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German Pages [248] Year 2012
Literatur und Leben Band 82
Alexander Löck/Dirk Oschmann (Hg.)
Literatur & Lebenswelt
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Pieter Breughel d. Ä., Die Heuernte (1565). Öl auf Holz, 114 x 159 cm. Roudnice Lobkowicz Collection, CZ-Nelahozeves © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20950-6
Ein Buch für Gottfried Willems
Inhalt Alexander Löck und Dirk Oschmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wolfram Hogrebe Gottfried Willems’ Konzeption einer Literaturwissenschaft als Phänomenologie der Darstellungsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Adrian Brauneis und Tom Kindt Fröhliche Wissenschaft. Zur Bedeutung des Literaturbegriffs für eine Begründung der Literaturwissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Eckhard Lobsien Phänomenologie der Spielräume: Konstitutionsweisen lebensweltlicher und literarischer Gegenständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Stefan Matuschek Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff. Im Anschluss an Hans Blumenbergs Theorie der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Jens Haustein mâze und Lebenswelt bei Walther von der Vogelweide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Dirk von Petersdorff Auch eine Schule der Kontingenz. Geschichtsbilder in der Emblematik . . . . . . . . 83 Gerhard R. Kaiser Beredte Steine, antiker Form sich nähernd – die Inschriften im Tiefurter Park . . . 99 Gerhard Kurz „Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben“. Lebenswelt und Klassizismus bei Hölderlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Alexander Löck Denkt Ich an Deutschland. Humor und Lebenswelt bei Heine . . . . . . . . . . . . . . . 145
8 Inhalt Dirk Oschmann „Der Alltag ging weiter.“ Die Selbstbehauptung des Lebensweltlichen in Siegfried Kracauers Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Wolfgang Düsing Wann ist die Wirklichkeit „wirklich“? Medienkritik in Prosatexten von H. Böll bis F. Dürrenmatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Juliane Köster Lebenswelt im deutschen Lesebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Karol Sauerland Meine Begegnung mit Polen in der deutschen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Verzeichnis der Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
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Einleitung Der Titel des vorliegenden Bandes bezeichnet kein Sonderthema literaturwissenschaftlicher Spezialforschung. Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Lebenswelt führt zu grundsätzlichen literaturtheoretischen und methodologischen Fragen: über welche Funktionen und Textmerkmale sich Literatur bestimmen lässt; ob und wie sich Versuche einer Wesensbestimmung von Literatur mit der Einsicht in deren Historizität vereinbaren lassen; wie die Bestimmung von Aufgaben und die Begründung der Notwendigkeit von Literaturwissenschaft mit der Bestimmung des Literaturbegriffs zusammenhängen. Als Bezugs- und Ausgangspunkt für solche Fragen ist das Verhältnis von Literatur und Lebenswelt ein zentrales Thema der Literaturwissenschaft. Das zeigt sich im Vergleich zweier unabhängig voneinander entstandener und verschieden motivierter Ansätze, diese Frage aufzugreifen. Bei diesen Ansätzen handelt es sich einerseits um das Roman Ingarden und Wolfgang Iser verpflichtete Projekt einer „Phänomenologie der Literaturwissenschaft“, wie es Eckhard Lobsien Mitte der 1980er Jahre entworfen hat.1 Und zum anderen handelt es sich um das Unternehmen einer „Geschichte des Darstellungsstils“, mit dem Gottfried Willems nur wenige Jahre später die von Paul Böckmann Mitte des 20. Jahrhunderts begründete „Formgeschichte der Dichtung“2 auf die „neue, feste Grundlage“ einer „Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen“ gestellt hat.3 Aus einer Analyse der „inneren Beziehungen“ von Wort und Bild in künstlerischen Wort-Bild-Formen wie dem frühneuzeitlichen Emblem oder der modernistischen Collage begründet er die Kategorie der Anschaulichkeit als invariantes Wesensmerkmal der Literatur, dessen historische Ausprägungen in einem Vergleich der jeweiligen geschichtlichen Entwicklung von Literatur und bildender Kunst nachzuzeichnen sind. Diese literaturtheoretische Grundlage hat Willems in späteren Arbeiten um Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Lebenswelt als Raum des „Wahr- und Wert-
1 Vgl. Eckhard Lobsien: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft, München 1988 (= Übergänge: Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 20). 2 Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Erster Band: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Der Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Hamburg 1949. – Vgl. Walter Müller-Seidel und Wolfgang Preisendanz (Hg.): Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, Hamburg 1964. 3 Vgl. Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989 (= Studien zur deutschen Literatur 103), S. 10.
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nehmens“ – gleichsam als zweiter Grundlage literarischer Formgeschichte – ergänzt:4 Die Wandlungen der Formgeschichte sind demnach ohne die parallel verlaufenden geschichtlichen „Wandlungen des Wertgefüges“5 nicht adäquat zu verstehen. Über alle offensichtlichen Unterschiede hinweg weist ein Vergleich beide Ansätze doch als die rezeptionsästhetische und die produktionsästhetische Seite derselben Medaille aus: Bei beiden Ansätzen handelt es sich um Versuche, den phänomenologischen Lebensweltbegriff literaturtheoretisch fruchtbar zu machen und aus einer solchen, Literatur über ihr Verhältnis zur Lebenswelt bestimmenden Literaturtheorie heraus eine gegenstandsadäquate literaturwissenschaftliche Methode zu begründen. Das lässt sich an folgenden Punkten kurz erläutern: Beide Ansätze nutzen die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Lebenswelt als Ausgangspunkt für eine Wesensbestimmung von Literatur als „Kunst“.6 Das führt zunächst zu einer funktionalen Bestimmung literarischer Kommunikation als „Ort lebensweltlicher Selbstreflexion“ (Lobsien),7 „Zuflucht des Lebensweltlichen“8 und „wertende Verständigung über Werte“ (Willems).9 Ohne den Lebensweltbegriff zu benutzen, legt bereits Böckmann die gleiche Vorstellung seiner Formgeschichte zugrunde: Mit Dilthey begreift er „Dichtung“ als „Organ des Lebensverständnisses“ und „Organ des Weltverständnisses“.10 Fundament dieser funktionalen Bestimmung bei Lobsien und Willems ist das auf Husserl zurückgehende Verständnis von Lebenswelt. Nach Lobsien bezeichnet Lebenswelt ein „Integral aller Bewußtseinserlebnisse“,11 also jenen Zusammenhang, den das Bewusstsein zwischen den einzelnen Gegenständen seiner Wahrnehmung, Phantasie, Erinnerung herstellt; innerhalb dessen das Bewusstsein sich Gegenstände aus verschiedenen Perspektiven erschließt und in den es wiederum jeden dieser Gegenstände sinnbildend integriert. Das Bewusstsein bezieht die ihm erscheinenden Ansichten von Gegenständen auf Ähnliches oder Unähnliches (in der Lebenswelt) und bewertet sie so nach 4 Vgl. Gottfried Willems: Literatur, in: Fischer Lexikon Literatur, hg. von Ulfert Ricklefs, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1995, S. 1006–1029, hier S. 1014. – Siehe auch ders.: Der Literaturbegriff als Problem der Literaturwissenschaft. Die Literatur als Refugium des Wertlebens und das Ideal der wertfreien Wissenschaft, in: Der Begriff der Literatur, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich unter Mitarb. von Andreas Grimm, Berlin, New York 2010, S. 223–245. – Ders.: Ästhetische Thaumaturgie. Die Geburt der Literatur aus der Alltagskommunikation, in: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, hg. von Joachim Bromand und Guido Krebs, Berlin 2010, S. 533–554. 5 Willems: Literatur, S. 1012–1021. 6 Vgl. Lobsien: Das literarische Feld, S. 11 u.ö. – Böckmann: Formgeschichte, S. 13. – Willems: Ästhetische Thaumaturgie, S. 533. 7 Lobsien: Das literarische Feld, S. 212. 8 Willems: Der Literaturbegriff als Problem, S. 241. 9 Willems: Literatur, S. 1012. 10 Böckmann: Formgeschichte, S. 19. 11 Lobsien: Das literarische Feld, S. 214.
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seinen Kriterien von Relevanz oder Irrelevanz, Bekanntheit oder Unbekanntheit.12 In diesem Sinne ist Lebenswelt das, „was sich in den Strukturen der Subjektivität unaufhörlich reproduziert.“13 Dieser Vorgang geht normalerweise „unbemerkt“ vor sich, so dass „die Lebenswelt in der ‚Unbemerktheit ihrer Selbstverständlichkeit […] sich von selbst versteht‘“.14 Die Leistung eines Kunstwerks soll nun darin bestehen, als „Äquivalent zur Lebenswelt“15 diese normalerweise unbemerkte Bewusstseinsleistung bemerkbar zu machen und so „einen Beitrag zur Selbsterhellung lebensweltlicher Einstellung“16 zu ermöglichen. Willems wiederum begreift „individuell-lebensweltlich[e] Zusammenhäng[e]“ als Ort „eines vortheoretischen Meinungs- und Wertlebens“,17 das in der literarischen Kommunikation Gegenstand einer „wertenden Kommunikation über Werte“18 wird. Schon Böckmann sah die „eigentliche Aufgabe“ der Literatur darin, „den Menschen in all seinen Bezügen sichtbar zu machen, sei es im Bezug zu sich selbst oder zu den ihm zugeordneten Menschen, sei es im Bezug zur Erfahrungswelt oder zum Transzendenten“, so dass der „Mensch lernt im dichterischen Wort sich über sich selbst und seine Welt zu verständigen [...].“19 Um diese Funktion zu erfüllen, muss ein literarischer Text zwei Leistungen erbringen: „Äquivalenzbildung“ und eine „Unterbrechung der normalstimmigen Orientierung“. Einerseits versucht er, „qua Sinnsystem [lebensweltliche Selbstverständlichkeiten] zu reproduzieren, also ein Äquivalent für jenes ‚Erlebnisintegral‘ aus allen Leistungen der Subjektivität bereitzustellen, welches die Lebenswelt ist.“20 Durch seine „Nähe zum gelebten Leben“ imitiert ein Text die „Unmittelbarkeit des konkreten Erfahrens“.21 Er fungiert so als „Medium der Darstellung von Erleben“ und rückt damit bestimmte Aspekte jenes lebensweltlichen Zusammenhangs in den Blick, in dem ein erlebendes Subjekt steht: „einen bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext, eine individuelle Lebenslage, eine besondere, durch eine Vielzahl von Umständen definierte Situation des Handelns und eine bestimmte innere Befindlichkeit“.22
12 Vgl. ebd., S. 42–43. 13 Ebd., S. 212. 14 Ebd., S. 212. Lobsien zitiert hier Hans Blumenberg. 15 Ebd., S. 214. 16 Ebd., S. 213. 17 Willems: Der Literaturbegriff als Problem, S. 241. 18 Ebd., S. 244. – Vgl. ders.: Literatur, S. 1012–1021. 19 Böckmann: Formgeschichte, S. 13. 20 Lobsien: Das literarische Feld, S. 212. 21 Böckmann: Formgeschichte, S. 18. 22 Vgl. Willems: Literatur, S. 1016.
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Andererseits aber bewirkt der Text einen „Abbruch lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten“,23 „eine Krise der Gewohnheit“,24 so dass das Selbstverständliche, Unbemerkte der Lebenswelt nicht mehr als selbstverständlich erscheint, sondern bemerkbar und reflektierbar wird. Aus dieser Funktionsbestimmung werden in beiden Ansätzen Bestimmungen von Literarizität abgeleitet. Die für die Äquivalenzbildung relevanten Textverfahren sind „Narration und Deskription“, die „Illusionsbildung“ „traditioneller Literatur“,25 „Vergegenwärtigung“,26 das „Ausgreifen in der [polythematischen] Totale“ und „Anschaulichkeit“.27 Die Unterbrechung der normalstimmigen Orientierung wird erreicht durch „Selbstthematisierung“ und „Entgrenzung“ in der „modernen Kunst“28 sowie allgemein durch das Moment der „Formensprache“.29 Die methodologische Konsequenz aus diesen literaturtheoretischen Überlegungen besteht in einer Opposition gegen „objektivistische“, vor allem positivistische Ansätze. Daraus ergibt sich die Forderung, dass jeglicher Systematisierungsversuch der verschiedenen Ausprägungen literarischer Lebensweltlichkeit – sei es phänomenologisch als „Feld“ oder formgeschichtlich als Traditionszusammenhang – von der Einzeltextanalyse ausgehen muss. Obwohl die vorliegenden Beiträge das Verhältnis von Literatur und Lebenswelt auf je eigene Weise beleuchten, ergeben sich vielfach aufschlussreiche Konstellationen. Das betrifft schon die ersten zwei Texte, die auf ebenso konträre wie komplementäre Weise den Spielraum heutigen literaturwissenschaftlichen Selbstverständnisses ermessen. Stellt Wolfram Hogrebe das phänomenologisch orientierte, an einem scharf konturierten Literaturbegriff ausgerichtete Wissenschaftsprogramm von Gottfried Willems dar, so rekonstruiert der Beitrag von Adrian Brauneis und Tom Kindt mit den neueren Entwicklungen der Disziplingeschichte gleichsam das Gegenprogramm und plädiert im Sinne des cultural turn für eine Ausweitung eben dieses Literaturbegriffs. Die einander ergänzenden Aufsätze von Eckhard Lobsien und Stefan Matuschek wiederum verfahren systematisch, indem sie die Korrelation von Literatur und Lebenswelt über die Frage nach der Erkenntnisfunktion literarischer Texte erschließen. Darauf folgt dann die Mehrzahl historisch ausgerichteter Einzeluntersuchungen: Zum einen jene, welche die Thematisierung und Vergegenwärtigung von Lebenswelt in literarischen Texten auf den Ebenen von Darstellung und Dargestelltem erweisen. Das kann, wie bei Jens Haustein und Dirk von Petersdorff, auf Aspekte 23 Lobsien: Das literarische Feld, S. 212. Vgl. ebd., S . 209. – Vgl. Böckmann: Formgeschichte, S. 18. – Vgl. Willems: Literatur, S. 1017. 24 Willems: Ästhetische Thaumaturgie, S. 534. 25 Lobsien: Das literarische Feld, S. 28–29. 26 Vgl. Böckmann: Formgeschichte, S. 18. 27 Willems: Der Literaturbegriff als Problem, S. 241–242. 28 Lobsien: Das literarische Feld, S. 25. 29 Böckmann: Formgeschichte, S. 18.
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praktischer Moral hinauslaufen, es kann aber auch, wie bei Wolfgang Düsing, Alexander Löck und Dirk Oschmann, um eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Wirklichkeitskonzepten gehen, sofern man anerkennt, dass Lebenswelt „die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen“30 bildet. Es lässt sich zum anderen jedoch auch der umgekehrte Weg einschlagen, wenn man nämlich nicht nach der Lebenswelt in der Literatur fragt, sondern nach der Literatur in der Lebenswelt. Gerhard Kurz und Gerhard R. Kaiser verbinden in ihren Analysen zur Sattel- und Schwellenzeit um 1800 freilich beide Problemperspektiven, während Juliane Köster und Karol Sauerland an ganz handgreiflichen Beispielen die Auffassungen und Auswirkungen von Literatur in einer Lebenswelt bedenken, die als die unsrige noch andauert. Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Lebenswelt, verstanden als Frage nach der Verknüpfung von Formen-, Werte- und Bewusstseinswandel, ist nicht nur eine Kernfrage der Literaturwissenschaft – sie steht als solche zugleich im Zentrum der Forschungen von Gottfried Willems, dem die Wissenschaft grundlegende Studien zur Erhellung dieser Zusammenhänge verdankt. Die hier vorgelegten Beiträge bauen vielfach auf seinen Forschungen auf. Ihm sei darum dieses Buch gewidmet. Am Schluss bleibt uns zu danken. Bei den Beiträgern bedanken wir uns für die hervorragende und anregende Zusammenarbeit. Bei Anne Baldauf und Uwe Maximilian Korn bedanken wir uns für die große Mithilfe bei der Einrichtung der Textvorlage. Und schließlich bedanken wir uns sehr herzlich bei unserem Lektor Harald Liehr, der mit unerhörtem Engagement das Zustandekommen dieses Bandes jederzeit unterstützt und vorangetrieben hat. Jena und Leipzig im April 2012
30 Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 29.
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Gottfried Willems’ Konzeption einer Literaturwissenschaft als Phänomenologie der Darstellungsstile Literatur und Kunst, und gerade sie, bringen die Probleme der Zeit zum Austrag, wie sie uns anders gerade nicht entgegentreten könnten. Als emotionale und intellektuelle Seismographen bieten sie uns die Möglichkeit, an kritische Potentiale angeschlossen zu bleiben, die der Anschaulichkeit nicht entraten können, um überhaupt greifbar zu sein. Dafür hat die Literaturwissenschaft in methodisch kontrollierter Sensibilität empfänglich zu sein. Sie muss begrifflich sichtbar machen, was der gestalteten Figur eine Kontur verleiht, die den verhunzenden Standardnormen jeder Gegenwart Paroli bietet. Ein Beispiel für eine Literaturwissenschaft in diesem Sinne findet sich in Gottfried Willems’ Großprojekt einer Phänomenologie des sich darstellenden Geistes. Also nicht nur des literarischen Geistes. Und auch nicht nur (aber vor allem) eine Phänomenologie des sich im 20. Jahrhundert darstellenden Geistes. Es handelt sich um ein Projekt, das, universal ausgelegt, die innere Dynamik der Expressivität des 20. Jahrhunderts analysiert. Willems gelingt es, die Struktur dieser Dynamik in einer Analytik der ‚Darstellungsstile‘, eine Kategorie, die er als erster so benannt hat, durchsichtig und verstehbar zu machen. In seinem bisherigen Hauptwerk Anschaulichkeit aus dem Jahre 1989 hat er diese Phänomenologie des sich darstellenden Geistes im Grundriss vorgelegt. Hiernach bewegen sich die Darstellungsstile der letzten Jahrhunderte expressiv gewissermaßen von Außen nach Innen: Von allegorischen Darstellungsweisen emanzipieren sich mimetisch-illusionistische, bis sie Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhundert in einen von Willems so genannten ‚intuitionistischen‘ Darstellungsstil übergehen. Ob der von ihm hier im Anschluss an Heinrich Rickert terminologisch verwendete Ausdruck ‚Intuitionismus‘ in diesem Zusammenhang glücklich gewählt ist, sei dahin gestellt. Er führt jedenfalls leicht zu Verwechslungen mit dem Titel ‚Intuitionismus‘, wie er für das Grundlegungsprogramm der Mathematik im Gefolge von Brouwer schon seit langem geläufig ist. Deshalb hat Gottfried Willems in späteren Studien1 stattdessen auch den Ausdruck ‚Vitalismus‘ vorgezogen. Was der Sache nach von Willems gemeint ist, ist aber unabhängig von diesen Titeln völlig korrekt gesehen: Die Darstellungsstile der Moderne bevorzugen ‚authentizistische‘ 1 Vgl. Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte und zur Lage der Literaturwissenschaft, Bonn 2000, S. 38 ff. (= Bonner philosophische Vorträge und Studien 13).
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Varianten, prämieren also Lebensnähe in des Wortes schillernder Bedeutung. In dieser einseitigen, sich selbst nicht durchsichtigen Präferenz sieht Gottfried Willems zugleich den Geburtsfehler der Moderne, genauer: ihr Risikozentrum, und zwar in allen Expressionsfeldern. Hier wird sein literaturwissenschaftliches Projekt über die Analyse der Darstellungsstile in der Tat zu einem Instrument der Zeitdiagnose. Im Darstellungsstil der Moderne wird zugleich ihre innere Gefährdung sichtbar. Gerade weil sie auf dem Altar eines „Radikalismus des Uranfänglichen, vermeintlich Natürlichen [...] jede Leistung der Vernunft, jede Hervorbringung der Zivilisation als nicht ursprünglich, nicht authentisch, nicht lebendig-unmittelbar“2 zu opfern bereit ist bzw. war, schlägt sie in Zivilisationsverneinung um. Wo sich die Moderne seit ihrem Beginn aus dem Kampf um den Kochtopf des Lebens vollstreckt, beschwört sie Authentizitätsquellen wie Rasse, Klasse und Kasse oder Innerlichkeitsikonen wie Birkenstockschuhe, selbstgestrickte Pullover oder Frösche und Lurche. Solche Authentizitätsquellen werden zugleich als postsakrale Sinnquellen in Anspruch genommen, um der drohenden Sinnlosigkeit nach dem Zusammenbruch mimetisch-illusionistischer Expressivität geradezu verzweifelt entgegenwirken zu können. Was die Moderne auf diese Weise von Anfang an verfehlt, ist die Entdeckung und Bejahung einer Normalität, die dennoch nichts Positives zu sein braucht. In diesem Sinne ist, was Gottfried Willems in einer außerordentlich plastischen Studie unter dem Titel Abschied vom Wahren – Schönen – Guten. Wilhelm Busch und die Anfänge der ästhetischen Moderne von 1998 in Frageform bemerkt, in der Tat bedenkenswert: „Ist das 20. Jahrhundert nicht eher die Zeit eines Überangebots von Sinn gewesen als eine Epoche fortschreitenden Sinnverlustes?“3 Hier wird Willems zum Eroberer der verlorenen Insel der Selbstverständlichkeit. Diese bekundet sich auch in Formen literarischer Expressivität, die Dokumente anders nicht erreichbarer Autonomie sind. Auch da, wo sie dem Zerfall der Form den betörenden Funken einer überirdischen Formfähigkeit abnötigen. Der Sinn des Literarischen bleibt an seinen Bezug zur Lebenswelt gebunden, denn nur hier gibt es Betörendes und Niederschmetterndes, den Adel der Seele und das Teuflische der Begierden.4 Natürlich bedeutete der Zusammenbruch des mimetisch-illusionistischen Darstellungsstils im 19. Jahrhundert in allen Feldern der Expressivität zunächst einmal eine Erfahrung von Sinnverlust in endgültiger Abstandnahme von der Laokoon-Ästhetik. 2 Gottfried Willems: ‚Frei um zivilisiert zu sein und zu sein‘. Das Verhältnis von moderner Kunst und Zivilisationskritik im Licht von Gertrude Steins ‚Paris Frankreich‘, Erlangen, Jena 1996, S. 23 (= Jenaer Philosophische Vorträge und Studien 17). 3 Gottfried Willems: Abschied vom Wahren – Schönen – Guten. Wilhelm Busch und die Anfänge der ästhetischen Moderne, Heidelberg 1998, S. 235. 4 Vgl. hierzu die rezente Studie von Gottfried Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Wissenschaft. Die Literatur als Refugium des Wertlebens und das Ideal der wertfreien Wissenschaft, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich unter Mitarbeit von Andreas Grimm, Berlin, New York 2010, S. 223–245.
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So kann es nicht verwundern, dass die Frage nach der Sinngebung des Sinnlosen, um mit Theodor Lessing zu reden, in der Tat zu der Kardinalfrage des 20. Jahrhunderts wurde. Das führte in der Moderne zu einer häufig heroisch hypertrophierten Sinnsuche, deren Ausläufer bis in unsere Gegenwart reichen. Hier ist daher die Botschaft Wilhelm Buschs bemerkenswert, der den „Blick ins Nichts“5 in einiger Gelassenheit auszuhalten empfiehlt, um in aller „Bescheidenheit“6 den postheroischen, skeptischen Blick auf die Vorzüge des Alltäglichen zu werfen, wo es Gelingendes auch völlig frei von der Knechtschaft einer Sinn-Hysterie gibt. Willems bietet hier eine schöne Formel an: „Kann ich die Welt nicht durchschauen, so kann ich sie doch schauen.“7 Dieselbe Botschaft hat Gottfried Willems in einer Studie zu Gertrude Stein herausgearbeitet, die 1996 unter dem Titel Frei um zivilisiert zu sein und zu sein. Das Verhältnis von moderner Kunst und Zivilisationskritik im Lichte von Gertrude Steins ‚Paris Frankreich‘8 erschienen ist. Hier zeigt Willems, dass die Moderne durchaus in der Lage war, sich den Verführungen des Totalitären zu entziehen, um eine positive Ästhetik des Gelingens in der Lebenswelt zu gestalten. Wie anders hätte die moderne Kunst sich den funktional hässlichen, aber dysfunktional sogar formschönen Dingen des Alltags zuwenden können, wie sie in den ready mades von Marcel Duchamp z.B. als Pissoir vorkommen? Man benötigt keinen die Lebenswelt transzendierenden Sinn, wie eine negative Ästhetik immer behauptet.9 Es genügt die immanente Transzendenz, und das ist schlichtweg bloß jene Bedeutungshaltigkeit, die erforderlich ist, damit Verstehensprozesse überhaupt in Gang kommen können. Diese Bedeutungshaltigkeit genügt auch schon, um sich den unerquicklichen, weil reflexionslosen Naturalismus Ende des 19. und wieder Ende des 20. Jahrhunderts vom Leibe halten zu können, weil Sinnverhältnisse nicht als physikalische Seinsverhältnisse entschlüsselt werden können. In der Fluchtlinie solcher Koordinaten entwickelt Gottfried Willems seine Phänomenologie der Darstellungsstile, um der Germanistik ihre methodischen Grundlagen zu sichern. In der Fluchtlinie solcher Koordinaten entwickelte Gottfried Willems aber auch schon einen Begriff der Aufklärung, der dem zeitgenössischen vulgären Geschichtsverständnis weitgehend abhanden gekommen ist. In seiner Antrittsvorlesung in Jena vom 4.7.1994, die im selben Jahr unter dem Titel ‚Dass ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe‘. Goethes Jenaer Begegnung mit Schiller im Juli 1794 und sein aufkläreri-
5 Willems: Abschied vom Wahren – Schönen – Guten, S. 235. 6 Vgl. Willems: Abschied vom Wahren – Schönen – Guten, S. 122. 7 Willems: Anschaulichkeit, S. 367. 8 Siehe Anm. 2. 9 Vgl. Willems: ‚Frei um zivilisiert zu sein und zu sein‘, S. 20 ff.
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scher Naturbegriff 10 erschienen ist, entwickelte Gottfried Willems den Gedanken, dass die Aufklärung gerade nicht, wie weithin fälschlich üblich, als Prozess einer Reduzierung des Weltbildes auf den mathematisierten naturwissenschaftlichen Sektor gesehen werden dürfe, sondern vielmehr darin bestehe, die vielfältigen Weltzugänge in ihrem Eigenrecht zu legitimieren. Aufklärung als Institution ist quasi eine Kartellbehörde zur Verhinderung von Diskursmonopolen. Zunächst galt es, das theologische Diskursmonopol zu zerschlagen, dann aber auch das szientistische. In diesem Sinne tritt in der Aufklärung, wie schon Joachim Ritter hervorgehoben hatte, dem esprit de finesse die logique du coeur (Pascal) gleichberechtigt zur Seite, den petites perceptions (Leibniz) die Ratio der mechanischen Rechenverfahren, der Logik die informelle Erkenntnis im vorbegrifflichen, d.h. hier im ästhetischen Bereich (Baumgarten).11 Auf dieser Schiene, so erläutert Willems, ist auch Goethes Insistieren auf eine Farbenlehre zu verstehen, die dem sehenden Auge gegen Newton belässt, was nicht der Zahl ist und sein kann. Gerade darin besteht ja der volle Ertrag der Aufklärung, dass sie jedem, nicht nur dem theologischen oder dann dem szientifischen Reduktionismus entgegentritt. Die Sonne also auch dann noch um die Erde kreisen lässt, wenn der Astronom die Bahn der Erde um die Sonne berechnen kann.12 Der phänomenale Eindruck einer um den Menschen kreisenden Sonne kann durch die Himmelsmechanik ja nicht für nichtig erklärt werden. In diesem Sinne ist der Prozess der Aufklärung auch heute noch Verpflichtung, für eine Zeit also, in der die bedeutungsverstehenden Wissenschaften wie Geschichte und Philologien unter reduktionistischen Druck geraten, wie er sich auf zunehmend penetrante Art in internationalen Wissenschaftssekten wie den ‚Brights‘ in der Erbfolge des in Jena gut bekannten ‚Monistenbundes‘ wieder etabliert. Jedenfalls zeigt die Rekonstruktion des Aufklärungsprofils bei Gottfried Willems, dass die Literaturwissenschaft in einem methodisch kontrollierbaren Sinn geeignet ist, die kritischen Potentiale der Geschichte und der Literatur analytisch zu sichern, um sie einer Gegenwart anzuempfehlen, die sich anschickt, die Idee der Mündigkeit des Menschengeschlechts dem erreichten Stand der Messtechnik aufzuopfern. Wo aber eingesehen ist, dass jede Messtechnik zunächst einmal eine Kulturleistung 13 ist, wo eingesehen ist, dass Zahlen zuerst die Objektivität des Geistes bezeugen und dann erst der Natur, verdampft ein reflexionsloser Naturalismus nicht nur unserer Zeit.
10 Gottfried Willems: ‚Dass ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe‘. Goethes Jenaer Begegnung mit Schiller im Juli 1794 und sein aufklärerischer Naturbegriff. Erlangen, Jena 1994. 11 Vgl. Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution, in: ders.: Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 1969, S. 215. 12 Vgl. Willems: ‚Dass ich Ideen habe ...‘, S. 30. 13 Vgl. u.a. Peter Janich: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt a. M. 1996.
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Gegen einen solchen reflexionslosen Naturalismus hatte schon der ansonsten durch und durch desillusionierte Gottfried Benn angedichtet. Wo er seine Lyrik dem Verstörungsfeld einer erbarmungslosen Normalität aussetzt, dem Seziertisch, der Kneipe, dem Bordell, also den Vollstreckungsorten posenloser Subjektivität in der Großstadt, ringt er diesen Szenen dennoch den Funken poetischer Bedeutsamkeit ab, der gerade hier heller strahlen kann als im kontrastarmen Milieu wohltemperierter Bürgerlichkeit. In diesem Sinne hat Gottfried Willems die Lyrik Gottfried Benns unter dem Titel Großstadt- und Bewußtseinspoesie14 analysiert und gezeigt, dass Benns selbstbezeugter ‚Fanatismus zur Transzendenz‘ nicht mehr besagt als dies: Eine ‚dunkelhellila Aster‘ ist auch dann noch und vielleicht gerade dann wahrnehmungswürdig, wenn sie einem ‚ersoffenen Bierfahrer‘, auf den Seziertisch ‚gestemmt‘, ,zwischen die Zähne geklemmt‘ wurde. Metaphysik gibt es bei Benn schon da, wo mit solch bescheidenen, aber dennoch mythogenen Requisiten, wie Willems schreibt, „über einen soziologischen und psychologischen Materialismus hinausgegangen wird.“15 Benns illusionsloser Realismus bringt ihn zunächst einmal auf Augenhöhe mit Nietzsches Nihilismus und ist requisitär doch zugleich dessen Dementi. Der Blick ins Nichts, in die absolute Bedeutungslosigkeit, wird durch ein Detail dementiert, sei es eine Aster, oder sonstige Blumen wie Flieder, Phlox, Asphodelen, Levkoien, Mimosen, Malven, Jasmin, Vergissmeinnicht oder durch Worte aus dem Blumenkasten ärztlichen Vokabulars wie ‚Schädelblüten‘16 . Sie sind dementierende Haltepunkte für das gequälte Ich angesichts des Nichts. Benn fasst das bündig zusammen: „es gibt nur zwei Dinge, die Leere und das gezeichnete Ich.“17 Gottfried Willems macht in Benn so den Dichter einer Moderne vorstellig, der sich den intuitionistischen bzw. vitalistischen Fallstricken zu entziehen weiß und einen genuinen Darstellungsstil entwickelt, der ihn ebenso von den Fallstricken eines szientistischen Nihilismus fern hält. Benns Darstellungsstil macht es jedenfalls nicht mehr möglich, die gesamte literarische Moderne, wie Hugo Friedrich seinerzeit empfahl, schlichtweg und bloß als riesige Desillusionierungsmaschine zu verstehen. Benns poetischer Darstellungsstil folgt nicht dem Imperativ einer „Entwertung der wirklichen Welt“, wie Hugo Friedrich tout court von der Lyrik des 20. Jahrhunderts behauptet,18 sondern hält die Leere im Namen ihres Zeugen aus. Eines Zeugen, der die Leere nicht leugnet und sich dennoch, um das zu können, zugleich ins ‚Unaufhörliche‘ gestellt weiß. 14 Gottfried Willems: Großstadt- und Bewußtseinspoesie. Über Realismus in der modernen Lyrik, insbesondere im lyrischen Spätwerk Gottfried Benns und in der deutschen Lyrik seit 1965, Tübingen 1981. 15 Ebd., S. 45. 16 Gottfried Benn: Terzett und Tenorsolo, in: ders.: Gedichte, hg. von Dieter Wellershoff, Bd. 3, Wiesbaden 1963, S. 143. 17 Benn: Gedichte, S. 342. 18 Vgl. Willems: Großstadt- und Bewußtseinspoesie, S. 117.
