auf die Charakteristik der auch im Märchen unscharf dargestellten Personen. Als Dreh-und Angelpunkt der Geschichte inszeniert Hockney das Stroh. Indirekt vermittelt die furchteinflößende Menge an Stroh gleichzeitig die Angst des Mädchens, die Habgier des Königs und die zauberischen Fähigkeiten des kleinen Männchens. Eine schärfere Kontur erhält lediglich das Rumpelstilzchen selbst. Es ist mit der Müllerstochter zu sehen, die bereits Königin und Mutter geworden ist und nun ihr Versprechen einhalten soll. Sie sitzt in leicht gebückter Trauerhaltung und weint.109 Rumpelstilzchen streckt die Arme in Richtung Königin aus, das Einlösepfand, ihr Kind verlangend. Die sparsame Raumgestaltung und die Königin als Umrissfigur lenken schnell den Blick auf die komplexer ausgeführte Figur des Rumpelstilzchens. In der Übersetzung von Heiner Bastian wird anders als im Originaltext der Grimms, wo von einem „kleinen Männchen“ oder einem „Männlein“ (Helbling 1946, S. 384) die Rede ist, neben der wortwörtlichen Übertragung „a little man“ auch von einem „strange little fellow“ gesprochen. Und tatsächlich macht sich Hockney ein anderes Bild von  

109 Lutz Röhrich charakterisiert die Figur: „Sie ist eine rein passive Gestalt, deren Haupttätigkeit das Weinen und Klagen über ihr Schicksal ist. Widerspruchslos nimmt sie Vater, Mann und Rumpelstilzchen in ihrem Leben hin.“ – „Nur einen Zufall, nicht eigener Intelligenz und Leistung verdankt sie es, daß der Name Rumpelstilzchen gefunden wird. In beiden Proben löst die Müllerstochter nicht selbst die ihr gestellte Aufgabe, weder das Spinnen noch das Namenerraten. […] Unredlichkeit und unmoralisches Handeln spielen in diesem Märchen eine unverhältnismäßig große Rolle.“ Röhrich 2002, S. 294.  



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Rumpelstilzchen als andere Illustratoren vor ihm, deren Bild des schmächtigen, zwergenähnlichen Männleins sich in das Bildgedächtnis eingeprägt hat. Auch bei Hockney ist es von kleinem Wuchs, aber buckelig und am ganzen Körper mit wuscheligem Kurzfell überzogen. Das Gesicht ist stoppelig und mit vielen Warzen besetzt, aus der Nase wachsen ebenfalls Haare. Eigenartig ist, dass es hier wie in der darauf folgenden Radierung still, geradezu besonnen wirkt: Auf einem überdimensional großen Löffel scheint es über züngelnden Flammen110 zu reiten, jedoch wirkt es dabei wie in sich versunken und zeigt keine emotionale Regung. Es ist kein Rumpelstilzchen, das mit böser Freude um das Feuer tanzt und sich hinterhältig über das Unglück der anderen freut, wie es in vielen Illustrationen zu finden ist.111 Auch wenn der Künstler kein grundlegend neues Bild von Rumpelstilzchen entwirft, fügt er ihm doch andere Schattierungen hinzu. Dass im gesamten Märchen durchweg unaufrichtig und betrügerisch gehandelt wird, kommt nicht ausdrücklich zur Sprache: Die Erzählkonstruktion kennt nur einen Übeltäter und deshalb muss das Rumpelstilzchen als „einziges Wesen die Zeche bezahlen“ (ebd.). Auch bei Hockney ist es allein Rumpelstilzchen, das für sein unmoralisches Handeln bestraft wird – oder sich selbst bestraft. Die letzte Radierung bringt innerhalb einer vierteiligen Bildserie die letzten Sätze112 des Märchens zur bildnerischen Ausformulierung: mit einer veränderten, noch rabiateren Form der körperlichen Selbstbestrafung (siehe Abb. E 2/11). Von Bild zu Bild verfolgt der Betrachter, wie sich das Rumpelstilzchen nicht in zwei, sondern in mehrere Stücke zerreißt; alle Gliedmaßen werden voneinander getrennt und selbst das Gesicht in seine Einzelteile zerlegt. Die Körperteile ‚schweben‘ zertrennt im Bildraum. MSch  



110 ‚Rumpelstilzchen reitend auf einem Kochlöffel‘ ist ein Motiv, das andere Textvarianten entwerfen, auf die auch die Grimms hinweisen. Siehe dazu die Anmerkungen zu weiteren Erzählvarianten des Märchens im Anhang des ersten Bandes der Erstausgabe von 1812: „Auch wird das Männchen anders entdeckt. Eine Magd der Königin geht Nachts hinaus in den Wald, da sieht sie es auf einem Kochlöffel um ein groß Feuer herum reiten etc. Zuletzt fliegt auch das Männchen auf dem Kochlöffel zum Fenster hinaus.“ In: Grimm/Grimm 1996, S. XXXV. 111 Siehe die Illustration von Philipp Grotjohann, in: Brinek 1993, Umschlagillustration. Vgl. die Textstelle bei Grimms: „Vor dem Haus brannte ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie.“ Helbling 1946, S. 386. 112 ‚„Das hat dir der Teufel gesagt! das hat dir der Teufel gesagt!‘ schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich mitten entzwei.“ Helbling 1946, S. 387.  





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Abb. E 2/10: David Hockney: Six Fairy Tales from the Brothers Grimm, Rumplestiltskin. London 1970.  



Abb. E 2/11: David Hockney: Six Fairy Tales from the Brothers Grimm, Rumplestiltskin. London 1970.  



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E 2.17 Alain Robbe-Grillet/Robert Rauschenberg: Traces suspectes en surface… (1972–1978) West Islip: Universal Limited Art Editions, 1978. Text von Alain Robbe-Grillet. Lithografien von Robert Rauschenberg. 36 Doppelbl., ungebunden, Bl.: 69 x 52,1 cm. Druck: Text und Lithografien von John A. Lund und James U. Smith, New York, auf Twinrocker-Büttenpapier. Auflage: 36 Exemplare. Alle Doppelblätter, ausgenommen Titelblatt und Blätter des Kolophons, vom Autor signiert und nummeriert und vom Künstler signiert und datiert. Kassette mit rotem Leinenbezug. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 254.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 18/36 der Sammlung der HAB.113  









Bezugstext: Alain Robbe-Grillet: Traces suspectes en surface… (Text für das Buchprojekt)

Das Impressum in Künstlerbüchern informiert über Verlag, Auflage, drucktechnische Details und Besonderheiten der verwendeten Materialien und Texte wie auch über die ausführenden Druckerwerkstätten und Pressen. Im Buch Traces suspectes en surface… des Schriftstellers Alain Robbe-Grillet (1922–2008) und des bildenden Künstlers Robert Rauschenberg (1925–2008) findet sich im Kolophon ein Hinweis, der dem Künstlerbuch eine Lesart beigibt: „Book is exchange with image and text.“ Vorgegeben wird, dass Text und Bilder in einem Austauschverhältnis stehen. Naheliegend scheint die Überlegung, dieser Austausch, laut Béatrice Hernad eine „tiefe Interaktion“ (Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 258), laut Harriett Watts eine „intensive Verbindung“ (Watts, in: Haenlein 1989, S. 150), sei auch für die Buchgenese konstitutiv gewesen. Auf Anregung der Verlegerin Tatyana Grosman, die nach einer Lesung Robbe-Grillets dessen Interesse an Rauschenbergs künstlerischem Werk erkennt und beide Künstler zu einem gemeinsamen Buchprojekt bewegen kann, werden in den Jahren zwischen 1972 und 1976 Vorschläge zwischen Paris und West Islip (Long Island) hin und her geschickt. Robbe-Grillets Textseiten, die zunächst zu Grosman gelangen, sind Ausgangspunkt für Rauschenbergs Bildarbeiten, die er dem Text beigibt. Die so entstandenen Buchseiten werden wiederum als Inspirationsquellen für nachfolgende Kapitel nach Paris geschickt (vgl. Sparks 1989, S. 447). Zumindest auf den ersten Seiten scheint das quantitative Verhältnis von Text(teilen) und Bildern ausgeglichen, thematische Anleihen finden sich und auch räumlich treten beide Medien in einen Dialog.  





Inszenierung der Text- und Bildoberfläche. Wie das Text-Ich vom Gang durch eine Stadt berichtet, die in Trümmern liegt, so hat der Leser einen bruchstückhaften Bericht vor sich. Robbe-Grillets Schreiben, repräsentativ für den Nouveau Roman114, 113 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. 114 So findet sich laut Ernstpeter Ruhe, der auf die Lektüre von Jacques Leenhardt verweist, die „für den Nouveau Roman typische Infragestellung des traditionellen, von der referentiellen Illusion geprägten récit, dessen mimetischer Gestus der Deskription durch den der Konstruktion aus den nach der Zer-

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wendet sich ab von einer konventionellen Erzählform. Die Textproduktion wird selbst zum eigentlichen Thema: die von (Spiel-)Regeln geleitete Konstruktion eines TextRaums ohne zeitliche und inhaltliche Kontinuität, mit einem Hang zur Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit (vgl. Robbe-Grillets Essay Pour un nouveau roman, 1963). Hinweise – mehr Andeutungen als Beschreibungen – konstruieren u. a. eine nahezu verlassene, kriegsversehrte, geräuschlose Stadt („Mais il n’y a plus rien, ni choc, ni craquement, ni rumeur lointaine, ni le moindre contour encore discernable […].“ Robbe-Grillet/Rauschenberg 1978, unpag.), in der temporale Gesetzmäßigkeiten aufgehoben zu sein scheinen („C’est le matin, c’est le soir“, ebd.). Das Gehen durch diese Stadt ist für das Ich vor allem ein Schauen. Es entstehen einzelne ‚Textbilder‘, Stadtansichten, die miteinander verbunden und in filmischer Manier mit Szenen eines Verbrechens überblendet werden. Nach und nach werden Anhaltspunkte, Spuren115 einer Gewalthandlung aufgedeckt; unscheinbare Szenen fügen sich zu einer unerwarteten Sequenz. Das Bild eines sich still kämmenden Mädchens, in dessen unmittelbarer Nähe ein junger Mann ausgestreckt liegt, wohl nach einer gemeinsamen Nacht noch ruhend, verändert sich abrupt, wenn sich in einem weiteren Textbild der ruhende Körper als Leichnam erweist, aus dessen Wunden das bereits trocknende Blut quillt. Doch wird hier keine Geschichte erzählt. Aneinandergesetzte Textfragmente verhindern die illusionistische Wirkung einer Erzählung.116 Indem einzelne von ihnen sich mehrfach wiederholen, wird der Leser mit der ‚Oberfläche‘ des Textes, mit seinem Wortmaterial konfrontiert.117 Rauschenbergs besonderes Transferdruckverfahren, das Frottage und Monotypie miteinander verbindet (H. Watts, in: Haenlein 1989, S. 150), korrespondiert damit. Die daraus entstandenen „tonig verblichene[n]“ (von Maur 1992, S. 48) Lithografien sind ‚Abdrucke‘ vorgefundenen fotografischen Materials; sie oszillieren zwischen Fotografie und Zeichnung. Die durch den Abrieb/Abdruck erzielte Unschärfe befördert Unwägbarkeiten und Ambiguitäten, der Referenzcharakter der  











störung des alten narrativen Ideals übriggebliebenen Fragmenten ersetzt wird.“ Ruhe 1984, S. 485; vgl. Leenhardt 1978, S. 133–140. 115 Der Titel (zu dt.: ‚auffällige bzw. verdächtige Spuren auf der Oberfläche…‘) ist eine Phrase, die im Polizeijargon Verwendung findet: „The title is police jargon, loosely meaning that things are not as they seem.“ Dies gibt M. L. Kotz zu „Traces suspectes en surface“ innerhalb ihrer umfangreichen Darstellung und Besprechung des Rauschenberg-Œuvres zu bedenken (Kotz 1990, S. 148). 116 Ruhe hebt Robbe-Grillets Darstellungsform hervor, die die Herstellung von Wirklichkeitsbildern vermeidet, und betont den metasprachlich verfassten Text: Es „werden Bilder evoziert […], die aber in Gegensatz zur traditionellen Konzeption von Bildern nicht nur nichts mit Realität und Erlebnis zu tun haben werden, sondern nur Bilder von Bildern sein werden, deren ‚realistische‘ Perspektive optische Täuschung (trompe-l’oeil) ist […].“ Ruhe 1984, S. 487. 117 Die Repetition von Textelementen wie z. B. „avant de m’endormir“ oder „mais il n’y a plus rien“ generiert Autoreferentialität. Noch komplexer ist die repetitive Komposition von Textzitaten in RobbeGrillets Buch Topologie d’une cité fantôme (1976), dessen Textmaterial sich zu einer „intertextual assemblage“ aus Traces suspectes en surface…, sowie weiteren Roman- und Filmtexten zusammensetzt (siehe dazu Morrissette 1978, S. 1–14).  













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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Fotografien wird stark reduziert. So gibt es Anspielungen auf ruinöse, kriegsversehrte Stadtansichten, wie sie sich auch im Text finden. Auch für die „Spur“ als solche findet Rauschenberg Bildübersetzungen. Auf dem ersten Blatt z. B. wird exponiert die Profilseite eines Reifens gezeigt (siehe Abb. E 2/12). Dieses Bild ist weniger als Darstellung eines Fahrzeugreifens zu verstehen denn als Abdruck. Der fragmentierte Abdruck eines Gebäudes oder einer Mauer – eindeutig lässt sich dies nicht sagen – ist in schwarz-weißen Tönen daneben aufgebracht und wird teilweise von einem gelb lasierten Farbfeld überlagert, das jegliche Konturen verwischt. Rauschenberg legt einzelne Spurenbilder übereinander: Die brüchig-weiche, kreideartige Wirkung der Lithografien vermittelt zusammen mit den flüchtig entworfenen Textbildern einen Eindruck des Ephemeren. Robbe-Grillet schreibt manuell den Text über die Grafiken. Dass die Schrift auf anderen Buchseiten teilweise in Farbverläufen ausdünnt bzw. sich verändert (von dunkel zu hell, schwarz zu grau, oder auch rot zu blau), verstärkt diesen Eindruck. Auch Fehler werden nicht ganz gelöscht, sondern nur durch Durchstreichen berichtigt. Ab Mitte des Buches gibt es ein Ungleichgewicht zwischen Text (teilen) und Bildern. Neben einiger weniger ‚Bild-Seiten‘ wird eine Reihe von Buchseiten vollständig von einem ‚Textmassiv‘ eingenommen, die Gestaltung bleibt zurückhaltend, äußert sich allein vermittels eines Farbwechsels der Schrift. Kann von einem ausgeglichenen Wechsel zwischen Text- und Bildarbeiten in Traces suspectes en surface… generell nicht gesprochen werden, so doch von einer signifikanten Korrelation. Die von Robbe-Grillet und Rauschenberg gestalteten ‚Oberflächenstrukturen‘ spiegeln sich wechselseitig im anderen Medium. MSch  







Abb. E 2/12: Alain Robbe-Grillet/Robert Rauschenberg: Traces suspectes en surface… West Islip [N.Y.] 1978.  



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E 2.18 Helmut Heißenbüttel/Valerio Adami: Das Reich. Gelegenheitsgedicht Nr. 27. 10 Lektionen über das Reich (1974)  

München: Studio Bruckmann, 1974. Texte von Helmut Heißenbüttel. 10 Farb-Serigrafien von Valerio Adami. 52 S., gebunden. Auflage: 635 arab. nummer. Exemplare; Nr. 1–150 von Adami auf jeder Serigrafie, von Heißenbüttel in der Titelei signiert, Nr. 151–600 von Adami und Heißenbüttel in der Titelei signiert; 25 röm. nummer. Exemplare hors commerce, Druck auf Büttenpapier Alt-Cleve 255g/qm. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 43/450 der Sammlung der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg, Frankfurt a. M.  







Bezugstext: Helmut Heißenbüttel: Das Reich. Gelegenheitsgedicht Nr. 27 (Text für das Buchprojekt)  

Für Das Reich. Gelegenheitsgedicht Nr. 27 schreibt Helmut Heißenbüttel zehn „Lektionen“ über das Deutsche Reich, die der italienische Maler Valerio Adami mit zehn Serigrafien versieht. Heißenbüttels Gelegenheitsgedicht erscheint innerhalb des Kodex im Blocksatz jeweils auf den linken Seiten und stellt visuell ein gleichberechtigtes Pendant zum Hochformat von Adamis Grafiken auf den rechten Seiten dar. Für seinen Text bricht Heißenbüttel die Syntax auf; ohne Interpunktion reiht er die Wörter aneinander und verwendet dabei primär Zitate, wie beispielsweise den Bibelvers „denn sie wissen nicht was sie tun“ (vgl. Lk 23, 34) (bzw. variiert zu „denn sie wissen wohl was sie tun“), mit dem jede Lektion endet. Zudem verwendet der Autor Aussprüche historischer Persönlichkeiten, zitiert Liedtexte und weiteres Gelesenes und Gehörtes. Die Bekanntheit der Textfragmente lässt den Leser der Lektionen erkennen, dass es sich um die Äußerungen anderer handelt, derer sich Heißenbüttel bedient und die er, einem Werkstoff oder Bausteinen gleich, zu ‚Erfahrungssätzen‘ kombiniert. Für Heißenbüttel „war es […] Aufgabe des Schriftstellers, aus der Masse an empirisch Wahrnehmbaren [sic] auszuwählen und das vorgefundene Material zu kombinieren.“ (Combrink online) Dabei entledigt sich der Autor eines subjektiven Zugriffs auf Erlebtes und seines Ausdrucks.118  

Arbeit am Sprachmaterial. Heißenbüttels Verwendung des Sprachmaterials kann im Verfahren der Auswahl aus einer Fülle an Zitaten aber durchaus als zumindest latent

118 „Für Heißenbüttel war das Zitat, die Aufnahme und Verarbeitung von Gelesenem oder Gehörtem, von besonderer Bedeutung. Keine Möglichkeit sah er mehr, sich unbefangen und vorbehaltlos der Wirklichkeit mit einer Sprache zu nähern, mit der das Subjekt seiner individuellen Befindlichkeit zum Ausdruck verhilft. Vielmehr zweifelte er die Vorstellung vom autonomen Subjekt radikal an. Dahinter steht die Idee, dass keine metaphysischen oder theologischen Bezugsebenen mehr funktionieren können in einer Zeit, in der die Wissenschaft die Stellung und das Selbstverständnis des Menschen geschwächt haben; Realität zerfällt in eine Vielzahl von Einzelphänomenen – eine Instanz, die hier eingreift und strukturiert, verkennt die Komplexität der alltäglichen Erfahrungswelt.“ Combrink online.  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

subjektiv wahrgenommen werden. Auch die Extraktion eines Ausspruchfragments aus seinem jeweils spezifischen Kontext in Kombination mit der Integration in ein Gefüge mehrerer solch zusammenhangsloser Fragmente verzichtet auf die Möglichkeiten einer objektivierenden Reflexion des jeweiligen Diktums. Für den Leser stellt sich vor dem Hintergrund, „Lektionen über das Reich“ zu rezipieren, der Eindruck ein, der Autor präsentiere durch die Auswahl und Kombination von Textfragmenten eine Lesart reichsdeutscher Geisteshaltung, die in Nationalsozialismus und Weltkriegsinferno mündete. Deutlich wird dies z. B. an dem von Heißenbüttel in sein Gelegenheitsgedicht übernommenen Ausspruch „an die Wand drücken bis sie quietschen“, der von Bismarck, auf politische Gegner bezogen, 1878 benutzt worden sein soll und eine eskalierende, gewaltverherrlichende Auseinandersetzung mit politisch Andersdenkenden ausdrückt. Dass der Reichskanzler vehement bestritt, dies gesagt zu haben, wird ebenfalls im Text thematisiert: „[…] will er niemals in seinem Denken geschweige denn auf seiner Lippe gefunden haben […]“ (Heißenbüttel/Adami 1974, unpag.). Heißenbüttels Fragmentsynthese vermag das jeweilige Zitat für neue interpretatorische Zugriffe zu öffnen. Unterstützt durch die offene Syntax werden im sukzessiven Leseprozess Ereignisse und Persönlichkeiten für den Rezipienten ‚anzitiert‘, ohne die gedankliche Vertiefung in das persönliche geschichtliche Wissen um die Umstände des jeweiligen Ausspruchs zuzulassen. Diese Zitatverkettung überführt das jeweilige historische Ereignis, für das das Zitat stellvertretend steht, in einen assoziativen Status und enthebt es einer gewissen aus der Geschichtsschreibung resultierenden Determiniertheit. Zu dieser Öffnung des Zugriffs auf historische Ereignisse bilden die Bildkommentare Adamis einen deutlichen Kontrast, indem sie die in den Grafiken repräsentierten historischen Persönlichkeiten und Ereignisse in ihren historischen Zusammenhang einordnen und beurteilen.119 Die Siebdrucke selbst sind thematisch im Seitenverlauf in einer chronologischen Abfolge angeordnet – einsetzend mit Nietzsches Lebensdaten und endend mit der Ermordung der Mitglieder der Weißen Rose im Jahr 1943. Die Grafiken verweisen direkt oder vermittelt über Details auf historische Persönlichkeiten; dargestellt sind z. B. Friedrich Nietzsches Schreibmaschine, Kaiser Wilhelm II. und Otto von Bismarck im Doppelporträt, die Brille Karl Liebknechts mit dem Hinweis auf seine 1907 erschienene Schrift Militarismus und Antimilitarismus, ein Porträt Paul von Hindenburgs sowie eine Grafik zur Weißen Rose, in der ein Porträt des sechzehnjährigen Hitler, nachgezeichnet von Adami, integriert ist. Ferner beziehen sich die Siebdrucke auf einzelne bedeutende Ereignisse in der Geschichte des Deutschen Reiches – wie z. B. das Ende des Ersten Weltkrieges und die Unterzeichnung des deutsch-russischen Vertrags von Rapallo vom 16. April 1922. Adamis Grafi 











119 Dies wird z. B. in Adamis Kommentar zum Porträt Paul von Hindenburgs deutlich: „Auf Rat seiner Umgebung ernannte Hindenburg am 30.01.1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler und wurde so ungewollt zum Weichensteller für die Vernichtung des deutschen Rechtsstaates.“ Ob die rechtsstaatlichen Konsequenzen aus Hitlers Machtergreifung von Hindenburg in der Tat „ungewollt“ waren, ist in der Geschichtswissenschaft umstritten.  

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ken setzen sich aus mit schwarzer Kontur eingefassten Farbfeldern zusammen, die in ihrer Gesamtheit Figuren und Dinge repräsentieren. Das Dargestellte wirkt somit fragmentiert, bleibt jedoch anhand spezifischer Details für den Betrachter identifizierbar. Visuell ‚verkürzt‘ auf seine Brille und den Schriftzug „Militarismus und Antimilitarismus“ finden sich die Person und das Gedankengut Karl Liebknechts repräsentiert. Analog zum zitierten Textfragment Heißenbüttels scheint Adami bruchstückhafte Bildzitate in seinen Grafiken einzusetzen. Der Künstler integriert Charakteristika bildlicher Darstellungen von historischen Persönlichkeiten in seine Serigrafien und zeigt so beispielsweise die Pickelhaube als Attribut sowohl Bismarcks als auch Wilhelms II. im Doppelporträt oder den Bart und militärische Ehrenzeichen als Kennzeichen Hindenburgs. Mitunter erfahren die in den Grafiken verwendeten Farben eine semantische Aufladung, was sich eindrücklich an der äußeren Gestaltung des Buchs in den Bundesfarben mit einem goldenen Umschlag, schwarzer Schrift und rotem Einband zeigt. Adamis und Heißenbüttels „Lektionen“ können im Sinne des lateinischen Wortes lectio (Lesung, das Gelesene) als Versuch interpretiert werden, den Rezipienten mithilfe von künstlerisch verarbeiteten Bild- und Textzitaten über das Deutsche Reich zu ‚belehren‘. Dabei stellen sich die Texte und Grafiken einer vorgefertigten Lesart historischer Ereignisse entgegen; vielmehr unterbreiten sie dem Rezipienten ein Angebot zur Deutung reichsdeutscher Geisteshaltung und Geschichte. PH

E 2.19 Samuel Beckett/Jasper Johns: Foirades/Fizzles (1976) London: Petersburg Press, 1976. Texte von Samuel Beckett. 33 Radierungen, 1 Lithografie und 1 Serigrafie von Jasper Johns. Druck: auf handgeschöpftem Auvergne-Papier, Text bei Fequet et Baudier; Radierungen im Atelier Crommelynck, Paris. Schrift: Elzévir Caslon. 32 Bl.: 33 x 25,4 cm. Auflage: 250 Exemplare, nummer. 1–250, und 30 Ex. nummer. I-XXX, sowie 20 Ex. hors commerce; alle Ex. vom Künstler und Autor signiert. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 248.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 127/250 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  









Bezugstexte: Samuel Beckett: Foirades/Fizzles (Erzählungen, 1972/1974)

Im Jahr 1976 erscheint Foirades/Fizzles, ein Künstlerbuch mit Texten von Samuel Beckett und 33 Radierungen von Jasper Johns. Eine Besonderheit des Werkes ist, dass sowohl die Texte als auch die Bilder bereits vor ihrer Zusammenstellung innerhalb des Künstlerbuches entstanden. Beckett verfasste die Foirades 1972 zunächst auf Französisch und übersetzte sie 1974 ins Englische (vgl. Paratext am Schluss in Beckett/Johns 1976, unpag.). Die Bildmotive entstammen größtenteils Jasper Johns’ Werk Untitled aus dem Jahr 1972 (Öl, Enkaustik, Collage auf Leinwand mit Objekten (vier Teile), 183 x 490 cm). Von insgesamt acht Foirades/Fizzles wurden fünf für die Publikation innerhalb des Künstlerbuches ausgewählt und das Buch somit in entsprechende Ka 





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

pitel unterteilt. Das Buch beginnt und endet mit doppelseitigen farbigen Grafiken, die weiteren Bilder sind in schwarz-weiß gehalten. Nach zwei Titelblättern, die die Autorschaft zunächst auf Französisch und auf Englisch ausweisen, folgen die fünf Texte; wiederum zunächst auf Französisch und dann in der englischen Übersetzung. Zwischen Originaltext und englischer Übertragung hat Johns jeweils eine Doppelseite mit Grafiken eingefügt. ‚Recycling‘ statt Kollaboration. Die spätere Herausgeberin von Foirades/Fizzles, Vera Lindsay von der Londoner Petersburg Press, vermittelte den Kontakt zwischen Beckett und Johns (vgl. Prinz 1980, S. 480). Nach einem ersten Treffen in Paris wurde der Textumfang des Projekts festgelegt und Beckett ließ Johns die Entscheidungshoheit über die Gestaltung des Buchs (vgl. Field 1987, S. 99; Rothfuss 1993, S. 270). Zunächst hatte Johns geplant, noch nicht publizierte, fragmentarische Texte von Beckett in seine Grafiken zu integrieren (vgl. Wechsler 1993, S. 37). Becketts Foirades/Fizzles entzogen sich in ihrem Umfang und in ihrer Struktur jedoch Johns’ ursprünglicher Intention (vgl. ebd.), sodass eine getrennte Anlage von Becketts Texten und Johns’ Abbildungen umgesetzt wurde. Johns’ Bildmotive sind seinem Werk Untitled (1972) entnommen, einem vierteiligen Objekt, das aus vier nebeneinander montierten Leinwänden besteht, auf denen Öl und Enkaustik sowie künstliche Teile des menschlichen Körpers auf Holzlatten aufgebracht worden sind. Die Nebeneinanderstellung der vier Bildteile bedingt, dass der Rezipient das Dargestellte über die Grenzen der jeweiligen Leinwände hinweg in Beziehung setzt und vergleicht. Dies wird insbesondere durch die beiden mittleren Leinwände forciert, die plattenähnliche, rot-weiß-schwarz gestaltete Strukturen aufweisen. Der Betrachter ist angehalten, strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrzunehmen. Insbesondere die auf Holzleisten montierten Körperteile auf der Leinwand rechts außen bedingen einen Prozess der imaginären Zuordnung und Vervollständigung: Es ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, um welche Körperteile es sich handelt und auch nach der Identifikation von u. a. Gesäßteil, Bein und Torso scheitert der Versuch des imaginären Zusammensetzens – die Körperteile sind, was sie sind: Fragmente, die nicht in ein kongruentes Ganzes zusammengefügt werden können (vgl. Field 1987, S. 102). Nachdem Johns Untitled im Jahr 1972 fertiggestellt hatte, übertrug er Formen, Motivik und Strukturen des Werkes in Lithografien. Mit jedem neuen ‚Abzug‘ von Untitled veränderte Johns somit zum einen die Materialität und Technik und zum anderen auch die Farbgebung und Anordnung der einzelnen Werkbestandteile. Durch teils latente, teils deutliche Veränderungen der Darstellung wird der Betrachter in einen Prozess des Memorierens von Strukturen überführt. Ein Zugang zu Johns’ Werk eröffnet sich in der Untersuchung, wie menschliche Wahrnehmung durch visuelle Eindrücke geprägt wird (vgl. ebd., S. 101). Die Leinwände können vom Betrachter nie als Ganzes, sondern nur sukzessiv wahrgenommen werden. Die Anordnung der Bildteile bedingt somit ein Nacheinander der visuellen Rezeption, Motivik und Struktur evozieren ein Moment der Wiederholung.  















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Korrespondenz von Text und Grafik. Es ist wahrscheinlich, dass sowohl die Bildauswahl als auch ihre Anordnung innerhalb des Buches festgelegt war, bevor bestimmt wurde, wie Becketts Texte innerhalb des Buches angeordnet werden würden (vgl. ebd., S. 115f.). Von einer Korrespondenz von Text und Bild im Sinne einer von den beiden Künstlern geplanten, wie auch immer gearteten Bezugnahme des Bildes auf den Text und vice versa kann also nicht ausgegangen werden. Dennoch bleibt diese Möglichkeit der Referenz allein durch die ‚Konvention‘ der Bezugnahme von Bildern auf Texte bei Zusammenstellung innerhalb eines Buches virulent. Auch wenn es konzeptionell nicht so angelegt ist, der Rezipient von Foirades/Fizzles begibt sich unweigerlich auf die Suche nach Entsprechungen zu Becketts Textinhalten in Johns’ Grafiken. Teilweise scheinen sich diese in der Tat anzudeuten, beispielsweise im ersten Foirade/Fizzle. Der Text auf der rechten Seite beginnt mit den Wörtern „J’ai renoncé“, die in eine eigene Zeile eingestellt sind und somit aus dem Rahmen des sonst stringenten Blocksatzes fallen (erster Foirade/Fizzle in Beckett/Johns 1976). Auf der linken Seite ist das Fragment eines Gesichts – die linke Wange mit Unterkiefer, Lippen und einem verschwommenen Ohr – zu erkennen. Im Abgleich mit Johns’ Untitled (1972) wird deutlich, dass es sich bei dem Dargestellten um ein Körperfragment der Leinwand ganz rechts handelt. Gezeigt wird das Fragment FACE, also der Körperteil, der prinzipiell am ehesten eine Identifikation eines Individuums ermöglicht. Bezeichnenderweise fehlen die Augen des Gesichts, sodass ein möglicher Ausdruck von Individualität zugleich unterwandert wird. Becketts Text kreist um die Motive Tod, Individuation und Selbstaufgabe und korrespondiert somit dem Gesichtsfragment im Zusammenspiel mit dem dominanten, schwarzen „X“, das im unteren rechten Bereich des Bildes aufgebracht wurde. Ein das Individuum auslöschendes Moment wird deutlich: Wo konventionell die Signatur eines Künstlers seine Urheberschaft über ein Werk ausweist, setzt Johns ein anonymes „X“, das auf keine konkrete Person verweist und zudem dazu dienen könnte, eine potenzielle Signatur auszustreichen (vgl. Field 1987, S. 110f.). Die Zusammenstellung von Bild und Text ermöglicht somit eine vielschichtige Kontemplation von Selbst- und Außer-Sich-Sein. An den meisten Stellen im Buch lässt die autonome Produktion von Bild und Text keinerlei nachträgliche Bezugnahme im Sinne einer inhaltlichen Entsprechung wie im skizzierten Beispiel zu (vgl. Rothfuss 1993, S. 271). Hier wird der Fokus auf das makrostrukturelle Verhältnis von Text und Bild gelegt: Beide eint, dass sie zum einen fragmentarisch wirken. Nach Sichtung aller Radierungen und Texte wird deutlich, dass beide im Allgemeinen Unabgeschlossenes evozieren und zwischen Hell und Dunkel, zwischen Individuation und Nicht-Erkennen oszillieren (vgl. Field 1987, S. 117). Zum anderen thematisieren Johns’ Grafiken im Speziellen das Verhältnis von Becketts französischem Originaltext und dessen Übertragung ins Englische insbesondere vor dem Hintergrund der Kodex-Form.  











Reflektionen über den Kodex. Anhand des Kodex und der Übersetzung der Foirades in Fizzles wird die Bezugnahme von Wörtern aufeinander thematisiert. Deutlich wird dies insbesondere an der Doppelseite, die den ersten Foirade vom Fizzle trennt. Sie

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

zeigt in schablonenartiger Schrift auf der linken Seite die englischen und auf der rechten Seite die französischen Bezeichnungen für die einzelnen Körperteile, die auf die rechte Leinwand von Untitled (1972) montiert wurden. Insbesondere bei Wörtern, die im Englischen und Französischen unterschiedlich lang sind, zeigen sich ‚Abdrücke‘ der Wörter auf der jeweils gegenüberliegenden Seite (dies ist zum Beispiel bei „SOCK“/„CHAUSSETTE“ der Fall). Für den Betrachter wird somit das Aufeinanderliegen der Seiten im geschlossenen Zustand des Kodex unmittelbar ansichtig. Dem korrespondiert die zum Buchfalz hin zunehmende Verdunkelung der Seiten: Am Ort des Scharniers verdeutlicht sich die Eigenschaft des Kodex, den Inhalt dem visuellen Zugriff des Betrachters durch Zuklappen der Seiten zu entziehen. Darüber hinaus initialisiert das mehrfache Druckverfahren einen Nachvollzug der Übersetzungsleistung von Wörtern im Allgemeinen: Der ‚Schemen‘ des ursprünglichen Wortes bleibt in seiner Übertragung erhalten und umgekehrt.120 Johns nutzt das Buchformat für Foirades/Fizzles darüber hinaus, um die Sequenzialität und Redundanz der Motive aus Untitled (1972) innerhalb des Kodex für die Wahrnehmung fruchtbar zu machen. Für die Abbildungen auf den Doppelseiten, die den französischen und den englischen Text der zweiten bis fünften Foirades/Fizzles voneinander trennen, nutzt Johns jeweils eine grafische Übertragung eines Paars der insgesamt vier Leinwände von Untitled. Hierbei folgt Johns einem stringenten Schema, indem er die originale Anordnung seines Werks beibehält und von links nach rechts durchlaufend immer zwei Strukturen der betreffenden Leinwände abbildet.121 Es ist bedeutsam, dass Johns die Darstellung der Leinwände mit der Zusammenstellung der letzten und der ersten Leinwand einsetzen lässt. Die übergeordnete Einheit der vier Bildteile von Untitled (1972) wird betont, es wird die Vorstellung forciert, dass sich die Strukturen der einzelnen Abbildungen von einer Leinwand zur nächsten und in Analogie dazu im Buch von einer Buchseite zur nächsten transferieren lassen; ein Eindruck, der durch das Öffnen und Schließen des Kodex sowie das Umblättern der Buchseiten verstärkt wird (vgl. Field 1987, S. 103). Zugleich wird eine Entsprechung zum Vorgang des Bücherlesens gewahr: Im Leseprozess werden die jeweils aufgeschlagenen Doppelseiten nacheinander aufgenommen. In Anschluss an seine Ausführungen zum Akt des Lesens ist es insbesondere der von Wolfgang Iser so bezeichnete „wandernde Blickpunkt“ (Iser 1994, S. 177, Hervorhebungen wie im Original), der innerhalb des Künstlerbuchs ein Ausdruck für die Fokussierung auf menschliche Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse ist. Dem Leser eines Buches offenbart sich stets nur eine Doppelseite des Ganzen, das Davor und das potenzielle Danach ist imaginär, im Bereich der Erinnerung, und muss fortlaufend aktualisiert werden. Das von  



120 Vgl. Field 1987, S. 103f.: „The fact is that there are only two layers of language, but the effect is one of unigaminable density and complexity, analogous to the incredible human capacity for an almost thoughtless processing of the object world with language.“ 121 Die Abfolge der paarweisen Zusammenstellung der Leinwände aus Untitled (1972) in Foirades/ Fizzles ist DA, AB, BC, CD (A bezeichnet die Leinwand ganz links, D die Leinwand ganz rechts).  

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Iser erörterte Zusammentreffen von Vergangenem und Zukünftigem im gegenwärtigen Moment unterstützt Johns’ Bestreben der Bezugnahme von Strukturen aufeinander – sowohl im Text als auch im Bild. Dies widerstrebt der Vorstellung von innerhalb des Kodex fixierten Inhalten – ein Umstand, der vor dem Hintergrund des expliziten Buch-Seins von Becketts und Johns’ Werk die Reflektion über den Kodex als Medium initialisiert. Foirades/Fizzles weist viele Elemente eines klassischen Kodex – insbesondere im Bereich der Paratexte – auf (vgl. dazu Teil D, Art. „Rahmungen“): Neben der klassischen Bindung von Seiten zu einem einheitlichen Kodex gibt es Titelblätter, jedes der fünf Kapitel wird mit einem von Johns’ Numerals eröffnet, das Buch schließt mit einem Impressum, in dem der Leser u. a. Informationen zum Entstehungsprozess und zur Auflage des Künstlerbuchs erhält. Vor dem Hintergrund des somit durch Materialität und Aufbau ausgewiesenen ‚Buch-Seins‘ von Foirades/Fizzles wird schließlich deutlich, dass die Zusammenstellung der Radierungen und der Texte nicht nur in sich oszilliert, sondern darüber hinaus auch die Zuschreibungen an den Kodex ins Flottieren bringt. Die Idee des Kodex als abgeschlossene Einheit wird durch das sich fortwährend aktualisierende Beziehungsgeflecht von Text und Abbildungen ebenfalls in einen Transformationsprozess überführt. PH  









E 2.20 Rafael Alberti/Robert Motherwell: El negro (1983) New York: Tyler Graphics Ltd., 1983. Text von Rafael Alberti. 19 Lithografien von Robert Motherwell. Druck: Lithografien und Text in der Werkstatt von Tyler Graphics Ltd. Schrift: Bodoni bold. 24 Bl.: 38 x 36,6 (bzw. 72 x 94) cm. Auflage: 51 vom Künstler nummer. und signierte Exemeplare, 10 Exemplare hors commerce (nummer. I-X). 7 Lithografien wurden in einer Aufl. von 98 Exemplaren separat publiziert. Buchkassette mit weißem Leinenbezug von Walden und Lang Inc., New York. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 16/51 der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München.  









Bezugstext: Rafael Alberti: El Negro Motherwell (Gedicht, 1980; engl. Übersetzung des span. Textes von Vicente Lleó Cañal.)

Ende der 1960er Jahre erwirbt Robert Motherwell in einem Buchladen die englische Übersetzung von Rafael Albertis Selected Poems, die auch Auszüge aus dessen Gedichtzyklus A la pintura enthält (laut Motherwell aus Ben Belitts Übersetzung, gedruckt von der University of California Press; vgl. Terenzio 1992, S. 212). Der US-amerikanische Künstler wurde in den Jahren zuvor vergeblich von Tatyana Grosman, der Gründerin der Universal Limited Art Editions (ULAE), gebeten, ein Buchprojekt in Zusammenarbeit mit ihrem Hause zu realisieren. Die Auseinandersetzung mit Albertis Gedichten aus A la pintura ließ Motherwell von seiner zunächst ablehnenden Haltung gegenüber Grosmans Bitte abrücken: „I had found the text for a livre d’artiste, a text whose every line set into motion my innermost painterly feelings.“ (Ebd.) Im Jahr 1972 erscheint Motherwells Künstlerbuch A la pintura mit 21 Aquatinten zu ausge 

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wählten Passagen aus Albertis Gedichten, die Implikationen der Malerei thematisieren. Direkt adressiert werden die Arbeitsmaterialien des Malers: Die Palette, die Farben – Schwarz, Blau, Rot und Weiß – und der Farbpinsel. Albertis Gedichte kreisen assoziativ um visuelle und symbolische Qualitäten des Farbausdrucks. Das Erscheinen der jeweiligen Farbe in der Natur oder im Œuvre von Künstlern wie Juan Gris oder Pablo Picasso beeinflusst Albertis Assoziationsspektrum.122 Motherwells Grafiken korrespondieren mit Albertis Versen; sie präsentieren einzelne Farbtöne im Verbund mit den Konturen eines oftmals angeschnittenen Rechtecks und stehen formal der Bilderserie der Opens nahe, die laut Darstellung des Künstlers zufällig durch die ihn visuell ansprechende Relation zwischen zwei aneinander lehnenden Leinwänden mit unterschiedlichen Maßen entstanden sind. Motherwell zeichnete die Umrisslinien der kleineren Leinwand auf die monochrom bemalte größere und schuf so ein „‚field painting‘ that would not be overwhelmed by the force of ‚signs‘ (or images) on it“ (ebd.). Dieses ‚Überwältigt-Sein‘ des Bildes durch die Ikonografie tritt in Motherwells Grafiken zurück. Akzentuiert werden die Materialität und die innerbildlichen formalen Bezüge, das Zusammenspiel von Kolorit und Formen.123 Im Jahr 1980 trägt Alberti in Barcelona auf der Eröffnung einer Ausstellung mit Motherwells Werken das Gedicht El Negro Motherwell vor, das Motherwell in der Folge ebenfalls in einem Künstlerbuch bearbeitet. In dem Gedicht bildet das Schwarz in den Bildern Motherwells ähnlich wie in A la pintura den Ausgangspunkt für eine Kette von Assoziationen, die vor allem das Grauen des Spanischen Bürgerkriegs und der nachfolgenden Diktatur Francos thematisieren. Motherwell druckt den spanischen Text in schwarz, die englische Übersetzung in grau auf die Buchseiten und gibt Albertis Versen seine Lithografien bei. Die Seiten mit den Grafiken weisen unterschiedliche Größen auf und sind bei größerem Format ein- bis zweimal gefaltet ins Buch eingeklappt. Die Grafiken und Verse sind so angeordnet, dass sie sich gegenseitig zu entsprechen scheinen: So steht die Lithografie Elegy black black der Textpassage „Negro negro elegía […]“ gegenüber. Dass Motherwells Grafiken jedoch nicht nur auf einen spezifischen Gedichtabschnitt Bezug nehmen, verdeutlicht die Schraubbindung, die gelöst und wieder geschlossen werden kann und es dem Rezipienten somit ermöglicht, die  



122 Bezogen auf den gesamten Gedichtzyklus A la pintura sind die Implikationen der jeweiligen Farbe vielfältig: „In the series of poetic impressions dedicated tot he color black possible visual and symbolic characteristics of the color are numerous. Alberti associates black with night […]; with the sea […]; with caverns and mines […]; with fire […]; with death […]; with pride […]; and, ironically, even with happiness.“ Manteiga 1978, S. 116. 123 „My iconography can cope with, say, the bluenesses of blues, light and air and color, walls, perspective, and a general sense of the Mediterranean; with solitude, weight, intensities, placing, decisiveness, and ambiguities; it cannot deal with Venus – except as one aspect of the skin of the world, of which painting itself is also a skin, and in this sense my illuminations are both a higher degree of abstraction and a lower degree of complexity – but not of subtlety – than the poems.“ Ebd., S. 213.  









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Grafiken in einer modifizierten Abfolge anzuordnen, bzw. die Bilder separiert vom Text außerhalb des ‚Buchraums‘ in einer Ausstellung zu präsentieren. Formale Entsprechungen. Elegy black black zeigt formale Bezüge zu Motherwells Bildserie der Spanish Elegies, die zumeist von einer Abfolge von monochromen Rundformen und Rechtecken im Hochformat dominiert werden und angeregt durch die Lektüre von Federico García Lorcas Gedichten Ende der 1940er Jahre entstanden sind (vgl. Flam 1983, S. 5). Das in allen Grafiken von El negro dominante Schwarz wird ergänzt um vereinzelte gelbe oder rote Elemente, die z. B. als Schrift im Bild eingesetzt werden. Dies ist der Fall in der Grafik zum letzten Vers des Gedichts „[…] pobre España!“, in der das rot geschriebene Wort „pobre!“ neben einem schwarzen Rechteck steht. Letzteres wird in der Verbindung mit Albertis Vers als Symbol für Spanien ausgewiesen – „Negro de este pais de negro siempre […]“. Das schwarze Rechteck verkehrt Lorcas „¡O blanco muro de España!“ aus Llanto por Ignacio Sánchez Mejías (1935) in Albertis „¡O negro muro de España!“, die Farbe Schwarz in Albertis Gedicht und in Motherwells Bildern wird nicht auf ein eng begrenztes Bedeutungspotenzial fixiert. Auch wenn El negro von Tristesse geprägt ist – eine naheliegende Verknüpfung mit der Farbe Schwarz als Farbe der Trauer – umfassen die Implikationen von Schwarz auch weitere Bedeutungen wie u. a. Vehemenz („Atravesado negro puñalada invisible […]“), Dynamik („En permanencia negro motherwell redoble […]“) oder auch Permanenz („Negro de madición gitana irremediable […]“). Die Konfrontation mit einer gemalten Farbe initiiert die schriftliche Auseinandersetzung124 und vice versa.125 Die sprachliche oder schriftliche ‚Illustration‘ fokussiert sich hierbei nicht auf ein bestimmtes Motiv, sondern instrumentalisiert Semantiken der Expression von Farbe und Material zum Ausdruck von Ephemerem wie Stimmungen und „feeling“.126 PH  











E 2.21 Tom Phillips: Dante’s Inferno (1983) London: Talfourd Press, 1983: drei Bände, Auflage von 185 Exemplaren. New York/London: Thames & Hudson 1985: ein Band, Offsetdruck. Bezugstext: Dante Alighieri: La Divina Commedia (1321)

124 „Celebrating ‚El Negro Motherwell‘ […] Rafael Alberti had composed a poem that he recited for the artist, in a reverse illustration of how color can, uppon occasion, inspire verbal expression, instead of the contrary.“ Caws 1997, S. 89. 125 „[…] there is a chapter in Moby Dick that evokes white’s qualities as no painter could, except in his medium.“ Terenzio 1992, S. 72. Vgl. zur von Motherwell bezeichneten Textpassage das 42. Kapitel in Herman Melvilles Moby-Dick – „The Whiteness of the Whale“ (vgl. Melville 1994, S. 189–197). 126 „If the amounts of black or white are right, they will have condensed into quality, into feeling.“ Terenzio 1992, S. 72, Hervorhebung wie im Original.  











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Phillips’ Bearbeitung des Inferno erschien erstmals 1983 in limitierter Auflage in der Talfourd Press. Die erste Ausgabe bestand aus drei Bänden im Schuber. Für die Fertigung des Buchs, insbesondere in der Umsetzung diverser bildgebender Verfahren wie Ätzradierung oder Lithografie, kooperierte Phillips mit weiteren Künstlern und Technikern. Bereits 1985 folgte die Publikation einer preisgünstigeren Variante von Dante’s Inferno im Offsetdruck bei Thames & Hudson. Phillips fasste hierbei die Inhalte der drei Bände in einem zusammen und ergänzte sein Werk durch umfangreiche Erläuterungen zu seiner Textübersetzung und zu seiner bildlichen Bearbeitung des ersten Teils der Divina Commedia. Phillips nimmt sowohl durch die möglichst wörtliche Übertragung des Originals in ein weitestgehend modernes Englisch als auch durch seine Illustrationen zur Divina Commedia eine Aktualisierung von Dantes Opus vor. Das Buch gliedert sich in die insgesamt 34 Gesänge, in der einbändigen Ausgabe sind jedem Canto vier recto angeordnete ganzseitige Abbildungen beigegeben. Bis auf die Abbildung, die den jeweiligen Gesang eröffnet, stehen die Bilder auf der linken Seite dem Text der Commedia gegenüber. Bei zunächst oberflächlicher Betrachtung von Phillips’ Adaption lässt sich konstatieren, dass die Abbildungen nicht lediglich abbilden, was der ihnen gegenüberliegende Text beschreibt. Vielmehr scheinen sie sich in ihrer Darstellung vom Text zu entfernen und ‚etwas anderes‘ zu zeigen. Wie Joachim Möller bemerkt, wird die Buchillustration traditionell als stofflich enger Verbund zwischen Bild und Text begriffen (vgl. z. B. Möller 2000, S. 168). Dieses Verhältnis wird von Phillips durch die Gegenüberstellung von Text verso und Bild recto präsentiert. Die Anordnung animiert den Rezipienten dazu, Text und Abbild zu parallelisieren, zugleich entziehen sich Phillips’ Grafiken einer Einordnung als Illustration im konventionellen Sinne.  



Transformationen. Innerhalb der Bilder findet der Leser Textfragmente, die Phillips dem viktorianischen Roman A Human Document von William Hurrell Mallock entnommen hat. Phillips erstellt ein Palimpsest von Mallocks Text, indem er durch Löschung und Hervorhebung einzelner Wörter, die von Phillips als „rivers“ (Phillips 1992, S. 256) bezeichnet werden, neue Sinnzusammenhänge anbietet (vgl. dazu Teil E 2.14). Eine solche Bearbeitung von Mallocks Ursprungstext findet sich gleich zu Beginn von Phillips’ Dante’s Inferno: Der Schmutztitel zeigt ein kreisrundes Bild, das von einer rötlichen Marmorstruktur geprägt ist. Vom linken Rand des Kreises schiebt sich ein schwarzes Dreieck in das Bild, eine Ecke des Dreiecks bildet den Mittelpunkt des Kreises; eine Andeutung des Höllentrichters, der in das Zentrum der Erde reicht (vgl. Phillips 1985, S. 284). Über diesen Elementen sind die „rivers“ aus Mallocks A Human Document angeordnet: „my/stories of a soul’s surprise//a soul/ which/crossed a chasm in/whose depths/I/find/I found myself/and/nothing/more than that.“ (Ebd., S. 7) Durch die Bearbeitung und Einbettung von Fragmenten aus A Human Document vollzieht Phillips einen sichtbaren Transfer schriftlicher Medien in den Bereich des Bildlichen. Die „rivers“ werden durch das Einwirken Phillips’ zu  





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Schriftbildern,127 die als Kommentar zum übersetzten Text der Divina Commedia dienen. In der Bildlichkeit der „rivers“ wird die anschauliche Beschreibung durch Dantes Text nachvollzogen. Schrift als bildliches Medium wird von Phillips auch in den Walddarstellungen, zu Beginn des Inferno in Canto I und in Gesang XIII, genutzt. Phillips übersetzt den Vers „mi ritrovai per una selva oscura“ (Dante 1963, Inf., I, 2) in ein Bild, das aus einem Dickicht aus übereinander angeordneten Schablonenbuchstaben besteht. Der Künstler hat die Buchstaben der Phrase „una selva oscura“ in unterschiedlicher Größe in dunklen Farbabstufungen auf das Papier aufgebracht.128 Durch die Überlagerung der Buchstaben ist es dem Rezipienten nicht möglich, zu lesen; er erkennt lediglich einzelne Teile von Schriftzeichen. Eine Analogie zu Dantes in De vulgari eloquentia ausgeführten Überlegungen hinsichtlich der Zweiteilung von sinnlichen und rationellen Eigenschaften von Sprache deutet sich an. Auf der sinnlichen, der visuellen, Ebene vermag der Leser Buchstabenfragmente zu erkennen, die er aber nicht in einen rationellen Informationsgehalt übertragen kann. Das Bild verdeutlicht ein Scheitern des Versuchs einer Sinnstiftung und spiegelt so die verzweifelte Situation des Pilgers Dante unmittelbar vor seiner Jenseitsreise.129 Kernmotive. Die Ähnlichkeiten mit dem Canto XIII eröffnenden Bild verweisen auf das erneut von Dante genutzte Waldmotiv für den Wald der Selbstmörder. Die in Dantes Text dargestellte Dunkelheit des Waldes überträgt Phillips in eine angepasste Darstellung der „selva oscura“ aus Canto I. Zudem invertiert er die Buchstabenabfolge der Phrase und erhöht durch die noch dunklere Farbgebung den Eindruck eines Buchstabenfragment-Dickichts ohne Ausweg. Phillips’ Interpretation von Dantes desperater Situation zu Beginn des Inferno konkretisiert sich in der Verwendung desselben Bildmotivs für Canto XIII: Der Selbstmord könnte von dem Pilger Dante als Ausweg aus seiner hoffnungslosen Lage reflektiert worden sein.130 Die Harpyien, die sich in Dantes Text an den Eingeweiden der in Bäume verwandelten Selbstmörder laben, finden sich am oberen Bildabschluss als stilisiert dargestellte Raben auf dunkelblauem Grund. Nach eigenen Angaben übernimmt Phillips dieses Bilddetail aus Vincent van Goghs Korenveld met kraaien, das der Niederländer kurz vor seinem Suizid im Jahr 127 „When I started work on the book [A Human Document, Anm. d. Verf.] late in 1966, I merely scored out unwanted words with pen and ink. It was not long though before the possibility became apparent of making a better unity of word and image […].“ Phillips 1992, S. 256. 128 Tom Phillips erklärt in seinen Erläuterungen, dass die Buchstaben in der Illustration die Phrase „una selva oscura“ bilden (vgl. Phillips 1985, S. 285). 129 „Tant’è amara che poco è più morte;/ma per trattar del ben ch’i’ vi trovai/dirò de l’altre cose ch’i’ v’ ho scorte.//Io non so ben ridir com’i’ v’intrai,/tant’era pien di sonno a quel punto/che la verace via abbandonai.“ Dante 1963, Inf., I, 7–12. 130 „Perhaps Dante meant to indicate that one apparent, though of course illusory, way out of the ‚Dark Wood‘ of his life’s crisis is to kill oneself, and thus he makes the suicide perpetuate in his own person the tangle of wood’s confusion.“ Phillips 1985, S. 293.  