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‚Das Unaufhörliche‘ ist Benns Titel zu seinem Text19 für das Oratorium von Paul Hindemith (nicht seine beste Komposition!), das am 21.11.1931 in der Berliner Philharmonie unter Otto Klemperer uraufgeführt wurde. Ein beziehungsreicher Titel, den ich hier deutungslos stehen lassen will als Marke für eine Miniaturmetaphysik, die jedes Gedicht von Benn bezeugt. In seiner Rede anlässlich seiner Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste am 5.4.1932 beschwört Benn den Kontrast zwischen dem Blick ins Nichts und seinem Dementi in jeder kreativen Gestalt. Dieser Kontrast sei gar nicht neu, und hier hat Benn zutiefst Recht, er war schon immer gegeben. Benn befindet lakonisch, „daß der Geist nie etwas anderes atmete, als diese Ambivalenz zwischen Bilden und Entgleiten, sich nie anders erlebte, als in der Differenzierung zwischen den Formen und dem Nichts [...].“20 Unsere Kreativität ist es, die den Blick ins Nichts auf manchmal freilich unbequeme Weise erträglich macht. Wenn einem nichts einfällt, ist das Desaster allerdings nicht zu beheben. Und wenn der Literaturwissenschaft dazu nichts einfällt, droht das Desaster auch ihr. Gerade darauf besteht Gottfried Willems, wenn er sich im Jahr 2000 unter dem Titel Der Weg ins Offene als Sackgasse mit seinem eigenen Fach, das gelegentlich unter dem Schutt und Müll postmoderner Theoriereste kaum noch zu erkennen ist, kritisch ins Benehmen setzt. In der Tat tritt Gottfried Willems hier mit polemischer Verve dem Zeitgeist entgegen, der sein Heil in einer kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften suchte, sie gerade dadurch aber ‚entsorgungsfähig‘ machte. Für dieses Bestreben stand besonders deutlich der Titel eines Buches, das Friedrich A. Kittler schon 1980 herausgebracht hatte: Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Gottfried Willems bemerkt zu diesem Programm süffisant, dass „einige der Beteiligten in der Tat gute Voraussetzungen [dazu] mitbrachten.“21 Man muss aber zudem deutlich sehen, dass die hier und auch heute noch propagierte kulturwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften ein Vorbild in der untergegangenen DDR ebenso hatte, wie im Dritten Reich. Immer ging es um einen Kampf gegen den Geist. Er wird auch in unserer Zeit wieder als störend empfunden, ihm sei der verheerende deutsche Sonderweg der Geisteswissenschaften zu danken. Was daran verheerend gewesen sein soll, bleibt allerdings unerfindlich. Geistschelten bezeugen in Deutschland immer, um mit Peter Handke zu reden, ‚Spuren der Verirrten‘.22 Botho Strauss bündelt das für unsere Zeit so: „Aus der Banalität des Bösen ging das Böse der Banalität hervor.“23
19 Vgl. Benn: Gedichte, S. 476 ff. 20 Zit. n. Walter Lennig: Gottfried Benn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1962, S. 106. 21 Willems: Der Weg ins Offene, S. 46. 22 Vgl. Peter Handke: Spuren der Verirrten, Frankfurt a. M. 2006. 23 Botho Strauss: Die Unbeholfenen. Bewußtseinsnovelle, München 2007, S. 54.
Literaturwissenschaft als Phänomenologie der Darstellungsstile
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Alfred Baeumler, Exponent einer nationalsozialistischen Philosophie, plädierte schon 1934 in genau diesem heute wieder modernen, aber ‚verirrten‘ Sinn für „eine realistische Philosophie der Kultur“.24 Dieser Realismus ‚erdete‘ die Kultur seinerzeit, heute so nicht mehr, in Technik und Rasse, in der DDR natürlich in Technik und Klasse, heute in Technik und System à la Luhmann. In diesen Projekten sieht Gottfried Willems mit Recht den Versuch, einem wirklich ertragreichen und vor allem auch kritischen Modernisierungsdiskurs auszuweichen, indem die normativen Implikationen aller Darstellungsstile, auch die der Literatur, in synkretistischen Zugriffen einfach verkleistert und damit unwirksam gestellt werden. In der Tat, hier fallen für die Literaturwissenschaft die Würfel. Horst Bredekamp hat die Rechtfertigung dieser Orientierung am Darstellungsstil kürzlich in seinem Buch über den Künstler Galilei in einer prägnanten Formulierung auf den Punkt gebracht: „[E]rst im Stil der Darstellung entscheidet sich die Substanz der Erkenntnis.“25 Ich wüsste nicht, was man einer Literaturwissenschaft mehr abverlangen könnte, wenn sie denn zugleich ihren Status als Wissenschaft zu behaupten bereit ist.
24 Alfred Baeumler: Ästhetik (Handbuch für Philosophie), München, Berlin 1934, S. 96. Vgl. hierzu Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, S. 106, 199 ff. 25 Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand, Berlin 2007, S. 340.
Adrian Brauneis und Tom Kindt
Fröhliche Wissenschaft Zur Bedeutung des Literaturbegriffs für eine Begründung der Literaturwissenschaft
Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft
Die Frage nach der Literatur, ihrem Wesen und ihren Leistungen hat in der Literaturwissenschaft zurzeit Konjunktur. Nachdem entsprechende Debatten in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur geringe wissenschaftliche Resonanz fanden, wird nun wieder darüber nachgedacht und gestritten, was Literatur ist, welche Formen und Funktionen für sie kennzeichnend sind, wie ihr Gebrauch aussieht und wann ein Missbrauch vorliegt, wie der Begriff der Literatur zu bestimmen ist und wo die Grenzen der Literatur verlaufen.1 Die folgenden Überlegungen setzen bei diesen neueren Diskussionen an, ohne sie jedoch unmittelbar fortführen zu wollen; sie werden die Debatten oder – genauer gesagt – eine in ihnen immer wieder vertretene Position vielmehr zum Anlass nehmen, den Zusammenhang zu beleuchten, der zwischen Überlegungen zum Literaturbegriff und dem Vorhaben einer Begründung der Literaturwissenschaft besteht.2 Konkret möchten wir dabei versuchen, zumindest in Umrissen deutlich zu machen, wie eine einleuchtende Begründung des Vorschlags aussehen könnte, die Auseinandersetzung über den Begriff der Literatur und die über den Begriff der Literaturwissenschaft, ihren Aufbau und ihre Aufgaben, auseinander zu halten. 1 Vgl. hierzu zuletzt Jürn Gottschalk und Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn 2006; Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomenen des Literarischen, Berlin 2009; Alexander Löck und Jan Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2010; Marjorie Garber: The Use and Abuse Of Literature, New York 2011. 2 Vgl. zu diesem Problem aus einer anderen Perspektive Tom Kindt, Oliver Krug und Hans-Harald Müller: Was ist Literatur? Bemerkungen zu einer Frage der Literaturwissenschaft, in: Winko/Jannidis/ Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur, S. 92–102.
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Adrian Brauneis und Tom Kindt
Diese Idee werden wir in drei Schritten entwickeln: Der erste Teil unserer Überlegungen wird zunächst eine partielle Erklärung für den aktuellen Aufschwung der Fachdebatte über den Literaturbegriff entwerfen, indem er die in den Auseinandersetzungen recht verbreitete Auffassung vorstellt, dass die Rückkehr zu einem klassisch-humanistischen Verständnis von Literatur geboten und zugleich als Schlüssel zu einem fundierten Verständnis von Literaturwissenschaft anzusehen sei. Nach der näheren Charakterisierung dieser Auffassung werden wir uns dann in einem zweiten Abschnitt ihrer Diskussion und Kritik widmen; dabei soll insbesondere die mit ihr oft verbundene Vorstellung in Zweifel gezogen werden, dass auf dem Weg einer Bestimmung des Literaturbegriffs eine Idee von Literaturwissenschaft zu gewinnen sei, die der Disziplin nach innen Homogenität und nach außen ein markantes Profil zu verleihen vermag. Der dritte Teil unserer Betrachtungen wird schließlich einige Hinweise zu einer – ohne den Rückgriff auf einen spezifischen Literaturbegriff auskommenden – Begründung des Faches liefern, die Literaturwissenschaft als pluralistische und dialogorientierte ‚Aufklärungswissenschaft‘3 zu erläutern versucht.
1 Dass sich die Literaturwissenschaft seit einiger Zeit wieder mit dem Literaturbegriff beschäftigt, hat eine Reihe von Gründen, die hier nicht im Einzelnen aufgelistet oder gar näher untersucht werden sollen. Im vorliegenden Zusammenhang wollen wir uns damit begnügen, auf einen Typ von Stellungnahme zu den Debatten hinzuweisen, dem ein leitendes Motiv für den Versuch zugrunde liegt, eine Explikation des Begriffs der Literatur zu entwickeln. Die Beiträge, die sich dem betreffenden Typ von Stellungnahme zurechnen lassen, heben sich im Detail recht deutlich voneinander ab; dass wir sie gleichwohl als Ausprägungen einer Position verstehen, erklärt sich daraus, dass sie zwei grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen:4 Erstens sind sich die betreffenden Stellungnahmen allgemein darin einig, dass die Frage nach der Literatur auch oder sogar ganz wesentlich als eine nach dem Gegenstand der Literaturwissenschaft verstanden werden sollte. Sie entwerfen in diesem Sinne keine ‚selbstgenügsame‘, sondern eine ‚fachbezogene‘ Antwort auf jene Frage, sie 3 Siehe zu diesem Konzept Punkt 3 dieses Textes. 4 Stellvertretend für den betrachteten Positionstyp seien nur drei einschlägige Arbeiten genannt, die sich gegenüber dem Gros der Forschungsbeiträge durch eine historisch wie systematisch anspruchsvolle Explikation des Begriffs fiktionaler Literatur auszeichnen: Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung, in: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, hg. von Wolfgang Braungart, Klaus Ridder und Friedmar Apel, Bielefeld 2003, S. 337–366; Herbert Grabes: Culture or Literature, in: Partial Answers. Journal of Literature and the History of Ideas 5/2 (2007), S. 153–164; Gottfried Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Wissenschaft. Die Literatur als Refugium des Wertlebens und das Ideal der wertfreien Wissenschaft, in: Löck/Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur, S. 223–245.
Zur Bedeutung des Literaturbegriffs
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bringen – anders ausgedrückt – das Vorhaben einer Begriffsexplikation mehr oder weniger bruchlos mit dem Versuch einer Gegenstandscharakterisierung zur Deckung.5 Und zweitens stimmen die Diskussionsbeiträge des in Rede stehenden Typs inhaltlich darin überein, dass sie für die Rückbesinnung auf einen ‚traditionellen‘ Begriff der Literatur eintreten, der diese – in Abgrenzung vom verbreiteten ‚pragmatischen‘ Begriff – über bestimmte Objektqualitäten zu fassen und so als eigenständige Diskurspraxis zu erläutern versucht.6 Welches Motiv der vorgestellten Position in der neu entflammten Auseinandersetzung über den Literaturbegriff zugrunde liegt, wird deutlich, wenn sie im Kontext der jüngeren Fachhistorie gesehen wird. In diesem Zusammenhang betrachtet ist ihr Auftreten unschwer als defensive Reaktion auf einige Tendenzen erkennbar, die für die Entwicklung der Literaturwissenschaft und die ihrer Stellung innerhalb der Text- und Kulturwissenschaften in den zurückliegenden Jahrzehnten bestimmend gewesen sind: Zum Ersten ist der charakterisierte Typ von Stellungnahme aus der geradezu inflationären Vermehrung interpretationstheoretischer Ansätze zu erklären, die sich in der Literaturwissenschaft seit den späten 1960er Jahren beobachten lässt und bei vielen Fachvertretern den beunruhigenden Eindruck eines anything goes weckt.7 Zum Zweiten ist er auf die Herausforderung durch das zumindest wissenschaftspolitisch ungemein erfolgreiche Projekt einer transdisziplinären historischen Kulturwissenschaft zurückzuführen, die es nicht zuletzt auf eine „Entprivilegierung des literarischen Textes“8 anlegt und für eine Literaturwissenschaft mit konservativer Orientierung darum als Existenzbedrohung erscheinen mag.9 Und zum Drit5 Vgl. zu diesen beiden Perspektiven auf die Frage Krug/Müller/Kindt: Was ist Literatur? oder Klaus Weimar: Funktionen des Literaturbegriffs, in: Winko/Jannidis/Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur, S. 78–91 und zur Kritik an ihrer Vermengung Köppe/Gottschalk (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie oder auch Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer: Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs, in: Köppe/Gottschalk (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, S. 123–154. 6 Zum pragmatischen Literaturbegriff vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1993, hier besonders S. 65; Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko: Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff, in: Winko/Jannidis/ Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur, S. 29–33; zur Erörterung des Verständnisses von fiktionaler Literatur als selbständiger Diskurspraxis vgl. etwa Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M., Leipzig 1995, S. 63, 126 und 134–137. Vgl. auch unten S. 32 ff. 7 Vgl. für eine Zwischenbilanz zu diesem Differenzierungsprozess Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2008. 8 Doris Bachmann-Medick: Literaturwissenschaft in kulturwissenschaftlicher Absicht, in: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, hg. von ders., Frankfurt a. M. 1996, S. 46. 9 Beispielhaft für die literaturwissenschaftliche Diskussion des Vorhabens einer historischen Kulturwissenschaft sei auf die Jahrgänge 41 bis 43 (1997–1999) des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft verwiesen, die sich – so der Titel von Wilfried Barners Einleitung in die Diskussion – mit der Frage befassen: „Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?“ Vgl. zum Zusammenhang ferner Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart, Weimar 2004.
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Adrian Brauneis und Tom Kindt
ten ist die betrachtete Position schließlich mit der Erfahrung grundlegender Umbrüche in der Medienlandschaft verknüpft, in deren Folge die Literatur ihren Rang als Leitmedium erkennbar eingebüßt hat; sie verweist mehr oder weniger direkt auf die Befürchtung, dass die neuen Medien der Literatur als Quelle „kultureller Selbstanschauung“10 den Rang ablaufen könnten – eine Befürchtung, wie sie sich etwa auch in kulturpessimistischen Dikta nach Art von Philip Roths „the book can’t compete with the screen“11 artikuliert. Eine der maßgeblichen Ursachen für die lebhafte gegenwärtige Beschäftigung mit dem Literaturbegriff – so sollte die kurze wissenschaftshistorische Kontextualisierung der oben charakterisierten Positionsvariante verdeutlicht haben – ist das Unbehagen der Literaturwissenschaft an ihrer inneren Verfassung und ihrer Rolle im Zusammenhang der Kultur- und Medienwissenschaften. Positiv formuliert: Die Literaturwissenschaft trägt zur Belebung des Nachdenkens über den Literaturbegriff nicht zuletzt deshalb bei, weil viele ihrer Vertreter an dessen Klärung zwei weitreichende Erwartungen knüpfen: Von einer entsprechenden Begriffs-, und das heißt hier zugleich: Gegenstandsbestimmung erhoffen sie sich für das Fach einerseits eine klare methodische Orientierung, die über die Zulässigkeit und Unzulässigkeit einzelner literaturtheoretischer Positionen und Modelle zu urteilen erlaubt, und andererseits ein konturiertes disziplinäres Profil, das die Besonderheit und Relevanz des Faches in der kulturwissenschaftlichen Disziplinenkonkurrenz anzeigt. Ob diese Erwartungen berechtigt sind oder ob sie einer Bestimmung des Konzepts der Literatur zu viel auflasten, soll nun untersucht werden.
2 Historisch betrachtet ist die im vorangegangenen Abschnitt untersuchte Position in der Debatte um das Literaturkonzept eine nachvollziehbare Erscheinung. Wie aber ist sie aus systematischer Perspektive zu beurteilen? Lässt sich der Literaturwissenschaft durch eine Charakterisierung des Literaturbegriffs tatsächlich ein Fundament geben, das ihr Homogenität und Legitimität zu verleihen vermag? Nach unserer Auffassung ist dies, wie wir einleitend bereits angemerkt haben, nicht der Fall. Die Gründe für diese Skepsis wollen wir nun durch eine kurze Diskussion der beiden Erwartungen umreißen, die mit der
10 Frank Kelleter: Populärkultur und Kanonisierung. Wie(so) erinnern wir uns an Tony Soprano?, in: Wertung und Kanon, hg. von Matthias Freise und Claudia Stockinger, Heidelberg 2010, S. 55–76, hier S. 75. Kelleter entwickelt hier die Idee, dass den ästhetisch und narrativ hochwertigen TV-Serien des amerikanischen Fernsehens im Zusammenhang der Kultur des 21. Jahrhunderts eine dem klassischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts äquivalente gesellschaftliche Stellung zukomme. 11 Roth zitiert nach Tina Brown: Philip Roth Unbound, vom 21. Oktober 2009, Min 1:27–1:30, URL: http://www.thedaily-beast.com/articles/2009/10/21/philip-roth-unbound.html [letzter Zugriff: 09. März 2012].
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charakterisierten Positionsvariante verbunden sind, also der methodischen Regelungserwartung und der disziplinären Profilierungs- oder Legitimierungserwartung. Die methodische Regelungserwartung kommt in vielen Stellungnahmen des skizzierten Typs zum Ausdruck. Ganz unmittelbar zeigt sie sich beispielsweise in Formulierungen wie den folgenden: „Was ist Literatur? Bei allem, was der Literaturwissenschaftler tut, begleitet ihn diese Frage. […] Die Frage nach dem Wesen der Literatur regiert seine Methode, darum ist sie ihm stets gegenwärtig.“12 Oftmals wird die Vorstellung, dass der Literaturbegriff das Vorgehen der Literaturwissenschaft in diesem Sinne bestimmt oder doch bestimmen sollte, aber auch mittelbar deutlich, etwa in der Kritik an Literaturdefinitionen, die wesentlich der Legitimierung bestimmter Literaturtheorien zu dienen scheinen.13 Die Regelungserwartungen, die in einen eingegrenzten Literaturbegriff gesetzt werden, beruhen offenkundig ganz wesentlich auf der einleuchtenden Annahme, dass die Vorstellung vom zu behandelnden Gegenstand großen Einfluss auf Theoriebildung und Methodenwahl einer Wissenschaft hat. Wer aus dieser Annahme allerdings folgert, ein geklärter Literaturbegriff schaffe die Voraussetzung für ein Macht- und Schlusswort in der Theorien- und Methodenkontroverse der Literaturwissenschaft, der überschätzt jenen Einfluss erheblich.14 Schaut man sich etwas näher an, wie im Fach über das Problem der Textinterpretation gestritten wird und welche Rolle die Frage nach der Literatur im Kontext der betreffenden Auseinandersetzungen spielt,15 erfahren die umrissenen Regelungshoffnungen einen deutlichen Dämpfer – hier soll der Hinweis auf zwei Punkte genügen: Schon bei einer schlichten empirischen Bestandsaufnahme der Debatten kommt man kaum an der Beobachtung vorbei, dass ein Literaturbegriff mitunter Ausgangs- und Bezugspunkt verschiedener Interpretationsansätze sein kann und umgekehrt verschiedene Literaturverständnisse mit einem Modell der Textdeutung verträglich sein können.16 Ideen von Literatur scheinen die Umgangsweisen mit ihr also eher grob zu orientieren als streng zu regieren. Bei einer systematischen Auswertung der Kontroversen zum Interpretationsproblem zeigt sich allerdings ein noch gravierenderer Einwand gegen die Regelungserwartungen, die vielfach mit einer Explikation des Literaturkonzepts verbunden werden. 12 Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 1; vgl. entsprechend auch Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Wissenschaft, S. 223 f. Eine ähnliche, aber deutlich schwächere Variante dieser Auffassung findet sich bei John Martin Ellis: The Theory of Literary Criticism. A Logical Analysis, Berkeley 1974, S. 25. 13 Vgl. z.B. Klaus Weimar: Literatur, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. von dems., Harald Fricke und Jan-Dirk Müller, Berlin 2000, S. 443–448, hier S. 447. 14 Ganz abgesehen davon, dass er den Unterschied zwischen dem Literaturbegriff und dem Gegenstand der Literaturwissenschaft ohne Begründung übergeht, vgl. dazu auch die Hinweise in Anm. 5. 15 Vgl. für einen kurzen Überblick Tom Kindt und Tilmann Köppe: Moderne Interpretationstheorien. Eine Einleitung, in: Moderne Interpretationstheorien. Ein Reader, hg. von dens., Göttingen 2008, S. 7–26; ausführlich in Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien. 16 Vgl. hierzu auch Köppe/Gottschalk (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, S. 9.
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Der Literaturbegriff vermag in den Auseinandersetzungen um die Ziele und Verfahren der Textdeutung schlicht deshalb nicht als Grundlage der Streitschlichtung zu dienen, weil er selbst Gegenstand des Streits ist; sich in der Debatte auf ihn zu berufen, heißt letztlich, eine Partei zur Schiedsinstanz machen zu wollen.17 Und in dieser Situation hilft es auch nicht weiter, bei der Bestimmung des Begriffs anders zu verfahren, als es in der Literaturtheorie gemeinhin geschieht: Wer den Literaturbegriff im Theorienstreit einsetzen will, der kann im Wesentlichen zwei Wege beschreiten, die beide in der Enttäuschung der Regelungserwartungen enden: Man kann erstens einen spezifischen Begriff von Literatur auszeichnen, also eine Begriffsnormierung vornehmen; auf diesem Weg lässt sich zwar Klarheit auf der Konzeptebene gewinnen, diese wird aber durch den Verlust an Einschlägigkeit und das heißt Regelungskraft auf der Methodenebene erkauft.18 Und man kann zweitens einen empirisch-deskriptiven Begriff von Literatur entwickeln, also eine Begriffsanalyse vornehmen; auf diesem Weg lässt sich zwar zu einem Begriffsverständnis mit nicht-normativem Charakter gelangen, dies wird aber mit einem Verlust an Eindeutigkeit und das heißt wiederum Regelungskraft mit Blick auf die Methodendebatte verbunden.19 Wir kommen damit zur disziplinären Profilierungs- oder Legitimierungserwartung, die mit der oben charakterisierten Diskussionsposition einher geht. Sie wird in einer Reihe von Varianten vertreten; die gemeinsamen Grundideen kommen in dem folgenden Zitat musterhaft zum Ausdruck: „[N]ur insofern sich ein Gegenstandsbereich Literatur auf plausible Weise eingrenzen lässt und nur insofern sich im Zuge einer ‚Wesensbestimmung‘ zeigen lässt, dass es ein Gegenstand von Bedeutung sei, einer, der den Aufwand einer eigenen Disziplin lohne […], – nur insofern kann ja die Existenz einer Wissenschaft von der Literatur als gerechtfertigt gelten.“20 Auch den Profilierungs- und Legitimierungshoffnungen, die mit der Klärung des Literaturbegriffs verbunden werden, liegt eine einleuchtende Idee zugrunde, nämlich die, dass der Gegenstand, mit dem sich eine Wissenschaft beschäftigt, einen wichtigen Beitrag zu ihrer Charakterisierung, ihrer Abgrenzung von anderen Wissenschaften und nicht zuletzt ihrer Rechtfertigung im Gesellschaftszusammenhang leistet. Auch in diesem Fall gelangen die Vertreter der hier interessierenden Position auf der Grundlage einer unstrittigen Auffassung zu allzu weitreichenden Folgerungen; sie überschätzen einerseits die Relevanz, die Gegenstandsvorstellungen für die Profilierung und Legitimierung wissenschaftlicher
17 Vgl. dazu Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller: Probleme der Textinterpretation. Analytische Rekonstruktion und Versuch einer konzeptionellen Lösung, in: Kodikas / Code 3 (1981), S. 133–168; Jeffrey Stout: Was ist die Bedeutung eines Textes?, in: Kindt/Köppe: Moderne Interpretationstheorien, S. 226–247. 18 Vgl. dazu Lutz Danneberg: Zwischen Innovation und Tradition. Begriffsbildung und Begriffsentwicklung als Explikation, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, hg. von Christian Wagenknecht, Stuttgart, Weimar 1989, S. 50–68. 19 Vgl. hierzu Krug/Müller/Kindt: Was ist Literatur? 20 Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Wissenschaft, S. 223 f.
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Fächer besitzen, und sie verkennen darum andererseits die Form, in der Gegenstandsvorstellungen zur Erfüllung entsprechender Funktionen beitragen. Darauf, dass dem Gegenstand bzw. der Gegenstandsvorstellung einer Wissenschaft für deren Definition und Distinktion bestenfalls nachgeordnete Bedeutung zukommt, hat schon Max Weber überzeugend hingewiesen: „Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde [...].“21 Und: „Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke.“22 Nicht der Gegenstandbereich, so lässt sich der Webersche Hinweis paraphrasieren, grenzt eine Wissenschaft von allen anderen ab, sondern die Art und Weise, wie und woraufhin sie die Gegenstände befragt. Etwas genauer ausgeführt bedeutet dies: Das Profil und die Legitimität eines Faches ergeben sich aus einem Bündel von disziplinären Komponenten in ihrem Zusammenspiel, zweifellos auch aus gegenstandsbezogenen Annahmen, aber zugleich aus allgemeinen epistemologischen und methodischen Vorstellungen, Zielsetzungen, Problemstellungen, Funktionsideen etc.23 Nimmt man die entsprechenden gegenstandsbezogenen Annahmen genauer in den Blick, so kann man überdies feststellen, dass sie nicht so aussehen, wie es denjenigen vorzuschweben scheint, die sich von einer Bestimmung des Literaturbegriffs eine Begründung der Literaturwissenschaft erwarten. Für das Selbstverständnis und die Rechtfertigung des Faches ist ebenso in der theoretischen Begründung wie in der praktischen Durchführung der Forschungsarbeit keine präzise Abgrenzung, sondern nur eine orientierende Eingrenzung seines Gegenstandsbereichs erforderlich. Anders gesagt: Die Identität der Literaturwissenschaft ergibt sich, sofern sie überhaupt mit gegenstandsbezogenen Auffassungen verknüpft ist, aus dem größten gemeinsamen Nenner verschiedener einschlägiger Literaturverständnisse und nicht aus einer allgemein anerkannten Bestimmung des Literaturbegriffs.24 Gegen den Versuch, der Literaturwissenschaft über eine Definition des Literaturbegriffs ein Profil und Legitimität zu geben, lässt sich freilich nicht nur anführen, dass er auf trügerischen Hoffnungen beruht. Jener Versuch wird bisweilen auch mit dem überzeugenden Hinweis angegriffen, dass seine Umsetzung – unabhängig davon, ob sie grund21 Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985, S. 146–214, hier S. 166. 22 Ebd., S. 149. 23 Vgl. dazu Tom Kindt und Hans-Harald Müller: Nationalphilologie und „Vergleichende Literaturgeschichte“ zwischen 1890 und 1910. Eine Fallstudie zur Konzeption der Wissenschaftshistoriographie der Germanistik, in: Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzeption wissenschaftshistorischer Rekonstruktion, hg. von Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner und Ralf Klausnitzer, Frankfurt a. M. 2005, S. 335–361, hier besonders S. 338 ff. 24 Vgl. hierzu Tom Kindt und Hans-Harald Müller: Die Einheit der Philologie, in: Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik, S. 41–43. Einen theoretisch begründeten Vorschlag eines solchen größten gemeinsamen Nenners in Sachen Literaturbegriff werden wir unten in die Diskussion einbringen.
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sätzlich gelingen kann oder nicht – gar nicht wünschenswert ist. Eric Donald Hirschs Formulierung dieser Überzeugung soll unsere Diskussion von Nutzen und Nachteil des Literaturbegriffs für die Literaturwissenschaft beschließen: Ich will die Literatur […] nicht aus einem rein logischen und objektiven Grund gegen die Definitionen der Literaturtheorie verteidigen […]. Vielmehr möchte ich die Nutzlosigkeit solcher Definitionen aufdecken, weil sie ein gewisses Maß an Schaden angerichtet haben und weiterhin anrichten. Abgesehen davon, daß sie irreführend sind, schnüren sie ihren Gegenstand stets in einer Weise ein, die den Literaturunterricht und die Literaturforschung einseitiger macht, als es für uns selbst, unsere Studenten und unsere Kultur gut ist. […] Literatur als ein wesentlich und in erster Linie ästhetisches Phänomen zu betrachten, ist nicht nur ein Fehler; es ist auch eine sehr unglückliche Verengung unserer Reaktionen auf Literatur und unserer Auffassungen von ihrer Bandbreite und ihren Möglichkeiten.25
3 Die Konjunktur einer intradisziplinären Verständigung der Literaturwissenschaft über ihren Gegenstand wurde von uns im ersten Teil unserer Überlegungen nur in einer ihrer Facetten rekapituliert. Die skizzenhafte Rekapitulation hat sich auf die Beiträge derjenigen Diskussionsteilnehmer beschränkt, die gegenüber der Nivellierung starrer Fächergrenzen eine – zumindest tendenziell – defensive Haltung einnehmen. Diese Haltung soll nun zurückgewiesen werden. Unsere Kritik werden wir dabei durch die Beantwortung der wissenschaftstheoretischen Grundsatzfrage entwickeln, weshalb die Humanwissenschaften auf eine Reflexion und Diskussion der theoretischen Begründungsmodelle ihrer empirischen Forschungen nicht verzichten können. Indem wir das Verhältnis von Wissenschaft und Theorie näher zu bestimmen versuchen, möchten wir zum Abschluss unserer Überlegungen für die Aufgeschlossenheit der Humanwissenschaften gegenüber neuen, facheigenen wie fachfremden Theorieangeboten im intra- und interdisziplinären Dialog plädieren. Was unsere Erörterung des Verhältnisses von Wissenschaft und Theorie voraussetzt und unsere Fragestellung inspiriert, ist freilich eine konkrete Vorstellung von der Aufgabe empirischer humanwissenschaftlicher Forschung. Im Anschluss an Ernst Tugendhat wird an die Humanwissenschaften (bei ihm sind es noch die Geisteswissenschaften) die Forderung gerichtet, „Aufklärungswissenschaft“26 zu sein. Nur wenn sie hilft, den Menschen über den Menschen und dadurch über sich selbst in seinem soziokulturellen und historischen Gewordensein aufzuklären, ist eine Praxis wissenschaftlich begründeter Erkenntnis25 Eric Donald Hirsch: Was ist nicht Literatur? [1978], in: Köppe/Gottschalk (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, S. 62–71, hier S. 65 f. Vgl. auch Anm. 36. 26 Ernst Tugendhat: Die Geisteswissenschaften als Aufklärungswissenschaften. Auseinandersetzung mit Odo Marquard, in: ders.: Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S. 453–463, hier S. 462.
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gewinnung als humanwissenschaftlich zu bezeichnen und ist die Humanwissenschaft als gesellschaftlich relevante Institution einer entsprechenden Praxis gerechtfertigt.27 Wird Wissenschaft als ‚Praxis wissenschaftlich begründeter Erkenntnisgewinnung‘ definiert, wie es vorstehend bereits geschehen ist, dürfte diese Begriffsbestimmung intuitiv ebenso plausibel wie unzureichend erscheinen. Sie ist jedoch für unsere Zwecke geeignet, da sie näher an den Kern des Verhältnisses von Wissenschaft und Theorie heranführt: Eine geläufige Gegenüberstellung von Wissenschaft und Theorie bringt ersterer als Praxis intrinsisch wertvoller Erkenntnisgewinnung Wertschätzung entgegen, wohingegen sie letztere als spekulative Unternehmung ablehnt. Grammatisch anschaulicher als durch die substantivische Entgegensetzung von Wissenschaft und Theorie wird die Verwandtschaft der beiden Bereiche durch die Adjektive ‚wissenschaftlich‘ und ‚theoretisch‘. Gegenüber der Vermischung von Theorie und Praxis im Begriff der Wissenschaft – der eine in bestimmter Weise begründete Praxis der Erkenntnisgewinnung bezeichnen soll – hebt der Begriff der Wissenschaftlichkeit eine Eigenschaft von Verfahren der Erkenntnisgewinnung hervor, die sich in ihrer Extension mit dem Begriff der Theoretizität zur Deckung bringen lässt. Das Gegenstück zur Praxis, das wird die folgende Skizze eines normativen Verfahrenskatalogs wissenschaftlich bzw. theoretisch begründeter Forschungen verdeutlichen, ist nicht die Theorie, sondern die Empirie.28 Die Erfüllung von vier formal normativen Ansprüchen ist nach unserer Einschätzung für die Auszeichnung empirischer Forschungen als wissenschaftlich bzw. theoretisch begründet einschlägig: Wissenschaftlich bzw. theoretisch begründete Arbeit muss erstens grundsätzlich empirisch gesättigt sein. Sie muss zweitens bei der Erschließung von Gegenständen ihr Forschungssetting darlegen: Gefordert wird eine klare Formulierung der Fragestellungen und Behauptungen und die Transparenz allgemeiner (Hintergrund-)Annahmen über Mensch und Welt, der Begriffsverwendung, Erkenntnistheorie sowie Methodik der Forschung. Wissenschaftlich bzw. theoretisch begründete Forschung muss drittens für ihre Annahmen
27 Vgl. ebd., S. 457 f. und S. 462 f. Zu den Humanwissenschaften als ‚Aufklärungswissenschaften‘ vgl. auch Jürgen Kocka: Geschichte und Aufklärung, in: ders.: Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen 1989, S. 140–159 und 193–197, besonders S. 146–159; Harald Fricke: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin, Paderborn 1991. Es sei, so Fricke, Aufgabe der Humanwissenschaften, „auf dem Weg inter-subjektiv kritisierbarer Erkenntnisse über Menschen anderer Zeiten, anderer Kulturen oder fiktiver Welten uns alle zugleich etwas über uns selbst erfahren zu lassen“. Ebd., S. 44. 28 Vgl. dazu Stefan Haas: Theoriemodelle, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 11.02.2010, URL: http://docupedia.de/zg/Theoriemodelle [letzter Zugriff: 08. Dezember 2011]; vgl. außerdem Wolfgang Detel: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2007, S. 89 ff. und Tilmann Köppe: Konturen einer analytischen Literaturtheorie, in: Derrida und danach? Literaturtheoretische Diskurse der Gegenwart, hg. von Gregor Thuswaldner, Wiesbaden 2008, S. 67–83, besonders S. 68 f.
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und Folgerungen übersichtlich und stimmig argumentieren. Und sie muss sich viertens durch die Allgemeinheit der von ihr erarbeiteten Wissensansprüche auszeichnen.29 Dass die wissenschaftliche bzw. theoretische Begründetheit von Verfahren empirischer Erkenntnisgewinnung an einem solchen regulativen Verfahrenskatalog zu bemessen ist, ergibt sich aus der an die Humanwissenschaften gerichteten Forderung, Aufklärungsarbeit zu leisten: Formale Begründung: Die Systematisierung humanwissenschaftlicher Forschungspraxis nach Maßgabe der Kriterien ‚empirische Sättigung‘, ‚Systematik und Transparenz der Darstellung‘ sowie ‚Begründetheit und Allgemeinheit der Erkenntnisse‘ gewährleistet intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Kritisierbarkeit der Forschungsergebnisse. Forschungsergebnisse zur Diskussion zu stellen, ist Voraussetzung einer Verfeinerung, Ergänzung oder Neuorientierung der Wissenschaftspraxis. Durch die Ermöglichung eines kritischen Dialogs trägt die skizzierte Normierung der Wissenschaftspraxis – mit dem evolutionstheoretischen Prinzip von Versuch und Irrtum korrespondierend – wesentlich zum Fortschritt empirischer humanwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung bei.30 Funktionale Begründung: Die Systematisierung empirischer humanwissenschaftlicher Forschung nach Maßgabe der Kriterien ‚empirische Sättigung‘, ‚Systematik und Transparenz der Darstellung‘ und ‚Begründetheit und Allgemeinheit der Erkenntnisse‘ gewährleistet Zugänglichkeit und Relevanz der Forschungsergebnisse: Die Generierung empirisch valider, d.h. vor allem intersubjektiv überprüfbarer und aufgrund ihrer Allgemeinheit soziokulturell relevanter humanwissenschaftlicher Forschungsergebnisse wird durch eine möglichst klare und übersichtliche Darbietung aufbereitet, um die „Wissenschaftspraxis generell so zu organisieren, daß sie allen, die sich in angemessener Weise um die jeweils notwendige Sachkunde bemühen, als eine Praxis der unvoreingenommenen Verständigung über relevante theoretische und praktische Orientierungen unseres Lebens nachvollziehbar zur Verfügung steht.“31 Kontroversen darum, was ‚richtige‘ Wissenschaft ist, sind das Resultat konkurrierender – und einander in der Regel normativ ausschließender 29 Gewiss ließe sich über die Ausdifferenzierung der einzelnen Kriterien, ob feiner oder gröber, streiten; worüber sich u.E. hingegen nicht streiten lässt, ist der Gehalt des skizzierten Katalogs. Zur Erörterung analoger Kriterien vgl. auch Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 8–9. 30 Zum Fortschritt durch rationale Kritik vgl. Karl Popper: Die Evolution und der Baum der Erkenntnis, in: ders.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1984, S. 268–297, besonders S. 273 f. und 276 f. Das von Gerd Labroisse im Anschluss an Imre Lakatos entwickelte Modell zur Falsifikation literaturwissenschaftlicher Interpretationen beruht denn auch im Wesentlichen auf einer kritischen Dialogisierung neuerer und älterer empirischer Forschung, die damit die Grundlage eines Fortschritts der Erkenntnisgewinnung bildet. Vgl. dazu Gerd Labroisse: Konstruktives Relationieren versus Selbstreferentialität. Zur Problematik wissenschaftlicher Literaturinterpretation, in: Interpretation 2000. Position und Kontroversen, hg. von Henk de Berg und Matthias Prangel, Heidelberg 1999, S. 45–62, besonders S. 55–61. 31 Friedrich Kambartel: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis, in: ders.: Theorie und Begründung. Studien zum Philosophie- und Wissenschaftsverständnis, Frankfurt a. M. 1976, S. 62–75, hier S. 69 f.
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– wissenschaftlicher bzw. theoretischer Begründungsmodelle empirischer Wissensgewinnung. Entwickelt sich ein Begründungsmodell zum bestimmenden Programm der empirischen Forschungen in einer Disziplin, kann diese Dominanz allerdings keine hinreichende Rechtfertigung für die Überzeugung sein, dass es nur diese eine Art gibt, Wissenschaft zu betreiben. Im Interesse erkenntnisbezogenen Fortschritts erscheint gegenüber der wissenschaftlichen Orthodoxie einerseits und dem anything goes eines radikalen Relativismus andererseits vielmehr die Option eines reflektierten Theorienpluralismus angezeigt, um dem heterogenen Spektrum an Begründungsmodellen empirischer Wissenschaftspraxis gerecht zu werden.32 Dass Vertreter einer bestimmten Forschungsdisziplin entsprechende Begründungsmodelle – und dabei ist es gleichgültig, ob es sich um ein facheigenes oder ein fachfremdes Theorieangebot handelt – grundsätzlich ernst nehmen sollten, ist zuallererst ein Gebot intellektueller Redlichkeit, wie sie wohl auch ganz im Sinne des ‚Jasagers‘ der fröhlichen Wissenschaft Nietzsches gewesen sein dürfte.33 Anstatt die disziplinäre Zulässigkeit von Modellen empirischer Wissenschaftspraxis mit dem Rückzug auf eine dogmatische Position von vornherein zu verneinen, muss ihre formal normative Eignung für die systematische Erschließung der Gegenstände einer humanwissenschaftlichen Forschungsdisziplin geprüft werden. Der Literaturwissenschaft bietet sich über die Haltung eines reflektierten Theorienpluralismus die Möglichkeit, aus philologischer Perspektive zur Erforschung gesellschaftlicher Verständigungsprozesse im weiten Horizont anthropologischer Erkenntnisinteressen beizutragen.34 Der Dialog verschiedener – etwa geschichtswissenschaftlicher, soziologischer, ethnologischer oder philologischer – Möglichkeiten der Erschließung einzelner Bereiche menschlichen Lebens sowie der Ergebnisse menschlichen Denkens und Handelns schafft dabei – indem er das Bewusstsein für die Komplexität historischer Wirklichkeiten schärft – die Voraussetzung für die Allgemeinheit literaturwissenschaftlicher, aber auch anderer humanwissenschaftlicher Wissensansprüche.35 Eine Literaturwissenschaft, die als Human32 Vgl. dazu bereits die abschließenden Bemerkungen zur ‚wissenschaftstheoretischen Aufgeschlossenheit‘ humanwissenschaftlicher Theoriebildung in Hans-Harald Müller: Wissenschaftsgeschichte und Rezeptionsforschung. Ein kritischer Essay über den (vorerst) vorletzten Versuch, die Literaturwissenschaft von Grund auf neu zu gestalten, in: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur, hg. von Jörg Schönert und Harro Segeberg, Frankfurt a. M. 1988, S. 452–479. 33 Vgl. das einleitende Motto zitiert nach Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 521. 34 Vgl. dazu auch Jörg Schönert: Mentalitäten, Wissensformationen, Diskurse und Medien als dritte Ebene einer Sozialgeschichte der Literatur. Zur Vermittlung zwischen Handlungen und symbolischen Formen, in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, hg. von Martin Buber und Gerhard Lauer, Tübingen 2000, S. 95–103. 35 Vgl. auch Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 11 und 15 f.
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wissenschaft darum bemüht ist, allgemeines Wissen über den Menschen zu gewinnen, sollte daher eine essentialistische Bestimmung des Literaturbegriffs vermeiden, die das formal wie inhaltlich stark ausdifferenzierte und funktional variable Feld der Literatur theoretisch von seinen Kontexten abschottet.36 Die in ihren Erkenntnismöglichkeiten stark beschränkte Wissenschaftspraxis, die aus einer entsprechenden Gegenstandsbestimmung folgen würde, könnte unter Bezugnahme auf das Aufklärungsideal der Humanwissenschaften und den aus ihm abgeleiteten Kriterienkatalog nicht anders als unzureichend ausfallen. Positiv gewendet legt unsere Kritik an einem substantialistischen Literaturbegriff eine pragmatische Auffassung vom Gegenstand der Literaturwissenschaft nahe. Mit ihr kann der formalen Vielgestaltigkeit und funktionalen Offenheit von Literatur Rechnung getragen werden, ohne dass sich daraus Forderungen im Hinblick auf die methodische Orientierung oder die soziokulturelle Relevanz der Literaturwissenschaft ergeben würden. Diese pragmatische Gegenstandsbestimmung kann sich grundsätzlich auf das entproblematisierte Wissen des Faches stützen, wie es etwa in Klaus Weimars Artikel für das Reallexikon der Literaturwissenschaft zusammengefasst wird: Literatur – als Gegenstand der Literaturwissenschaft – ist danach zunächst nichts anderes als „die Gesamtheit des Geschriebenen bzw. Gedruckten überhaupt“.37 Von dieser weiten Begriffsbestimmung ausgehend kann der Fokus literaturwissenschaftlicher Forschungen bei Bedarf zusätzlich auf Texte der so genannten ‚schönen‘ Literatur eingegrenzt werden. Über die Zugehörigkeit eines Textes zur ‚schönen‘ Literatur entscheiden die Regeln einer institutionellen Praxis.38 Drei der Konventionen, die der Institution ‚schöne‘ Literatur ihre Konturen verleihen, sind hervorzuheben: Ein Text gehört zum Ersten dem Feld der ‚schönen‘ Literatur an, wenn der Autor des Textes bei dessen Produktion die Absicht verfolgt hat, einen Text ‚schöner‘ Literatur vorzulegen, der von Rezipienten als solcher aufgenommen wird.39 Produktion und Rezeption ‚schöner‘ Literatur sind zum Zweiten wertrational motiviert; Texte ‚schöner‘ Literatur besitzen demnach keinen unmittelbaren alltagspraktischen Gebrauchswert. Und zum Dritten gilt, dass sich Texte ‚schöner‘ Literatur durch die intellektuelle oder affektive Ansprache ihrer Rezipienten um deren Unterhaltung bemühen, wobei dies Wirkungseffekte wie z.B. die Wissensvermittlung nicht ausschließt. Wir können unsere skizzenhaften Überlegungen nun mit einer kurzen Antwort auf die am Beginn dieses Abschnitts gestellte wissenschaftstheoretische Grundsatzfrage 36 Zur Kritik an einer Homogenisierung literarischer Textproduktion durch vereinheitlichende Bedeutungskonzeptionen vgl. bereits Harald Fricke: Wie, was und zu welchem Ende ‚bedeutet‘ Literatur?, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 234 (1982), S. 116–134, besonders S. 123 f., 128 f. und 134. 37 Weimar: Literatur, S. 443. 38 Vgl. dazu Peter Lamarque und Stein H. Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford 2002, besonders S. 255 ff. 39 Vgl. ebd., S. 255 f. – Zu einer ausführlichen Begründung ‚schöner‘ Literatur im Rekurs auf die Absichten des Autors vgl. auch Peter Swirski: Literature, Analytically Speaking. Explorations in the Theory of Interpretation, Analytic Aesthetics, and Evolution, Austin 2010, S. 24–109.
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abschließen: Die Humanwissenschaften können erstens nicht auf die formal normative Reflexion der theoretischen Begründung ihrer Forschungen verzichten, da sie sich auf diesem Weg der ‚Lesbarkeit‘, empirischen Sättigung und der Allgemeinheit ihrer Forschungsergebnisse vergewissern. In diesem Sinne ist es eine entsprechende Reflexion der Begründung empirischer Forschungen, die die Humanwissenschaften allererst zu einer Form kritischer Aufklärungsarbeit macht.40 Die Humanwissenschaften können zweitens nicht auf die Diskussion intra- und interdisziplinärer Theorieangebote verzichten, wenn ihnen an einer differenzierten Problemorientierung der Wissenschaftspraxis und zugleich am Fortschritt ihrer empirischen Erkenntnisgewinnung gelegen ist. Schließlich können die Humanwissenschaften drittens nicht auf einen Dialog ebenso intra- wie interdisziplinärer Begründungsoptionen für die wissenschaftliche Praxis verzichten. Da die reflektierte Verbindung von Begründungsmodellen der Wissenschaftspraxis zur Systematizität, argumentativen Absicherung, empirischen Sättigung und objektbezogenen Allgemeinheit humanwissenschaftlicher Wissensansprüche beiträgt, ist sie eine wesentliche Voraussetzung für eine Erschließung der „Totalität des Realen, sowohl das der Natur wie das der geistigen Gebilde, unter empirisch-kritischen Gesichtspunkten“.41 Erst ein kritischer Dialog der Begründungsoptionen von Wissenschaftspraxis lässt es aussichtsreich erscheinen, zu einer humanwissenschaftlichen Rekonstruktion und Interpretation geschichtlicher Wirklichkeiten zu gelangen, die über die komplexe soziokulturelle und historische Genealogie des Menschseins umfassend aufklärt.
40 Vgl. dazu Kocka: Geschichte und Aufklärung, S. 147 und 158 f. 41 Tugendhat: Die Geisteswissenschaften als Aufklärungswissenschaften, S. 454.
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Phänomenologie der Spielräume: Konstitutionsweisen lebensweltlicher und literarischer Gegenständlichkeit 1. Literarische Erkenntnis und Gegenstände Literatur vermittelt Erkenntnis; nicht dadurch, dass sie wahrheitsfähige Sätze anbietet, sondern so, dass sie in nicht-propositionaler Weise etwas vorstellt.1 Literatur rückt die Welt in unvertraute Perspektiven, sie lädt dazu ein, fremde Blick- und Erfahrungsweisen einmal probehalber zu übernehmen. Jedenfalls ist Literatur von der Verpflichtung zur Referenz und zur Wahrheitsfähigkeit ihrer Aussagen entbunden. In literarischen Texten geht es eben nicht um eine Aussagenwahrheit, hier wird nichts behauptet oder überprüfbar mitgeteilt (außer natürlich von den Figuren in dem dargestellten Handlungsfeld), vielmehr wird etwas gezeigt, vorgeführt, aufgewiesen. Was da als literaturspezifische Erkenntnis vermittelt wird, das ließe sich ganz allgemein fassen als neue, ungewöhnliche, gar befremdliche Art der Weltauffassung. Welt wird durch Literatur neu wahrnehmbar oder vorstellbar gemacht; Literatur schlägt vor, Welt einmal in einer anderen Weise zu sehen, als uns dies bislang geläufig gewesen sein mochte. Literatur, so ließe sich auch sagen, konstruiert Modelle von Welt, die gerade deshalb so einleuchtend wirken und von uns bereitwillig mit vollzogen werden, weil sie von referentieller Bindung entlastet sind. Literarische, näherhin fiktionale Rede ist ein Sprechen-als-ob, eine Redeweise, von der weder wahrheitsfähige Behauptungsakte noch referentielle Leistungen erwartet werden können.2 Die spezifische Leistung der Literatur wäre dahin, würde man dem referentiellen Richtungspfeil auf ein Stück Welt nachgehen (obwohl niemand daran gehindert ist, so zu lesen: Joyces Ulysses ist auch ein Buch über das reale Dublin von 1904). Vielmehr sind wir im Umgang mit Literatur gehalten, anhand einer exemplarischen Vergegenwärtigung von Weltmöglichkeiten über eben diese Möglichkeiten (den Sinn des Textes) nachzudenken. Die erzählte Geschichte, die dargestellte Situation, die artikulierte Subjektidentität führen etwas Besonderes vor Augen; und von diesem besonderen Fall öffnet sich ein Ausblick auf 1 Vgl. zu diesem Argument immer noch Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit: Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1975; interessante Weiterführungen bieten die Aufsätze des Bandes Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur: Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991. 2 Dies bezeichnet Gabriel als „Richtungsänderung des Bedeutens“ − „weg von der Referenz, hin zum Sinn“; vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 11 u. 15.
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etwas Allgemeines oder Wesentliches − aber nicht so, dass dieses Allgemeine einfach als expliziter Sinn des Dargestellten fixiert und propositional vereindeutigt werden könnte, sondern als offener Prozess. Der Wert einer nicht-propositionalen literarischen Erkenntnis besteht eben genau in dieser offenen Vermittlung eines Allgemeinen, im Aufweis eines Bewandniszusammenhangs, der sich von dem jeweils konkret Dargestellten und Gezeigten her auftut. Diese Erkenntnis akzeptieren wir, nicht weil sie wahr und überprüfbar ist, sondern weil sie einleuchtet, adäquat erscheint, überzeugt; wir können literarische Erkenntnis akzeptieren, soweit sie im Werk ausgearbeitet und vermittelt ist, soweit Literatur etwas Besonderes als adäquate Darstellung eines Allgemeinen vergegenwärtigt; wir müssen sie uns aber nicht, als wäre sie eine wahrheitsfähige Behauptung, zu eigen machen; wir formulieren sie gar nicht. Nur deshalb können wir in Literatur die seltsamsten Erfahrungen machen und mitmachen. Wir können den Weltauffassungsvorschlag, den ein literarischer Text unterbreitet, akzeptieren und doch in Distanz zu ihm bleiben, mit ihm probeweise umgehen. Und wir können uns, da literarisch aufgewiesene Wahrheit nicht abschließend in einen Urteilssatz zu überführen ist, endlos mit dem beschäftigen, was der Text da so evident zeigt. Wenn wir sagen, Literatur biete Modelle von Wirklichkeit an, sie zeige Möglichkeiten von Lebensformen und Weltlagen, dann ist darin der Begriff des Gegenstands mitgeführt. Denn Literatur entfaltet ihre ‚Welt‘, ihren Weltwahrnehmungsvorschlag, anhand von Gegenständen und Sachverhalten (also Gegenständen, denen bestimmte Umstände, Eigenschaften, Beziehungen, Kontexte zugeschrieben werden). Textgegenstand ist das, was nominal (z.B. deskriptiv) entworfen wird oder in eine Nominalform überführt werden kann; es ist das, worüber der Text spricht, was er zeigt, das gegenständliche Korrelat der Wort- und Satzbedeutungen. Das Interesse an Personen und ihren Schicksalen, an Reflexionen und Empfindungen, an Raumdurchquerungen und Beobachtungen − kurzum: an Gegenständen − motiviert und trägt jede Lektüre. Das legt den Schluss nahe, zwischen lebensweltlichen und literarischen Gegenständen gäbe es keinen essentiellen Unterschied. Denn in der Tat: Die Figur eines Romans, eines Dramas, eines Rollengedichts steht uns − mitsamt bestimmten Szenen oder Ereignissen − in der Erinnerung ebenso plastisch vor Augen wie ihr lebensweltliches Gegenstück. Über beide reden wir in ähnlicher Weise, wenn wir uns die durchlaufene Lektüreerfahrung vergegenwärtigen. Wie aber lässt sich diese Analogie ausweisen? Wir handeln hier zunächst von ‚Gegenständen‘ in dem erläuterten Sinn, von Gegenständen im Text; wir werden noch eine zweite Ebene kennenlernen, auf der Literatur und Lebenswelt konvergieren, wenn wir vom Text als Gegenstand sprechen. Auf die Frage nach dem Status von Gegenständen in literarischen Texten hat Roman Ingarden bekanntermaßen geantwortet: Wir interpolieren in die wenigen, lückenhaften Bestimmungen, die literarische Texte ihren Gegenständen zuteilen, unser lebensweltliches Wissen. Da wir wissen, was die Gegenstände A oder B sind, rufen wir das anschauliche Wissen um A und B aus der Erinnerung ab. Die literarischen Angaben wären dann nur Vorgaben für eigenständige Leseoperationen. Wir lesen den Text Wort für Wort und
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denken Satz für Satz den Sinn. Wir begründen auf der Basis des Wortlautbewusstseins ein Bedeutungsbewusstsein und synthetisieren die einzelnen, nach und nach dem Textverlauf entnommenen Bedeutungen zu Vorstellungen von Gegenständen, von Personen, Vorgängen, Orten, Handlungen, ‚Welten‘. Diese literarischen Gegenstände treten uns in Ansichten entgegen, wir befinden uns ihnen gegenüber in einer illusionären Anschauung, und das hat zur Folge, dass wir im Lesen in eine ganz ähnliche Orientierung hinsichtlich der dargestellten Welt zu geraten scheinen, wie sie uns aus lebensweltlichen Kontexten vertraut ist. Zwischen literarischen und lebensweltlichen Gegenständen besteht, von unserer Erfahrungsweise aus gesehen, im Blick auf unser intellektuelles und emotionales Engagement, kaum noch ein Unterschied. Dabei aber überschreiten wir die Vorgaben des Textes in entscheidender Weise. Der literarische, allein in unserem Denken konstitutierte (Ingarden sagt: rein intentionale) Gegenstand ist doch gänzlich anders beschaffen als jeder reale, lebensweltliche. Von diesem gilt: „Jeder individuelle, seinsautonome Gegenstand ist in jeder für ihn möglichen Hinsicht positiv eindeutig bestimmt. Oder negativ gesagt: Es gibt in seinem Seinsbereiche keine Unbestimmtheitsstelle.“3 Genau dies trifft nun aber auf literarische Gegenstände zu: jedenfalls dann, wenn wir sie uns vorstellen anhand zwar nur weniger positiver Angaben (nämlich des Sinns der Wörter und Sätze), und sie doch als Analoga von realen, „positiv eindeutig“ bestimmten, erfahren möchten. Wir suchen also nach den fehlenden Bestimmungen, supplementieren diese teils unwillkürlich, teils gezielt; wir verschaffen dem Sinn der Wörter Sinn-Kontexte. Im Vergleich literarischer und lebensweltlicher Gegenstände erweisen sich die literarischen ja als hochgradig defizitär, als solche, die im Prinzip immer auch noch anders und weiter bestimmt werden könnten, weil sie notorisch unterbestimmt, von Unbestimmtheitsstellen ‚durchsetzt‘ und umgeben sind: Dieselben sind aber prinzipiell nicht eliminierbar, und ihre Zahl bleibt unendlich, solange der rein intentionale Gegenstand in seinem Gehalt durch entsprechende Momente des Inhalts des zugehörigen Meinungsaktes (bzw. der betreffenden Bedeutungseinheiten) als etwas Individuelles festgelegt wird. Denn (mindestens) in diesem Falle ergeben sich die Unbestimmtheitsstellen aus dem Gegensatze zwischen der Endlichkeit der Inhaltsmomente eines intentionalen Meinungsaktes […] und der durch die festgelegte Individualität des Gegenstandes (seinem Gehalte nach) erzwungenen Unendlichkeit der ihm im Prinzip zugehörenden Bestimmungen.4
Dabei entsteht eine Art paradoxer Transzendenz. Der individuelle literarische Gegenstand, den wir uns auf der Basis weniger Wort- und Satzbedeutungen vorstellen (den wir intentional entwerfen), erhebt sozusagen „Anspruch“ auf Transzendenz, er ist immer noch mehr und immer noch anders, als es der Text vorgibt; und doch kann er „nicht über den 3 Roman Ingarden: Vom formalen Aufbau des individuellen Gegenstandes, in: ders.: Über das Wesen, hg. von Peter McCormick, Heidelberg 2007, S. 275. 4 Ingarden: Der Streit um die Existenz der Welt, II/1: Formalontologie, 1. Teil, Tübingen 1965, S. 222.
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Inhalt des ihn konstituierenden Aktes“ hinausgehen.5 Die positiven Bestimmungen erweisen sich gegenüber der ausdenkbaren riesigen Mannigfaltigkeit möglicher Merkmale, die jedem Gegenstand zukommen, als höchst kontingent − und sind doch alles, was wir zur Verfügung haben in unserer lesenden Hinwendung zu den Gegenständen. So entsteht ein Sog zur Ergänzung der wenigen expliziten Bestimmungen; der literarische Gegenstand drängt hinaus über das, was über ihn gesagt wird und was, indem es so gesagt wird, ihn erst ermöglicht. Der literarische Gegenstand ist zwar genau das, was er ist, aber er ist dies doch nie ganz, er ‚will‘ mehr sein; er ist, so Ingarden, „immer unfertig“6, bloß ein „formales Schema von unendlich vielen Bestimmungsstellen“. Seine „Unbestimmtheitsstellen sind prinzipiell durch keine endliche Bereicherung des Inhalts eines nominalen Ausdrucks ganz zu beseitigen“.7 Ingardens Literaturtheorie verfolgt zwei konträre Ziele: Zum einen arbeitet sie die eben dargelegte prinzipielle Differenz zwischen literarischen und lebensweltlichen Gegenständen heraus; zum anderen will sie verdeutlichen, wie es dazu kommen kann, dass wir über diese Differenz hinweg im Lesen eine Erfahrung von Gegenständen und Sachverhalten haben, die sich von derjenigen in lebensweltlichen Kontexten im Ergebnis kaum unterscheidet. Unbestimmtheitsstellen, Leerstellen, Verfahren der Negativität, wie immer man sie genauer definieren mag,8 üben gewiss einen Sog zu ergänzenden Operationen im Lesevorgang aus. Aber Literatur muss noch über andere Mittel verfügen, Äquivalenzen zu lebensweltlichen Orientierungen zu erzeugen. Vielleicht ist der Gegensatz zwischen realen (seinsautonomen) und intentionalen (seinsheteronomen) Gegenständen gar nicht sinnvoll im Rahmen einer Ontologie zu erörtern;9 vielleicht lässt sich gerade der Begriff der Unbestimmtheit nicht als Differenzkriterium, sondern als Analogieprinzip beider Gegenständlichkeiten ausweisen. Das ist auch tatsächlich möglich und wird von Ingarden selber angedeutet. Denn, so argumentiert er, vermöge seiner Unbestimmtheit weist der intentionale Gegenstand ein strukturelles Analogon auf zu jener „Transzendenz der Seinsfülle“, die den lebensweltlich begegnenden (realen, seinsautonomen) Gegenstand auszeichnet, der ja − so genau wir ihn erfassen mögen − doch immer jenseits der positiven Bestimmungen bleibt, „in der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner Eigenschaften und Momente“,10 freilich mit dem Versprechen einer abschließenden Bestimmbarkeit, wann auch immer diese erreicht sein möge. Wenn uns Gegenstände unter raum- und zeitperspektivischen Bedingungen (in Abschattungen) gegeben sind, dann muss das Abschattungsphänomen in irgendeiner Weise literarisch (re)konstruiert werden können. Erst wenn es uns ein Text 5 6 7 8 9
Ebd., S. 223. Ebd., S. 223. Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., Tübingen 1965, S. 265 u. 264. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung, München 1975, Kap. IV/B. Der Untertitel des Kunstwerk-Buches lautete in der 1. Aufl. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft [Halle 1931]. 10 Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt, II/1, S. 226.
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erlaubt, in eine Struktur von Blickpunkt − Abschattung − Horizont einzutreten, kann er Gegenstände entwerfen ganz so, als begegneten sie uns in lebensweltlichen Kontexten. Diese Verweisungsstruktur imitiert Literatur − nicht einfach durch die ihr auferlegte Un-/ Unterbestimmtheit, also im Modus der Negativität, sondern mit ‚positiven‘ Verfahren. Die Frage nach dem literarischen Gegenstand ist gleichbedeutend mit der Frage: Was sind Abschattungen in literarischen Texten?
2. Abschattungen, Horizonte, Raum Zunächst ist die Frage noch genauer aufzuklären, was denn − unter phänomenologischen Voraussetzungen − ein Gegenstand ist; wenn Husserl immer wieder ein Ding im Raum als Exempel heranzieht, bedeutet dies nicht, dass die in den Analysen aufgewiesenen Strukturen lediglich auf dieses Paradigma beschränkt wären; sie beanspruchen breite Gültigkeit. − Ein Gegenstand, der unsere Zuwendung motiviert, hebt sich ab von der passiven Vorgegebenheit der Welt. Er tritt ein in ein strukturiertes Verhältnis zur Welt, und er strukturiert seinerseits diese Welt, die nicht länger bloß neutral-passiver Boden bleibt. Der Gegenstand tritt in einem Erfahrungshorizont auf, der immer schon (vom Gegenstand untrennbar) geöffnet ist als Bereich weiterer Kenntnisnahmen dieses und anderer Gegenstände und somit als Feld vielfältiger Perspektiven und Urteile. Jeder Gegenstand zeigt sich in einem „Spielraum von Möglichkeiten“,11 und zwar mit zwei Horizonten: mit einem Innenhorizont (dem Bereich weiterer Gegenstandsaspekte, also immer genauerer Bestimmbarkeit des immer nur partiell erschlossenen Gegenstands) und in einem Außenhorizont (dem Bereich sowohl kopräsenter anderer Gegenstände wie anderer möglicher Standpunkte). Diese doppelte Horizontstruktur verleiht jeder Wahrnehmung „Sinnestranszendenz“: Immer ist über das konkret Erfasste hinaus noch weiteres indiziert, es ist umstellt oder durchsetzt von antizipierten Momenten in „Vorveranschaulichung“.12 „So ist eine Fundamentalstruktur des Weltbewußtseins [...] die Struktur der Bekanntheit und Unbekanntheit [...]“, wobei die Unbekanntheit, die ja nicht irgendwie anonym mitläuft, sondern konkret umrissen ist, als „Modus der Bekanntheit“ zu bezeichnen wäre.13 Jeder einzelne Gegenstand ist gleichsam über sich hinaus; er ist nicht einfach dieses S, von dem bündig zu sagen wäre, S ist p, sondern er bietet sich dar als offenes Potential seiner Möglichkeiten. Jede Wahrnehmung enthält Komponenten, „die über sich hinausweisen auf eine Rückseite“ und überhaupt auf alles unter den jeweiligen Bedingungen (noch) Nicht-
11 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948, S. 27. 12 Ebd., S. 30 u. 31. 13 Ebd., S. 33 u. 34.
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Gegebene. Und diese „Leervorstellungen“ prägen den Gesamtcharakter der Auffassung, sie sind „ein immanenter Charakter der Auffassung“.14 Damit kommt nun der Begriff der Unbestimmtheit ins Spiel. Der so von uns erfasste Gegenstand ist immer nur teilweise bestimmt, nur partiell in Evidenz gegeben, er ist im Innen- wie Außenhorizont immer noch genauer bestimmbar: Was lässt sich über ihn noch in Erfahrung bringen und aussagen? In welchen Kontiguitätsverhältnissen steht er zu anderen Gegenständen? Welchen Horizont zeichnet er vor? Aber alles Unbestimmte, das ihm anhaftet und ihn umgibt, ist doch vorbekannt. Deshalb kommt Husserl zu der Einsicht: Unbestimmtheit ist nie absolute, völlige Unbestimmtheit, völlige Unbestimmtheit ist ein nonsens, sondern in der oder jener Weise umgrenzte Unbestimmtheit. […] Zum Wesen dieser Unbestimmtheit gehört Bestimmbarkeit, und zwar Bestimmbarkeit innerhalb einer fest umgrenzten allgemeinen Sphäre, […].15
Jede Unbestimmtheit verweist auf nachfolgende Bestimmbarkeit, sie leitet die Erfassungsakte in diese Richtung und verleiht ihnen den Charakter einer dynamischen Synthesis. Von all dem, was so unbestimmt vorgezeichnet ist, wissen wir immer schon, dass es sich, bei allen Überraschungen, die es im Detail bieten mag, doch einfügen wird in den Bestand des uns schon Bekannten. Widerstreit, Dissonanz, Störung, Negierung jeden synthetischen Fortgangs kommen gewiss vor, aber sie lassen sich prinzipiell beheben, immer wieder zurückführen in Bestimmtheit und Einstimmigkeit. Das ganze Problemfeld lässt sich auch so darstellen. Gegenstände der Wahrnehmung sind ausgezeichnet durch eine „Zweischichtigkeit“: Sie sind sowohl präsentierend (sie bieten gewisse Aspekte wirklich in Ansichten dar) wie „bloß appräsentierend“ (abgeschattet). Das Nicht-Gegebene ist vom Gegebenen her vorab konturiert. Über das Gegebene hinaus ist mir die Welt vorgezeichnet, und zwar so, „daß im Voraus entschieden ist, was im Unbekannten wirklich ist und was demgegenüber Fiktion.“16 Stets finden wir, „daß die Nähen den Fernen den Stil vorschreiben“, oder umgekehrt, „daß die Fernen den Nähen ähnlich sein müssen“.17 In der Welt kann a priori gar nichts sein, „das ich nicht im geordneten Prozessus meines vortheoretischen Bewusstseins, näher meines Wahrnehmens, erreichen könnte.“18 Von allem noch so partiell (oder kontingent) Gegebenen her ent14 Husserl: Ding und Raum: Vorlesungen 1907, hg. von Ulrich Claesges, Den Haag 1973 (= Husserliana Bd. XVI), S. 56, 57, 58. 15 Ebd., S. 59. 16 Husserl: Natur und Geist: Vorlesungen Sommersemester 1919, hg. von Michael Weiler, Dordrecht 2002 (= Husserliana Materialien Bd. IV), S. 225. 17 Husserl: Natur und Geist: Vorlesungen Sommersemester 1927, hg. von Michael Weiler, Dordrecht 2001. (= Husserliana Bd. XXXII), S. 116 u. 249. 18 Husserl: Natur und Geist: Vorlesungen Sommersemester 1919, S. 225.
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falten sich diese Strukturen der Vorbekanntheit: Präsentation plus Appräsentation. Zwar ist formal richtig: Jede Dingwahrnehmung ist „in infinitum unvollkommen“,19 sie ist niemals abschließbar in restlos evidenter Klarheit, weder im Innen- noch im Außenhorizont. Der intendierte Gegenstand ist in den präsentierenden Inhalten oder Empfindungen nur unvollständig gegeben; so etwas wie finite Vollbestimmtheit ist eine den Wahrnehmungsverlauf regulierende Idee, „die im Unendlichen liegt“. Der Fluss der Teilwahrnehmungen hat „vor sich eine offene Unendlichkeit, wir kommen nie zu Ende, ein Ende ist gar nicht denkbar.“20 Das intentionale Meinen zielt also stets hinaus über die Präsentation, immer aber in gerichteter, spezifischer Form. „Indem aber die Wahrnehmung über das Bekannte hinausgeht, tut sie es doch nur dadurch, dass sie das noch Unbekannte in einer gewissen Weise meint, und das ist die Weise der Unbestimmtheit.“21 Unbestimmtheit kann niemals total oder absolut sein − der Begriff löste sich in solcher Extremversion schlechterdings auf; totale Unbestimmtheit wäre gleichbedeutend mit absoluter Unmöglichkeit; über sie ließe sich nichts sagen. Inhaltlich belangvolle Unbestimmtheit aber ist „ein innerer Charakter der wahrnehmenden Auffassung und Meinung“,22 der verschiedene Bestimmungen (Füllungen) zulässt, aber niemals einfach beliebige. Unbestimmtheit ist kontextualisiert. Das Interesse der Aufmerksamkeit zielt darauf, den Gegenstand als ihn selber zur Gegebenheit zu bringen; es ist „eine eigentümliche Teilnahme an einem Inhalt“,23 verbunden mit einem Meinen, das den fraglichen Gegenstand abgrenzt und der gerichteten Auffassung so eine Kontur (einen prägnanten Zugriff) verleiht. Aufmerksam sein auf Unbestimmtes muss nicht einmal heißen: Beseitigung der Unbestimmtheit durch konkretisierende Füllung. Die Aufmerksamkeit kann sich allemal auch richten auf Dunkles und Unklares; Unklarheit ist ein wesentliches Moment unserer Erfahrungswelt, mag man sie auch in der Perspektive der Aufhellung sehen. Ein Gegenstand also ist in Abschattung gegeben. Die sich direkt präsentierenden Seiten oder Teile verweisen auf die im Moment (noch) nicht wahrnehmbaren. Und diese Anzeige von nur mittelbar Gegebenem ist inhaltlich nicht einfach leer − das, was wir nicht erkennen können, was wir nicht wissen, ist doch in einer bestimmten Typik vorgezeichnet. Die Abschattungen indizieren über die nur leer mit vermeinten Teilansichten des Gegenstands hinaus einen Wahrnehmungsraum, „einen Hof von Hintergrundsanschauungen […]“;24 sie verweisen auf andere Standpunkte, die vom Betrachter auch noch eingenommen werden könnten und von denen her sich der Gegenstand mit seinem 19 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu hg. von Karl Schuhmann, 1. Halbband: Text der 1.–3. Auflage, Dordrecht 1995 (= Husserliana Bd. III/1), S. 92. 20 Husserl: Natur und Geist: Vorlesungen Sommersemester 1919, S. 40. 21 Husserl: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit: Texte aus dem Nachlass (1893–1912), hg. von Thomas Vongehr und Regula Giuliani, Dordrecht 2004 (= Husserliana Bd. XXXVIII), S. 59. 22 Ebd., S. 60. 23 Ebd., S. 167. 24 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 71.