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1890 angefertigt haben soll. Phillips interpretiert die Krähen als Symbol für den nahenden Freitod van Goghs und instrumentalisiert das Bildmotiv somit für seine individuelle Auslegung der Lebenssituation des Pilgers Dante (vgl. Phillips 1985, S. 293). Neben der Übernahme des Krähenmotivs von Vincent van Gogh bedient sich Phillips weiterer Bilder und Bildfragmente anderer Künstler. Insbesondere die 1861 publizierten Inferno-Illustrationen Gustave Dorés werden in Phillips’ Opus – so in den vierten Abbildungen in Canto VI und XXI – bearbeitet.131 Die bildliche Darstellung von Dantes Werk durch Doré inspirierte in der Nachfolge viele Künstler zur eigenen Produktion von Abbildungen zur Divina Commedia (vgl. Nassar 1994, S. 22). Phillips entnimmt (wie bereits bei van Gogh demonstriert) Bildfragmente aus den Stichen Dorés, um sie zum einen in einer neuen Komposition in einen aktualisierten Sinnzusammenhang einzubetten und zum anderen die Tradition, in der der eigene bildliche Schöpfungsprozess verortet ist, auszuweisen. Bildliche Motiventnahmen aus außerhalb von Dante’s Inferno liegenden Medien sowie Motivwiederholungen innerhalb von Phillips’ Werk – wie die zweimalige Verwendung des dunklen Waldes – bilden ein Charakteristikum innerhalb Phillips’ Adaption von Dantes Opus. Intramedial verweist der Künstler somit explizit auf symbolische Beziehungen und Auslegungsmöglichkeiten der Divina Commedia, die die möglichst wörtliche Übersetzung des Originals nicht expressis verbis zu übermitteln vermag. Insbesondere das Moment der Invertierung eines bereits in einer Illustration genutzten und im Fortlauf des Werks wiederholten Bildmotivs verweist auf die Ambiguität symbolischer Bezüge innerhalb der Divina Commedia, die in Phillips’ Bearbeitung für eine Aktualisierung der Inhalte fruchtbar gemacht wird. So nutzt Phillips den Pseudo-Abdruck von Jesu Gesicht auf dem Turiner Grabtuch zum einen als Gesicht des Drachen Geryon, der Dante und Virgil in Canto XVII vom siebten in den achten Höllenkreis befördert. Zum anderen erscheint dasselbe, nur auf den Kopf gestellte Motiv als dreigeteiltes Antlitz Luzifers. Die arglistige Natur des Ungetüms Geryon wird somit in eine Beziehung zum finalen Grund-Bösen in Dante’s Inferno gesetzt. Darüber hinaus reflektiert Phillips die Geschichte des Turiner Grabtuchs, bei dem es sich um eine Fälschung handelt. Der Künstler instrumentalisiert die Eigenschaften des abgebildeten Mediums für spezifische Zuschreibungen an das Geschehen: Im gegebenen Fall korrespondiert das Falsifikat von Jesu Grabtuch der Falschheit Geryons (vgl. Phillips 1985, S. 296).  













Bildsymbolik. Die Einbeziehung externer bildlicher Medien in Dante’s Inferno geschieht vor dem Hintergrund der Aktualisierung der symbolischen Bezüge des Inhalts.

131 Ein Grund dafür dürfte der Umstand sein, dass Phillips sich an seine erste Konfrontation mit Dantes Divina Commedia, vermittelt über die Rezeption von Dorés Illustrationen zum Inferno, erinnert (vgl. Phillips 1992, S. 227). Zudem ist Phillips sich bewusst, dass der hohe Bekanntheitsgrad von Dorés Stichen zwangsläufig die eigene künstlerische Bildproduktion beeinflusst: „Every new illustrator of Dante has somehow to exorcise the ghost of Gustave Doré.“ Phillips 1985, S. 289.  



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So nutzt Phillips dem jeweils verwendeten Medium inhärente Eigenschaften zur Ausgestaltung individueller Sinnbeziehungen innerhalb und außerhalb seiner Bearbeitung des ersten Teils der Divina Commedia. Sowohl die spezifischen Eigenheiten als auch die Materialität der importierten Medien sind in Phillips’ Werk von Bedeutung. Der Künstler verwendet für die Anfertigung der Illustrationen mannigfaltige Techniken der bildenden Kunst. Die jeweiligen Abbildungen bilden in der Konsequenz eine stilistische Mischung ab. Anschaulich wird dies anhand der Darstellung der drei Bestien, die den Pilger Dante zu Beginn des ersten Gesangs bedrängen. In der dreibändigen Ausgabe von 1983 sind unterschiedliche bildgebende Verfahrensweisen nebeneinander in einer Abbildung angeordnet (vgl. ebd., S. 285). Für die Darstellung der drei Tiere nutzt Phillips den Siebdruck, die Lithografie sowie die Ätzradierung. Unterhalb des „rivers“ „the/restless/advance to/the devil“ (ebd., S. 11) erscheinen in übereinander angeordneten, auf einer Spitze stehenden Dreiecken das Fell des Leoparden sowie der jeweilige Kopf von Löwe und Wölfin. Für die drei Tierdarstellungen nutzt Phillips unterschiedliche Bildgebungsverfahren, die sich mit spezifischen Charakteristiken der symbolhaft in der jeweiligen Bestie angedeuteten Sünden verbinden:  



The Leopard […] is indicated by his spotted coat alone since he represents the sins that are on the surface of human life (indulgence, luxury etc.). The Lion […] is drawn on stubborn stone since he embodies the sins of pride and obduracy. The Wolf […] is deeply etched by acid on copper since it is here we find the ingrained gnawing sins of envy. (Ebd., S. 285)  

In seiner bildlichen Bearbeitung von Dantes Inferno nutzt Tom Phillips insbesondere intra- und intermediale Bezüge, um symbolische Verweise des Originaltextes in eine aktualisierte Form zu überführen. Obwohl sich Phillips offenkundig in die bildliche Tradition anderer Künstler – allen voran Doré – und mannigfaltiger druckgrafischer Verfahren stellt, ist die individuelle Transformation von symbolischen Kontexten in Dantes Text in die Illustration bedeutend in Phillips’ Opus. Dem Medium Buch als ‚Speicher‘ vielschichtiger intertextueller und intermedialer Bezüge kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu: „Like all great literature, Dante’s Comedy grows from the body of literature that precedes it. The illustrations here […] emphasise the fact, that Inferno is a book that contains books […].“ (Ebd.) PH  



E 2.22 Paul Celan/Mischa Kuball: Todesfuge (1984) New York/Düsseldorf: Kaldewey, 1984. Text von Paul Celan. Mit 6 Papierschnitten von Mischa Kuball. 54 S., gebunden, auf Transparentpapier und Fabriano gedruckt. Bl.: 37 x 28 cm. Auflage, nicht nummer.: 50 Exemplare in schwarzem Pappband mit montierten Titelschild (Christian Zwang, Hamburg), 15 Exemplare „special edition“ in flexiblem Kalbspergament mit Vergoldung (Christian Zwang, Hamburg). 5 Exemplare Vorzugsausgabe auf starkem, grauen Japanpapier, Bl: 32 x 25 cm (Schusaku Tomi, Wajima). Mit 2 Originalzeichnungen und einer Collage von Mischa Kuball, jeweils signiert. Lose in Lederkassette mit Titelvergoldung. (Druckvermerk vgl. von Lu 













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cius 2002, S. 34.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt ein Ex. (von 50 nicht nummer. Ex. in schwarzem Pappband der Edition Kaldewey 9) der Sammlung der HAB.132  

Bezugstext: Paul Celan: Todesfuge (Gedicht, 1947/1948)

Todesfuge (1947/1948) ist eines der bekanntesten und meist zitierten Gedichte des deutschsprachigen Lyrikers Paul Celan. So groß die Resonanz auf das Gedicht war, so groß war oft auch das Unverständnis ihm gegenüber. Angezogen von Rhythmus und scheinbar ‚schöner‘ Tonmelodie meinten viele Leser einen Gestus der Aussöhnung aus dem Text herauslesen zu können und waren empfänglich für den unterstellten Gedanken einer Sublimierung des Geschehens in den Arbeits- und Vernichtungslagern des NS-Regimes. Diese postulierte Form-Inhalt-Kongruenz wurde an Todesfuge teils lobend hervorgehoben teils kritisiert. Bildende Künstler wie beispielsweise Edgar Jené, Anselm Kiefer, László Lakner und Mischa Kuball haben sich mit dem Gedicht beschäftigt. Sehr unterschiedliche Werke sind entstanden, Gemälde und buchkünstlerische Arbeiten.133 Kuballs Papierkomposition. Auf außergewöhnliche Weise begegnet der Konzeptkünstler Mischa Kuball (*1959) dem Gedicht Todesfuge.134 Es sind keine Abbildungen, die er auf der Grundlage inhaltlicher Textelemente entwirft; er entwickelt eine Komposition verschiedener Papierarten: In wechselnder Folge wurden Transparentpapier (bedruckt und unbedruckt, weiß und gelb) und Karton (beschnitten und unbeschnitten) aneinander geheftet. Mit einem Messer schnitt135 Kuball in einzelne der naturweißen Kartonseiten geometrische Formen, andere blieben unbehandelt und reihen sich zwischen Seiten aus weiß-trübem Transparentpapier, die ebenfalls leer gelassen oder jeweils mit einer Gedichtstrophe bedruckt wurden. Die geometrisch angelegten Papierschnitte reichen von nur wenigen Millimetern Länge bis hin zu 21 cm, und erstrecken sich teilweise bis fast über die gesamte Blattfläche (37,9 x 28,1 cm). Sie bezeugen gleichzeitig einen Akt des Zerstörens und des Konstruierens. Die Schnitte können einerseits als Versehrungen gelesen werden. Es sind keine Risse, die durch eine Spannung entstanden wären, sondern klare Schnitte, die durch eine bewusste Handhabung, d. h. durch eine beabsichtigte Gewalteinwirkung und kalkulierte Auswirkung verursacht wurden. Durch die Papierschnitte kann andererseits auch etwas entstehen: Die durch  









132 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. 133 Siehe dazu Schmitz-Emans 2016f, S. 229–252; Erdmann/Schmidt 2011, S. 121–130; Lauterwein 2006; Buck 1993. Edgar Jenés Lithografie zu Todesfuge wird neben einer weiteren Grafik im Gedichtband Der Sand aus den Urnen (Wien, 1948) veröffentlicht. Der Band wird vom Dichter jedoch zurückgezogen, offiziell wegen vieler sinnentstellender Druckfehler, privat äußert sich Celan entrüstet über die „geschmacklosen Illustrationen“ von Jené. Siehe dazu Ivanović 2000, S. 23. 134 Paul Celan: Todesfuge. Illustrations by Mischa Kuball bildet im Jahr 1984 den Auftakt einer dreiteiligen Künstlerbuch-Reihe zu Celans Gedichtband Mohn und Gedächtnis. 1994 erscheint Der Sand aus den Urnen (mit 15 Original Acrylzeichnungen von Mischa Kuball. 66 Seiten auf Braille-Papier in Buchdruck bedruckt), 2012 Gegenlicht (mit 9 ‚laser drawings‘ von Mischa Kuball). 135 Laut Gunnar A. Kaldewey in einem Gespräch mit der Verfasserin am 15.02.2018.  





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die Schnitttechnik entstandenen recht- bzw. dreieckigen Flächen verwandeln sich innerhalb des Seitenumblätterns zu räumlichen Figuren. Der Leser-Betrachter kann auf die Formung Einfluss nehmen. Durch einzelne Schnittteile, die abstehen, entweder nach außen oder innen, eröffnen sich negative oder positive architektonische Räume (siehe Abb. E2/13). Sie ragen, greifen beinahe in den Lese- und Erfahrungsraum des Betrachters hinein. In der Bewegung der Buchseiten entstehen Papierräume und -skulpturen; eine Besonderheit dieses Buches ist, dass die verwendeten verschiedenen Papierarten beim Umblättern Laut geben, so dass im weitesten Sinn von einer Klangskulptur gesprochen werden könnte. Die ‚Mehrstimmigkeit‘ des Papiers. Im Gedicht Todesfuge wechselt der Bericht der Lagerinhaftierten fließend in die direkte Rede des Kommandanten. Ohne interpunktierende Zäsuren fließt, eilt das wechselnde Sprechen, das kombinatorische Verdichten von einzelnen wiederholten und variierten Phrasen immer weiter voran.136 Das Sprechen, die Stimmen scheinen wie ‚verfugt‘, und ein rhythmischer Sog entsteht. Auch wenn sich Celan davon distanziert hat, mit Blick auf Todes-fuge von jenem musikalischen Kompositionsprinzip als Dichtungsprinzip zu sprechen,137 so ist dennoch der polyphone Aufbau des Gedichts dem der Fuge in der Musik nicht unähnlich (Buck 1993, S. 77).138 Die Mittel der Mehrstimmigkeit und Wiederholung, die dem Komposi 

136 „Die bis ins Detail durchkomponierte Wortpartitur arbeitet im hohen Maße mit der steigernden Wirkung der Wiederholung, der Antithetik und ihrer Vermischung durch die simultane Textkonstellation. In erster Linie sind die lyrischen Strategien dabei abgestellt auf Kombinatorik (etwa in der Themenexposition einerseits von „wir trinken […]“, andererseits von „Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt […]“) und Modulation (Übergänge in der Art wie: „dein goldenes Haar Margarete/ Dein aschenes Haar Sulamith“ oder „wir schaufeln ein Grab“, „er schenkt uns ein Grab“). Ausdrucksmäßig bedeutet ein solches Verfahren die Entscheidung für die Preisgabe syntaktischer Über- oder Unterordnung. Daraus resultiert ein konsequent umgesetztes parataktisches Darstellungssystem. Es ist gekennzeichnet durch die radikale Nebenordnung der Sätze, Teilsätze und Satzteile, ebenso durch gleitende Übergänge und durch die ausgesparte Interpunktion.“ Buck 1993, S. 78. 137 Celan dazu: „Mein Gedicht ‚Todesfuge‘ (nicht: Die Todesfuge) ist nicht ‚nach musikalischen Prinzipien‘ komponiert; vielmehr habe ich es, als dieses Gedicht da war, als nicht unberechtigt empfunden, es ‚Todesfuge‘ zu nennen: von dem Tod her, den es – mit den Seinen – zur Sprache zu bringen versucht. Mit anderen Worten: ‚Todesfuge‘ – das ist ein einziges, keineswegs in seine Bestandteile aufteilbares Wort“ (23.2.1961). In: Celan 2005, S. 608. 138 Ein Fehler wäre es, diese Beobachtung interpretatorisch überzubewerten. Der Titel, die gestalterische Ähnlichkeit sind Zitate (zur Tradition der Verbindung von ‚Tod und Musik‘ vgl. Felstiner 1997, S. 61) unter vielen Zitaten, so auch das bekannte Bildmaterial einer unlängst zerstörten kulturellen Identität, das im Gedicht verwendet wird: Die Formel ‚der mit den Schlangen spielt‘ knüpft, wenn auch unspezifisch, an unzählige Geschichten der Mythologie an; „Margarete“, das Gretchen der Faust-Geschichte, erinnert mit ihrem goldenen Haar auch an die besungene Loreley von Heine; „Sulamith“ ist die angerufene Geliebte des biblischen Hohelieds, die mit ihrem „aschene[n] Haar“ kontrapunktisch neben der goldblonden Margarete erscheint; schließlich rufen die Geigenspielenden unwillkürlich die Assoziation mit mittelalterlichen Totentanz-Darstellungen hervor – um nur einige von vielen intertextuellen und interpikturalen Anspielungen (vgl. die Analyseansätze von John Felstiner und Theo Buck) zu benennen.  













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tionsprinzip der Fuge vergleichbar sind, werden in Celans Text auf strukturaler Ebene erkennbar. Die in der Fuge geforderten unterschiedlichen Tonhöhen, mit denen ein Thema zeitlich versetzt wiederholt wird, könnten nur durch die Rezitation hörbar gemacht werden. Mischa Kuball nimmt auf den Kartonseiten einen Grundschnitt vor, den er in Variationen sich wiederholen lässt, und übersetzt das akustische Phänomen in ein visuell und haptisch erfahrbares. Das eigentlich stumme Papier bekommt durch die Beschneidung, durch seine unterschiedlichen Papierstärken und -qualitäten auch eine Lautdimension, eine Möglichkeit zu ‚klingen‘. Jedes Papier erschafft einen anderen Laut, einen anderen Ton beim Umblättern und Bewegen der Seiten. Die ‚Mehrstimmigkeit‘ des Papiers wird – neben der Maßnahme des Beschneidens – durch die Buchbindung hervorgerufen und könnte nicht erzeugt werden, wenn die einzelnen Blattseiten lose übereinander lägen. So liegen die unbeschnittenen Kartonblätter in ihrer Steifheit recht schwer in der Hand, sind griffig, fest und geben beim Blättern einen eher dunklen Laut. Die feinen, leichten Transparentblätter indes produzieren in der Bewegung einen gleitenden, dabei raschelnden eher helleren Laut. Durch die wechselnde Folge der Blätter wird ein Rhythmus erzeugt, der durch akustische Zäsuren immer wieder gestört wird: Die beschnittenen Blätter brechen geradezu auf und machen ein kratzendes, auch hohl aufklappendes Geräusch. Durch die Papercuts wird der regelmäßige Papierklang immer wieder unterbrochen, die entstehenden Papierarchitekturen erzwingen ein Innehalten, einen kurzen Stillstand.  



Bildnerisches Übersetzungsverfahren. Mit einem so einprägsamen Bild wie der „schwarzen Milch der Frühe“ geht Kuball sehr vorsichtig um, sehr oft ist es als eine Redefigur des metaphorischen Sprechens missverstanden139 und das „existenziell poetische Sprechen“ (Goßens 2012, S. 43) in Celans Gedichten nicht berücksichtigt worden. Kuball nähert sich dieser paradoxalen Verbindung, ohne direkt auf das Sprachbild Bezug zu nehmen. Beinahe alle Seiten des Buchs (bis auf die letzten zwei gelben Blätter mit dem Druckvermerk)140 begegnen dem Leser-Betrachter in einem hellen, geradezu strahlenden milchigen Weiß, das allein von der Druckerschwärze auf den Textseiten verdunkelt wird. Doch nehmen die einzeln abgedruckten Strophen stets nur ein Drittel bzw. die Hälfte einer Seite ein. Schatten entstehen dort, wo das Transparentpapier auf die Schnittflächen fällt und sich um diese ein schwarzer Hof bildet. Die Schnitte, die das Papier ab- und hochstehen lassen, schaffen „Hohlräume“ und damit Räume, die eine Untiefe suggerieren, Dunkles vermuten lassen. Kuballs  

139 In Edgar Jenés Grafik zu Todesfuge findet sich eine chiffrenartige Reminiszenz, die innerhalb einer surrealistisch-metaphorischen Bildkomposition integriert ist, die eindeutig Grausames, Schauriges darstellen will (siehe Celan 1948). 140 Allein der Bucheinband (Buchrücken und Titelfeld auf der Vorderseite) und die letzten zwei Impressumseiten im Buch erhalten den Farbakzent eines leuchtenden Gelbs. Sehr subtil wird hier an den Judenstern und die damit verbundene Stigmatisierung und Ausschließung der Juden aus der Gesellschaft erinnert.

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bildnerische Annäherung an das Celansche Sprachbild erfolgt nicht in einem abbildenden, sondern in einer Art Übersetzungsverfahren. MSch

Abb. E 2/13: Paul Celan/Mischa Kuball: Todesfuge. New York/Düsseldorf 1984.  



E 2.23 Dieter Wagner: is da wirgli a rua oder goethes fettflecken (1985) Berlin: Edition Dieter Wagner, 1985. Text von J. W. v. Goethe. Buchgestaltung von Dieter Wagner. 22 Bogen Bütten, gefalzt, japanisch gebunden, Deckel aus Klarsichtfolie, verschraubt, Handsatz und Buchdruck, 19,6 x 14,4 cm. Auflage 100 Exemplare. Das im Folgenden präsentierte Buch stammt aus der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  











Bezugtext: Johann Wolfgang von Goethe: Über allen Gipfeln ist Ruh/Ein Gleiches (Gedicht, 1815)

Dieter Wagners is da wirgli a rua aus dem Jahr 1985 bearbeitet Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh/Ein Gleiches.141 Ein Charakteristikum von

141 Die von Goethe autorisierte Fassung des Gedichts lautet: „Ein gleiches.//Über allen Gipfeln/Ist Ruh‘,/In allen Wipfeln/Spürest Du/Kaum einen Hauch;/Die Vögelein schweigen im Walde./Warte nur! Balde/Ruhest du auch.“ Vgl. Segebrecht 1978, S. 13.  

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Wagners künstlerischer Arbeit ist der überlagernde Druck von Buchstaben (vgl. Soltek 2003, S. 120), ein Verfahren, das er auch auf den insgesamt 22 in Manier der Japanbindung mittig vertikal gefalzten Büttenbögen seines Künstlerbuchs anwendet. Die einzelnen Buchseiten von is da wirgli a rua werden von den gefalteten Bögen gebildet und mittels einer Schraubbindung fixiert. Auf der Innenseite der Bögen wurden die jeweiligen Buchstaben schwarz über- und ineinander gedruckt, dem Rezipienten von Wagners Buch präsentieren sich somit die Rückseiten des bedruckten Papiers. Da die Druckerfarbe durch das Papier durchdrückt, zeichnen sich die Ansammlungen übereinander gedruckter Buchstaben auf der für den Rezipienten sichtbaren Rückansicht der Papierbögen ab. Im gebundenen Zustand ist es für den Rezipienten nicht möglich, die satt schwarz ineinander gedruckten Buchstaben zu sehen. Der Künstler selbst weist am Ende seines Werks sein technisches Vorgehen im Zusammenhang mit einer intendierten Aussage seines Künstlerbuchs aus:  

jedes ding hat seine/zwei seiten/eine vorn eine hinten/dies ist nun des wanderers/nachtlied von hinten/die schwarze buchdruckfarbe/besteht aus öl (fett) und ruß/wird mit viel farbe und/starkem druck gedruckt/schlagen öl und farbe durch/gerade dies war zu goethes zeiten der fall/jedes ding hat seine/zwei seiten/goethe/der druck/der drucker. (Wagner 1985, unpag.)

Im gebundenen Zustand lassen sich die einzelnen Schriftzeichen auf den Seiten von Wagners Künstlerbuch kaum in einen kohärenten Zusammenhang setzen. Erschwert wird das Erkennen der einzelnen Buchstaben durch den Umstand, dass der Künstler diese nicht nur horizontal, sondern auch vertikal, diagonal und zuweilen auch gespiegelt druckt. Anders als sonstige Buchbindetechniken wie die Fadenbindung erlaubt die Schraubbindung das beliebige Öffnen und Verschließen des Gebindes. Sind die Schrauben gelöst, ist es möglich, die einzelnen gefalzten Buchseiten aus dem Werk zu entnehmen, aufzufalten und ihre bedruckte Seite zu betrachten. Die Lettern präsentieren sich als ein Konglomerat aus Großbuchstaben in ultrafetter Schriftstärke. Die jeweilige Begrenzung der Buchstaben ist zunächst nur äußerst schwer zu erkennen, beim genauen Hinsehen und insbesondere durch die Verlagerung des Blickpunktes werden die Ränder der einzelnen übereinandergelegten Buchstaben partiell durch ihre dem Druckprozess geschuldete leichte Einprägung in die Buchseite erkennbar. Die einzelnen genutzten Lettern sind teilweise nicht mehr erkenntlich, an anderen Stellen zeichnen sich deutlich einzelne Wörter auf den Doppelseiten ab. Dies ist beispielsweise bei den Wörtern „Gipfeln“ und „Wipfeln“ der Fall. Zuweilen sind ein bis zwei Buchstaben erkennbar, die Identifikation der weiteren Buchstaben kann durch die Andeutung charakteristischer Buchstabenteile wie Rundungen (eines ‚D‘ oder ‚G‘) oder Verbundstege (eines ‚A‘ oder ‚H‘) oftmals nur erahnt werden. Die Konzentration der Buchstaben erschwert die Lesbarkeit der Wörter, auf manchen Seiten sind sie unlesbar. Nachdem der bedruckte und aufgefaltete Bogen gewendet wurde, ändert sich der Ausdruck der Buchstaben: Der selten einheitliche Durchdruck von Farbe und Öl bedingt eine Überlagerung und Verflechtung einzelner Letternteile. Zu-

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weilen scheint sich eine Tiefenstaffelung der Lettern anzudeuten, evoziert durch changierende hellere und dunklere Buchstabendurchdrucke. Bis auf einzelne prägnante Wörter von Goethes Gedicht entzieht sich der Inhalt von Wagners Künstlerbuch der Lesbarkeit. Dass sich die Buchstaben zu Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh/Ein Gleiches zusammensetzen, ist für den Rezipienten nicht direkt ersichtlich. Letztlich verweisen die lesbaren Fragmente des Gedichts, Wagners Titel mit seinem Bezug zur Schweizerisch ausgedrückten „rua“ und der das Buch abschließende Hinweis auf „des wanderers/nachtlied“ auf Goethes Lyrik als Vorlage. Überschreibungen. Goethe schrieb sein Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh/Ein Gleiches wahrscheinlich am 6. September 1780 an die Holzwand einer Jagdschutzhütte auf dem thüringischen Kickelhahn.142 Durch ‚redaktionelle‘ Eingriffe anderer Hüttenbesucher in den Text und Verwitterungserscheinungen war Goethes Inschrift massiven Veränderungen ausgesetzt, bevor sie im August 1870 gänzlich durch einen Brand zerstört wurde (vgl. Kolago 2008, S. 77). Bevor Goethe sein Gedicht 1815 unter dem Titel Ein gleiches an Wandrers Nachtlied anschließend publizierte, erschienen unautorisierte Drucke im Jahr 1801 in The Monthly Magazine und 1803 in August von Kotzebues Zeitschrift Der Freimütige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser (vgl. ebd.; Reed 1996, S. 191). Die vor der offiziell von Goethe veranlassten Drucklegung erfolgten Publikationen von Über allen Gipfeln ist Ruh weisen Abweichungen zum 1815 veröffentlichten Gedicht auf, Abschriften und alternative Fassungen von unter anderem Johann Gottfried Herder und Heinrich von Kleist lehnen sich bei einigen Differenzen deutlich an Goethes Primärtext an.143 Vielfältige Adaptionen weisen auch nach der vom Verfasser autorisierten Publikation Bezüge zu vorherigen Textvarianten auf (vgl. Segebrecht 1978, S. 98–101), im Verlauf der Jahrhunderte wird auf das überaus populäre Gedicht medienübergreifend Bezug genommen (so trugen beispielsweise auch musikalische Bearbeitungen von Goethes Gedicht zu dessen zunehmender Bekanntheit bei; vgl. ebd., S. 31).  









Überschreibung. Die ‚Überschreibung‘ ist ein konstitutiver Zug von Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh. Die unautorisiert veröffentlichten Versionen des Gedichts sowie die vielfältigen Abschriften und Adaptionen stellen eine Art ‚Überschreibung‘ des Primärtextes dar. Diese ‚Überschreibung‘ findet schließlich ihren grafischen Ausdruck in Wagners Künstlerbuch. Insbesondere das technische Verfahren des überlappenden Buchstabendrucks vermag das Moment des ‚Überschreibens‘ von Goethes Original eindrücklich darzustellen. Die sich überlagernden Schriftzeichen verweisen auf den

142 „Bei einem Besuch auf dem Kickelhahn am 27.08.1831 hat G[oethe] die ‚alte Inschrift […] recognoscirt‘ und sie bei diesem Anlaß in seinem Tagebuch dem 7.9.1783 zugeschrieben, an dem er sich jedoch auf einer Reise in den Harz befunden hatte.“ Reed 1996, S. 191; vgl. Segebrecht 1978, S. 24–30. 143 Eine oftmals auftretende Abweichung ist beispielsweise die Ersetzung von „Gipfeln“ durch „Gefilden“ (vgl. Reed 1996, S. 191 und Goethe online).  





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

‚Redaktionsprozess‘, den Goethes Gedicht bereits als Wandtext und innerhalb der unterschiedlichen Versionierungen unautorisierter Abdrucke und Abschriften durchlaufen hat. Einzelne charakteristische Wörter aus Goethes Lyrik, wie „Gipfel“ und „Wipfel“ sind für den Leser nach dem Lösen der Schraubbindung des Buches und dem Aufklappen der gefalzten Seiten entzifferbar, andere Buchstabenkonglomerate können nur als solche rezipiert werden, ihr Bezug zum Gedicht bleibt durch die Opazität der übereinander gedruckten Buchstaben vage. Wagners Druckverfahren stellt die Unmöglichkeit aus, in einer textkritischen Analyse von Über allen Gipfeln ist Ruh das Originäre von der Hinzufügung oder dem Eingriff zu unterscheiden. Die Druckränder deuten den Prozess des Drucks an, während die sich überlagernden Farben diesen Eindruck gleichsam unterlaufen. Wagners Werk ist als Reminiszenz an die Publikationsgeschichte von Goethes Gedicht interpretierbar – auch auf materieller Ebene: Insbesondere der Ruß verweist auf den Verlust des originalen Übermittlungsträgers von Über allen Gipfeln ist Ruh, der durch den Brand des Schutzhäuschens in Gänze zerstört worden ist.  

„jedes ding hat seine/zwei seiten“ – Implikationen der Buchseite. Der Hinweis auf die „zwei seiten“ eines jeden Objekts fächert sich in Bezug auf Goethes Gedicht in ein vielfältiges Verweisgeflecht auf. Durch den nachträglich von Goethe vorgenommenen Anschluss des Textes an Des Wandrers Nachtlied/Der du vom Himmel bist unter dem Titel Ein Gleiches wird die Zweiteiligkeit eines Ganzen evoziert. Der Konstitution einer Buchseite mit Vorder- und Rückansicht vergleichbar, bilden beide Gedichte jeweils einen Teil einer Einheit aus. Ein Gleiches verweist dabei auf die Ebenbürtigkeit der Gedichte, auch wenn Über allen Gipfeln nach Der du vom Himmel bist erscheint. Das Gleiche der beiden Texte kann als Analogon zur formalen Gleichartigkeit der einzelnen Buchseiten interpretiert werden.144 Der Status von Recto- und Verso-Ansicht einer Buchseite wird beim Lesen eines konventionellen Buchs zumeist nicht reflektiert, die materielle Einheit von rechter und linker Ansicht einer Buchseite wird ausgeblendet. Lediglich die aktuell aufgeklappte Doppelseite ist zu sehen und somit für den Leser ‚existent‘.145 Während die konventionelle Japanbindung verhindert, dass die Inhalte der einen auf die andere Buchseite durchscheinen, ist das Durchschlagen der Buchstaben bei den invertiert gebundenen Seiten in Wagners Künstlerbuch erwünscht. Dieses Verfahren prononciert geradezu die Zusammengehörigkeit von Vorder- und Rückansicht einer Seite. Während die gefaltete und gebundene Buchseite aufgrund der weitestgehenden Unlesbarkeit der durchgedrückten Buchstaben von ei 

144 „Using only the right-hand side of the opened folio, always leaving the left side blank, indicates little perception of the codex format. To put it another way, the terms ‚front‘ and ‚back‘ for a page are irrelevant or interchangeable; they are equal.“ Smith, Keith 1994, S. 59. 145 „Everything is transitory: every side is a front when the codex book is opened, and only while it is opened to that position. When the page is turned, that front becomes a back. […] The codex is so ephemeral that it exists only as fragments in now-time: the opened folio.“ Ebd.  

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nem fragmentarischen Ausdruck geprägt ist, ermöglicht die aufgefaltete Buchseite, als Einheit besehen, zuweilen die Dechiffrierung des Textes, wodurch sich dem Rezipienten die Bezugnahme von Wagners Werk auf Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh/Ein gleiches erschließt. Das Schriftbild auf der Rückseite der bedruckten Seiten wirkt ephemer, auf manchen Seiten deutet sich eine Räumlichkeit evozierende Überlagerung an. Das Wort „Wipfeln“ hat der Künstler beispielsweise auf einer Doppelseite fünfmal gleichmäßig versetzt übereinander gedruckt. Im Druckergebnis wirken die Wörter wie hintereinander angeordnet. Es zeigt sich eine Analogie zur Ansicht von Baumwipfeln von einem erhöhten Blickpunkt, „über allen Gipfeln“, aus: Die Kronen von an Hängen wachsenden Bäumen sind gleichsam übereinander gestaffelt. Wagners is da wirgli a rua oder goethes fettflecken geben einerseits einen grafischen Ausdruck des Be- und Überarbeitungsprozesses, dem Über allen Gipfeln ist Ruh ausgesetzt war und ist. Andererseits ist Wagners Werk von einem konkreten Zug geprägt, der sowohl auf den Entstehungsort von Goethes Gedicht als auch auf die Konventionen der Rezeption einer Buchseite und ihre Konstitution verweist. PH

E 2.24 Alberto Savinio/Francesco Clemente: The Departure of the Argonaut (1986) London/New York: Petersburg Press, 1986. Text von Alberto Savinio. Mit Lithografien von Francesco Clemente. Druck: auf Okawara-Papier, Lithografien bei Rolf Neumann, Stuttgart; Text bei Staib und Mayer, Stuttgart. Schrift: Bembo. 1 Doppelbl. + 49 Doppelbl. + 1 Doppelbl.; Bl.: 65 x 50 cm. Auflage: 200 Exemplare, nummer. 1–200 und 32 Proofs, nummer. I-XXXII; Portfolio: 50 Exemplare, nummer. 1–50, mit 6 Proofs (plus XXXII mit je individueller Widmung), 65 x 50 cm, nummer. I-VI. (Druckvermerk vgl. Hernad, in: dies./Maur 1992, S. 274.) Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Portfolioexemplar Nr. 43 der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München.  















Bezugstext: Alberto Savinio (d. i. Andrea Francesco Alberto de Chirico): La partenza dell’argonauta (Reiseerzählung, 1917/1918, Übersetzung aus dem Italienischen ins Englische von George Scrivani)  

La partenza dell’argonauta ist der umfangreichste Teil in Alberto Savinios 1918 erschienenem Hermaphrodito, einer Sammlung von Erzählungen, Gedichten und Theaterstücken. Die Reiseerzählung gliedert sich in fünf Kapitel und einen Epilog, in denen die Überfahrt eines italienischen Soldaten im Ersten Weltkrieg von Ferrara an die Salonikifront geschildert wird. Über die Hafenstadt Taranto erreicht der Ich-Erzähler mit dem Zug und mit dem Schiff in einer langwierigen und umständlichen Odyssee die mazedonische Front. (Die Reiseroute stimmt mit der Alberto Savinios überein. Er wurde im Juli 1917 als Dolmetscher an die Salonikifront bestellt; vgl. Gahl 2003, S. 170.) Savinios Protagonist beobachtet die meiste Zeit seine Umgebung und konzentriert sich dabei vor allem auf Details, woraus sich ausschweifende Gedankengänge ent 

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

spinnen, die um das Wahrgenommene und um nicht Wahrnehmbares kreisen (vgl. ebd., S. 193). Unablässig kontextualisiert der Erzähler seine Situation und seine Umgebung – die Entsendung an die Kriegsfront, die Architektur und die Landschaften, die sich ihm auf seiner Überfahrt präsentieren – mit Legendarischem und Geschichtlichem. Sowohl implizit als auch explizit verweist der Erzähler auf literarische Werke, zumeist antike und frühneuzeitliche ‚Klassiker der Weltliteratur‘, an die er sich erinnert fühlt. Diese introspektiven Assoziationsketten gleichen einem dichten intertextuellen Geflecht, das die Erzählung trägt und vor allem von einer bildhaften Sprache geprägt ist. Während anderen Menschen im Gefühl der Angst der Kopf schwirre, ‚schmiede‘ der „literary mind“ des Erzählers vor allem Bilder (unpag. [Kap. III]). Ein Ergebnis dieser Bilderproduktion sind oftmals traumhaft anmutende Textpassagen, die einem Kausalitätsanspruch entgegenstehen. Die Blickfokussierung auf Details kann dabei auch vor dem Hintergrund der Ideen aus der ‚scuola metafisica‘ interpretiert werden, deren Gründer Savinio neben seinem Bruder Giorgio de Chirico und Carlo Carrà war.146  







Text-Bild-Spannungen. Francesco Clemente scheint in seiner Bearbeitung von Savinios Erzählung auf das Spannungsverhältnis von Text und Bildlichkeit einzugehen. Der Künstler ergänzt den Text um insgesamt 48 Lithografien, die sich auf jeder Doppelseite des Künstlerbuchs finden. Clementes Bilder interagieren auf unterschiedlichen Ebenen mit Savinios Text, sie scheinen der Erzählung sowohl zu korrespondieren als auch ihr entgegenzustehen. Jeden Buchabschnitt gestaltet Clemente anders: Während das erste Kapitel von Heterogenität geprägt ist und keine Wiederholungen einer spezifischen Motivik oder Komposition erkennbar sind, scheinen die Grafiken in den anschließenden Kapiteln und im Epilog als eine Art bildliche ‚Klammer‘ die Textpassage einzufassen. So ist mittig auf allen Doppelseiten des zweiten Kapitels jeweils ein Seemannsknoten gesetzt, der zum einen in Korrespondenz mit der Schifffahrt von Savinios Protagonisten steht. Zum anderen drückt die Position der Knotengrafik – sie ist mittig über dem Falz auf die Doppelseite aufgebracht und ‚verbindet‘ die beiden eigentlich voneinander getrennten Buchseiten – eine Prägnanz aus, die Savinios assoziativer und ausschweifender Erzählweise entgegenzustehen scheint. Zugleich kann das Bild des Knotens als Entsprechung des sich komplex ‚windenden Erzählfadens‘ interpretiert werden. Wie simpel die Bezüge zwischen Bild und Text in Clementes Grafiken zuweilen sein können, zeigt sich besonders prägnant an einer Folge von Signalflaggen, die auf jeder Verso-Seite des fünften Kapitels untereinander gedruckt wurden und zusammengenommen den Namen ‚S – A – V – I – N – I – O‘ ergeben.  















146 „Ganz analog zu de Chiricos Überlegungen zum ‚metaphysischen Aspekt der Dinge‘ in Sull’arte metafisica impliziert der in Savinios Text vorgeführte Blick auf die Dinge, daß der Betrachter sie isoliert und von allen kausalen und funktionalen Beziehungen zwischen ihnen absieht.“ Gahl 2003, S. 209.  

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E 2 Künstlerbücher

Druckverfahren. Das Zusammenwirken unterschiedlicher Ebenen bei der Bedeutungskonstitution von Savinios Text in Kombination und Konfrontation mit Clementes Lithografien findet seinen materiellen Ausdruck im technischen Verfahren der Bucherstellung. Die Möglichkeit, seine Druckvorzeichnung auf speziell behandelten Blättern aus Mylar auszuführen, nutzt Clemente zur Kreation virtuoser grafischer Überlappungen. Das verwendete Material konnte der Künstler im Gegensatz zum Lithografiestein zu mehreren Blättern übereinander geschichtet drucken lassen und die Kreation gestattete so in einem Druckvorgang eine mehrere Ebenen aufweisende Grafik (vgl. Henry 1986, S. 87). Die intertextuelle Vielschichtigkeit des Textes findet so mithilfe des spezifischen Druckverfahrens ein technisches und bildliches Analogon: „It [Clementes The Departure of the Argonaut, Anm. d. Verf.] is […] a livre de luxe about the art of livres de luxe – in Savinio’s text, about telling an infinitely digressing story with wit and erudition and high style; in Clemente’s art, about the art of printmaking, printmaking in service to, but not bound by, a given work of literature.“ (Ebd., S. 89) PH  





E 2.25 Roy Fisher/Ronald King: The left-handed Punch (1986) Guildford: Circle Press Publications, 1986. Sieb- und Buchdruck auf 300 g/qm Somerset-Papier, Schrift: Baskerville und Castellar. Bl.: 38 x 28 cm. Aufl.: 80 Exemplare, nummeriert und signiert von beiden Künstlern, sowie weitere acht Exemplare a. p. (Artist’s Proof) und H. C. (hors commerce). Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt Ex. Nr. 74/80 der Sammlung der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M.  













Bezugstext: Punch and Judy (trad. Puppentheaterstück)

1984 initiiert der Künstler Ronald King die Produktion eines Künstlerbuchs zum traditionellen englischen Puppentheaterstück Punch and Judy in Kollaboration mit dem Schriftsteller Roy Fisher (vgl. Teil D, Art. „Papiertheater“). Das Buch gliedert sich in sechs Szenen, ergänzt um einen Prolog und einen Epilog, die jeweils vier Seiten umfassen. Es finden sich vier Elemente im Künstlerbuch, mithilfe derer das Punch-andJudy-Puppenspiel in Buchform inszeniert wird: „[…] the puppets, the on-stage directions, the off-stage commentary and lastly the inimitable script taken from the original drama.“ (Fisher/King 1986, unpag.) Variationen über die Theaterwelt Punchs. Für die 12 Papierpuppen nutzte King diverse Abbildungen. Erkennbar sind Reproduktionen nachbearbeiteter Ausschnitte u. a. aus Porträtfotografien, deren Motive – oftmals sind dies Augen und Münder – die Gesichter der Puppen prägen. Die Kombination von heterogenem Bildmaterial in Kombination mit dem surreal-expressionistischen Formenvokabular verleiht den Figuren einen skurrilen Ausdruck. Einzelne Gliedmaßen der Puppen sind durch Gelenke miteinander verbunden und lassen sich bewegen, wodurch der Rezipient von The  





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

left-handed Punch zum einen die skurrilen Figuren durch Verdrehungen variieren kann; zum anderen wird er so selbst zum Puppenspieler – eine Eigenschaft, die er mit der Hauptfigur in Fishers und Kings Inszenierung des Theaterstücks gemein hat: Auf den ersten Seiten des Puppentheaters in Buchform findet sich ein blauer Direktdruck von einer rechten Hand, versehen mit dem handschriftlichen Zusatz:„Mr Punch occupies The [sic] puppeteer’s right hand“. Daneben ist Punch als papierne Gelenkpuppe auf die Buchseite montiert; in seiner rechten Hand hält er eine Miniaturversion seiner selbst, in der linken den obligatorischen Knüppel, mit dem er in den sich anschließenden Szenen diversen Figuren zu Leibe rücken wird. Diese Doppelseite kann als alternatives Titelblatt interpretiert werden, auf dem Punch als linkshändiger Schläger eingeführt und subtil eine Assoziation von Rezipient und Protagonist aufgerufen wird. Über das Motiv der Umkehrung – der eigentlich rechten Hand, die sich im Druckbild für den Betrachter als Innenfläche einer linken Hand darstellt – ergibt sich zudem eine Verbindung zur Inversion im Originaltitel des Stücks, The Tragical Comedy or Comical Tragedy of Punch and Judy.147 Die Bedeutung der Perspektive auf die Dinge, die sich bei unterschiedlichem visuellen Zugriff divers präsentieren können, wird auf diesen ersten Seiten des Buchs betont und bildet eins der Hauptthemen in Left-handed Punch: „But in Punch the difference between one hand and the other is inscribed into the overall construction as the knowledge that meanings, circumstances and events come into being only through a plurality of viewpoints and perspectives.“ (Sperling 2007, S. 1452) Auch die Vielfältigkeit der verwendeten Techniken, die in der Produktion des Künstlerbuches zum Einsatz kommen, visualisieren die Diversität der Dinge und ihrer Darstellungen (vgl. Hildebrand-Schat 2015c, S. 112). Der Einband und die ersten Seiten von Fishers und Kings Left-handed Punch rufen Konventionen sowohl des Buchs als auch des Theaters auf. Die Darstellung sensibilisiert den Rezipienten für eine potenzielle Vielfalt an Bedeutungsebenen, die im Künstlerbuch eröffnet werden. Senkrechte blaue und weiße Streifen zieren den Bucheinband und eine rechteckige Aussparung in der oberen Hälfte des Buchdeckels zeigt das rote Titelblatt mit dem Buchtitel und den Künstlernamen. In seiner äußeren Gestaltung erinnert das Buch an eine der Puppentheaterbühnen, auf denen die Punch-and-Judy-Stücke gespielt werden; der rote Hintergrund des Titelblatts deutet einen roten Vorhang an (vgl. Fisher/King 1986).  









Textformate. Neben den papiernen Puppen sind im Handbuch drei unterschiedliche Arten von Text abgedruckt. Dabei handelt es sich um handgeschriebene „on-stage“Anweisungen und „off-stage“-Kommentare sowie um die Übertragung der inhaltlichen Grundlage des Künstlerbuchs, die Routledge-Publikation The Tragical Comedy

147 Fisher zu den mehrfachen Bedeutungsebenen: „[…] to do with pugilism, left-handed compliments, and general crack-handedness, and the fact that I’m left-handed and loyal to my minority“ (Lambirth 2002, S. 145).  

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or Comical Tragedy of Punch and Judy aus dem Jahr 1860 mit Illustrationen von George Cruikshank. Dass der Text des Stücks aus einem anderen Buch entnommen und ins Künstlerbuch integriert wurde, ist an der Übernahme der Seitengestaltung der Vorlage ersichtlich. Durch den im Abgleich mit dem Original verkleinerten Druck wirkt der Routledge-Text wie ein Fußnotenteil (vgl. Sperling 2007, S. 1452), auf dem die Puppen und handschriftlichen Texte basieren und aus dem sie sich weiterentwickeln, um schließlich erneut in einem Kodex – Kings und Fishers Künstlerbuch – präsentiert zu werden. Die Übernahme und Bearbeitung von präexistenten Texten und Bildern zur Erstellung eines Künstlerbuchs evozieren dabei die Vorstellung des Buchs als ‚Sammelbehältnis‘ für zuvor Existentes und als Ort für dessen Anreicherung durch den bearbeitenden Zugriff des Künstlers, der Buchinhalte ‚recycelt‘ und neu ‚verwertet‘: „You get remarks on some books that say ‚This book is made from recycled paper‘. My books maybe ought to have a warning saying ‚This book is made from recycled books‘.“ (zit. nach ebd., S. 1446) PH  







E 2.26 Karel Čapek/Hans Ticha: Der Krieg mit den Molchen (1987) Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 1987. Erste Auflage. Text von Karel Čapek, deutsche Übersetzung von Eliška Glaserova. Mit Illustrationen von Hans Ticha. Typografie: Hans Ticha und Peter Birmele. Bezugstext: Karel Čapek: Válka s mloky (satirischer Roman, 1935/1936)

Karel Čapeks (1890–1938) satirischer Roman Válka s mloky gliedert sich in drei Bücher, in denen von der Entdeckung menschenähnlicher Molche in der Nähe von Sumatra, der anschließenden ‚Zivilisierung‘ der Amphibien und schließlich von der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Mensch und Molch erzählt wird. Als Kapitän van Toch zur Erschließung neuer Perlenfelder Indonesien bereist, stößt er auf der Insel Tana Masa in die Devil Bay vor. Die Einheimischen meiden die Bucht strikt, da sie glauben, dort kleinkindgroße, schwarze Teufel entdeckt zu haben. Van Toch erkennt, dass es sich bei den vermeintlichen Dämonen um Andrias Scheuchzeri, eine Art Molch, handelt, die sich – zunächst noch scheu – als äußerst lernfähig erweist. Insbesondere über Nachahmung erlernen die Amphibien sprechen, rechnen und erweisen sich sogar als fähig, in der Wissenschaft zu reüssieren (vgl. Čapek 1987, S. 222f., 226). Da die Ressourcen auf der Erde begrenzt sind, sowohl Menschen als auch Molche jedoch einen imperialistischen Expansionsdrang zeigen, kommt es zum Konflikt, der die jeweilige Art existenziell bedroht: Während die Menschen danach streben, ihre Kontinente mithilfe der Arbeitskraft der Molche zu vergrößern und die Meeresflächen zu verringern, trachten die Amphibien mit zunehmender Population danach, Land und Tiefsee in das bevorzugte Habitat, seichte Küstengebiete, umzuwandeln. Am Schluss des Romans haben die Molche den Kampf um die Vorherrschaft gegen die Menschen vorerst  





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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

für sich entschieden. Sie sind bereits tief in die Festlandmassen der Erde vorgedrungen, und die Unterlegenen führen Arbeitsaufträge der Amphibien aus. Da Mensch und Molch sich in ihrem Imperialismus ähnlich sind, wird am Schluss des Romans in einem ‚Selbstgespräch‘ des Autors prognostiziert, dass sich der Ausbreitungsdrang des Molchs zwangsläufig gegen ihn selbst richten und schließlich zu seiner Auslöschung führen wird. Die Überreste der ins Gebirge geflohenen Menschheit hätten in der Folge die Möglichkeit, sich erneut auf der Erde auszubreiten. Thematik und Form. Das zyklische Moment – die Entwicklung von Mensch und Molch von einer rudimentär strukturierten, Tauschhandel treibenden Gesellschaft hin zu einer rationalistisch-technizistischen, extrem expansionsfreudigen und sich durch diesen Hegemonialanspruch schließlich selbst bedrohenden Spezies – spiegelt sich in der Dreiteilung des Romans wider. Dem Verlauf von Entdeckung, Aufstieg und Dominanz der Molche korrespondiert bei Ticha eine je divergierende Art der Mise en page und des discours. Zum Ende des ersten Buchs wird der Tod des Kapitäns van Toch bekanntgegeben. Auf der Generalversammlung der Pazifischen Export-Gesellschaft verkündet der Vorsitzende Bondy das Ableben des Kapitäns, womit zugleich auch eine neue Ära der Beziehung zwischen Molch und Mensch anbreche. Wie dem Protokoll der Versammlung zu entnehmen ist, wird die Gründung eines Salamandersyndikats beschlossen, das die Ausbeutung der Amphibien bis zum Äußersten treiben wird. Bondys Äußerungen zum Ableben des Kapitäns und zum neuen ökonomischen Umgang mit den Molchen haben auch eine geschichts- und medienreflexive Dimension. Das Protokoll, vom vorherigen und nachfolgenden Text gestalterisch durch die Suggestion eines kopierten, maschinengeschriebenen und gelochten Papiers abgerückt, gibt die Äußerungen Bondys wie folgt wieder:  



Der Stil Kapitän van Tochs war, ich möchte sagen, der Stil des Abenteuerromans. Es war der Stil Jack Londons, Joseph Conrads und anderer. Der alte, exotische, koloniale, nahezu heroische Stil. Ich leugne nicht, daß er mich auf seine Art bezauberte. Aber nach dem Tode Kapitän van Tochs haben wir nicht mehr das Recht, in dieser abenteuerlichen, juvenilen Epik fortzufahren. Was vor uns liegt, ist nicht ein neues Kapitel, sondern eine neue Konzeption, […] die Aufgabe einer neuen, wesentlich anderen Imagination. (Ebd., S. 134f.)  