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Kontext in anderen Abschattungen präsentierte. Es entfaltet sich ein ganzes Feld oder Geflecht von solchen Standpunktmöglichkeiten in einem umfassenden Horizont. Und daraus erwächst eine Anschauung vom Raum. Raum wäre gar nicht gegeben, wenn wir uns nicht von einer abgeschatteten Gegebenheit aus in ihn hinein zu orientieren vermöchten, wenn er uns nicht eröffnet wäre über Abschattungen und Blickpunktkoordinaten. Raum müssen wir immer von einer Dinggegebenheit her denken. Der Raum gibt allem ‚in‘ ihm Befindlichen den Charakter „einer anschaulichen Einheit“ statt eines bloßen Nebeneinander. Umgekehrt: Wenn Dinge uns in anschaulicher Einheit gegeben sind, dann ist diese durch „das räumliche Moment“ gestiftet. „Raum und Räumliches sind eben nie für sich allein vorstellbar, sondern nur als unselbständige Momente innerhalb umfassenderer Anschauungen. „Zwar können wir das Gefühl haben, beim Durchqueren von Räumen durch kontinuierliche Synthesis der sich aneinander fügenden Anschauungen eine einheitliche Anschauung vom Gesamtraum gewinnen zu können“, aber das ist „bloßer Schein“. Immer ist der Raum der Anschauung gebunden an die Dinge ‚in‘ ihm; die räumliche Ausdehnung (die Dimensionierung des Raums) erscheint „als von den sinnlichen Qualitäten überzogen“.25 Löst man aus all dem den Raum ‚selber‘ heraus, dann überschreiten wir jede mögliche Anschauung hin zur Geometrie: ergo kann Raum − in lebensweltlicher Erfahrung so gut wie in Literatur − immer nur der von Gegenständen her erschlossene Raum sein, fundiert in der Struktur Blickpunkt − Abschattung − Horizont. Den Raum erfahre ich folglich nur in einer Serie von „Anschauungsverläufen“; in keinen „Momentanschauungen“ sind Räume oder Teilräume direkt gegeben.26 Das macht jede ungeschützte Rede von Raum und Räumlichkeit in Literatur (etwa unter dem Stichwort spatial turn) zu einem Wagnis. „Der Raum, schon der Raum des gemeinen Bewußtseins, ist ein ideelles Gebilde, von dem nur Teile jeweilig anschaulich sind.“27 Wie kann Literatur diese Problemlage aufnehmen?
3. Zwei Beispiele: Raabe, Joyce Wie sich ein Gegenstand in einem Text abzuschatten und auf einen wandelbaren Horizont hin zu öffnen vermag, wie also literarisch die Dingerfahrungsform der Lebenswelt modelliert werden kann und wie sich daraus eine genuin literarische Raumerfahrung ergibt, das lässt sich anhand des Osterberges aus Wilhelm Raabes Roman Die Akten des Vogelsangs (1896) demonstrieren. Das Wort „Osterberg“ ist eine der Konstanten des Textes, angefangen von dem dramatis-personae-Eintrag „wir, Helene Trotzendorff, Velten Andres und Karl Krumhardt, Nachbarkinder im Vogelsang unter dem Osterberg“, bis zur Schlusswendung, 25 Husserl: Der anschauliche Raum, in: Studien zur Arithmetik und Geometrie: Texte aus dem Nachlass (1886–1901), hg. von Ingeborg Strohmeyer, The Hague 1983 (= Husserliana Bd. XXI), S. 276. 26 Ebd., S. 281. 27 Ebd., S. 283.
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die „die Bank im Sonnenschein von heute auf dem Osterberge“ erwähnt. Neben zahlreichen rein topischen Nennungen des Osterberges durch den gesamten Text lässt sich die folgende raumerzeugende, abschattende und horizontbildende Verwendung beobachten. Zunächst ist der Osterberg ein Rückzugs- oder Fluchtort oberhalb der Stadt, ohne jede Horizontöffnung: „wir lagen also am Osterberg unter einem Busch, […]“; „Ich habe sie oben am Osterberge mit dem Gesicht im Grase und mit dem Arm im feuchten, kühlen Erdboden und Moose begraben gefunden.“28 Zwischen unten und oben besteht keine Beziehung, zwischen den Orten erfolgt ein Sprung; sie werden nur genannt. Das ist ganz anders in der folgenden Jugendreminiszenz: Auf dem Osterberge waren wir auch wieder alle drei zusammen an jenem Abend, der auf den eben beschriebenen stürmischen Familien- und Nachbarschaftssonntagnachmittag folgte. Die zwei anderen, wie gewohnt, ihre eigenen Wege gehend, ich verstohlen etwas später einem verstohlenen Wink und Zeichen Veltens folgend. […] Hier und da hatte sogar schon irgendein Naturliebhaber und Wohltäter der Menschheit eine Bank aufgestellt, die meisten in das Gehölz und Gebüsch hinein, doch eine oder zwei auch an den Rand des Hügels mit dem Blick ins Tal und auf die liebe Heimatstadt und Hochfürstliche Residenz, halb in diesem Tale und halb im offenen Lande. Auf dieser Bank am Waldrande, im tiefsten Frieden der Natur fand ich auch diesmal die beiden ärgsten Störenfriede des Vogelsangs, […]. Da Neumond im Kalender stand, so war der Abend ziemlich dunkel. Die vereinzelten Sterne oben zählten nicht; nur die Lichter der Stadt in der Tiefe und die Gaslaternen ihrer Straßen und Plätze gaben einen bemerkenswerten Schein. Im fürstlichen Schloß schien ‚irgendwas los zu sein‘, denn das leuchtete sogar sehr hell in die warme Sommernacht hinein und zu dem Osterberge empor. Im Walde war es still; […] Nur vom Bahnhof her dann und wann das Pfeifen und Zischen einer Lokomotive, und aus den drei Bier- und Konzertgärten der letzte Wiener Walzer, […].29
Der erste Blick ins Tal umfasst die Stadtlage pauschal, der zweite unter besonderen optischen und akustischen Bedingungen, aber immer noch summarisch im Plural „Lichter der Stadt in der Tiefe“. Der Standort am Rande des Osterbergs ist „ziemlich dunkel“ und vom Wald her, also von rückwärts (vgl. „mein Wald da oben hinterm Osterberge“30), „still“. Kontrastiv hierzu fungiert das Schloss als individueller Lichtspender, der Bahnhof und die „drei Bier- und Konzertgärten“ als Geräuschquelle. Der Text setzt Raumkoordinaten („ins Tal“ − „oben“ − „in der Tiefe“ − „empor“ − „vom […] her“ − „aus“), er nennt Orte, auf die sich der Blick von oben richtet, von denen her aber auch der jetzige Blickpunkt erfasst wird, durch heraufreichende Lichter und Geräusche. Ort des Sehens und gesehene Orte fügen sich zu einem lockeren Abschattungssystem, in dem zahlreiche Standpunktwechsel virtuell markiert sind, in dessen Horizont, begrenzt durch „Sterne oben“ und „Tiefe“, 28 Wilhelm Raabe: Späte Romane, hg. von Karl Hoppe, München 1979, S. 784, 965, 797, 801. 29 Ebd., S. 818–819. 30 Ebd., S. 890.
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man sich bewegen kann, auch ohne die bald darauf fallenden Sternschnuppen, die in anderer Weise ‚oben‘ und ‚unten‘ verbinden. Diese Situation und mit ihr das Blickpunktsystem kehren im Text später in Abbreviatur wieder: „[…] ist das nicht grade dasselbe, wie damals, als wir drei aus dem Vogelsang auf dem Osterberge im Wald lagen und das niedliche Residenznest unter uns hatten?“ Oder als durch Erzählungen erzeugtes Phantasiebild: „[S]ie kannte den Osterberg und die zierlichen Promenadenwege und Bänke am Rande des Waldes und die Aussicht auf die kleine, zierliche Residenz drunten im Tal.“ Oder als Wiederholung: „Auf einem Spaziergange gelangten wir auf dem Osterberge auch wieder einmal an die Stelle, von wo wir drei Kinder […] einst um den Laurentiustag die Sternschnuppen fallen sahen […]“.31 Der im Blick von oben abgeschattete Blick nach oben wird tatsächlich im Text realisiert. Die Blickrichtung kehrt sich um: „Heute haftet mein Blick, von meinem Schreibtisch aus, über das benachbarte Hausdach hinweg auf einer bewaldeten Hügelkuppe. Das ist der Osterberg, auf dem wir, da wir noch Kinder waren, die Sternschnuppen, die Tränen des heiligen Laurentius, fallen sahen […]“. Der Blick von unten setzt sich in der Erinnerung weiter fort hinauf zu dem damaligen Himmelsspektakel; die Reziprozität der Horizonte (damals die Stadt von oben, jetzt die Hügelkuppe von unten über das Hausdach hinweg) ist nur implizit, aber durch den ausdrücklichen Verweis auf die frühere Textstelle doch mit gesetzt. An der analogen Textstelle kehrt sich der Blick metaphorisch wieder um, wandert zum Ausgangspunkt zurück: „Ich schreibe am Morgen des ersten Ostertages, und über das Nachbardach sieht mir noch immer, unverbaut, die höchste Kuppe des Osterbergs auf den Schreibtisch.“ Der eigene Blick wird metaphorisch dem Blickobjekt geliehen, sodass dieses zum Subjekt des Sehens wird, stellvertretend für die damaligen Subjekte, die mit der Stadt auch den Ort dieses Schreibtisches unthematisch mit gesehen hatten, zumal es der Schreibtisch ist, an dem die Akten den Osterberg aufnehmen und ihn interpretieren: „[…] auf den Osterberg, aus der Niederung zu den Höhen, aus dem Alltag in den Sonntag, […]“.32 Aber diesseits solch traditioneller und auf der Hand liegender semantischer Doppelungen konfiguriert sich ein AbschattungsHorizont-System mit austauschbaren Standorten, die nicht Standorte am Osterberg, sondern Orte im Text sind, von denen aus die jeweils anderen Orte aufzurufen und in das System einzutragen sind. Der Raum um den Vogelsang öffnet sich als Textraum in der Kombination von Orten im Textfeld. Jeder Roman ist endlich, verweist aber auf den nie realisierbaren, in keiner Operation einholbaren unendlichen Kontext der Welt, weil er ihn modellhaft nachformt. Daraus können ganz unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden, z.B. die der humoristischen Reflexion genau dieses unbehebbaren Missverhältnisses; oder die literarische Artikulation des Und-so-weiter, das Überspielen der Grenze; oder die Einrichtung eines perspektivischen Wahrnehmungssystems, durch das der Leser wandert und dabei immer 31 Ebd., S. 853, 855, 910. 32 Ebd., S. 858, 955, 818.
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wieder andere, gegeneinander verschobene Ansichten des Dargestellten gewinnt; eine Simulation oder Modellierung räumlicher Konfiguration. Jedenfalls muss die textuelle ‚Linearität‘ sich verformen, sich unterbrechen, in eine andere Ordnung sich umwenden; das Nacheinander muss so etwas wie ‚Ausgedehntheit‘ vermitteln. Und dies ist literarisch möglich durch Herstellung von Simultaneität in der Sukzessivität, durch die Erzeugung von Gleichzeitigkeit oder doch Gleichzeitigkeitseffekten in der und durch die Aufeinanderfolge der Sinneinheiten. Der Text wird dann selber zum Ding im Raum, auf das perspektivische Einstellungen erfolgen. Was das heißen kann, lässt sich leicht an einem der berühmtesten Raum-Beispiele der Literatur zeigen, an dem Wandering-Rocks-Kapitel (Episode 10) aus Joyces Ulysses. Die Tageszeit dieser Episode erstreckt sich von 14.55 Uhr bis kurz vor 16 Uhr. Eine dichte Fülle von Straßen-, Brücken-, Denkmäler-, Gebäude- und Geschäftsnamen projiziert den Text auf den Dubliner Stadtplan von 1904. Die 19 Passus dieser Episode, von nur 20 bis zu über 200 Zeilen lang, sind durch drei Asterisken (*) optisch markant gegeneinander abgesetzt. Jedes Segment versetzt uns an einen anderen Ort in Dublin. Segmentierung, Diskontinuität, Partialisierung, Fragmentierung, pure Additivität ist eines der angewandten Verfahren. Das andere, ebenso mechanische, ist die Montage. In die meisten der Segmente sind nämlich völlig unversehens Informationen aus einem anderen Stück eingeblendet: From the sundial towards James’s gate walked Mr Kernan, pleased with the order he had booked for Pulbrook Robertson, boldly along James’s street, past Shackleton’s offices. Got round him all right. How do you do, Mr Crimmins? First rate, sir. […] Graft, my dear sir. Well, of course, where there’s money going there’s always someone to pick it up. Saw him looking at my frockcoat. Dress does it. Nothing like a dressy appearance. Bowls them over. − Hello, Simon, Father Cowley said. How are things? − Hello, Bob, old man, Mr Dedalus answered, stopping. Mr Kernan halted and preened himself before the sloping mirror of Peter Kennedy, hairdresser. Stylish coat, beyond a doubt. […] Aham! Must dress the character for those fellows. Knight of the road. Gentleman. And now, Mr Crimmins, may we have the honour of your custom again, sir. The cup that cheers but not inebriates, as the old saying has it. North wall and sir John Rogerson’s quay, with hulls and anchorchains, sailing westward, sailed by a skiff, a crumpled throwaway, rocked on the ferrywash, Elijah is coming. Mr Kernan glanced in farewell at his image. High colour, of course. Grizzled moustache. Returned Indian officer. […] Mr Kernan turned and walked down the slope of Watling street by the corner of Guinness’s visitors’ waitingroom. Outside the Dublin Distillers Company’s stores an outside car without fare or jarvey stood, the reins knotted to the wheel. Damn dangerous thing. Some Tipperary bosthoon endangering the lives of the citizens. Runaway horse. Denis Breen with his tomes, weary of having waited an hour in John Henry Menton’s office, led his wife over O’Connell bridge, bound for the office of Messrs Collis and Ward.
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Eckhard Lobsien Mr Kernan approached Island street. Times of the troubles. Must ask Ned Lambert to lend me those reminiscences of sir John Barrinton.33
In Kernans Stadtwanderung und -wahrnehmung sind drei kleine ‚Szenen‘ einmontiert, die an ganz anderen Orten der Dubliner Innenstadt aufzusuchen sind, deren Erwähnung die Kontinuität der Kernan-Episode durchbricht: Das Nacheinander der Sätze als Mimesis des Nacheinander der Schritte von „James’s gate“ bis „Island street“ wird aufgehoben zugunsten einer Simultaneität. Exakt zum gleichen Zeitpunkt, als Kernan den Gedanken „Bowls them over“ fasst, findet die Begrüßung zwischen Cowley und Dedalus statt, viel weiter östlich. Gerade als Kernan den Spruch von „the cup that cheers“ wiederholt, den er während der Verhandlung mit Crimmins einflocht, treibt der zerknüllte Zettel mit dem Text „Elijah is coming“ noch weiter östlich auf der Liffey, durch den Strudel der Fähre entgegen der Flussrichtung ein Stück zurück nach Westen. Und Dennis Breen schreitet über „O’Connell bridge“, als Kernan sich „Island street“ nähert. Die Stadt wird zum Textraum, und zwar in einem ganz wörtlichen Sinn. Denn die durch die Montage ineinander verzahnten Szenen öffnen den Blick auf das Gleiche von verschobenen Standpunkten aus. Wenn man von Räumlichkeit in Literatur spricht, dann haben wir hier eine wirkliche literarische Mimesis von Räumlichkeit − als perspektivische Hinsicht auf einen Sachverhalt von verschiedenen Blickpunkten aus. Die Begrüßung zwischen Cowley und Dedalus, hier kurz eingeblendet, wiederholt sich etliche Zeilen ‚später‘: später in der Textsequenz, aber simultan in der Handlungszeit, was die wörtliche Wiederholung zeigt: − Hello, Simon, Father Cowley said. How are things? − Hello, Bob, old man, Mr Dedalus answered, stopping. They clasped hands loudly outside Reddy and Daughter’s. Father Cowley brushed his moustache often downward with a scooping hand. − What’s the best news? Mr Dedalus said.34
Wir blicken von dieser Stelle zurück auf die Kernan-Szene, koordinieren die beiden Orte in Dublin, die der Sache nach nichts miteinander zu tun haben, aber natürlich wegen dieser mechanischen Verklammerung dazu verlocken, nach Ähnlichkeiten zu fahnden: Austausch von Floskeln, Stehenbleiben, Interesse am eigenen Erscheinungsbild. − Dennis Breen, der auch in den Kernan-Abschnitt einmontiert ist, wird bei seinem nächsten Auftauchen eine ganze Strecke von der O’Connell Bridge zurückgelegt haben:
33 James Joyce: Ulysses: A Critical and Synoptic Edition, ed. by Hans Walter Gabler, Wolfhard Steppe and Claus Melchior, 3 vols., New York 1984, vol. 1, S. 513–517 (Episode 10, Z. 718–782). 34 Ebd., S. 523 (10, S. 882-–886).
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Where the foreleg of King Billy’s horse pawed the air Mrs Breen plucked her hastening husband back from under the hoofs of the outriders. She shouted in his ear the tidings. Understanding, he shifted his tomes to his left breast and saluted the second carriage.35
Der Fortgang des Textes ist hier synchronisiert dem Voranschreiten von Breen in Dublin; Textverlauf und Raumdurchquerung finden sich korreliert. − Am Ende des Kapitels sehen wir noch einmal Kernan beim missglückten Versuch, dem Vizekönig einen Gruß abzustatten: „At Bloody bridge Mr Thomas Kernan beyond the river greeted him vainly from afar.“36 Dies wiederum ist eine Wiederholung und damit Synchronisierung − nicht wörtlich, weil die Wahrnehmung von der anderen Flussseite aus eingestellt und anderen Blickpunktträgern zugeordnet ist − von A cavalcade in easy trot along Pembroke quay passed, outriders leaping, leaping in their, in their saddles. Frockcoats. Cream sunshades. Mr Kernan hurried forward, blowing pursily. His Excellency! Too bad! Just missed that by a hair. Damn it! What a pity!37
Wir haben mit den beiden Sätzen „At Bloody bridge […] from afar“ und „Mr Kernan hurried forward“ zwei aufeinander folgende textuelle Ausgedehntheiten, die simultan zu denken sind. Sie konfigurieren gemeinsam ein Jetzt, belegen zwei Orte im Text, der umspringt von einer Ordnung der Aufeinanderfolge in eine Ordnung der Gleichzeitigkeit: Er modelliert einen Raum und vermittelt Raumanschauung, er wird zu einer Raumöffnung. Wenn ein Objekt sich definiert durch seine Zeitstelle „in der Totalfolge der Stellen“,38 so wird dies hier als Text ganz wörtlich realisiert. Alles ist in der Zeit an genau seinem Ort, wenn auch die Orte im Text durcheinander geraten und erst durch Entzerrung und Neujustierung in die richtige Ordnung eingestellt werden müssen. Der Text-Ort ist von der vorrückenden Zeit her definiert, die Textstellen sind nicht schon Vorgaben der richtigen Stand-/Raum-Orte. Der Text muss Satz für Satz voranschreiten und kann doch Raum eröffnen durch ein Aufbrechen des Sinnkontinuums, durch Verlagerung der Sinnkonstitution (Sinnkombination) auf eine zweite Ebene ‚oberhalb‘ der Textsequenz. Die Wiederholung, kombiniert mit solcher Destruktion des Sinnzusammenhangs, die Umkodierung von Textstellen in Raumpunkte, ist die genaueste literarische Konstruktion von Raum, die sich denken lässt. Literatur fungiert als präzises Äquivalent lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten, die − indem sie so konstruiert werden − ganz fremdartig wirken. 35 Ebd., S. 545 (10, S. 1231–1235). 36 Ebd., S. 541 (10, S. 1183–1184). 37 Ebd., S. 517–519 (10, S. 794–798). 38 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Ergänzungsband: Texte aus dem Nachlass 1934–1937, hg. von Reinhold N. Smid, Dordrecht 1993 (= Husserliana Bd. XXIX), S. 299.
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4. Globalzeichen, Lebenswelt, Intersubjektivität Bei allen Überlegungen zu literarischen und lebensweltlichen Gegenständen droht ein elementares Faktum aus dem Blick zu geraten: Literatur bietet uns nicht nur Gegenstände und Sachverhalte an − der literarische Text ist selber ein Gegenstand. Der Gegenstand Text lässt sich wiederum sehr unterschiedlich begreifen, hier ist gemeint: Er besteht nicht einfach nur, wie Ingardens Modell es will, aus einer Zeichenfolge, die in Gegenstandsvorstellungen terminiert, sondern er ist selber, als ganzer, ein Zeichen − ein sich in der Zeit aufbauendes Globalzeichen.39 Das aber setzt voraus, dass die Teilzeichen (Wörter, Sätze, Satzzusammenhänge) nicht schon gänzlich verbraucht sind, wenn sie auftreten, dass sie nicht einfach ‚ausgelesen‘, sondern im Suspens gehalten werden für eine erst am Ende einzulösende Funktion. Die Normalbedeutung, das normale Verstehen, ist zwar möglich und ganz unerlässlich, aber es wird doch so weit limitiert, dass den Teilzeichen noch eine Reserve verbleibt zur Konstitution des Globalzeichens. Uns wird verwehrt, die Sätze der Literatur einfach wie gewöhnliche Urteile oder Mitteilungen zu lesen − mit dem Effekt, „dass die Abschwächung der Beziehung zwischen dem Zeichen und der mit ihm unmittelbar gemeinten Realität nicht eine Beziehung zwischen dem Werk und der Wirklichkeit insgesamt ausschließt, ja dass sie dieser Beziehung sogar förderlich ist“. Die Abschwächung der direkten Signifikationsfunktion lässt den einzelnen Zeichen gleichsam Raum, sich zu Zeichen höherer Ordnung zu organisieren, sich in einen besonderen semantischen Kontext einzufügen, bis auf der obersten Ebene das Werk als Ganzes „den Charakter einer summarischen Benennung“ gewinnt und „in eine starke Beziehung zur Realität“ eintritt. Diese „starke Beziehung“ ist keine als solche definierbare Zeichenbeziehung mehr, sondern eine „globale Benennung“40 − wovon? Nun, der gesamte Komplex individueller wie kollektiver Weltapperzeptionen (Ideologien) wird vom literarischen Werk bezeichnet. 39 Darin liegt ein weiterer Ding-Aspekt des Textes, der seiner zeitperspektivischen Entfaltung. Der Text durchläuft in seiner Konkretisation Zeitphasen, er geht hinein in einen Zukunftshorizont und wird zurückgeholt aus Vergangenheitsschichten. Ingarden hat dies als erster als ein literaturtheoretisches Problem benannt und skizziert und u.a. auf den folgenden, viel zu wenig beachteten Vorgang hingewiesen. Die gerade gelesenen Teile wandern aus dem Fokus des Gegenwartsbewusstseins heraus, verlieren ihre aktuelle Konkretheit. Sie rücken ins Lektüregedächtnis ein, was bedeutet, dass sie in unterschiedlicher Intensität weiter (selektiv) präsent bleiben. Dabei ‚zerlegen‘ sich die Schichten des Textes in ihre Momente, und die können nun einen sehr unterschiedlichen Nachhall auslösen. Mal löst sich ein Element der sprachlautlichen Schicht ab und bleibt uns isoliert im Gedächtnis präsent, dann wieder kann es der Sinn von Sätzen oder Satzfolgen bzw. die „Kondensierung“ solchen Sinns sein, vgl. Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S. 101. Es ist sogar denkbar, dass dabei ein Satz-Sinn kondensiert und erinnert wird, also jetzt in die Lektüre aus der Vergangenheit eintritt, der sich im Text überhaupt nicht findet; das Lektüregedächtnis wird zum KoAutor. 40 Mukařovský: Die poetische Benennung und die ästhetische Funktion der Sprache [1938], in: ders.: Kapitel aus der Poetik, übersetzt von Walter Schamschula, Frankfurt a. M. 1967, S. 44–54, hier S. 52-–54.
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Dieses Globalzeichen Text bringt eine Gegenständlichkeit in den Blick, die überhaupt nur so, in der performativen Genesis eines neuen, alle anderen umfassenden Zeichens einer Bezeichnung fähig ist. Das kann man wohl nur tentativ mit Leerfloskeln umschreiben, etwa als ‚Lebenswelt im Ganzen‘ oder ‚Totalität lebensweltlicher Erfahrung‘ oder ‚das Ganze der Welterfahrung‘. Die globale Bezeichnung eines globalen Sachverhalts ist gewiss etwas ganz anderes als die Gegenständlichkeit, von der Ingarden handelt. Der Text muss sich als Gegenstand mit Anfang und Ende konstituieren, um dann als Globalzeichen eine genuine Erkenntnis vermitteln zu können, letztlich eine Erkenntnis der Lebenswelt. Wie aber kommt der Text-Gegenstand zustande, nach welchem Kriterium treten die Teilzeichen zusammen zur Einheit des Totalzeichens? Die aufeinander folgenden Teilzeichen fügen sich ja nicht von selber zu einem komplexen Global- oder Hyperzeichen; immer wieder durchbrechen sie die Abschwächung ihrer normalsprachlichen Signifikation − wir lesen den Text so, als ob er uns mit dem Sinn seiner Sätze schon alles vor- oder anti-literarisch mitteile. Welche Instanz aber garantiert diese Formierung eines komplexen Ganzen? Woran orientieren wir uns in dem Aufbau eines erst ganz am Ende der Konkretisation vollendeten Hyperzeichens? Was hilft uns bei der kontraintuitiven Suspendierung der normalsprachlichen Kurzschlüsse? Die bedeutsame Antwort des Prager Strukturalismus lautet: Wir orientieren uns an der Einheit des Subjekts; Zeichenaufbau und bezeichnete ‚Welt‘ erscheinen „geeint nach der Weise der Einheit des Subjekts“.41 Diese semiotisch-anthropologische Begründung dafür, dass wir in der Regel das aus vielen, aber eben doch zahlenmäßig limitierten Informationen (oder Zeichen) bestehende literarische Werk als synthetisch stimmige, komplex-homogene, globale Darstellung von Wirklichkeit erfahren und als Ausdruck oder Modell oder Symptom unserer selbst, bedarf dringend der phänomenologischen Aufklärung. Was kann „Einheit des Subjekts“ heißen? Wir stehen an dem Punkt, von dem her Literatur und Lebenswelt in ganz konkreter, fasslicher, aber auch ganz grundsätzlicher Weise aufeinander beziehbar sind, weit über die Frage einzelner Gegenständlichkeiten und Sachverhalte hinaus. Denn die Lebenswelt als Welt der unmittelbaren Erfahrung, als die fraglose, selbstverständliche Welt, ist keine solipsistische Welt der einzelnen Subjekte, sondern es ist die uns allen gemeinsame Welt. Das freilich setzt einen Begriff von Intersubjektivität voraus, der wiederum einen Subjektbegriff umgreift mitsamt einer Beschreibung der „Einheit“ dieses Subjekts. Und es ist diese Einheit, die wir ‚mitbringen‘ müssen in die lebendige Erfahrung eines literarischen Textes, wollen wir die Einheit des Textes so konstituieren, dass sie die Lebenswelt im Ganzen zu bezeichnen vermag. Die Pointe der phänomenologischen Aufklärung dieses Zusammenhangs besteht darin, dass die Einheit des Subjekts immer nur ein Interpretament sein 41 Herta Schmid: Zum Begriff der ästhetischen Konkretisation im tschechischen Strukturalismus, Sprache im technischen Zeitalter 36 (1970), S. 290–318, hier S. 307. − Zu verwandten literaturtheoretischen Positionen und Ergebnissen vgl. Eckhard Lobsien: Literaturtheorie nach Iser, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich, Berlin 2010, S. 207–221.
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kann − die Einheit meiner selbst genauso wie die Einheit der Anderen. Ich interpretiere mich anhand eines Zeichensystems (Leib/Körper-Zeichen in wechselseitiger Projektion zwischen den Subjekten) als Einheit, und ich interpretiere den sich aufbauenden Text (die Performanz des Textes) als Einheit gemäß dieser Einheit. Das ist die Ebene, auf der ein zweites Mal von Konstitutionsweisen literarischer und lebensweltlicher Gegenstände zu reden ist. Husserls Argumentationsgang lautet: Wir sind als Körper Ding unter den Dingen dieser Welt, doch ist dieses ‚Ding‘ erfüllt, beseelt, gelenkt von Geist und Bewusstsein; es ist Leib. Der Leib ist „Nullpunkt“ der Orientierung im Raum, von ihm her erschließt sich Welt, wir haben ihn „immerfort im Modus des letzten zentralen Hier“.42 Das impliziert einen Mangel; denn den Leib kann ich niemals gegenständlich vor mich bringen − er wäre dann nicht mehr der Nullpunkt meiner Orientierung. Also kann ich mich als leibseelische Einheit nicht wirklich konstitutieren, ich muss mich als eine solche Einheit immer voraussetzen. Dabei nun wird die Erfahrung des anderen Ich unentbehrlich als Supplement der Selbstkonstitution. Denn: Das andere Ich begegnet als Leib, dem ich eine Seele appräsentiere, einlege, einfühle; und zwar deswegen, weil sich dieser Körpergegenstand anders zeigt als andere Objekte − als ein Zeichen. Ich sehe es diesem Ding an, dass es auf etwas zeichenhaft verweist, dass ihm eine ‚Innenseite‘ zugehört; ich habe ein „System von Anzeichen“ gelernt, um die Appräsentation motiviert durchzuführen. Der Leib des Anderen ist ein bedeutungstragendes Zeichen. Es besteht „wirklich eine Analogie zwischen diesem Zeichensystem des ‚Ausdrucks‘ seelischer Vorkommnisse […] und dem Zeichensystem der Sprache für den Ausdruck von Gedanken, […]“.43 Durch Einfühlung wird also objektiv der erfasste Leib mit einem (zwar nur erschlossenen, gemutmaßten, aber doch zwingend anzusetzenden) Seelenleben zur Einheit ‚Mensch‘ zusammengefügt: „[U]nd diese übertrage ich im weiteren auf mich selbst“.44 Die fremden Subjekte sind „Analoga unserer Selbst“,45 sie fungieren als Reflektoren. Wir haben sie nur in supponierter Analogie zu uns, aber wir benötigen sie, um die ihnen zugeschriebene Einheit wiederum analogisch uns zuteilwerden zu lassen: eine Spiegelung zweier Mangelsituationen. Der andere ist nur qua analogischer Interpretation ein ganzer Mensch; die Basis der Analogiebildung allerdings ist defizitär, weil sie selber erst durch eine Analogiebildung zu dem, was analog gebildet werden soll, verfügbar ist. Appräsenz „ist prinzipiell nicht zu verwandeln in unmittelbares originäres Dasein (Urpräsenz)“.46 Appräsenz ist aber nötig, wenn ich von mir einen Begriff bilden will, der allein aus der Immanenz nicht zu begründen ist − den Begriff eines 42 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hg. von Marly Biemel, Haag 1952 (= Husserliana Bd. IV), S. 158. 43 Ebd., S. 166. 44 Ebd., S. 167. 45 Ebd., S. 168. 46 Ebd., S. 198.
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(ganzen) Menschen, der mehr ist als die abstrakte Selbstapperzeption ‚Ich‘. Ich kann mich als Menschen nur haben, wenn ich die Anderen ‚komprehendiere‘ als auf mich (als Teil ihrer Umwelt) gerichtete: „Eben damit komprehendiere ich sie als mich selbst ähnlich auffassend, wie ich sie auffasse, […] Darin liegt eine Identifikation zwischen dem Ich, das ich in der direkten Inspektion vorfinde […], und dem Ich der fremden Vorstellung von mir, [...]“.47 Setzen wir noch einmal an. Wenn Einfühlung bedeutet, den Anderen in Analogie zu mir selber aufzufassen, dann muss ich zunächst von mir einen Begriff als Basis solcher Analogiebildung haben. Und dieser Begriff muss so umfassend sein, dass der Andere in wirklich belangvoller Weise als alter ego aufgefasst wird. Dabei zeigt sich: Ich wie der Andere sind Doppelgestalten aus Körper und Leib (einem Gegenstand unter Gegenständen und einer in diesem wahrnehmbaren Gegenstand wirkenden, als sie selber unsichtbaren Kraft), also Zeichenstrukturen. Man kann geradezu das Körper/Leib-Verhältnis als den Prototyp eines Zeichens ansehen. Alle anderen Zeichen − Merkzeichen, Werkzeuge, Kunstwerke, Sprachzeichen − wären dann „insofern Analoga von Leibern, als mittelbar [...] sich ein Walten vollzogen hat in der Weise einer sie formenden Tätigkeit von Subjekten und die nun in ihrer sinnlichen Form dieses Walten und ein darin zwecktätiges Gestaltetsein anzeigen“.48 Der Körper ist Paradigma eines jeden beliebigen Dinges, in dem eine geistige Bedeutung verkörpert ist, also Paradigma von Kulturgebilden im weitesten Sinn: Diese sind sinnlich konkret in Raum und Zeit gegeben, und sie besitzen zugleich eine irreale, ideale, bedeutungsmäßige Schicht. Und die Einheit dieser beiden Seiten oder Schichten ist selber eine „irreale Einheit“, d.h. „ideale Einheit“.49 Eine Materie (Körper) zeigt eine Bedeutung (Geist, wirkendes Bewusstsein) an, das ist einleuchtend. Das Problem besteht nun eben darin, dass Ich und der Andere auf symmetrische Weise unvollständige Zeichen sind und dass folglich die Analogie schief ist und schief bleibt. Von mir selber habe ich zwar eine evidente Leiberfahrung (z.B. in den kinästhetischen Abläufen), aber nie ein vollständiges Körperbild, denn der Körper als Ding unter den Dingen entzieht sich der vollen Bestimmtheit, er bleibt stets irgendwie abgeschattet; vor allem aber kann ich ihn mir nie wie ein beliebiges Ding gegenüber stellen und ihn sukzessiv in allen perspektivischen Einstellungen durchlaufen. Das ist nicht einmal in der Phantasie möglich. Beim Anderen verhält es sich genau spiegelbildlich: Ihn kann ich qua Körper im zeitlichen Nacheinander der Einstellungen vollständig bestimmen, aber von seinem Inneren habe ich immer nur indirekte, anzeigenhafte Kenntnis. Ich muss also, im Wissen um die Unvollständigkeit dieser Operation, eine möglichst genaue Kenntnis
47 Ebd., S. 242. 48 Husserl: Die Lebenswelt: Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlaß (1916–1937), hg. von Rochus Sowa, Dordrecht 2008 (= Husserliana Bd. XXXIX), S. 427. 49 Husserl: Phänomenologische Psychologie: Vorlesungen Wintersemester 1925, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1968 (= Husserliana Bd. IX), S. 398.
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meiner selbst als eines Außen/Innen-Zeichengebildes erwerben, um in Analogie hierzu den Anderen interpretieren zu können. In dem Einfühlung genannten Prozess haben wir es also mit drei Unbestimmtheiten zu tun: (1) Entzug meines Körpers, also die Unmöglichkeit, mich jemals selber als vollbestimmte Körper/Leib-Formation kennen zu können; (2) Unzugänglichkeit des ‚Innenlebens‘ des Anderen; (3) Ungesichertheit des Analogieschlusses von einem Zeichenverhältnis auf das andere. Der Analogieschluss erfolgt nicht einseitig von mir zum Anderen, sondern auch umgekehrt: Da ich den anderen Körper − im Unterschied zu meinem − vollständig bestimmen und an ihm das ganze Zeichensystem entziffern kann (wenn auch ohne letzte Sicherheit hinsichtlich der Bedeutung dessen, was sich da sinnlich anzeigt), übertrage ich diese Wahrnehmung analog auf meinen eigenen Körper. Was ich an diesem nicht wirklich sehe, bestimmte Exteriorisierungen des Inneren, kann ich doch supplementieren durch Analogieschluss vom Anderen. Ich brauche den Anderen, um mich (als ganzen Menschen) haben zu können, um mir ein ihm analoges Bild meiner selbst machen zu können, und ich muss mich haben, um den Anderen als Analogon meiner begreifen zu können: Das ist das Dilemma, fixiert in dem Befund: „Der Andere ist der erste Mensch, nicht ich“.50 Ich muss den Anderen als Leib-Körper-Ganzheit analog zu meiner Selbstgewärtigung setzen, damit ich ihn als denjenigen annehmen darf, der mich in Analogie zu sich selber als die gleiche Leib-Körper-Ganzheit akzeptiert. Einfühlung ist letztlich ein Zeichenprozess, in welchem ein Vokabular erlernt und eingeübt wird, das zwar eine prekäre Grundlage aufweist, aber für die Konstitution einer gemeinsamen objektiven Welt unverzichtbar ist. Man kann entweder die Unbestimmtheiten dieses Prozesses herausstellen und sie bis zur blanken Unmöglichkeit verschärfen; man kann gegenläufig hierzu die Differenz zwischen theoretischer Problematik und pragmatischer Zulänglichkeit hervorheben; man hat in jedem Fall das vor Augen, was vorausgesetzt ist, wenn von der „Einheit des Subjekts“ als Bedingung von Text- und Welterfahrung die Rede ist. Wenn sich das Subjekt als Einheit hat, dann immer nur als hypothetische, annäherungsweise gesicherte Einheit, und nur in diesem Maße kann der sich konfigurierende Text als Globalzeichen auch als Einheit zustande kommen. Jetzt aber kehrt sich die Perspektive um, das Verhältnis von Literatur und Lebenswelt (im Aspekt der für die oberste Funktion von Literatur unabdingbaren Einheit des Subjekts) wird von der Literatur her definiert. Bei der Frage nach dem dargestellten Gegenstand konnte die Literatur nur annähernd Äquivalente zu lebensweltlichen Evidenzen aufbieten. Jetzt aber, bei der Frage nach dem Gegenstand Text, vermag der zur Einheit des Globalzeichens voranschreitende Text dem Subjekt zurück zu spiegeln, was es mit seiner Einheit auf sich hat. Der Text formt sich zur Einheit nach der Weise des Subjekts, gewiss − aber dieses weiß um seine Einheit durch die teleologische Performanz des Textes, es wird seiner als einer nie wirklich greifbaren Einheit inne in Verfolgung der Entstehung des Globalzeichens, dessen Sinnkorrelate 50 Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität: Texte aus dem Nachlass, Zweiter Teil: 1921-1928, hg. von Iso Kern, Den Haag 1973 (= Husserliana Bd. XIV), S. 418.
Konstitutionsweisen lebensweltlicher und literarischer Gegenständlichkeit
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Selbst und Welt sind, nichts geringeres. Kein Wunder und sehr berechtigt, dass seit Aristoteles die scheinbar so trivialen Kriterien von Anfang, Mitte und Ende eine prominente Rolle in der Literaturtheorie spielen. Sie umgrenzen die Spielräume, die auf der Ebene der Einzelgegenstände unausfüllbar sind, was im direkten Vergleich zwischen literarischen und lebensweltlichen Gegenständen nach Ingarden augenfällig wird. Aber sie konfigurieren eben in unvergleichlich prägnanter Weise jene Einheit, an der das Subjekt dessen innewird, was es dem Text gegenüber je schon ins Spiel gebracht hat: die ihm eigene Einheit als Modell und Maßstab. Darin ist denn wohl auch die Trost- und Kompensationsfunktion der Literatur begründet. Ihre Kohärenz und Einheit stellt ersatzweise jene Kohärenz zur Verfügung, die uns selber in unserem Leben, das wir immer als in medias res erfahren, so beunruhigend mangelt.51
51 „Men, like poets, rush ‚into the middest‘, in medias res, when they are born; they also die in mediis rebus, and to make sense of their span they need fictive concords with origins and ends, such as give meaning to lives and to poems“ − Frank Kermode: The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction, New York 1967, S. 7.
Stefan Matuschek
Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff Im Anschluss an Hans Blumenbergs Theorie der Lebenswelt
Es gibt Begriffe, die über die Absichten ihres Schöpfers hinausschießen und durch ihre vielfach anschlussfähige, anregende Semantik ein Eigenleben entwickeln. Der Begriff ‚Lebenswelt‘ ist so einer. Sein Schöpfer, Edmund Husserl, wollte mit ihm die Philosophie als Phänomenologie neu begründen, indem er unter ‚Lebenswelt‘ die basalen Einstellungen, Strukturen und Bezugsweisen verstand, in denen sich für den Menschen die Welt ergibt; in Husserls Worten: „das universale Wie der Vorgegebenheit der Welt“1, oder einfacher: „das natürlich normale menschliche Weltleben“.2 Genau dies sah Husserl unter dem Objektivitätsideal der neuzeitlichen Wissenschaften verborgen und er wies der Philosophie als Phänomenologie die Aufgabe zu, dieses Verborgene als Boden aller Objektivitätsvorstellungen freizulegen und zu erschließen. Als allgemeine „Wissenschaft von der Lebenswelt“3 soll die Phänomenologie deren „formal-allgemeinst[e] Strukturen“4 herausarbeiten und dadurch die Voraussetzungen aller möglichen Wissenschaften klären. Der Begriff ‚Lebenswelt‘ ist aus diesem Neubegründungsprogramm der Philosophie ausgebrochen und weit über Husserls Entwurf einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie hinaus zum Schlüsselwort geworden, um das Spannungsverhältnis von rationalem Wissenschaftsanspruch und dem ‚normalen‘ Leben zu formulieren. Der „XXI. Deutsche Kongreß für Philosophie“ hat im Jahr 2008 das Thema „Lebenswelt und Wissenschaft“ in 29 verschiedenen Themenbereichen (vom Arzt-Patient-Verhältnis bis zur Philosophiedidaktik) diskutiert und in seinem Tagungsband mit insgesamt 97 Beiträgen auf knapp 1500 Seiten dokumentiert:5 ein eindrucksvoller Beleg für die Konjunktur des Lebenswelt-Begriffs. Vor einer Generation hat Hans-Georg Gadamer diesen Begriff ein „Zauberwort“ genannt, das eine durch die modernen Wissenschaften
1 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Elisabeth Ströker, Bd. 8, Hamburg 1992, S. 149. 2 Ebd., S. 121. 3 Ebd., S. 126. 4 Ebd., S. 145. 5 Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie 15.–19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen. Kolloquiumsbeiträge, hg. von Carl Friedrich Gethmann in Verbindung mit J. Carl Bottek und Susanne Hiekel, Hamburg 2011 (= Deutsches Jahrbuch Philosophie Bd. 2).
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„verkannte oder vergessene Wahrheit zur Sprache“ brachte.6 Der Ausdruck ‚Lebenswelt‘ weist darauf hin, dass zwischen dem, was Menschen erleben, und dem, was die Wissenschaften erklären, eine Lücke klafft. Als Kontrastbegriff zur ‚Wissenschaftswelt‘ markiert er den Hiatus zwischen der natürlichen und der wissenschaftlichen Welteinstellung und er hält die natürliche als eigene Qualität fest. ‚Lebenswelt‘ ist ein einfacher und dadurch durchschlagender Ausdruck dafür, dass die Welt des einzelnen, so wie sie ihm alltäglich vorkommt, etwas anderes ist als die Summe ihrer einzelwissenschaftlichen Thematisierung. Und ‚Lebenswelt‘ ist das erste und durchschlagend erfolgreiche Angebot, diesen komplexen Zusammenhang, wie dem einzelnen seine Welt vorkommt, benennbar zu machen. Auch die Literaturwissenschaft hat dieses Angebot angenommen und mit dem Begriff ‚Lebenswelt‘ den allgemeinen Bezug der Literatur bezeichnet: auch hier als Kontrastbegriff zur Wissenschaftswelt. Als Alternative zum Expertenwissen kann man die Literatur als ein ‚lebensweltliches‘ Erkenntnis- und Verständigungsmedium würdigen, das gerade nicht fachlich objektiviert, sondern − mit Husserl gesagt − „das natürlich normale menschliche Weltleben“ zu artikulieren oder fiktional vorzustellen versucht. In diesem Sinne sieht Gottfried Willems in der Literatur „das Starkmachen des Lebensweltlichen gegenüber der Vormundschaft der Experten“7, und in diesem Sinne habe ich selbst die Literatur als eine Anstrengung beschrieben, die Alltagssprache als ein lebensweltliches Erkenntnis- und Verständigungsmittel neben den sich ausdifferenzierenden Expertensprachen mündig zu halten.8 ‚Lebenswelt‘ steht in diesem Zusammenhang für die menschliche Perspektive, aus der heraus die Welt keine objektive Gegebenheit ist, sondern sich aus subjektiven Erfahrungen, Bewertungen und Erwartungen zusammensetzt. Als Kunst der Perspektive, insbesondere durch die personale Perspektivierung hat sich die Literatur zu einem vorzüglichen Medium entwickelt, Welt als Lebenswelt zu zeigen. Man kann dies die strukturelle Wahrheit der fiktiven Erzählwelten nennen: wahr insofern, als sie die Welt der Menschen nicht als objektive Gegebenheit darstellt, sondern als das, was einem Subjekt jeweils als seine Welt vorkommt. Diese subjektive Einstellung bleibt strukturell wahr, auch wenn das Subjekt fiktiv ist. Daraus gewinnt die Literatur ihren Reiz und ihre Überzeugungskraft. Daraus nährt sich die Erwartung, zu einem großen Ereignis (wie vor einigen Jahren die deutschlandpolitische Wende oder zuletzt die Bankenkrise) auch einen großen Roman lesen zu können: die Erwartung, dass der Roman durch seine 6 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Probleme der praktischen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2: Hermeneutik II, Tübingen 1986, S. 319–329, hier S. 323. 7 Gottfried Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Wissenschaft. Die Literatur als Refugium des Wertlebens und das Ideal der wertfreien Wissenschaft, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich unter Mitarbeit von Andreas Grimm, Berlin, New York 2010, S. 223–245, hier S. 241. 8 Vgl. meinen Beitrag Gegen das Schwachsinnigwerden der Alltagssprache. Zur lebensweltlichen Erkenntnisfunktion der Literatur, Vortrag auf dem VII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik: Ästhetik und Alltagserfahrung, 2008. Text online: http://dgae.de/downloads/Stefan_Matuschek.pdf
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Perspektivierung mehr verstehen lässt als die fachlich zuständigen Experten durch ihre Begriffe. Den Niedergang der DDR kann man politisch und volkswirtschaftlich erklären; in Uwe Tellkamps Der Turm wird er lebensweltlich verständlich. Auch Spielfilme können Ähnliches leisten, wofür im derzeit am meisten interessierenden Themenfeld Oliver Stones Wall Street ein gutes Beispiel gibt. In diesem Film wird das Börsen- und Finanzgeschäft als Lebens-, Handlungs- und Erwartungswelt individueller Menschen dargestellt. Das tendiert − zumal als Hollywood-Produktion − zum melodramatischen Kitsch, trifft aber damit die Wall Street jenseits aller wirtschafts- und finanzwissenschaftlichen Rationalität als menschliches Phänomen. Auch in der Literaturwissenschaft kann der Lebenswelt-Begriff seinen Zauber entfalten: dadurch, dass er kompakt benennbar macht, worin die spezifische Darstellungsleistung der Literatur liegt. Als Kunst der personalen Perspektive zeigt sie die Welt, wie sie Menschen vorkommt; eine Welt, die nicht aus objektiven Tatsachen besteht, sondern sich je subjektiv aus Erfahrungen, Wahrnehmungen, Bewertungen und Erwartungen aufbaut, eine Welt, die nicht fix ist, sondern sich sukzessiv in Situationen entwickelt, die keine feste Grenze, sondern einen Horizont hat, in dem immer wieder Neues auftaucht und Altes verschwindet. Alles das kann man mit dem Wort ‚Lebenswelt‘ zusammenfassen, und man sagt dann viel mit dem Satz, dass Literatur nicht Welten, sondern Lebenswelten entwirft. Die Bedeutung, die dabei der personalen Perspektive zukommt, legt es nahe, hier nicht pauschal von ‚der‘ Literatur, sondern spezieller von der modernen Erzählliteratur zu sprechen. Dass diese ihre Erzählwelten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer weniger auktorial und stattdessen immer mehr personal perspektiviert, kann man als eine epochale Begleiterscheinung zu Husserl ansehen. Es geht beide Mal um die Kritik an der Objektivierung. Was Husserl mit dem Begriff der Lebenswelt gegen die moderne Wissenschaftswelt einwendet, ist der romanpoetologischen Kritik am auktorialen realistischen Erzähler vergleichbar. Dessen Anspruch, die Welt zu zeigen, wie sie objektiv ist, wird durch die neuen Darstellungsverfahren der Klassischen Moderne ebenso bestritten wie der wissenschaftliche Objektivitätsanspruch durch Husserls Phänomenologie. Die philosophische Begriffsbildung und die Veränderung der literarischen Erzählverfahren kommen in dieser kritischen Intention überein. Husserls Begriffsprägung hat darin einen besonderen Bezug gerade zur modernen Erzählliteratur. Er geht über die kompakte Benennbarkeit, worum es in dieser Literatur geht, hinaus. Denn die philosophische Explikation des Lebenswelt-Begriffs hat weitere Angebote für die Literaturwissenschaft, insbesondere im Blick auf moderne Erzählverfahren. Ich finde diese Angebote bei einem an Husserl anschließenden philosophischen Phänomenologen, bei Hans Blumenberg. Vierzehn Jahre nach dessen Tod ist als eine der zahlreichen Nachlasseditionen seine von dem Herausgeber Manfred Sommer so genannte Theorie der Lebenswelt erschienen. Sie ist kein einheitliches Werk, sondern eine postume Zusammenstellung verschiedener thematisch einschlägiger Manuskripte. In dem Hauptteil, der wie die Sammlung insgesamt vom Herausgeber Theorie der Lebenswelt genannt wird, sehe ich drei Begriffe, die Blumenberg zur Erörterung von Husserls Begriffsbildung aufgreift und die mir für das Thema ‚Literatur und Lebenswelt‘
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aufschlussreich erscheinen. Es sind die Begriffe der Mannigfaltigkeit, Uneinsichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Den ersten bedenkt Blumenberg eher beiläufig, die beiden anderen sind für seine Theorie der Lebenswelt zentral. Insofern ist meine Dreierauswahl ungleichgewichtig. Aus Blumenbergs Sicht kombiniert sie einen weniger interessanten mit zwei entscheidend wichtigen Aspekten. Für die Literaturwissenschaft erscheinen mir jedoch alle drei gleichermaßen fruchtbar. Was versteht Blumenberg jeweils darunter und was haben sie für die Literaturtheorie zu bieten?
1. Mannigfaltigkeit − Johnsons Mutmassungen über Jakob Von der Mannigfaltigkeit spricht Blumenberg zwar nur beiläufig, aber doch als erstem. Es ist seine Verlustmeldung, worauf eine Philosophie der Lebenswelt verzichten müsse. Soll sie, wie Husserl es will, eine allgemeine Wissenschaft von der Lebenswelt sein, muss sie von allem spezifischen, individuellen Leben abstrahieren und sich auf die allgemeinsten Strukturen beschränken. „Dürre Abstraktion“, nennt Blumenberg das, „auf die Gefahr hin, die Kostbarkeit jener Mannigfaltigkeit biographischer Lebenswelten zu verlieren.“9 Das ist insofern selbstironisch gewertet, als Blumenberg sich programmatisch auf das ‚Dürre‘ einlässt und auf das ‚Kostbare‘ verzichtet. Seine Theorie der Lebenswelt folgt Husserls Interesse an den „allgemeinsten Strukturen“. Sie ist eine Theorie der Lebenswelt, im Singular. Die Pluralität der jeweiligen individuellen Konkretionen blendet sie aus. Das geschieht jedoch, wie die Selbstironie zeigt, nicht ohne Bedenken. Dass die philosophische Theorie in ihrer Abstraktion zu verlieren riskiert, was sie eigentlich erkennen will: dieses allgemeine Problem stellt sich beim Thema ‚Lebenswelt‘ in besonderer Weise, weil der Lebenswelt-Begriff ja gerade aus der Kritik an wissenschaftlichen Objektivierungen entstanden ist. Mit genau diesem Problem setzt Blumenbergs Text an: „Theorie der Lebenswelt? Schon beim Numerus wird es kritisch. Weshalb sollte, da jeder sein Leben hat und lebt, nicht auch jeder seine Lebenswelt haben?“10 Blumenberg erwähnt diese Kritik, um ihr mit dem Bekenntnis zu Husserls Programm entgegen zu treten. Die Lebenswelt „muß ein einheitliches Merkmal haben“,11 durch das sie ja erst zum Gegenstand philosophischer Forschung werden kann. Anders als Husserl aber beginnt Blumenberg diese Forschung mit der Erinnerung daran, was sie übersieht: „die Kostbarkeit jener Mannigfaltigkeit biographischer Lebenswelten“. So ist diese Formulierung mehr als bloße Selbstironie des Philosophen. Sie wirkt wie ein Gedenkstein, mit dem die Theoriebildung im Vorbeigehen markiert und würdigt, was sie selbst nicht erreichen kann. Der Ausdruck ‚Lebenswelt‘, kann man daraus schließen, sensibilisiert für die blinden Flecken wissenschaftlicher Begriffs- und Theoriearbeit.
9 Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, hg. von Manfred Sommer, Berlin 2010, S. 9. 10 Ebd. 11 Ebd.
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In Bezug auf die Literatur kann Blumenbergs Verlust- als Gewinnmeldung gelten. Was die philosophische Theorie verliert, gehört zum Reichtum der Literatur: die „Mannigfaltigkeit biographischer Lebenswelten“. Das klingt zunächst nach einem laudativen Topos: Wie vielgestaltig einzelschicksalszugewandt ist die Literatur! Der Begriff der Mannigfaltigkeit wird jedoch mehr als ein topisches Lob, wenn man damit nicht den Figurenund Schicksalsreichtum der Literatur überhaupt meint, sondern die Qualität, die schon ein einzelnes Werk seiner dargestellten Welt geben kann. Am konsequentesten erscheint sie dort, wo die verschiedenen individuellen Lebenswelten sich nicht mehr zu einer kohärenten, stimmigen Welt integrieren lassen. In der Erzählliteratur geschieht das dann, wenn eine Pluralität von Figurenperspektiven ohne übergeordnete, bewertende Erzählinstanz bleibt. Als Leser taucht man dann in die verschiedenen Perspektiven der Figuren ein, die, auch wenn es vom Plot her immer um dasselbe geht, doch nicht dasselbe zeigen. Die Welt der Menschen ist − so gibt dieses Darstellungsverfahren zu verstehen − auch am selben Ort und zur selben Zeit eine irreduzible Mannigfaltigkeit von Lebenswelten. In der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gibt Uwe Johnsons Roman Mutmassungen über Jakob (1959) dafür ein klassisches Beispiel. In seinem Zentrum steht das Ereignis, dass der vom Rangierer zum Inspektor aufgestiegene Jakob Abs an einem nebligen Novembermorgen auf dem Dresdner Bahnhofsgelände von einer Lok überfahren wird. Es bleibt unklar, ob es ein Unfall, Selbstmord oder Mord ist. Für alle drei gibt es Gründe und Gegengründe: Für einen Unfall spricht die schlechte Sicht bei Nebel; dagegen spricht Jakobs Erfahrung als Rangierer und seine Vertrautheit mit dem Bahnhofsgelände. Ein Selbstmord könnte dadurch motiviert sein, dass seine Freundin ihn verlässt, um nach Westdeutschland auszuwandern, und dass er selbst als bisher loyaler DDR-Bürger angesichts der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956, an der er als Eisenbahner logistisch beteiligt ist, in schwere Gewissensnöte gerät. Ein Mord könnte auf das Konto der militärischen Spionage-Abwehr gehen, die Jakob ins Visier nimmt, seitdem er seine Freundin in Westdeutschland besucht hat, wo sie bei der NATO angestellt ist. Johnson erzählt die Geschichte nicht als Detektivroman, der zur Klärung der verschiedenen Mutmaßungen und damit zu einer gültigen Perspektive führte. Er erzählt stattdessen aus der Sicht der Figuren, unter anderem der Freundin und des Mitarbeiters der Spionageabwehr. Sie sind nicht einfach verschiedener Meinung. Vielmehr leben sie in so unterschiedlichen Zusammenhängen, dass ein und dasselbe Geschehen − etwa die Übersiedlung nach Westdeutschland und die Anstellung bei der NATO − ganz unterschiedliche Bedeutungen hat. Der Roman stellt dabei die individuellen Erfahrungshintergründe als Bedingungen der Lebenseinstellungen heraus, auch als Bedingungen dafür, wie verschieden und einander fremd die Lebenswelten sein können, auch wenn sie sich in Raum und Zeit überschneiden. Eine neutrale, allgemeingültige Darstellung, was in diesen Überschneidungsräumen und -zeiten der Fall war, fehlt. Man sieht nur, wie es den verschiedenen Menschen jeweils vorkommt. Nur einzelne technische, materielle Abläufe sind klar. Etwa der, dass Jakob überfahren wird. Was dies aber menschlich bedeutet, bleibt individuelle Deutung, bleibt „Mutmaßung“, die durch die jeweilige individuelle Einstellung gefärbt ist. Ob es
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ein politischer Mord war, wäre wohl zu klären. Ob es aber ein Unfall oder Selbstmord war und inwiefern das eine oder das andere für Jakob selbst mit den Agenten der Spionageabwehr zusammenhängt, bleibt ein Geheimnis von Jakobs eigener Lebenswelt, die mit seinem Tod zu Ende ist. Auch das zeigt der Roman: Das je Individuelle an ihr schließt eine Lebenswelt vor anderen ab. Durch die Unklarheit seines Todes wird Jakob auch für die, die ihm nahe standen, zu einer geheimnisvollen Person. Johnsons Mutmassungen sind kein Einzelfall. Sie gehören zur allgemeinen Entwicklung der Erzählliteratur im 20. Jahrhundert, eine alles vermittelnde und klärende Erzählinstanz durch Multiperspektivität und heterogene Erzählwelten abzulösen. In der romanpoetologischen Diskussion hat sich dies als Skepsis gegenüber dem allwissenden Erzähler artikuliert, der gegenüber einer immer komplexer und unüberschaubarer werdenden Wirklichkeit als naiv oder ideologisch erschien. Positiv kann man dies die Einsicht in die Mannigfaltigkeit der Lebenswelten nennen. So sind die romanästhetischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts als der Versuch zu verstehen, der menschlichen Wirklichkeit näher zu kommen. Wer Johnsons Mutmassungen über Jakob liest oder sich in eine andere polyperspektivische, heterogene Erzählwelt begibt, nimmt an einer erzähltechnischen Sensibilisierung für die Welt als Lebenswelten teil. Das ist, kann man mit Blumenberg sagen, kostbar; aber auch eine Herausforderung, die menschliche Welt in ihrer irreduziblen Mannigfaltigkeit zu sehen.
2. Uneinsichtigkeit − Schnitzlers Leutnant Gustl Als erstes der eingangs postulierten allgemeinen Merkmale der Lebenswelt bestimmt Blumenberg ihre „Uneinsichtigkeit“.12 Bezeichnet ‚Lebenswelt‘ den Modus, wie die Wirklichkeit dem Mensch in seiner natürlichen Einstellung außerhalb allen wissenschaftlichen Interesses gegeben ist, dann hört dieser Modus auf, sobald er selbst erkannt werden soll. Denn mit dem Erkenntnisinteresse an den Merkmalen der Lebenswelt beginnt genau die wissenschaftliche, theoretische Einstellung, die der Begriff Lebenswelt ja gerade ausschließt. Die Lebenswelt schwindet damit als solche, sobald sie zum Thema wird. Sie kann in sich, wie es Gadamer formuliert hat, „niemals selbst Objekt“13 werden; sie ist, so sagt es Blumenberg in einer früheren Publikation, „ein Erlebnisintegral […], das ‚von innen‘ nicht beschrieben werden kann.“14 Der Philosoph, der nach den Merkmalen der Lebenswelt forscht, verlässt sie im selben Moment, in dem er mit diesem Forschen beginnt. Blumenberg greift dazu die Metapher des Strömens auf, mit der Husserl den grundsätzlich dynamischen Charakter der Lebenswelt betont hat und mit der Blumenberg nun 12 Ebd., S. 26. 13 Hans-Georg Gadamer: Die Wissenschaft von der Lebenswelt, in: ders.: Kleine Schriften III. Idee und Sprache, Tübingen 1972, S. 190–201, hier S. 195. 14 Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 23.
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das Dilemma ihrer philosophischen Erforschbarkeit ins Bild setzt: „Das Leben strömt, während der Philosoph am Schreibtisch sitzt, vorbei; aber schwimmen will er im strömenden Leben […]. Niemand wird ihm das glauben.“15 Eine Theorie der Lebenswelt hat mit der Schwierigkeit zu tun, dass sie als Theorie genau das aussetzen lässt, was sie in seinem dynamischen Dasein betrachten will. Selbstkritisch bezeichnet Blumenberg eine solche Theorie als „konstruktive Beschreibung des Uneinsehbaren“,16 für die er allerdings doch eine mehr als willkürliche, kontrollierbare Möglichkeit sieht: Wenn sich die Lebenswelt der direkten Einsicht des Theoretikers entzieht, soll sie indirekt sichtbar werden, und zwar durch die „Akte ihrer Verteidigung, ihrer Selbstreparatur, ihres Sich-Durchhaltens“.17 Als einen solchen Akt sieht Blumenberg zum Beispiel die akademische Schulbildung. Durch sie nehme die Theorie- und Wissenschaftswelt den Charakter einer Lebenswelt an, indem die schulmäßig gebräuchlichen Begriffe aus dem Prozess des Befragens und Wissenwollens herausgenommen und wie Alltagsgegebenheiten ganz natürlich, unbefragt hingenommen werden; als das, was − um Husserls schöne Formulierung für die Lebenswelt zu gebrauchen − „immer schon da“18 ist. In Blumenbergs Worten: „Nichts ist aufschlussreicher, als diese scholastischen Enklaven im akademischen Betrieb ihrer Funktion nach, als Stillstellungen des theoretischen Prozesses in seinem universalen Umwälzungscharakter, mit der alltäglichen Lebenswelt zu vergleichen.“19 Auf diese Weise erschließen sich dem philosophischen Theoretiker die Merkmale der Lebenswelt. Unter der „konstruktiven Beschreibung des Uneinsehbaren“ kann man indes nicht nur die indirekte Methode der Lebenswelt-Theorie verstehen, sondern auch ein literarisches Verfahren, die Lebenswelt sprachlich zu fingieren. Das Problem der „Uneinsichtigkeit“ wird von der Literatur auf ihre Weise bewältigt, indem sie das, was sich der Beobachtung entzieht, erfindet und durch fiktionale Darstellung gegenwärtig werden lässt. Das elaborierteste Verfahren dafür ist die Gedankenstrom-Technik. Sie hängt nicht nur oberflächlich mit Husserls Metapher des Strömens zusammen. Beide sind durch den Philosophen und Psychologen William James verbunden, der den Begriff ‚stream of consciousness‘ (im Blick auf die literarische Technik seines Bruders, des Romanciers Henry James) prägte und dessen Arbeiten auch Husserls Phänomenologie beeinflussten. Ohne dabei an die Literatur zu denken, formuliert Husserl sein Interesse an der Lebenswelt genau so, dass es gleichermaßen von den Verwendern der literarischen stream-of-consciousness-Technik geäußert werden könnte: „Nämlich nichts anderes soll uns interessieren als eben jener subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi, welcher, ständig verlaufend, unaufhörlich im Dahinströmen sich synthetisch verbindend, das einheitliche Bewusstsein des schlichten ‚Seins‘ der Welt 15 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 38. 16 Ebd., S. 25. 17 Ebd., S. 27. 18 Husserl: Krisis, S. 145. 19 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 56.
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zustande bringt.“20 Von den Schwierigkeiten des Philosophen, sich in dieses „Dahinströmen“ hineinzudenken, handelt Blumenberg. Die Literatur hat mit der Gedankenstromtechnik ein Verfahren entwickelt, das es fiktional vorstellbar und damit in einer Art Darstellungsexperiment einsehbar macht. Anders als Husserl geht es der Literatur dabei nicht um das „schlichte ‚Sein‘ der Welt“ überhaupt, sondern um das jeweilige Sein einer individuellen Welt. In der deutschsprachigen Literatur sind Schnitzlers Erzählungen Leutnant Gustl und Fräulein Else dafür kanonisch geworden. Auch wenn man diese Texte konventionell ‚Erzählungen‘ nennt, wird in ihnen doch nicht erzählt. Vielmehr versuchen sie, das lebensweltliche „Dahinströmen“ darzustellen, die Welt also, mit Husserl gesagt, als „subjektiven Wandel der Gegebenheitsweisen“ einschließlich der „einwohnenden Geltungsmodi“ zu zeigen. Leutnant Gustl beginnt nicht mit dem objektivierenden Satz: ‚Leutnant Gustl saß als Zuhörer in einem Konzert.‘ Man taucht stattdessen lebensweltlich situativ in den Konzertbesuch aus der subjektiven Perspektive des Konzertbesuchers ein: Wie lang’ wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen … Schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer siehts’s denn? Wenn’s einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren … Erst viertel auf zehn? … Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt… Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen … Ja richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. − Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt’!21
Das lebensweltliche Dahinströmen ist hier vom Autor so eingerichtet, dass der Leser folgen und sich die Situation auch objektivierend vorstellen kann. Deshalb ermahnt sich Gustl gleich zu Anfang, „in einem so ernsten Konzert“ zu sein, damit der Leser auch gleich orientiert ist. Das Schlusskapitel von James Joyces Ulysses ist dafür berühmt geworden, dass es auf diese Leserführung verzichtet und einen Bewusstseinsstrom erfindet, dem kein Leser und auch keine Leserin folgen können. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass niemand diese etwa 60 Seiten in einem Zug verstehend lesen kann. Wer den gesamten Roman mehrfach durchgearbeitet und sich alle Zusammenhänge gemerkt hätte, der könnte es theoretisch schaffen. Aber das ist nur eine theoretische Möglichkeit. Der Text des Schlusskapitels entzieht sich schon durch seine ungrammatische, die Syntax auflösende Form der Lesbarkeit. Ein inhaltlicher Nachvollzug gerät zum Kraftakt, wenn nicht zur Tortur. Die Darstellungsexperimente des Ulysses-Romans erreichen hier den Extremwert einer unlesbaren Literatur. Damit hat Joyce keine Schule gemacht. Und auch sein 20 Husserl: Krisis, S. 149. 21 Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, in: ders.: Ausgewählte Werke in acht Bänden, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Bd. 1: Leutnant Gustl. Erzählungen 1892–1907, mit einem Nachwort von Michael Scheffel, Frankfurt a. M. 1999, S. 335–368, hier S. 335.