In der Tat weist das erste Buch von Krieg mit den Molchen Bezüge zum Abenteuerbzw. Reiseroman auf. Die Bezeichnung als „juvenile Epik“ ist auch ein Hinweis darauf, dass im Folgenden sowohl auf der inhaltlichen Ebene des Romans, also in der Interaktion von Mensch und Molch, als auch in der Art der Erzählung ein neues Kapitel anbricht. Bezeichnenderweise ist das Protokoll der Vorstandssitzung Teil des letzten Kapitels des ersten Buchs. Ein sich anschließender „Nachtrag“ bricht sowohl mit der vorherigen Seitengestaltung als auch mit der Art und Weise des Erzählens und leitet, gestaltet als Auszug aus einem wissenschaftlichen Beitrag „Über das Geschlechtsleben der Molche“, in die Struktur des zweiten Buchs über. Was folgt, ist eine Sammlung heterogener wissenschaftlicher Beiträge und Zeitungsartikel, die mittels

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eines rahmenden Erzählerberichts in einen kohärenten Zusammenhang überführt werden. Insbesondere das zweite Buch von Čapeks Roman präsentiert sich als Sammelsurium, das unter einem Oberthema, den Eigenschaften und der Entwicklung der Molche, steht. Das Buch nimmt den Status eines Sammlungsbehältnisses an: Die Zeitungsausschnitte wurden ursprünglich von Bondys Portier, Herrn Povondra, in Schachteln gesammelt und nun vom Erzähler in ein neues Konvolut – das Buch – überführt (vgl. ebd., S. 154–157). Die Gestaltung der Buchseiten, Tichas Beigabe von Illustrationen und die Einbettung unterschiedlicher Typografien, erhöht zudem den Eindruck des Heterogenen, das sich unter der thematischen Klammer ‚Molch‘ als ein Sammelalbum präsentiert. Ticha möchte seine Illustrationen dabei stets als „Zutat“,148 als eine Art eigenständigen Dialogpartner zum Text verstanden wissen. Zum einen stützen die zumeist ganzseitigen Grafiken Tichas den Eindruck des Buchs als ein Album. Ähnlich wie in Fotoalben werden die in den Bildern dargestellten Figuren am Rand benannt. Die Grafiken erinnern in ihrer stereometrischen Anlage an Werke Oskar Schlemmers, die Abbildungen comichafter Frauen- und Männerköpfe zeigen zudem Referenzen zum Œuvre Roy Lichtensteins. Hierdurch binden sie sich an die Themen des Romans: So verknüpfen sich beispielsweise die geometrischen Kompositionen Tichas mit dem von künstlerischen Avantgarden gefeierten rationalistischen „Regulierungswerk der Molche als neue[r] Quelle der Schönheit und Monumentalität“ (Čapek 1987, S. 273). Die Imitation anderer Kunststile verweist zudem auf die Eigenschaft der Molche, sich insbesondere über die Nachahmung menschlicher Verhaltensweisen zu entwickeln.  







Stil- und Formatzitate. Die Entlehnung formaler Gestaltungsformen aus der Pop Art verknüpft sich in Verbindung mit der typografischen Gestaltung des Romans auch mit dem Format der Zeitung, in dem Čapeks Werk zunächst als Fortsetzungsroman erschien (von September 1935 bis Januar 1936 in der tschechischen Tageszeitung Lidové noviny; vgl. Schamschula 2004, S. 237). Während die Grafiken Teil von Werbeanzeigen oder Comicstrips sein könnten, erinnert die Gestaltung des Textes zuweilen an Schlagzeilenüberschriften. Bereits die erste Auflage von Čapeks Roman weist diese typografischen Besonderheiten auf. Das zweite Buch ist gestalterisch ebenfalls schon als eine Artikelsammlung angelegt, die Ticha um weitere, im Gegensatz zur ursprünglichen Gestaltung farbige, Grafiken erweitert. Die Einbindung vermeintlicher Zeitungsausschnitte ins Buch reflektiert nicht nur die Publikationsgeschichte von Válka s mloky, sie verdeutlicht auch das spezifische Spannungsverhältnis von Fakt und Fiktion im medialen Wechselspiel von Buch und Zeitung: Die Textsorte Zeitungsartikel ist im Gegensatz zur Romanerzählung vor allem von einem Anspruch der Faktenorientierung  

148 Zitiert nach Balke, Florian: Kongenialer Krieg mit den Molchen: Hans Tichas Buchillustrationen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/kultur/deutsche-bibliothek-kongenialer-krieg-mit-den-molchen-hans-tichas-buchillustrationen-1175836.html (15.04.2018).

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

geprägt; eine Zuschreibung, die sich auf das gesamte Medium der Zeitung ausweitet. Eine der Ausnahmen für diese Fokussierung auf das Faktische ist unter anderem der Fortsetzungsroman, der mal mehr, mal weniger visuell deutlich als fiktionaler Text vom Rest der Zeitung abgerückt ist. Die Übernahme von gestalterischen Mitteln der Tageszeitung rückt das Fiktionale von Čapeks Roman in die Nähe der dem Bereich des Faktualen nahestehenden Zeitungsartikel. Obwohl es sich bei den dargestellten Molchen um eine fiktive, wenn auch dem Namen nach ehemals real existente Spezies handelt, entstammen die ins Buch überführten, ‚Irreales‘ thematisierenden Schlagzeilen de facto einer Tageszeitung. PH

E 2.27 Holly Anderson/Janet Zweig: Sheherezade. A Flip Book (1988) Long Island City (NY): Sheherezade (Selbstverlag), 1988. Mit Texten von Holly Anderson. Buchgestaltung von Janet Zweig. Druck: Carl Sesto, Newburyport, MA, Buchbindung: Mueller Trade Bindery, Middletown, CT/Long Island, NY. 320 Seiten, 18 x 23 cm, violetter Einband, Druck in Schwarz und Gold.  





Bezugstexte: Holly Anderson: Sheherezade (Texte für das Buchprojekt); Märchen aus 1001 Nacht

Im Jahr 1988 erscheint Sheherezade, ein Daumenkino von Janet Zweig mit Texten von Holly Anderson. Die Gestaltung der Buchseiten folgt einem stringenten Prinzip: Innerhalb des querrechteckigen Buchs ist unten links auf der Verso-Seite eine stehende Frau im Profil dargestellt, die nach links – also aus dem Buch heraus – schaut. Auf der rechten Seite ist ein Text zu lesen, der beim schnellen Blättern, im Fortlauf der Seiten, wie herangezoomt wirkt. Simultan zum Prozess des visuellen ‚Eindringens‘ in den Text verändert sich die Position der Frauenfigur auf der linken Seite: Sie beugt sich nach vorn, umfasst den Saum ihres Kleides, zieht dieses über ihren Kopf und wirft es aus dem ‚Buchraum‘. Unter dem abgelegten Kleid trägt die Frau wiederum ein Kleid. Nach einer Sequenz von 32 Seiten befindet sich die Figur wieder in ihrer Ausgangsposition, der Prozess des Entkleidens beginnt von vorn. Im Verlauf der Seiten wird der Text so weit herangezoomt, dass zunächst einzelne Buchstaben, dann Buchstabenfragmente und schließlich die Unregelmäßigkeit des Drucks in den Vordergrund treten: die zuvor einheitlich schwarz gedruckt scheinenden Buchstaben lösen sich auf; das von Fern betrachtet schwarz Wirkende ist durchsetzt mit weißen Stellen, wo die Druckerfarbe scheinbar nicht auf dem Papier haften blieb. Diese Vergrößerung der Schrift wirkt wie eine mikroskopische Aufnahme, die offenlegt, dass die Druckerschwärze beim Druck keine soliden Buchstaben bildet, sondern dass stets unbedruckte Stellen übrigbleiben, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind. Beim weiteren Heranzoomen ist ein neuer Text innerhalb einer solchen unbedruckten Stelle zu erkennen. Im Verlauf einer Sequenz des Entkleidens auf der linken Seite, werden alle  



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Textvergrößerungsstadien durchlaufen – sodass der Wiederholung des Entkleidens eine formale Wiederholung der Textdarstellung korrespondiert. Auf den Seiten, auf denen der Text lesbar ist, werden dem Leser Geschichten präsentiert, die fragmentarisch wirken und – im Unterschied zur Handlungswiederholung der Frauenfigur und dem Prozess der Textvergrößerung – diverse Inhalte aufweisen.  





Scheherazades Geschichten – 1001 Nacht und Sheherezade. Scheherazade, die Tochter eines Wesirs, ist eine der Hauptfiguren innerhalb der Rahmenhandlung der Erzählungssammlung 1001 Nacht. Sie heiratet den misogynen persischen König Schahrayâr, der jeden Tag eine neue Frau heiratet und diese am folgenden Morgen ermorden lässt. Scheherazade, gewillt diesem Unrecht ein Ende zu bereiten, heiratet den persischen König und entzieht sich ihrer drohenden Tötung durch das nächtliche Erzählen von Geschichten. Schahrayâr findet großen Gefallen an den Erzählungen seiner Ehefrau und verschont sie jeden Morgen erneut, um in der Nacht eine weitere Erzählung vernehmen zu können. Dies wiederholt sich insgesamt 1.000 Mal, bis Scheherazade vollends verschont wird. Der Bewegungsprozess der Frauenfigur und das Heranzoomen des Textes innerhalb von Zweigs und Andersons Sheherezade können als Analogie zu der Rahmenhandlung von 1001 Nacht interpretiert werden: Formal handelt es sich um eine Wiederholung der Figurenhandlungen – inhaltlich wartet Scheherazade stets mit einer anderen Geschichte auf. Dabei bleibt es nicht bei der Einbettung einer Binnen- in die Rahmenerzählung. Scheherazade lässt Figuren ihrer Binnenerzählung wiederum Geschichten vortragen – ein Vorgang, der sich potenziell ins Unendliche fortsetzen lässt und von Zweig und Anderson durch das Heranzoomen des Textes, in dem neuer Text erscheint, dargestellt wird. Signifikant erscheint gelegentlich, auf welche Wortteile bei der zunehmenden Vergrößerung des Textes fokussiert wird: Innerhalb der ersten Seitenfolge ist auf den rechten Seiten der Titel – „Sheherezade“ – zu lesen, der demselben Prozess des Heranzoomens unterzogen wird wie die nachfolgenden Texte. Das Fokussieren auf Wortfragmente und Buchstaben initialisiert die Reflexion über mögliche Bedeutungen des zu Lesenden: Die im Fortlauf der Seiten vergrößerten Wortteile bedingen potenziell neue Bedeutungsinhalte, wenn zunächst „Shehere“, dann „heher“ und folglich „ehe“ zu lesen ist. Während ersteres als Zusammensetzung des englischen Pronomens ‚she‘ und des Adverbs ‚here‘ beispielsweise auf Scheherazade selbst verweisen könnte, tritt in der folgenden Fokussierung auf ‚he‘ und ‚her‘ ein zweiter, männlicher Protagonist auf – der persische König Schahrayâr. Das Fragment ‚ehe‘ hingegen könnte auf den deutschen Begriff für die Verbindung von Schahrayâr und Scheherazade anspielen. Folgte man dieser Lesart, wären anhand des Heranzoomens in den Buchtitel bereits wichtige Eckpunkte der Rahmenhandlung von 1001 Nacht verdeutlicht.149  









149 Deutlich werden mögliche Bedeutungszuschreibungen an Text- und Wortfragmente auch zwei Sequenzen weiter, zwischen der „Green Story“ und der Erzählung „Blood Beach“: Hier wird zunächst auf

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Rahmen- und Binnenerzählungen. Insgesamt werden dem Leser von Sheherezade neben der Rahmenhandlung vier Binnenerzählungen präsentiert, entweder vom IchErzähler der Rahmenhandlung oder von Figuren anderer Binnenerzählungen vorgetragen; ihre Titel sind „Green Story“, „Blood Beach“, „Bramble“ und „The Bonfire“. Analog zum Gefüge von 1001 Nacht konstituiert sich das Werk von Zweig und Anderson aus drei Ebenen und reflektiert damit die diversen Modi des Erzählens.150 Die Erzählertypen innerhalb der jeweiligen Geschichten bleiben zuweilen undeutlich. Es ist unklar, wer die Erzählungen vorträgt – der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung oder die Figuren der Binnennarration. Diese Verzweigungen des Erzählens, die für den Rezipienten zum undurchschaubaren Dickicht wuchern, wirken wie ein Nachvollzug der Konstitution von 1001 Nacht, das als Sammlung wahrscheinlich vornehmlich arabischer, persischer und griechischer Geschichten ein heterogenes Werk ist – „ohne fassbaren ‚Redakteur‘, der eine durchgängige Ordnung und Struktur hineingebracht hätte“ (Volkmann 2004, S. 15 und vgl. Die Erzählungen 1961, Bd. 6, S. 662, 736). Das in Sheherezade gewählte Motiv- und Themenspektrum erinnert zunächst an archaische Mythen und Märchen, ein Eindruck, der durch die Implementierung zeitgenössischer Elemente wie Busse, High Heels und Plastikbehälter unterwandert wird.  









Mündliches und schriftliches Erzählen im Spannungsverhältnis zur Kodexform. In Sheherezade wird an mehreren Stellen das Verhältnis von mündlichem und schriftlichem Erzählen thematisiert. Die Ich-Erzählerin berichtet zu Beginn von einer Geschichtenerzählerin, die fortgeschickt worden ist und deren Platz sie nun einzunehmen versucht. Sie schreibe dies – den Text, den der Leser liest – für die Verschwundene auf, da dies zuweilen sicherer sei als zu sprechen. (Es ist unklar, ob die Geschichtenerzählerin fortgeschickt wurde, weil sie Geschichten erzählt hat. Die Ausführungen der Ich-Erzählerin lassen dies jedoch vermuten: „I’m writing this for her. Sometimes that’s safer than speaking.“ Anderson/Zweig 1988, unpag.) Am Ende der nachfolgenden Erzählungen wird darauf verwiesen, dass die Quellen der jeweiligen Geschichten nirgends gelistet, also aufgeschrieben worden sind („Green Story“: „‚Where does this information come from? Why aren’t the sources listed? It’s too much to believe!‘“ Ebd.), bzw. dass keinerlei schriftliche Dokumentation des Geschilderten existiere („Blood Beach“: „‚Of course no documentation exists, but I’ll tell all of you this: memory can deliver you!‘“ Ebd.). In der letzten Geschichte, „The Bon 



das Wort „hear“ gezoomt und in der Folge wird es so angeschnitten, dass „ear“ zu lesen ist. Es gibt jedoch auch Seitenfolgen, in denen sich den Wörtern keine zusätzliche Bedeutung durch das Heranzoomen entnehmen lässt. 150 „Auf der ersten Ebene (der Rahmenhandlung) erzählt und agiert sie selbst [Scheherazade, Anm. d. Verf.] und erlebt ganz nebenbei ihre eigene Geschichte; auf der zweiten Ebene sind die von ihr eingeführten Figuren die Protagonisten; die dritte Ebene wird von diesen Figuren kreiert, die ihrerseits ihren Geschichten Exempla, Spiegelungen, neue Erzählungen von menschlichen Schicksalen einfügen.“ Volkmann 2004, S. 28.  

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fire“, werden die Wörter einer nicht näher bezeichneten Erzählung von einem Mädchen aus Lehm modelliert und somit in fixierte, dreidimensionale Schrift überführt. Sowohl die Körperlichkeit der plastischen Buchstaben als auch ihre Materialität verweisen auf den Raum, dem sie entnommen wurden. Die Schriftzeichen sind aus dem Fundament gefertigt, auf dem sich menschliches Handeln vollzieht und nacherzählt wird. Und in den Boden, dem sie entstammen, werden sie auch wieder zurück überführt, denn die Masse an Lehmbuchstaben überschreitet bald die Lagerkapazitäten im Haus des Mädchens. In Plastikboxen verschlossen, werden die Buchstaben in einem Feld vergraben und somit wieder Teil des Bodens, auf dem sich die menschlichen Mythen und Märchen zutragen. Zugleich verhindert der menschliche Eingriff des Einbringens von Buchstaben in Plastikboxen die neuerliche Vereinigung der Lehm-Schriftzeichen mit dem sonstigen Bodenmaterial, wodurch die Geschichte zwar dem unmittelbaren lesenden Blick entzogen wird, die vergrabenen Buchstaben an sich jedoch als solche bestehen und potenziell lesbar bleiben. Über die Motive der primär mündlich tradierten Erzählung, die Metapher der Gewinnung von Erzählungs-‚Material‘ aus dem Erdreich und die Rücküberführung der in Buchstaben fixierten Geschichte in den Boden deutet sich eine Parallele zu dem Textkonvolut von 1001 Nacht an: Hierbei handelt es sich primär um Volkserzählungen, die vor allem mündlich vor- und über Generationen hinweg weitergetragen wurden. Wahrscheinlich galten viele der Volkserzählungen, die in 1001 Nacht zusammengestellt worden sind, zunächst nicht als ‚schriftwürdig‘ (vgl. Volkmann 2004, S. 11). Die schriftliche Überführung der mündlichen Erzählung in den Kodex bedingt nun eine Fixierung der Inhalte, die bei der mündlichen Tradierung zum Teil austauschbar und fließend sind. Je nach Erzähler und äußeren Umständen werden Elemente modifiziert, wobei eine spezifische Thematik oder bestimmte Motive, die für eine Erzählung konstitutiv sind, durchaus auch über lange Zeiträume und weite Distanzen hinweg erhalten bleiben können. Darüber hinaus werden die Geschichten in eine stringente Abfolge von Seiten innerhalb des Kodex überführt. Durch das sich wiederholende Einbetten von Erzählungen ineinander drückt sich in Sheherezade die offene Anlage von 1001 Nacht visuell aus. Auch hier handelt es sich um ein relativ offenes Werk, von dem es keine literarische Endfassung gibt – ebenso wenig, „wie es einen ‚Urtext‘ gegeben hat, aus dem ein in sich stimmiges, kongruentes Ensemble von Geschichten gewachsen wäre“ (ebd., S. 16). Dass die Frauenfigur auf der linken Seite in Sheherezade sich während des Prozesses des Heranzoomens einer Erzählung ihres Kleides entledigt, kann als konkreter Nachvollzug des ‚Ausziehens‘ vor dem Zubettgehen von Scheherazade, kurz bevor sie ihrem lebensbedrohlichen Gatten eine Geschichte erzählt, um ihr eigenes Leben zu retten, interpretiert werden. Der Umstand, dass die Frau jedes Mal wieder in ihre bekleidete Ausgangsposition zurückkehrt und niemals nackt präsentiert wird, steht darüber hinaus in Korrespondenz zum visuellen ‚Eindringen‘ in den Text, das sich potenziell unendlich weiterführen lässt, „ohne dass man auf einen nackten oder entblößten Sinn stößt“ (Schulz 2015b, S. 370, Hervorhebungen wie im Original).  







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Reihenfolge und Sequenzialität des Kodex und das Format des Flip Book. Aus der Einbindung der Geschichten in Sheherezade und aus der spezifischen Textgestaltung resultiert die Möglichkeit der Verwendung von Zweigs und Andersons Werk als Flip Book. Das schnelle Blättern durch den Kodex verdeutlicht zugleich die Reihenfolge der Seiten und die Sequenzialität der Erzählung, indem immer wieder eine neue Erzählung in einer vorangegangenen erscheint. Der Prozess der sukzessiven Textvergrößerung steht in einem Spannungsverhältnis zum Anspruch von Text in Büchern, aufmerksam gelesen zu werden. Beim schnellen Durchblättern verschließt sich dem Leser der Inhalt der Geschichten, die so schnell nicht erfasst werden können.151 Der Leser wird zum Betrachter, der durch den Vorgang des Heranzoomens von Text dessen Verknüpfung mit anderen Texten gewahr wird. Bedeutsam ist dabei, dass die Buchstaben auf der Buchseite als von Leerstellen durchsetzt dargestellt werden. In diese unsoliden Stellen schreiben sich die weiteren Geschichten ein; ein Vorgang des Referenzierens, der in sonstigen Kodizes oftmals durch Anmerkungen herausgestellt wird, die – z. B. im Falle der Endnote – zuweilen räumlich vom Haupttext getrennt sein können. Die Einbettung einer Erzählung in eine andere gelingt im konventionellen Kontext des Kodex nur in der Abfolge. Diese Reihenfolge ist in Sheherezade ebenfalls durch die aufeinanderfolgenden Buchseiten gegeben; darüber hinaus illustriert die Animation des in die Geschichten ‚eindringenden‘ Leserblicks, dass die einzelnen Erzählebenen eben nicht neben- bzw. nacheinander stehen, sondern ineinander verwoben sind – ein Umstand, der vom Leser von in Kodizes abgedruckten Erzählungen mental nachvollzogen wird. PH  







E 2.28 Peter Malutzki: Leonce und Lena. Zweiter Akt (1989) Lahnstein: FlugBlatt-Presse, 1989. Text von Georg Büchner, mit Fotografien und typografisch inszeniert von Peter Malutzki. Mit 10 mont. Film-Fotografien. 27 x 38,5 cm. Auflage: 10 Exemplare, nummer. und signiert. 84 Seiten, Fabriano-Bütten Disegno 5, Handsatz und Buchdruck, Halbgewebeband mit Leinenecken. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 5/10 der Sammlung der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M.  









Bezugstext: Georg Büchner: Leonce und Lena (Lustspiel, 1838)

151 „Dabei ist die Umwertung des schnellen Blätterns von einer Geste, die den Inhalt des Buches degradiert, zu einem produktiven literarischen Einsatz, paradigmatisch für die Herangehensweise der Disziplin des Künstlerbuches an das Thema des Blätterns. Im Rahmen einer von der bildenden Kunst geprägten Annäherung an die Form des Buches können die medialen Besonderheiten, die in der Literatur gemeinhin hinter der Autorität des Textes zurückstehen mussten, leichter aufgegriffen, thematisiert und visualisiert werden – und somit kann auch das schnelle Blättern ein literarisches Potential entfalten.“ Schulz 2015b, S. 370.  



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Im Jahr 1989 gestaltet Peter Malutzki den zweiten Akt von Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena als Künstlerbuch. Auf insgesamt 84 Seiten kombiniert der Künstler Büchners Text mit zehn Fotografien. Letztere zeigen Ausschnitte aus Hollywoodfilmen und Schauspielerporträts aus dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts. Über Variationen des Schriftbildes versucht Malutzki, die Typografie als Mittel der Textinszenierung einzusetzen. Die Dialoge sind unterschiedlich groß und zum Teil schräg auf die Seiten gedruckt; übereinander lagernde oder gar auf dem Kopf stehende Textzeilen evozieren einen emotionalen Ausdruck der Sprechenden. Insbesondere auf den Doppelseiten, auf denen Fotografien und Text zusammengestellt wurden, erinnert Malutzkis Künstlerbuch an ein Album. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Beschriftung der Fotografien mit den Namen der Figuren aus Büchners Komödie. Platzhalter für noch nicht in das Künstlerbuch eingeklebte Fotografien sind ebenfalls zu finden und verweisen auf die Tätigkeit des Sammelns von Abbildungen – insbesondere berühmter Personen – innerhalb eines eigens dafür angefertigten Albums (vgl. Teil D, Art. „Album und Scrapbook“). Büchner selbst veröffentlichte sein Stück nicht, es ist wahrscheinlich, dass er ein Manuskript 1836 anfertigte, der erste vollständige Druck erfolgte posthum durch seinen jüngeren Bruder Ludwig im Jahr 1850 in den Nachgelassenen Schriften von Georg Büchner (vgl. Büchner 2005, S. 85). Das Lustspiel weist deutliche Bezüge zu anderen Stücken, insbesondere zu Clemens Brentanos Ponce de Leon (1804), auf und beinhaltet Elemente der traditionellen Verwechslungskomödie (vgl. Hoorn online). Prinz Leonce und Prinzessin Lena, die sich nicht kennen, sollen eine arrangierte Ehe eingehen, was beide Figuren unabhängig voneinander zur Flucht treibt. Zufällig treffen sich die Königskinder in der Nähe eines Wirtshauses, verlieben sich ineinander und stellen sich als Automaten verkleidet und in Begleitung von Leonces Freund Valerio der Eheschließung am Hofe des Prinzenvaters, König Peter. Dieser, aufgebracht durch das Verschwinden seines Sohnes und auf Durchsetzung seiner Direktive sinnend, lässt die Hochzeit „in effigie“ an den als Maschinenmenschen vorgestellten Figuren vollziehen (vgl. Büchner 2005, S. 77). Nach dem Ja-Wort geben sich Leonce und Lena der Hofgesellschaft und sich gegenseitig zu erkennen. Sie ersetzen den Absolutismus des Königshauses durch ein utopisch anmutendes gesellschaftliches Ideal des Müßiggangs. Die Textgenese von Leonce und Lena ist sowohl über eigenhändige Entwurfsfragmente Georg Büchners, Teildrucke des Stücks von Karl Gutzkow und mittels der Nachgelassenen Schriften, herausgegeben von Ludwig Büchner, nachvollziehbar. (Karl Gutzkow veröffentlichte Teile von Leonce und Lena 1838 im Telegraph für Deutschland und 1842 in Mosaik. Novellen und Skizzen, vgl. Dedner 1987, S. 8.) Obwohl sich Malutzkis Seitengestaltung für seine Bearbeitung von Leonce und Lena vom Layout einer kritischen Textausgabe unterscheidet, macht die Akzentuierung der Typografie auf das Potenzial der Schriftgestaltung als Informationsübermittler aufmerksam. Sowohl in der kritischen Studienausgabe als auch in der künstlerischen Bearbeitung von Leonce und Lena erweitert die in ihrem spezifischen Ausdruck zu interpretierende oder mit ergänzenden Hinweisen hinterlegte Schriftgestaltung den eigentlichen Textinhalt.  











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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Das Buch als Bühne. Malutzki überführt ausschließlich den zweiten Akt von Büchners Leonce und Lena in sein Künstlerbuch. Hier wird das Exil der Königskinder ob der drohenden Vermählung mit einer ihnen unbekannten Person und ihr zufälliges Kennenlernen in unmittelbarer Umgebung eines Wirtshauses dargestellt. Nachdem sich die beiden geküsst haben, wendet sich Lena ab und der verzweifelte Leonce wird von seinem Freund Valerio vom Suizid abgehalten. Hier endet der zweite Akt, erst im dritten und das Stück beschließenden Akt erfährt der Leser von der beiderseitigen Liebe und ihrer glücklichen Besiegelung im Ehebund. Malutzki wählt zur Bearbeitung den Teil von Büchners Stück aus, in dem der Ausgang der Erzählung noch unentschieden ist. Eine Besonderheit ist zudem, dass der zweite Akt außerhalb der rigiden Strukturen des königlichen Hofs, auf „freie[m] Feld“ (Büchner 2005, S. 60), spielt. Der dargebotene Zustand des In-der-Schwebe-Seins animiert die Leser von Malutzkis Werk „aus dem Buch ihr Buch [zu] machen und es mit Leben zu füllen“ (Soltek 2017, S. 147). Die hierfür erforderliche erhöhte Sensibilität gegenüber der potenziellen Aussagekraft von Text, typografischer und bildlicher Gestaltung wird durch die spezifische Konstitution des Künstlerbuchs animiert: Schräg, in unterschiedlichen Größen und sich überlappend gedruckte Dialoge stehen im Kontrast zum konventionellen Layout eines Dramenabdrucks, in dem die Gespräche und Regieanweisungen zumeist einheitlich untereinander auf die Seiten gesetzt werden. Dies ist beispielsweise der Fall im Zwiegespräch von Lena und ihrer Gouvernante auf der Flucht. Letztere ist der Ansicht, dass sie schon „unendlich lang“ gelaufen seien, woraufhin Lena widerspricht. Während im konventionellen Abdruck des Stücks die Gouvernante ihren Unmut in Gänze vortragen darf, bevor die Prinzessin ihre gegenteilige Ansicht kundtut (vgl. Büchner 2005, S. 62), werden die beiden Äußerungen in Malutzkis Künstlerbuch ineinander verschachtelt dargestellt (vgl. Malutzki 1989, S. 20). Die Worte der Gouvernante werden bildlich von Lenas Meinung durchdrungen – die Prinzessin scheint das Lamento (verbildlicht durch die von oben nach schräg unten verlaufenden Zeilen der Gouvernante) mit spitzer Widerrede (sich komplementär von unten diagonal nach oben spannend) zu unterbrechen.  









Buch- und Bühnenraum. Wie Malutzki selbst dargelegt hat, geht es in seiner Bearbeitung des zweiten Aktes von Leonce und Lena um die Darstellung einer Substituierung von geschriebener bzw. gedruckter Sprache durch ‚gesprochene‘ Sprache, von Buchraum durch Bühnenraum: „Der Buchraum muss zum Bühnenraum werden, die Schrift zur Sprache“ (Malutzki 2017, S. 48). Dies gelingt ihm zum einen durch die Nutzung typografischer Gestaltung, die sprachliche Qualitäten wie Intonation andeutet. Die Akzentuierung der Stimme, ihres Ausdrucks und ihrer Tonlage, steht dabei im engen Zusammenhang mit Büchners Vorlage. Im Lustspiel ist es die Stimme, die die Liebe zwischen Leonce und Lena anbahnt: Der Prinz erhält durch das Vernehmen von Lenas Stimme den Eindruck, die Prinzessin wahrhaftig verstehen zu können. Die tiefe Empfindung, die sich bei ihm in Folge dieser Erkenntnis einstellt, steht im Widerspruch zur durch Oberflächlichkeit induzierten Langeweile, die Leonces Leben vor  

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seiner Flucht geprägt hat und deutet eine grundlegende Transformation des Charakters an.152 Die Bedeutung der Stimme in Büchners Werk erhält in Malutzkis Bearbeitung somit ihren bildlichen Ausdruck. Nicht nur die typografischen Besonderheiten, auch die Implementierung von Schauspielerfotos und Filmstills betont die Annäherung des Buchs an die darstellende Kunst. Die Fotografien zeigen populäre wie weniger bekannte Akteure und Aktricen, Malutzki nutzt für jedes Exemplar seines Leonceund-Lena-Künstlerbuchs andere Abbildungen, da für ihn vornehmlich die Darstellung eines „Typs“ von Belang ist.153 Zu erkennen ist beispielsweise eine Szene aus dem populären Filmklassiker Gone with the Wind (1939), in der die Figur Rhett Butler die Hände seiner Angebeteten Scarlett O’Hara umfasst hält und sie eindringlich anblickt, während letztere seinem Blick unsicher standhält. Das ‚Typische‘ der Darstellung knüpft sich an etablierte erzählerische Motive wie der Brautwerbung und der unerfüllten Liebe. Die Kontextualisierung der Filmszene mit Büchners von Offenheit geprägten zweiten Akt von Leonce und Lena animiert den Rezipienten zur Herstellung von Bezügen zwischen Film- und Stückhandlung, zwischen literarischen Motiven und Figurenausdruck. Obwohl Büchners Lustspiel für die beiden Liebenden glücklich endet, ist dies im zweiten Akt noch nicht sicher. Dies nutzt Malutzki, um mittels der Filmfotografien weitere Narrative in das Stück einzuweben. Malutzkis Bearbeitung von Büchners Werk stellt über die Verschränkung typografischer und bildlicher Elemente eine eigene Inszenierung des Textes dar. Der spezifische Ausdruck, der sich über das Schriftbild wie über die Fotografien einstellt, ist in diesem Sinne eine darstellende Interpretation von Büchners Text, die – im Stil eines modernen Theaterstücks – dem Rezipienten bewusst Freiräume lässt, eigene Bezugnahmen zum Werk und zu anderen Inhalten herzustellen. PH  



E 2.29 Hans Peter Willberg: Der Prozess (1990) Poestenkill: Kaldewey Press, 1990. Text von Franz Kafka. Buchgestaltung von H. P. Willberg. 64 Seiten im Siebdruck, Atelier Limited, Münster. Bucheinband: Christian Zwang, Hamburg. 58×41 cm. Auflage: 50 Exemplare auf China, 10 Vorzugsausgaben auf Ziegenpergament. Edition Kaldewey, Vol. 18.  







152 „O diese Stimme: I s t d e n n d e r W e g s o l a n g ? Es reden viele Stimmen über die Erde und man meint sie sprächen von andern Dingen, aber ich hab sie verstanden. Sie ruht auf mir wie der Geist, da er über den Wassern schwebte, eh das Licht ward. Welch Gären in der Tiefe, welch Werden in mir, wie sich die Stimme durch den Raum gießt.“ Büchner 2005, S. 65 (erweiterte Abstände wie im Original). 153 „Die Kriterien zur Auswahl der Fotos orientierten sich an der jeweiligen Situation im Stück. Zum Beispiel benötigte ich mal eine junge und eine ältere Frau, um Lena und ihre Gouvernante darzustellen; mal mussten es ein ernster Mann und ein lustiger sein, um Leonce und Valerio zu zeigen.“ Malutzki 2017, S. 48.  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Bezugstext: Franz Kafka: Der Process (Roman, posthume Erstpublikation 1925)

Franz Kafkas Roman-Fragment Der Process (1925, posthum veröffentlicht) handelt von dem Protagonisten Josef K., der eines Morgens unverschuldet verhaftet und angeklagt wird. Entgegen aller Erwartung klärt sich dieser Sachverhalt im weiteren Handlungsverlauf weder für den Protagonisten noch für den Leser auf, sondern wird zunehmend verschleiert. Während K. zunächst noch zuversichtlich ist, dass sich alles ordnungsgemäß lösen lässt, muss er bald die Ausweglosigkeit seiner Situation feststellen. Allmählich verzweifelt er über seine Ohnmacht gegenüber der mysteriösen Gerichtsinstanz. Am Schluss wird K. ohne den Nachweis seiner Schuld und ohne Gerichtsprozess hingerichtet. Im Roman sind zahlreiche autobiografische aber auch gesellschaftskritische Bezüge angelegt. Lebenslang fühlte Kafka eine diffuse Schuld in sich, weil er den Ansprüchen des Vaters und der Gesellschaft vermeintlich nicht genügte. Typografische Gestaltung. Kafka ist einer der meist illustrierten deutschsprachigen Autoren. Hans Peter Willberg wählt gemäß seiner Profession als Typograf einen anderen Zugang: Er vermittelt die beklemmende Stimmung im Roman ausschließlich über die typografische Gestaltung des vollständigen Texts. Für das Künstlerbuch hat Willberg den Roman handschriftlich aufgezeichnet und mit Siebdruck Schwarz auf Weiß übertragen. Der Einband und die Kassette sind aus einfacher grauer Pappe. Das Material und die Art der Umsetzung verleiht dem Buch den Charakter einer amtlichen Akte, eines Protokolls, dessen eigentliche dokumentarische Funktion jedoch ad absurdum geführt wird. Genauso wie Willberg seine eigene Profession im Künstlerbuch konterkariert: Während die Zeilen zunächst noch angenehm lesbar sind, verringern sich von Seite zu Seite allmählich die Zeilenabstände, sodass das Schriftbild immer enger wird und daher zunehmend unleserlich erscheint. Im Verlauf des Schreibprozesses verstricken sich die Zeilen derart miteinander, dass sie nur noch als dunkelgraues Dickicht wahrzunehmen sind. Analog zu den fortschreitenden Verwicklungen von K. beim Versuch, seinen Fall aufzuklären, legt sich ein immer dunkler werdender Schleier über die Schrift, bis am Ende des Buches eine vollständig geschwärzte Seite vor Augen steht. Der Leser des Künstlerbuchs bekommt wie im Roman keine Aufklärung der Sachlage, die Informationen sind zwar präsent, aber nicht transparent. Durch die Aufzeichnung zensiert sich der Text gewissermaßen selbst. Wie im Roman scheitert der Versuch, den Prozess, in seiner doppelten Bedeutung als Gerichtsprozess und als Schreibprozess, aktenkundig zu machen. Indes reflektiert gerade die handschriftliche Umsetzung K.s tragisches Schicksal. Als unmittelbarer Nachweis menschlicher Existenz wird sie ebenso ausgelöscht wie das Leben des Protagonisten. Darüber hinaus verweist Willbergs Arbeit auf die Tatsache, dass der Roman selbst handschriftlich überliefert ist und unvollendet blieb. Die sich verdunkelnde Schrift des Künstlerbuchs spiegelt nicht nur die Stimmung des Romans, sondern auch Kafkas lebenslanges Ringen mit dem Schreiben und seinem Dasein als Schriftsteller. NM

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Abb. E 2/14: Hans Peter Willberg: Der Prozess. Poestenkill 1990.  



E 2.30 Franz Mon/Carlfriedrich Claus: das wort auf der zunge (1991) Berlin: Janus Press, 1991. Texte von Franz Mon „aus vierzig Jahren, ausgewählt und zueinander und zu sprachblättern in subjektive wechselbeziehung gesetzt“ von Carlfriedrich Claus. 232 S. Bezugstexte: Franz Mon: Gedichte und Prosa

„Läßt sich ein durchgehender, nichtlinearer Lese-Prozeß aus Lese-Prozessen, deren jeder au fond autonom verläuft, anregen? Also experimentelles, kombinatorisches Lesen, das mit dem Schluß des Buchs nicht endet“, fragt Carlfriedrich Claus zu Beginn des 1991 erschienenen Buchs das wort auf der zunge. Auf den folgenden gut 200 Seiten ist der Rezipient aufgerufen, dies auszuloten und sich dabei aktiv einzubringen. Das Buch versammelt und kontextualisiert diverse Werke Franz Mons und Claus’: Konkrete Poesie, literaturtheoretische Überlegungen, Film- und Hörspielskripte, Figurengedichte, Collagen, Brieffragmente und Notizen. Die Werke sind nicht chronologisch angeordnet, die frühesten sind auf das Jahr 1956 datiert, wobei einige Texte und Abbildungen ohne Datierung aufgeführt werden. Aufbau des Buchs. Vor dem Hintergrund der einführenden Bemerkungen von Claus scheint die Abfolge der Texte und Bilder in einem konventionell gebundenen Buch zunächst die lineare Rezeption im Sinne einer sukzessiven Aufnahme der Inhalte, Seite für Seite, zu forcieren und somit der Anregung eines nichtlinearen Leseprozesses entgegenzustehen. Insbesondere durch die konventionelle Buchbindung, das Fehlen einer außergewöhnlichen Materialität oder Buchmechanik legt das Buch dem Rezipienten den ‚klassischen‘ Leseweg von vorne nach hinten, von links nach rechts nahe. Die unterschiedlichen Texte sind in derselben Schriftsippe wiedergegeben (genutzt wurden die Schriftfamilien Rotis antiqua und Rotis semigrotesk; vgl. Mon/Claus 1991, S. 232), wodurch das ‚autonome‘ Moment eines jeden Textes relativiert wird. Der  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

einheitliche Font hat das Potenzial zur Nivellierung der Grenzen der einzelnen Texte. Unterstützt wird dies durch den Umstand, dass die jeweilige Autorschaft für den Leser oftmals nicht direkt ersichtlich ist.154 Die Texte können zwar mithilfe des Inhaltsverzeichnisses am Ende des Bandes Mon bzw. Claus zugeordnet werden. Dass der jeweilige Autor nicht direkt am Text genannt wird, intensiviert jedoch eine Verflechtung von Claus’ und Mons Werken. Die Texte und Grafiken von zwei Autoren wirken so als Teil eines Ganzen, das der vom Buch suggerierten Linearität, der Abfolge von parzellierten Inhalten, opponiert. Diese Strategie des Aufrufens einer Konvention bei gleichzeitiger Unterwanderung mit dem Ziel der Öffnung hin zu neuen Wahrnehmungspotenzialen liegt dem Buch als zentrales Anliegen zugrunde, was Claus gleich zu Beginn des Buchs in seinen einleitenden Bemerkungen am Beispiel von Mons Opus hervorhebt: Franz Mon operiert diesseits von Systemautomatik natürlicher Sprache, auch dann, wenn er ihr Regelwerk benutzt. Durch willentliche Unterbrechung eingefahrener Abläufe legt er die basale Dimension in Sprachdenken, Sprechen, Schreiben, und deren Vernetztsein mit Wahrnehmungstätigkeit, das heißt Sinnesrealität, frei. (Ebd., S. 3)  

Mon akzentuiert die Materialität von Wörtern, Silben und Buchstaben als die von Bausteinen, mit denen diverse Brücken zu anderen Bedeutungskontexten errichtet werden können. Von hoher Bedeutung ist dabei auch die sinnliche Qualität dieses Sprachmaterials: In Mons Texten gerät die Artikulation von Wörtern zur oralen Sensation (vgl. z. B. Mons wörter voller worte, 1989, in: ebd., S. 166). Die Fokussierung auf die Sensualität bildet das Gegenangebot zum unbewussteren alltäglichen Sprachgebrauch. Dieser wird geöffnet für neue Bedeutungszusammenhänge und somit auch für andere ‚Realitäten‘.  



Sichtbare Sprache. Im Fokus steht die Zeichenhaftigkeit von Sprache, die sich sowohl über Schrift als auch über Bilder vermittelt. Insbesondere das Motiv des Auges, das mehrfach bei beiden Autoren in den Texten und Grafiken aufscheint, verweist auf das visuelle Potenzial von Sprache. Hierfür sind Claus’ Sprachblätter, die er ab Anfang der 1960er Jahre auf transparentes Papier zeichnet (vgl. Ballarin online, S. 440), ein eindrückliches Beispiel. Auch hier bildet der den Rezipienten aktivierende, subjektive Zugriff auf Sprache die Ausgangslage. Dies verdeutlicht sich besonders anhand von Claus’ Kara-te-Zeichnungen: „zunehmende Wachheit, […] blitzschnelles Handeln aus dem je besonderen Augenblick heraus […]“ manifestieren sich in den Grafiken (Mon/ Claus 1991, S. 26, Hervorhebung wie im Original). Das ‚Prinzip Kara-te‘ ermögliche dabei, Erstarrung und Stagnation in der Wahrnehmung zu überwinden, das Naheliegende, aber bisher Übersehene zu registrieren.155 Claus’ Grafiken oszillieren zwischen  



154 Eine Ausnahme bilden insbesondere die Grafiken und Collagen. Hier wird die jeweilige Urheberschaft direkt am Werk ausgewiesen. 155 „Oder Zwischenräume entdecken, die man bisher nicht wahrnahm, übersah – weil sie zu nahe am Rand des Augenblicks verlaufen…“ Mon/Claus 1991, S. 26 (Hervorhebung wie im Original).  



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handschriftlicher und grafischer Aufzeichnung, erinnern zuweilen an Gegenständliches – wie Augen oder Hände – oder driften in Ungegenständliches ab, wobei beispielsweise das Motiv der Lichen als Scharnier zwischen Konkretum und Abstraktum fungiert (vgl. Claus’ Lichensatz II, 1959, in: ebd., S. 55). Auch die räumliche Ausgestaltung der jeweiligen Werke vermittelt Bedeutungsangebote: So bedingt die spezifische Anordnung von Buchstaben in Mons Textfeldern die Suggestion von sich konfrontierenden, sich überschreibenden und sich ergänzenden Wörtern und Wortteilen (vgl. Mons reflexe eindringend, 1959, in: ebd., S. 50). Mitunter gerät auch der einzelne Buchstabe zum Protagonisten, indem z. B. die Figuralität insbesondere des ‚i‘ dem Rezipienten verdeutlicht wird (vgl. Mons Serifs are little feet, 29.04.88, in: ebd., S. 86). Die Integration von auf transparentem Papier ausgeführten Zeichnungen ermöglicht die Darstellung der Überlagerung und das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Werke: Auf einen Text Mons folgt eine von Claus’ Grafiken, durch die der dahinterliegende Text, ebenfalls von Claus, hindurchscheint. Beim Umblättern ist Mons Text weiterhin präsent, da dessen Buchstaben ebenso durch das lichtdurchlässige Papier wahrnehmbar bleiben.  











Neue Wahrnehmungsmodi. In derselben Weise, wie Mon das Potenzial und breite Bedeutungsspektrum von Sprache, Wörtern, Wortpartikeln und Buchstaben vor dem Hintergrund ihrer Alltagsfunktionen der Inhaltsübermittlung präsentiert, ermöglicht die Darbietung von Claus’ und Mons Werken innerhalb des konventionellen Kodex dem Rezipienten die Reflexion und Dekonstruktion seiner gewohnten Umgangsformen mit und Wahrnehmung von Büchern. Die dem Buch inhärente prozessuale Leseweise wird in das wort auf der zunge in eine Gleichzeitigkeit überführt, indem die Zusammenstellung der zuvor unzusammenhängenden Werke innerhalb eines Kodex Bezugnahmen aufeinander nahelegt. Ähnlich der Erweiterung des alltäglichen Sprachgebrauchs vollzieht sich in Claus’ und Mons Werk auch eine Reflexion über den Status des Buchs, das der Rezipient in Händen hält. Die Gestaltung und der Untertitel des Buchs, „Texte aus vierzig Jahren“, legen den Eindruck nahe, dass es sich bei dem Buch um eine Anthologie handelt. Der Rezipient stellt sich somit auf eine ‚Blütenlese‘ ein, wobei die Kategorisierung des Buchs eine spezifische Erwartungshaltung initiiert, die ggf. automatisierte ‚Leseprogramme‘ abruft. Dass der Rezipient mit Texten konfrontiert ist, die zwischen theoretischer Reflexion und künstlerischer Auseinandersetzung mit Sprache oszillieren,156 bildet ein widerständiges Moment. Unweigerlich weitet sich die Wahrnehmung des Rezipienten und überwindet „Systemautomatik“ und

156 Hier verdeutlicht sich ein Charakteristikum Konkreter Dichtung: „Autoren wie Heißenbüttel und Gomringer, Jandl und Mon verfassen reflexiv-programmatische Texte, deren Stilistik einen ausgeprägten Ästhetisierungswillen verrät. Im Schreiben von und über Konkrete Dichtung öffnet sich die Grenze zwischen poetischer Arbeit und theoretischer Reflexion über diese Arbeit – teilweise so weit, dass Poetik-Vorlesungen und poetologische Essays selbst einen poetisch-experimentellen Duktus annehmen. Dies liegt in erster Linie daran, dass es dem poetischen Experiment wie der theoretischen Reflexion um  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

„Regelwerk“: Die insbesondere über Mittel der Buchgestaltung aufgerufene Suggestion, ein ‚normaler‘ Kodex zu sein, ist Mittel zum Zweck, Konvention vorzuführen und zu durchbrechen. Letztlich erfüllt das wort auf der zunge das, was Eugen Gomringer 1966 in vom gedicht zum gedichtbuch forderte: […] das aufzeigen der sprachstruktur, ihrer magie, aber auch der transparenz in gehalt und bild – die zu den bedeutendsten ergebnissen der ‚konstellationen‘, ‚ideogramme‘ und ‚texte‘ gezählt werden müssen –, verlangt nach konsequenter ausbildung auch in der objekthaften form des buches. (Gomringer 1972b, S. 162; vgl. Teil D, Art. „Konkrete Poesie“)  





PH

E 2.31 Margaret Kaufman/Claire Van Vliet: Aunt Sallie’s Lament (1993) San Francisco: Chronicle Books, 1993. Text von Margaret Kaufman. Buchgestaltung von Claire van Vliet. Kodexähnliches Objekt aus unterschiedlich geformten mehrfarbigen Pappen, in verschiedenen Farben; Grundform: auf einer Spitze stehendes Quadrat mit fehlender Ecke. Enthalten in zwei übereinander gesteckten Schubern von quadratischer Grundform. 29 S., 20,3 x 20,6 cm. Verwendung unterschiedlicher Papierarten.  





Bezugstext: Margaret Kaufman: Aunt Sallie’s Lament (Gedicht, 1988)

Die Druckerin, Papierherstellerin und Verlegerin Claire Van Vliet hat in Aunt Sallie’s Lament ein Gedicht Margaret Kaufmans von 1988 buchgestalterisch inszeniert. Das eigentliche Buch, eine unkonventionelle Variante des Kodex, steckt in zwei Schubern, deren größerer den kleineren enthält. Der äußere (größere) in der Form eines um eine Ecke reduzierten Quadrats öffnet sich nach zwei Seiten und legt eine Entnahme des Inhalts in Richtung der fehlenden Ecke nahe. Er weist ein geometrisches Muster aus grünen, violetten und fliederfarbenen Quadraten und Dreiecken auf. Der innere Schuber ist quadratisch und schwarz. Die Seiten des Buches selbst bestehen aus farbigen Kartons, auf die abschnittweise weiß die Textpassagen in wechselnden Ausrichtungen gesetzt sind. Das Buch hat die Form eines auf einer Ecke stehenden, um eine andere Ecke beschnittenen Quadrats; der Einband befindet sich an der Schnittkante der fehlenden Ecke. Die Buchseiten verändern, ausgehend von der Form des beschnittenen Quadrats (erster Karton) im Durchgang durch das Buch permanent ihre Form: Die Ausgangsfläche wird sukzessiv reduziert, der Umriss zunehmend komplexer, wobei die sich ergebenden Buchseitenumrisse stets wie Kombinationen aus Dreiecken und Rechtecken erscheinen. Der vorletzte und kleinste Karton ruht auf einer Seite in

dasselbe geht: um die Sprache; diese steht hier wie dort primär im Fokus des Interesses.“ Schmitz-Emans 2009, S. 208.  

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der Ausgangsform, deren Muster dem des äußeren Schubers entspricht. Das Buchobjekt spielt durch seine dreieckigen und quadratischen Formen auf die Formensprache der Quilts an, der ein Kernmotiv des knappen Textes in Gedichtform bildet. Ein Klagetext als Quilt. Das Gedicht selbst, vom (Buch-)Titel als Klage ausgewiesen, spricht von einer Frau, die Quilts herstellt und im Alter auf ihr Leben zurückblickt. Sie erzählt aus ihrem Leben, das sie mit Quilts vergleicht. Ihr Leben wird für sie also rückblickend zum Quilt. Dabei erinnert sie sich an die Begegnung mit einem Mann, den sie einst, mit 22 Jahren, getroffen hat und der ihr eine Vorstellung davon gab, wie die Welt außerhalb ihres Gartens aussah, bevor er sie wieder verließ. Die Hochzeiten ihrer Schwestern hat Sallie miterlebt, ohne je selbst zu heiraten, von ihrer unerfüllten Liebe gezeichnet. In ihrer Enttäuschung, hat sie ihr Gefühlsleben fortan in immer neue Quilts eingewebt („From then my heart was wound/into my quilts./More tears than stitches in them.“). Das Buch entspricht in seiner an Quilts erinnernden Form also zugleich den von Sallie produzierten Textilkunstwerken und ihrem bruchstückhaft gebliebenen Leben. Das Formenspiel mit der ‚fehlenden‘ Ecke und den schrittweise immer weiter reduzierten Seiten wirkt wie eine Metapher von Sallies Klage über den Entzug von Leben, den sie erlitten hat. So wie ein Quilt manches verhüllt, was seitens der Näherin zu seiner Entstehung beigetragen hat, so umhüllen die beiden Schuber die Lebensklage Sallies. Die Idee der in ein Stück Textilkunst eingewebten Klage ist zugleich eine Reminiszenz an Ovids Metamorphosen: Philomela, der ihr Vergewaltiger Tereus – ihr Schwager – die Zunge abgeschnitten hat, damit sie ihn nicht verraten kann, webt den Bericht über das ihr angetane Leid in eine Textilarbeit ein, sodass ihre Schwester Prokne (Tereus’ Gattin) sie versteht – und Rache nimmt. Die von Aunt Sallie’s Lament suggerierte Vorstellung eines Lebens-Quilts, an dem Sallie über Jahrzehnte hinweg unablässig und ohne absehbares Ziel gearbeitet hat, erinnert auch an die Webarbeit der Homerschen Penelope. Über diese direkten mythischen Allusionen hinaus fügt sich das Quilt-Buch in die lange und dichte Tradion der Vergleiche und Analogisierungen des Schreibens mit der Herstellung textiler Artefakte. MSE  





E 2.32 Robert Schwarz: Himmelslust (1995) Mainz: Schwarz, 1995. Collagen-Lithografien vom Stein von Robert Schwarz. Auflage: 5 Exemplare. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 2/5 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  

Bezugstexte: Christian Hofmann von Hofmannswaldau: An die Vergänglichkeit der Schönheit (Gedicht, 1679), An Albanie (Gedicht, 1679); Paul Gerhardt: An das Angesicht des HErn JEsu (Passionschoral, 1659)

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

In Robert Schwarz’ Künstlerbuch umklammern Christian Hofmann von Hofmannswaldaus Sonett An die Vergänglichkeit der Schönheit und das Gedicht An Albanie den Passionschoral An das Angesicht des HErn JEsu von Paul Gerhardt (ins Deutsche übersetzt aus dem lateinischen Zyklus Membra Jesu Nostri). Die Texte Hofmannswaldaus rufen das barocke Vanitas-Motiv mit den Sinnsprüchen carpe diem und memento mori auf, während Gerhardts evangelisch-lutherischer Liedtext die christliche Hingabe an Gott in Hoffnung auf Erlösung im Himmelreich postuliert (vgl. Gerhardi 1667; Hoffmann von Hoffmanswaldau 1679). Barocke (Sprach-)Bildlichkeit. In der barocken Textgrundlage vermitteln sich die Widersprüche der bewegten Epoche, zwischen ausschweifendem Genuss der Sinnesfreuden und kriegerischem Ringen um Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen. Bereits der Titel von Robert Schwarz’ opulentem Werk, Himmelslust, vereint die zwei zentralen Gegensätze des Barockzeitalters in sich, die im Künstlerbuch bild- und farbgewaltig vor Augen geführt werden. Die Bildebene ist eine lithografische Collage aus Bildausschnitten und präsentiert sich – analog zu dem metaphorisch reichen Sprachstil der Texte – als verschwenderische und überbordende Bilderflut. Unterlegt sind den Bildausschnitten einerseits expressive Farbaufträge als Ausdruck für Chaos und Leidenschaft, und andererseits ornamentale Strukturen, die die natürliche und religiöse Ordnung des Kosmos assoziieren lassen. Ebenso werden im Buch die Themen Liebe, Lust, Vergänglichkeit, Glaube und Tod verhandelt, jedoch aus einer überzeitlichen Perspektive. Profane, mythologische und religiöse Darstellungen der Kunstgeschichte sind mit Ausschnitten zeitgenössischer Zeitschriften in mehreren Druckgängen zusammengefügt. Frauen in Akt- oder Porträtdarstellungen, darunter explizit erotisches Bildmaterial, werden parallel zu Bildern von Leichen, Skeletten und Totenköpfen aufgeführt. Als Gegenbild zur Frau als verführerische Lustbringerin präsentiert Schwarz Jesus als Passionsgänger und stellt damit die christliche Heilsbotschaft und die Ewigkeit den sündhaften und kurzlebigen Freuden des Diesseits gegenüber. Die ambivalente Metaphorik des Körpers als Sinnbild für Schönheit und Leidenschaft sowie für Vergänglichkeit und Tod kommt sowohl in den Bildkompositionen als auch im Text zum Ausdruck. Die Bilder als Projektionsfläche erotischer Phantasien, aber auch religiöser Andacht sind durch Zuschnitt und Anordnung selbst schon von fragmentarischem Charakter. Zudem unterscheidet die Montage der heterogenen Bilder weder zwischen kunsthistorisch bedeutsamen Werken oder Erotika noch zwischen Bildern profanen oder religiösen Inhalts. Darin artikuliert der Künstler eine skeptische Haltung gegenüber dem unkritischen Umgang mit Bildern in der Gegenwart. Er zieht über die Einbindung der barocken Texte eine Parallele zum damaligen Missbrauch der Kunst als Propaganda-Instrument für religiöse und machtpolitische Zwecke. Auf der Zusammenstellung und druckgrafischen Verfremdung der Bilder beruht Schwarz’ autonome Bildsprache, die durchaus ohne Texte bestehen kann. Wie in der Emblematik, die in Kunst und Literatur des Barock ihre Blütezeit erfährt, eröffnen jedoch erst die Texte eindeutige Sinnzusammenhänge. Die dreigeteilte Einheit des  



E 2 Künstlerbücher

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Emblems Titel-Bild-Text (inscriptio-pictura-subscriptio) erweist sich als Grundstruktur des Buches: Drei Autoren werden auf der Titelseite genannt, einer davon ist Schwarz selbst; drei Texte gliedern das Buch in drei Abschnitte, welche die drei Lebensweisheiten des Barock aufrufen und in ein spannungsreiches Verhältnis mit der Bildebene treten. NM

Abb. E 2/15: Robert Schwarz: Himmelslust. Mainz 1995/1996.  



E 2.33 Anton Würth: Carnet 4, Carnet 16 und verwandte Buchwerke (1996, 2012) Anton Würth: Carnet 4. Mein Buch-Das Buch. My Book – The Book. Mon Livre – Le Livre. Tübingen: Galerie Druck & Buch, 1996. Anton Würth: Carnet 16: Röslein und Zierrat. Tübingen: Galerie Druck & Buch, 2012, unter Mitw. von Stefan Soltek (Vorwort), Armin Kunz (Übersetzer), Karin Nedela (Übersetzer).  



Bezugstexte: Essays und Kommentare A. Würths zu seiner Arbeit

Bei seinen Erkundungen des Buchs rückt der Buchkünstler und Buchtheoretiker Anton Würth zwar wechselnde Parameter und Gestaltungselemente in den Blick; als verbindend erscheint aber eine Tendenz zur Destabilisierung geläufiger Denkmuster, zur Infragestellung hierarchischer Vorstellungsschemata, zur Subversion vertrauter Oppositionen (vgl. dazu auch Teil A 3.4). Dies gilt etwas für die konventionelle Gegenüberstellung von Inhalt und Form; bei Würth werden Formen zu Inhalten. Und es gilt für die Distinktion von Zeit und Raum; der Buchraum wird in einer Weise genutzt, der Zeiterfahrung modifiziert und als solche bewusster werden lässt (vgl. Soltek 2008, S. 5). Es gilt auch und insbesondere für die Gegenüberstellung von inhaltlicher Aussage und formal-materieller Präsentation, die normalerweise oft im Sinn eines Dienstes letzterer an ersterem verstanden wird. Würth verfasst für seine Bücher eigene Tex 

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

te, die sich einem konventionellen Verstehen, einer zielgerichteten Decodierung verweigern, die sich als Text-Oberflächen präsentieren, welche sich nicht auf einen identifizierbaren Sinn hin durchdringen lassen. Zugleich bringen sich – als weitere Dimensionen dieser Oberfläche – die materiell-gestalterischen Parameter zur Geltung, deren Funktion nicht eindeutig bestimmbar ist, sondern zwischen der „Stützung“ von Textaussagen und deren „Störung“ oszilliert (ebd., S. 6). Zu den Konzepten, an denen sich Würths Buchgestaltung kritisch und zugleich produktiv abarbeitet, gehören die Idee der „Wahrheit“ und das Konzept der „Linearität“, enggeführt in der Vorstellung, die „Wahrheit linear in Bücher fassen zu wollen so als sei die Form des Buches mit den dazugehörigen Bewegungen der Augen und des Umblätterns und überhaupt die Form der Linie die Wahrheitsform“ (Simon 1989, S. 252, zit. in Würth 1996, S. 6). Eine der geläufigen Differenzierungen, die Würths Buch-Arbeit unterläuft, ist schließlich die zwischen dem sogenannten Buchstäblichen und dem Metaphorischen; in diesem Punkt einem metaphorologischen Ansatz verpflichtet, erinnert Mein Buch an die epistemische Dimension von Metaphern. Beispielhaft erscheint hier gerade die Buchmetaphorik, von der ausgehend sich nicht allein historisch und kulturell differente Vorstellungen über Text, Lesbarkeit und Lektüre erschließen lassen, sondern auch wechselnde Vorstellungen über die Welt und den menschlichen Weltbezug (vgl. ebd., S. 24–26).  











Das Thema ‚Buch‘ im Buch. Würths Carnet 4 ist ein Textband zum Thema Buch. Der mit zahlreichen Verweisen auf philosophische, semiologische, kultur- und schrifttheoretische Werke versehene Essay, in drei Sprachen abgedruckt (jeweils links die deutsche, rechts die englische und die französische Fassung, einander zeilenweise durchdringend, aber farblich abgesetzt) präsentiert sich – eingebunden in braunes Papier, das an Schulhefte oder Packpapier erinnert – auch dem Format nach als Heft. Der Text umreißt die grundlegenden Motive und Interessen von Würths buchreflexivem Schaffen. Die Besonderheit der Buch-Kunst gegenüber anderen Formen künstlerischer Praxis beruht maßgeblich darauf, dass das Buch als ihr Thema und Gegenstand kein rein kunstimmanentes Phänomen ist, sondern vor allem aus seinen praktisch-funktionalen Kontexten vertraut erscheint. Buchkunst ist Auseinandersetzung mit dem Buch jenseits der Kunst; Würth nennt es einmal das „institutionalisierte“, das „bürgerliche Buch“ (ebd., S. 10); dieses sei „monologisierend, eindimensional, zweckbestimmt“, seiner Aufgabe als „Informationsträger“ und insgesamt „der Herrschaft der Repräsentation“ unterworfen (ebd., S. 10, 12). Anders in der ästhetischen Arbeit am Buch: Hier ist das Buch „nicht mehr Erfüllungsgehilfe, sondern wird zum bestimmenden Gegenstand der Auseinandersetzung selbst“ (ebd., S. 14–16).  









Das Thema ‚Schrift‘. Sich an geläufigen Vorstellungen über Schrift abarbeitend, dabei Impulsen Derridas folgend, steht Würths buchkünstlerisches Werk im Zeichen der Arbeit an einer Konzeption von Schrift, die unter anderem die Differenzierung zwischen Schriftlichkeit und Bildlichkeit hinter sich lässt. Die Abhandlung Der Gebrauch

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E 2 Künstlerbücher

der Schrift in der Buchkunst fasst panoramatisch historische Positionen der Schrifttheorie und Schriftkritik von der Antike bis zur Gegenwart zusammen, erinnert an kulturelle Funktionen der Schrift, rekapituliert Ansätze strukturalistischer Semiotik und würdigt Alphabet, Buchstabenschrift und Typografie. Vor diesem Hintergrund wird in den Spuren Derridas das Konzept einer nichtlinearen, nicht teleologischen, auf Sinndispersion angelegten Schriftlichkeit als zentrales Anliegen zeitgenössischer Buchkunst charakterisiert. Auf Marshall McLuhan beruft sich die Diagnose einer zunehmenden Entsinnlichung der Schrift im Zeichen der Massenproduktion von Texten (Würth zitiert u. a. McLuhan 1968a, S. 78, 173). Auch hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt kompensatorisch-ästhetischer Praktiken im Bereich der Buchkunst. Hier kann sich die Schrift von der Dominanz externer Zwecke und aus ihrer Linearität lösen.  



Das Thema ‚Ornament‘. Würths Carnet 16 ist dem Thema Ornament gewidmet – unter dem (ornamentalen) doppelten Titel Röslein und Zierrat. Über das ornamentale Prinzip oder: Das Ornament braucht keine Blümchen (Offenbach 2012). Ornamente oszillieren zwischen Bildlichem und Schriftlichem und unterlaufen damit deren kategoriale Trennung. Das Ornamentale erscheint (darum interessiert es Würth besonders) als das Gegenmodell des Linearen und Zielstrebigen, als Inbegriff dessen, was sich wiederholt und was nicht in den Dienst der Vermittlung von Inhalten tritt – als eine Form, welche die Unterscheidung zwischen ‚Inhalt‘ und ‚Äußerem‘ unterläuft, weil sie keinen Inhalt im konventionellen Sinn vermittelt. Ornamente wiederholen sich, sie dienen keiner bestimmbaren Funktion, die sind von einer „präzis bestimmten Unbestimmbarkeit“; Ornamentales steht im Zeichen einer Iteration, die einerseits bestätigt, was schon einmal Gestalt annahm, andererseits als Wiederholung das Identische aber auch unterläuft (Würth zitiert dazu Luhmann 1993, S. 56). Mit dem Künstlerbuch den teig kneten (2006) wird das ornamentale Prinzip sinnfällig gemacht.157 MSE  





E 2.34 Fiona Banner: The NAM (1997) & Heart of Darkness (2014/2015) Fiona Banner: The NAM: 1000 Seiten, 28 x 20,8 x 6,5 cm, London 1997. Fiona Banner: Heart of Darkness: Mappe mit 38 Silbergelatineabzügen, 40 x 30 cm, Fotografien von Paolo Pellegrin, London 2014. Fiona Banner: Heart of Darkness: Magazin mit 320 Seiten, 24,5 x 32,5 cm, Fotografien von Paolo Pellegrin, London 2015.  





















Bezugstexte: Joseph Conrad: Heart of Darkness (1899) sowie transkribierte Vietnamkriegsfilme

157 Ein vertikaler Ornamentstreifen bewegt sich entlang der Falz sämtlicher Seiten, bestehend aus einem Bordürenband und aus Textzeilen; so wird Schrift ins Ornament integriert, wobei sich beim Aufschlagen der Doppelseiten jeweils nur eine Hälfte der Gesamtfigur zeigt, da jeder bedruckten Seite eine Vakatseite gegenübersteht.

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

In Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness (1899) berichtet der Seefahrer Charles Marlow von seiner Reise in den Kongo. Dort begibt er sich auf die Suche nach dem infernalischen, tödlich erkrankten Elfenbeinhändler Kurtz und trifft ihn kurz vor dessen Ableben. Das Zusammentreffen mit Kurtz ist für Marlow zugleich faszinierend und desillusionierend: Kurtz verkörpert die Abscheulichkeit des europäischen Imperialismus und die Ausbeutung der Natur zur persönlichen Bereicherung. Ein nicht näher bestimmter Ich-Erzähler gibt größtenteils die Ausführungen Marlows wieder. Zu Beginn der Erzählung befindet sich Marlow an Bord einer Jolle auf der Themse in London und nutzt die Wartezeit bis zur nächsten Ausfahrt, um seine zum Teil traumatischen Erlebnisse dem Erzähler und schließlich auch dem Leser mitzuteilen. Korrespondierend mit dem Titel der Erzählung, scheinen sich die Dinge um Marlow des Öfteren seinem visuellen Zugriff zu entziehen. Die äußeren Einflüsse wie Nebel sowie Dunkelheit und innere Einwirkungen wie eine wachsende psychische Anspannung bedingen, dass Marlow im sukzessiven, subjektiven Erzählen sich, seinen Zuhörern bzw. dem Leser seine Erlebnisse mitteilt (vgl. Watt 2004, S. 177). Fiona Banners Werke The NAM und Heart of Darkness beziehen sich beide auf Conrads Erzählung und stehen wiederum in einem größeren Schaffenskontext der Künstlerin. 1997 publiziert Fiona Banner in der Vanity Press das 1.000-seitige Buch The NAM, in dem sie sechs Vietnamkriegsfilme transkribiert.158 Der Text präsentiert sich als Abfolge von Gedanken und Eindrücken, die sich beim Rezipieren der Kriegsfilme bei der Künstlerin eingestellt zu haben scheinen. Lediglich die Nennung von Figurennamen, wie dem von Captain Benjamin L. Willard aus Francis Ford Coppolas Film Apocalypse Now (1979), verweisen auf die Filme, deren Bilder, Handlungen und Dialoge die Künstlerin aufschreibt.  



Die Unlesbarkeit des Krieges. Banner selbst inszeniert ihr Werk auf Plakaten als „unreadable“ (Fiona Banner: The NAM Poster, 1997, Siebdruck, 72,5 x 47,5 cm; http:// fionabanner.com/vanitypress/thenamposters/index.htm?i06; 18.05.2017), und auch in materieller Hinsicht ist das Buch mit seinen gut zwei Kilogramm Gewicht schwer handhabbar. Zum einen können der Umfang, das Gewicht und die spezielle Art von Banners Erzählung – ihr verschriftlichter ‚Gedankenstrom‘ – als Sinnbild für die Schwere des Traumas des Vietnamkrieges und die Unmöglichkeit einer objektivierten Wiedergabe der Geschehnisse gedeutet werden. Zum anderen verweist Banners Transkription von Vietnamkriegsfilmen sowohl auf den zur Zeit der Kriegshandlungen und danach vollzogenen (massen-)medialen Zugriff und die Einflussnahme auf Wahrnehmung und Gedächtnis des Vietnamkrieges als auch auf die generellen intertextuellen Einschreibungen und Verzweigungen,159 die von Conrads Werk ausgehen und schließ 









158 Bei den transkribierten Filmen handelt es sich um: Apocalypse Now (1979), Born on the Fourth of July (1989), The Deer Hunter (1978), Full Metal Jacket (1987), Hamburger Hill (1987), Platoon (1986); vgl. Bury 1997 online.

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lich auch in Apocalypse Now aufgenommen und durch weitere textliche Einflüsse angereichert werden. (Zu den Parallelen und Unterschieden zwischen Conrads The Heart of Darkness und Coppolas Apocalypse Now vgl. Costanzo Cahir 2004; Greiff 1992; Vargas 2004.) Banners The NAM verdeutlicht die Durchmischung unterschiedlicher Handlungs- und Erfahrungsstränge innerhalb eines Kodex. Dass es sich bei The NAM um ein Flip Book, ein Daumenkino, handelt (http://fionabanner.com/vanitypress/thenamsb/ index.htm?i07; 20.05.2017), wird durch die Zusammenstellung von weißer Seite verso und beschrifteter Seite recto unterstrichen. Anders als ein konventionelles Daumenkino, das im Fortlauf der Seiten ein sich leicht veränderndes Bild zeigt, das beim schnellen Blättern in Bewegung – also einen ‚Film‘ ohne Ton – überführt wird, dreht Banner das Verhältnis in The NAM um: Ihr Daumenkino suggeriert besonders durch die Bezeichnung als solches Bild zu sein, obwohl nur Text zu sehen bzw. lesen ist (vgl. Bury 2005, S. 37). Der Blocksatz sowie die fehlende Strukturierung der unpaginierten Seiten durch Absätze stehen dem jedoch entgegen. Das ‚Text-Sein‘ von Banners Werk wird durch das Seitenlayout exponiert. Banners Darstellungen stellen ihren persönlichen Zugriff auf die Filmbilder zum Vietnamkrieg dar. Die Künstlerin schreibt auf, was sie sieht, im Bewusstsein, dass die Auswahl des Aufgeschriebenen – die Filmbilder in Gänze textlich zu beschreiben, gestaltet sich als unmöglich – ihre subjektive Wahrnehmung zum Ausdruck bringt (vgl. Dworkin/Goldsmith 2011, S. 60). Wie in Conrads Heart of Darkness vermittelt eine Erzählerinstanz erster Person in The NAM die Eindrücke, die ähnlich wie in Conrads Werk die für den Rezipienten zum Teil diffus-schemenhaften Darstellungen eines Dritten – der Figur Marlow bzw. eines Films – wiedergeben.  















Archaik in Nadelstreifen im Hochglanzmagazin. Sowohl Apocalypse Now als auch Conrads Heart of Darkness handeln vom Thema der menschlichen Grausamkeit (vgl. Vargas 2004, S. 100). 2014 erscheint Banners Heart of Darkness zunächst als Sammlung von Fotos des heutigen London, aufgenommen vom Fotografen und Kriegsberichterstatter Paolo Pellegrin.160 2015 folgt die Publikation des Hochglanzmagazins Heart of Darkness bei der Vanity Press. Der schwarz-glänzende Hintergrund des Covers mit den Titellettern in goldener Schrift erinnert an ein exklusives Magazin aus dem gehobenen Preissegment. Im Unterschied zu vielen anderen Künstlerbuchpublikationen ist Banners Werk – einem Magazin angemessen – in einer hohen Auflage er 





159 So reiche die „Kette der intertextuellen Referenzen in der Literatur […] von Eliots The Hollow Men (1925) über V. S. Naipauls A Bend in the River (1979) bis hin zu Timothy Findleys Headhunter (1993).“ Humphrey 2009, S. 161. 160 Die Fotografien wurden das erste Mal in Banners Ausstellung Mistah Kurtz – He Not Dead im Jahr 2014 in London ausgestellt. Zur Vorbereitung durchsuchte Banner Bestände des Archive of Modern Conflict. Da es an Dokumenten aus aktuellen Konflikten und Kriegen fehlte, beauftragte Banner den Fotografen Paolo Pellegrin mit der Anfertigung von Fotos des heutigen London; vgl. Impressum von Banner 2015.  







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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

schienen und zu erschwinglichem Preis zu erstehen. Das Luxuriöse der Aufmachung wird somit in der Kontextualisierung mit dem Genre Künstlerbuch unterwandert. Innerhalb des Magazins sind die Fotos, die ein Jahr zuvor bereits in der Sammelmappe zusammengestellt und publiziert worden sind, mit Conrads Erzählung verknüpft. Die Fotos entstammen dem Londoner Finanzmarktbezirk, prägnante Gebäude und Installationen sind zu erkennen – wie das ehemalige Swiss Re Building, heute 30 St Mary Axe, sowie Richard Serras Stahlplastik Fulcrum (1987). Die Fotos dienen nicht der Illustration von Conrads Erzählung im Sinne einer Verbildlichung der Handlung. Der Rezipient soll vielmehr über die Zusammenhänge zwischen Conrads Erzählung und dem Dargestellten nachdenken. Drei doppelseitige fotografische Dokumentationen des Handels per Zuruf an der Londoner Metallbörse im Zentrum des Magazins zeigen den sogenannten ‚Ring‘; der Ort, an dem Geschäfte durch Schreie und Handzeichen abgewickelt werden. Das Motiv des Rings, die verzerrten Gesichter der schreienden Händler sowie die Gesten, wirken auf den Außenstehenden – den Rezipienten – wie ein entfesseltes archaisches Ritual. Hier scheinen es die Mitarbeitenden im Londoner Finanzmarktsektor zu sein, die mit ihrem sonderbaren Gebaren ‚wild‘, enthemmt und dadurch angsteinflößend wirken. Darüber hinaus repräsentieren Spiegelungen und Schatten innerhalb der Fotografien die nebulöse Erzählweise Marlows in Conrads Werk. Stets scheint etwas auf den Fotografien sichtbar – eine Person, ein Bild, eine Umgebung –, das sich in seiner Ausschnitthaftigkeit oder latenten Unsichtbarkeit in die Imagination des Betrachters einschreibt und schließlich dazu animiert, das nur schemenhaft Dargestellte weiterzudenken. In Banners Heart of Darkness-Magazin wird deutlich, dass menschliche Grausamkeit zwar das Individuum betrifft und durch dieses auch aufrechterhalten wird; jedoch ist es immer ein System, das mit seinen Gesetzmäßigkeiten rücksichtsloses Handeln fördert und institutionalisiert (vgl. Fraser 2014, S. 11). Während es bei Conrad der europäische Imperialismus ist, ist bei Banner der globale neoliberale Kapitalismus das System, das vom Individuum gestützt wird und zugleich zu dessen Dehumanisierung führt. Dass es sich hierbei um ein allgemein menschliches, überzeitliches Phänomen zu handeln scheint, ist bereits in Conrads Erzählung angelegt, wenn Marlow seinen Erlebnisbericht mit dem Expansionsdrang der Römer in der Antike verbindet (vgl. Conrad 2008, S. 56). In der Konsequenz heißt Banners Ausstellung, in der Pellegrins Fotografien erstmalig gezeigt werden, Mistah Kurtz – He Not Dead. Auf einigen Fotos ähneln sich die Strukturen und Formen, wenn Pellegrin Wasser – die Themse? –, die gläserne Oberfläche eines Bankenhochhauses und den visuellen Ausdruck eines Nadelstreifenanzugs vergrößert wiedergibt. Banner stellt diese Abbildungen in eine Folge. Dem Rezipienten wird somit verdeutlicht, dass es sich um einen systematischen Bezug innerhalb der Fotografien handelt; ein Verweis auf das ‚System‘ des neoliberalen Kapitalismus. Die Fotografien zeigen den Nadelstreifenanzug als Uniform des Finanzsystems, der sich in einen ausbeuterischen Kontext einschreibt. PH  



















E 2 Künstlerbücher

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E 2.35 Ryoko Adachi: Hier ruht Faust mit seinen Genen, seinen Erlebnissen, seiner Asche und Myrrhe (2004) Braunschweig: Adachi, 2004. 30,5 x 20,3 cm, Auflage: 9 Exemplare.  





Bezugstexte: Johann Wolfgang Goethe: Faust I (Schauspiel, 1808), Faust II (Schauspiel, 1832)

Adachis Arbeit Hier ruht Faust mit seinen Genen, seinen Erlebnissen, seiner Asche und Myrrhe besteht zwei zu Leporelli gefalteten Papierbahnen und zwei großformatig mit Fotografien gefüllten Heften, die in einer flachen Schachtel zusammengefasst sind, aus der beim Öffnen ein intensiver Myrrhenduft aufsteigt. Die dadurch ausgelöste Assoziation von Grabkammer oder Gruft ist beabsichtigt, führt sie doch auf wesentliche Aussagen der Arbeit hin. Der Duftstoff geht von der Druckfarbe aus, deren Pigmente in Rußpartikeln bestehen, die die Künstlerin aus der Asche eines verbrannten Faust-Textes gewonnen hat. Dass es sich bei diesem Text um den Faust von Johann Wolfgang Goethe handelt, erschließt sich in der weiteren Auseinandersetzung mit den Inhalten von Adachis Arbeit. Das sind in erster Linie Zahlenpaare, die in aufsteigender Folge entlang der Ränder der beiden Leporelli aufgedruckt sind. Diese Zahlen korrespondieren mit den Versen von zwei markanten Stellen aus Goethes Faust-Drama, die für die Künstlerin den Ausgangspunkt ihrer Darstellung bieten. Die erste Textpassage enthält die Laboratoriumszene und endet mit der klassischen Walpurgisnacht, aus der lediglich die Szenen, die sich auf dem oberen und dem unteren Peneios abspielen, ausgespart bleiben, so dass der Textbezug ganz auf dem Homunculus liegt, beginnend mit dessen Schöpfung im Reagenzglas und endend in der klassischen Walpurgisnacht mit Fausts Begegnung mit der antiken Welt, über die sich ihm ein neues Leben erschließt. Eingeschlossen in die durch die Verszahlen ausgewiesene Textpassage ist auch die Begegnung mit dem Meergott Nereus, dessen zukunftsweisender Rat von Faust aber nicht aufgegriffen wird, wie auch die mit Proteus, der gleichfalls über seherische Gaben verfügt, diese aber hinter sein wechselhaftes Wesen zurücktreten. In rascher Folge wechselt seine Gestalt zwischen Wesenhaftigkeit und Materie. Dieser zweite Teil schlägt als eine Art Vorspiel zur Menschwerdung einen weiten Bogen zu Schöpfung und Wandel in der antiken Mythologie. „Die Natur, um zum Menschen zu gelangen, führt ein langes Präludium auf, von Wesen und Gestalten, denen noch gar viel zum Menschen fehlt“, kommentiert Goethe in einem Schreiben an Riemer vom 23. November 1806. Der Faust vorantreibende Wissensdrang endet mit der Erkenntnis vom Glück eines erfüllten Lebens, das er am Schluss durch das alte Menschenpaar Philemon und Baucis kennenlernt.  

Zeichen, Codes, Struktur. Außer den auf die beschriebenen Textstellen hinweisenden Versangaben enthalten die beiden Leporelli eine vom ersten bis zum letzten Blatt fortlaufende Textur aus Rechtecken und sich wiederholenden Buchstaben. Einer bestimmten Ordnung folgend erscheinen zwischen den Rechtecken die Buchstabenfolgen A, T, G, C, Ä, davon losgelöst nochmals vereinzelt die Buchstaben A und G. Auch Sonderzeichen wie Plus- oder Fragezeichen, Semikolon oder Ausrufezeichen sind ein-

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

gefügt. Die Buchstaben entsprechen den organischen Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin, die wesentliche Bausteine der DNA sind. Der hieraus ausbrechende Umlaut Ä, eine Verschmelzung aus A und E, wäre als Anspielung auf die Doppelhelix der DNA-Struktur zu interpretieren, die die Voraussetzung für die Vervielfältigung des Erbgutes liefert und im Kontext von Adachis Arbeit das Faustische Bestreben, einen Menschen zu schaffen, bezeichnet. Von den Leporelli unterscheiden sich die beiden Hefte formal wie inhaltlich, finden sich doch hier großformatige Fotografien reproduziert, deren seitliche Lochung zu erkennen gibt, dass sie aus dem Heftverband gelöst und als Bildstrecken neben die Texturen gestellt werden können. Die formatfüllenden Bilder fallen höchst unterschiedlich aus, Nah- und Fernsicht, Schärfe und Unschärfe und die Größe der Ausschnitte sind bei allen anders und nicht immer ist zu erkennen, was genau wiedergegeben ist. Deutlich wird jedoch, dass ein breites Spektrum an Lebenszusammenhängen aufgegriffen ist, die im Weiteren auf die Textpassagen aus dem Faustdrama zu beziehen sind. Landschafts- und Lichtkonstellationen lösen einander ab, auf eine laborspezifische Versuchsanordnung folgt der Blick auf einen Bühnenaufgang und hinter eine Theaterkulisse. Erhellend sind einige in die Aufnahmen einbezogene Textstellen, wie etwa diejenige, die Auskunft über einen Laborversuch zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung gibt. Über sie zeigt sich nicht nur ein Bezug zu den genetischen Codes auf den Leporelli, sondern auch die übrigen Bilder lassen sich hierauf hin einordnen. Alle führen auf verschiedene Lebensformen hin, die Pflanze, Tier und Mensch gleichermaßen berücksichtigen und sämtlich im Fokus der Genforschung stehen. Auch die Verbindung von Leben und Tod drängt sich auf, zum einen durch entsprechende Bildmotive, zum anderen aber auch durch den beim Öffnen der Schachtel aufsteigenden Myrrhenduft. Ein drittes und letztes Element von Adachis Buchkomplex bilden schließlich aus dem Zusammenhang gerissene Fragmente des Faust-Textes, die sich als eine Art Kommentar zu den übrigen Teilen der Arbeit erweisen. Der Versuch, menschliches Leben im Labor zu schaffen, erscheint vermessen. Das Scheitern eines solchen Vorhabens wird im Faust-Drama vorgeführt. Allein die hier geschilderte Begegnung Fausts mit der antiken Welt zeigt, dass selbst die Vorhersagen der Götter nichts taugen. Zusammen mit der Myrrhe, die seit der Antike untrennbar mit dem Totenkult verbunden ist, und den aus der Asche des verbrannten Texts gewonnenen Pigmenten bilden die Textfragmente Grabbeilagen, die Buchkassette entsprechend das Grab für Faust. Zusammen mit dem Titel rundet sich hier die Aussage von Adachis Arbeit. Die in die drei Teile eingeschlossenen Elemente lassen sich auf eine der zentralen Fragestellungen im Faust-Drama beziehen. VHS

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E 2.36 Veronika Schäpers: Lob des Taifuns (2004) Tokio: Schäpers, 2004. 28 Haikus von Durs Grünbein, ins Japanische übersetzt von Yuji Nawata. Buchdruck in Deutsch und Japanisch in Grau-Tönen von Zinkklischees auf Mitsumata-tsuchi-iriPapier von Hideo Ogawa. Zwei Kalligrafien der Schriftzeichen kage (Schatten) und machi (Stadt) von Akiko Kojima. Leporello mit 28 eingeflochtenen Tanzaku-Papierstreifen. Schuber mit Titel und kleinen Eki-stampu. Umschlag aus transparentem Vinyl. Erstveröffentlichung des deutschen Textes und der japanischen Übersetzung. 8,6 x 36 cm (geschlossen), 258 x 36 cm (offen). Auflage: 35 arabisch und 6 römisch nummerierte Exemplare. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 5/35 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  













Bezugstexte: Durs Grünbein: 28 Haikus (s. o.)  

Veronika Schäpers installiert in ihrem Künstlerbuch ausgewählte Haikus des Lyrikers Durs Grünbein, die dieser auf insgesamt vier Japanreisen verfasst hat. Die limitierte Auflage ist die Erstausgabe der Gedichte unter dem Titel Lob des Taifuns (vgl. Grünbein 2008). Der deutsche Schriftsteller blickt als Fremder auf die japanische Kultur und greift dazu die ihm fremde Gedichtform des japanischen Haikus auf. Dessen strenges Silbenformat (5-7-5) hält Grünbein konsequent ein und fixiert in knapper, sachlicher Diktion Momentaufnahmen seiner Reisen. Zugleich gewährt er sich aber einen freien, spielerischen Umgang mit klassischen Wesensmerkmalen der Haiku-Dichtung und eröffnet darin einen spannungsreichen und humorvollen Dialog zwischen Tradition und Moderne. Er variiert zum Beispiel den obligatorischen Einbezug der Jahreszeiten, indem er die Haikus stattdessen mit Orts- und Zeitangaben versieht. Diese verweisen darüber hinaus auf den Charakter eines Reisetagebuchs. Weitere Anspielungen auf die japanische Literaturtradition finden sich offenkundig im Titel, der sich von dem literaturgeschichtlich bedeutsamen Essay Lob des Schattens (1933) von Jun’ichirō Tanizaki ableitet, und darüber hinaus gut versteckt in mitunter ganz banalen Alltagsbeobachtungen, die die Texte, trotz aller Querverweise, leicht zugänglich machen. Nutzung der Leporellostruktur. Das Künstlerbuch von Veronika Schäpers, die eine ausgewiesene Kennerin Japans ist, reiht eine Auswahl der Haikus Grünbeins in einem Leporello aneinander. Allein das verwendete Papier greift gleich mehrere Bedeutungsebenen des Textes auf. Zum einen ist es farbig in schlichtem Grau gehalten und zugleich von höchster handwerklicher Qualität. Darin entspricht es wie Grünbeins Haikus der japanischen Ästhetik. Des Weiteren verwendet Schäpers den traditionell für Haiku-Dichtung produzierten Tanzaku-Papierstreifen und leitet davon das schmale Hochformat des Leporellos ab. Gemäß den unterschiedlichen Leserichtungen tragen die vertikalen Papierstreifen die japanische Übersetzung der deutschen Haikus, die ihrerseits auf einer horizontalen Papierbahn verlaufen. Ausschließlich durch Einschnitte und Faltung der Papierbahn entsteht mit den eingeflochtenen Papierstreifen eine komplexe Gewebestruktur, in der sich die dialogische Intention der Texte vergegenwärtigt. Der prinzipiell offenen Textstruktur der Haikus, die sich erst im Erleben des Lesers vervollständigen, antwortet Schäpers mit drei unterschiedlichen Rezep-

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tionsweisen des Leporellos. Man kann es als Buch blättern und jedem Haiku einzeln nachsinnen. Man kann es aber auch auf zwei Weisen (magic-wallet-Prinzip) ganz auffalten, sodass sich mal die Gedichte und mal die entsprechenden Zeit- und Ortsangaben in ein zusammenhängendes Raster aus regelmäßigen quadratischen Feldern fügen. Mit der Textebene entfalten sich zwei unterlegte Pinsel-Kalligrafien. Die beiden japanischen Schriftzeichen bedeuten „Großstadt“ und „Schatten“. Sie rufen zwei grundlegende Gegensätze Japans auf, die auch Grünbein nicht entgangen sind: Die Ambivalenz zwischen Traditionspflege und Modernitätseifer. Der Schatten gilt als Prinzip des japanischen Ästhetizismus (vgl. Tanizaki 2010) und wird zunehmend vom technischen, westlich beeinflussten Fortschritt verdrängt, der sich besonders in den pulsierenden Großstädten zeigt. Diese Großstädte sind aber zugleich auch der Entstehungskontext der Grünbeinschen Haikus, den Schäpers in der Struktur des Leporellos mitbedacht hat. In seiner gerasterten Oberfläche mutet er wie ein Faltplan mit Straßenraster an und führt die Reise-Stationen Grünbeins greifbar vor Augen. Als Zeugen der Reise zieren zudem zwei Stempel (eki-stampu) den schmalen Schuber des Leporellos. Wie die Haikus sind sie Reise-Souvenirs, die man sich in Japan an Bahnstationen oder Tempeln in sein Reisebuch stempelt, zur späteren Vergegenwärtigung der Reise und der erlebten Augenblicke an jenen Orten. Als kontrastreichen Akzent hüllt Schäpers das Leporello in einen traditionellen Umschlag mit Verschlusskordel, der jedoch aus durchsichtigem Vinyl besteht. Wie im Text schließen sich Tradition und Moderne nicht zwangsläufig aus, sondern gehen eine spannungsvolle Symbiose ein. NM

Abb. E 2/16: Veronika Schäpers: Lob des Taifuns. Tokio 2004.  



E 2.37 William Blake/Gunnar A. Kaldewey: The Tyger (2004–2005)  

Poestenkill: Kaldewey Press, 2004–2005. Text von William Blake. 7 Tontafeln von Gunnar A. Kaldewey. Auflage: 8 nummerierte und signierte Exemplare. Die Tontafeln (21 x 15 x 1 cm) befinden sich in einer Holzkiste (23 x 18 x 12 cm). Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 6/8 der Sammlung der HAB.161  















Bezugstext: William Blake: The Tyger (Gedicht, 1794)

161 Der HAB Wolfenbüttel gilt herzlicher Dank für das Bildmaterial.









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Gunnar A. Kaldewey (*1946) hat seit der Gründung der Kaldewey Press und der Edition Kaldewey162 über 80 Titel in über 20 Sprachen herausgegeben (Kat. Ausst. 2016, S. 54).163 In seinen Büchern werden literarische und bildnerische Werke in Beziehung gesetzt.164 Die jeweils gewählte Form und „die Raffinesse der Materialien [werden] bei aller Üppigkeit stets diszipliniert und zielsicher eingesetzt“ (Lucius 2002, S. 8). Ein Buchwerk Kaldeweys, das etwas weniger bekannt sein mag (die Auflage ist auf acht Exemplare limitiert), ist das zunächst unscheinbar wirkende Künstlerbuch The Tyger (2004–2005), dessen Material aber durchaus ungewöhnlich ist: Keine Buchseiten aus Papier sind es, auf die das titelgebende Gedicht von William Blake (1757–1827) gedruckt wurde, es ist von Tontafeln (visuell und haptisch) abzulesen (siehe Abb. E 2/ 17). Jede der sechs Strophen des Tygers wurde mit Bleischriftsatz (Helvetica) von Hand in ungebrannte Tonstücke gesetzt oder eher gepresst. Zur Orientierung in den Ton geritzte Linien konstruieren auf jeder der sechs Tafeln den Satzspiegel. Eine siebte Tafel, die gewissermaßen als Titelblatt fungiert, wurde hinzugefügt.165 Die Tontafeln wurden nach dem aufwendigen traditionellen Verfahren der Bizen-Keramik im Tunnelofen (Anagama) gefertigt. Im Anagama, der von unten mit Holz handbefeuert wird, wurde der rotbraune Ton (Bizen) Rauch, Glutkohle und Flugasche ausgesetzt. Die feinen Aschenpartikel legten sich als Staub auf die Tafeln und verschmolzen bei der großen Hitze im Ofen zu einer Flugascheglasur mit changierender Farbwirkung zwischen warmen und kalten Farbtönen (anthrazit-schwarz, blau-violett, grün-grau – dunkelbraun, rot-gelb). An einigen Stellen zeigen sich sogar regenbogenartige Farb 









162 Die Kaldewey Press wurde 1985 in New York gegründet, es gibt zwei Serien in der Presse: Die EDITION KALDEWEY veröffentlicht Zusammenarbeiten von Autoren und bildenden Künstlern; von der KALDEWEY PRESS werden Bücher publiziert, die von Gunnar A. Kaldewey geschrieben und illustriert wurden. Vgl. Kat. Ausst. 2002c, S. 10. 163 Vgl. als Überblicksdarstellung von Kaldeweys Werken bis 2011 mit Einführungstexten zu Entstehungsprozess und Besonderheiten von Drucktechniken und Materialien: Lucius 2011. 164 Gunnar Kaldewey spricht in einem Katalog des Metropolitan Museums 1988 über seine Tätigkeit als Buchkünstler: „The making of artist’ books is a quiet art, inhabiting a region that is neither completely taken up by the visual arts nor exclusively by literature. Language adds to the image. The image deprives the word of the unlimited freedom of the imagination. An exchange takes place. Movement is created. If successful, text and illustration flow into each other and form a unity.“ Zit. nach: Lucius 2002, S. 8. 165 Den Tafeln beigelegt ist ein auf Japanpapier gedrucktes Kolophon: „Edition Kaldewey New York Volume 39. Seven clay tablets stamped by G. A. K and fired with the assistance of Scott Meyer in the anagama kiln at the University of Montevallo, Al. The wooden boxes are custom made in Kyoto, Japan. Edition of eight numbered and signed copies.“ Alle fertig gebrannten Tontafeln werden in einer Holzkiste (23 × 18 × 12 cm) aufbewahrt, die in Kyoto, Japan gefertigt wurde – wo für Keramikarbeiten traditionell Holzkisten (mit Band) hergestellt werden. Die Kiste ist mit einem reißfesten Band, das in deren Boden eingelassen ist, umschnürt. Ein weiteres Band innen erleichtert die Handhabung der recht schweren und teilweise aufgerauten Tontafeln. Dennoch braucht die ‚Buch‘-Verwendung eine geduldige und vorsichtige Hand; eindrucksvoll ist der ‚tönerne Klang‘, den die Tafeln erzeugen, wenn sie sacht aneinanderstoßen: Kaldeweys Tyger ist auch ein klingendes Künstlerbuch.  

















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verläufe166 sowie Verrußungen; auf mancher Tafel scheint noch der unbehandelte rote Ton hindurch. Der endgültige Zustand der Tontafeln ist bei der Produktion nicht vorhersehbar bzw. steuerbar. Jede Tafel ist ein Unikat.167 Blakes Songs of Innocence and Experience. William Blakes The Tyger wurde als Teil der Songs of Experience 1794 veröffentlicht, die ihr Pendant in den 1789 publizierten Songs of Innocence haben: Das Lamm aus den Liedern der Unschuld gilt als Gegenstück zu Der Tiger. Beide Bücher wurden von Blake zusammen unter dem Titel Songs of Innocence and of Experience. Showing the Two Contrary States of the Human Soul mit 54 Bildtafeln herausgegeben (vgl. Gilchrist 1907, S. 118). Der Malerdichter Blake hatte seine Gedichte selbst illustriert. Auch The Tyger hat eine bildnerische Gestaltung erhalten: Das Besondere bei Blakes Gestaltung ist, dass auf einem Blatt Text und Bild unmittelbar ineinandergreifen – der benannte Tiger ist stehend vor einem Baum dargestellt, dessen Äste als horizontal gezogene Unterteilungslinien fungieren und das Gedicht in seine Strophen gliedern. Der Pinselschwung der handgeschriebenen Verse setzt sich in dem der gemalten Linien fort et vice versa; Schrift und Bild bilden eine harmonische Einheit (vgl. Hildebrand-Schat 2013b, S. 46; siehe auch Lyons 1985, S. 151–158). Konkrete Motive in Blakes Darstellung, wie der Tiger und der angedeutete Wald in den Versen „Tyger Tyger, burning bright,/In the forests of the night“, finden keinen bildnerischen Eingang in Kaldeweys Arbeiten, dennoch rekurrieren diese auf Blakes Text und dessen bibliophile Edition. Der Nebentitel von Blakes bibliophiler Ausgabe Showing the Two Contrary States of the Human Soul erscheint als Verständnishilfe für die Gedichte The Tyger und The Lamb. Das Wesen der beiden so unterschiedlichen Tiere dient als Metapher für die komplexe Beschaffenheit der menschlichen Seele. Während das Lamm die reine, sanfte, unschuldige Seite verkörpert, wird die von (natürlichen) Trieben und ungestümen Leidenschaften erfüllte Seele mit dem Tiger verglichen. Das instinktgesteuerte Ausleben der Leidenschaften bietet in einem traditionell-christlichen Sinne jedoch die Gefahr des Sündigens. Die Sünde wird als Abkehr vom Willen Gottes und in Zusammenhang mit dem Teufel gesehen. Im Gedicht spielt dies insofern eine Rolle, als das geflammte Fell des Tigers bildlich eine Nähe zum Höllenfeuer herstellt. Auf Blakes illuminiertem Blatt der Songs of Experience ist der Tiger nicht naturgetreu mit seinem rot-weiß-schwarzem Fell dargestellt, sondern mit kräftigen Farbtönen in gelb, rot, blau laviert. Der Tiger, vor einem ockerbraunen, unbelaubten Baum stehend, ist umgeben von grüner Wiese. In beiden Exemplaren A und B, die sich im British Museum in London befinden, werden diese Farbtöne – wenn auch in verschiedener Akzentuierung und Intensität – verwendet. Kaldeweys Bizen-Tafeln, die durch ihre ‚Flug 











166 Diese Farbwirkung wird durch Lichteinfall verstärkt und ist fototechnisch nicht reproduzierbar. 167 Die Informationen zur Herstellung verdanke ich einem Gespräch mit Gunnar Kaldewey am 15.02.2018.

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aschenglasur‘ in verschiedenen Farbtönen changieren, scheinen auf Blakes Kolorierung Bezug zu nehmen. Die Frage im Gedicht, ob es der gleiche Gott sei, der Lamm und Tiger erschaffen habe („Did he who made the Lamb make thee?“), scheint zunächst auf eine moralischreligiöse Kritik abzuzielen, was das Ausleben der menschlichen Affekte angeht. Doch so gegensätzlich die Wesensmerkmale von Lamm und Tiger sind, sie werden hier als (lebensnotwendige) Gegenstücke verstanden. Die Vermittlung zwischen den antagonistischen Seelenanteilen hatte William Blake in seinem gesamten Œuvre sehr beschäftigt. (Das Prinzip des lebendigen Gegensatzes findet sich auch in der Aphorismensammlung The Marriage of Heaven and Hell, 1790–93.) Entgegen der etablierten christlich geprägten Moral war er gegen die Unterdrückung sinnlichen Begehrens und für einen (kreativen) Befreiungsakt menschlicher Leidenschaften (vgl. Vaughan 1999, S. 29–32). Man könnte erwarten, Kaldewey nähere sich durch eine dynamisch-temperamentvolle Darstellungsweise dem Inhalt von Blakes Tyger. Doch zeigen die Tafeln allein den Text und sind dabei – abgesehen von der mehrfarbig wirkenden ‚Flugaschenglasur‘ – ungeschmückt. Sie vermitteln keinerlei emotionale Ausdrucksbewegungen. Das schlichte Erscheinungsbild erinnert an die historische Verwendung der Tontafel als eines der ersten Schreibmittel (dazu Ekschmitt 1964). MSch  





Abb. E 2/17: William Blake/Gunnar A. Kaldewey: The Tyger. Poestenkill/New York 2004–2005.  



E 2.38 Barbara Fahrner: Diese Welt aus Tau (2007) 17 Blätter, 27,5 x 25 cm, Japanpapier, Fadenbindung. Unikat.  





Bezugstexte: Kobayashi Issa: Haiku aus Ora ga haru (Gedichte und Prosa, 1852)

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Diese Welt aus Tau ist ein Fragment aus einem Haiku von Kobayashi Issa (1763–1828) und der Titel des 2007 erschienenen Künstlerbuchs von Barbara Fahrner. In dem mit Faden gebundenen Heft aus Pappe und Japanpapier werden auf insgesamt 34 Seiten Haikus von Issa mit floralen Illustrationen Fahrners kombiniert. Das titelgebende Haiku ist Teil von Issas Ora ga haru, einer Sammlung autopoietischer Prosa und Gedichte, die Erlebnisse des Autors aus dem Jahr 1819 dokumentieren und die erstmals postum im Jahr 1852 publiziert worden sind (vgl. Scholz-Cionca 2009, S. 195f.). Die Farbigkeit des Künstlerbuchs hat Fahrner äußerst reduziert angelegt, für die Darstellung der Texte und Illustrationen nutzt sie ausschließlich schwarze Farbe. Der für Issas Haikus verwendete maschinenschriftliche Font kontrastiert mit vereinzelten manuell auf die Seiten schablonierten Wörtern und Wortteilen, die zunächst keinen direkt ersichtlichen Bezug zu Issas Lyrik aufweisen. Die Texte werden durch meist schematisierende botanische Längs- und Querschnittszeichnungen von Blüten und Früchten ergänzt, die in filigranen Strichen von Fahrner auf das Papier gesetzt wurden. Die Transparenz des Japanpapiers bedingt, dass sowohl die Illustrationen als auch die Texte beim Blättern über mehrere Seiten hinweg erkennbar bleiben und sich überlagern. Issas Haikus werden größtenteils in ihrer englischen Übersetzung wiedergegeben. Lediglich das letzte, das titelgebende Diese Welt aus Tau-Haiku ist sowohl auf Englisch als auch auf Japanisch, transkribiert in lateinische Schrift, dargestellt. Die für das Künstlerbuch ausgewählten Haikus kreisen thematisch insbesondere um das Werden und Vergehen alles Lebenden sowie um die Reflexion der Objekte der ‚Realität‘ als schemen- bzw. schattenhaft.  

Zeit und Räumlichkeit im Haiku und in Fahrners Künstlerbuch. Zeitlichkeit ist sowohl in Issas Ora ga haru als auch in Fahrners Künstlerbuch ein dominantes Thema. Ein konstitutives Element von Haikus im Allgemeinen sind die kigo – ‚Jahreszeitenwörter‘, die dem Leser anzeigen, wann das lyrisch erfasste Ereignis sich zuträgt.168 Dies geschieht insbesondere durch die Benennung regelmäßig im Jahresverlauf auftretender natürlicher Erscheinungen, wie beispielsweise der Blüte einer bestimmten Pflanze. So werden auch in den für Fahrners Künstlerbuch ausgewählten Haikus Blüte- bzw. Aussaatzeit von Pfingstrose, Prunkwinde und Kirsche erwähnt. Die exponierte Bedeutung der Flora in Haikus generell wie in Issas Werken im Speziellen zeigt sich auch in den floralen Illustrationen Fahrners. Die Darstellungen der Blüten und ihrer im Bild wiedergegebenen Transformation zu Früchten bedingt ebenfalls einen Ausdruck des zeitlichen Verlaufs. Es liegt nahe, die im Text genannten Blumen mit den Zeichnungen in Beziehung zu setzen. Die Möglichkeit der direkten Entsprechung von Bild und Text im Sinne einer Abbildung der in den Haikus genannten  

168 Fehlt dieses ‚Jahreszeitenwort‘, kann es sich um ein Senryū handeln, eine Gedichtform, die ebenfalls den für das Haiku typischen 5-7-5-Rhythmus aufweist (vgl. Takeda 2007, S. 24f.).  

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Pflanzen wird durch Fahrners Darstellung von nicht im Text genannten Blumen und Früchten, wie beispielsweise Heckenrose und Birne, gleichsam unterwandert. Nicht nur die Motive der Illustrationen scheinen mit dem Inhalt der Haikus zu korrespondieren, auch der Buchtitel drückt sich in der Materialität des Künstlerbuchs aus: Die leichte Transparenz des weißen Japanpapiers in Fahrners Künstlerbuch erweckt beim Betrachten einer Doppelseite den Eindruck von Nebel, durch den schemenhaft die Texte und Bilder vor- und nachgelagerter Seiten erkennbar sind. Es wird Räumlichkeit suggeriert, die im Kontrast zur geringen Tiefe des Hefts steht. Anders als ein dicker Buchblock scheint Fahrners Werk von außen besehen eher der Zwei- als der Dreidimensionalität zugeneigt zu sein. Indem die Künstlerin leere und mit Text bzw. einer Zeichnung versehene Seiten wechselweise anordnet, wird der Eindruck des zu Sehenden auf der jeweiligen Doppelseite diffus. Dies wird verstärkt durch die von zwei Seiten angelegten Zeichnungen. Teile der Blüten- und Fruchtdarstellungen werden entweder auf der Recto- oder der Verso-Seite aufgetragen. So ist beispielsweise auf der dritten Seite recto ein schematisierender Querschnitt durch einen Blütenkelch dargestellt. Bei genauer Betrachtung der Grafik wird deutlich, dass der zentrale Stempel auf der vierten Seite verso gezeichnet worden ist. Das Durchdrücken der Farbe bedingt, dass das Pistill dennoch auf der Vorderseite zu sehen ist, nur abgeschwächt. Seine Intensität verstärkt sich im Prozess des Umblätterns, während die übrigen Blütenorgane in den Hintergrund treten, steht nun der Stempel im Fokus. Dies wiederholt sich auf den folgenden Seiten: Im gesamten Künstlerbuch treten Teile der Zeichnungen im Prozess des Umblätterns hervor und zurück. Die räumlich wirkende Durchdringung der Abbildungen und Texte auf den durchscheinenden Seiten unterwandert die Zweidimensionalität der Doppelseite. Die nebulöse Konstitution der suggerierten Räumlichkeit transformiert wiederum die Dimensionen; das Davor und Dahinter von Objekten wird undurchschaubar. Während im konventionellen Kodex die Inhalte der Seiten sukzessive wahrgenommen werden, erscheinen sie in Fahrners Künstlerbuch als latent über mehrere Seiten hinweg präsent. Im Gegensatz zum Text auf einer opaken Seite, der nach dem Umblättern dem Leserblick entzogen ist und erinnert werden muss, stehen die vor- und nachgelagerten Inhalte in Diese Welt aus Tau dem Rezipienten anhaltend vor Augen. Die Sukzession, die sich im Verlauf der Seiten darstellt, kippt durch die räumliche Suggestion der Doppelseite in den Eindruck eines Einschnitts in den zeitlichen Verlauf. Der sich im jeweiligen Diptychon der Seiten aufspannende Prospekt bildet einen Augenblick ab, in dem Objekte schemenhaft wahrnehmbar sind und vom Rezipienten zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Mittels der Materialität des ephemer wirkenden Papiers und Farbauftrags in Kombination mit der Darstellung einer zeitlichen Zäsur, eines Augenblicks, werden bedeutsame Konstituenten von Issas Lyrik und von Haikus im Allgemeinen nachvollzogen. Diese Welt aus Tau – Symbolik und ihre Dekonstruktion im Künstlerbuch. Wie Roland Barthes herausgestellt hat, zeigen Haikus die Dinge augenblickshaft wie sie

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sind, sie repräsentieren ein „Erwachen vor der Tatsache“ (Barthes 2007, S. 108). Die in Issas Sammlung Ora ga haru dokumentierten Geschehnisse des Jahres 1819 finden eine tragische Klimax in der Auseinandersetzung mit dem Tod von Issas Tochter Satojo (vgl. Scholz-Cionca 2009, S. 195 f.). Das für Fahrners Künstlerbuch titelgebende Haiku „this world of dew/is a world of dew –/and yet… and yet…“ in transkribiertem Japanisch: „tsuyu no yo wa/tsuyu no yo nagara/sari nagara“ (Fahrner 2007, unpag. und Ueda 2004, S. 125) bezieht sich direkt auf dieses einschneidende Erlebnis in Issas Leben. Im in der Textsammlung vorangehenden Prosatext reflektiert der Autor das rationale Begreifen der Situation, dass das Leben seiner Tochter unwiederbringlich ausgelöscht ist, im Zusammenhang mit der starken emotionalen Bindung zu dem Mädchen. Auch im Haiku nimmt Issa die naturgegebene Endlichkeit des Lebens hin und fügt ihm mittels des ‚dennoch‘ die Konfrontation mit dem emotionalen Schmerz über diese unabänderliche Tatsache ein. Die Kürze des Haikus und die Vielzahl an Werken dieser Gedichtform bewirken laut Barthes eine Fragmentierung der Welt, evozieren „einen Staub von Ereignissen“ (Barthes 2007, S. 108). Die sich in diesem Ausdruck andeutende Nichtigkeit des einzelnen Geschehnisses steht im Widerspruch zur von Barthes insbesondere bei westlichen Lesern identifizierten Annahme, das Gedicht sei symbolisch auszudeuten. Barthes’ weitere Ausführungen zum Haiku können für die Interpretation von Fahrners Illustrationen fruchtbar gemacht werden. Barthes identifiziert im okzidentalen literarischen Ausdruck ein Missverhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, während das japanische Kurzgedicht versuche, Signifikant und Signifikat anzugleichen.169 Ergänzend führt Günter Wohlfart aus, dass sich das Haiku durch eine „Metaphorik ohne Metaphern“ (Wohlfart 1998, S. 322, Hervorhebungen wie im Original) auszeichne. Es finde zwar ein Transfer statt, jedoch nicht auf symbolischer Ebene, vielmehr sprächen die zu Ereignissen arrangierten Dinge für sich, ohne einen andernorts verborgenen und zu entschlüsselnden Sinn. Die Übertragungsleistung vollziehe sich vielmehr von Wort zu Wort, ohne Transfer zugeschriebener Symboliken (vgl. ebd., S. 322 f.). Die Tendenz, Inhalte als Symbol für etwas anderes zu interpretieren, wird in Fahrners Künstlerbuch angedeutet und zugleich dekonstruiert. Insbesondere Blumendarstellungen legen eine symbolische Ausdeutung nahe, wobei sich ein breites  

















169 „Im Haiku ist die Beschränkung der Sprache Gegenstand einer Anstrengung, die uns unbegreiflich ist, denn es geht nicht um konzisen Ausdruck […], sondern im Gegenteil darum, auf die Wurzel des Sinns einzuwirken, um zu erreichen, daß der Sinn sich nicht erhebt, sich nicht verinnerlicht, sich nicht einschließt, nicht ablöst, sich nicht ins Unendliche der Metaphern, in die Sphären des Symbols verliert. […] Die Zügelung der Sprache ist das, wozu der westliche Mensch am wenigsten geeignet ist, und zwar nicht, weil er sich zu lang oder zu kurz faßte, sondern weil seine ganze Rhetorik ihn zwingt, Signifikant und Signifikat in ein disproportionales Verhältnis zu bringen, sei es, indem er das Signifikat in einer schwatzhaften Flut aus Signifikanten ‚verdünnt‘, sei es, indem er die Form in Richtung auf implizite Regionen des Inhalts ‚vertieft‘.“ Barthes 2007, S. 103.  