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Roman hat vielmehr durch die gemäßigtere Verwendung der Bewusstseinsstromtechnik gewirkt, die man bei ihm in den vorausgehenden Kapiteln und eben auch bei Schnitzler und dann immer wieder findet. Aus dem Kompromiss, dass der subjektive Strom den Leser verstehend mitnimmt, resultiert der Erfolg dieser Technik. Sie ist ein Experiment, fiktional vorstellbar zu machen, was faktisch uneinsehbar ist. Wieweit das gelingt, ist objektiv nicht überprüfbar. Doch erscheint die literarische Bewusstseinsstromtechnik als ein avancierter Versuch, den Begriff ‚Lebenswelt‘ überhaupt mit Anschauung zu füllen und ihn damit vor dem Schicksal eines leeren Begriffes zu bewahren. Neben dem philosophisch prinzipiellen gibt es ein soziales Problem der Uneinsehbarkeit. Es betrifft die Milieudifferenzen, die man auch als Nebeneinander verschiedener Lebenswelten bezeichnen kann. Am selben Ort zur selben Zeit existiert, menschlich gesehen, nicht eine Welt, sondern die Mannigfaltigkeit von Lebenswelten. Davon war schon die Rede; auch davon, dass die Literatur als Kunst der Perspektive diese Mannigfaltigkeit evident zu machen vermag. Man kann dies auch als den Versuch beschreiben, die Uneinsehbarkeit einer räumlich und zeitlich nahen, doch perspektivisch fremden Lebenswelt durch fiktionale Phantasie zu kompensieren. Schnitzlers Leutnant Gustl versucht in diesem Sinne, seinen Zeitgenossen die Lebenswelt eines k.u.k.-Offiziers vorzustellen. Als Reserveoffizier stand Schnitzler ihr näher als viele seiner Zeitgenossen. Die satirische Intention, mit der er diese Lebenswelt als bornierten Militarismus darstellt, zeigt, wie die Literatur dabei nicht einfach Einsichten sucht, sondern wertet. In Schnitzlers Fall so, dass ihm wegen Verletzung der Standesehre der Reserveoffizierstitel aberkannt wurde. Dass die Uneinsehbarkeit nicht real, sondern nur fiktional zu überwinden ist, schließt die Wertungen dessen ein, der fingiert. Dennoch ist das Bemühen um Einsicht dadurch nicht hinfällig. Auch wenn literarisch entworfene Lebenswelten immer von der Subjektivität des Autors abhängen, interessieren sie doch nicht nur als Äußerungen dieses einen Subjekts, sondern zugleich als Einsichtsbemühungen in fremde Perspektiven. Wenn es in Leutnant Gustls Lebenswelt zum Thema Heiraten heißt: „Hat schon was für sich, so immer gleich ein hübsches Weiberl zu Haus vorrätig zu haben … “22, dann erkennt man darin Schnitzlers satirischen Stil; zugleich aber auch den Versuch sich auszumalen, als was und wie in der Welt dieses Mannes Frauen vorkommen. Die Einstellung, sie im Wesentlichen als erotische und sexuelle Dienstleisterinnen zu sehen, wird hier als lebensweltliche Situation vorgestellt. In ihr erscheint die Reflexion über die Ehe als Träumen vom ständigen Vorrat einer Frau, was dann sogleich ein aktuelles Bedürfnis weckt: „Zu dumm“, denkt Gustl weiter, „daß die Steffi grad’ heut’ keine Zeit hat.“23 So ist auch der militaristische Ehrenkodex, den Schnitzler mit seiner Gustl-Figur anklagt, in der Erzählung mehr als nur ein Gegenstand der Anklage. Er soll zugleich in seiner subjektiven Erfahrungs- und Erlebnisqualität erschlossen werden. Der Text will miterlebbar machen, wie es ist, wenn man unter einem solchen Ehrenkodex steht und 22 Ebd., S. 340. 23 Ebd.
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von ihm herausgefordert wird. In den situativen Zuspitzungen, besonders in der pointiert banalen Schlusswendung, die das unmöglich gewordene Leben Gustls plötzlich wieder möglich macht, zeigt sich der Stil des Autors. Er ist satirisch und damit wertend. Doch zeugt er zugleich von dem sachlichen Interesse, die Lebenseinstellung eines Menschen als subjektive, psychische Dynamik überhaupt vorstellbar zu machen. Was jeder Mensch erfahren, aber nicht selbst beobachten kann, wird so anschaulich. Damit arbeitet die Literatur am Uneinsehbarkeitsproblem der Lebenswelt.
3. Selbstverständlichkeit − Kafkas Urteil und Samjatins Wir Der dritte Begriff, Selbstverständlichkeit, steht bei Blumenberg wie schon bei Husserl im Zentrum. Er bezeichnet das hauptsächliche Merkmal der Lebenswelt. Sie ist, so formuliert Husserl, das „Selbstverständliche“, „das alles Denken, das alle Lebenstätigkeit in allen ihren Zwecken und Leistungen voraussetzt“.24 Gefragt ist damit nach einer Basisdimension der menschlichen Lebenseinstellung, in der nichts prinzipiell in Frage gestellt, nichts distanziert und objektiviert, sondern alles eben hingenommen wird, wie es kommt. Die Lebenswelt, definiert Husserl, „ist ein Reich ursprünglicher Evidenzen“;25 sie zu erforschen, bedeutet für ihn folglich das „konsequente Eindringen in die Sinn- und Geltungsimplikationen jener Selbstverständlichkeit“,26 oder, zugespitzt formuliert, das Verstehen des Selbstverständlichen. In engster Anlehnung an Husserl spricht Blumenberg vom „Universum der Selbstverständlichkeit“.27 In seiner eigenen Perspektive, dass die Lebenswelt nur indirekt an ihren Selbsterhaltungskräften erkennbar sei, bestimmt er sie genauer als den „Grenzbegriff der in jeder Welt bestehenden Tendenz zur Selbstverständlichkeit“.28 Schon Husserl sieht dieses dynamische Moment. Er bezeichnet es mit der Metapher des „Einströmens“. Leistungen der Wissenschaft „strömen“ in die Lebenswelt „ein“, indem das, was einst Ergebnis objektivierender Forschung war, zur unbefragten Selbstverständlichkeit wird.29 Man kann sich das am einfachsten an technischen Entwicklungen veranschaulichen: Autos, Mikrowellenherde, Flugzeuge und die meisten anderen Errungenschaften der Ingenieurswissenschaften sind heute zu lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten geworden. Sie sind in der modernen Lebenswelt − um noch einmal diese Formulierung Husserls zu gebrauchen − „immer schon da“, genauso wie Bäume, Vögel oder das Wetter. Husserl verwendet in diesem Zusammenhang auch die Metapher des 24 Husserl: Krisis, S. 115. 25 Ebd., S. 130. 26 Ebd., S. 114. 27 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 80. 28 Ebd., S. 65. 29 Vgl. Husserl: Krisis, S. 115 und 141 Anm. 1.
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„Sedimentierens“30 wissenschaftlicher und theoretischer Leistungen in der Lebenswelt. Blumenberg erhebt dieses prozessuale Moment zur Hauptsache, indem er die Lebenswelt „nicht als eine bestehende und gar für sich bestehende Welt“ versteht, sondern, wie gesagt, „als den Grenzbegriff der in jeder Welt bestehenden Tendenz zur Selbstverständlichkeit“.31 Lebenswelt bezeichnet, so gedeutet, keinen Zustand, der irgendwo der Fall wäre. Die Lebenswelt, so muss man schlussfolgern, gibt es nicht. Was es gibt, ist die Tendenz, deren nie ganz zu erreichender Grenzwert Lebenswelt heißt. Diese Tendenz besteht darin, die Welt selbstverständlich werden zu lassen oder, anders gesagt, keiner prinzipiellen Fragen bedürftig zu sein, keinerlei theoretische Neugier oder objektives Wissenwollen zu verspüren. Als Anthropologe nimmt Blumenberg an, dass die Gattungsentwicklung des Menschen einen unumkehrbaren Ausgang aus der Lebenswelt gebracht habe, die damit für Menschen nicht mehr als solche, sondern nur noch in ihren Beharrungs- und Rückzugstendenzen existiere. Dahinter steht die Mängelwesen-Theorie, die den Menschen als dasjenige Lebewesen definiert, das die natürliche als körperliche und instinktgesteuerte Passfähigkeit in seine Umwelt verloren habe und durch den Intellekt kompensiere. Auf dieser Mängelwesen-Theorie beruht Blumenbergs Rede von der Lebenswelt als „Grenzbegriff“: „Denn es geht nicht um die Lebenswelt selbst, sondern um die Möglichkeit eines Lebens, das die genauen Passungen zu einer ihm adäquaten Welt nicht mehr hat und mit dieser […] Desolation fertig geworden ist und ständig fertig zu werden hat.“32 Der Mensch, so sagt diese (auf Arnold Gehlen und weiter auf Herder zurückgehende) Anthropologie, ist dasjenige Lebewesen, das keine Lebenswelt mehr hat, sondern ein für alle Mal in die Theorie- und Wissenschaftswelt eingetreten ist und das Lebensweltliche nur noch als eine beharrliche Tendenz verspürt, die gegen alles explizite Verstehenwollen ins Reich des Selbstverständlichen und Fraglosen zurückdrängt. In dieser Definition der Lebenswelt als „Grenzbegriff“ liegt wohl der entscheidende Unterschied zwischen der philosophischen und der sich davon ableitenden literaturwissenschaftlichen Begriffsverwendung. Dieser Unterschied ist kein bloßes Missverständnis, das man mit der Erinnerung der Literaturwissenschaft an die Philosophie korrigieren müsste. Die Aspekte, die der philosophische Begriff zur Geltung bringt, können über diesen Unterschied hinweg für die Literatur genutzt werden: die Aspekte der Mannigfaltigkeit und der Uneinsehbarkeit haben, hoffe ich, gezeigt, auf welche Weise. Auch der dritte Aspekt lässt sich fruchtbar auf die Literatur beziehen. Denn nach der „Tendenz zur Selbstverständlichkeit“ zu fragen, eröffnet eine eigene Heuristik für die Literatur; insbesondere dann, wenn man zwei Arten unterscheidet, wie literarische Werke mit dieser Tendenz umgehen: eine irritierende und eine antizipierende. Für die erste, die irritierende Art gibt Kafkas Erzählung Das Urteil ein eindrucksvolles Beispiel. Denn sie zeigt die Lebenswelt eines jungen Mannes, die plötzlich ihre 30 Vgl. ebd., S. 52, 118, 213. 31 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 65. 32 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 63.
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Selbstverständlichkeiten verliert. Die beiden Teile der Erzählung (getrennt sind sie durch den Schauplatzwechsel: vom Zimmer des Sohnes in das des Vaters) dienen nacheinander zunächst der Etablierung und dann der Verunsicherung der grundlegenden Annahmen und Einstellungen, die den Alltag ausmachen. Im ersten Teil entsteht (aus der Perspektive der Figur selbst) die Welt eines jungen Geschäftsmannes, der nach dem Tod seiner Mutter die Geschäftsführung von seinem Vater übernommen hat. Der Sohn fühlt sich in dieser Rolle erfolgreicher als sein Vater. Die Geschäfte blühen auf, seitdem er sie führt. Den Grund dafür sieht er auch in der Altersschwäche und Ermüdung seines Vaters, die durch den Tod der Mutter endgültig deutlich geworden sind, und er leitet daraus seine besondere Verantwortung und Fürsorgepflicht für seinen Vater ab, den er nun behutsam ganz aus dem Geschäft hinaus zum Schutze seiner Gesundheit in den Ruhestand begleiten will. Seine geschäftliche und persönliche Überlegenheit spürt er zugleich gegenüber einem vor vielen Jahren ins Ausland ausgewanderten Freund, dessen Geschäfte er für deutlich, ja geradezu peinlich erfolgloser hält als seine eigenen und den er − ähnlich rücksichtsvoll wie gegenüber seinem Vater − in dem Moment, da er ihm einen Brief schreibt, durch taktvolle Zurückhaltung seiner eigenen Erfolge zu schonen gedenkt. Diese Zurückhaltung bezieht sich vor allem auf die Frage, wie er ihm seine bevorstehende Hochzeit mit einem Mädchen aus wohlhabendem Hause mitteilen solle. Kurzum: Die Erzählung führt in eine insgesamt stimmige Lebenssituation eines erfolgreichen, geschäftlich wie privat glücklichen und rücksichtsvollen jungen Mannes ein. Der zweite Teil der Erzählung, der Vater und Sohn gegenüberstellt, widerruft alle Annahmen und Einstellungen, die der erste Teil aus der Perspektive des Sohnes mitgeteilt hat. Und zwar nicht so, dass der Sohn nun als ein ganz anderer entlarvt würde. Und auch nicht so, dass der Vater einfach bestritte, was sein Sohn von sich selbst hält, und somit Meinung gegen Meinung, Auffassung gegen Auffassung stünden. Zwar gibt es einiges, was sich so darstellt: Der Vater hält seinen Sohn für einen Versager, der nur von alten, väterlichen Erfolgen profitiere und ihn dennoch undankbar aus dem Geschäft drängen wolle, er hält den ausgewanderten Freund für den viel erfolgreicheren Mustersohn, den er sich immer gewünscht habe, und er hält die Braut seines Sohnes für eine Dirne. Das alles sind perspektivische Kontraste, die in der Erzählung weder vermittelt noch aufgelöst werden. Es gibt jedoch weitere Widersprüche des zweiten zum ersten Teil, die keine Meinungs- und Bewertungsdifferenzen mehr sind: Der Vater verwandelt sich vom kindlich-hilflosen Greis, der ins Bett getragen wird, zu einer sich kraftvoll aufrichtenden und triumphierenden Rächergestalt, und die Erzählung bricht aus der bisher gewahrten Wahrscheinlichkeit einer bürgerlichen Wirklichkeit aus, indem der Vater das Todesurteil über seinen Sohn spricht und dieser sich daraufhin im Fluss ertränkt. Um zu beschreiben, was in Kafkas Erzählung geschieht, hilft der Begriff der lebensweltlichen Selbstverständlichkeit. Mit ihm kann man die erzählerische Entwicklung vom ersten zum zweiten Teil so verstehen: Die Erzählung zeigt zunächst eine nachvollziehbare bürgerliche Lebenswelt, um sie dann Schritt für Schritt in ihren Selbstverständlichkeiten zu irritieren. Der erste Teil etabliert die Welt eines jungen Mannes mit ihren „Tendenzen
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zur Selbstverständlichkeit“, d.h. hier mit der Tendenz, das Selbstbild und das Bild des Vaters und des Freundes nicht zu befragen, sondern als Basis der Lebensführung gelten zu lassen. Der zweite Teil wirkt diesen Tendenzen entgegen und raubt der Perspektivfigur damit die Basis ihrer Lebensführung. Zwischen den beiden Teilen steht ein Satz, der wie eine Weichenstellung aus den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten hinausführt: „Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war.“33 Das Staunen ist das Schlüsselereignis, mit dem sich die Lebenswelt auflöst. Seit Platon und Aristoteles gilt dieser Affekt als Beginn der Philosophie, als Anstoß zur theoretischen Einstellung gegenüber der Welt. Was dabei an lebensweltlicher Selbstverständlichkeit verloren geht, wird an philosophischem Wissen gewonnen. Hier bei Kafka geht es nicht um den Beginn der Philosophie. Es bleibt beim bloßen Verlust, der durch kein neues, anderes Wissen kompensiert würde. Georg kommt von diesem Moment an aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn alle seine lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten erweisen sich von nun an als falsch. Und die Welt, insbesondere sein Vater sind nicht mehr das, als was sie ihm vorher vorkamen. Es ist kein Meinungsstreit zwischen Sohn und Vater, der in dieser Erzählung ausgefochten wird. Es ist vielmehr Georgs Lebensweltverlust, der hier als Verunsicherung und Erschütterung bis zum finalen Selbstmord vorgeführt wird. Die eigene Welt, die man verstanden glaubte, wird fremd und monströs. Und dies ausgerechnet in dem Moment, wo sich die eigenen Lebenseinstellungen im Kontakt mit dem nächsten Mitmenschen eigentlich bestätigen sollten. Indem die Figur, die das erleidet, die Perspektivfigur der Erzählung ist, wird deren Erlebnis als fiktive Erfahrung zum Leseerlebnis. Es ist Kafkas Darstellungsvermögen, solch einen Lebensweltverlust im engsten lebensweltlichen Kontext vorstellbar zu machen. Kafkas Urteil ist, wie fast alle Erzählliteratur, ein Angebot an fiktiven Erfahrungen. Die Beobachtung, wie sie dabei mit der lebensweltlichen Tendenz zur Selbstverständlichkeit umgeht, ist ein aufschlussreicher Indikator. Mit ihm lässt sich explizieren, wie die literarisch erzeugte Erfahrung beschaffen ist, wie sie sich von realen Erfahrungen unterscheidet oder wie sie fiktiv erprobt, was real unmöglich, unerträglich oder peinvoll wäre. Die zweite, antizipierende Art besteht darin, dass die Literatur als lebensweltliche Selbstverständlichkeit vorstellt, was in der Wirklichkeit als Entwicklungsmöglichkeit angelegt ist. Der fiktionale Text malt aus, wie es sein könnte, wenn sich bestimmte aktuelle Tendenzen oder Absichten durchsetzten. Es ist die Imagination einer Lebenswelt, in der das selbstverständlich geworden ist, was in der Gegenwart nur erst erwartet, angestrebt, erhofft oder auch gefürchtet und bekämpft wird. Partiell kann so etwas in vielen Formen der Literatur auftreten; in der utopischen und negativ utopischen Literatur ist es dominant. In ihnen kommt der antizipierende Umgang mit der Tendenz zur Selbstverständlichkeit am intensivsten zur Geltung. Als Beispiel greife ich hier Jewgenij Samjatins 33 Franz Kafka: Das Urteil, in: ders.: Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, New York 1994, S. 41–61, hier S. 50 (= Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe).
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Roman Wir auf, der − 1920 entstanden − den Endzustand einer kollektivistisch rationalisierten Massengesellschaft vorführt, in der es keine Privatsphäre mehr gibt. Die Wirkung der Darstellung beruht darauf, dass dieser Zustand nicht ausdrücklich genannt, beschrieben oder diskutiert wird, sondern als selbstverständlich gewordene Lebensbedingung aufscheint. Unter dieser, von Samjatin vorgestellten Bedingung erwartet der Protagonist, ein Ingenieur, die mit ihm verbundene Frau O in seiner Wohnung auf folgende Weise: In einer Stunde würde O zu mir kommen. Ich war in einem Zustand angenehmer und zugleich nützlicher Erregung. Zu Hause ging ich sofort zur Hausverwaltung, zeigte mein rosa Billett vor und erhielt die Genehmigung, die Vorhänge herabzulassen. Dieses Recht haben wir nur an Geschlechtstagen. Sonst leben wir in unseren durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig vom Licht umflutet. Wir haben nichts voreinander zu verbergen […]. Um 22 Uhr ließ ich die Vorhänge herunter, und da trat O auch schon ins Zimmer. Sie war ein wenig außer Atem und hielt mir ihr rosiges Mündchen und ihr rosa Billett hin. Ich riß den Talon ab − und dann …34
Dass das Billett rosa ist, kann man für Kitsch, hier richtiger: für ironisierten Kitsch halten. Das Billett als solches und vor allem die Art, wie es hier vorkommt, sind dagegen subtiler. Es wird nicht extra eingeführt, erklärt oder überhaupt zum Thema gemacht. Es taucht vielmehr − zusammen mit dem Wort „Geschlechtstage“ − beiläufig, wie selbstverständlich auf und beide werden gerade in ihrer unthematischen, selbstverständlichen Präsenz für alle die Leser auffällig und provokant, in deren Alltag solche Billetts und das Wort „Geschlechtstage“ nicht üblich sind. In dieser für die Leser anstößigen Beiläufigkeit dienen beide umso eindringlicher zur Vergegenwärtigung einer Gesellschaft, in der auch die intimsten Begegnungen behördlich organisiert sind. Die zugehörigen durchsichtigen Wohnungen sind, 1920 noch mehr als heute, ein Motiv technischer Zukunftsphantasie. Auch sie aber werden hier nicht als architektonische Errungenschaften ausgestellt, sondern bilden wie selbstverständlich den geschilderten Lebensraum. Die Formulierungen, mit denen sie präsentiert werden, geben ein Paradebeispiel ideologischer Euphemismen: „wie aus leuchtender Luft“, „ewig vom Licht durchflutet“, „nichts voreinander zu verbergen“. Samjatins durchsichtige Wohnungen erscheinen damit als die bauliche Konkretisierung kollektivistischer Ideologie. Sie stellen peinlich direkt als lebensweltliche Realität vor, was in sozialistischen oder anders kollektivistischen Zukunftsvisionen schön klingt. An dieser Stelle geht der Text über die Tendenz zur Selbstverständlichkeit hinaus und lässt seinen Protagonisten reflektieren. Die im Zitat oben zunächst ausgelassene Stelle lautet: „Wir haben nichts voreinander zu verbergen, und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer. Wäre es anders, was könnte dann alles geschehen! Gerade die sonderbaren, undurchsichtigen Behausungen unserer Vorfahren können es bewirkt haben, daß man auf diese erbärmliche Käfigpsychologie verfiel: ‚Mein Haus ist 34 Jewgenij Samjatin: Wir. Roman, mit einem Nachwort von Jürgen Rühle, aus dem Russischen von Gisela Drohla, Köln 2008, S. 22.
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meine Burg!‘“35 Solche Reflexionen erscheinen stilistisch bemüht und wirken angestrengt didaktisch. Die anstößigen Selbstverständlichkeiten des Textes sind davon frei und erreichen ihr didaktisches Ziel dadurch umso überzeugender. Die literarische Fiktion vermag, Entwicklungsmöglichkeiten kenntlich zu machen und zu kommentieren, indem sie diese als eingetretene Selbstverständlichkeiten vorwegnimmt. Sie vollzieht damit eine Art Wahrnehmungsexperiment, wie es aussähe und sich ‚anfühlte‘, wenn Wirklichkeit würde, was sich gegenwärtig nur erst als Möglichkeit abzeichnet. Es ist ein Gedanken-, genauer: ein Phantasieexperiment, sich in die Lage dessen zu versetzen, für den (mit Husserl gesagt) „immer schon da“ oder lebensweltlich „sedimentiert“ ist, was man selbst als noch unentschiedene Möglichkeit vor sich hat. Die Literatur schafft damit ein Angebot, aktuelle Tendenzen auf ihre lebensweltlichen Konsequenzen hin auszudenken. Sie funktioniert wie ein in die Zukunft ausgestreckter Fühler. Das kann, wie viele apokalyptische Visionen belegen, zu Alarmismus führen, aber auch, wie das Beispiel Samjatin zeigt, zu wertvollen Warnungen. Der Roman Wir ist ein solcher, angesichts sozialistischer Gesellschaftsentwürfe in die Zukunft ausgestreckter Fühler. Dass er heute am häufigsten indirekt, als Inspiration für die bekannter gewordenen Utopien von Aldous Huxley und George Orwell gewürdigt wird, liegt an der gefürchteten direkten Wirksamkeit dieses Romans. Er konnte in der Sowjetunion jahrzehntelang nicht erscheinen. Sein Autor wurde als Renegat und Konterrevolutionär verunglimpft.
Fazit: Kein Lebensweltmissverständnis Hans Blumenberg spricht, was die große Resonanz von Husserls Begriff betrifft, von einem „Lebensweltmissverständnis“ durch „neoromantische Konnotationen“. Über die Absicht des Begriffsbildners hinaus sei hier ein „Programmwort des Überdrusses“ entstanden, in dem sich ein allgemeines, diffuses Unbehagen an der abstrakten Theoriewelt der Wissenschaften gesammelt habe.36 An anderer Stelle malt Blumenberg diesen konnotativen Überschuss, der sich vor allem dem ersten Bestandteil des Kompositums verdankt, noch weiter aus: „Der Begriff ‚Leben‘ kann zum Inbegriff antipodischer Energie werden: gegen Systeme als erstarrte intellektuelle Gehäuse, gegen Theorien als akademische Reservate externer Unzugänglichkeit, gegen die Exklusivität von Terminologien, gegen die Erfüllungsverweigerung des Anspruchs auf alltägliche Verwendbarkeit.“37 Das ist schön gesagt und trifft eines der Anliegen, mit dem auch die Literaturwissenschaft den LebensweltBegriff aufgreift. Dennoch, meine ich, geht es hier nicht nur um Neoromantik, Überdruss und antipodische Energie. Blumenbergs eigene Überlegungen helfen dabei, produktiver voran zu kommen. Die Aspekte der Mannigfaltigkeit, der Uneinsehbarkeit und der Selbst35 Ebd. 36 Vgl. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 55. 37 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 19f.
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verständlichkeit sind geeignet, die philosophische Lebenswelt-Diskussion für die Literaturanalyse fruchtbar zu machen. Mit ihnen lässt sich erschließen, wie die literarische Fiktion darstellbar zu machen versucht, was in Wirklichkeit im je Subjektiven verborgen bleibt: die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie sie Menschen vorkommt. Das ist zugleich eine Antwort auf die Frage, wozu Literatur gut ist. Sie ist ein Forschungsinstrument für die Mannigfaltigkeit, gegen die Uneinsichtigkeit und zum experimentellen Umgang mit der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt. Insofern teilt die Literatur die Kritik am wissenschaftlichen Abstraktions- und Objektivierungsideal, die in Husserls Begriffsprägung liegt. In dieser Solidarität liegen beide auch epochal beieinander, weil ja die hier angeführten literarischen Verfahren − insbesondere die unaufgelöste Multiperspektivität und die Gedankenstromtechnik − Charakteristika erst der modernen Literatur sind. Die Literatur und die Philosophie reflektieren damit beide ein Ungenügen an der modernen Wissenschaftswelt und sie arbeiten beide auf ihre Weise daran, das zu erschließen, was in der menschlichen, aber nicht der wissenschaftlich objektivierten Welt vorkommt. Es ist deshalb keine Metapher, wenn ich die Literatur hier als ein Forschungsinstrument bezeichne; als ein Forschungsinstrument allerdings, das nicht misst. Es arbeitet vielmehr performativ, wie eine Simulation. Dass man auf diese Weise forschen kann, ist im Computerzeitalter längst vertraut. Die Literatur tut es freilich auf andere Weise als die Rechenmaschinen.
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mâze und Lebenswelt bei Walther von der Vogelweide Der Gedanke, dass sich unser Leben dann besonders befriedigend gestalten könnte, wenn in ihm jede Form des Extremen vermieden wird, ist bekanntlich ein Erbe der Antike, das bereits im Mittelalter vielfältig aufgegriffen wurde.1 Der Tugend der Mäßigung (temperantia) werden freilich schon in der Antike, dann aber vor allem in der frühen Kirche drei andere (Kardinal-)Tugenden (Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit) an die Seite gestellt, die die temperantia so auch immer schon relativieren. Das Zahlen und Begriffsgruppen liebende Mittelalter hat dann diesen vier weltlichen Tugenden noch drei christliche (Glaube, Hoffnung, Liebe) zugeordnet, die ihrerseits den sieben Lastern gegenüber stehen, und diese Gruppen als Hauptgruppen wiederum mit anderen Werten kombiniert. Dies ließe sich an unzähligen Beispielen demonstrieren; ich greife nur eines heraus: In Johannes Rothes allegorisch ausgerichteter Geistlicher Brustspange heißt es beispielsweise über den Magneten und seine vier Varietäten, dass diese allegorisch für die vier Kardinaltugenden (gerechtikeyt, wisheyt, stercke, meßekeyt) stehen, an denen nun wiederum wie an einer Türangel weitere Tugenden hängen. Der Eisenmagnet etwa, der die Stärke bedeute, hat fünf Töchter (Mut, Zuversicht, Sicherheit, Stetigkeit und Strenge); der Goldmagnet hat schon sechs Töchter, der Silbermagnet sieben und der Menschenmagnet sogar acht. Jedem Magneten wird noch ein Zitat aus der Tradition beigegeben: Vom Maßhalten sage beispielsweise Augustinus, dass durch dieses Leib und Seele geschützt werde.2 Solchen Versuchen der Relativierung der Mäßigkeit durch Eingliederung in systemhafte Ordnungen steht immer wieder der Versuch gegenüber, das Maßhalten ins Zentrum eines tugendhaften Lebens zu stellen. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Benediktinerregel zu: Sie ordnet „alle Zeit und alles Tun mit einem eindrucksvollen Sinn für ein gesundes, humanes Maß. Zwischen den Erfordernissen der Gemeinschaft und der Situation wie den Bedürfnissen des einzelnen wird durch die discretio (die maßvolle Unterscheidung) immer wieder eine Balance gefunden.“3 Es liegt auf der Hand, dass dieses ausgeglichene, 1 Helmut Rücker: ‚Mâze‘ und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220, Göppingen 1975 (= GAG 172); Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, bes. S. 128–136 (mâze. Die höfische Mitte). 2 Siehe dazu Jens Haustein: Edelsteine und allegorische Deutungsmuster in Johannes Rothes ‚Geistlicher Brustspange‘, in: Gedenkschrift für Christoph Gerhardt, hg. von Ralf Plate und Nils Bohnert (im Druck). 3 Corinna Dahlgrün: Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin, New York 2009, S. 33 f.
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‚vernünftige‘ und damit auch lehr- und lernbare Maßhalten mit den spätmittelalterlichen Forderungen nach radikaler Spiritualität nicht in Einklang zu bringen war.4 Für die höfische Literatur um 1200, in der mâze eine zentrale Rolle im Tugendkanon einnimmt, wird freilich eine weitere Differenz bedeutsam: das Nebeneinander von ästhetisch-quantitativem Maßhalten einerseits wie ethisch-qualitativem anderseits. Die ästhetisch orientierte Begriffsverwendung findet ihr bevorzugtes Anwendungsgebiet in „Vollkommenheitsvorstellungen“5, im Harmoniegedanken der unterschiedlichen Künste, im nach Maß, Zahl und Gewicht geordneten ‚Bau‘ der Architektur, der Musik oder der Dichtung. Diese Vorstellung vom rechten Maß gerät freilich dann in eine gewisse Konkurrenz zum ethischen Maßbegriff, wenn sie auf menschliche Verhaltensweise Anwendung findet. Dann zielt sie nämlich auf das jeweils Richtige oder Angemessene und eben nicht auf die Mitte zwischen zwei Dingen. Auch diese ästhetisch-quantitative Begriffsverwendung ist neben der ethisch-qualitativ ausgerichteten bei Walther von der Vogelweide belegt, besonders deutlich in Wa 80,19: Unmâze, nim dich beider an: manlîchiu wîp, wîplîch man, pfaflîch ritter, ritterlîch pfaffen, mit den solt dû dînen willen schaffen, ich wil dir si gar ze stiure geben. ich wil dir junge altherren zeigen und alte jungherren geben für eigen, daz sî dir twerches helfen leben.6
Die Mitte zwischen den beiden Dingen, zwischen Mann und Frau, Pfaffe und Ritter, jung und alt ist das Herrschaftsgebiet der Unmâze. Die Mitte bezeichnet also gerade nicht das richtige Maß. Das richtige, gewissermaßen ästhetische Maß ist dann eingehalten, wenn 4 Vgl. M. Gerwing und W. Knoch: Mäßigkeit, in: Lexikon des Mittelalters, hg. von Norbert Angermann und Robert-Henri Bautier, Bd. 6, München 1993, Sp. 371 f. 5 Vgl. Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne, S. 128. 6 Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996, Strophe 54, X. Mehrere Strophen des Bogner-Tons sind übrigens von dieser eher auf den Wesenskern der Dinge als Ausdruck des richtigen Maßes geprägten Haltung beeinflusst. Ich zitiere folgende Übersetzung: Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd. / Nhd., hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, 3., verbesserte und erweiterte Aufl., hg. von Ricarda Bauschke-Hartung, Stuttgart 2009 (= RUB 819): „Maßlosigkeit, nimm Dich beider an: männliche Frauen, weibische Männer, pfäffische Ritter, verritterte Pfaffen, mit denen sollst Du Deinen Willen haben. Ich will sie dir voll und ganz als Hilfstruppen geben, und (darüber hinaus) alte Junker zueignen, ich will Dir junge Altväter zeigen, damit sie Dir helfen, verquer zu leben“ (S. 301).
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alles mit sich wesensmäßig harmonisch und übereinstimmend ist. Ein twerhez leben ist ein Leben auf der Mitte, eines zwischen den Dingen, die sorgsam zu unterscheiden sind, weil in ihm, dem twerhen leben, die Harmonievorstellung nicht gilt, die auf die Unterscheidung von links und rechts, oben und unten, gerade und rund zielt. Auch wenn Walther immer wieder darüber klagt, dass die jungen Leute nicht frohgestimmt sind, was zu ihnen passen würde, oder dass ein Papst zu jung ist oder aber dass sich eine alternde Minne unpassenderweise mit jungen Männern vergnügt, dass also die Differenz zwischen den unterschiedlichen Dingen verwischt wird, scheint mir doch die zweite Verwendungsweise des Maßhaltens, diejenige, die auf die Mitte zielt, bei ihm im Vordergrund zu stehen. Ich kann das nur an ein paar wenigen Beispielen zeigen. Bekanntlich hat Walther ein für seine Zeit ungewöhnlich entspanntes Verhältnis zum guot – zum weltlichen Besitz. So kann er sich, wären die Verhältnisse anders, sogar die Dreiheit von Besitz, Ansehen und Zuneigung Gottes in einem Schrein vorstellen (Wa 8,4) oder sich ganz begeistert-ungeniert über ein lêhen freuen (Wa 28,31). Im Kontext der Frage von Geben und Nehmen hört sich das folgendermaßen an: Junc man, in swelher aht dû bist, ich wil dich lêren einen list: dû lâ dir niht ze wê sîn nâch dem guote. lâ dirz ouch niht zunmære sîn. und volgest dû der lêre mîn, sô wis gewis, ez frumt dir an dem muote. Die rede wil ich dir baz bescheiden: lâst dû dirz ze sêre leiden, zergât ez, sô ist dîn fröide tôt. wilt aber dû daz guot ze sêre minnen, dû maht verliesen sêle und êre. dâ von volge mîner lêre. lege ûf die wâge ein rehtez lôt und wige ouch dar mit allen dînen sinnen, als ez diu mâze uns ie gebot.7
7 Walther: Leich, Lieder, Sangsprüche, Strophe 10, VII. „Junger Mann, in welchem Stand Du auch bist, ich will Dich ein kluges Verhalten lehren: Laß Dich nicht zu sehr nach Besitz verlangen, laß ihn Dir auch nicht zu gleichgültig sein, und folgst Du meiner Lehre, so sei gewiß, es nützt Dir für Deine Gemütsverfassung. Diese Worte will ich Dir näher erläutern: Läßt Du ihn Dir zu sehr verleidet sein – geht er verloren, dann ist Deine Freude dahin. Wirst Du aber den Besitz zu sehr lieben, kannst Du Seele und Ehre verlieren. Deshalb folge meiner Lehre, lege auf die Waage ein richtiges Gewicht und wäge auch dort ab mit Deinem ganzen Verstand, wie es das rechte Maß uns immer schon gebot“ (Übersetzung Walther: Werke, S. 251).