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Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, das auch Ambivalenzen enthält. So kann die Blume im antiken Mythos beispielsweise als Symbol für Unsterblichkeit interpretiert werden (vgl. Grosse Wiesmann 2012, S. 57). Dem entgegengesetzt symbolisiert die Blume jedoch aufgrund ihrer zumeist kurzen Blühdauer oftmals auch Vergänglichkeit (vgl. ebd.). Die Objekte werden somit fragmentiert wiedergegeben, vereinzelte Eigenschaften eines Gegenstandes werden selektiert, um diesen für eine spezielle symbolische Ausdeutung fruchtbar zu machen. In Fahrners Künstlerbuch wird deutlich, dass die Art und der Kontext der Präsentation eines Zeichens die Intensität der Suggestion von Symbolik bedingen. So scheinen sich Fahrners schematisierende Blumendarstellungen einer symbolischen Aufladung zu entziehen, indem sie an wissenschaftliche botanische Zeichnungen erinnern, die zur Identifikation und Klassifizierung von Blumenarten angefertigt und herangezogen werden. Mithilfe der Reduktion werden wesentliche Merkmale einer Blüte wiedergegeben, die zur Bestimmung einer Pflanze dienen, wie beispielsweise Anzahl, Anordnung und Form von Kelch-, Kron- und Staubblättern. Reduktion und Fragment – sinnfällig vor allem auch in der Nutzung von Längs- und Querschnittszeichnungen – verhelfen zur Bestimmung von Blumen. Insbesondere anhand der Materialität des Künstlerbuchs zeigt sich, dass die Gegenstände dabei zu Schemen abstrahiert werden, um eine Vermittlung zu ermöglichen. Das ‚Konzept‘ eines Objekts, das vorgestellte Bild eines Gegenstandes, ist abhängig von subjektiver Erfahrung und divergiert auch bei gleicher Bezeichnung. Eine Reduktion des Objekts auf prägnante Eigenschaften ermöglicht somit das Gelingen von dessen Vermittlung (vgl. Saussure 1967, S. 77). Wie Fahrner in ihrem Künstlerbuch zeigt, verkompliziert die Tendenz der Sprache, Dinge durch Reduktion und ihre Ähnlichkeiten mit anderen Dingen zu klassifizieren, das Verhältnis zwischen der Vorstellung eines Objekts und dessen Repräsentation in der Welt: Auf einer Seite in Diese Welt aus Tau platziert die Künstlerin die Wörter „Weiße Taube“ neben einer botanische Zeichnung. Die suggerierte Beziehung zwischen Bild und Text als Bezeichnung des ersten durch das zweite irritiert, zeigt das Dargestellte doch wenig Ähnlichkeit mit einem hellgefiederten Vogel. Die Beziehung des Künstlerbuchs zum japanischen Kulturkreis sowie die Verbindung zum Floralen geben den Hinweis auf ein mögliches Signifikat zum Signifikanten: auf die Pflanze Habenaria radiata, eine Orchidee, die unter anderem in Japan heimisch ist und aufgrund der Form ihrer Blüte im deutschen Volksmund Japanische Vogelblume bzw. Weiße Taube genannt wird. Obwohl mittels wissenschaftlicher botanischer Namen eindeutige Bezeichnungen für Blumen gefunden wurden, zeigt sich, dass volkstümlicher Sprachgebrauch dazu neigt, Eigenschaften der Dinge der Welt zu extrahieren und aufeinander zu übertragen; Blumenbezeichnungen wie Löwenmäulchen, Fingerhut und Stiefmütterchen unterstreichen dies. Der Signifikant wird dabei polysem, er bezieht sich nicht auf ein eindeutiges Signifikat, wobei die Darstellung von Issas Haikus in englischer Sprache gewahr werden lässt, dass Uneindeutigkeit insbesondere sprachlich-kulturell bedingt ist. Die in einem Haiku mit „morning glory“ bezeichnete Prunkwinde evoziert im Vergleich mit der deutschen Bezeichnung einen religiösen Zug.  







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Wörter wie Bilder erscheinen in Fahrners Künstlerbuch als bloße Hüllen, die den Inhalt, den sie zu bezeichnen suchen, nicht fassen können. Einen bildlichen Ausdruck erfährt dieser Umstand im Wechselspiel von ausgefüllten und unausgefüllten Buchstaben, die die Künstlerin sporadisch auf den Seiten verteilt: als gehaltlose Schemen ‚wabern‘ Silben und Wörter im diffusen Raum. Die Verbindung von Signifikat und Signifikant wird der Uneindeutigkeit preisgegeben. Die Inkonsistenz der schriftlichen wie bildlichen Zeichen steht im Widerspruch zu ihrer materiellen Fixierung als Farbe auf Papier wie innerhalb eines gebundenen Künstlerbuches im Generellen. Die Suggestion des Buchs, ein Speichermedium zu sein, das seine Inhalte auf Dauer fixiert, wird durch den spezifischen Ausdruck des gesamten Werks unterlaufen. PH

E 2.39 John Gerard: Die Kunst der Gesellschaft (2007) Rheinbach: Gerard, 2007. Typografie und Vignetten: Jürgen Forster. 36,8 x 28,4 cm. Auflage: 25 Exemplare. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 5/25 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  







Bezugstexte: Durs Grünbein: Die Kunst der Gesellschaft (Gedicht, 2007); Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Abhandlung, 1995)

Aus der Perspektive eines Beobachters, der am Fenster steht und das sommerliche Treiben in einem Park verfolgt, unternimmt Grünbein eine kritische Analyse der modernen Großstadtgesellschaft. Der Park als schwindende Oase für Freizeit, Erholung und gesellschaftliches Miteinander wird vor der Kulisse eines bedrohlichen „Walzwerk[s]“ der Großstadtwüste zum Sinnbild des bröckelnden gesellschaftlichen Zusammenhalts (Grünbein 2007, S. 4). Resignierend zeichnet das Gedicht ein drastisches Bild der modernen Individualgesellschaft, in der tradierte Werte wie Gemeinschaftssinn und Rücksichtnahme kaum noch gelten. Stattdessen herrschen Geschichtsvergessenheit, Orientierungslosigkeit und Gleichgültigkeit.  

Überlagerungen. Die Kunst der Gesellschaft von Durs Grünbein ist erstmals 2007 in einer einmaligen Künstlerbuch-Auflage von John Gerard erschienen. Der Künstler unterlegt den Text mit einer Ordnungsstruktur: Mit einem historischen Grundrissplan der ersten Parkanlage Berlins aus dem 19. Jahrhundert verortet er den Text im Berliner Stadtviertel Friedrichshain. Durch die Verwendung eines historischen Plans stellt Gerard wie Grünbein im Text Rückbezüge zur Vergangenheit her. Der Grundriss repräsentiert ein vom Menschen gestaltetes Gefüge, das die soziale Struktur der Stadtgesellschaft organisiert und prägt. Analog zur Gesellschafts-Diagnose Grünbeins ist der Plan aus seinem Gesamtzusammenhang gelöst und erscheint nur noch fragmentarisch. Die grünlichen Farbverläufe im handgeschöpften grauen Papier bilden ein ornamental anmutendes Muster, das den Grundrissplan der Parkanlage ausbildet. Die  

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Farbigkeit der Grünflächen deutet jedoch an, dass von der einstigen Freizeit-Idylle nicht mehr viel übrig ist. Sie wirkt eher wie die Patina einer Bronzestatue, die sich durch Umwelteinflüsse über einen langen Zeitraum abgelagert hat. Vergangenheit und Gegenwart erscheinen wie im Text disparat. Analog zum überhandnehmenden Beton der Stadt nimmt die graue Fläche des Papiers verhältnismäßig viel Fläche im Buch ein. Einige Textseiten zieren primitiv anmutende Figuren. Bei genauerem Hinsehen erweisen sie sich als isolierte Liniengebilde aus der Ornamentstruktur des Planes, die sich scheinbar aus dem Zusammenhang gelöst und verselbstständigt haben. Das Gedicht zitiert mit seinem Titel die Abhandlung des Systemtheoretikers Niklas Luhmann (1995), die denselben Titel trägt (vgl. Luhmann 1995). Anders als Luhmanns Untersuchung handelt das Gedicht nicht von dem System der Kunst in der Gesellschaft, sondern von der Gesellschaft als Kunst, im Sinne einer Fertigkeit. Zudem konnotiert die Umkehrung der Relation aber auch die künstliche Beschaffenheit der Gesellschaft als eine vom Menschen gestaltete Organisationsstruktur. Gerard greift auf den systemimmanenten Kunstbegriff Luhmanns zurück und verbindet ihn semantisch mit Grünbeins Text. Das Ornament (des Stadtplans) ist ein grundlegender Begriff in Luhmanns Analyse. Er versteht es als die Grundlage für die Entwicklung von Formen und als prinzipiell offenen Prozess der Formgenese. Das Kunstwerk als solches besteht für Luhmann aus ornamentalen Verschränkungen, die auf Beobachtungen beruhen. Einerseits den Beobachtungen des Künstlers, die sich im Kunstwerk vermitteln und andererseits der Beobachtung des Kunstwerks durch den Betrachter. Darin spannt Gerard den Bogen zurück zum Gedicht, das auf den Beobachtungen des Autors Grünbein aus seinem Fenster am Friedrichshainer Park beruht, und bezieht zugleich den Rezipienten des Künstlerbuchs als konstitutiven Akteur mit ein. NM

Abb. E 2/18: John Gerard: Die Kunst der Gesellschaft. Rheinbach 2007.  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

E 2.40 John Gerard: Relay (2008) Rheinbach: Gerard, 2008. Auflage: 20 Exemplare. 35,8 x 25,6 cm. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 3/20 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  







Bezugstext: Patrick F. Durgin: Relay (Gedichtzyklus, 2008)

Das Buch Relay des US-amerikanischen Papierkünstlers John Gerard entsteht während eines Artist-in-Residence-Aufenthalts in Chicago und gleicht einer Hommage an die Metropole am Michigan See. Als literarisches Äquivalent seines Stadtporträts greift Gerard Auszüge aus dem englischsprachigen Gedichtzyklus Relay von Patrick F. Durgin auf. Die Gedichte geben in einer Art Stream of Consciousness Sinneseindrücke, Beobachtungen und Gedankengänge während eines Tages in der Stadt wieder. Ohne ihren Namen zu nennen, kommen wesentliche Erkennungsmerkmale Chicagos im Text zum Ausdruck: Das feuchte Klima, der Flusslauf und der Hafen der Handelsstadt sowie die vielen Wolkenkratzer, die die Architekturgeschichte der modernen Stahlskelettbauweise bekunden und das Stadtbild der ‚Windy City‘ maßgeblich prägen. Die Texte bringen aber auch die Schattenseiten des Stadtlebens zur Sprache: Das lyrische Ich spricht ausschließlich in einem kollektiven „us“ und zeichnet ein ambivalentes Verhältnis der Menschen zu ihrer Stadt, geprägt von Loyalität, aber auch von Erschöpfung und Natursehnsucht. Die Architektur der Stadt ist das maßgebliche Thema des Buches, das durch seine Gestaltung selbst als architektonische Struktur erfahrbar wird. Schon der Einband zitiert durch zwei Aussparungen im Buchrücken das typische, dreigliedrige Chicago window – eine architektonische Fensterform der Skelettbauweise – und konnotiert darin das Buch als Aussichtsplattform auf die Stadt. Während der Text sprachlich zuweilen kryptisch anmutet und nur indirekt ein Bild der Stadt wiedergibt, bietet die Buchgestaltung konkrete Anhaltspunkte und Ansichten der Stadt. Auf eigenen Streifzügen durch Chicago hat Gerard Stationen der Chicago-Elevated-Stadtbahn und Gebäudeansichten fotografisch dokumentiert und als Schnappschüsse auf handgeschöpftes Papier gedruckt. In Chicago haben die Stationen der Linie L unterschiedliche Farben. Diese hat Gerard seinen Fotos zugeordnet und ermöglich somit Kennern eine Orientierung. Auch Durgin verarbeitet im Text spezifische Eigenheiten der Stadt, die wie bei Gerard nur für Eingeweihte erkennbar sind. Der Titel Relay kann mehrere Bedeutungen annehmen. Durgin scheint ihn im Sinne einer Übermittlung von Information zu verstehen. Im Gedicht reflektiert er die Bedingungen des Dichtens und das Konstrukt sprachlichen Ausdrucks. Im Buch sind es die Papiere, die die Konstruktion des Buches thematisieren. Die angeschrägten Seiten lassen den Blick stets auf zurück- und vorausliegende Seiten fallen, analog zu den langen Straßenschluchten Chicagos, in denen steile Perspektiven den Blick immer schon auf eine nächste Ecke lenken. Gleichzeitig assoziieren die Aussparungen das Unvollkommene der Stadt mit seinen sprichwörtlichen Ecken und Kanten. Die Bilder und Texte folgen der schrägen Gestalt der Papiere und wirken wie zufällig in die Seiten hineingefallen, worin sich die Unmittelbarkeit und die Spontaneität ihres Ausdrucks  





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manifestieren. Darin entsprechen die Bilder dem Bewusstseinsstrom des Gedichts. In den grau gesprenkelten Grund der rau-faserigen Papiere hat Gerard zudem die Silhouetten der abgebildeten Gebäude eingeschöpft, die als Schatten stellenweise Texte und Fotos gleichermaßen überlagern und so den Buchraum zum Stadtraum werden lassen. Das Papier wird zum Asphalt der Straße, auf den die Wolkenkratzer ihre Schatten werfen und auf dem Autor wie Künstler ihre Eindrücke aufgelesen haben. Texte, Bilder und Papier verbinden sich im Buch zu einer Einheit. An dieser Stelle bietet sich dann das Verständnis von Relay im Sinn eines Staffellaufs an: Jedes Element des Buches trägt seinen Teil dazu bei, ein vielseitiges Bild der Stadt Chicago zu übertragen. NM

Abb. E 2/19: John Gerard: Relay. Rheinbach 2008.  



E 2.41 Sabine Golde: Menetekel (2008) Leipzig: Carivari, 2008. 22 Seiten, Handoffset, Bleisatz im Buchdruck, farbfoliengeprägte Brailleschrift, Handeinband. Aufl. 23. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 7/23 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  



Bezugstexte: Dan. 5, 1–30 (dt./hebr. Bibeltext); Hans Magnus Enzensberger: blindenschrift (Gedicht, 1964)

Das Buch Menetekel von Sabine Golde greift zwei Texte auf. Die biblische Geschichte um den babylonischen König Belsazar (Dan 5, 1–30) führt im Buch zu dem zentralen Gedicht blindenschrift von Hans Magnus Enzensberger aus dem gleichnamigen Gedichtband (vgl. Enzensberger 1964). Unter Rückbezug auf den biblischen Prätext warnt Enzensberger in knapper Diktion und schlichter Sprache die Nachkriegsgesellschaft vor den Gefahren des unreflektierten Medienkonsums. Das babylonische Menetekel gerät im Gedicht zur Mahnung an die ‚blinden‘ Menschen der Gegenwart, ihre Augenbinde abzunehmen und das gesellschaftliche und politische Handeln kritisch zu verfolgen. Im biblischen Text kann der verschwenderische Belsazar die göttliche

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Mahnung nur mit Hilfe des Propheten David entschlüsseln, nimmt diese aber nicht ernst und wird in der Folge mit dem Tod bestraft. Damit ist der Untergang des Königreichs Babylon besiegelt. Schriftreflexion. Die Buchkünstlerin und Typografin Sabine Golde nimmt die Texte zum Anlass der Reflexion über das Medium Schrift – das Arbeitsinstrument für Typografen wie für Schriftsteller. Schriftzeichen aus deutscher, hebräischer und arabischer Sprache sowie Braille-Schrift, Keilschrift und Hieroglyphen treffen darin aufeinander und eröffnen einen visuellen Exkurs in die Kulturgeschichte der Schrift, als Medium von Botschaften, aber auch als Verschlüsselungsform für Schriftunkundige. Eine ausklappbare Landkarte markiert die Buchmitte und stellt die beiden biblischen Städte Jerusalem und Babylon einander gegenüber. Entsprechend ihrer fundamentalen Bedeutung für die Verschriftlichung legen sich Grundrisspläne der Städte in Form von Transparentpapier über die Landkarten. Die ohnehin nüchterne Erscheinungsweise des Buches erhält durch die topografischen Bezüge den Charakter eines Sachbuchs, das die literarischen Texte mit nachweisbaren Fakten untermauert. Damit kommt das Buch dem in beiden Texten anklingenden Anspruch auf Transparenz nach. Sinnfällig greift Golde die Thematik mit dem Einsatz von Transparentpapier auf. Das Menetekel ist als Kernbestandteil der beiden Texte und des Künstlerbuchs als Klammer auf die erste und die letzte Buchseite gesetzt. Die Seiten sind zwar transparent, verschleiern aber die Botschaft, die als typografische Bildkomposition aus Schriftzeichen verschiedenster Herkunft gesetzt ist. Der Aufruf in Enzensbergers Gedicht, hinter das Mediengeflimmer zu schauen und sich der Fakten zu versichern, wird im Umblättern der Folien visuell veranschaulicht. Auf den ersten Teil der Botschaft folgt der Bibeltext, der zweifarbig in deutschem und hebräischem Satz zeilenweise von links und rechts ineinanderläuft. In der zweiten Hälfte setzt nach der Landkarte Babylons Blindenschrift ein, sinnfällig in Braille-Schrift geprägt, aber für Sehende farblich sichtbar gemacht. Auf der Folgeseite erscheint es lesbar in deutschen Lettern. Wiederum mit dem Umblättern vollzieht der Leser den Appell Enzensbergers: „könig mensch lies/unter der blinden schrift“ (Golde 2008, V. 16f.). Daran schließt sich das Anliegen der Buchkünstlerin an: Schriftkenntnis und Lesekompetenz befähigen den Menschen dazu, die „unleserlich[e]“ (ebd., V. 14) Botschaft zu entschlüsseln und ein mündiges Leben zu führen. Das Gedicht erscheint zum Abschluss noch in der hebräischen und arabischen Übersetzung und ihren Entsprechungen in farbfoliengeprägter Braille-Schrift. NM  





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Abb. E 2/20: Sabine Golde: Menetekel. Leipzig 2008.  



Abb. E 2/21: Sabine Golde: Menetekel. Leipzig 2008.  



E 2.42 Petra Ober: Erinna an Sappho (2008) Frankfurt a. M.: Ober, 2008. 40 Seiten, Malerei und Collage, Unikat.  

Bezugstext: Eduard Mörike: Erinna an Sappho (Versepistel, 1864)

Im Jahr 2008 veröffentlicht Petra Ober ein Künstlerbuch zu Eduard Mörikes Gedicht Erinna an Sappho. Mörike schrieb die antikisierende Versepistel ca. anderthalb Jahrhunderte zuvor, im Jahr 1863, und veröffentlichte sie ein Jahr später erstmals.170 Obers

170 „Der Erstdruck erfolgte 1864 in dem von Ludwig Seeger herausgegebenen Deutschen Dichterbuch aus Schwaben […].“ Mayer 2004, S. 153. Vgl. zur Interpretation des Gedichts: Braungart 2007; Heydebrand 1972, S. 137–141; Müller, Joachim 1975.  



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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

Werk umfasst vierzig Seiten, die entweder aus dickem, mit diversen wasserlöslichen Farben überzogenem Papier oder aus transluzentem Stoff bestehen. Ohne Mörikes Ausführungen zur Person Erinnas, die seinem Gedicht vorangestellt sind, setzt Obers Werk mit dem ersten Vers des Gedichts ein: „‚Vielfach sind zum Hades die Pfade,‘ heißt ein“, ist auf ein Plättchen aus Pappe gedruckt, welches durchlöchert und mit rosafarbenem Garn an der rechten Buchseite befestigt wurde – der farblichen Gestaltung der oberen Seitenhälfte korrespondierend. Sämtliche Verse der ersten Strophe sind in gleicher Manier in Obers Künstlerbuch überführt worden, wobei die Künstlerin zwischen einigen Versen eine Doppelseite ohne Textapplikation einfügte. Auf den nachfolgenden Seiten wurde Gegenständliches aus Tonpapier – u. a. menschliche Figuren, eine Sonne, ein Frisiertisch, ein Kamm – und ein Ginkgo-Blatt aufgeklebt. Es schließt sich eine in transparentem Stoff eingenähte, ebenfalls transluzente Seite an, auf die die restlichen vier Strophen des Gedichts gedruckt sind.  







‚Bilder-Lesen‘ – Obers Illustration von Mörikes Gedicht. Mörikes Verse verweisen auf die zuvor dargestellten Gegenstände: die morgendliche Sonne, „der Bäume Wipfel“ (Mörike o. J., S. 33, V. 21), den „nardeduftende[n] Kamm“ (ebd., V. 27), den Spiegel, den todbringenden Pfeil (vgl. ebd., V. 35) und vor allem auf Erinnas Blick.171 Im Künstlerbuch ist der Prozess, in dem Erinna ihr Gesicht im Spiegelbild erblickt und der Moment ihrer Selbsterkenntnis in Todesahnung übergeht,172 anhand eines stilisierten Kopfes visualisiert. Die Augen wurden von Ober mit Bleistift gezeichnet, sie werden in einem Handspiegel reflektiert und blicken den Betrachter an. Links neben Kopf und Spiegel sind die zuvor mit dem Kamm bearbeiteten und gescheitelten Haare Erinnas dargestellt. Die Kontextualisierung dieser vom Kopf getrennten Haare mit dem kahl wirkenden Haupt und dem oben auf der Seite aufgebrachten schwarzen Pfeil weist bildlich auf Erinnas Krankheit hin. Obers Illustration von Mörikes Gedicht stellt zum einen das dar, was der Text benennt. Zum anderen katalysieren die nicht mit dem Gedicht im unmittelbaren Zusammenhang stehenden Zeichen (wie das vom Kopf gelöste Haar Erinnas) die Interpretationsleistung des Rezipienten. Insbesondere das Ginkgo-Blatt sticht in diesem Kontext hervor, da es im Unterschied zu den sonstigen gegenständlichen Darstellungen nicht als Stellvertreter aus Papier, sondern als authentischer Gegenstand aus der Natur entnommen und ins Künstlerbuch überführt  











171 „[…] seltsam traf mich im Spiegel Blick in Blick./Augen, sagt ich, ihr Augen, was wollt ihr?/Du, mein Geist, heute noch sicher behaust da drinne,/Lebendigen Sinnen traulich vermählt,/Wie mit fremdem Ernst, lächeln halb, ein Dämon,/Nickst du mich an, Tod weissagend!/– Ha, da mit eins durchzuckt‘ es mich/Wie Wetterschein! wie wenn schwarzgefiedert ein tödlicher Pfeil/Streifte die Schläfe hart vorbei,/Daß ich, die Hände gedeckt aufs Antlitz, lange/Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab.“ Mörike o. J., V. 28–38. 172 Wolfgang Braungart interpretiert Mörikes Erinna an Sappho als generelle Auseinandersetzung mit Fragestellungen der Bewusstseinsphilosophie um 1800. Das Bewusstsein der eigenen Identität binde sich an die Erkenntnis der eigenen körperlichen Endlichkeit. Vgl. Braungart 2007, S. 80, 84.  





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wurde. Innerhalb des Buchkontextes gerät das Blatt wiederum zu einem Statthalter für etwas anderes. Analog zur Deutung von Symbolen innerhalb lyrischer Texte kann das ins Künstlerbuch integrierte Ginkgo-Blatt aufgrund seiner Beschaffenheit und symbolischen Aufladung vielfältig interpretiert werden. Der Umriss des Blattes verweist zunächst auf die im Gedicht erwähnten Bäume, das ‚Blatt-Sein‘ auf die ebenfalls genannten Wipfel. Darüber hinaus binden sich an das Ginkgo-Blatt vielfältige, insbesondere auch literarische Bezüge,173 die u. a. als Ausdruck sowohl der Freundschaft Erinnas und Sapphos, als auch als Hinweis auf zeitliche Distanz bzw. ihre Überbrückung – versinnbildlicht durch die lange Lebensdauer des Ginkgos – interpretiert werden können (vgl. Unseld 2003b, S. 2).  







Reflexion unterschiedlicher Raum- und Zeitebenen anhand von Text(ur). Die Bearbeitung von Mörikes Versepistel in Obers Künstlerbuch reflektiert die medialen Eigenschaften von Erinna an Sappho. Der Text täuscht vor, eine Briefkorrespondenz zwischen den beiden Lyrikerinnen zu sein und dem 6. Jahrhundert vor Christus zu entstammen. Mörike verortet Erinna in seiner Vorrede als vermeintliche Zeitgenossin Sapphos ein paar Jahrhunderte vor ihrer historischen Lebenszeit. Das Gedicht imitiert antike Lyrik und verhandelt Fragestellungen, die insbesondere in der Philosophie des 19. Jahrhunderts virulent sind: Das Werk ist ein antikisierendes Gedicht, „das dennoch ganz der Moderne angehört“ (Braungart 2007, S. 78). Darüber hinaus werden die in Erinna an Sappho behandelten zeitlosen Themen wie Freundschaft und Tod im Kodex konserviert. Bezeichnenderweise sind ausschließlich die Verse der ersten Strophe – also der Teil des Textes, in dem über die generelle Faktizität des Todes und des geringen menschlichen Endlichkeitsbewusstseins reflektiert wird – in Obers Künstlerbuch integriert worden. Die Form der Epistel als Mittel zeitlich versetzten Dialogs findet eine Übertragung ins Buch. Über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg ist dieses dazu angetan, auch höchst Persönliches, wie Erinnas Erkenntnis des bald bevorstehenden Lebensendes, mitzuteilen und darüber hinaus den Rezipienten darauf hinzuweisen, dass er dieses Schicksal mit der Protagonistin teilen wird.174 Das dialogische, den Adressaten ein 









173 Vgl. Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Ginkgo biloba (1815): „Dieses Baums Blatt, der von Osten/Meinem Garten anvertraut,/Giebt geheimen Sinn zu kosten,/Wie‘s den Wissenden erbaut,/Ist es Ein lebendig Wesen,/Das sich in sich selbst getrennt?/Sind es zwey, die sich erlesen,/Daß man sie als Eines kennt?/Solche Frage zu erwiedern,/Fand ich wohl den rechten Sinn,/Fühlst du nicht an meinen Liedern,/Daß ich Eins und doppelt bin?“ Goethe widmete das Gedicht Marianne von Willemer. Vgl. Unseld 2003b, S. 1. Goethe schickte das Gedicht im Entstehungsjahr zusammen mit einem Brief an Anna Rosine Magdalena Städel. Das in Obers Erinna an Sappho eingeklebte Ginkgo-Blatt kann also auch als Reflexion der Briefform von Mörikes Text interpretiert werden. Der Brief mit dem Gedicht befindet sich in der Klassik Stiftung Weimar im Goethe- und Schiller-Archiv unter der Signatur GSA 29/477,I. 174 „Das unmittelbare Innewerden des eigenen ‚Todesgeschicks‘, […] überschreitet zwar die Grenzen des jedermann Zugänglichen, wird aber trotzdem – das eben leistet die Epistelform – ‚dialogisch‘ mitgeteilt.“ Heydebrand 1972, S. 141.  







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beziehende Prinzip des Ausgangstextes ist dabei von Bedeutung für die Rezeption von Obers Künstlerbuch. Essenziell sind die sprichwörtlichen Konnotationen des in Mörikes Gedicht genannten „Byssosgeweb[s]“ (Mörike o. J., S. 33, V. 46), das als „‚Gewebe‘, Textura: ‚Text‘“ (Braungart 2007, S. 91) nicht nur als freundschaftliches Geschenk materieller Ausdruck der Verbundenheit zwischen Erinna und Sappho ist, sondern auch konkret verstanden als Text(ur) – in Form der Epistel – zwischen den beiden Lyrikerinnen vermittelt und die Inhalte schließlich auch dem Leser von Mörikes Gedicht mitteilt. Bezeichnenderweise hat Ober dieses „schöne Kopfnetz“ (Mörike o. J., S. 33, V. 45) nicht in Pappe nachgeformt und in ihr Werk integriert. Vielmehr ist es bereits repräsentiert durch die stoffliche Präsenz der transluzenten Seiten, die als Schleier den Ort eines Übergangs markieren. So findet der Rezipient beim Aufschlagen von Obers Künstlerbuch zunächst zwei transluzente Seiten vor, die beim Umblättern den auf der dahinterliegenden Seite aufgedruckten Titel des Werks immer deutlicher gewahr werden lassen. Durch die Korrespondenz zwischen Umblättern und zunehmender Sichtbarkeit des Buchinhalts entsteht ein Eindruck der Transgression, des Hinübertretens in eine andere Sphäre. Ober nutzt für diesen Vorgang die Seiten, die in konventionellen Büchern oftmals ebenso unbeschrieben sind, und ruft den Zwischenstatus von Anfangsseiten ins Bewusstsein. Der Leser befindet sich bereits ‚im Buch‘, jedoch noch nicht im eigentlichen Inhalt. Die ersten Seiten stimmen auf die folgenden Inhalte ein, über die materiellen Grenzen des Kodex hinaus bilden sie eine Art Rahmen um den Buchinhalt, der diesen von der Realität des Lesers abrückt.  

















Implikationen von Farbe und Transparenz. Die ersten Seiten von Obers Künstlerbuch sind durch den Einsatz von Farbe bestimmt, deren Verwendung in diversen Bedeutungen oszilliert. Dadurch, dass die unterschiedlichen Farben der bemalten Seiten oftmals horizontal voneinander geschieden sind, wird der Eindruck einer Landschaftsdarstellung evoziert. Deutlich wird dies insbesondere auf den letzten Seiten in Obers Künstlerbuch, auf denen eine rötliche Figur zu erkennen ist, die im Fortlauf der Seiten durch eine Landschaft zu schreiten scheint. Ihre Füße stehen dabei auf einem blauen bzw. grauen Grund, ihr Oberkörper wird von einem ebenfalls grauen oder blauen Hintergrund umfangen. Doch auch ohne die Figur legen die Farbigkeit und die Art des Farbauftrags, insbesondere auch die einschlägigen Hinweise in Mörikes Gedicht, eine Rezeption als ‚Garten‘, ‚Meer‘ – generell als landschaftliche Umgebung nahe. Die zweidimensionale Seite erhält somit über die Mittel des Kolorits sowie der reduzierten Komposition eine räumliche Anmutung, der Betrachter unterscheidet ein ‚Davor‘ und ‚Dahinter‘ der einzelnen Farbfelder. Deutet man die Farbgebung der Seiten als Andeutung für Landschaft, präsentiert sich diese in Korrelation zu Erinnas Schicksal als nahezu ausgestorben. Über den Farbauftrag hinaus erscheinen viele Seiten in Obers Buch ‚leer‘, wenn man im konventionellen Sinne von einer Buchseite erwartet, dass sie dem Leser Wörter oder Bilder präsentiert. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass Ober zuweilen zwischen zwei Verse eine Doppelseite ohne applizierten Text eingefügt hat. Wie von Keith A. Smith dargestellt, können solche Seiten  

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einen Eindruck von Stille erwecken – eine Suggestion von Pause (vgl. Smith, Keith 1994, S. 220). In der Konsequenz kann die Nutzung mehrerer unbeschriebener Seiten ein Werk rhythmisieren,175 was insbesondere vor dem Hintergrund von Mörikes Lyrik einen visuellen Ausdruck von Metrum und Rhythmus andeutet. Die weitestgehende Unbestimmtheit der Farbe kann darüber hinaus auch als Zurschaustellung ihrer vielfältigen Qualitäten interpretiert werden. Dort, wo die Textplättchen mit einer Seite verbunden wurden, ermöglicht die Länge des Garns nicht nur das Verschieben des Verses auf der Seite, es ist auch möglich, die Seite ohne die Textbeigabe zu rezipieren, indem das Plättchen einfach neben das Buch gelegt wird. Somit liegt der Fokus ganz auf der spezifischen Färbung der Seiten, die auf nichts Gegenständliches verweisen muss. Die Seiten zeigen die jeweiligen Farbeigenschaften und den Eindruck, den diese auf den Rezipienten machen. Beim Anschauen der Seiten werden die diversen Überlagerungen und Vermischungen der Farben erkennbar, zuvor creme-weiß erscheinende Bereiche werden beispielsweise durchzogen von rosafarbenen Partien, Kontraste wie Gelb, Grün und Pink können ineinander übergehen, ohne sich zu einem opaken Dunkelbraun zu vereinigen. Die farbliche Gestaltung der Seiten transformiert den anfänglichen Eindruck von ‚Leere‘ in die Reflektion der spezifischen Farbwirkungen auf den Rezipienten, wodurch der Verweis auf etwas Gegenständliches obsolet wird. Analog zu Verfahren von Künstlern wie Gotthard Graubner zeigen Obers Bearbeitungen ihrer Künstlerbuchseiten diaphane Farbschichtungen, die der Farbe eine stoffliche, substanzielle Wirkung verleihen. Hierbei muss „die Farbe nicht als Illustration von literarischen Themen“ dienen, „Farbe besitzt eigenes Leben, eigene Sensibilität“, gar „Eigengesetzlichkeit“.176 Die Farbwahrnehmung dynamisiert die eigentlich als etwas Festgelegtes vorliegende Buchseite, sie ist in der Konsequenz der steten Veränderlichkeit unterworfen. Der Begriff des ‚Farbraumkörpers‘ für Graubners Werke bezeichnet diesen Prozess des Übergangs, den ein vom Zugriff des Künstlers her abgeschlossenes Werk anhand der veränderlichen Farbwirkungen auf den Rezipienten auszeichnet.177 Im Kontext von Obers Künstlerbuchkörper erzeugen die ‚Farbräume‘ der jeweiligen Buchseiten den Eindruck, Teile eines Organismus zu sein, der – wie Erinna, wie jeder Mensch – wird und vergeht. PH  







175 „In music, drama, and poetry, silence is used for rest, but also to intensify, to create rhythm. Silence is a means of clarification as punctuation is in writing. And so it is in the book format.“ Smith, Keith 1994, S. 221. 176 „Die Farbe entfaltet sich als Farborganismus. Ich beobachte ihr Eigenleben, ich respektiere ihre Eigengesetzlichkeit. Ich benutze die Farbe nicht als Illustration von literarischen Themen, Farbe ist mir selbst Thema genug. Rosa ist nicht Haut. Grün ist nicht Natur, Grau ist nicht Traurigkeit, Farbe besitzt eigenes Leben, eigene Sensibilität.“ Gotthard Graubner, zitiert in: Lehmann 2000, S. 125. 177 „Meine Bilder bauen sich auf im Wachsen des Lichts, verlöschen mit dem Licht; Anfang und Ende sind austauschbar. Sie bezeichnen keinen Zustand, sie sind Übergang.“ Gotthard Graubner, zitiert ebd.  



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E 2.43 Burgi Kühnemann: Der Esel und das Hündchen (2009) Text von Jean de La Fontaine, Übertragung aus dem Frz. von Theodor Etzel. Buchgestaltung von Burgi Kühnemann. Zeichnungen auf Stücken von verschiedenen Karten aus einem Atlas, durchmischt mit einseitig bedruckten Seiten aus einem französischen Werk über Schlösser. 10 Blatt, 30 x 21,5 cm. Mischtechnik: Tusche, Acryl, Gouache. Einbandmaterialien: Wollstoff und Filz. Unikat. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  





Bezugstext: Jean de La Fontaine: L’âne et le petit chien (in: Fables de La Fontaine, Erstausgabe 1668)

Burgi Kühnemanns Künstlerbuch präsentiert sich als mit grauem Stoff und in unregelmäßigen Stichen umnähter Band. Zwei an der Oberkante des Buchdeckels angenähte graue Dreiecke – erkennbar als Eselsohren – sowie rosafarbene Hundesilhouetten geben einen bildlichen Ausdruck von Kühnemanns Buchtitel. Innerhalb ihres Werks kombiniert die Künstlerin auf insgesamt zwanzig Seiten den Text von Jean de la Fontaines Fabel L’âne et le petit chien (La Fontaine 1668, S. 158f.) mit eigenen Illustrationen. Kühnemann stellt die deutsche Übertragung Theodor Etzels neben die französischen Verse La Fontaines, in denen ein Esel, der von den Menschen stets geschlagen wird, einem kleinen Hund die liebevolle Zugewandtheit ihrer gemeinsamen Besitzer neidet. Folglich versucht der Esel das Verhalten des Hündchens zu imitieren, scheitert jedoch aufgrund seiner ihm zugeschriebenen Plumpheit und erhält wiederum eine Tracht Prügel. Die Text- und Bildanteile in Kühnemanns Künstlerbuch sind nicht strikt voneinander geschieden. Die französischen Verse sind zuweilen in die deutschen Übertragungen eingestellt und vereinzelte Sätze aus der Fabel finden sich innerhalb der Illustrationen. Eine Unterscheidung von deutschem und französischem Text nimmt die Künstlerin farblich vor, indem sie den französischen Text in weißer Schrift auf blauem Grund (und vice versa), die deutsche Übersetzung in schwarzer Schrift auf weißem Grund ausführt. Nicht nur die Gestaltung des Bucheinbandes ist von einem manuellen Ausdruck geprägt, auch die Schrift wird von der Künstlerin von Hand auf die Seiten aufgebracht. Die Illustrationen zeigen Esel, diverse Rassen von Kleinhunden und Menschen, eine unmittelbare Verbildlichung der Handlung ist nicht gegeben. Am Schluss des Buches sind zwar der Esel und ein Mann mit einem Stock dargestellt, was auf den im Text angedeuteten Gewaltakt verweist. Die Bedrohlichkeit dieser Szene wird jedoch durch den erfreuten Gesichtsausdruck des Mannes und die Komik der Handlung des Esels – er leckt einen seiner Hufe – unterwandert. Kühnemann zeichnet bzw. malt ihre Darstellungen in Tusche, Acryl und Gouache; die Untergründe wurden – zuweilen als Reproduktionen – anderen Büchern entnommen. So zeigen die übermalten und überschriebenen Buchseiten Karten aus Atlanten und Textseiten, die französische Schlossbauten beschreiben.  













Anteil der Bilder an der Bedeutungskonstitution von La Fontaines Fabel. Auf materieller und auf inhaltlicher Ebene knüpft Kühnemanns Der Esel und das Hünd-

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chen an zuvor überlieferte literarische Texte an. Bereits La Fontaine übernimmt die Figuren, Motive und Themen der meisten seiner Fabeln u. a. der Tierdichtung Aesops in der Bearbeitung des Babrios (vgl. Redaktion Kindlers Literatur Lexikon 1996b, S. 931). Zudem integriert er in seine Verse Verweise, beispielsweise auf Horaz’ Ars Poetica und Vergils Aeneis.178 Durch Übersetzungen und Bearbeitungen wurden La Fontaines Stoffe und Themen kontinuierlich aktualisiert (vgl. beispielsweise die englische Übersetzung von Schapiro 2007 mit Illustrationen von David Schorr). Dazu gehören gesellschaftliche Machtstrukturen, in deren Kontext sich Menschen mit spezifischen Eigenschaften in Gruppen einfügen. La Fontaines Fabeln operieren mit Tieren gemeinhin zugeschriebenen Charakteristika und setzen sie analog zu menschlichen Verhaltensweisen, um gesellschaftliche Ordnungen zu reflektieren. Diese vom Menschen vorgenommene Interpretation animalischen Verhaltens und die Analogisierung mit menschlichen Eigenschaften eröffnen ein Spektrum möglicher Bedeutungszuschreibungen. Sowohl der Text als auch die bildliche Darstellung stehen in einer Tradition. Bereits 1668 erscheint eine illustrierte Ausgabe ausgewählter Fabeln La Fontaines mit Stichen von François Chauveau; zwei Jahrhunderte später, 1868, werden die Tierdichtungen zusammen mit Illustrationen Gustave Dorés veröffentlicht (vgl. La Fontaine online). In Dorés Darstellung ist das tierische ‚Personal‘ durch menschliche Figuren ersetzt worden. Hier sitzt eine junge Frau in der Mitte von zwei musizierenden Männern, die sie mit ihrem Spiel umwerben. Anhand der gröber dargestellten Gliedmaßen und des verschatteten Gesichts ist der links positionierte Flötist als ‚Esel‘, der feingliedrige Saiteninstrumentspieler mit hellem Gesicht rechts als ‚Hündchen‘ charakterisiert. Analog dazu hat die junge Frau dem ‚Esel‘ ihren Rücken zugewandt; die Arme verschränkt, schaut sie enerviert über ihre Schulter. Im Hintergrund sind zwei Figuren zu erkennen, wovon eine auf die Szenerie im Vordergrund verweist und die zweite mit einem Stock in der Hand im Begriff ist, auf die drei Figuren zuzustürmen. Durch die Substitution von Esel, Hündchen und Herr durch zwei Männer und eine Frau innerhalb von Dorés Grafik werden die Inhalte von La Fontaines Fabel anders konnotiert. Hier geht es über die Präsentation allgemeiner gesellschaftlicher Normen und wie sich spezifische Menschengruppen in diese zu fügen haben hinaus um die Reflektion standesgemäßer Verbindungen. Die im Titel von La Fontaines Fabel angedeuteten äußeren Unterschiede des ‚kleinen‘ Hündchens im Vergleich zum ‚großen‘ Esel können vor dem Hintergrund von Dorés Illustration übersetzt werden in ‚jung‘ und ‚alt‘. Somit würde im Kontext der Werbung um die Frau über den Kontrast von grobschlächtigem und galantem Verhalten hinaus eine weitere Bedeutungskomponente in die Fabelausdeutung integriert: Dass der Ältere um eine junge Frau wirbt, die offensichtlich an einem Partner in ihrem Alter interessiert ist, wird hier als nicht standesgemäß dekla 



178 Vgl. die Verweise auf Horaz‘ Ars Poetica „Tu nihil invita dices faciesve Minerva.“ und Vergils Aeneis: „Pauci quos aequus amavit Iuppiter.“ in La Fontaine 1883, S. 124.  

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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

riert. Die auf die Szenerie im Vordergrund weisende Figur im Hintergrund findet keine Entsprechung in La Fontaines Fabel. Sie kann als Ausdruck eines gesellschaftlichen Kontrollmechanismus gesehen werden, der das Gebaren des Alten als unangemessen registriert und in der Folge gewaltsam sanktioniert. Weitere Illustrationen von L’âne et le petit chien zeigen oftmals das, was im Text genannt wird. Sowohl die menschlichen als auch die tierischen Figuren erhalten in den Illustrationen eine changierende Mimik, die sich im natürlichen Tierreich so nicht findet und die das Paradox der bildlichen Darstellung eines neidischen Esels herstellen. In Konfrontation von Bild und Text wird deutlich, dass in La Fontaines Fabeln generell der Doppelcharakter der Wesen – das Oszillieren zwischen animalischem Äußeren und menschlicher Charakteristik – reflektiert wird: Ebenso wie das weitere Tierpersonal in La Fontaines Werken werden Esel und Hündchen „im gleichen Zuge als animalische wie anthropomorphe, als individuierte wie kollektive, als naive und zugleich intelligente Wesen“ dargestellt (Lindner 1975, S. 131). Auch in Kühnemanns Künstlerbuch Der Esel und das Hündchen zeigen Hunde wie Esel ein Mienenspiel: lächelnde Hunde werden argwöhnisch vom Esel beäugt, in Gegenüberstellung von Menschen- und Eselsköpfen zeigt das Reittier eine expressive Mimik, die jeweils konkrete Gefühlsregung der Figuren bleibt jedoch zumeist uneindeutig. Dazu trägt auch bei, dass menschliche wie tierische Köpfe auf Karten von Gebirgen aufgemalt wurden und die Struktur der Bergformationen und -ketten die Mimik der Gesichter stark mitbestimmt. Die in Kühnemanns Abbildungen integrierten Gebirgslandschaften verunklären die Mimik der Figuren: Wenn Mensch und Tier die Zähne zeigen, kann dies als freundliches Lächeln oder bedrohliches Zähnefletschen interpretiert werden. Diese Konstanz des Uneindeutigen, das Changieren bezüglich der Figurenkonstitution findet sich auch auf formaler Ebene in La Fontaines Tierdichtung. Das als „diversité“ (Grimm 1976, S. 7) deklarierte, vielen Fabeln zugrundeliegende Konglomerat aus dualistischen Gestaltungsformen eröffnet ein Experimentierfeld für die Form der Fabel, deren mediale Strukturen thematisiert und reflektiert werden.179  







179 Lindner verweist darauf, „daß La Fontaine allen in der Gattung vorgefundenen oder von ihm erst in sie eingeführten Bauformen immer zugleich auch das dazu antithetische Prinzip gegenüberstellt: der Prosa den Vers (und innerhalb der Versform: dem Acht-Silbler den Alexandriner), der metrischen irrégularité die régularité, der amplificatio die ellipsis, dem Pseudo-Realismus in der Tierbeschreibung einen extremen Anthropomorphismus, der epischen Vergangenheit des Erzählten das hic-et-nunc des Erzählers, der äsopischen Objektivität und Anonymität die Subjektivität in Form und Inhalt. […] Spiel-‚Räume‘ sind es also, die La Fontaine sich fortwährend zielstrebig errichtet, indem er die ursprünglich didaktisch motivierte, völlig irreale, ja eigentlich paradoxe Grundsituation der äsopischen Fabel als idealen Ort zur Entfaltung formaler Aktivität begriff und unentwegt dadurch schöpferisch ausnützte, daß er jedem Stilzug ein gegenläufiges Verfahren hinzusetzte. Die äsopische Fabel wird somit von La Fontaine nicht gänzlich zerstört, sondern dient als beim Leser bekannter Bezugspunkt, als willkommene Folie zur Profilierung von La Fontaines eigener, in allererster Linie vom Form-Interesse geprägter Fabel-Konzeption.“ Lindner 1975, S. 130 ff. (Hervorhebungen wie im Original)  



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Der Esel und das Hündchen als Element eines Buchs, als Kodex und als Teil einer Werkgruppe. Fabeln werden, wie andere kürzere Textformate, zumeist als Kompilation mehrerer Werke innerhalb eines Buches veröffentlicht. Wie Hermann Lindner gezeigt hat, ist für La Fontaines Fabelsammlungen charakteristisch, dass sie auf ein Strukturierungselement des Phädrus rekurrieren, indem sie abweichend von der Konvention in ‚Livres‘ unterteilt wurden, die jeweils ca. 20 Fabeln enthalten (vgl. Lindner 1975, S. 159f.). Deutlich wird hier die mit dem Buchbegriff assoziierte Ordnung von Inhalten innerhalb eines Kodex. So findet sich nicht nur eine relativ homogene Textanzahl innerhalb eines Buchs, aus der feststehenden Unterteilung der Fabeln in Bücher und der Zuordnung einer fixen Ordnungsnummer resultiert, dass die betreffenden Texte unabhängig von der von Edition zu Edition divergierenden Seitenzahlen schnell gefunden werden können. Darüber hinaus sind sowohl auf thematisch-motivischer Ebene als auch auf der Produktionsebene Bezüge zwischen den elf bzw. zwölf ‚Livres‘ angedeutet, die zunächst Einheitlichkeit evozieren, diesen Eindruck jedoch wiederum durch systematische Inkohärenzen – im Sinne der diversité – unterwandern.180 Vor diesem Hintergrund reflektiert Kühnemanns Bearbeitung von La Fontaines L’âne et le petit chien den Status der Fabel im Zusammenhang mit Charakteristika der Gattung Künstlerbuch. Künstlerbücher können mit dem Konzept des Unikats verknüpft sein; sie werden zuweilen in geringer Auflage oder als ein Einzelstück gefertigt. Der manuelle Ausdruck von Kühnemanns Der Esel und das Hündchen unterstreicht dies. Das einzelne Künstlerbuch läuft der Konvention der Kompilation mehrerer Fabeln innerhalb eines Kodex zuwider. Kühnemanns Werk negiert die Möglichkeit für den Rezipienten, über die Kontextualisierung mit anderen Fabeln innerhalb eines Buchkörpers nach Entsprechungen und weiteren Bedeutungskonnotationen der Figuren und ihrer Handlungen zu suchen. In Analogie zu den ‚Livres‘ in La Fontaines Fabelsammlungen bildet die Zusammenstellung diverser Fabelbearbeitungen eine Klammer, die das Einzelwerk, kunstwissenschaftlicher Tradition entsprechend, in den Kontext anderer Bearbeitungen der Künstlerin einbettet. PH  







E 2.44 Till Verclas: Winterbuch. Eine Antwort (2010) Hamburg: Un Anno Un Libro, 2010. Text von Friedrich Hölderlin (Hälfte des Lebens) mit WinterFotos von Till Verclas. Der Text ist auf transparenter Folie gedruckt. In Kassette, 72 Seiten,

180 „La Fontaine hat seine Fabeln mit einer Reihe von einheitsbildenden Stilmerkmalen von der Doppel-Fabel bis zu einer Art ‚Leit-Motiv‘-Technik dergestalt überlagert, daß dem Leser auf formalem Weg die Existenz einer Sinnkohärenz vorgegaukelt wird, die gleichwohl in keinem der 12 Bücher zustandekommt. Aus der aleatorischen Beliebigkeit der Fabel-Anordnung bei den früheren Fabel-Sammlungen ist bei La Fontaine mithin eine geordnete Unordnung, aus bloßer Sukzession eine wohlorganisierte diversité geworden.“ Ebd., S. 179 (Hervorhebung wie im Original).  

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27 x 19,5 cm. Aufl. 17 + 3, nummeriert, signiert. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 5/17 des Klingspor Museums, Offenbach.  







Bezugstext: Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens (Gedicht, 1804)

In seinem Winterbuch von 2010 verschränkt der Künstler Till Verclas eine Fotoserie von einer alpinen Winterlandschaft mit der Ode Hälfte des Lebens von Friedrich Hölderlin. Hälfte des Lebens aus dem Zyklus Nachtgesänge (erschienen 1804 als Taschenbuch für das Jahr 1805 bei Friedrich Wilmans) erweist sich in der ersten Strophe als Sommer-, in der zweiten als Winterbild und kann als Metapher für zwei Lebensabschnitte gelesen werden. Das Gedicht thematisiert, über den offensichtlichen Gegensatz der Jahreszeiten hinaus, die Bedingungen und Möglichkeiten des Dichtens und offenbart darin einen autobiografischen Bezug Hölderlins. Während er in der ersten Strophe angesichts des Sommers sprachlich aus dem Vollen schöpfen kann (die erste Strophe zählt sechs Adjektive), fürchtet er in der zweiten Strophe die eigene Sprachlosigkeit, da ihm der Winter die Grundlage für seine poetische Aufgabe entzieht (nur zwei Adjektive in der zweiten Strophe, sogar in einem Vers verdichtet und damit umso eindringlicher (V. 13): „sprachlos und kalt“). Verclas konzentriert sich in seinem Künstlerbuch ausschließlich auf die winterliche Szenerie, die der Gefühlslage des lyrischen Ichs entspricht. Einzig der Bucheinband weckt mit einem braun-gelblichen Tupfenmuster spätsommerliche Assoziationen, während der in dunklem Blau und nüchterner Typografie (Groteske) gedruckte Titel Winterbuch programmatisch das Buchinnere ankündigt. Darin bestimmen Motive der zweiten Strophe wie Kälte und Ernüchterung die Buchgestaltung (bei Hölderlin endet die erste Strophe mit den Schwänen, die ihre Köpfe in das „heilignüchterne Wasser“ tunken (V. 7), worauf eine Zäsur und die Winterstrophe folgen). Tristesse und Verlassenheit finden Ausdruck in der grauen Wiedergabe der Schneelandschaft, in der mit fortschreitendem Blättern alle Anzeichen von belebter Zivilisation schwinden. Dieser Prozess wird im Buch verstärkt durch transparente Textfolien, die zwischen die Bildseiten montiert sind. Die Tupfen des Einbands sind hier zu weißen Schneeflocken geworden und legen sich beim Blättern über die ohnehin schon verschneite Landschaft. Gemäß der Textabfolge ist auf jeder neuen Folie der nächste Strophenvers farblich hervorgehoben. Der Leserhythmus hängt also maßgeblich vom Blättervorgang ab, womit Verclas der freirhythmischen Form des Gedichts Ausdruck verleiht. Jede Strophe nimmt eine Buchhälfte ein, sodass die Buchmitte die Zäsur markiert. Dort bleibt die Bildseite blank und lässt die Klage des lyrischen Ichs im ersten Vers der zweiten Strophe als semantische Wende umso stärker hervortreten. Die Folien bewirken zudem ein ständiges Hin und Her von Betrachten und Lesen. Bild und Text stehen dadurch nicht nur semantisch in einem Spannungsbezug, sondern auch strukturell. Verclas scheint das im Gedicht anklingende Leid Hölderlins an der Unvereinbarkeit von Empfindung und Ausdruck aufzugreifen und darin die Bedingtheiten des eigenen Mediums zu reflektieren. NM  



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Abb. E 2/22: Till Verclas: Winterbuch. Eine Antwort. Hamburg 2010.  



E 2.45 Pierre Reverdy/Johannes Strugalla: Le Chant des Morts (2010/2011) Paris: despalles éditions, 2010/2011. Text von Pierre Reverdy (französisch) mit deutscher Übersetzung von Johannes Strugalla unter Mitarbeit von Françoise Despalles. 29 Holzschnitte von Johannes Strugalla. Holzschnitt, Buchgestaltung, Herstellung: Johannes Strugulla unter Mitarbeit von Françoise Despalles. Pigmentdruck (Ultrachrome) auf Arches 160g und Kawashi 35g; Druck der Holzschnitte vom Stock. 136 S., gebunden, im Schuber. Bl.: 32,5 x 20,5 cm. Aufl.: 88 nummerierte und vom Künstler signierte Exemplare, zusätzlich 7 Exemplare, nummer. I-VII, als Vorzugsausgabe mit der Holzschnitt-Suite in 28 Einzeldrucken; 7 Exemplare h. c.181  





Bezugstexte: Pierre Reverdy: Le Chant des Morts (Gedichtzyklus, mit Bildern von Pablo Picasso, publ. 1948)

Sechs Jahrzehnte nach Erscheinen von Pierre Reverdys und Pablo Picassos Le Chant des Morts (1948, siehe Teil E 2.4) widmet der Buchkünstler Johannes Strugalla (*1943) dem Werk eine eigene Arbeit: als Hommage an das Malerbuch,182 das an den bedeutenden Dichter und Erneuerer der französischen Lyrik Pierre Reverdy (1889–1960) zum 50. Todestag erinnert (despalles éditions online). Erstmalig werden Reverdys Gedichte von Strugalla ins Deutsche übersetzt und stehen im Buch, das den gleichen Titel wie das von 1948 trägt, neben den französischen.183  

181 Die Angaben des Druckvermerks folgen: Reverdy/Strugalla 2010/2011, S. 101 und despalles éditions online. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 22/88 der Sammlung der HAB. Der HAB gilt herzlicher Dank für das Bildmaterial. 182 Stefan Soltek bezeichnet Le Chant des Morts von Reverdy und Picasso neben Jazz von Matisse als „Inkunabeln der Buchkunst nach dem zweiten Weltkrieg“ (Soltek 2012, S. 13). 183 Um die Originalfassung der Gedichte aus der Malerbuch-Publikation von 1948 handelt es sich allerdings nicht, der vorgelegte Text entspricht der typografischen Ausgabe ‚von letzter Hand‘, die zuerst 1949 im Band Main d’oeuvre: Poèmes beim Mercure de France, Paris erschienen ist – „dies war“, wie  







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Komplexe Übersetzungsverfahren. Strugalla ist in mehrfacher Hinsicht Übersetzer und sein Buchwerk eine komplexe dialogische Konstruktion. Mit und in der Edition Le Chant des Morts von 2010/2011 wird übergesetzt von Buch zu Buch, von Künstler zu Künstler, von Sprache zu Sprache. Die intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Buchkomponenten führte zu Annäherungen an das Malerbuch von 1948, ebenso zu Entgegnungen. Strugalla rückt die zwei in der Edition von 1948 (= TériadeAusgabe, siehe Abb. E 2/2) miteinander verschränkten Kunstformen Malerei und Dichtung wieder auseinander. Text- und Bildseiten sind voneinander getrennt – zumindest auf den ersten Blick. Das Japanpapier, auf das die Grafiken gedruckt wurden, vermag durch seine Transparenz Texte und Bilder wieder zu verbinden. Text und Bild scheinen wechselseitig – palimpsestartig – durch das andere Medium hindurch. Strugallas Holzdrucke sind als Paraphrasen von Picassos Formensprache zu lesen (siehe Abb. E 2/23). Stilistisch eher dem abstrakten Expressionismus zuzuordnen, entwirft Strugalla Gebilde, deren Lineamente trotz ihrer Beweglichkeit durch breite, farbgesättigte Konturen den Eindruck von Stabilität, Robustheit erwecken – biomorph erscheinen sie dort, wo die Linien zu Knoten anschwellen (und auch da, wo die Maserungen in den Schnitten noch von der spröden Oberfläche des verwendeten Holzes zeugen). Die Druckfarben des Malerbuchs von 1948 spiegeln sich in Strugallas Holzschnitten: die rote Farbe der Pinselzeichnungen und das Schwarz der lithografierten Handschrift. Die skulpturale Wirkung der Holzdrucke unterscheidet sich stark von der performativen Wirkung der gestisch-schwungvollen Pinselzeichnungen Picassos und den temperamentvoll handgeschriebenen Schriftzeichen Reverdys. Die Annäherung an den Text von Reverdy geht aus einer konzentrierten Beschäftigung mit dessen poetischer Sprache184 hervor: durch das Übersetzen185 der Gedichte ins Deutsche und das Hineindenken in die Texte, was Semantik, aber auch Lautgestalt der Texte angeht. Dem optischen Reiz der „Schrift-Bilder“ (Schneider 2016, S. 201), von denen Lars Schneider in Bezug auf die handschriftlichen Texte von Reverdy spricht, setzt Strugalla den typografischen Text entgegen, der den Leser weniger zum Schauen als zum verstehenden Lesen animiert (vgl. Teil E 2.4).  











Strugalla Auskunft gibt, „nicht zuletzt der Wunsch der Rechteinhaber“ (Reverdy/Strugalla 2010/2011, Anmerkungen, S. 101). 184 Strugalla selbst fasst das für ihn Charakteristische an Reverdys Lyrik zusammen: „Dans ces textes, l’approche de la réalité s’apparente à celle du cubisme. Le réel est arraché de son contexte, éléments sonores et visuels se heurtent, tensions et contradictions sémantiques reflètent l’indicible“ (despalles éditions online). 185 Seit 1982 erscheinen in den despalles éditions facettenreiche Bücher, die die fruchtbare und herausfordernde Konstellation Text-Bild zum Thema machen generell bilingual. Zum Verlag: Kat. Ausst. 2004.  

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Strugallas Beschäftigung mit dem Gedichtkorpus legt interessante Einsichten frei, die die Besonderheiten der Dichtung Reverdys profilieren. Strugalla fallen Textunterschiede zwischen der Fassung von 1948 und der von ihm verwendeten von 1949 auf: u. a. wechselnde Verseinheiten. Die Ausdehnung durch die große Handschrift von Reverdy erklärt die Verschmelzung von meist zwei Verszeilen; in der Tériade-Ausgabe fehlen individuelle Titel, die Gedichte können also fortlaufend, unmittelbar als eine zusammenhängende Lektüre gelesen werden. Reverdy hatte die einzelnen Gedichte lediglich durch deren Anfangszeilen im Inhaltsverzeichnis kenntlich gemacht. Strugalla entscheidet sich, sowohl Titel als auch die Gedichte wieder als Einzeltexte abzudrucken. „Bisweilen“, so schreibt Strugalla in seinen Anmerkungen „ersetzt Reverdy einzelne Wörter. Dabei bedingen anscheinend im wesentlichen Rhythmus und Laut die Wortwahl (wenn z. B. chemise, Hemd, Mappe zu cheminée wird, Schornstein, Kamin, hier mit Esse übersetzt). Eine direkte Anbindung an das bestehende semantische Feld ist nicht zwingend“. Dieses poetologische Verfahren verbinde Reverdy mit den Malern seiner Epoche, Reverdys poetische Konstruktionen bestehen „aus aufeinanderprallenden Laut- und Bildelementen voller Brechungen, deren semantische Spannungen und Gegensätze allein das Unbeschreibliche spiegeln“ (Reverdy/Strugalla 2010/2011, Anmerkungen, S. 101). MSch  





Abb. E 2/23: Pierre Reverdy/Johannes Strugalla: Le Chant des Morts. Paris/Mainz 2010/2011.  



E 2.46 Anja Harms/Eberhard Müller-Fries: Feuernetze (2012) Oberursel: Harms/Müller-Fries, 2012. Texte von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Buchgestaltung: in allen Teilen von den Künstlern Anja Harms und Eberhard Müller-Fries gemeinsam entworfen und realisiert. 25 nummerierte und signierte Exemplare. 10 Bl., gebunden, Buchdeckel: ca. 40 × 58 cm, Eichenholz gesägt und mit Feuer geschwärzt, Buchblock: 54 x 35,5 cm, Büttenpapier mit starker Filzmarkierung und f-color nachtblau, fadengeheftet, durch Spezialscharnier mit  











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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

der Holzdecke verbunden, Bilder: Linolschnitte und Collagen, Typografie: ‚Palatino kursiv‘ und halbfette ‚Permanent‘ von Hand in Blei gesetzt und im Buchdruck gedruckt.186 Bezugstexte: Paul Celan: Seelied (Gedicht, 1944); Ingeborg Bachmann: Schranken (Gedicht, 1944)

Im Buchprojekt Feuernetze von Anja Harms und Eberhard Müller-Fries verbinden sich bildhauerische und buchkünstlerische Techniken zu einem intensiven Dialog (vgl. Teil E 2.8). Aber auch der Textinhalt wird auf einen Dialog hin angelegt: Die Künstler verknüpfen Paul Celans (1920–1970) Seelied187 (1944) und Ingeborg Bachmanns (1926–1973) Schranken188 (1944).189 Beide Gedichte stammen aus einer Zeit, in der sich Bachmann und Celan noch nicht kannten. Das titelgebende Kompositum Feuernetze verbindet zwei Nomen aus den im Buch zusammengeführten Gedichten; „Feuer“ und „Netze“, aus den Texten herausgelöste Bilder, prägen auch die Gestalt des Buches. Der Buchdeckel, aus Eichenholz gefertigt, erhielt durch die (elektrische) Säge eine netzartige Struktur und wurde danach dem Feuer ausgesetzt (siehe Abb. E 2/24). In Bachmanns Gedicht heißt es zu Anfang: „Zündest du Lichter an/und große Feuer“. Harms und Müller-Fries fassen diese Verse ganz wörtlich auf, und setzen das Äußere des Buchs den „züngelnde[n] Fackeln“ aus: Für die Herstellung des Buchdeckels orientieren sie sich am altbewährten Verfahren des Ackerbaus, Holzpfähle, die sich lange in der Erde halten sollten, anzukohlen, um sie zu konservieren. Eindrucksvolle Fotos in der Publikation Buchskulpturen (Galerie Druck & Buch/Klingspor Museum 2013, S. 150 f.), die über die Gemeinschaftsprojekte von Harms und Müller-Fries einen Überblick gibt, dokumentieren diesen Prozess. Tatsächlich züngeln hier die Flammen durch die Lochstruktur des zukünftigen Deckels; der Ausgang jeder Unternehmung ist, wie die Künstler betonen, ein „nur schwer zu lenkendes Zufallsprodukt“,190 das jedes Buch zu einem Unikat191 macht. Durch die Verfahrensweise scheint sich das Ungestüme, Urgewaltige des Feuers dem massiven  





186 Die Angaben des Druckvermerks folgen der Publikation: Galerie Druck & Buch/Klingspor Museum 2013, S. 23, und der selbstherausgegebenen Broschüre zum Künstlerbuch: Harms/Müller-Fries o. J., S. 5. Beschrieben wird hier das Ex. Nr. 5/25 der Sammlung der HAB. Der HAB gilt herzlicher Dank für das Bildmaterial. 187 Das Entstehungsdatum von Seelied ist nicht gesichert. Es ist „mit leichten Abweichungen in Gedichte 1938–1944 enthalten, also wohl vor Juli 1944 entstanden“. Celan 2005, S. 620. 188 Der Textgestalt liegt zugrunde: „Typoskript 159 aus dem Nachlaß. – Eine frühere, handschriftliche Fassung ist datiert auf 7. XI. 44.“ Koschel/Weidenbaum/Münster 1978, S. 667. 189 Es ist ein Zusammenführen der Gedichte, nicht der Dichterpersonen, zumindest nicht vordergründig: Allein die Texte kommen zu Wort, erst auf der Impressum-Seite erscheinen die Autorennamen. Das unterschiedliche Sprechen wird typografisch durch zwei verschiedene Schrifttypen angezeigt: Celans Verse stehen in der kursiv gesetzten Serifenschrift ‚Palatino‘, die eine fließende Wirkung hat und Bachmanns Zeilen in der klarer und strenger wirkenden (serifenlosen) ‚Permanent‘. 190 Harms und Müller-Fries in einem Gespräch mit der Verfasserin am 03.12.2017. 191 Die Exemplare der Feuernetze-Auflage sind gewissermaßen „Unikate in Auflage“, so schreiben die Künstler in einer selbstherausgegebenen Broschüre zum Künstlerbuch.  













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Buchdeckel einzubrennen: Das Feuer verändert das Ausgangsmaterial, dieses wird rußig schwarz, und je nach Exemplar lassen sich sogar kleine Kohlestellen finden. Der Deckel riecht leicht verkohlt. Kontextgebundenes Verstehen. Im Buchinneren werden die zwei Texte von Celan und Bachmann miteinander verwoben: Nach den ersten zwei Strophen von Celans Seelied, in dem sich ein lyrisches Ich an ein Du („Liebe“) richtet, setzt das Sprechen von Bachmanns Gedicht Schranken ein, das sich einem Du zuwendet, ohne explizit von sich zu sprechen (es sei denn, die eingenommene Du-Perspektive würde als ein Zwiegespräch mit sich selbst gelesen). Celans Gedicht wird unterbrochen. Bevor es in der dritten Strophe von Seelied heißt: „Netze, die ich lang geflickt“, wird überhaupt erst einmal ein Netz geknüpft – dies allerdings auf strukturaler (und bildnerischer) Ebene des Buchwerks Feuernetze. Die Lichter und großen Feuer („mit weiten Scheinen“) in Schranken erscheinen nun als Navigationshilfe für das Ich in Seelied („folgt mein Kahn den fremden Zeichen“), den Topos ‚das Meer des Lebens bzw. der Liebe‘192 aufrufend. Gegenüber der empfundenen Angst vor Nähe, der tiefen Einsicht („Truhen, die ich dir verschließ,/fahr ich in den See zu senken“), scheinen die herauf beschworenen Feuer in Schranken zunächst wie rettende Orientierungshilfen. Doch das Scheinen „ohne Ende“ ist schließlich doch nur eine Illusion: „Immer nur ist es Versuch,/tastender Weg“, „immer dein Bild nur,/das du vom Lichte trägst“. Auch im Inneren des oder der Sprechenden ist es nicht hell, gibt es Verbranntes nur: „Wirfst du in schleiernden Rauch/züngelnde Fackeln,/streust du aus Augen und Herz,/was du besitzt.“ In Seelied dagegen wird nach dem Dunklen gegriffen: „Netze, die ich lang geflickt,/werf ich aus, die Nacht zu haschen –/aber seltsam und geschickt/löst dein Arm die starken Maschen“.193 Das Bild des ‚Fischernetzes‘ wird von Harms und Müller-Fries gestalterisch erprobt: Variantenreich sind Linolschnitte einzelner Netz(bruch)stücke zu sehen, die auf die Papierseiten gedruckt wurden und sich nun wie frei auf ihnen zu bewegen scheinen, sowie  



192 Im Werk von Celan finden sich immer wieder Schiff-/bzw. Schifffahrtsmetaphern; zur Tradition des Schiffstopos bei Celan siehe: Manger 1991, S. 235–251. 193 Das Zusammenführen der Texte von Celan und Bachmann verändert auch deren Rezeption; hier tritt das kontextgebundene Verstehen des Lesers deutlich hervor. Andere Lesart(en) des Bachmann-Gedichts z. B. – als hier im Verbund mit Celans Gedicht vorgestellt – ergeben sich, sobald es getrennt von Seelied gelesen wird: Regina Schaunig versteht das „Du“ als „Dichter“, der als Schreibender nach ‚wahrer Kunst‘ strebt; weiterhin mit dem „Du“ mit Blick auf den von Bachmann problematisierten kulturellen und sprachlichen Bruch nach Auschwitz: „die kulturelle und gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers“. Das von B. verwendete Symbol des Lichtes sei mehrdeutig: „Es bezieht sich ziemlich konkret auf das ‚Licht der Wahrheit‘ und ‚Öffentlichkeit‘, denn der ‚aus Augen und Herz‘, also aus dem authentischen Erleben heraus Schreibende spricht als ein Offenbarer von Wahrheit. Er wirft seine ‚züngelnde[n] Fackeln‘ in ein Umfeld von Verschleierungen der Wahrheit – in ‚schleiernden Rauch‘. In diesem Kampf […] setzt er, ohne Schonung sich selbst gegenüber, alles ein, ‚was [er] besitzt‘. Dennoch sind seinem Tun Schranken auferlegt, indem er sich seinem hohen Kunstideal nur tastend anzunähern vermag.“ Schaunig 2014, S. 136f.  











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Teil E Buch-Literatur und Literaturrezeption im Künstlerbuch

große netz- bzw. gitterartige Strukturen, die sich über ganze Bildseiten legen (siehe Abb. E 2/25). Auch abstrahierte Formen, die an Schwemmholz erinnern, lassen sich erkennen. Der Umgang mit der Druckfarbe (schwarz, rot, silber) und den zwei Papierarten bzw. -farben (blau, naturweiß), die durch Einfärbungen sogar unterschiedliche Oberflächenwirkungen bekommen können, erzielt überraschende Effekte.  

Vom Künstlerbuch zur Buchskulptur. Der Titel Feuernetze bezeichnet eine Werkserie: Zum Künstlerbuch haben Harms und Müller-Fries ferner zwei Buchskulpturen angefertigt. Feuernetze 1+2 sind zwei Unikate, die mit 155 x 35 cm beinahe mannshoch frei im Raum stehen: Von massiven, ebenfalls gesägten und mit Feuer geschwärzten Eichenholzdeckeln befindet sich jeweils ein großes Leporello eingefasst (150 x 30 cm, mit Collagen aus schwarzem und rotem handgeschöpften Japanpapier, Text mit Bleibuchstaben gestempelt). „Jedes Objekt kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, von der schlanken Stele bis zum raumgreifenden Objekt.“ (Galerie Druck & Buch 2013/ Klingspor Museum, S. 35.) Die Beispiele der buchskulpturalen Werke von Harms und Müller-Fries erschaffen Buch-Räume, in dem sich der Leser-Betrachter, der zum Besucher wird, aufhalten kann. Er kann auf die im Raum aufgefächerten Seiten zugehen, um sie herumgehen.194 MSch  













Abb. E 2/24: Anja Harms/Eberhard Müller-Fries: Feuernetze. Buchdeckel aus Eichenholz, feuergeschwärzt. Oberursel 2012.  



194 Susanne Padberg schreibt von „der körperlichen Erfahrung, in einen mannshohen Buchraum treten zu können, einen physischen Widerpart zu haben“. […] Außerdem wird bei den Raumbüchern die der Buchform innewohnende Dynamik nicht durch das Blättern der einzelnen Seiten realisiert, sondern tatsächlich durch die Bewegung des Betrachters von Seite zu Seite“. Padberg 2013, S. 7; siehe auch: Hildebrand-Schat 2013c, S. 116–131.  



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Abb. E 2/25: Anja Harms/Eberhard Müller-Fries: Feuernetze. Oberursel 2012.  



E 2.47 Hartmut Andryczuk/Valeri Scherstjanoi: Tiergarten. Ein Künstlerbuch nach einem Poem von Velimir Chlebnikov (2014) Berlin: Hybridenverlag, 2014. 10 Blätter, 34,2 x 24,50 cm, Leporellofaltung, DVD, Heft mit Scherstjanois deutscher Übersetzung von Chlebnikovs Gedicht. Auflage: 10 Exemplare.  





Bezugstext: Velimir Chlebnikov: Tiergarten (Gedicht, 1909/1911)

Das Künstlerbuch Tiergarten wird im Jahr 2014 in Hartmut Andryczuks Hybridenpresse in Berlin veröffentlicht. Auf 10 Leporelloseiten zeichnet der Künstler grellfarbige Phantasietiere, die der Autor Valeri Scherstjanoi um ‚scribentische‘ Gedichte ergänzt. Eine DVD und ein Heft mit Scherstjanois deutscher Übersetzung von Chlebnikovs gleichnamigem Gedicht sind ebenfalls Teil des Künstlerbuchs. (Im auf die DVD gebrannten Film ist zu sehen, wie Scherstjanoi Chlebnikovs Gedicht den Tieren im Berliner Zoo vorliest.) Die Leporelloseiten können im ins Buch eingeklappten Zustand als Abfolge einzelner Doppelseiten rezipiert werden, sie weisen einen Seitenrand auf und erinnern somit an ‚konventionelle‘ Buchseiten. Die Leporelloform ermöglicht es zudem, die Seitenfolge aus dem Einband herausragen zu lassen – ein Akt der ‚Befreiung‘ der Buchinhalte und der im Tiergarten eingesperrten Tiere. Die dargestellten phantastischen Wesen zeigen Charakteristiken bekannter Tiere wie Rüssel, Höcker, Krallen und Geweih, werden jedoch über ihre atypischen Formen und Farben als irreale Wesen ausgewiesen. Auf den ersten beiden Seiten begegnet dem Betrachter eine Art gelber Elefant, der mit seinem afrikanischen bzw. asiatischen Pendant zumindest den Rüssel und die Stoßzähne gemein hat. Auf ihn folgt ein einer Fledermaus ähnliches Wesen, das mit seinen roten Augen und scharfen Zähnen äußerst bedrohlich wirkt. Es schließen sich u. a. stachelige schlangenartige Kreaturen und zweiköpfige Drachen  



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an. Allen Tieren ist gemein, dass sie von Scherstjanois ‚scribentischen‘ Gedichten umfangen, bzw. ‚eingefangen‘ werden,195 die durch ihre feinen schwarzen Konturen einen Kontrast zu den bunten Geschöpfen bilden. Scherstjanois Zeichen oszillieren zwischen Schrift und Bildsymbolen. Vereinzelte Wörter lassen sich insbesondere auf der ersten Seite dem Liniengeflecht entnehmen: Zu lesen sind u. a. „Odem“, „Atem“, „freies Tier“, „Worte/murmelnd“. Die folgenden Seiten präsentieren neben vereinzelten Wörtern Muster und religiös konnotierte Symbole wie beispielsweise eine Darstellung des ‚Auges der Vorsehung‘. Die vielfältigen Bezüge, die sich dem Betrachter von Andryczuks und Scherstjanois Tiergarten eröffnen, finden sich auch innerhalb Chlebnikovs Gedicht. Das lyrische Ich, das von den Lebewesen im Tiergarten berichtet, bezieht Charakteristika einzelner Tiere auf politische und religiöse Sachverhalte insbesondere der russischen Geschichte (vgl. Hildebrand-Schat 2015b, S. 127). In Chlebnikovs Tiergarten finden sich bereits Züge seiner in den Jahren 1916 bis 1922 erschienenen geschichtsphilosophischen Traktate präfiguriert. Chlebnikov experimentiert mit Imitationen ägyptischer und sibirischer Zeichen und zeigt sich überzeugt von der Existenz universal gültiger Weisheitslehren im vorzeitlichen Sprachstatus; ein Credo, das er über die Instrumentalisierung antiker philosophischer Konzepte (z. B. Platons Kratylos) zu begründen sucht. Ein Resultat von Chlebnikovs Sprachversuchen sind verschlüsselt erscheinende Piktogramm-Text-Hybride, die eine Sinngenerierung zugleich provozieren und behindern (vgl. Goldt online). In Andryczuks und Scherstjanois Künstlerbuch wird ein Nachvollzug dieses dualistischen Prinzips in Chlebnikovs Umgang mit Sprache anschaulich. Die jeweiligen Zeichen und Tierdarstellungen verlieren ihre vermeintlich konkrete Bedeutung, sie werden zunächst als etwas ‚Lesbares‘ bzw. ‚Wiedererkennbares‘ vorgeführt. Dieser Eindruck wird jedoch mithilfe unkonventioneller Konstellationen und Kompositionen von Schrift und Bild zugleich dekonstruiert, das Zeichen öffnet sich für weitere Bedeutungskonnotationen. PH  





E 2.48 Robert Schwarz: Grodek (2014/2015) Mainz: Schwarz, 2014/2015. Text: Georg Trakl. Buchgestaltung von Robert Schwarz: Holzschnitte auf getauchtes Seidenpapier, offene Blockbindung, japanische Heftung. 46 Seiten, 30 x 25 cm. 20 Exemplare. Das im Folgenden präsentierte Buch beschreibt das Ex. Nr. 3/20 der Sammlung des Klingspor Museums, Offenbach.  







Bezugstext: Georg Trakl: Grodek (Gedicht, 1915)

195 „Hinter den farbigen Motiven verbergen sich merkwürdige Gestalten, die bisweilen sogar dämonisches Ausmaß annehmen; die Welt der scheinbar vertrauten Zeichen [Scherstjanois ‚scribentische‘ Gedichte, Anm. d. Verf.] erweist sich als unverständlich und formiert sich zur Gitterstruktur, die die Tiere gefangen nimmt.“ Hildebrand-Schat 2015b, S. 126 f.  



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Der Krieg als Geißel der Menschheit ist sowohl Thema im Werk des Künstlers Robert Schwarz als auch des expressionistischen Lyrikers Georg Trakl. Das Gedicht Grodek196 entsteht 1914 inmitten der Wirren des Ersten Weltkriegs und benennt den Ort (in der heutigen Ukraine gelegen), wo Trakl der k. u. k.-Armee als Sanitätsleutnant im Lazarett dient. Dort erlebt er unmittelbar das Leid der verwundeten Soldaten, das er aufgrund der medizinischen Unterversorgung seiner Station kaum lindern kann. Die grauenvollen Zustände scheinen Trakl als einzige Ausflucht das Dichten zu lassen. Seine traumatischen Erlebnisse verarbeitet er vor Ort in dem Gedicht, das als Original-Handschrift erhalten ist. Robert Schwarz setzt sich in seinem gleichnamigen Künstlerbuch mit eben diesem Gedicht auseinander. Zur Textwiedergabe verwendet Robert Schwarz die Handschrift Trakls als zentrales künstlerisches Ausdrucksmittel. Vergrößert und übertragen in negative Holzstempel, löst der Künstler die Wörter aus ihrem Versverbund und setzt sie kreuz und quer auf die Buchseiten. Wie die Kugeln der „tödlichen Waffen“ (Schwarz 2014/2015, V. 2) auf dem Schlachtfeld dringen Wörter von allen Seiten ins Blickfeld des Betrachters ein. So kommt kein Textfluss zustande, auch weil sich zudem die Lesbarkeit der Handschrift im Verlauf des Gedichts zunehmend verschlechtert. Zur Kompensation durchzieht die Buchseiten stellenweise ein schmales Papierband, auf dem die einzelnen Verse abgedruckt sind. Weniger die Lesbarkeit als vielmehr die Unmittelbarkeit und Authentizität der persönlichen Aufzeichnung stehen im Vordergrund. Dem Schriftbild fällt im Buch eine doppelte Bedeutung zu: Als autobiografische Referenz vergegenwärtigt es die schlechte Verfassung Trakls und die quälenden Entstehungsumstände des Gedichts (Trakls Kriegstrauma mündete in ausufernden Drogenkonsum, der zu seinem Tod führte). Auf semantischer Ebene versinnbildlicht es die „Sterbende[n] Krieger“ (ebd., V. 5), deren Leben in der Schlacht gewaltsam ausgelöscht wurden. Analog zu den Mangelverhältnissen des Krieges vermittelt die Aufmachung von Schwarz’ Buch einen provisorischen Charakter. Mit einem Einband aus grauem Filz mit auffällig roter japanischer Fadenheftung wirkt das Künstlerbuch selbst wie notdürftig verbunden. Ähnlich einer Wunde steht darauf in grellem Orange so schlicht wie einprägsam der Titel: Grodek. Im Buchinneren vermittelt die expressive Farbigkeit der Buchseiten die Ausdruckskraft der Sprache Trakls. Sie bestehen aus collagierten Seidenpapieren, die mehrfach in Farbe getaucht wurden. Durch diese Art des Farbauftrags erzielt Schwarz grobe und verschmiert bis fleckig anmutende Farbverläufe, die in ihrer farbgewaltigen Wirkung das Chaos auf dem Schlachtfeld, die verheerende Zerstörung und die körperlichen und seelischen Verwundungen zum Ausdruck bringen. Die sicht- und fühlbare Haptik des Buches entwickelt im Zusammenspiel mit dem Text eine semantische Qualität, die einen Flickenteppich aus Kleidungsstücken assoziieren lässt. Der  







196 Vgl. Trakl 1915, S. 14. Das Gedicht gilt als eines der letzten Gedichte Trakls und wurde erstmals 1915 posthum in der österreichischen Kulturzeitschrift Der Brenner veröffentlicht.  

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Text wirkt dadurch umso eindringlicher: Wie der „Weidengrund“ (ebd., V. 7) sich im Gedicht durch das „vergoßne Blut“ (ebd., V. 9) der Soldaten verdunkelt, können die zarten Seidenpapiere die Last der aufgesogenen Farbschichten kaum tragen. NM  



Abb. E 2/26: Robert Schwarz: Grodek. Mainz 2014/2015.  



E 2.49 Frauke Otto: Palmyra (2016) Halle: Otto, 2016. Seiten des Buchs collagiert mit Originalabbildungen (Fotos von Andrzej Dziewanowski 1966/67) aus dem Buch Palmyra (Wien/München 1968); Farbauftrag: Fileten und Heißprägefolie. Buchdruck: Matthias Schwenke, Hochschuldruckerei Burg Giebichenstein, Kunsthochschule Halle 2016. Typografie: Sisters of Design, Halle. Bezugstext: Bertolt Brecht: Ausser diesem Stern… (Epigramm, 1949 entstanden; 1965 erstmals publiziert)

Im Jahr 2016 publiziert Frauke Otto Palmyra, ein Fotobuch, das hauptsächlich Schwarz-Weiß-Fotografien vom gleichnamigen syrischen Ort aus den 1960er Jahren beinhaltet. Die Aufnahmen zeigen Architektur- und Skulpturfragmente von Tempeln des UNESCO-Weltkulturerbes. Die Fotografien, die sowohl die Buchdeckel als auch fünf der sechs Doppelseiten des Buches ausfüllen, entstammen allesamt dem Buch Palmyra aus dem Jahr 1968 mit Aufnahmen von Andrzej Dziewanowski (vgl. Michałowski 1968). Ergänzt wurden die Fotografien mit roten und goldenen Fileten und Heißklebefolie. Diese Zufügungen erfüllen diverse Funktionen: Sie bilden als Schriftzug den Titel des Buches, sie ‚schmücken‘ die Säulen und Bögen auf den Fotografien Palmyras, sie signalisieren als konfuse Anordnung von Linien Zerstörung und sie löschen aus, indem sie als rote Kreuze auf Skulpturköpfe aufgebracht wurden. Auf der

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fünften Doppelseite wurden keine Fotografien aufgeklebt, auf der rechten Seite ist ein Epigramm von Bertolt Brecht zu lesen: „AUSSER DIESEM STERN, dachte ich, ist nichts und er/Ist so verwüstet./Er allein ist unsere Zuflucht und die/Sieht so aus.“ Eine französische und eine englische Übersetzung von Brechts Text stehen ebenfalls auf der rechten Seite. Gegenüberliegend, auf der linken Seite, findet sich – ganzseitig abgedruckt – die arabische Übersetzung von Brechts Epigramm.197 Ein weiteres Textfragment ist auf der dritten Doppelseite zu lesen: „Sie wollen den KRIEG.“ In der Zusammenstellung von Brechts Text und Dziewanowskis Fotografien werden buchkünstlerische Verfahrensweisen thematisiert, die zum einen mithilfe des Gestaltungsmittels der Collage den Status von dokumentierendem Buch und Künstlerbuch reflektieren und zum anderen auf Brechts Kriegsfibel verweisen.  



Ottos Palmyra und Brechts Kriegsfibel. Im Jahr 1955 erschien die erste Edition von Brechts Kriegsfibel, in die er sogenannte Fotoepigramme – Kombinationen von aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittenen Fotografien und Epigrammen – integrierte. Die Abbildungen in Brechts Werk zeigen die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und porträtieren die damaligen politischen Befehlshaber, primär auf deutscher, zuweilen auch auf alliierter Seite. Jedem Foto ist ein vierzeiliges Epigramm beigefügt, das das Dargestellte konkretisiert und kommentiert. Bereits einige Jahre vor der Veröffentlichung sammelte und kombinierte Brecht Material für seine Text-FotoKombinationen. Vom Ende der 1930er Jahre bis zum Ende der 1940er Jahre erstellte Brecht insgesamt über 70 Fotoepigramme, wovon 69 in der ersten Publikation erschienen. (Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Kriegsfibel Kienast 2001, S. 7f.) Brechts Epigramm Ausser diesem Stern…, das Otto in ihr Werk eingefügt hat, ist nicht Teil des Kriegsfibel-Konvoluts. Der Text entstand jedoch 1949 – also in der Zeit, in der Brecht mit der Erstellung der Fotoepigramme für die Kriegsfibel beschäftigt war.198 Sowohl die Datierung des Textes als auch seine Form weisen eine Nähe zu den Epigrammen der Kriegsfibel auf. Zudem bedient sich Otto mit der Überführung von ausgeschnittenen Schwarz-Weiß-Fotos in ihr Buch und der Zufügung von Text eines ähnlichen Verfahrens wie Brecht bei der Anfertigung seiner Kriegsfibel. Des Weiteren bedingt der Satz „Sie wollen den KRIEG.“ eine thematische Bindung von Ottos Palmyra an Brechts Werk. Die Phrase erinnert an die Rhetorik Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ zur ‚Rechtfertigung‘ des Zweiten Weltkrieges. „Sie“ ist dabei mehrdeutig und verweist zum einen auf die politischen Gegner der Nationalsozialisten, die beschuldigt werden, Kriegshandlungen gegen ‚das deutsche Volk‘ auszuführen, wodurch das kriegstreiberische Gebaren der deutschen Machthaber als Verteidigungshaltung in ein moralisch  







197 Vgl. Otto 2016. Im unpaginierten Impressum werden die jeweiligen Übersetzer von Brechts Ausser diesem Stern… genannt. Im Klingspor Museum befindet sich Exemplar 1 von 7. 198 Ausser diesem Stern… wurde erstmals postum 1965 in einer Gesamtausgabe von Brechts Werk veröffentlicht: Brecht 1965. Vgl. Marsch 1974, S. 342. Die Entstehung des Typoskripts wird in Brecht 2000, S. 438 auf das Jahr 1949 datiert.  



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positives Licht gerückt wird. „Sie“ verweist zum anderen auf das deutsche Volk, das entschlossen erscheint, sich gegen ‚den Feind‘ zur Wehr zu setzen, wodurch die NaziObrigkeit sich als Ausführende des Volkswillens präsentiert.199 In der Anordnung der Fotografien auf der ersten und der letzten Doppelseite von Ottos Palmyra findet sich zudem auf fotografischer Ebene ein formaler Bezug zu Brechts Werk. In letzterem ist auf dem rückseitigen Schutzumschlag ein Foto zu sehen, das eine Hörsaalsituation zeigt. Der Fokus liegt auf den Reihen von Lernenden, die konzentriert nach links aus dem Bild schauen. Die Doppelseiten in Ottos Buch zeigen Köpfe von Skulpturen, die nebeneinander auf einer Gesteinsplatte aufgereiht wurden. Dasselbe Foto wurde mehrmals untereinander geklebt, sodass sich ein ähnlicher Effekt wie in dem von Brecht verwendeten Foto ergibt: zu sehen sind übereinander gestaffelte Reihen mit Köpfen. Die Behandlung dieses motivischen Bezugs in Palmyra kann darüber hinaus als weiterführender Kommentar zu Brechts Werk interpretiert werden. Zum die Kriegsfibel beschließenden Hörsaalfoto gehört das Epigramm: „Vergeßt nicht: mancher euresgleichen stritt/Daß ihr hier sitzen könnt und nicht mehr sie./Und nun vergrabt euch nicht und kämpfet mit/Und lernt das Lernen und verlernt es nie!/(aus der Friedensfibel)“ (Brecht 1977, unpag.). Die erste Doppelseite von Ottos Palmyra bezieht sich formal auf die Situation und das Potenzial der Lernenden. Auf der letzten Doppelseite wird diese Konstellation wiederholt, jedoch um rote Heißklebefolie ergänzt, die als Kreuze über die steinernen Gesichter gelegt wurde. Bedeutsam ist hier die Progression, die in Ottos Werk – von der ersten bis zur letzten Doppelseite – durchlaufen wird: Palmyra scheint zunächst an die Endaussage von Brechts Werk anzuknüpfen und zuletzt zu einer anderen, weniger optimistischen Feststellung als die Kriegsfibel zu gelangen. Die sich in Brechts Epigramm äußernde Hoffnung auf eine durch Bildung transformierte und friedlichere Gesellschaft scheint in Ottos Werk negiert zu werden. Dort, wo Köpfe ausgelöscht wurden, lässt sich auch nicht (dazu-)lernen und dort, wo Kultur – materialisiert in Skulpturköpfen – zerstört wird, sind auch spezifische Gegenstände und Wissen irreversibel verschwunden. Die Analogien von Ottos Palmyra zu Brechts Kriegsfibel verweisen dabei weniger auf potenzielle Ähnlichkeiten zwischen den Gräueln des Zweiten Weltkrieges und denen des syrischen Konflikts. Vielmehr oszillieren die Werksbezüge: Ottos Palmyra deutet über die Textbeigaben eine Nähe zum Zweiten Weltkrieg an, die Künstlerin entnimmt Brechts Epigramm jedoch nicht der Kriegsfibel selbst, die Zusammenstellung von Text und Abbildungen wiederum verweist auf Brechts Werk; in dieser Uneindeutigkeit wird das Moment der überzeitlichen Reflexion von Krieg unterstrichen.  







199 Vgl. die Rede Adolf Hitlers im Sportpalast Berlin am 30.01.1940, https://archive.org/stream/Adolf HitlerRedeWerWollteDenKrieg/AdolfHitlerWerWollteDenKriegRede30Jan1940_djvu.txt (10.10.2017), und Joseph Goebbels Frage an die Zuhörer seiner Rede im Sportpalast Berlin am 18.02.1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“, die mit Begeisterungsäußerungen des Publikums beantwortet wird, https://archi ve.org/stream/WolltIhrDenTotalenKrieg/GoebbelsJoseph-Rede-WolltIhrDenTotalenKrieg194315S._djv u.txt (10.10.2017).

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Im Gegensatz zu den in Brechts Kriegsfibel genutzten Fotografien präsentieren die Abbildungen in Palmyra Ruinen, die bereits vor dem syrischen Krieg fragmentiert und teilweise zerstört worden sind. Dem Betrachter wird bewusst, dass sowohl der materielle Verfall im Verlauf der Jahrtausende als auch dem im Jahr 2016 aktuellen syrischen Konflikt vorangegangene kriegerische Auseinandersetzungen die Stätten Palmyras in Mitleidenschaft gezogen und den Ort geformt haben. Dieser Umstand fokussiert zum einen auf die generellen Auswirkungen von Krieg auf Kultur und zum anderen auf die Konstitution dokumentierender Medien. Im Speziellen werden die Eigenschaften von Sachinformationen übermittelnden Büchern vor dem Hintergrund des sich stets aktualisierenden Zeitgeschehens reflektiert. Bücher halten Vergangenes fest – Dokumentation im Spannungsfeld mit dem aktuellen Zeitgeschehen. Im Gegensatz zu Brecht nutzt Otto für die Erstellung von Palmyra nicht Fotografien aus der Tagespresse. Während Brecht sich solcher Fotodokumente bedient, die die zur Entstehungszeit der Kriegsfibel noch aktuellen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs abbilden, entnimmt Otto ihre Fotografien einem Band, der fast ein halbes Jahrhundert vor der Publikation ihres Palmyra erschienen ist. Die im Jahr 2016 aktuellen Zerstörungen von Palmyra durch die Konfliktparteien in Syrien sind zwar international bekannt sowie in Pressefotos und -videos dokumentiert und verfügbar. Die Nutzung von dezidiert nicht aktuellem Bildmaterial initialisiert jedoch, über die Präsentation von unwiederbringlich verlorenem Kulturgut hinaus in Relation zu Brechts Kriegsfibel einen Reflexionsprozess über die Aktualität von dokumentierenden Büchern. Während Brechts Buch Bilder von Zerstörungen zeigt, die Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit – entweder im eigenen Stadtbild oder medial vermittelt – alltäglich vor Augen stehen, präsentieren die Fotografien in Ottos Buch Zerstörung, die dezidiert nicht vom im Jahr 2016 ausgetragenen Konflikt herrühren. Dem Betrachter wird so ein Grundprinzip vieler Kriege im Allgemeinen verdeutlicht: unerwünschtes Gedanken- und Kulturgut wird durch den Aggressor vernichtet. Nicht nur Ethnien, Nationen, Kulturen, Religionen, sondern auch ihre Geschichte wird ausgelöscht – Tempel werden abgetragen und Bücher werden verbrannt. Die Identität der gegnerischen Gemeinschaft wird attackiert, was in Ottos Palmyra unmittelbar durch die Destruktion andeutenden Kreuze auf den Skulpturköpfen verbildlicht wird.200 Durch die Visualisierung dieses auslöschenden Prinzips vieler kriegerischer Handlungen erfüllt Ottos Werk den Anspruch, der in Brechts Werktitel – Kriegsfibel – aufscheint. Palmyra kann als eine Fibel interpretiert werden, als „Lehrbuch, das in die Anfangsgründe eines bestimmten Fachgebietes einführt“ (Dudenredaktion 1993,  













200 „Parteien in ethnischen und/oder religiösen Konflikten trachten danach, den Anderen (Gegner, Feind, Widersacher) durch die Zerstörung seines, seine Identität symbolisierenden Kulturgutes zu treffen. Insofern kann die Zerstörung von kulturellen Objekten auch als ein wesentlicher Schritt in dem Prozess der ethnischen, auf Auslöschung von Gemeinschaften zielenden Säuberungen gesehen werden.“ Schorlemer 2016, S. 83.  

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S. 1084). Es zeigt allgemeine Wirkmechanismen von Krieg auf Mensch und Kultur, indem es die aktuellen Zerstörungen Palmyras zum Anlass nimmt und über die Kontextualisierung zur Kriegsfibel und den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges ein überzeitliches Reflexionsmoment zu den Gründen und den Folgen kultureller Zerstörungen installiert.201 Darüber hinaus wird durch die Integration der in dem Kontext des Palmyra-Bandes von 1968 als nicht fiktional deklarierten Inhalte in ein offensichtlich künstlerisch bearbeitetes Ensemble der Fokus auf den individuellen Anteil des Rezipienten bei der Inhaltsaufnahme – also auf Prozesse jenseits einer objektiv erfahrbaren ‚Realität‘ – gelegt. Der Akt des Zerschneidens des Palmyra-Buchs von 1968 und des Zusammenfügens innerhalb eines neuen Palmyra-Künstlerbuchs zu einer Zeit, in der die kulturellen Stätten in Palmyra durch Auslöschung bedroht sind, rekurriert ex negativo auf den Status des Buches als Ort der Bestandsaufnahme und der Fixierung von Wissen. Ottos Palmyra evoziert in Bezug auf das gleichnamige Sachbuch aus dem Jahr 1968, dass dokumentierende Texte und Bilder einen nicht-fiktionalen Anspruch erheben, der durch das sich aktualisierende Zeitgeschehen sowie den stets gegebenen individuellen geschichtlichen und sozialen Kontext des Rezipienten problematisiert wird. Ebenso wie die von Brecht für seine Kriegsfibel genutzten Fotografien sind die von Otto verwendeten Abbildungen „Medien, in denen über den Alltag nachgedacht wird“ (Möbius 2000, S. 205, Hervorhebung wie im Original). In beiden Fällen handelt es sich um Dokumente, die den Anspruch erheben, einen Ausschnitt aus der ‚Realität‘ zu präsentieren. Dadurch, dass Otto die Fotodokumente aus dem Sachbuch Palmyra in ihr künstlerisches Werk überführt, wird dieser proklamierte Bezug zur ‚Realität‘ unsicher. Die Rezipienten sind angehalten, den Kontext der gezeigten Fotos zu rekonstruieren.202  







Das Prinzip der Collage vor dem Hintergrund des Buch-Seins von Palmyra. Die Collagen als Kombinationen von Fotografien sind als solche für den Betrachter anhand von Motivveränderungen und Schnittlinien erkennbar. Insbesondere die homogene Farbgebung und die spezifische Anordnung der Fotografien stehen jedoch dem Effekt des Disparaten entgegen. Obwohl für den Betrachter deutlich ist, dass Otto die einzelnen Fotos collagiert hat, entsteht der für die Collage charakteristische Eindruck, dass sich auf jeder Doppelseite eine geschlossen wirkende Ganzheit präsentiert. Unterwandert wird dies wiederum durch Ottos Bearbeitungen mit Fileten und Heißprägefolie. Die Suggestionsleistung der Anordnung der Fotos wird hierdurch zuweilen

201 Mit den Analogien zu Brechts Werk gliedert sich Palmyra in eine Reihe von Nachfolgern ein, die in der Tradition der Kriegsfibel stehen: „Aufgrund der neuen Technik (für Lyrik) hat die Kriegsfibel zahlreiche Nachfolger inspiriert, darunter V. Brauns KriegsErklärung (1967) oder die Brokdorfer Kriegsfibel von U. Herms (1977), welche die Form mit neuen Bildern und Texten aktualisieren – oder auch Brecht zitieren.“ Utz/Knopf online. 202 Vgl. Möbius 2000, S. 227f. Die Rekonstruktion wird erleichtert, da die Künstlerin im Impressum von Palmyra auf die Quelle der Fotos verweist.  



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verstärkt, teilweise – wie im Fall der durchkreuzten Skulpturenköpfe – treffen die Applikationen auch eine eigene Aussage. Der der Collage genuine Prozess der Segmentierung und des erneuten Kombinierens von Einzelteilen spielt vor dem Hintergrund, dass sowohl das Zerteilte als auch das aus Zusammenfügung des Zerstückelten resultierende Werk ein Buch ist, eine bedeutende Rolle: Zum einen ist der Kodex im Allgemeinen als Behältnis für Wissen und Kultur durch den Krieg bedroht, wenn er Aussagen enthält, die im Widerspruch zur Ideologie des jeweiligen Aggressors stehen. Zum anderen reflektiert Palmyra von 2016 die Eigenschaften, die im Generellen mit Büchern, die ‚Nicht-Fiktionales‘ beinhalten, verbunden werden: Das Buch Palmyra von 1968 dokumentiert primär das zeitgenössische Aussehen der Ruinenanlage und informiert den Rezipienten hierüber mit Texten, Schemazeichnungen, Karten und Fotografien; es erhebt den Anspruch, die ‚Realität‘ sachgerecht wiederzugeben. Dadurch, dass es ein Buch ist, in dem die Inhalte langfristig fixiert sind, erhebt es diesen Anspruch auch, wenn nachträgliche Eingriffe in den dokumentierten Ort dessen Aussehen komplett verändern. Ottos Werk führt dies vor Augen, indem es offensichtlich veraltetes Material versammelt und durch den künstlerischen Eingriff mit Montagen und Überklebungen das Werk öffnet für das zumeist massenmedial vermittelte und damit ebenfalls ausschnitthafte Wissen und die Erfahrungen des Betrachters. Es wird deutlich, dass durch die Art und Weise, wie Bücher Inhalte präsentieren, je nach Genre eine andere Ausdrucksleistung verknüpft ist. PH  



E 2.50 Peter Waterhouse/Nanne Meyer: Die Auswandernden (2016) Fürth: starfruit publications, 2016. Hg. von Manfred Rothenberger und Institut für moderne Kunst Nürnberg. Text von Peter Waterhouse; Zeichnungen von Nanne Meyer; Gestaltung: Timo Reger; Schrift: Absara; Papier: Fly weiß 130 g/m². 256 Seiten mit 58 doppelseitigen Farbabbildungen. Hardcover, 14 x 21 cm.  





Bezugstext: Peter Waterhouse: Die Auswandernden (Text für das Buchprojekt) sowie Gesetz und Entsetzen (Rede, 2012)

Das Buchprojekt Die Auswandernden des Schriftstellers Peter Waterhouse (*1956) und der bildenden Künstlerin Nanne Meyer (*1953) ist 2016 bei starfruit publications203 erschienen. Auf dem Titelblatt, auf dem der Hinweis auf eine Textgattung vermieden wird, wurden über dem Buchtitel die Autorennamen platziert. Hier wird von zwei ebenbürtigen Autoren und einem gemeinschaftlichen Schreibprozess ausgegangen. Die

203 Der im Jahr 2009 in Nürnberg gegründete Verlag präsentiert vielfältige und außergewöhnliche Formen der Zusammenarbeit zwischen zeitgenössischen Autoren und Künstlern. Siehe zu nachfolgenden Überlegungen Schubarth 2018, S. 177–183.  