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In keinem anderen Sangspruch tritt Walther so deutlich als Lehrender auf. Die Bezugspunkte des richtigen Umgangs mit dem Besitz sind auch hier wie im Reichston êre und sêle. Ein Zuviel an Besitz, ein übertriebenes Streben nach Geld gefährdet sowohl das Seelenheil als auch das gesellschaftliche Ansehen. Vor der Idee von der Mitte als dem vernünftigen Ort ist freilich die andere Position die eigentlich überraschende: Auch das grenzenlose Weggeben des Besitzes – ein zentraler Gedanke der Armutsbewegung – ist ein Übel, weil es unsere Freude gefährdet. Hier also ist die Mitte, das Vermeiden von Extremen, das Richtige. Zum Ende des Spruchs findet Walther dafür das Bild von der Waage: Wenn sich beide Waagschalen durch einen gewichtmäßigen Ausgleich von Besitz einerseits und unserer gezügelten Begierde nach guot anderseits in der Mitte, in der Schwebe zwischen oben und unten, befinden, ist das Gebot der Maße erfüllt. Die Einsicht in richtiges Maßhalten, in rechte Mäßigung ist lehr- und lernbar, sie beruht auf lebensweltlicher Erfahrung und sie führt zu einem ausgeglichenen muot, der für unsere Lebensführung förderlich ist. Erstaunlich lebenspraktisch wird Walther in Wa 29,35: Er hât niht wol getrunken, der sich übertrinket. wie zimet [] einem biderben man, daz [] diu zunge hinket von wîne? ich wæne, er houbetsünde und schande zuo im winket. Im zæme baz, möhte er gebrûchen sîne füeze, daz er âne helfe bî den liuten möhte stân. swie sanfte man in trüege, er möhte lieber gân. sus trinke ein iegeslîcher man, daz er den durst gebüeze; Daz tuot er âne houbetsünde und âne spot. swelch man getrinket, daz er sich noch got erkennet, sô hât er gebrochen ime sîn hôch gebot.8
Auch wenn in dieser Strophe das Signalwort mâze fehlt, liegt es auf der Hand, dass es um den gemäßigten Gebrauch des Alkohols geht, zumal mâze in der unmittelbar vorhergehenden Strophe Wa 29,25, die das selbe Thema hat, mehrfach Verwendung findet. Die Versuche, Walther diesen Spruch wie auch 29,25 abzusprechen, werden nicht nur durch die Tatsache relativiert, dass beide Sprüche walthertypische Stilmittel aufweisen, sondern dass sie außer in B auch im überlieferungshistorisch weit abstehenden mitteldeutsch-
8 Walther: Leich, Lieder, Sangsprüche, Strophe 11, XV. „Der hat nicht wohl getrunken, der sich betrinkt. Wie ziemt es einem rechtschaffenen Mann, daß ihm die Zunge hinkt vom Wein! Ich fürchte, er winkt Todsünde und Schande zu sich her. Ihm stünde besser an, er könnte seine Füße gebrauchen, so daß er ohne Hilfe bei den Leuten stehen könnte. Wie sanft man ihn auch tragen möge – er sollte lieber gehen. Jedermann trinke so, daß er den Durst lösche, das tut er dann ohne Todsünde und ohne Gespött. Welcher Mann so trinkt, daß er weder sich noch Gott erkennt, der hat ihm gegenüber sein hohes Gebot gebrochen“ (Übersetzung Walther: Werke, S. 155).
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niederdeutschen Fragment Z aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts überliefert sind.9 Darüber hinaus gibt es meiner Auffassung nach Bezüge zu einem anderen Walther-Text, auf die ich gleich näher eingehe. An 29,35 ist zunächst die geradezu erfahrungsgesättigte Alltäglichkeit des Themas auffällig: Demjenigen, der zuviel trinkt, hinkt zunächst die Zunge; anschließend versagen ihm seine Beine, so dass er dann von seinen Freunden nach Hause getragen werden muss. Diese Erfahrungswelt wird nun aber mit stark religiöser Begrifflichkeit verbunden: Der Trinkende verfällt der houbetsünde, also der Kardinalsünde der gula. Dieses Stichwort des letzten Verses des ersten Stollens wird im metrisch identischen Vers des zweiten Stollens, der hier, in der von den Meistersingern später so genannten ‚Gespaltenen Weise‘, als Abgesang fungiert, wieder aufgegriffen: Der gemäßigt Trinkende vermeidet gerade die Hauptsünde, die der Maßlose zu sich winkt. Die letzten beiden Verse wandeln den Gedanken ins Allgemeine: Maßloses Trinken verhindert die Selbsterkenntnis wie die Gotterkenntnis. Maßlosigkeit führt nicht nur von Gott weg, sondern führt uns auch von uns selbst weg, entäußert uns unserer Möglichkeiten des Sprechens, Gehens und vor allem der Selbsteinsicht. Der zweite Spruch mit demselben Thema, 29,25, ist weniger bildhaft und weniger religiös konnotiert, aber im didaktischen Gestus ähnlich fordernd:
Ich trunke gerne, dâ man bî der mâze schenket unde der unmâze niemen iht gedenket, sît sî den man an lîb, an guot und an den êren krenket. Si schât ouch an der sêle, hœre ich jehen die wîsen . des möht ein ieglich man von sînem wirte wol enbern. lieze er sich volleclîche bî der mâze wern, sô möhte ime gelücke, heil und sælde und êre ûf rîsen. Diu mâze wart den liuten darumbe ûf geleit, daz man si ebene mæze , ist mir geseit. nû hab er dank, der si ebene mezze und der si ebene treit.10 9 Zu den auch anderwärts beobachtbaren Stilmitteln siehe Bauschke-Hartung (Walther: Werke, S. 398 [dort auch die Hinweise auf Athetesen]); zu Z zuletzt Wolfgang Beck in: Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘. Codex – Geschichte – Umfeld, hg. von Jens Haustein und Franz Körndle unter Mitwirkung von Wolfgang Beck und Christoph Fasbender, Berlin, New York 2010, S. 266 f. (mit Literatur zum Fragment). 10 Walther: Werke, Strophe 11, XIV. „Ich tränke gerne, wo man mit Maßen ausschenkt und niemand etwa an Unmäßigkeit denkt, da sie den Menschen an Leib, an Gut und an Ehre schwächt. Sie schadet auch der Seele, höre ich die Weisen sagen, auf dieses Verhalten seines Gastgebers könnte wohl jedermann verzichten. Ließe er sich dagegen völlig vom Maßhalten leiten, dann könnte ihm Glück, Heil und Segen und Ehre zuteil werden. Das Maßhalten wurde dem Menschen deshalb auferlegt, damit man es angemessen anwende, so wurde mir gesagt. Nun habe der Dank, der es angemessen anwendet und der es angemessen weiterhin pflegt“ (Übersetzung Walther: Werke, S. 153).
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Auch wenn mit Vers 4 ein kurzer Blick auf das Seelenheil geworfen wird, steht doch das Verhältnis von Trinkendem und Ausschenkendem im Vordergrund. Merkwürdig bleibt dabei, dass die Forderung nach Maßhalten eher an den Wirt als den Gast gerichtet zu sein scheint. Nimmt man unter dieser Perspektive die ersten drei und die letzten drei Verse zusammen, was häufig bei Strophen der ‚Gespaltenen Weise‘ angemessen ist, könnte mit dem er des letzten Verses der Wirt gemeint sein, der den Trunk ebene zumisst, und mit der si ebene treit der Gast, der ihn unter dem innerweltliches Glück bewahrenden Gebot des Maßes entgegen nimmt und so Mäßigung zeigt. Maßhalten wäre dann, und das gäbe dieser Strophe durchaus einen neuen Gesichtspunkt, ein Verhalten, das sich im sozialen Miteinander der Gesellschaft dann verwirklichen lässt, wenn der eine ebene zuteilt und der andere bereitwillig ebene entgegen nimmt und als Eigenschaft „pflegt“.11 Mit dem letzten Text (Wa 46,32) geht ein Gattungswechsel, hin zum Minnelied, einher: I Aller werdekeit ein füegerinne, daz sît ir zewâre, frowe Mâze. ein sælic man, der iuwer lêre hât! der darf sich iuwer beschamen inne beide ze hove noch ouch an der strâze. dur daz sô suoche ich iemer iuweren rât, daz ir mich ebene werben lêret. wirbe ich nidere, wirbe ich hôh, ich bin versêret. ich was vil nâch ze nidere tôt, nu bin ich aber ze hôhe siech. unmâze enlâzet mich ân nôt. II
Nideriu minne heizet diu sô swachet daz der lîp nâch kranker liebe ringet: diu liebe tuot unlobelîche wê. hôhe minne heizet diu daz machet daz der muot nâch werder liebe ûf swinget: diu winket nu, daz ich ir mite gê.
11 Bekanntlich hat Carl von Kraus (Walther von der Vogelweide. Untersuchungen, Berlin, Leipzig 1935, S. 96) nicht nur auf in seinen Augen stilistische Ungeschicklichkeiten beider Sprüche hingewiesen, sondern nachdrücklich auch darauf, dass nicht nur der vorletzte Vers im Grunde unklar („der vorletzte Vers ist nur bei bestem Willen, und auch dann nicht ganz verständlich“), sondern auch der letzte („Ende schlecht, alles schlecht!“) ungeschickt ist. Von daher stellt mein Vorschlag nichts weiter als einen weiteren Versuch dar, den Sachverhalt aufzuhellen. Problematisch bleibt dabei das Verständnis von tragen im letzten Vers, das freilich in seinem konkreten Vorstellungsgehalt mit dem ûf geleit des drittletzten Verses korrespondieren könnte.
mâze und Lebenswelt bei Walther von der Vogelweide
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nun weiz ich, wes diu mâze beitet. kumt herzliebe, sô bin ich verleitet. doch hât mîn lîp ein wîp ersehen, swie minneclîche ir rede sî, mir mac wol schade von ir geschehen.12
Wohl über kein anderes Lied Walthers von der Vogelweide ist so viel geschrieben worden13 wie über dieses und bei kaum einem anderen liegen die Positionen derart weit auseinander.14 Ich werde im Folgenden versuchen, den Text aus der Perspektive meines Beitrags heraus zu verstehen, ohne mich im Einzelnen auf Beiträge der Sekundärliteratur explizit zu beziehen. Zunächst, bis Vers 7, könnte man meinen, man höre einen Sangspruch. diu mâze, die wir schon aus Wa 22,33 kennen und die hier nun als allegorische Figur erscheint, verschafft Ansehen in der Welt (werdekeit), sie tut dies dann, wenn man ihren Regeln folgt.15 Diese Regeln sind lehr- und lernbar. Wenn man den Regeln der mâze folgt, braucht man sich keiner seiner Verhaltensweisen zu schämen, weder am Hof noch unterwegs, mithin an keinem Ort, da diese Regeln universelle Geltung haben. Sie zeichnen sich durch einen Bezug auf das Mittlere aus. In Wa 29,25 wird dieses Mittlere durch ebenez mezzen als Tätigkeit des guten Wirtes umschrieben, hier wird die Frau Mâze gebeten, ihre Lehre mitzuteilen, denn diese zu beherrschen, macht in den Augen anderer Menschen angenehm. In Wa 43,19 drückt eine nach Belehrung fragende Dame dies so aus: Kunde ich die mâze als ichne kan, sô wære ich zer werlde ein sælic wîp. Hier nun will das Ich nicht über richtiges 12 Text: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (= Bibliothek des Mittelalters 3), S. 406 (Text), S. 407 (Übersetzung): „(I) Ordnerin aller Werte, das seid wahrlich Ihr, ‚Frau Mâze‘. Glücklich der Mann, der Eure Belehrung erhält! Er braucht sich Eurer nirgendwo zu schämen, weder ‚zu Hof‘ noch ‚auf der Straße‘, deshalb suche ich immer Euren Rat, daß ihr mich richtig werben lehrt. Werbe ich niedrig oder hoch, ich bin verwundet. Als ich zu niedrig warb, war ich fast tot, doch nun, zu hoch, bin ich wiederum krank: Das falsche Maß entläßt mich nicht aus der Qual. (II) ‚Niedere Minne‘ heißt die, die so ehrlos macht, weil man sich um wertlose Freude müht. Diese Lust tut weh, weil sie keines Lobes wert ist. ‚Hohe Minne‘ spornt an und bewirkt, daß das Herz sich aufschwingt zu edler Freude. Die winkt mir jetzt, daß ich mit ihr gehen soll. Jetzt weiß ich, weshalb die ‚Mâze‘ zögert. Wenn die ‚Herzeliebe‘ kommt, laß ich mich doch verführen. Ich habe eine Frau erblickt, wie liebreizend ihre Rede auch sei, sie wird mir doch wohl Schaden bringen“. 13 Vgl. die Literaturangaben zum Kommentar von Ingrid Kasten (Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters), S. 923 f. und Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 2005 (= sm 316), S. 97–101 (mit weiterer Literatur). 14 Eva Willms (Liebesleid und Sangeslust. Untersuchungen zur deutschen Liebeslyrik des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts, München 1990 [= MTU 94], S. 235–246), deren Buch bei Kasten (Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters) fehlt, hat S. 236 die unterschiedlichen Positionen systematisch zusammengestellt. 15 Zum Verhältnis von mâze und êre vgl. Rücker: ‚Mâze‘ und ihre Wortfamilie, bes. S. 414–416.
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Trinken oder richtigen Umgang mit Geld oder richtiges Verhalten in der Kindererziehung belehrt werden, sondern über ein ebenez Verhalten in Fragen der Liebe. Wie sieht dieses aus? Das Ich scheint es hier jedenfalls noch nicht recht zu wissen und umschreibt es fast hilflos mit dem auch sonst in Fragen des Maßhaltens verwendeten Begriff ebene, den es anschließend, ab Vers 8, in seinen bisherigen Erfahrungshorizont stellt. Minne bereitet, egal wie sie von ihm bisher angegangen worden ist, nichts als Schmerz. Gibt das Ich sich dem armor carnalis hin, ist es fast tôt; wirbt es nach den Gesetzen der hohen Minne erfolglos, macht dieses krank. Beides, die ausschließliche Befriedigung des Triebes wie die unerfüllbare Hoffnung, ist deshalb verderblich, krankmachend, weil es nicht der mâze, sondern ihrer Gegenspielerin, der unmâze, gehorcht. Zwischen beiden sucht das Ich ein Drittes, ein Mittleres, das der mâze gerecht wird und zu wirdekeit führt. Die ersten sechs Verse der zweiten Strophe greifen in zwei, je dreiversigen Stollen die – literarische – Konzeption der niederen und der hohen Minne noch einmal auf und zeigen ihre Konsequenzen: Die eine macht wê, die andere, der das Ich jetzt wieder folgt, siech, was wir bereits aus der ersten Strophe wissen. Der Abgesang, ab Vers 7, thematisiert nun das, womit der Aufgesang der ersten Strophe geendet hatte, erneut, nämlich das Motiv der mâze, und bringt diese in Verbindung mit der herzeliebe. Die implizite Frage des Ich an die mâze ist die, ob nicht die herzeliebe die Mitte sei zwischen hôher und niderer minne.16 Die mâze beantwortet diese Frage indirekt durch Warten und Zögern und das Ich explizit dadurch, dass es erklärt, dass auch die herzeliebe zu Kummer führt. Minneclîche rede der herzeliebe kann dann zu Leid und Schmerz führen, wenn sie nicht dem Prinzip der triuwe und stætekeit folgt. In Wa 49,25, einem Lied, das sich schon programmatisch mit der Anrede an das herzeliebe vrowelîn an die Seite von 46,32 stellt, wird dieser Zusammenhang von herzeliebe und herzeleit am Ende thematisiert:
Hâst dû triuwe und stætekeit, sô bin ich dîn âne angest gar, daz mir iemer herzeleit mit dînem willen widervar. Hâst aber dû der zweier niht, sô müezest dû mîn niemer werden, ôwê dan, ob daz geschiht!17
Sowohl die hôhe minne wie die nidere minne, aber eben auch die herzeliebe können verletzen. Die beiden ersteren, weil ihre literarische Konzeptualisierung einerseits mit Kummer, anderseits mit gesellschaftlichem Wertverlust verbunden ist; die herzeliebe aber deshalb, weil sie mit der Lebenserfahrung verbunden ist, dass ihr keine Dauer gegeben sein könnte oder dass der Liebende durch Untreue und Unbeständigkeit ins Mark getroffen werden kann. Deshalb haben alle drei, aus unterschiedlichen Gründen jedoch, nichts 16 Deshalb sind meiner Auffassung nach minne und herzeliebe auch nicht miteinander identisch. 17 Walther: Leich, Lieder, Sangsprüche, Lied 26, V.
mâze und Lebenswelt bei Walther von der Vogelweide
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mit mâze zu tun. Weder minne noch herzeliebe passen zur mâze. Das weiß die mâze und zögert deshalb, und das wusste der Autor vom ersten Vers an. Um dies zu demonstrieren, hat er den Begriff ebenez werben als scheinterminologischen Begriff zunächst eingeführt, um ihn dann als contradictio in adiecto vorzuführen. ebene liebe gibt es so wenig wie ebenez minnen. Walther führt in 46,32 zwei Lebenswelten aufeinander: die Welt der Literatur und diejenige emotionaler Erfahrung. Beide Welten werden in diesem Lied zum einen mit dem Traditionswissen (Lehre), zum anderen mit der lebenspraktischen Erfahrung des Mäßigkeitsprinzips (gesellschaftliches Ansehen) verbunden. Literarische Tradition wie auch die eigene Erfahrung sagen uns, so Walther hier wie in anderen Sprüchen, dass Maßhalten sinnvoll und nützlich ist. Dieses Wissen wird in 46,32 im Anschluss an die Evokation des Maßgedankens als Ideal der Mitte in einem ersten Schritt auf den fiktionalen Entwurf höfischer Minne bezogen und dann in einem zweiten Schritt auf das, was man emotionale Erfahrungswelt (herzeliebe) nennen könnte. Diese emotionale Erfahrungswelt der herzeliebe ist die Voraussetzung für die Einsicht, dass das literarische wie auch das lebenspraktische Prinzip des Maßhaltens im Herrschaftsbereich der Liebe versagt. Diese lebensweltliche Einsicht wird ihrerseits Teil der Literatur. Das Faszinierende oder – anachronistisch gesprochen – das Moderne in diesem Lied Walthers von der Vogelweide liegt gerade darin, dass die emotionale Erfahrung der Unvereinbarkeit von mâze und herzeliebe nicht außerhalb der höfischen Literatur um 1200 bleiben musste, weil sie dem universellen Anspruch der mâze widerspricht, sondern Teil von ihr werden konnte.
Dirk von Petersdorff
Auch eine Schule der Kontingenz Geschichtsbilder in der Emblematik1
Da die frühneuzeitliche Emblematik den Anspruch umfassender Weltdeutung erhebt, beschäftigt sie sich auch mit Personen und Ereignissen der Geschichte, aus denen der zeitgenössische Leser Wissen und Nutzen ziehen soll. Zum Verständnis solcher Darstellungen müssen zwei Voraussetzungen geklärt werden: einerseits der Geschichtsbegriffs des 16. und 17. Jahrhunderts, andererseits die Gattungsgesetze des Emblems. Wenn in der frühen Neuzeit von Geschichte in theoretischer Absicht die Rede ist, dann wird immer wieder Ciceros Schrift De oratore zitiert, wo die Geschichte als Lehrmeisterin des menschlichen Lebens erscheint: „historia magistra vitae“.2 Dabei wird kein einheitlicher Begriff von Geschichte im Singular vorausgesetzt, sondern es werden Historien erzählt, einzelne Ereignisse, aus denen Lehren zu ziehen sind. Bernhard Schöfferlin, erster Inhaber eines deutschen Lehrstuhls für Geschichte, erklärt: „[W]as einem weltlichen Mann allermeißt zur Weisheit diene, wolle ihm bedünken, daß nichts nützlicher und fruchtbarer sei, als fleißig Historien und alte Geschichten lesen“.3 Und noch in Johann Christoph Adelungs Wörterbuch, das den Geschichtsdiskurs bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammenfasst, heißt es: „Die Geschichte ist die zuverlässigste Lehrmeisterinn der Moral“.4 Tatsächlich richtet sich der didaktische Nutzen der Geschichtsschreibung vor allem auf die Moral. Erzählt wird von Personen und Ereignissen aus der Antike, um aus besonderen Tatsachen allgemeine Sätze abzuleiten, an denen sich das eigene Handeln orientieren soll. Dieser Exempelcharakter setzt voraus, dass die menschliche Natur in ihren zentralen Elementen im Geschichtsverlauf gleich bleibt und dass auch die Bedingungen der Umwelt nur begrenzt differieren. Nur so lassen sich Erfahrungen aus einer normativen 1 Für Gottfried Willems, der mit seiner Studie Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der WortBild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989 eine maßgebliche Arbeit auf diesem Gebiet veröffentlicht hat und dem ich als Kollegen in Jena wissenschaftlich und menschlich viel verdanke. 2 Christian Meier: Geschichte, Historie. Antike, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart 1975, S. 602. 3 Zit. n. Emil C. Scherer: Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg i. Br. 1927, S. 22. 4 Johann C. Adelung: Geschichte, in: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2. Teil: von F-Z, Leipzig 1796, S. 606.
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Epoche, das ist die Antike, auf die Gegenwart übertragen. Dabei kann bestätigend vorgegangen werden, wenn eine bestimmte Handlung als nachahmenswert empfohlen wird, oder kontrastiv, wenn von einer Vorgehensweise abgeraten wird. In jedem Fall liegt ein typologisches Denken zugrunde, das von wiederkehrenden Situationen und Herausforderungen im Geschichtsverlauf ausgeht. Die intendierte Moral kann in diesem Rahmen durchaus unterschiedlich ausfallen: Praktiziert wird eine christliche Deutung, die die Providenz Gottes erweist, Ereignisse in einen heilsgeschichtlichen Rahmen einordnet und Verhaltensnormen, die als gottgewollt gelten, begründet; genauso existiert eine Geschichtsschreibung, die in der Nachfolge Machiavellis in politisch-pragmatischer Absicht vorgeht und den Handlungsträgern im Staat Maximen vorschlägt, die sich aus der Beobachtung vergangener Geschehnisse, aus Konflikten und deren Bewältigung, ergeben. Diese praktische Moral kann mit Basisannahmen der Stoa versetzt sein, die allerdings wiederum von christlichen Deutungsmustern nicht strikt zu trennen sind – in der Regel, und dies lässt sich auch gut an den Emblembüchern studieren, liegt der Geschichtsdeutung keine systematisch geschlossene Moral zugrunde. Vielmehr findet sich ein Amalgam aus Traditionen, zu denen auch ein unspezifisches Erfahrungswissen gehört, und diese Mischung soll sich einerseits als lebenspraktisch erweisen, um andererseits gleichzeitig moralische Mindeststandards zu sichern. In jedem Fall gilt der Exempelcharakter. Denn im Unterschied zu einer beginnenden Differenzierung der Geschichtstheorie, in der es zu einer Auflösung des heilsgeschichtlichen Horizonts und zu methodologischen Neuansätzen kommt, zeigt sich in der frühneuzeitlichen Nutzung der Geschichte noch eine einheitliche Auffassung:5 „Die Historia ist ein Cabinet, darinnen man alles sehen kan, was passiret“,6 so der Philosoph und Historiker Nikolaus Hieronymus Gundling. „[A]lles […], was passiret“: Aus den Fakten wird ein Muster erschlossen, und die so verstandene historia befindet sich im WissensSystem in der Nähe von Rhetorik und Poesie, die ebenfalls mit der Vermittlung von handlungsleitenden Prinzipien beschäftigt sind. Damit werden die historischen Ereignisse der Kontingenz entrissen: Sie besitzen den Status der Notwendigkeit, sind nicht einfach nur geschehen, vereinzelt, unwiederholbar, sondern Teile eines Weltganzen, das von erkennbaren Gesetzen strukturiert ist. Mit diesem Geschichtsverständnis lässt sich der Gattungscharakter des Emblems gut verbinden. Seit dem Erscheinen der ersten Emblemsammlung, des „Emblematum liber“ von Andreas Alciatus (1531), ist die dreiteilige Struktur bekannt:7 Oben findet sich die 5 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967 (= Literatur und Wirklichkeit 1). 6 Nicolaus H. Gundling: Ausführlicher und mit illustren Exempeln aus der Historie und Staaten erläuternder Discours über Io. Franc. Buddei Philosophiae Practicae Part. III. Die Politic, Frankfurt a. M. 1733, Prolegomena, S. 4. 7 Grundlegend dazu: Ernst Osterkamp: Emblematik, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 2: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, hg. von Albert
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Inscriptio, die als Überschrift fungiert; in sprachlich gedrängter Form kann sie zum Beispiel einen Sinnspruch, eine moralische Anweisung oder Lebenslehre formulieren, wobei die Kürze Rätselcharakter ergeben kann. Darunter folgt die Pictura, die den eigentlichen Gegenstand visuell darstellt. Den dritten Teil bildet die Subscriptio, die wiederum in sprachlicher Form, oft als Epigramm, die Deutung dieses Bildes enthält. Der Umfang der Deutung variiert zwischen wenigen Zeilen und ausführlichen Erörterungen, in denen sich eine didaktische Intention entfalten kann. Diese Text-Bild-Kombination, die im 17. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebt und zu einem europaweit verbreiteten Phänomen wird, das sich nicht nur in Büchern, sondern auch in der Ausgestaltung von kirchlichen und profanen Räumen und auf Alltagsgegenständen findet, hat sich aus verschiedenen Traditionen entwickelt. Dazu zählen die mittelalterliche Allegorese, die Hieroglyphenkunde der italienischen Humanisten, die sich auf geheimes Wissen richtete, sowie die Imprese, ein Abzeichen, das der Selbstdarstellung im höfischen Kontext diente. Die Intention der Emblematik wird seit den klassischen Arbeiten von Albrecht Schöne in der Verbindung von Darstellung und Deutung, von Abbildung und Auslegung gesehen. Auch wenn neuere Arbeiten, so von Bernhard Scholz, zu Recht darauf hinweisen, dass es den Idealtypus des Emblems nicht gibt, dass der jeweilige Sitz im Leben, die Wissensmenge und der Adressatenbezug zu beachten sind, wird die Gattung doch weiterhin als Teil der Lehrdichtung angesehen. Die Emblematik vermittelt Maximen, „verallgemeinerte, bedingte Handlungsanweisungen […] [nach der Art:] ‚handle in der und der Weise, wenn du dich in einer Situation der und der Art befindest‘.“8 Grundsätzlich ist es möglich, in allen Erscheinungen der Empirie einen Sinn zu finden, und auch wenn im Zentrum die Natur als das ‚von Gott geschriebene Buch‘ steht, so werden doch zahlreiche andere Wirklichkeitsfelder wie Orte und Bauwerke, Handwerks- und Spielgeräte, Hausrat, Schiffe und Waffen, Speise und Kleidung erfasst und gedeutet. Dahinter steht die Vorstellung einer Welt, in der sich überall Korrespondenzen finden lassen. Georg Philipp Harsdörffer, einer der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker der Emblematik, fasst es so: „Gewißlich ist eine Zusammenstimmung aller Sachen in diesem ganzen Erdkreiß / und vergleichet sich / der sichtbare Himmel mit der Erden / der Mensch mit der ganzen Welt“.9 Die Besonderheit des Emblems im Rahmen dieser Weltaneignung liegt in der Verbindung von Bild und Schrift, damit einem besonderen Erkenntnistyp. Unter Rückgriff auf die seit der Antike thematisierte Verwandtschaft von Malerei und Dichtkunst werden zwei mediale Formen kombiniert, wovon man sich eine besondere Effizienz der Wissensvermittlung erhofft: Das Emblem als Ganzes aktiviert verschiedene Wahrnehmungskanäle; dabei prägt sich das Bild besonders gut ein, dient der Memoria. Der Rätselcharakter des Meier, München 1999, S. 233–254. 8 Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien, Berlin 2002 (= Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 3), S. 312. 9 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, 8. Teil, hg. von Irmgard Böttcher, Tübingen 1969 (= Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 20), S. 232 f.
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Emblems, den erst die Subscriptio auflöst, kann die Eigenaktivität des Betrachters in Gang setzen, der sich auch selber an der Ausdeutung der res picta beteiligen soll. Wiederholt ist in diesem Zusammenhang die Priorität von Bild oder Schrift diskutiert worden. Wenn sowohl ontologisch als auch wahrnehmungspsychologisch das Bild den Kern bildet, so ist doch offenkundig, dass erst der Text der Offenheit des Bildes eine Bedeutungsrichtung gibt. Harsdörffer schreibt: „Diese Gleichniß [die Subscriptio] ist die Seele des Sinnbildes / dessen Dolmetscher die Obschrift / und der Leib ist das Bild oder die Figur an sich selbsten“.10 Gerade der hier verwendete Vergleich von Bild und Schrift mit dem Leib und der Seele ist charakteristisch für die Emblemtheorie des Barock. Beide Teile des Emblems sind untrennbar miteinander verbunden, aber nur die Schrift kann das Unsichtbare erfassen, und hier lassen sich neuere Zeichentheorien anschließen, die das Verhältnis von Bild und Schrift in de-ontologisierter Form analysieren: „Aufgrund ihrer grundsätzlich verschiedenen Bedeutungsstruktur erbringen Bilder und Texte in der Abbildung von (realen oder fingierten, konkreten oder abstrakten) ‚Welten‘ verschiedene Leistungen“.11 Während Bilder durch die Zuordnung von Texten eine Semantisierung erfahren, erhalten Texte durch die Verbindung mit Bildern eine Referentialisierung. Nur Texte sind zu generalisierenden Aussagen, zu Klassenbildungen und Abstraktionen in der Lage. Fragt man nach der Generierung von Sinn, dominiert deshalb der Text: „Bei Einbettung des Bildes in den Text oder bei Gleichrangigkeit von Bild und Text dominiert die Textsemantik über die Bildsemantik und übernimmt eine bedeutungsstrukturierende Funktion.“12 Nach diesen allgemeinen Überlegungen zum Geschichtsbegriff und zur Gattung der Emblematik nun zur Untergruppe der Geschichtsembleme: Ein Geschichtsemblem ist so strukturiert, dass ein Ereignis aus der Geschichte dargestellt und gedeutet wird, um damit bestimmte Handlungen in der Gegenwart zu legitimieren, anderen die Legitimation zu entziehen. Das Subjekt des vorbildlichen Handelns in der Geschichte besitzt eine Anweisungsbefugnis, es wird als normsetzend angesehen; man kann deshalb von einer exegetischen Begründung von Normen sprechen oder von einer genealogischen Ableitung der Richtigkeit einer Handlung.13 Vorausgesetzt wird die schon genannte Ähnlichkeitsbeziehung der Handlungssubjekte in Vergangenheit und Gegenwart, denn nur wenn keine zu große Differenz zwischen Zeiten und Kulturen besteht, kann die Wiederholung einer früheren Handlung durch eine spätere empfohlen werden. Und nur wenn man an die 10 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, 1. Teil, hg. von Irmgard Böttcher, Tübingen 1968 (= Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 13), S. 81. 11 Michael Titzmann: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen, in: Text und Bild, Bild und Text, hg. von Wolfgang Harms, Stuttgart 1990 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände 6), S. 380. 12 Ebd., S. 382. 13 Vgl. Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 321.
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Existenz universaler Normen glaubt, die sich aus Beispielen erschließen lassen, kann es zur emblematischen Deutungsoperation kommen. Zunächst einige Embleme, die dem Gattungsmuster und der frühneuzeitlichen Vorstellung von Geschichte als ‚magistra vitae‘ entsprechen: Eine immer wieder idealisierte Gestalt der Antike ist Alexander der Große, der in einem Emblem aus der Sammlung von Achilles Bocchius (1555) als Richter erscheint (Abb. 1).
Abb. 1 Alexander als Richter, leiht dem Ankläger nur ein Ohr
Das Emblem besitzt ein zweigeteiltes Motto, das im Original auf zwei Druckseiten steht, hier übereinander gestellt ist. Der erste Teil fungiert als Titel, benennt den Gegenstand des Emblems, eben Alexander, der als gerechter Richter auftritt. Der zweite Teil enthält bereits die Maxime, die deutlich als Handlungsanweisung formuliert ist: „Höre zuerst
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Abb. 2 Alexander hält schlafend eine Kugel in der Hand
die andere Seite, dann urteile“.14 Die Pictura, in diesem Fall ein Kupferstich, zeigt auf der rechten Seite den Herrscher mit seinen Insignien, links eine Gruppe von Menschen, die am Prozess beteiligt sind oder ihn verfolgen. Die vorne stehende Person wendet sich eindringlich an Alexander, setzt deklamierend den linken Arm ein; dies ist offenbar der Kläger, vor dem der Richter, wie die Subscriptio erläutert, das eine Ohr verschließt. Aus seinem Umfeld wird Alexander gefragt, warum er (so seltsam) handele, und seine Antwort darauf ist deutlich als Sentenz formuliert, die das Emblem abschließt und als Maxime 14 Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Stuttgart 1967, S. 1151.