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ersten Seiten des Buchs, die auf die Titelei folgen, sind Bildseiten; es ist der Beginn eines komponierten Wechsels von Bild- und Textsequenzen. Auf je sieben Bild-Doppelseiten folgen jeweils neun Doppelseiten Text. Insgesamt gibt es acht solcher Serien. Waterhouses Text reflektiert über die aktuelle Debatte der sogenannten Flüchtlingsfrage und knüpft an eine essayistische Rede an, die der Autor bereits am 24. Oktober 2012 im Wiener Asylgerichtshof unter dem Titel Gesetz und Entsetzen gehalten hatte. (Auszüge, die in Teilen dieser Rede entsprechen, wurden unter dem Titel FÜGUNGEN. Versuch über Flucht und Recht und Sprache auf der Internetseite des europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik veröffentlicht; Waterhouse online.) Scharfsinnig untersucht er darin die in Österreich von Behörden und Justiz verwendete Sprache und deren Konzepte, die einen respektlosen Umgang mit den ‚Fremden‘ hervorrufen. Da, wo von Fremdenrecht, Asylrecht gesprochen und geschrieben wird, kann er kein Recht für die ins Land Geflüchteten finden. Waterhouse kündigte an, es handele sich weniger um eine Rede als um ein Buchprojekt. Auf den letzten Seiten im Buch Die Auswandernden wird eben jene Rede erwähnt; der Ich-Erzähler beschreibt sich als Redner und eine Hauptfigur mit dem sprechenden Namen Media als Zuhörerin im Gerichtssaal.204 Media war mit ihrer Tochter Miranducht aus dem Kaukasus nach Österreich geflohen. Ihr Asylantrag wird abgelehnt. Der Ich-Erzähler hatte sie während des langwierigen und kräftezehrenden Verfahrens bei Behörden- und Spaziergängen begleitet.  

Die Zeichnungen als Illustrationen und eigenständige Bilderfindungen. Die gegenständlichen Zeichnungen von Nanne Meyer zeigen hin und wieder auf illustrierende Weise Motive, die mit der Flucht-Thematik in Verbindung gebracht werden können: Landkarten, menschliche Figuren (Frau mit Kind), Koffer, skizzierte Wege. Sie werden ergänzt durch Bilderfindungen, die eigenständige Handlungsstränge und gedankliche Konzepte parallel zum Text entwickeln. Ausgangspunkt für die Arbeiten ist aber immer der Text. Mit Waterhouse stand Meyer während des Entstehungsprozesses in einem intensiven Austausch; Text- und Bildfolgen wurden abwechselnd von einem zur anderen geschickt.205 Ausgeschnittene Textteile aus dem Manuskript von Peter Waterhouse finden sich auf den Zeichnungen; einzelne Wörter, Wortgruppen, Sätze, Fragen wurden in die Bilder als Collagen aufgenommen. Übersetzen zwischen Worten, Sprachen, Literaturen, Bildern. Waterhouses Interesse an der Sprache ist „das lustvolle und tiefsinnige Umgehen mit den Wörtern und ihrer Morphologie“, das er „mit dem weit gefaßten Begriff der Übersetzung“ benennt (Dittberner 1998, S. 3). Die Erzählweise in Die Auswandernden ist eigenwillig. Sie schließt „unlogische, absurde, selbst traumähnliche Szenen“ (Noël online) nicht aus. „Mit welchen Schleifen und Wiederholungen der Text von einem Konzept zum ande 

204 Mehrere Stellen im Buch weisen autobiografische Bezüge zwischen Erzähler und Autor auf. 205 Nanne Meyer und Peter Waterhouse in einem Gespräch mit der Verfasserin am 25.01.2017.

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ren mäandert, zwischen den Wortbezügen kurzschließt“, erinnere – so Noël – an „dekonstruktivistische Lektüren“ (Noël online). Der in poetischer Prosa verfasste Text wird weniger durch seine Handlungsstränge als durch „die Gespräche des Erzählers mit der sehr sprachbewussten Media“ (ebd.) sowie durch sein „Wieder-Lesen“ (ebd.) und Befragen von ausgewählten literarischen und philosophischen Texten206 strukturiert: Es ist ein Übersetzen zwischen verschiedenen Sprachen und Literaturen. Medias Bemühungen um die fremde Sprache lässt diese auch für den Muttersprachler neu erscheinen. Ihr Fragen nach bestimmten Wortbedeutungen sensibilisiert den Erzähler für das Klingen der Sprache, für ihre Bilder, ihre Geheimnisse, für ihre Undeutbarkeiten:  



Immer wenn sie ein Wort fand, dann betrachtete sie es eine Weile und sprach es schließlich aus. Es kam irgendeine Erklärung hinzu, die ich ihr nicht gegeben hatte. Es kam eine Erklärung hinzu, die im Buchstabenbild zu sehen war oder in den Lauten zu hören. Es kam eine Erklärung hinzu, die außerhalb der Bedeutung lag. […] Fand sie ein Wort nicht im Wörterbuch, so blieb es ein deutsches Wort mit Bedeutung, manchmal mit vielen Bedeutungen, aber es war dann ein Wort, dem etwas fehlte. (Waterhouse/Meyer 2016, S. 28f.)  

Medias unkonventionelle Verwendung von Wörterbüchern scheint auch die des Erzählers zu verändern. Die in einem Lehnwörterbuch aufgelisteten Wörter sieht er in eine Beziehung gesetzt, obwohl sie einander nur durch ihre alphabetische Reihenfolge „berühren“. In der Folge Bestie, Bezirk, Bibel, Birne, Bischof, Bottich, Brief hebt er besonders die Nachbarschaft von „Birne“ und „Bischof“ und ihre ästhetische Wirkung hervor, er fragt: „Waren die Worte beleibt? Jedenfalls erfrischend?“ (Ebd., S. 114) Angesichts der Wörter „Kardinal“ und „Karpfen“ befragt er den Zusammenhang zwischen Denken und Poesie:  

Karpfen und Kardinal nebeneinander geschrieben, nicht nacheinander, so ordnungslos, es war wie Denken. […] War das nicht Denken: nicht zu wissen? War das nicht Denken – Kardinal und Karpfen zusammenzubringen? Kardinal, Karpfen – was bedeutet es? War Denken hier auf einmal Poesie? (Ebd., S. 115)  





Nanne Meyers Antwort reagiert darauf mit (Bild-)Witz und rekurriert auf Gemälde von René Magritte, mit denen dieser das semiotische Problem zwischen Wort (Signifikant), Bedeutung (Signifikat) und außersprachlichem Objekt (Referent) thematisiert hatte (La trahison des images, La clé des songes). Auf einer in neun Flächen unterteilten Bildseite sind Zeichnungen von Objekten zu sehen, denen Wörter zugeordnet wurden; darunter wurde der Textausschnitt „Was wurde gedacht?“ aus Waterhouses Manuskript aufgebracht (siehe Abb. E 2/27). Die einzelnen Wörter stammen aus den Listen  

206 Waterhouses Text enthält ein komplexes Geflecht transtextueller Beziehungen. Zitiert werden u. a.: A. Stifters Erzählung Turmalin, A Tale of Two Cities von C. Dickens, J. W. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, F. Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen und W. Benjamins Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels.  













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des genannten Lehnwörterbuchs und geben vor, in einem bezeichnenden Verhältnis zu den Bildern zu stehen. Doch Abbildung und Wörter stimmen in keinem Fall überein. Als Zeichen gelesen, können einige der Wort-Bild-Kompositionen über Bedeutungszusammenhänge aufeinander bezogen werden. Bei der Verbindung des Wortes „Essig“ mit dem Bild der Birne ist das ‚tertium comparationis‘ „sauer“ herauszulesen; „Ingwer“ (Wort) brennt (im Rachen) vielleicht wie eine „Kerze“ (Bild) heiß brennt. Das Wort „Strafe“ auf das Bild eines unter einer Glasglocke verwahrten Käsestückes zu beziehen, leuchtet ebenfalls ein (zumindest aus der Sicht einer gierigen Maus) – andere Wort-Bild-Kompositionen dagegen nicht unmittelbar (z. B. die un-sinnig erscheinende Zusammenstellung des Wortes „Strumpf“ mit dem Bild einer Taube), sie fordern ein spielerisch-kreatives Denken beim Betrachter heraus.  



Fragendes ‚Ertasten‘ im Schreiben und Zeichnen. Die Kraft, die das Schreiben von Waterhouse antreibt, resultiert aus einer fragenden Haltung zur Welt. Die zeigt sich im Buch durch „Fragesätze, die streckenweise die Zahl der Aussagesätze übertreffen, wodurch das Fragen als die selbstverständlichste Art des Nachdenkens erscheint“ (Noël online). In dieser Weise wird das Verwaltungsdeutsch kritisch untersucht, dem Media in Form von Formularen, Bescheiden, Protokollen und Gesetzestexten zum Asylrecht ausgesetzt ist. Kaum ein Satz hält der Sprachkritik des Erzählers stand. Wenn sich Media nach der Flugzeuglandung an den Zollbeamten wendet und diese Begegnung als „Aufgreifung“ protokolliert wird, so wird allein durch die Wortwahl der einen Person Kriminalität, der anderen Gewalttätigkeit unterstellt (vgl. ebd.). Eine aquarellierte Zeichnung Nanne Meyers reflektiert die Wirkung des verwendeten Behördendeutschs in Verbindung mit den Anstrengungen des Asylverfahrens. Zu sehen ist das unwegsame und bedrohlich wirkende Gelände einer Gebirgslandschaft, auf deren Höhen – wieder als Textschnipsel – Wörter wie „Abschiebung“, „Zurückschiebung“, „Zurückweisung“ fixiert wurden (siehe Abb. E 2/28). Es wird deutlich: Die zu erlangenden Formulare und Bescheide liegen geradezu unerreichbar auf den Gipfeln der Ämter; die durch Wörter wie „Fluchtweg“, „Aufgreifung“ bis hin zum „Bundesasylamt“ angezeigten Stationen der Flüchtenden verlaufen über beschwerliche Höhen und Abgründe. Der gedanklich enggeführten Verwaltungssprache setzt Peter Waterhouse ein Schreiben entgegen, das ein behutsames, fragendes Ertasten ist. Nanne Meyers Bilder sind mit ihrem Potenzial zu einem zeichnerischen (anschaulichen) Denken mediale Pendants dazu.207 MSch  



207 Zum zeichnerischen Werk von Nanne Meyer: Schalhorn 2014. In einem Text über das „Unterwegssein der Zeichnung“ schreibt Nanne Meyer: „Zeichnend werden die Phänomene gedreht, geklappt, umgekrempelt, übereinandergelegt, auseinandergenommen, verbunden, meistens verkleinert, auch abgetrennt, überdeckt, ausradiert usw., um mir fremd, verständlich oder neu unverständlich, jedenfalls anders, überraschend, rätselhaft, poetisch oder unpraktisch gegenüberzutreten.“ Meyer 2014, S. 173. Antwortend auf die Frage „Sie selbst sind seit den 1970er Jahren der Zeichnung treu geblieben. Was reizt  

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Abb. E 2/27: Peter Waterhouse/Nanne Meyer: Die Auswandernden. Fürth 2016.  



Abb. E 2/28: Peter Waterhouse/Nanne Meyer: Die Auswandernden. Fürth 2016.  



Sie immer wieder neu an diesem Genre?“ hält Nanne Meyer in einem Interview vom 9. Dezember 2014 mit Christina Pfänder fest: „Das Zeichnen ist dem Denken und Schreiben sehr nahe. Als serielles Medium entfaltet es sich im Gegensatz zur Malerei nicht Schicht um Schicht, sondern im Nebeneinander. Eine Zeichnung ist somit transparenter, der Prozess ist ablesbarer, wodurch die Zeichnung ihrem Wesen nach einen offeneren Charakter hat. Hochinteressant dabei ist, dass die Zeichnung in ihrer Beweglichkeit anschauliches Denken ist und freisetzt: Zeichnend wird sichtbar, was durch das sprachlich geleitete Denken alleine nicht erkennbar würde.“ (Pfänder online) Siehe auch Horst Bredekamp, der in seinem Artikel Die zeichnende Denkkraft herausarbeitet, dass Zeichnen das Sehen und Denken selbst generiert (vgl. Bredekamp 2005, S. 155–171).  



Epilog Unter dem Titel Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen (Berlin 2018) erschien zur Zeit der abschließenden Arbeiten an diesem Kompendium ein fünfteiliger Roman von Philipp Weiss. Körperlichkeit und Erscheinungsbild des Weltenrand-Romans suggerieren, es handle sich um fünf verschiedene Romane verschiedener Autoren: In einer Kassette vereint, zusammengestellt wie eine Werkausgabe, eine Auswahl von Einzelwerken eines Autors oder aber auch Beispiele einer bestimmten Werkgattung, finden sich folgende Titel, jeweils in einem separaten Band, hier angeführt nach den jeweiligen vorderen Buchcover: Enzyklopädie eines Ichs/von/Paulette Blanchard/Herausgegeben von Louis des Neufville/Paris 1881; Jona Jonas/Terrain vague. Erzählung [Ohne Orts- und Jahresangabe auf dem Bucheinband; Titelseite im Stil des 19. Jhs.]; Cahiers/Chantal Blanchard/Siebtes Heft – November 2010 bis März 2011 [o.O., o.J.]; Akios/Aufzeichnungen/Akio/Ito/(Transkription) [o.O., o.J.]; Abra Aoki/Die/glückseligen/Inseln [o.O., o.J.; Titelseite mit der Zeichnung einer japanischen Frau im Graphic-Novel-Stil]. In verschiedenfarbigen Einbänden in differentem Design präsentiert, werden die fünf Bücher auch unterschiedlichen Textgattungen zugeordnet. Die alphabetisch strukturierte Enzyklopädie aus dem 19. Jahrhundert erweist sich allerdings schnell als eine autobiographische Narration, deren fiktive Protagonistin die Form des lexikographischen Kompendiums für subjektiv-persönliche Notizen nutzt. Die in Kapitel gegliederte Ich-Erzählung eines westlichen Japanreisenden von 2011, die deutsche „Transkription“ des Tonband-Diariums eines japanischen Kindes von 2011, die Tagebuch- und Reisenotizen der Wissenschaftlerin Chantal Blanchard von 2010/2011 erzählen zwar unterschiedliche Geschichten, sind aber durch Namen, Schauplätze und die Jahreszahl 2011 (die der Katastrophe von Fukushima) miteinander verknüpft. Der Band Die glückseligen Inseln spielt in einem teils traumhaft verfremdeten Japan, präsentiert sich aber als Graphic Novel und muss entsprechend japanischer Bucharchitektur von hinten nach vorn durchblättert werden. Der Verknüpfung von Motiven und Schauplätzen zwischen den fünf sehr unterschiedlichen Büchern und Texten entsprechen auf inhaltlicher Ebene Verwandtschaftsbeziehungen, interkulturelle Kontakte und Erfahrungen zwischen Paris und Japan sowie das die Texte trotz ihrer generischen und stilistischen Heterogenität einende Grundkonzept: Alle sind Geschichten von einem Ich. Weiss’ Weltenrand-Projekt ist ein Meta-Roman, insofern er durch die Spannung von Kontrasten und Analogien das Erzählen vom Ich in seiner generischen Variationsbreite selbst zum Thema macht. Die Kassette ist ein Meta-Buch-Objekt, insofern sie den Zusammenhang unterschiedlicher Erzählgenres und unterschiedlicher Modi der Buchgestaltung sinnfällig macht. Hier geht es ja nicht etwa darum (was durchaus üblich ist), einen besonders umfangreichen Roman auf fünf Bände zu verteilen und diese zusammen in eine Kassette zu stecken. Es geht um fünf selbständige Teilromane, deren Selbständigkeit Aufmachung und Ausstattung der jeweiligen Bücher signalisieren.  





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1034

Epilog

Weiss’ Roman in Form von fünf Kodices bestätigt nachdrücklich, dass sich seit den Experimenten Laurence Sternes die Vorstellungen davon, was ein Roman ist (oder sein kann), vor allem dann immer wieder kreativ entfaltet und modifiziert haben, wenn das Buch selbst, sein Körper und seine Architektur, als Gestaltungsobjekte entdeckt und kreativ genutzt wurden. Autoren der 1960er Jahre und der Folgejahrzehnte haben verschiedene Werke vorgelegt, bei denen lose Teile (einzelne Zeilen, Blätter, Zettel, Kapitel, Textabschnitte, Hefte) durch eine Schachtel, eine Tasche oder durch einen zur Kombinatorik einladenden Kodex zusammengehalten wurden; diese die Kodexform modifizierenden Objekte überlassen es den Nutzern, die jeweils physisch unverbundenen Teile zusammenzulesen. Weiss bietet in Modifikation des Grundeinfalls fünf einzelne Bücher in einer Schachtel, deren Zusammenhänge vom Leser allererst entdeckt bzw. hergestellt werden müssen, die sich prinzipiell aber in verschiedener Reihenfolge lesen lassen und Raum für Spekulationen bieten. Die auf den ersten Blick irreführende Gestaltung des fünfteiligen Romans erinnert daran, dass der Roman (qua Gattung) stets durch seinen Formenreichtum charakterisiert war – und dass am Spiel mit diesen Formen die Buchgestaltung oft entscheidenden Anteil hatte. Den Hinweis auf diesen Roman verdanke ich Peter Goßens. Dies ist Anlass, ihm und all denjenigen zu danken, von deren Anregungen, Hinweisen, Forschungen und Einsichten das Projekt profitiert hat – den Bochumer Kolleginnen und Kollegen (namentlich Peter Goßens, Stephanie Heimgartner, Simone Sauer-Kretschmer), dem Bochumer DFG-Mitarbeiterteam (Christian Bachmann, Viola Hildebrand-Schat, Pia Honikel, Maria Schubarth), meinem Bochumer Arbeitsteam (namentlich Rebecca Graß und Max Grothus) sowie anderen, hier nicht explizit Genannten, die Bücher lesen, schätzen, an ihrer Produktion mitwirken – und bei der Arbeit an diesem Buch unverzichtbare Hilfe geleistet haben. MSE  





Abbildungsverzeichnis Teil A: Abb. A 1: Abb. A 2:

Abb. A 3: Abb. A 4: Abb. A 5: Abb. A 6: Abb. A 7: Abb. A 8: Abb. A 9: Abb. A 10: Abb. A 11: Abb. A 12: Abb. A 13:

Eugen Gomringer: schweigen. In: ders. [Hg.]: konkrete poesie, Stuttgart: Reclam, 1972, S. 58. Raymond Queneau: 100.000 Milliarden Gedichte, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1984 (Orig.: Cent mille milliards des poèmes, Paris: Gallimard, 1961); Foto: Rebecca Graß/Max Grothus. Bryan Stanley Johnson: Die Unglücksraben, München: Schneekluth, 1993 (Orig.: The Unfortunates, London: Panther Books, 1969); Foto: Rebecca Graß/Max Grothus. Brian Dettmer: Tab (The Boy who knew too much), Buchobjekt, 2005, Detail. Konrad Balder Schäuffelen: Conradi Balderi Paliculae Liber Catenatus Tomus secundus, Buchobjekt, 1970. Jürgen Brodwolf: Poetengrab, Buchobjekt, 1975. Dieter Roth: Hegels Werke in 20 Bänden, Objekt (Bücher, Wursthaut, Gewürze), 1961/1974. Michel Butor: Mobile, Paris: Gallimard, 1962, S. 34–35. Andy Warhol: Index (Book), New York: Random House, 1967; Foto: Katharina Mähler/ Michaela Weber (HAB); © Urheberrechte bei den jeweiligen Rechteinhabern. Bernard Aubertin: Livre brulé et à bruler, Buchobjekt, 1962. Jochen Gerz: Das Buch war weich und flexibel, Buchobjekt, 1969. R. Murray Schafer: Dicamus et Labyrinthos. A Philologist’s Notebook, Bancroft/ Ontario: Arcona, 1984, unpag. Peter Malutzki: Die Stopfnadel, Lahnstein: FlugBlatt-Presse, 1985; Foto: Peter Malutzki; © Malutzki, mit freundlicher Reproduktionsgenehmigung des Künstlers.

Teil B: Abb. B 1:

Abb. B 2: Abb. B 3: Abb. B 4: Abb. B 5: Abb. B 6: Abb. B 7:

Abb. B 8:

Michael Bensman: Akte Nr. 3 – Das Märchen von dem Fischer und dem Fischlein, Moskau/Berlin: MichaelBenzRecyclingPress, 2007, unpag.; Foto: Michael Bensman; © Bensman. Adrian Frutiger: Genesis, Zürich: Castella, Albevue und Flamberg, 1969, unpag.; Foto: Simon Malz; © Frutiger. François Righi: Un livre muet pour Jean Lallemant, Ivoy-le-Pré: Dailleurs-l’image/ Orléans: Tant & Temps, 2005, unpag.; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Righi. Peter Malutzki: Stundenbuch, Flörsheim a. M.: Malutzki, 2010, unpag.; © Malutzki. Luigi Serafini: Codex Seraphinianus, Mailand: Franco Maria Ricci/Rizzoli 1981/2006. Barbara Fahrner/Markus Fahrner: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Frankfurt a. M.: Selbstverlag, 1997–2002, Detail [Faltblatt]. Xenophōntos Peri Hippikēs Logos, Handschrift 14. Jh., Cod. gr. 2244, fol. 74v, Bibliothèque nationale Paris. Vgl. Anne McCabe: Byzantine Encyclopaedia, Oxford/New York 2007, Abbildungsteil unpag. [S. 15]. Conrad Gessner: Von den Hunden und dem Wolff, in: ders.: Allgemeines Thier-Buch, das ist: Eigentliche und lebendige Abbildung aller vierfuessigen [...] Thieren [...], durch

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1036

Abbildungsverzeichnis

den hochberuehmten Herrn Conradum Forerum ins Teutsche uebersetzt [...], Frankfurt a. Main: Serlin, 1670 (online: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/ display/bsb11057950_00005.html (20.02.2017). Regensburg, Staatliche Bibliothek). Carola Willbrand: Das Eckernförder Bestiarium, Köln und Eckernförde: Umtriebpresse 2008, unpag.; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Willbrand. Rosemarie Trockel: Jedes Tier ist eine Künstlerin, Lund: Propexus 1993, unpag.; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Trockel. Leo Lionni: Botanica parallela, Mailand: Adelphi, 1976, S. 172–173. Enn Vetemaa/Kat Menschik: Die Nixen von Estland. Ein Bestimmungsbuch, Frankfurt a. M.: Eichborn, 2002 (Orig.: Eesti näkiliste välimääraja, Talinn: Eesti Ramaat, 1983), S. 52–53. Peter Malutzki: Band „Atlas“, aus: Ines von Ketelhodt/Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Flörsheim a. M./Lahnstein/Oberursel: Ketelhodt/Malutzki 1997–2006, unpag.; Foto: Ines von Ketelhodt; © Ketelhodt/Malutzki. Edmund Kuppel: Atlas (L‘homme du Cantal), Aurillac: Musée d‘Art et d‘Archéologie d’Aurillac, 1991, unpag.; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Kuppel. Nicole Six/Paul Petritsch: Atlas, Wien: Secession 2010, unpag.; Foto: Viola HildebrandSchat; © Petrisch. Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich niemals war und auf denen ich niemals sein werde, Hamburg: Mare-Verlag, 2009; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Mare-Verlag. Barbara Fahrner/Markus Fahrner: Zweite Enzyklopädie von Tlön, 1998–2002, Rückenansicht; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB), © Urheberrechte bei den jeweiligen Rechteinhabern. Ines von Ketelhodt/Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Rückenansicht, Flörsheim a. M./Lahnstein/Oberursel: Ketelhodt/Malutzki, 1997–2006. Robert Schwarz: Della natura di cieli, Mainz: Schwarz, 2002, unpag.; Foto: Simon Malz; © Schwarz. Karin Innerling: Sterntagebücher, Aachen: Leporello-Presse, 1996; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Innerling. Johann Baptist Bergmüller: Der Maaßstab Gottes oder die Berechnung göttlicher Zahlen in der heiligen Schrift, Augsburg: Bergmüller, 1778 (online: http://reader.digitalesammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11203271_00027.html?zoom=0.8000000 000000003 (28.03.2017)). Lachenmeier, Rosa: Planet, Basel: Zeig, 1990; Foto: Simon Malz; © Lachenmeier. Wolfgang Buchta/Thomas Dylan: Unwegsame Gebiete. 54 Kaltnadelgraphiken von Wolfgang Buchta mit einer Erzählung von Dylan Thomas, Wien: Handpresse, 1993. Barbara Fahrner: Flora, Bluama, Sieben, Frankfurt a. M.: Fahrner, 1990; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Fahrner.  

Abb. B 9: Abb. B 10: Abb. B 11: Abb. B 12:





Abb. B 13:

Abb. B 14: Abb. B 15: Abb. B 16:

Abb. B 17:

Abb. B 18: Abb. B 19: Abb. B 20: Abb. B 21:

Abb. B 22: Abb. B 23: Abb. B 24:

Teil C: Abb. C 1:

Abb. C 2:

Jean Paul: Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel (1812), in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 6. Hg. von Norbert Miller, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2000, S. 554–555. Francesco Cangiullo: Caffé-concerto: Alfabeto a sorpresa, Milano: Edizioni futuriste di Poesia, 1919; Foto: Viola Hildebrand-Schat; © Edizioni futuriste di Poesia.

Abbildungsverzeichnis

Abb. C 3: Abb. C 4: Abb. C 5: Abb. C 6: Abb. C 7: Abb. C 8: Abb. C 9: Abb. C 10: Abb. C 11: Abb. C 12:

Abb. C 13: Abb. C 14: Abb. C 15: Abb. C 16: Abb. C 17: Abb. C 18: Abb. C 19:

Abb. C 20:

Abb. C 21: Abb. C 22: Abb. C 23:

Abb. C 24:

Abb. C 25:

Abb. C 26: Abb. C 27:

Abb. C 28:

1037

Ines von Ketelhodt: Alpha Beta, Flörsheim a. M.: Ketelhodt 2017; Foto: Ines von Ketelhodt; © Ketelhodt. Lothar Meggendorfer: Der Internationale Circus, Esslingen: Schreiber, 1887, unpag. Rose Celli/Nathalie Parain: Baba Yaga, Paris: YMCA Press, 1932, S. 24–25. Jean Brunhoff: Histoire de Babar le petit éléphant, Paris: Editions du Jardin des Modes, 1931, S. 8–9. Tom Seidmann-Freud: Das Wunderhaus. Ein Bilderbuch zum Drehen, Bewegen und Verwandeln, Berlin: Herbert Stuffer, 1927, unpag. Hilde Krüger: Der Widiwondelwald, Berlin: J. H. W. Dietz, 1924, unpag. Käte Steinitz: Billy, Frankfurt a. M.: Insel, 2007, S. 4f. Bruno Munari: Nella nebbia di Milano, Mailand: Emme, 1968, unpag. Iela Mari: Il palloncino rosso. Mailand: Emme, 1967. Leo Lionni: Das kleine Blau und das kleine Gelb. Erzählt und gezeichnet von Leo Lionni für Pippo, Ann und andere Kinder, Hamburg: Oetinger, 1973 (Orig.: Little Blue and Little Yellow, New York: Obollensky, 1959), unpag. Warja Lavater: Le petit chaperon rouge, Paris: Maeght, 1965, unpag. John Scieszka/Lane Smith: The Stinky Cheese Man (and Other Fairly Stupid Tales), London/New York: Viking, 1992, unpag. Txabi Arnal/Hassan Amekan: Caja de carton, Pontevedra: OQO, 2010, unpag. Olivier Douzou/Candice Hayat: schproutz, Rodez: Ed. du Rouergue, 2000, unpag. Friedrich Karl Waechter: Der rote Wolf, Zürich: Diogenes, 1998, S. 52–53; © Waechter. Heinz Janisch/Aljoscha Blau: Rote Wangen, Berlin: Aufbau, 2005, S. 30–31; © Janisch/ Blau. Eric Carle: Die kleine Maus sucht einen Freund, Gütersloh: Stalling, 1971 (Orig.: Do You Want to Be My Friend? New York: HarperCollins Publishers, 1971), S. 21–23; Foto: Christiane Solte-Gresser; © Carle. Anne Maar/Antje Damm: Käfers Reise, Zürich: Verlag Pro Juventute, 2000, S. 10–11; – links unten: Michaël Leblond/Frédérique Bertrand: New York en Pyjamarama, London: Phoenix Yard Books, 2012, S. 4–5; – rechts: Maurice Sendak: In the Night Kitchen, New York: Harper & Row, 1970, S. 8. Wolf Erlbruch: Nachts, dt. Übers. vom Autor, Wuppertal: Hammer Verlag, 1999 (Orig.: ’s Nachts, Amsterdam: Querido, 1999), S. 14–15; © Erlbruch. Quentin Blake: Cockatoes, London: Red Fox Books, 1992, S. 24–25; Foto: Christiane Solte-Gresser; © Blake. Isabel Minhós Martins/Bernardo P. Carvalho: Hier kommt keiner durch!, Übers. von Franziska Hauffe, Stuttgart: Klett, 2016 (Orig.: Daqui ninguém passa! Lissabon 2014), S. 16–17; © Martins/Carvalho. Frank Viva: Eine lange Straße lang, mit sechs Meter langem Wandplakat, Übers. von Kati Hertzsch, Zürich: Diogenes, 2014 (Orig.: Along a long road, New York/Boston: Little, Brown and Company, 2011), links: Cover; rechts oben: vorderer Vorsatz; rechts unten: S. 32–33; © Viva. Emily Gravett: Wolves, New York: Simon & Schuster Books for Young Readers, 2006 (dt.: Achtung Wolf!, Übers. von Uwe Michael Gutzschhahn, Düsseldorf: Fischer Sauerländer, 2006), S. 28–29, 31, 34–35. Bruce Koscielniak/Helme Heine: Hektor und Prudenzia. Stuttgart, 1990, S. 10. Oben: Roberto Innocenti/Christophe Gallaz: Rosa Bianca, Mailand: La Margherita edizioni, 2005, S. 1, 28–29 – unten: Ruth Van der Zee/Roberto Innocenti: La Storia di Erika, Mailand: La Margherita edizioni, 2003, S. 17, 20–21. Quint Buchholz: Im Land der Bücher, München: Hanser, 2013, S. 30–31, 38–39 und 55.  

1038

Abb. C 29: Abb. C.30: Abb. C.31: Abb. C 32: Abb. C 33:

Abbildungsverzeichnis

Ida Applebroog: Look at me. A performance, o. O.: Applebroog, 1979 (aus der Reihe: Dyspepsia Works); Foto: Viola Hildebrand-Schat © Applebroog. Ernst Penzoldt: Die Reise ins Bücherland und andere Märchen (1942), Frankfurt a. M.: Insel-Verlag, 1988, S. 29. Cornelia Funke: Tintenherz. Hamburg: Cecilie Dressler, 2003, Cover. Cornelia Funke: Tintenherz. Hamburg: Cecilie Dressler 2003, Innentitel. Aka Morchiladze: Santa Esperanza, Übers. von Natia Mikeladze-Bachsoliani, München/Zürich: Pendo, 2006 (Orig.: Santa Esperanza, Tiflis: Sulakauri, 2004); Foto: Rebecca Graß/Max Grothus.

Teil D: Abb. D 1:

Abb. D 2: Abb. D 3: Abb. D 4:

Ines von Ketelhodt: Band „Tlön“, aus: Ines v. Ketelhodt/Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Flörsheim a. M./Lahnstein/Oberursel: Ketelhodt/Malutzki 1997–2006, unpag.; © Ketelhodt/Malutzki. Paul Éluard: Les plus belles cartes postales (1933), in: Prochaska, David/Mendelson, Jordana: Postcards. Pennsylvania: Pennsylvania State University Press, 2010. StineStregen [Stine Spedsbjerg]: kærestesorg. postkortdigte, Kopenhagen: Cobolt, 2016. Keri Smith: Everything is Connected. Reimagining the World one Postcard at a Time, London: Particular, 2013.

Teil E 1: Abb. E 1/1:

Abb. E 1/2: Abb. E 1/3: Abb. E 1/4: Abb. E 1/5: Abb. E 1/6:

Abb. E 1/7: Abb. E 1/8: Abb. E 1/9: Abb. E 1/10: Abb. E 1/11:

Dinah Nelken/Rolf Gero: Ich an Dich. Ein Roman in Briefen mit einer Geschichte und ihrer Moral für Liebende und solche, die es werden wollen, Berlin: Gustav Weise Verlag, 1939, unpag; Foto: Rebecca Graß/Max Grothus. William Gass: Willie Master’s Lonesome Wife. Evanston: Northwestern University Press, 1968, unpag. Ferdinand Kriwet: Stars. Lexikon in 3 Bänden, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1971; Band 2: I–Q, unpag. Jochen Gerz: Annoncenteil. Arbeiten auf/mit Papier, Neuwied/Berlin: Hermann Luchterhand Verlag, 1971, unpag. Raymond Federman: Double or Nothing, Chicago: Swallow Press, 1971, unpag. Nick Bantock: Sabines Notebook: In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin and Sabine Continues. San Francisco/Vancouver: Chronicle Books, 1992, unpag. Ronit Matalon: Was die Bilder nicht erzählen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998 (Orig.: Seh im hapanim eleinu, Tel Aviv, 1995), S. 300f. Mark Z. Danielewski: House of Leaves, New York: Pantheon Books, 2000, S. 168–169. Umberto Eco: La misteriosa fiamma della regina Loana. Romanzo illustrato, Mailand: Bompiani, 2004, S. 422f. Salvador Plascencia: The People of Paper, London: Mariner Books, 2006 (zuerst San Francisco: McSweeney’s Books, 1998), S. 188f. Jonathan Safran Foer: Extremely Loud and Incredibly Close, New York: Houghton Mifflin, 2005, S. 260f.

Abbildungsverzeichnis

Abb. E 1/12: Abb. E 1/13:

Abb. E 1/14: Abb. E 1/15: Abb. E 1/16: Abb. E 1/17:

1039

Reinhard Jirgl: Die Stille, München: Hanser, 2009, S. 98–99. Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck, Berlin: Berlin Verlag, 2010 (Orig.: Important Artefacts and Personal Property from the Collection of Leonore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry, London u. a.: Bloomsbury Publishing, 2009), S. 66–67. Jonathan Safran Foer: Tree of Codes, London: Visual Editions, 2010, S. 105–106; Foto: Rebecca Graß/Max Grothus. Reif Larsen: The Selected Works of T. S. Spivet, New York: Penguin Press, 2009, S. 132–133. J.[effrey] J.[acob] Abrams/Doug Dorst: Ship of Theseus, New York: Mulholland Books, 2013; Foto: Rebecca Graß/Max Grothus. Mark Z. Danielewski: The Familiar, Bd. 1–4, Bd. 4: „Hades“, New York: Pantheon Books, 2017, S. 36–37.

Teil E 2: Abb. E 2/1: Abb. E 2/2: Abb: E 2/3: Abb. E 2/4: Abb. E 2/5: Abb. E 2/6: Abb. E 2/7: Abb. E 2/8:

Abb. E 2/9:

Abb. E 2/10:

Abb. E 2/11: Abb. E 2/12:

Abb. E 2/13:

Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben, Wien: Wiener Werkstätte, 1908, unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Pierre Reverdy/Pablo Picasso: Le Chant des Morts, Paris: Tériade, 1948, S. 28f., Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Pierre Lecuire/Etienne Hajdu: Règnes, Paris: Lecuire, 1961, unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Pierre Lecuire/Etienne Hajdu: Règnes, Paris: Lecuire, 1961, unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Walasse Ting u. a.: 1 ¢ life, „Reproduction after Callot“, Bern: Kornfeld, 1964, S. 12f., Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Walasse Ting: 1 ¢ life, Bern: Kornfeld, 1964, S. 49f., Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Walasse Ting/Mel Ramos: 1 ¢ life, Bern: Kornfeld, 1964, S. 158f., Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Jim Dine: The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde, London: Petersburg Press, 1968, unpag.; Foto: Katharina Mähler/ Michaela Weber (HAB). Jim Dine: The Picture of Dorian Gray: A working script for the stage from the novel by Oscar Wilde, London: Petersburg Press, 1968, unpag.; Foto: Katharina Mähler/ Michaela Weber (HAB). David Hockney: Six Fairytales from the Brothers Grimm, Rumplestiltskin, London: Petersburg Press, 1970, unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). © Urheberrechte bei den jeweiligen Rechteinhabern. David Hockney: Six Fairytales from the Brothers Grimm, Rumplestiltskin, London: Petersburg Press, 1970, unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Alain Robbe-Grillet/Robert Rauschenberg: Traces suspectes en surface…, West Islip, N.Y.: Universal Limited Art Editions, 1978., unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB). Paul Celan/Mischa Kuball: Todesfuge, New York/Düsseldorf: Kaldewey, 1984, unpag.; Foto: Katharina Mähler/Michaela Weber (HAB).

1040

Abb. E 2/14: Abb. E 2/15: Abb. E 2/16: Abb. E 2/17: Abb. E 2/18: Abb. E 2/19: Abb. E 2/20: Abb. E 2/21: Abb. E 2/22: Abb. E 2/23:

Abb. E 2/24:

Abb. E 2/25:

Abb. E 2/26: Abb. E 2/27:

Abb. E 2/28:

Abbildungsverzeichnis

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Verfasserverzeichnis CB Dr. Christian A. Bachmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschergruppe „Journalliteratur. Formatbedingungen, visuelles Design, Rezeptionskulturen“ (Bochum, Marburg, Köln). Seine Forschungsschwerpunkte sind Materialität und Medialität der Literatur, graphische Narration, visuelle Satire und Buchästhetik. Seit 2008 ist er Inhaber des Ch. A. Bachmann Verlags für Literatur- und Kulturwissenschaft. CP Carola Pohlmann ist Leiterin der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die historische Kinder- und Jugendliteratur des 18.20. Jahrhunderts und die Sachliteratur für Kinder- und Jugendliche.  



CR Prof. Dr. Caroline Roeder ist Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und Leiterin des Zentrums für Literaturdidaktik – Kinder Jugend Medien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendliteratur und Medien sowie Literatur erinnerter Kindheit(en), DDR- und Gegenwartsliteratur sowie intermediale Fragestellungen und Topographieforschung.  

CSG Prof. Dr. Christiane Solte-Gresser ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind ästhetische Gestaltung von Alltäglichkeit, literarische Traumdarstellungen, Literatur der Shoah, deutschsprachige, französische und italienische Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur und Wissenspoetik sowie intermediale Studien.  

MSch Maria Schubarth, M. A. ist Doktorandin bei Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans und arbeitet im Bereich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft zu „Text und Bild im Dialog. Paul Celans und Gisèle Celan-Lestranges bibliophile Editionen im Kontext der französischen Malerbuchtradition“. Sie ist Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes.  

MSE Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur des 18.-21. Jahrhunderts; Literaturtheorie und Poetik; poetische Sprachreflexion, Text-Bild-Beziehungen; Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie; Beziehungen zwischen Literatur und anderen Künsten; „Buch-Literatur“ und Buchästhetik.  

NM Nina Mößle, M.A. ist Doktorandin der Kunstgeschichte bei Prof. Dr. Christine Tauber, LMU München und arbeitet zum Thema „Künstlerbücher mit Literaturbezug. Der Text als künstlerisches Material“. Ihr wissenschaftliches Volontariat absolvierte sie am Klingspor Museum in Offenbach am Main. PH Pia Honikel, M. A. studierte Komparatistik und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment: Die Literatur und das Buch (Literatur und Künstlerbuch – Spielformen der Buchliteratur)“.  



https://doi.org/10.1515/9783110528299-027

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Verfasserverzeichnis

SH Dr. Stephanie Heimgartner ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Komparatistik der Ruhr-Universität Bochum. Gemeinsam mit Monika Schmitz-Emans veröffentlichte sie 2017 den Sammelband „Komparatistische Perspektiven auf Dantes Divina Commedia. Lektüren, Transformationen und Visualisierungen“ (Berlin: de Gryuter). Zwischen 1999 und 2009 arbeitete sie als Lektorin und später als Programmleiterin für Kinderbücher im SCM Verlag. Ihre Forschungsinteressen sind außerdem Beziehungen zwischen italienischer und deutscher Literatur, Geschichte und Theorie der Lyrik, Inszenierungen von Weiblichkeit sowie „neue Weltliteratur“ der afrikanischen Diaspora. SSK Dr. Simone Sauer-Kretschmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Promoviert hat sie mit einer komparatistischen Arbeit über literarische Bordelle als Grenzräume in der deutschen und französischen Literatur. Sie forscht zu literarischen und medialen Darstellungen von Schwangerschaft und Geburt sowie zu Text-Bild-Beziehungen von Postkarten und Literatur. VHS PD Dr. Viola Hildebrand-Schat ist Kunsthistorikerin. Sie lehrt an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und der Staatlichen Moskauer Lomonosov Universität. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der modernen und zeitgenössischen Kunst und beim Text-Bild-Verhältnis. Zu ihren Publikationen zählen u. a. „Literarische Aneignung und künstlerische Transformation. Zur Literaturrezeption im Werk von Marcel Broodthaers“ (2012), „Die Kunst schlägt zu Buche. Das Künstlerbuch als Grenzphänomen“ (2013) und „Kunst verbucht. Handschriften und frühe Drucke als Quellen der Inspiration für das Künstlerbuch“ (2015).  

Sachverzeichnis ABC (siehe auch: Alphabet, alphabetisch) 162, 164, 172, 182, 244–245, 375, 416, 423–424, 426–427, 430, 432, 435, 437, 441–451, 453–455, 459, 654, 739, 741 ABC-Buch 423–424, 426–428, 431–436, 439, 441–451, 654, 739, 741 Abecedarium 159, 351, 375, 424, 432, 435, 453–456 Album (siehe auch: Familienalbum, Fotoalbum, Poesiealbum, Sammelalbum) 132, 178, 189–190, 318, 334, 437, 468, 470, 550, 549–553, 555–561, 566, 572, 582, 584–585, 559, 604–605, 609, 662–664, 667, 719, 749, 760, 788, 803–804, 836–837, 842–844, 885, 900, 922, 965, 971 Allegorie, allegorisch 21, 93, 98, 101, 137, 184, 186, 189, 307, 315, 319, 321–322, 327, 344, 377, 380, 435, 466, 759–760, 817, 871, 908 Alphabet, alphabetisch (siehe auch: ABC) 57–59, 61, 64, 93–94, 110, 113, 135, 159, 175, 192, 193, 202, 215, 246, 255, 264, 269, 285, 337, 351–356, 358, 362–363, 367, 375, 388, 392, 408–409, 416, 420, 423–424, 427, 430–433, 435–438, 441–450, 453–457, 556, 558, 569–570, 572–573, 627, 654, 672, 682, 687, 689–690, 709, 723–725, 733, 739, 741, 758, 762, 764, 772, 792, 794, 835, 838, 920, 932, 983, 1029 Andachtsbuch 88, 221, 261, 266, 269–270, 279, 459 Apokalypse, apokalyptisch 102–103, 194, 226–227, 229, 231–232, 238–240, 403, 520, 647, 865 Appendix 545, 668, 670, 672, 785 Appropriation 142–143, 208–210, 217, 589, 630, 646 Ars moriendi (siehe auch: Sterbebuch, Sterbeliteratur) 240, 243–247, 249–253 Art brut 515 Arts & Crafts 230, 587, 619, 640, 882 Assemblage 134–135, 137–138, 603, 720, 959 Astrologie, astrologisch 375–376, 379–380, 382–383, 385, 390, 397 Astronomie, astronomisch 94, 330–331, 367, 375–377, 378–385, 386–391, 393–394, 397–399, 563, 790, 909, 911–914 https://doi.org/10.1515/9783110528299-028

Atlas 4, 133, 178–179, 192, 260, 303, 330–350, 363, 369, 377–379, 384, 404, 412, 530, 563, 573, 634, 1008 Autobiografie, autobiografisch 48, 71, 98, 125, 134, 183–185, 194–195, 288, 294–295, 297, 355–356, 359, 433, 541, 551, 553, 556, 558, 632, 654, 667, 681, 686, 687–688, 713, 735, 737, 742, 746, 750, 802, 812, 820, 835, 848–849, 860, 974, 1012, 1021, 1028 Autonomieästhetik, autonomieästhetisch 12–13, 23, 534 Bestiarium (siehe auch: Tierbuch) 95, 303–307, 309, 313–318, 319–324, 327–329, 344, 437, 731 Beutelbuch 91, 669, 701 Bewegungsbuch 197, 199, 202, 426, 460, 476, 487, 503, 532, 561–567, 575, 579, 593, 652–653, 655, 694, 696, 872 Bibel, biblisch (siehe auch: Heiliges Buch, Heilige Schrift) 19–22, 59, 65, 80, 88, 97, 153, 221, 225–234, 236–238, 240, 244, 247–248, 253, 256–257, 267–268, 305, 321, 351, 393, 395–397, 398, 401, 415, 459, 487, 514, 884, 939, 1001–1002, 1029 Bildalphabet 159, 172, 428, 430–431, 709 Bilderbuch 79, 162–164, 173, 182, 184, 186, 190, 323, 326, 359, 424, 426, 441, 433–444, 446–449, 454, 459–466, 468–474, 476, 478–479, 481–484, 487–489, 491–501, 503–507, 509, 514–516, 518, 522–523–524, 526, 530–532, 557, 575, 599, 654, 696, 744, 783 Bilderschrift 164, 173, 298, 428, 709 Blockbuch 225–226, 245, 252, 450, 921 Box (siehe auch: Schachtel) 71, 208, 513, 542, 558, 582–583, 648, 698, 703–705, 863, 871–872, 922, 969, 991 Brief 67, 98, 147, 194, 208, 247, 251, 289, 294–295, 318, 361, 412, 436, 462, 503–504, 550, 552, 559–560, 595, 627, 664, 667, 673, 748–750, 762, 771, 781–782, 800–801, 812–814, 836, 846, 866, 871, 923, 975, 1005, 1029 Briefroman 294–295, 748, 800–801

1102

Sachverzeichnis

Buch der Natur 93, 95–97, 305, 307, 321, 408, 423, 647, 787 Bücherverbrennung 129, 135, 529 Buch-Kasten 699–700, 702, 705, 871 Buchmalerei 34, 63, 233, 270, 429–430, 894–895, 912 Buchmarkt 8–9, 463, 481, 521, 531–532 Buchmechanik, buchmechanisch 564, 584, 696, 975 Buchobjekt 5–6, 11–12, 15–17, 27, 29–32, 54–55, 68, 82, 90, 95–97, 99–105, 119, 121–123, 126, 128–132, 134, 136–138, 149, 152, 154–155, 224, 280, 287, 289, 345, 387, 401, 592, 615–618, 620, 633–634, 639, 644, 646–650, 690, 692, 701, 705, 715, 724, 979 Buchplastiken 54, 90, 121 Buchrolle (siehe auch: Rotulus, Schriftrolle) 71, 90–91, 107, 699, 750 Buch-Skulptur 99, 135, 149, 224, 345, 644, 652, 691, 851, 853, 1016, 1018 Buchstabenbilder 64, 75, 159, 172, 427–431, 446, 455, 902 Bühne (siehe auch: Theater, theatral) 198, 206, 426, 479, 503, 683, 693–698, 769, 778, 794, 881, 893, 903, 905, 907, 926–928, 932, 972, 988 Chronik 54, 222, 245, 260, 288, 392, 395–399, 418, 826 Comic, Comicbuch 3, 231–232, 370, 461, 482–483, 499, 522, 530, 540, 546, 574–586, 634, 787, 821, 828, 876, 926, 965 Computer 53, 89, 212, 291, 326, 360, 369, 461, 591, 596, 644, 716, 756–758, 793, 828, 876 Cut-up-Technik, Cut-up-Verfahren 26–27, 924 Dactylothek 700 Dadaismus, dadaistisch 14, 32, 431, 612, 662, 664, 668, 710, 746, 891 Daumenkino (siehe auch: Flip Book) 75, 152, 371, 425, 566, 601, 607, 627–628, 651, 692, 794, 796–797, 966, 985 Diagramm, diagrammatisch 49, 56, 61, 159, 169–170, 173, 175–176, 205, 212, 295, 307, 319, 326, 330, 336, 342, 350, 360, 379–380, 382–383, 394, 399, 564, 573, 686, 739, 798, 828

Diarium, diaristisch (siehe auch: Tagebuch) 28, 54, 105, 115, 138, 174, 195, 272–274, 289, 551, 553, 556, 747, 771, 781 Dictionary, Dictionnaire, diktionaristisch (siehe auch: Wörterbuch) 353, 355, 361, 364–365, 367, 388, 684–685, 688–689 Dissolving pictures 565 Documenta 6 12, 17, 28, 90, 103, 119, 122, 126–128, 130–131, 613, 616, 642 E-Book 209, 212, 217, 483, 487 Emblem, Emblembuch 24, 173, 241, 248–249, 257, 262, 306, 327, 344, 439, 517, 546, 564, 587, 980 Enzyklopädie, enzyklopädisch, Encyclopédie, Encyclopedia 10, 54–55, 96, 99, 105, 149, 163, 175, 177–178, 192–193, 260, 300–305, 311, 313, 318, 335–336, 344, 351–353, 355–360, 362–375, 380, 385, 388, 391, 394, 397, 399, 424, 433, 437, 551–554, 557–558, 568, 571–574, 628, 634, 677, 682, 684, 721–723, 764, 790–793, 839, 841 Erinnerungsbuch 28, 98, 290, 654, 688, 807, 848–849 Expressionismus, expressionistisch 229, 232, 277, 337, 373, 443, 515, 882, 915, 961, 1014, 1021 Familienalbum 28, 54, 177, 553–554, 558–559, 804, 843 Fibel 46, 162–164, 424, 426, 430, 432–434, 441–443, 445, 451, 453, 459, 594, 601–602, 739–741, 1023–1026 Flip Book (siehe auch: Daumenkino) 566, 651, 966, 970, 985 Florilegium 410, 413, 415–416, 420 Fluxus 26–27, 39, 157, 368, 513, 536–537, 589, 612, 662, 668, 703–704 Foto-Text, literarischer Fototext 48, 598, 602, 604–606, 787 Fotoalbum 93, 132, 550–551, 553–554, 557–559, 803–804, 843–844, 875, 965 Funerarbuch 617 Fußnote, Fußnotenroman 61, 73, 108, 113, 116, 294, 301, 342, 667–669, 672–681, 755, 760, 791, 809, 812–815, 841, 963 Futurismus, futuristisch 3, 14, 326, 431, 465–466, 471, 475, 479, 619, 668, 709–710, 746

Sachverzeichnis

Gebetbuch 257, 261, 266–267 Geheimschrift (siehe auch: Kryptografie) 167, 203, 386, 913 Graphic Novel 277, 522, 532, 546, 576–578, 581, 714, 1033 Graphismus 164–165, 170 Happening 27, 39, 287, 612, 634, 668, 771 Harlekinade 566 Heiliges Buch, Heilige Schrift (siehe auch: Bibel, biblisch) 22, 86, 92, 95, 102, 203, 207, 221, 226, 228, 229, 399–400, 429, 568, 593, 854 Herbarium (siehe auch: Kräuterbuch; Pflanzenbuch) 407, 412, 414, 419–420, 557, 612 Hörbuch, Hörspiel 461, 702–703, 926 Hypertext 74, 139, 142–143, 258, 351, 359, 731, 923 Illuminated printing 19–20 Impressionistisch 229 Index 59, 91, 108, 119, 126, 153, 156, 274, 300, 330, 450, 517, 533, 545, 551, 564, 566, 603, 762, 680, 804 Initiale 22, 55–56, 64, 172, 254, 261, 267, 270, 307, 423, 428–431, 435–436, 453, 456, 528, 690, 709, 753, 838–839, 849, 864, 892, 920, 944, 967 Installation 213, 279, 559, 603, 614, 644, 721, 726, 747, 986 Intermedia, intermedial 50, 459–460, 462, 483, 491, 506, 771, 951 Jugendliteratur 425, 445, 462, 521–523, 526–527, 529 Jugendstil 229–230, 443 Kalender, kalendarisch 161, 246, 249, 266–267, 269, 270, 272, 280–281, 284–286, 288, 376–377, 379–382, 385–286, 289, 376–377, 384, 390, 400, 629, 634 Karteikarte, Karteikasten 92, 361, 702 Kartografie, kartografisch 260, 331, 334–337, 340, 342, 344–345, 347–348, 350, 372–373, 390, 701, 855, 873 Ketten 29, 100, 129, 615 Kettenbuch 29, 91, 129, 610, 615 Kinderbuch 54, 153, 162–164, 202, 304, 328, 425–426, 434, 442–446, 448, 450,

1103

453–454, 459, 464–465, 467, 476, 478, 481, 496, 506, 511–518, 530, 563–565, 581, 651, 654, 698, 872, 882 Kinderliteratur 441, 446, 466, 471, 475, 519, 522–523, 526, 529–530 Klebealbum 54, 189, 551 Kombination, Kombinatorik, kombinatorisch 21, 25–27, 52, 57, 61, 63, 67–69, 72, 77, 92, 104, 133, 151, 153, 197, 202, 207, 211, 328, 341, 352, 369, 411, 448, 450, 454, 473, 477–478, 485, 489, 491, 499, 516, 534–535, 538, 541, 550, 598, 604–605, 661, 686, 729–730, 741, 746, 756–759, 772, 779–781, 808, 818–819, 827, 837, 854, 888, 890–891, 908–909, 913, 915, 940, 953, 961, 975, 978, 995, 1023, 1026 Konkrete Poesie 27, 35–36, 50, 63, 73, 79–80, 174, 206, 215, 278, 570, 588–589, 622–623, 625–626, 628, 635, 706–711, 730, 763, 772, 779, 975, 977–978 Konstruktivismus, konstruktivistisch 114, 465–466, 472, 514–515 Konzeptkunst 34, 38, 40, 232, 373, 588–589, 612, 619, 639, 642, 869, 952 Kosmografie, kosmografisch 330–331, 390–391, 393–394, 398, 400–401, 403, 426, 651 Kosmologie, kosmologisch 19, 94, 376, 390–392, 395, 397, 399–401, 403–404, 790 Kräuterbuch (siehe auch: Herbarium; Pflanzenbuch) 406–409, 411, 414, 416–417, 419 Kryptografie, kryptografisch (siehe auch: Geheimschrift) 75, 159, 167, 174, 298–301, 357, 570, 785, 790–791 Kunstkammer 720–721 Labyrinth, labyrinthisch 57, 109, 148, 173–174, 373, 520, 526, 543–544, 568–570, 679, 776, 785, 809–811, 813–815, 837, 863–868 Lebensbuch 96–98, 182, 288, 742, 778 Lehrbuch 88, 178, 201, 324, 344, 370, 378–379, 424–425, 441, 443, 608–609, 786, 1025 Leporello 36, 80–82, 91–92, 97, 114, 253, 369, 375, 389, 402, 412, 425, 466, 468, 480–481, 487, 489, 497, 503, 512, 546, 577–578, 591, 628–635, 661, 705, 903–905, 907–908, 989–990, 1018–1019 Lesebuch 163–164, 182, 425–426, 432, 442, 445, 523, 608

1104

Sachverzeichnis

Lettristik, Lettrismus, lettristisch 159, 174–176, 430–431, 582, 710 Lexikografie, lexikografisch 192–193, 352–357, 360–361, 688 Lexikon, lexikalisch 25, 66, 73, 87, 177–178, 192–193, 303, 351–356, 358–364, 367, 369, 424, 438, 456, 545, 616, 674, 682, 684, 686–687, 841, 686–689, 692, 723, 730–731, 763–765 Lexikonroman 25, 353–354, 356, 545 Liberatur 42, 52–53, 645 linguistic turn 31, 683 Liste 97, 108, 110, 113, 214, 274, 285, 350, 447, 544, 560, 564, 570, 629–631, 633, 678, 682, 686, 690, 715, 724–726, 747, 762–764, 792–794, 813, 826, 868, 1029 livre de peintre (siehe auch: Malerbuch) 14, 641, 879, 900, 923 Loseblattsammlung 26, 36, 72, 91, 577, 583, 922 Mail Art 621, 645, 662, 664, 668, 770 Malerbuch (siehe auch: livre de peintre) 16–17, 34, 54, 206, 230–231, 304, 516, 587, 619–620, 639, 641–642, 643, 879–880, 900, 923, 1013–1014 Mehrfachband, Mehrfacheinbände 583, 701 Metabuch 112–114, 117, 285–286, 321, 324, 362, 601, 611, 646, 724, 791, 861 Metalepse, metaleptisch 504–505, 509, 532 Metatext, metatextuell 59, 141, 147, 519, 623, 672, 676 Minimalismus, minimalistisch 337–338, 381, 418, 515 mise en abyme 64, 484, 489, 504, 526, 530–532, 561, 573, 592, 738, 856 Mise-en-page 964 Montage 173, 190, 194–195, 314, 469, 570, 631, 754, 758, 792, 803, 908, 980, 1027 Museum 42, 67, 320, 344, 372–373, 408, 412, 455, 512, 550, 556–557, 582, 617, 621, 638–639, 641–642, 647, 662, 673, 694, 699, 700–701, 705, 715–722, 741, 747, 802, 826, 890, 892, 897, 903, 905, 909, 914, 918, 941, 955, 979, 989, 991–992, 998, 1000–1001, 1008, 1012, 1016, 1018, 1020, 1023 Naturkundebuch 313–314, 316, 319–321, 327–328

Neue Sachlichkeit 443 Notebook 147, 289, 295, 298–299, 595, 667, 800 Notizbuch, Notizheft 4, 28, 54, 93, 117, 147, 157, 159, 169, 173–174, 222, 288, 290, 297–300, 595–597, 605, 608–609, 613, 719, 730–731, 846, 856, 859–862, 874 Objektbuch 29, 616, 639, 644 Offenes Kunstwerk 24, 26, 28, 69 Orakel 564, 781 Orbis pictus, Orbis sensualium pictus 202, 424, 432, 437, 441, 459 Origami 517, 651, 655 OuBaPo 582–583 Oulipo, oulipistisch 26–28, 48, 175, 582, 756 Palimpsest 93, 138–140, 142, 144–145, 147–148, 161, 254, 292, 297, 375, 771, 948, 1014 Paper poetry 658 Papiertheater, Papierbühne 177–178, 185, 195, 198, 575, 655, 658, 661, 693–698, 778, 961 Papiermechanik, papiermechanisch 197, 201, 561–563, 565, 650, 656, 696 Papierobjekt 77, 91, 119, 188, 196, 201–202, 489, 541, 634, 698, 740, 749, 800, 868, 872 Partitur 57, 94, 106, 175, 205, 405, 889, 953 Performance 27, 39, 145, 209, 211, 319, 339, 518, 612, 643, 668, 704 Permutation, permutativ, Permutationstext 27–28, 570, 626–627, 776, 852, 854 Pflanzenbuch (siehe auch: Herbarium; Kräuterbuch) 4, 406–409, 411, 418, 420 Poesiealbum 54, 157, 413, 417–418, 550–552, 750 Pop Art 373, 455, 515, 517, 915, 917, 965 Pop-up, Pop-up-Buch 119, 150, 152, 187–188, 197–199, 437, 449–450, 453, 460, 464, 483, 489, 503, 517, 532, 563, 566–567, 576, 579, 584, 650–661, 694–698 Postkarte 75, 156, 178, 186, 194, 336, 338, 418, 464, 550, 606–607, 629, 632–633, 644, 661–667, 746, 782, 800–801, 807, 846, 866, 868, 915 Pressendruck 12, 40, 230–231, 254, 415–416, 587, 620, 638–640

Sachverzeichnis

Proteusverse 27 Puzzle 460, 535, 538–539, 756 Ready made, ready-made-Ästhetik 368, 664, 761–762, 774 Rezeptionsästhetik, rezeptionsästhetisch 24, 26–28, 49–50, 534, 538, 772, 867 Rotulus (siehe auch: Buchrolle, Schriftrolle) 91, 108, 577–578, 629, 750–751 Sammelalbum 54, 157, 177–178, 550, 612, 663, 750, 965 Schach 196, 536, 539–540, 745, 762, 870–871 Schachtel, Schachtelbuch (siehe auch: Box) 70–71, 201, 208, 537, 541–542, 546, 577, 581, 583, 634, 658, 698, 702–704, 884, 965, 987–988 Schallplatte 91, 119, 153, 550, 644 Schreibmaschine 147, 290, 360, 416, 419, 596, 719, 766, 835, 940 Schreibszene 161, 170–171, 174 Schriftbildlichkeit 18, 27, 160, 168–171, 173–175, 218, 346–348, 360, 362, 560, 760, 814, 829, 872 Schriftrolle (siehe auch: Buchrolle, Rotulus) 88, 102, 301, 487, 752, 791 Schweigen 5, 31–33, 42, 128–132, 204, 211, 215, 279, 340, 543, 613–615, 681, 835, 855 Scrapbook 28, 157, 177–178, 549, 551–552, 557, 603–605, 607, 662, 719, 730, 760, 781, 835–836, 922, 971 Skizzenbuch 169, 643, 663, 847, 859–860, 862 Sonett, Sonettmaschine 26, 28, 30, 69, 77, 79, 81, 142–146, 147, 250, 756, 980 Spiegel-Buch 658 Spielbuch 54, 133, 157, 177, 423–426, 441, 443–444, 446, 449, 460, 468, 484, 487, 489, 503, 533, 563–564, 693, 695, 697 Spielkarte 15, 196, 318, 377, 409, 535–536, 541–542, 544–545, 698, 745, 748, 793, 823, 825–826, 831 Sprachreflexion 31, 623, 683, 767 Sprechblasen 231, 403, 482, 653, 923 Steinbuch 617 Sterbebuch, Sterbeliteratur (siehe auch: Ars moriendi) 241, 243–245, 247, 252–253

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Sternkarte (siehe auch: Kosmografie, kosmografisch) 381 Stundenbuch 4, 12, 50, 62, 153, 221, 246, 257, 259–262, 265–272, 276–287, 289–290, 376, 384–385, 576, 625, 701 Suprematismus, suprematistisch 314, 337, 465–466, 468, 471, 514 Surrealismus, surrealistisch 101, 191, 313–314, 337, 353, 478, 568, 602, 619, 663–664, 668, 746–747, 891–892, 911, 954 Tagebuch (siehe auch: Diarium, Diaristik) 4, 28, 54, 93, 98, 109, 174, 194–195, 273–274, 288–290, 294–295, 297, 299, 386–389, 417, 556, 595–596, 603–606, 609, 731, 781–782, 792, 835–836, 847, 922–923, 957, 989 Taschenbuch 3, 9–11, 45, 89, 91, 138, 141, 232, 61 Theater, theatral (siehe auch: Bühne) 67, 83, 171, 177, 180–181, 183–185, 351, 426, 533, 560, 644, 651, 653–654, 661, 693–698, 718, 720, 779, 831, 904, 906–908, 926, 928, 959, 961–962, 973, 988 Thora 221, 234–235, 256, 569, 699, 853–854 Tierbuch (siehe auch: Bestiarium) 304–305, 307–310, 313–317, 320, 409 Totentanz 240–242, 244–246, 248–253, 918–921, 953 Tunnelbuch 877 Übermalung 24, 29, 96, 127–129, 131, 134, 139, 141, 146, 215, 616, 632, 683, 692, 924 Umrissgedicht 75, 278, 625, 708–709, 710, 775–776 Verwandlungsbuch 441, 443–444, 460, 471, 484, 487, 489 Visualpoesie, visualpoetisch, Visuelle Poesie 16, 54, 63, 73, 75, 79–80, 108, 159, 171, 181, 206, 428, 570, 582, 588–589, 618, 622, 626, 705–711, 730, 745, 760, 775–776, 792, 838, 877, 925 Welttheater 658, 905–908 Wendebuch 79, 711, 713–714, 795, 798, 837 Wissenspoetik, wissenspoetologisch 114, 346, 350

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Sachverzeichnis

Wörterbuch (siehe auch: Dictionary, Dictionnaire, diktionaristisch) 73, 79, 87, 177, 135, 329, 353–355, 364, 375, 436, 438, 441, 541, 545, 556, 608, 618, 681–693, 1029–1030 Xylothek 407, 700–701 Zauberbuch 162, 527, 567, 592–593 Zensur 31, 55, 88, 128–131, 135, 216, 576, 614, 672

Zettelkasten 91–92, 425, 541, 716 Zufall, zufällig 49, 70, 168, 177, 190, 204, 211, 314, 341, 419, 535–537, 539–540, 543, 555, 580, 583, 612, 666, 736, 738, 742, 746–748, 770, 773, 811, 825, 834, 864, 868, 922, 933, 946, 971–7972, 1000, 1016

Personenverzeichnis Abbott, Edwin 175, 197, 828 Abraham a Sancta Clara 248–249 Abrams, J. J. 125, 223, 607, 610, 667, 674, 750, 862–869 Achleitner, Friedrich 628 Achmatova, Anna 82 Adachi, Ryoko 987–988 Adami, Valerio 939–941 Adorno, Theodor W. 9, 124, 170 Alberti, Leon Battista 33, 614 Alberti, Rafael 945–947 Albertus Magnus 307, 310 Albrecht, Roland 719 Alechinski, Pierre 717 Alembert, Jean Baptiste le Rond d’ 352, 364–367, 374 Allemagne, Henry-René d’ 720 Allix, Susan 236–237 Almeida, Helena 97 Altenberg, Peter 662–663 Altenbourg, Gerhard 644 Altman, Nathan 468, 512 Alvesen, Hans 120 Ambrosius 263, 306 Amekan, Hassan 485–486 Andersen, Hans Christian 163, 177, 181–189, 483, 557 Anderson, Holly 966–970 Andryczuk, Hartmut 315, 319, 414–415, 1019–1020 Anselm von Canterbury 243 Apian, Peter 382, 394 Apollinaire, Guillaume 52, 305, 313, 324, 328, 709, 711, 760, 912 Applebroog, Ida 517–518 Aranyi, Rebecca 154 Aratos von Soloi 383 Arcimboldo, Giuseppe 98–99 Ardizzone, Edward 478 Argelander, Friedrich Wilhelm 377–378 Ariost 65 Aristoteles 296, 305, 310, 395, 397, 407, 526, 786 Arnal, Txabi 485–486 Arnoux, Charles Albert d’ 575 Arp, Hans 314, 900 Artmann, H. C. 150 https://doi.org/10.1515/9783110528299-029

Äsop 16, 509 Assibey-Aboagye, Fitnat 371 Assmann, Aleida 86, 161, 170, 222, 519, 522, 636 Assmann, Jan 123–124 Aub, Max 722–723, 753–755 Aubertin, Bernard 121 Audebert, Jean-Baptiste 312–313 Audubon, John James 384 Augustinus 56, 95, 241, 271, 681 Auster, Paul 175, 340 Avignon, Jim 359–360 Ayroles, François 582 Bachelet, Gilles 532 Bachmann, Ingeborg 1015–1017 Bachtin, Michail 270, 430, 671 Bacon, Francis 364–365, 817 Badura, Michael 90, 97, 122, 616 Baensch, Thorsten 417–418 Baldessari, John 634 Balestrini, Nanni 756–759 Balla, Giacomo 475 Balthaus, Fritz 263–264 Baltscheit, Martin 530 Bannatyne-Cugnet, Jo 447 Banner, Fiona 983–986 Bantock, Nick 295, 657, 659–660, 667, 750, 800–803, 864 Barou, Anne 582 Barrett-Browning, Elizabeth 144–146 Barrie, James Matthew 872–873, 875 Barry, Robert 213–214, 639 Barthes, Roland 25, 154, 165–168, 170–171, 208, 264, 292–293, 300, 375, 538, 549, 552, 554–557, 559, 587, 595, 604, 636, 730, 787–789, 808, 995–996 Bartholomäus Anglicus 395 Bartkowiak, Heinz Stefan 620 Bartoli, Cecilia 153 Bašić, Zdenko 199 Bassantin, Jacques 564 Bataille, Marion 437, 453, 654 Baumgarten, Lothar 419–420 Bayer, Johann 377 Bayle, Pierre 365 Bayrle, Thomas 905–908

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Personenverzeichnis

Beaulieu, Derek 174–175 Becker, Jürgen 604 Beckett, Samuel 217, 476, 489, 760, 817, 941–945 Below, Peter 560–561 Bender, Michael 696 Benengeli, Sidi Hamete 594–595 Benjamin, Walter 162–164, 426, 434–435, 445, 554, 561, 719, 1029 Bennequin, Jérémie 211–212 Benni, Stefano 323 Benoit, Pierre-André 426, 651 Bensman, Michael 234–236, 450 Berger, John 859–862 Bergmüller, Johann Baptist 399–400 Berner, Rotraut Susanne 446, 502 Bernhard von Waging 244 Bernhard, Thomas 252, 558 Bertrand, Frédérique 496–497, 500 Bervin, Jen 142–144 Best, Fritz 238–240 Beuys, Joseph 317, 612, 662 Bewick, Thomas 313 Bienewitz, Peter 382 Biermann, Franziska 530 Bitow, Andrej 559 Blackwell, Su 657 Blaeu, Willem Janszoon 331, 336 Blake, Quentin 499 Blake, William 18–23, 52, 79, 141, 233, 990–993 Blanchot, Maurice 35, 199, 217–218, 587 Blank, Irma 98, 167 Blau, Aljoscha 495 Blei, Franz 322 Bloch, Marcus Elieser 312 Blossfeldt, Karl 599 Blumenberg, Hans 94–98, 423, 647 Boccaccio, Giovanni 653, 780, 783 Boccioni, Umberto 710 Bode, Johann Elert 377 Boese, Cornelia 445 Boglione, Riccardo 216 Bök, Christian 175–176 Boltanski, Christian 559, 566, 589, 603, 724 Bonaventura 95 Bonnard, Pierre 16, 879–881 Borges, Jorge Luis 54, 75, 86, 221, 298, 299, 301–302, 303, 323–324, 327, 335, 357, 370,

520, 567–574, 584, 588, 594–595, 597, 672–673, 677–679, 757, 791–792, 809, 813, 817, 839, 864, 868 Botnick, Ken 374–375 Boucher, Jeanne 314 Bourne, Sheila 260, 620 Brahe, Tycho 377, 381–382 Brall, Artur 16, 51, 639, 644, 648 Braque, Georges 641, 897–899 Brecht, Bertolt 601–602, 905, 1022–1026 Brecht, George 263–264, 367–368, 513, 536–537, 589 Bremer, Claus 514, 710–711 Brès, Jean-Pierre 565 Breton, André 337, 602, 730, 746–747 Breydenbach, Bernhard von 399, 409 Brinkmann, Rolf Dieter 189, 194–195, 604, 666, 781–783 Brodwolf, Jürgen 101–102, 617 Broodthaers, Marcel 129, 210–211, 305, 318, 337, 437, 617, 662 Brown, Theodore 652 Browne, Anthony 532 Brucker, Jacob 365 Brueghel, Pieter, der Ältere 568 Bruna, Dick 444 Brunhoff, Jean 470–471, 489 Bry, Johann Theodor de 410 Buchholz, Quint 508–510, 543 Büchler, Pavel 216–217 Büchner, Georg 970–973 Buchta, Wolfgang 401–403 Budde, Nadia 446–447 Buffon, Georges Louis Le Clerc de 311, 313–314, 411 Bühler, Benjamin 323, 329 Bumiller, Matthias 314 Bunyan, John 752 Burgin, Victor 456 Burne-Jones, Edward 22 Burroughs, William S. 27, 817, 924–925 Busch, Wilhelm 443, 575, 616 Buthe, Michael 289 Butor, Michel 63, 78, 107–113, 191, 288, 457, 735, 821, 864 Cahun, Claude 478 Caine, Michael 620 Calmet, Dom 364

Personenverzeichnis

Calvino, Italo 6, 27, 49, 92, 542, 596, 613, 657, 756, 780, 783–784, 793, 832 Camillo, Giulio 720–721 Camnitzer, Luis 32, 123 Campe, Joachim Heinrich 432, 523, 1049 Campos, Augusto de 517, 645 Cangiullo, Francesco 454–455 Čapek, Karel 963–966 Caprianica, Domenico 244 Carle, Eric 446, 488, 495–496, 503 Carrión, Ulises 18, 34, 37–39, 111–112, 620, 644 Carroll, Lewis 52, 177, 196–199, 521, 524, 529, 531, 653, 656, 657, 696–698, 709, 744–746, 759 Carson, Anne 82–83 Carter, David A. 150, 152, 449, 655, 694 Carvalho, Bernardo P. 500–501, 506 Cassirer, Ernst 162, 165, 275–276 Castor, Harriet 199 Celan, Paul 82, 529, 635, 951–955, 1015–1017 Celant, Germano 5, 51, 643–644 Celedon, Matias 76–77 Cellarius, Andreas 377 Celli, Giorgio 324, 329, 468 Celli, Rose 468–469 Cendrars, Blaise 468 Cepl, Gernot 252–253 Cervantes, Miguel de 64–65, 293, 296, 299, 519, 593–595 Chagall, Marc 231 Chambers, Ephraim 365–366 Chamchinov, Serge 620 Chartier, Roger 4, 635–636, 716 Chaucer, Geoffrey 22 Chauvel, Alex 578, 583 Chimani, Léopold 565 Chlebnikov, Velimir 319, 710, 1019–1020 Chmielewska, Iwona 448, 451 Cincera, Jan 97 Claus, Carlfriedrich 975–977 Clavé, Antoni 892–897, 1051 Clemente, Francesco 959–961 Clovio, Giulio 269 Coleridge, Samuel Taylor 65, 659 Colombe, Jean 270 Comenius, Johann Amos 424, 432, 441, 459 Conrad von Butzenbach 413 Conrad, Joseph 964, 983–986 Constantinescu, Ştefan 654

1109

Coppola, Francis Ford 984–985 Corinth, Lovis 229 Corneille, Thomas 365 Cornell, Joseph 703 Cortázar, Julio 52, 537, 793 Cortright, Steven 345 Cotter, Holland 51, 586 Couderc, Paul 217 Cranach, Lucas 226, 228 Crane, Walter 454 Crombie, John 260, 620 Crouch, Nathaniel 564 Crowther, Robert 437, 449, 654 Crumb, Robert 576 Cumon, Louise-Marie 512 Cuniberti, Pirro 323 Curtil, Sophie 513 Curtis, William 411 Cutt, Simon 588 Cvach, Miloš 515–516 Cyprian 241 Cyr, Gabe 154 Dahl, Roald 527 Damiani, Petrus 306 Damm, Antje 479, 496–497 Danielewski, Mark Z. 48, 52, 79, 147, 597, 607, 679, 713, 726, 752, 809–816, 832–834, 837–839, 868, 875–878 Dante Alighieri 16, 52, 64, 91, 140–141, 261, 923, 925, 947–951 Darboven, Hanne 280–281, 283, 287, 437 Darwin, Charles 411 Defoe, Daniel 274, 523 Deharme, Lise 478 Deineko, Olga 467 Deisler, Guillermo 588 Delaunay, Sonia 453–454 Delvaux, Jean 253 Denchfield, Nick 198, 697 Depero, Fortunato 475 Dermisache, Mirtha 167 Derrida, Jacques 114, 168, 587, 681, 814, 982–983 Despalles, Françoise 620, 889, 1013 Dettmer, Brian 99 Diaz, James 655 Diaz, Roger 197 Dickel, Hans 15–16, 456, 598, 600–603

1110

Personenverzeichnis

Dickens, Charles 660–661, 1029 Diderot, Denis 352, 355, 364–367, 374–375 Dienst, Klaus-Peter 367 Dine, Jim 238–239, 914, 925–930 Dioskurides, Pedanios 395, 407, 413 Dittmar, Rolf 5, 11–13, 17, 31, 51, 103, 119–120, 126, 131–132, 149, 288, 639, 645, 647–648, 715 Dix, Otto 471 Dixon, Dougal 326 Doesburg, Theo van 474, 514, 710 Döhl, Reinhard 707 Donovan, Edward 313 Doré, Gustave 64–66, 141, 229, 233, 575, 892, 950–951 Dorst, Doug 125, 223, 597, 607, 610, 667, 674, 750, 862–864, 868–869 Douzou, Olivier 486–487, 489 Downsbrough, Peter 51, 211–212 Dr. Panthel 154 Drucker, Johanna 5, 14–19, 22, 51, 63, 93, 112–113, 119, 172, 199, 205–206, 255, 288, 437, 549, 586–588, 591, 599, 630, 650, 720 Duchamp, Marcel 368, 703–704, 761 Dufy, Raoul 305, 324, 328, 641 Duquesne, Léo 583 Dürer, Albrecht 103, 226–228, 368, 628 Durgin, Patrick F. 1000 Durrell, Lawrence 52, 865 Dyche, Thomas 365 Dziewanowski, Adrzej 1022–1023 Eco, Umberto 24, 28, 50, 64, 94, 149, 270, 293, 295–297, 347, 430, 526, 529, 533, 567, 593, 596, 672, 725–726, 747, 756–759, 784–787, 820–822, 840, 853–854 Eglin, K. M. 249 Eichendorff, Joseph von 566 Eisenstein, Bernice 82 Eisner, Will 576, 580 Ellmann, Tobias E. 252 Éluard, Paul 314, 337, 599, 663, 746 Ende, Michael 435, 521, 596–597, 648, 813, 832 Engramer, Sammy 211–212 Enzensberger, Hans Magnus 556, 560, 819, 1001–1002 Épine, Ernest l’ 65 Erlbruch, Wolf 449, 497–498, 506, 532

Ernst, Max 16, 189, 191–192, 305, 314, 385–387, 389, 576, 909–913 Esquivel, Laura 153 Esterházy, Peter 79, 675, 791–794 Ettingshausen, Constantin von 414 Evans, Walker 590, 599 Exter, Alexandra 468, 512, 619 Faecke, Peter 750, 770–771 Fahlström, Öyvind 622, 914 Fahrner, Barbara 303–304, 357, 370–371, 416–417, 570–572, 634–635, 720–721, 993–998 Fahrner, Markus 303–304, 357, 370–371, 571–572, 634 Fajfer, Zenon 42, 52–53 Farnos, Rémi 583 Faucher, Paul 468, 512 Federman, Raymond 49, 103, 726, 775–777, 794–798 Feldmann, Hans-Peter 589 Felixmüller, Conrad 443, 451 Fell, Herbert Granville 229 Fellig, Arthur 599 Fernández, Macedonio 673–674, 719 Ferrari, Giovanni Baptista 410 Ferrari, Vincenzo 289 Feyrer, Gundi 104 Fichte, Johann Gottlieb 86 Fiess, Jean-Marc 437 Filliou, Robert 39–40, 513, 541–542, 588–589 Finet, Nicolas 261 Finlay, Ian Hamilton 588–589, 620, 625 Fischer, Chuck 660 Fisher, Bud 575 Fisher, Roy 961–963 Flaubert, Gustave 213, 599 Flora, Paul 433 Foer, Jonathan Safran 79, 148, 258, 557, 583, 597, 607, 726, 834–837, 850–855 Fontanel, Béatrice 454 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 365 Ford, Charles Henri 455 Forward, Toby 695 Foster, Bruce 660 Foucault, Michel 114, 154, 352, 375, 538, 653 Fouilloy, Hugues de 307 Francis, Sam 914 Frank, Robert 599

Personenverzeichnis

Franklin, Benjamin 273–274 Freud, Sigmund 883–884 Fröhlich, Karl 443, 453 Frue, Bernhard 373 Frutiger, Adrian 237–238 Fuchs, Leonhart 409 Fühmann, Franz 446 Funcke, Johann Michael 414 Funke, Cornelia 522, 527–529 Galileo Galilei 95, 387–389 Gallant, Gregory 581 Garnier, Ilse 401, 404 Gass, William 759–761 Geiger, Rupprecht 516 Geiler von Kaysersberg, Johann 244–245 Geißler, Rudolf 443 Genazino, Wilhelm 606–607, 666 Genette, Gérard 139, 141, 148, 261, 491, 499, 506, 636, 667–670, 676–677, 731, 923 Gerard, John 238–240, 998–1001 Gerhardt, Paul 250, 979–980 Gerner, Jochen 582 Gero, Rolf 748–750 Gerson, Jean 244–245 Gerz, Jochen 31, 98, 101, 121–122, 617, 772–774 Gessner, Conrad 309–311, 409 Gibbons, Dave 577 Gibbs, Michael 569–570 Giraud, Jean 582 Goethe, Johann Wolfgang von 256, 955–959, 987, 1005, 1029 Gojowczyk, Hubertus 30, 102, 104–105, 133–134 Golde, Sabine 1001–1003 Goldsmith, Kenneth 216–217, 985 Goll, Yvan 666, 746 Gomringer, Eugen 5, 31–32, 34–36, 50, 79, 206, 208, 276, 278–280, 622–625, 707, 711, 977–978 Göring, Anton 313 Gottschalk-Batschkus, Christine E. 444 Graf, Martin 653 Grandville 429, 435 Grass, Günter 435–436, 558, 689–690 Graubner, Gotthard 104, 515–516, 1007 Gravett, Emily 499, 504–505, 532 Greenaway, Kate 455 Greenaway, Peter 658 Grieshaber, HAP 251–252, 514, 918–922

1111

Grimaldi, William 565 Grimm, Jacob 436, 689, 931–932, 934 Grimm, Wilhelm 436, 931–932, 934 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 125 Grimsen, Germar 679, 840–841 Gross, Milt 576, 580 Grünbein, Durs 705, 989–990, 998–999 Grünewald, Matthias 228 Gudehus, Juli 362 Gülzow, Marion 701 Gut, Elisabetta 90, 97, 691 Hacker, Katharina 674 Hainke, Wolfgang 634 Hajdu, Étienne 900–903 Hall, Steven 48, 74–76 Hamilton, Lily 199 Hampton, Michael 732–734 Han Shaogong 355, 685 Handke, Peter 687, 750, 761–763 Harmon, Katherine 344, 349 Harms, Anja 1015–1019 Harris, John 365, 366 Hartmann, Heiko Michael 258 Hauffe, G. 249 Hawkey, Christian 144–147 Hayat, Candice 486–487, 489 Heartfield, John 602, 641 Heckwolf, Peter 413–414 Hegel, Johann Friedrich Wilhelm 11, 33, 103, 104, 364, 614 Heidegger, Martin 29, 33, 131–132, 614 Heidelbach, Nikolaus 433, 449, 451, 531–532 Heimbach, Paul 456–457 Heine, Helme 506–507 Heißenbüttel, Helmut 939–941, 977 Held, Wolfgang 66–67 Henderson, Caspar 314, 324, 327, 329 Hendricks, Geoffrey 704 Henisch, Peter 558 Henry, Maurice 566 Herbst, Johann Friedrich Wilhelm 312 Herschel, Friedrich Wilhelm 378–379 Hershman, Lynn 643 Herzfelde, Wieland 641 Hesiod 391, 897–899 Hevelius, Johannes 377–378 Higgins, Dick 34, 37–40, 50, 620, 644 Hirsch, Antonia 215

1112

Personenverzeichnis

Höch, Hannah 511–512 Hockney, David 931–935 Hofer, Karl 511 Hoffmann, E. T. A. 45–46, 78, 186, 294, 566–567, 655, 730, 742–744, 770–771 Hoffmann, Heinrich 461, 523, 525 Hofmannsthal, Hugo von 635 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 250, 979–980 Holbein, Hans 701, 918, 920–921 Hölderlin, Friedrich 417, 840, 1011–1012 Holz, Arno 709 Homer 571, 722, 979 Horn, Rebecca 664 Horn, Richard 353–354 Horn, Roni 141–142 Hornschemeier, Paul 581 Houillere, Adrien 583 Hrabanus Maurus 306 Huber, Stephan 344 Huber, Thomas 232–233 Huebler, Douglas 639 Huet, Florian 583 Hugo, Victor 47, 80, 430, 668 Hunt, Waldo 566 Ignatieff, Michael 549 Illich, Ivan 55–60, 62–63, 92, 94, 100, 107, 113, 351, 427–428, 609, 670, 678, 715–716 Innerling, Karin 387–389 Innocenti, Roberto 507–508 Isgrò, Emilio 129 Isidor von Sevilla 306, 393, 395 Ita, Sam 576, 653 Jabès, Edmond 154, 168, 206–207 Jablonsky, Carl Gustav 312 Jacobs, Frank 348 Jacquin, Nicolaus Joseph 410 Jäger, Bernhard 905–908 Jahn, Theo 313 Jandl, Ernst 622–623, 677, 681, 977 Janisch, Heinz 495 Jansen, Servie 102 Janssen, Horst 92, 631–632 Jansson, Tove 566 Jaworski, Halina 96 Jean Paul 43–46, 67, 78–80, 186, 433–434, 594, 678, 739–741

Jelinek, Elfriede 25–26 Jirgl, Reinhard 48, 558, 841–845 Johannes von Clairvaux 244 Johannes von Garlande 244 Johannessen, Kurt 389–390 Johns, Jasper 817, 941–945 Johnson, Bryan Stanley 52, 71–72, 78, 92, 827 Johnson, Phyllis 208 Johnson, Ray 662 Johnson, Richard 199 Johnson, Stephen T. 448, 1067 Joyce, James 52, 760, 767, 769, 793, 813 Ju Lingren 151 Kafka, Franz 82, 141–142, 584, 714, 973–974 Kahnweiler, Daniel-Henry 16, 641, 879 Kaldewey, Gunnar A. 6, 40–41, 238, 951–952, 973, 990–993 Kandinsky, Wassily 161, 622–623, 1068 Kant, Immanuel 13, 85–86, 739 Kassung, Christian 323, 329 Kastl, Johannes von 244, 246 Katchor, Ben 581 Kaufman, Margaret 978–979 Kentridge, William 692–693 Kepler, Johann 382 Kernan, Sean 569 Kerner, Justinus 79, 177–181, 184, 189–191 Kerouac, Jack 750–752 Ketelhodt, Ines von 105, 149–150, 263, 303, 335–336, 357, 370–371, 375, 401–402, 456–458, 572–574, 634 Key, Ellen 472 Kidd, Chip 581 Kiefer, Anselm 105, 603, 952 Killofer, Patrice 582 King, Ronald 236, 453, 513, 961–963 Kipling, Rudyard 467, 872–874 Kirby, Jack 577 Kleukens, Christian Heinrich 415, 641 Kleukens, Friedrich Wilhelm 415, 641 Klinger, Max 250 Kljaschkow, Lew 512 Kluge, Alexander 602 Kniphof, Johannes Hieronymus 414–415 Knížák, Milan 232–233, 620 Kobayashi Issa 993–994 Koch, Rudolf 230, 415 Kokoschka, Oskar 471, 515, 881–885

Personenverzeichnis

Komagata, Katsumi 489, 517 Kone, Moussa 456 König, Walter 213, 620 Konrad von Megenberg 305, 307 Koopman, Anny Antoine 620 Koopman, Louis Jan 620 Kopernikus, Nikolaus 381 Koscielniak, Bruce 506–507 Kosłowski, Jarosław 216–217 Kostelanetz, Richard 34, 36–39, 645 Krieger, Christiane 444 Kristeva, Julia 636 Kriwet, Ferdinand 173, 708, 763–765 Krüger, Hilde 473 Krüss, James 446 Kubach, Wolfgang 617 Kubach-Wilmsen, Anna Maria 617 Kuball, Mischa 951–955 Kubašta,Vojtěch 187–188, 426, 513, 566, 652 Kubert, Joe 579 Kubin, Alfred 251 Kubler, George 208 Kuhn, Hans Peter 153 Kühnemann, Burgi 1008–1011 Kuppel, Edmund 338–339 Kyle, Hedi 154 La Fontaine, Jean de 1008–1011 Lachenmeier, Rosa 401, 403–404 Lacombe, Benjamin 653 Lakner, Lázló 33, 96, 130, 614, 616, 952 Langa, Moshekwa 341–342 Laptew, Alexej 466 Larsen, Reif 295, 350, 719, 855–859 Lausche, Katharina 447 Lavater, Warja 426, 480–481, 513, 903–905 Lear, Edward 429, 446 Lebedev, Vladimir 466, 468, 488 Leblond, Michaël 496–497, 500 Lechter, Melchior 229 Lécroart, Etienne 582 Lecuire, Pierre 900–903 Leeuwen, Joke van 448 Legrand, Edy 464–465 Leon, Donna 153 Lerebourg, Jean-Luc 620 Leroi-Gourhan, André 161, 164–166, 168, 275 Leupold, Jacob 365–366 Leutbrewer, Christophe 564

1113

Levi, Primo 82 Lewis, C. S. 653 LeWitt, Sol 259, 574, 589, 639, 649, 723 Liebermann, Max 229, 437 Lilien, Ephraim Moses 229 Limburg, Herman 270 Limburg, Johan 270 Limburg, Paul 270 Lindecke, Heide 98 Lingner, Michael 284 Lintott, Mark 620 Lionni, Leo 324–325, 479–481, 490 Lippard, Lucy 7, 642 Lissitzky, El 465, 467, 473–474, 489, 514, 619 Liu, Ken 655 Llull, Ramon 563 Lo Monaco, Gérard 661 Lope de Vega 37 Lopez, Barry Holstun 858 Lovecraft, Howard Phillips 101, 221, 813 Lubieniecki, Stanislaus 379 Luhmann, Niklas 983, 998–999 Luna, Félix 371–372 Luther, Martin 226, 247, 442 Lützelberger, Hans 247 Lyons, Joan 37, 40, 992 L’Admiral, Jacob 313 Maar, Anne 496–497, 1037 Maciunas, George 537, 704 Magritte, René 67–68, 337, 534, 1029 Maher, Miranda 284–285, 287 Majakowskij, Wladimir 473, 710 Mallarmé, Stéphane 32, 34–35, 45–47, 52, 79–80, 108, 112, 128, 145, 177, 199–218, 387, 539, 555–556, 582, 615, 617, 623–624, 709, 730, 744, 835, 925 Malraux, André 718, 723 Malutzki, Peter 62, 91, 105, 149, 154, 188–189, 221, 260, 286, 303, 335–336, 357, 370–371, 375, 401–402, 572, 574, 633–634, 640, 970–973 Man Ray 337, 599, 746 Manson, Peter 211–213 Manzoni, Alessandro 294 Manzoni, Piero 32 Maranda, Michael 210–211, 216–217 Marchant, Guyot 241, 246 Mari, Enzo 479, 513

1114

Personenverzeichnis

Mari, Iela 480 Maria von Burgund 257, 260 Marinetti, Filippo Tommaso 710 Marlow, Ann 356 Maron, Monika 556, 559 Maršak, Samuil 466, 512 Marti, Kurt 355 Martins, Isabel Minhós 500–501, 506 Martinus Oppaviensis 392–393, 399 Masereel, Frans 250–251, 276–278, 576, 580 Massin, Robert 172, 428–431, 709 Mästlin, Michael 378 Matalon, Ronit 558, 803–805 Mathews, Harry 27 Mathieu, Marc-Antoine 583–585, 714 Matisse, Henri 16, 34, 236, 641, 885–887, 1013 Matthaeus Platearius 408 Matthew Paris 563 Matysik, Reiner 326 Mayer, Hansjörg 620, 628, 634 Mayerová, Milča 454–455 Mayröcker, Friederike 680–681 McGrath, Peter 681 McKillop, Sarah 286 McLeod, Judyth A. 348 McLuhan, Marshall 8, 404, 983 Meggendorfer, Lothar 443, 464, 565, 575 Meister E. S. 246 Mela, Pomponius 391, 395–396 Melanchthon, Philipp 442 Melville, Herman 360, 857, 947 Mendelsohn, Erich 599 Menschik, Kat 325–328 Menu, Jean-Christophe 582 Mercator, Gerhard 330–331, 346 Mercier, Pascal 520 Merian, Maria Sibylla 311, 313, 412–413 Merian, Matthäus 248, 251, 410, 918, 921 Mersmann, Jasmin 323, 329 Messager, Annette 589 Messenger, Norman 453 Meydenbach, Jacob 408 Meyer, Kai 522 Meyer, Nanne 1027–1031 Michaelis, Jen 580 Michaels, Anne 82 Michaels, Isaiah 82 Mikhailov, Boris 605 Millard, Fanny 513

Milton, John 20, 30, 65, 95 Minkoff, Gérald 109 Miró, Joan 16, 890–892 Moers, Walter 64–66, 520, 677 Mœglin-Delcroix, Anne 5, 14, 39, 51, 167, 212, 264, 282–283, 285, 324, 419, 541, 586, 588–589, 602, 625, 633–634, 643, 715, 723–724 Moholy-Nagy, László 599 Moldehn, Dominique 27, 51, 90, 93, 96–97, 101, 121, 288, 537, 563, 617, 644, 654 Molinar, Guido 211 Molzer, Milan 289 Mon, Franz 32, 206, 623, 710, 975–978 Morchiladze, Aka 73, 542–543, 726, 823–828 Morel, Claire 217–218 Morgenstern, Christian 709 Moriarty, Jerry 580 Moritz, Karl Philipp 195, 432, 449 Morris, Simon 681 Morris, William 18, 22–23, 34, 79, 230, 254, 640 Moser, Koloman 511 Motherwell, Robert 945–947 Mouly, Françoise 577, 580 Müller, Herta 81–82, 702 Müller, Johannes 381, 396 Müller, Jörg 483, 531 Müller-Fries, Eberhard 1015–1019 Munari, Bruno 328, 426, 445, 448, 453, 459, 475–477, 480, 489, 515–516, 566, 619–620, 652 Münster, Sebastian 380, 382, 395, 398 Musschenbroek, Pieter van 365 Nabokov, Vladimir 52, 92 Nannucci, Maurizio 33, 95–96, 123, 401, 406, 437, 589, 615, 633 Nelken, Dinah 748–750 Nell, Werner 348 Nenik, Francis 92 Nerlinger, Oskar 512 Newton, Isaac 378 Nezval, Vítězslav 454 Nieblich, Wolfgang 97, 99, 134–138, 692 Nikolaus von Dinkelsbühl 245 Nikonova, Ry 620–621 Noé, Amédée de 575 Novalis 423

Personenverzeichnis

1115

Ober, Petra 1003–1007 Okopenko, Andreas 25, 353–354, 1080 Onyefulu, Ifeoma 447 Oquendo de Amat, Carlos 79–80, 635 Ortelius, Abraham 331 Otto, Frauke 1022–1027 Outcault, Richard F. 575 O’Hara, Frank 642

Poeschel, Carl Ernst 640 Polt, Gerhard 153 Ponge, Francis 688 Porombka, Stefan 348 Porombka, Wiebke 348 Proust, Marcel 556, 651, 680, 817, 820 Ptolemäus, Claudius 377, 390–391, 394, 399 Puni, Iwan 467

Pacovská, Květa 449, 453 Pamuk, Orhan 375, 718–719, 721 Panter, Gary 580 Parain, Nathalie 468–469, 512 Partenheimer, Jürgen 401, 405–406 Pastior, Oskar 81 Pavić, Milorad 79, 354, 543–545, 688, 712, 798–799 Paz, Octavio 27 Pelham, David 437, 449, 650, 656, 658 Pellegrin, Paolo 983, 985–986 Pelletier, H. Léon 641 Pennac, Daniel 661 Penzoldt, Ernst 523–526 Perec, Georges 27–28, 48, 52, 538–539, 723 Pericoli, Tullio 666 Perreault, John 643 Petersen, Jes 32 Petritsch, Paul 338–341 Peucer, Caspar 378 Pfister, Albrecht 242 Philipp der Gute von Burgund 268 Phillips, Tom 91, 139–141, 144–145, 161, 922–925, 947–951 Phillpot, Clive 7, 18, 639, 644–645 Picasso, Pablo 16, 368, 641, 753–754, 887–890, 946, 1013–1014 Pichler, Michalis 210, 631 Pienkowski, Jan 513, 566 Pignotti, Lamberto 231–233 Plascencia, Salvador 125–126, 655, 672, 830–832 Platon 33, 168, 361–362, 533, 571, 614, 1020 Plaza, Julio 517 Pletsch, Oscar 443 Plinius Secundus, Gaius 67, 305–306 Plock, Hans 228 Plutarch 867–868 Pocci, Franz von 443 Poe, Edgar Allan 209, 656, 767–769

Quadflieg, Roswitha 255–256, 640 Queneau, Raymond 26–28, 68–70, 77, 79, 756, 759 Rabelais, François 64–65, 429, 786, 892–897 Rabener, Gottlieb Wilhelm 678 Raddatz, Fritz Joachim 315, 322–323 Rader, Olaf B. 323, 329 Raff, Georg Christian 312 Rainer, Arnulf 233–234 Rankin, Laura 446 Ransmayr, Christoph 348, 672–673, 723 Rassineux, Martine 620 Rauschenberg, Robert 914, 936–938 Reich, Hans 29, 130 Reichert, Josua 428, 450 Reinhart, Matthew 426, 566, 652 Renger-Patzsch, Albert 599 Reuterswärd, Carl Fredrik 216 Reverdy, Pierre 641, 887–890, 1013–1015 Richter, Gerhard 333–334, 350 Richter, Ludwig 443 Ricketts, Charles 229 Rieger, Stefan 323, 329 Rieser, Rudolf 367–368, 931 Righi, François 262–263 Rilke, Rainer Maria 144–145, 276–278, 280–281 Rio, Ludovic 583 Rivers, Larry 642 Robbe-Grillet, Alain 678, 865, 936–938 Robbins, Trina 576 Rodari, Gianni 479 Rodenbach, Georges 602 Rodtschenko, Alexander 513 Röhm, Vera 105 Rojankovsky, Feodor 468, 512 Ror Wolf 66, 189, 192–193, 357–359, 817 Ros, François da 620 Rosei, Peter 401–402, 633

1116

Personenverzeichnis

Roth, Dieter 11, 91, 103–104, 131, 155, 258, 324, 437, 514–516, 589, 602–603, 620, 625 Roth, Gerhard 350, 558 Rothchild, Judith 620 Rowling, Joanne K. 323, 522, 529, 532 Rubinštejn, Lev 92, 702 Rudolph, Herrmann 249 Rühm, Gerhard 29, 73–74, 127–130, 215, 616, 626, 777–780 Rühmkorf, Peter 79, 178–181 Ruscha, Ed 589, 600, 602–603, 630–631 Rusting, Salomon von 249 Rykounova-Samson, Anna 620 Ryman, Geoffrey 74 Rytchëu, Juri 356, 687–688 Sabuda, Robert 198, 426, 566, 652–653, 696 Sacco, Joe 578 Sachs, Nelly 82 Salviani, Ippolito 310 Salzmann, Siefried 617, 646–648 Sander, August 599 Sanguineti, Eduardo 540 Saporta, Marc 70–71, 92, 827 Sardon, Vincent 582 Sartre, Jean-Paul 71, 134, 138, 687, 691 Savary des Brûlons, Jacques 365 Savary, Louis-Philémon 365 Savinio, Alberto 959–961 Schafer, Raymond Murray 147, 159–160, 173–174, 297–300 Schalansky, Judith 48, 79, 124–125, 314, 342–344, 348–351, 726 Schäpers, Veronika 258, 319–320, 705, 989–990 Schäuffelen, Konrad Balder 29, 71, 100, 615–616, 691 Schedel, Hartmann 245, 260, 395–398 Scherer, Jacques 35, 205, 208–209, 1086 Scherstjanoi, Valeri 315, 319, 1019 Scherübel, Klaus 213 Schmidt, Arno 616, 680, 730, 765–769, 840–841 Schmidt, Joyce 97 Schmidt-Heins, Barbara 152, 280, 282–283, 287, 644 Schmidt-Heins, Gabriele 280, 282–283, 287, 644 Schneider, Uta 369

Schnorr von Carolsfeld, Julius 229 Schöffer, Peter 408–409 Schöner, Johann 382 Schongauer, Martin 228 Schuiten, François 585 Schuiten, Luc 585 Schuler, Carl Ludwig 228 Schultze, Bernard 101, 648 Schulz, Bruno 82, 148, 850–852, 854 Schwarz, Martin 29–30, 99, 104, 127, 131–132, 616, 648 Schwarz, Robert 250, 383–385, 387, 389, 979–981, 1020–1022 Schwarzschild, Karl 379 Schwind, Moritz von 578 Schwitters, Kurt 162, 431, 473–474, 514, 710 Scieszka, John 484, 489 Sdun, Dieter 640 Sebald, W. G. 556, 605, 730, 805–809, 816–819 Secchi, Angelo 378 Segay, Serge 621 Seidmann-Freud, Tom 163, 443, 445, 451, 471–472, 489, 1037, 1089 Sendak, Maurice 461–462, 482, 488, 496–498, 506, 529 Seppovaara, Juhani 666 Serafini, Luigi 300–302, 790–791 Shakespeare, William 16, 20, 95, 142–144, 645, 658, 693–696, 698, 760, 766, 768, 905, 907, 926, 928 Shapton, Leanne 48, 79, 607, 723, 845–847 Sherard, William 414 Shimizu, Yoshinori 705 Shrigley, David 517–518 Siegelaub, Seth 639 Sigurdsson, Sigrid 372–373, 701 Sitter-Liver, Beatrix 97 Six, Nicole 338–341 Slevogt, Max 229 Smith, Keith A. 40–42, 437, 516, 586, 589–591, 694, 958, 1006–1007 Smith, Keri 116–117, 155–157, 290, 611–613, 665 Smith, Lane 484–485, 489 Snow, Michael 257–258 Solinus, Gaius Iulius 306, 395 Sombart, Werner 272–273 Sontag, Susan 208 Sowa, Michael 153 Specht, Friedrich 313

Personenverzeichnis

Spiegelman, Art 577, 580–581 Spinoza, Baruch de 860–862 Spoerri, Daniel 541–542, 717, 721 Spurlock, Brook 152 Staeck, Klaus 29, 617, 662 Steffani, Agostino 153 Stein, Benjamin 713, 848–850 Stein, Gertrude 216, 626, 710, 760 Steiner, George 56 Steiner, Jörg 483 Steinitz, Käte 473–474, 514 Šterenberg, David 467 Sterne, Laurence 45–46, 52, 78, 614, 730, 735–739 Stewart, Garrett 5, 17–18, 51, 99 Stoichita, Pedro 583 Stoltz, Ulrike 114, 116, 369 Stolz, Alban 249 Storm, Theodor 482, 524 Stregen, Stine 664–665 Strejan, John 197 Strugalla, Johannes 620, 889, 1013–1015 Sturtevant, Elaine 595 Suzuki, Jun 238 Tabucchi, Antonio 666 Talbot, William Henry Fox 598 Tawada, Yoko 164, 435, 685–686 Tempel, Ernst Wilhelm Leberecht 386–387, 909–914 Tenniel, John 197–199, 696–697, 744–745 Tepl, Johannes 242 Tériade 34, 39, 231, 641, 879, 885–887, 889, 1014–1015 Thiot-Rader, Adrien 583 Thomas de Cantimprés 307 Thurston, Nick 869–872 Ticha, Hans 963–966 Tiemann, Walter 640 Ting, Walasse 914–917 Toledo, Francisco 324 Tolkien, John R. R. 348, 529 Tomasula, Steve 828–829 Tomeo, Javier 329 Töpffer, Rodolphe 575 Tozzi, Federigo 329, 1093 Trakl, Georg 1020–1022 Tripp, Jan Peter 816–819 Trockel, Rosemarie 316–317

1117

Trondheim, Lewis 582 Troshin, Nikolai 467 Tschukowskij, Korneij 512 Tucholsky, Kurt 602 Tullet, Hervé 503 Tuttle, Richard 264 Tzara, Tristan 426, 651, 890–892 Ugrešić, Dubravka 556–557 Ulrichs, Timm 29, 90, 96, 101, 123, 127, 155, 287, 613–614, 617, 634 Ungaretti, Giuseppe 105, 516 Updike, John 446 Valéry, Paul 106–107, 199 Van Vliet, Claire 978–979 Vander Zee, Ruth 507 Vasari, Giorgio 754–755 Vautier, Ben 589 Velde, Henry van de 254 Verclas, Till 1011–1013 Vergil 813, 1009 Vesalius, Andreas 564 Vetemaa, Enn 325–328 Villers, Bernard 213, 588–589 Vining, Alex 198, 697, 1053 Vinzenz de Beauvais 307 Viva, Frank 497, 502–503 Vogler, Heinrich 511 Voigt, Jorinde 418 Vollard, Ambroise 16, 206, 231, 641, 879, 897 Voltaire 367, 893 Voss, Jan 259 Vostell, Wolf 120, 750, 770–772 Vries, Herman de 285, 287, 419, 620, 723 Waanders, Hans 305, 317–318 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 566 Waechter, Friedrich Karl 494 Wagner, Dieter 640, 955–959 Wagner, Ulrich 705 Wajcman, Gérard 680–681 Walther, Franz Erhard 648 Warburg, Aby 332–334 Ward, Lynd 576 Ware, Chris 546, 581–582, 634 Warhol, Andy 91, 119–120, 153, 175, 455–456, 511, 517, 566, 603, 914 Wartner, Agnes 258

1118

Personenverzeichnis

Waterhouse, Peter 1027–1031 Waydelich, Raymond E. 130, 618 Wedell, Irene 412–413 Wegman, William 453 Weimar, Martin 97 Weir, Julie 720 Weislinger, Johann Nikolaus 249 Weiss, Philipp 1033–1034 Wescher, Herta 29, 127, 191, 613–614 West, William 693 Wijngaard, Juan 695 Wilde, Oscar 925–930 Willberg, Hans Peter 973–975 Willbrand, Carola 315–316, 512 Williams, Emmett 570, 625–628, 717 Withers, George 564 Wittgenstein, Ludwig 533, 552, 554–556, 587, 817 Wolfsgruber, Linda 447 Wormell, Christopher 656 Wunderlich, Paul 237

Würth, Anton 113–116, 981–983 Wyl, Jacob von 249 Xenophon 308–309 Zambra, Alejandro 77–78 Zangs, Herbert 31, 103, 131, 647 Zapf, Hermann 375, 416 Zboya, Eric 211–212 Zdanevič, Ilya (Iliazd) 385, 619, 641, 879, 909–914 Zelevansky, Paul 360–361 Zhu Yingchun 151 Zilahy, Péter 359, 686–687 Zischler, Hanns 153–154 Zone, Ray 579 Zwart, Piet 478 Zweig, Janet 966–970