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überzeitlich gültigen Charakter besitzt: „Für den Ankläger ist eins genug, […] das andere bewahre ich vorurteilslos für den Angeklagten.“15 Diese Sentenz ist relativ knapp gehalten, sodass sich weitere Überlegungen des Betrachters zum Gerechtigkeitsbegriff oder zu den Verfahren der Rechtssprechung anschließen können. Als historiographische Quelle des Emblems dient Plutarchs Alexander-Schrift, aus der sich diese Episode als emblemtauglich erweist, weil sie sich in einem einzigen Bild klar darstellen lässt. Normsetzende Personen wie Alexander, die gegenwärtigen Herrschaftsträgern Vorbild sein sollen, werden in der Emblematik nicht nur mit einer Anekdote präsentiert. Gesucht wird, gerade von konkurrierenden Emblemerfindern, nach verschiedenen Attributen solcher Figuren. So erscheint Alexander auch mit einer Kugel in der Hand, die ihn immer wieder aus dem tieferen Schlaf reißt, ihm also nur den Minutenschlaf erlaubt (Abb. 2). Dargestellt ist die Wachsamkeit des Herrschers, besonders in Kriegszeiten, wie die Subscriptio verallgemeinernd erläutert, die beginnt: „Wer die Sorge für ein Heer trägt, dessen Schlaf ist leicht, und er schläft nicht tief; immer ist er tätig und ganz bereit als erster zu den Waffen zu eilen“.16 Erst danach ist konkret von Alexander die Rede. Sein Verhalten besitzt eine besondere Dignität, weil er Natur nachahmt. Denn variiert wird das Verhalten des Kranichs, der einen Stein in einer Kralle trägt, was ihn vor nachlassender Aufmerksamkeit schützen soll,17 und Alexander verhält sich also zweifellos richtig, wenn er aus dem Buch der Natur lernt und sich an ihm orientiert. Die Emblematiker suchen in der Geschichte auch negative Exempel, an denen Verstöße gegen eine Norm dargestellt werden können. Dies trifft Alexanders Vater, Philipp von Makedonien, der nach einer Schilderung Plutarchs während einer Gerichtsverhandlung einschlief (Abb. 3). Im Motto wird gesagt, dass dieses Emblem auf Menschen zielt, die oberflächlich richten („in perfunctorie iudicantes“), und in der Subscriptio wird deutlich eine Übertragung auf Erfahrungen vorgenommen, die der Verfasser bei seinen Betrachtern als bekannt voraussetzt: „Während die Anwälte, heiser vom Reden, im undurchsichtigen Rechtsstreit schwitzen, schlafen die Senatoren oft.“18 Solche Normverstöße innerhalb des Rechtssystems werden auch am Beispiel der Geschichte von Appius Claudius und Virginia vorgeführt,19 wobei der Emblemerfinder den ursprünglichen Text der Sage, wie er bei Cicero oder Livius überliefert ist, allerdings verändern muss und ihn zudem mit anderen Erzählungen aus der römischen Geschichte versetzt, um zu der gewünschten Deutung zu gelangen, die solche Rechtsverfahren angreift, die aufgrund von erotischen Verhältnissen zwischen den Beteiligten zu fragwürdigen Ergebnissen gelangen. Offenkundig stand hier 15 Ebd., S. 1151. 16 Ebd., S. 1152 f. 17 Vgl. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel [http://diglib.hab.de/drucke/205-9-quod/start.htm? image=00125]. 18 Henkel, Schöne (Hg.:) Emblemata, S. 1149. 19 Vgl. ebd., S. 1176.
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Abb. 3 Philipp von Makedonien schläft während einer Gerichtssitzung
eine Erfahrung der eigenen Zeit vor Augen, für die man eine Korrespondenz in der Antike suchte, was aber nur mit einer halb-fiktiven Konstruktion von Geschichte möglich war. Die sich in den Emblemen artikulierenden Moralvorstellungen entsprechen überwiegend denen der christlich-humanistischen Tradition, geraten dabei aber auch in Grenzbereiche und legitimieren Handlungen, deren normatives Fundament brüchig ist. So wird die bei Herodot überlieferte Geschichte von Darius wiedergegeben, der mit Hilfe einer List zum Perserkönig wurde (Abb. 4). Danach wollten sieben Adelige demjenigen unter ihnen die Krone geben, dessen Pferd bei Sonnenaufgang zuerst wieherte. Darius hatte seinem Hengst an der verabredeten Stelle zuvor eine Stute gezeigt, an die sich das Pferd nun erinnerte. In den Subscriptiones heißt es: „[I]n allen Lagen setzt sich durch, wer Einfälle hat“,20 oder noch deutlicher: „List ist dann am Platz, wenn soviel auf dem Spiel steht, wie bei dem berühmten Wahlmanöver
20 Ebd., S. 1146.
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Abb. 4 Darius dessen Pferd als erstes bei Sonnenaufgang wiehert
des Königs Darius“21 und im dazugehörigen Motto wird vom „trügerischen Schein“22 gesprochen, mit dem sich Darius durchsetzte. Vermittelt wird so eine pragmatische Klugheitslehre, die im politischen System, das eigene Leitvorstellungen entwickelte, erfolgversprechend war. Nur begrenzt mit christlich-humanistischen Vorstellungen zu verbinden ist auch das in der Emblematik verbreitete Motiv des Perillus, der für den sizilianischen Tyrannen Phalaris einen Stier aus Eisen baute. Dieser diente als Foltergerät: Menschen wurden darin eingesperrt, unter dem Stier wurde ein Feuer entzündet (Abb. 5). Der Tyrann befahl nach der Fertigstellung, dass das Gerät an Perillus selbst auszuprobieren sei, was die Embleme unter dem Motto „[Ein] schlechter Rat trifft den Urheber“23 legitimieren und durchaus genussvoll nachvollziehen. Im Hintergrund stehen Erfahrun21 Ebd., S. 1147. 22 Ebd., S. 1147. 23 Ebd., S. 1143.
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Abb. 5 Perillus und der eherne Stier
gen mit den Kriegen der frühen Neuzeit: Man hält es für gerecht, dass die Erfinder von Todeswerkzeug durch ihre eigene Kunst umkommen. Dagegen wird in einem holländischen Emblembuch aus dem 17. Jahrhundert versucht, die Erzählung auf eine konventionelle Moralformel zu reduzieren: „Ein jeder kann das wohl begreifen: was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“24 Darin sieht man noch einmal deut24 Ebd., S. 1145.
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Abb. 6 Schiffbrüchiges Boot auf dem Wasser treibend
lich, wie die Vorstellung von der historia als magistra vitae und die Gattungsgesetze des Emblems zusammenkommen: Aus einem konkreten Exempel wird eine abstrakte Maxime abgeleitet, der universale Gültigkeit zugesprochen wird. Es gibt aber auch, und dies sind interessante Fälle, Embleme, die die Gattungsvorgaben nicht erfüllen können, weil es ihnen nicht mehr gelingt, aus der Wirklichkeit eine Handlungsanweisung abzuleiten. Dies sind Embleme, die am Versuch einer Deutung und Ordnung der Empirie scheitern. Zunächst geht es um ein allgemeines Emblem aus dem Bereich der Lebenslehre, das das Problem erkennbar werden lässt, bevor dann zwei historische Darstellungen genauer betrachtet werden (Abb. 6). Schiffsmotive sind in der Emblematik stark verbreitet, wobei hier im Vergleich mit anderen Emblemen, die in der Regel größere Segelschiffe darstellen, ein besonders kleines Boot zu sehen ist. Es treibt ohne Ruder oder Steuer in einem stürmisch-wellenbewegten Meer, ist teilweise schon vom Wasser überspült und wird an ein Ufer getrieben. Die Textteile sind, wie in der Sammlung von Gabriel Rollenhagen (1611), aus der dieses Bild stammt, üblich, sehr knapp gehalten und pointiert. Die Inscriptio lautet „Quo fata trahunt“, also „Wohin das Schicksal treibt.“25 Auffallend und bezeichnend für die Schwierigkeiten der Deutung ist, dass die Subscriptio diese Wendung wiederholt: „Quid facias? 25 Ebd., S. 1480.
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quo Fata trahunt retrahuntque sequendum est, Illa etiam jnvitos vis rapit. Ergo sequor“.26 Diese Wiederholung signalisiert, dass die Deutung des Bildes gegenüber dem Motto nur einen begrenzten Mehrwert erbringt: Das Emblem dreht sich im Kreis. Analysiert man die Subscriptio genauer, dann beginnt sie mit einer Frage, die der Gattungserwartung an das Emblem entspricht, denn gefragt wird nach einer Handlungsanweisung, erwartet wird eine Norm. Als Antwort folgt ein etwas längerer Satz, der aus zwei Teilsätzen besteht. Im Zentrum steht der Begriff des Schicksals, der mit den Verben ‚trahere‘, ‚retrahere‘, ‚rapere‘, also ‚treiben‘, ‚ziehen‘, ‚fortreißen‘, verbunden wird. Der Begriff des Schicksals scheint zunächst die Aufgabe der Emblematik zu erfüllen, vom Konkreten zu abstrahieren, von der Darstellung zur Deutung der Welt zu gelangen. Aber dieser Begriff bleibt nackt, wird lediglich als ‚Kraft‘ („vis“) umschrieben, ansonsten nicht erläutert. Was wir uns unter dem Schicksal vorzustellen haben, ob hinter dieser Kraft irgendein Prinzip zu erkennen ist, ob das Schicksal eine Moral vermitteln kann – diese Fragen bleiben offen. Das Schicksal ist nur noch ein Faktum, das am Menschen Gewalt ausübt, wie die verwendeten Verben zeigen, die durch die Pictura in ihrer Aussage noch verschärft werden. Denn das schiffbrüchige, gescheiterte Boot, das überspült wird, weckt vor allem eine Assoziation, die des Todes, zu dem das Schicksal führt. Das Ende der Subscriptio besteht aus dem an Kürze kaum zu überbietenden Satz: „Ergo sequor“ – mehr ist nicht zu sagen. Dieser Satz zieht die Schlussfolgerung aus der Aussage über das Schicksal und fungiert auch als Antwort auf die am Anfang gestellte Frage. Aber er unterläuft den Antwortcharakter, denn er enthält keine Handlungsanweisung, sondern nur eine Aussage, die zudem subjektiviert ist. Damit wird die Erwartung an das Emblem doppelt negiert: Weder wird ein Prinzip formuliert, noch wird generalisierend gesprochen. Mit diesem subjektivierten Ende erhält die Subscriptio einen lyrischen Charakter. Das ist die Aussage eines Menschen, der gelernt hat, sich in Abläufe zu fügen, die ihm nichts bedeuten, in denen er keinen Sinn erkennen kann. Über diese Welt lässt sich in drei Sätzen alles Notwendige sagen, weitere Aussagen sind nicht möglich, und die Schrift, die doch der ‚Geist‘ gegenüber dem ‚Leib‘ des Bildes sein sollte, hat diesem Leib nichts Wesentliches hinzuzufügen – man könnte die Subscriptio auch weglassen, und trotzdem wäre alles klar. Unter den Geschichtsemblemen findet sich in der Sammlung von Petrus Costalius eine Darstellung der Seherin Kassandra, deren Warnungen vor dem kommenden Untergang Trojas nicht gehört wurden (Abb. 7). In der Subscriptio wird der Sachverhalt kurz geschildert, um dann zur Erklärung überzugehen. Zunächst wird darauf hingewiesen, dass man den Weissagungen nicht geglaubt habe, weil sie von einer Frau stammten, wird also das Faktum der Geschlechtszugehörigkeit zur Erklärung herangezogen. Es folgt die Verallgemeinerung des Einzelfalls zu einem Gesetz, die so beginnt: „Es gibt Leute, die die überragende Redegabe
26 Ebd.
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Abb. 7 Cassandra
Nestors besitzen“.27 Diesen Menschen kann auch eine besondere Weisheit verliehen sein sowie der Mut, sich vor Auseinandersetzungen mit einer größeren Menge nicht zu fürchten, wobei der Emblemerfinder wiederum auf aktuelle Erfahrungen in seinem eigenen Umfeld anspielt. Gleichwohl werden diese Menschen in der Gesellschaft zurückgewiesen. Was damit in der Subscriptio geschieht, ist aber nicht die Bildung eines allgemeinen Satzes, sondern die eines Plurals: Auch anderen ist es so ergangen wie Kassandra, und weiterhin wird es Menschen so ergehen. Aber es wird nicht gesagt, warum Kassandra dieses Schicksal getroffen hat, denn der einzige Grund, der dafür genannt wird, ist eben die Geschlechtszugehörigkeit, doch gehören zu dieser Gruppe offenbar auch Männer. Ebenso wird nicht gesagt, dass es allen besonders begabten oder prophetisch veranlagten Menschen zu allen Zeiten so ergangen sei. Auch das wäre ein allgemeiner Satz, etwa nach 27 Ebd., S. 1689.
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dem Muster: ‚Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland‘. Darin wäre auch ein Trost enthalten, denn man könnte dann das Verkannt-Werden als Wahrheitsbeweis verstehen und das einzelne Ereignis in eine Geschichte der von der Mehrheitsmeinung unterdrückten Wahrheit einordnen. Aber genau diese Bildung einer Klasse wird verweigert, weil es keine gemeinsamen Merkmale in der Geschichte der verkannten Propheten gibt. Man kann nur noch sagen: Es kommt vor, dass der Fall ‚a‘ geschieht, es gibt Beispiele für den Fall ‚a‘, aber damit wird kein Muster in der Empirie entdeckt, weil man nicht weiß, wann ‚a‘ passiert und wann nicht. Somit findet keine Wirklichkeitserschließung, sondern nur eine Beschreibung von Wirklichkeit statt. Dass die Verallgemeinerung nicht gelingt, zeigt sich auch in der sprachlichen Struktur, wenn der letzte Satz der Subscriptio lautet: „Unheilvolle Vorahnungen vom fünften Tag nach dem Neumond drücken sie nieder, und ein karges Brot nährt sie am kümmerlichen Herd.“28 Hier wird eine Pluralbildung vorgenommen, die semantisch nicht gedeckt ist, denn die Attribute, die der Gruppe zugeschrieben werden, treffen nur auf eine Person, nämlich auf Kassandra zu. Die Pictura zeigt sie denn auch neben dem Herd sitzend, mit ihrer zurückgelehnten Körperhaltung und den aufgerissenen Augen offenbar im Zustand der Trance befindlich. Noch schwächer als die Weltdeutung fällt die Didaxe aus. Aus der Subscriptio lässt sich nicht einmal implizit irgendeine Handlungsanweisung gewinnen. Die exegetische Begründung von Normen, die in den oben analysierten Geschichtsemblemen zu erkennen war, fällt aus, und auch die Funktion, Handlungen in der Gegenwart durch das historische Beispiel zu legitimieren oder zu delegitimieren, ist nicht realisiert. Beschrieben wird eine nicht mit Sinn versehene Episode aus der Geschichte, die den Untergang einer Kultur, derjenigen Trojas, begünstigte. Was sollte man daraus lernen? Möglich wäre nur, dass Menschen, die sich gleichfalls unverstanden fühlen oder die sie umgebende soziale Ordnung auf einem wahrheitsresistenten Irrweg sehen, Trost aus dem Emblem schöpfen, weil sie sich in ihrem Unglück nicht allein wissen. Ein weiteres Emblem, das sich der Weltdeutung verweigert und zudem Ambiguität erzeugt, stellt Demokrit und Heraklit als lachenden und weinenden Philosophen gegenüber. Es war schon im ersten Emblembuch von Alciatus enthalten, fand dann rasche Verbreitung, ist auch in einem schönen Beispiel für emblematische Raumgestaltung zu finden, in der Emblemkammer des Herrenhauses Ludwigsburg in Schleswig-Holstein, bei Eckernförde, gelegen (Abb. 8). Die Inscriptio lautet bei Alciatus „In vitam humanam“,29 ist also außerordentlich unspezifisch gehalten. Der Holzschnitt zeigt die beiden gegenübersitzenden Philosophen, die sich im Gespräch befinden, einer mit traurigem, der andere mit heiterem Gesicht. Die
28 Ebd., S. 1690. 29 Ebd., S. 1157.
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Abb. 8 Demokrit und Heraklit
Subscriptio30 geht so vor, dass zuerst Heraklit charakterisiert wird, der als weinender Philosoph das Unglück des menschlichen Lebens betrachtet, worin ihm der Text recht gibt, „[d]ann“ in der Tat „steckt [die Welt] voller böser tück“.31 Anschließend wird Demokrits Gelächter benannt, auch diese Haltung wird gerechtfertigt: „Dann lecherlicher zu keiner zeit / Gewesen ist als jetzt die geit“.32 Verweigert wird damit die Festlegung auf eine angemessene Handlungsweise. Interessanterweise meldet sich wie im analysierten Schiffsemblem wieder ein Sprecher-Subjekt zu Wort. Dieses Ich erklärt, dass es sich bei Betrachtung der Umwelt gründlich überlegt, ob es mit Demokrit lachen oder mit Heraklit weinen soll. Ein Ergebnis dieser Überlegungen wird explizit nicht mitgeteilt, aber da das Emblem die Philosophen in der Pictura gleichberechtigt nebeneinander stellt und in der Subscriptio auch beiden Recht gibt, ist das Ergebnis, dass es keine Entscheidung gibt. Der Sprecher kommt über den Zustand der Reflexion nicht hinaus, kann keine Wahl mehr treffen. 30 Das Epigramm in der Subscriptio geht wesentlich auf die „Anthologia Planudea“ zurück, die Gegenüberstellung der beiden verschiedenen Philosophentypen findet sich bereits in der Antike bei Seneca, Juvenal und Lukian. Vgl. dazu August Buck: Democritus ridens et Heraclitus flens, in: Wort und Text. Festschrift für Fritz Schalk, hg. von Harri Meier, Hans Sckommodau, Frankfurt a. M. 1963, S. 167– 186. 31 Henkel, Schöne (Hg.:) Emblemata, S. 1157. 32 Ebd.
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Im Ergebnis steht dieses Emblem also für die Ambiguität der Welterfahrung und um sie auszudrücken, wird ein reflektierendes Ich eingeschaltet, das der Emblematik eigentlich fremd ist. Denn die Empirie sollte eigentlich für sich sprechen, der in den Gegenständen liegende Sinn sollte enthüllt werden. Der Mensch wird nur als Entdecker dieses Sinnpotentials benötigt. Dort, wo auf Subjektivität umgeschaltet wird, kommt der Mensch als Bedeutung setzende Instanz ins Spiel, beginnt die Konstruktion von Welt. Diese aber vollzieht sich uneindeutig, und so stellt das Emblem verschiedene Perspektiven gleichberechtigt nebeneinander. Der Betrachter des Emblems muss entscheiden, welche Perspektive er vorzieht, und für diese Entscheidung gibt es keine allgemeine Regel mehr, die das Emblem formulieren könnte. So ermöglicht dieses Emblem ebenso wie das des gescheiterten Schiffs und wie das Kassandra-Bild eine Einübung in Kontingenzerfahrungen. Dargestellt wird das NichtNotwendige, das eintreten kann, aber nicht muss. Die Reduktion der Unbestimmtheit gelingt nicht, die Kontingenzbewältigung als Programm der Emblematik scheitert. Solche Embleme vermitteln Grundlosigkeit und Unberechenbarkeit und gelangen damit an die Grenzen der Gattung. Besonders dort, wo sich ein Subjekt äußert, das Generalisierungen verneint, lassen sie die Idee einer mit Sinn versehenen Empirie fallen oder behaupten zumindest nicht mehr, diesen Sinn erkennen zu können. „Ergo sequor“ – aber wem man dort folgt, wird nicht mehr gesagt.
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Beredte Steine, antiker Form sich nähernd – die Inschriften im Tiefurter Park1 Im Branitzer Park, unweit des Schlosses, ließ Fürst Pückler-Muskau auf dem mit einer verkleinerten Kopie der antiken Warwick-Vase geschmückten „Blumengrab“ seiner Lieblingshündin Nini die Worte anbringen, in ihr sei er dem „sanftesten weiblichen Wesen“ auf seiner „Lebensreise“ begegnet. Die Inschrift ist mehrbezüglich: ernst, fast feierlich im Blick auf das betrauerte Tier; ironisch in Bezug auf die eigenen amourösen Abenteuer, denen nicht immer komplikationslose Abschiede gefolgt sein werden; entschieden − wenn auch nur indirekt − kritisch gegenüber der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts, die im englisch inspirierten Park ein weites Betätigungsfeld gefunden und vorzugsweise alles „Stille“, „Zärtliche“ und „Sanfte“ gepriesen hatte. In ihm war es üblich gewesen, nicht nur, wie in Wörlitz oder im Dalbergschen Herrnsheim bei Worms noch heute zu besichtigen, Rousseau, dem Abgott der Empfindsamen, in Form einer urnengeschmückten Insel nach dem Vorbild von Ermenonville die Ehre zu erweisen. Darüber hinaus gab es die Tendenz, den Park zum Ort gefühlvollen Gedenkens und melancholischen Gestimmtseins auszugestalten und zu diesem Zweck allerhand Felsen, Grotten, Ruinen, Altäre und Säulen mit Büsten oder auch Urnen zu errichten, die, gegebenenfalls mit Inschriften versehen, den Betrachter in die gewünschte Richtung lenken sollten. Pückler-Muskau war diese empfindsame Mode zuwider, und über Inschriften hat er sich grundsätzlich ablehnend geäußert.2 Was er den von ihm geschaffenen oder inspirierten Parks an ergänzender Ausstattung zugestand, waren allenfalls einige wenige spektakuläre Hingucker wie die Venus 1 Für freundliche Hilfe danke ich Angelika Schneider und Michael Enterlein von der Klassik Stiftung Weimar sowie Anne Schäfer von der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloß Branitz. 2 „Die abgedroschene, mißverstandene Weise, wie man heutzutage die Mythologie auffaßt, möchte es geraten machen, diese ganz wegzulassen, und sich ebenfalls in der Regel der Inschriften zu enthalten, die an gewissen Orten gewisse Gefühle zu haben vorschreiben wollen. Wären sie selbst von Göthe, wie in Weimar − auch diese finden ohnfehlbar in seinen Schriften einen besseren Platz. Nur wo sie zuweilen nötig sind, z.B. die Notiz auf einem Wegweiser am Scheidewege, da findet man stets dankbar die erforderliche Auskunft. Das Lustigste für das Kapitel: Inschriften, ist gewiß eine Bank die in dem Baumgärtner’schen Gartenmagazin durch eine schöne Zeichnung empfohlen wird, eine Bank, der Freundschaft gewidmet, deren Lehne aus den Worten gebildet ist: Orest und Pylades. Daneben steht ein Musikpavillon, mit Noten kreneliert, von denen der Wanderer gleich ‚Freut Euch des Lebens‘ im Vorbeigehen absingen kann. Solche Lehre ist trefflich, denn sie bringt auch den Borniertesten zur Erkenntnis.“ − Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei verbun-
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Capua im Schlossteich oder, ebenfalls in Branitz, die in einem eigens angelegten See errichtete Grabpyramide für sich und seine „Schnucke“, wie er Lucie, die Tochter des Staatskanzlers Hardenberg, zu nennen liebte, von der er sich mit ihrer Einwilligung hatte scheiden lassen, um auf die Suche nach einer reichen Erbin zu gehen, die es ermöglichen sollte, Muskau zu halten. (Bekanntlich scheiterte der Plan des exzentrischen Paares, weswegen der Fürst nach dem Verkauf Muskaus Eduard Petzold beauftragte, den Park um das Branitzer Schloss anzulegen.) Christian Cay Lorenz Hirschfeld hatte in seiner zwischen 1779 und 1785 erschienenen fünfbändigen Theorie der Gartenkunst den englischen Landschaftsgarten zur Nachahmung empfohlen und dabei für aufklärerisch-empfindsame Inschriften auf Büsten, Statuen und Staffagearchitektur geworben. Gegen den „kindische[n] Einfall in den Gärten zu Versailles, durch Fontainen äsopische Fabeln vorzustellen, deren Bedeutung man jedoch erst durch Inschriften in der Nähe aufzuklären sich genöthigt“ fühle, empfiehlt er, „Monumente des Verdienstes“ zu errichten,3 die zur „Simplizität der Gärten“ passten,4 und sich bei deren Inschriften von „Einfalt“, „Nachdruck“ und „Kürze“ leiten zu lassen. Diese „Zusätze bey Gebäuden oder Denkmälern“ hätten die Aufgabe, „die Ungewißheit der Bedeutung aufzuheben, und die Wißbegierde, die bey der Annäherung gereizt wird“, auf einmal zu befriedigen. Zugleich vermöchten sie, die „Empfindung“ auszudrücken, „die dem eigenthümlichen Charakter des Ortes angemessen und durch ihn selbst veranlaßt ist“,5 und „Nachdenken“ wie „Einbildungskraft“ „zu einer Zeit“ zu beleben, „da man sich blos den sinnlichen Bewegungen überläßt“.6 Offensichtlich ließen diese programmatischen Äußerungen die Spannung zwischen einer dienenden − informierenden oder moralpädagogischen − und einer selbständigen Funktion der Inschriften, die mit „Nachdenken“, „Empfindsamkeit“ und „Einbildungskraft“ umschrieben wird, unaufgelöst: Für das „Verdienst“ der durch Monument und Inschrift als vorbildlich und tugendhaft Geehrten gilt das Maß ihrer Leistungen für das Gemeinwohl, für das weiterführende „Nachdenken“, mehr noch für „Empfindung“, vor allem aber für „Einbildung“ fehlt ein solches Maß; sie führen tendenziell ins Unabsehbare, Unendliche der schweifenden Gedanken, Gefühle und Phantasien. Unbedacht blieb auch, wie man sich die Verbindung der für die Inschriften geforderten „Einfalt“, d.h. Schlichtheit, mit „Nachdruck“ und „Kürze“ zu denken hatte.
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den mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau, mit den 44 Ansichten, 4 Grundplänen und einem farbigen Bildteil, hg. von Günter J. Vaupel, Frankfurt a. M. 1988, S. 42. Theorie der Gartenkunst. Von C. C. L. Hirschfeld, Königl. Dänischem würklichen Justizrath und ordentlichem Professor der Philosophie und der schönen Wissenschaften auf der Universität zu Kiel, 3. Band, Leipzig 1780, S. 142 (Kapitel „Monumente“). Ebd., S. 144. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155.
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Hirschfeld empfahl, Inschriften nur „sparsam“ anzubringen,7 und sprach sich im Interesse einer nationalen Erinnerungskultur trotz des in englischen Parks häufig gewählten Lateins für das allgemein verständliche Deutsch aus; auch fügte er eine über zehnseitige Liste mit Musterempfehlungen − mehrheitlich gereimte Verse − bei: Allein deutsche Inschriften sind für deutsche Gärten doch vorzüglich zu empfehlen, zumal wenn sie nicht eben bey Gebäuden und Monumenten, denen oft lateinische besser zu stehen scheinen, angebracht, sondern nur an Sitzen, Portalen, oder anderswo zur angenehmen Beschäftigung des Geistes oder des Herzens hingestreuet [!] werden. Wer sie nicht aus sich selbst zu schöpfen weiß, der kann seine Zuflucht zu unsern besten Dichtern nehmen, bey welchen hin und wieder Stellen vorkommen, die sich mit Glück als Inschriften gebrauchen ließen.8
Die Beispiele, deren „Anführung“ er als „eine Veranlassung zur Aufmerksamkeit auf unsere eigene [!] Schätze“ gesehen wissen will, sind fast durchweg im empfindsamen Ton gehalten, vom ersten („Das Vergnügen folget nur / Sanften Trieben der Natur. / Stille Lauben sind sein Haus, / Seine Pracht ein frischer Strauß; / Einfalt und Gemächlichkeit / Sein gewöhnliches Geleit.“9) bis zum letzten, das früher als „Weihe-Inschrift“ den Ettersburger Park Anna Amalias schmückte, die dazu durch Hirschfeld angeregt worden sein dürfte („O! lasst beym Klange süßer Lieder, / uns lächelnd durch dies Leben gehen; / und, sinkt der letzte Tag hernieder, / mit diesem Lächeln stille stehn!“10). Ein wichtiger 7 „wenn sich ihre Zahl zu sehr vermehrt, so verlieren sie zuletzt ihre Wirkung, weil sich die Aufmerksamkeit auf sie vermindert. […] Ein Gartenkünstler, der überall, wo man ruhen will, zum Lesen auffordert, der jede Bank, jedes Bret [!] mit einer Inschrift bekleckst, ist eben so unerträglich, als ein dreister Schwätzer, der uns seine Einfälle oder seine Belesenheit unaufhörlich aufdringen will.“ − Ebd., S. 155. 8 Ebd., S. 159. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 170. Hirschfeld hatte seine Vorschläge für Inschriften 1780 im dritten Band der Theorie der Gartenkunst veröffentlicht. In den vierten, 1782, fügte er Reichards Beschreibung des herzoglichen Gartens zu Gotha, und einiger Anlagen um Weimar ein. In ihr heißt es über Ettersburg: „Folgt man den Gängen, so kommt man, hier zu einem Bad, kühl, wie das Bad der Nymphen, dort zu Teichen in Gebüschen; hier überrascht einen eine Laube von Gitterwerk, dort bleibt man vor einem Tisch von weißem Marmor im antiken Geschmack stehen, um dessen Füße sich Schlangen winden. Oeser ist der Meister, der ihn verfertigt hat. Die Büste dieses großen Mannes, von Klauer in Weimar, einem Künstler von großen Hoffnungen, so ähnlich als möglich, gehauen, ist nicht weit davon aufgestellt, und auf einer Steinplatte lieset man Jacobi’s Zuruf: O! laßt beym Klange süßer Lieder, Uns lächelnd durch dies Leben gehn, Und, sinkt der letzte Tag hernieder, Mit diesem Lächeln stille stehn!“ − Ebd., S. 239. Vgl. Wolfgang Huschke und Wolfgang Vulpius: Park um Weimar. Ein Buch von Dichtung und Gartenkunst, Bilder von Günther Beyer, Weimar 1955, S. 15: „Wir wissen, daß Anna Amalia die fran-
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zeitgenössischer Bezugsautor bei Hirschfeld ist Rousseau, unter anderem mit ausführlichen Zitaten aus der Beschreibung des „Baumgartens“ in Kapitel IV, 11 der Nouvelle Héloïse.11 Aus entfernterer literarischer Tradition wird Petrarca unter dem Stichwort „süße[] Melancholie“ durch die Charakterisierung seiner „einsiedlerische[n] Wohnung […] in dem einsamen Thale bey der Quelle von Vauclüse“ und durch Prosawiedergaben mehrerer seiner „Lieder“ für die Empfindsamkeit vereinnahmt.12 Nachdrückliche Kürze, wie sie Hirschfeld selbst für die Inschriften empfohlen hatte, charakterisiert kaum eines seiner Textbeispiele, manche hingegen durchaus eine gewisse Einfalt im − nicht intendierten − Sinn von Einfältigkeit.13 Auch besteht, tendenziell, ein Widerspruch zwischen dem Rat, Inschriften nur „sparsam“ einzusetzen, und der Empfehlung, sie zur „angenehmen Beschäftigung des Geistes“ „hinzustreuen“, wozu ja auch die umfängliche Beispielliste einlud. Seit 1781, annähernd zeitgleich mit Hirschfelds Theorie der Gartenkunst und vielfältig durch sie inspiriert, ließ Gräfin Christina von Brühl um ihr Schloss im Seifersdorfer Tal nördlich von Dresden entlang der Röder einen der ersten englischen Parks in Deutschland errichten. Schon früh wurde er zur Stätte einer extensiven Memorialkultur. In seiner 1792 erschienenen Monographie Das Seifersdorfer Tal hat sie Wilhelm Gottlieb Becker, unterstützt durch vierzig von Johann Adolph Darnstedt geschaffene Kupferstiche, detailliert festgehalten. Erinnernd gefeiert wurden in Seifersdorf sowohl abstrakte Tugenden (Freiheit, Wahrheit, „gothische Freundschaft“) und Gestalten der antiken Mythologie (Pan, Amor, die Musen) als auch verstorbene wie lebende Angehörige des gräflichen Hauses (Heinrich wie auch Moritz und Carl von Brühl, Christina von Brühls Vater Paul Ernst von Schleyerweber) und der zeitgenössische deutsche Dichterparnass, aber auch ausländische Autoren, die der deutschen Empfindsamkeit wichtige Anstöße gegeben hatten. Den nationalen Charakter betonte ein durch Klopstock inspiriertes Monument für Hermann den Cherusker. Hirschfeld wurde ein eigenes Denkmal im Schlossgarten errichtet. Eine herausragende Rolle kam Sachsen-Weimar-Eisenach zu; sowohl die mit der Brühlschen Familie befreundete Herzogin Anna Amalia und ihr tödlich verunglückter Bruder Leopold als auch Wieland, Herder und Goethe wurden durch Denkmäler und Inschriften geehrt. Unter der von Klauer geschaffenen Büste Wielands, in der Nische eines den Musen gewidmeten, nicht mehr erhaltenen Tempels, standen die Worte: zösischen Gartenanlagen südlich und westlich vom Schloß im zärtlichen Geschmack umzugestalten begann, daß Denkmäler der Liebe und Freundschaft hier und da aufgestellt wurden, aber nichts davon hat sich erhalten, denn Anakreontik und Empfindsamkeit blieben eine Episode in Ettersburg: nirgends hat sich der Übergang zum Sturm und Drang stürmischer und greifbarer vollzogen als hier.“ 11 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 129–132. 12 Ebd., Bd. 4, 1782, S. 87–90. 13 Z.B.: „Sollt’ ich mich nicht des Lebens freun? / Ich athme hier im Klee / Der Kräuter Süßigkeiten ein, / Bevor ich sie noch seh.“ − Ebd., Bd. 3, S. 164.
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Hier weihen sie ihrem Liebling unverwelkliche Kränze von den Grazien gewunden.
Die Ehrung galt, verschiedenen Attributen unter der Inschrift zufolge, in besonderer Weise dem Dichter des Oberon und der Musarion.14 Unter Herders auf einer Säule platzierter, ebenfalls von Klauer geschaffener Büste standen Verse, die der Autor der Gräfin Brühl in ein Widmungsexemplar seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit geschrieben hatte: Des Menschen Leben beschränkt ein enger Raum, Ein engerer beschränket seinen Sinn, Sein Herz der engste. Um sich her zu sehen, Zu ordnen, was man kann, unschuldig zu Genießen, was uns die Vorsicht gönnt, Und dankbar froh hinweg zu gehen: Das ist des Menschen Lebensgeschichte, Nicht Idee, es ist Gefühl.15
Und ein wie das Hirschfeld-Denkmal im Schlossgarten errichtetes „Rindenhäuschen“ mit der ebenfalls von Klauer geschaffenen Büste Goethes enthielt sogar „Denkmäler für Werthern und Marien von Beaumarchais“16 und erwies damit dem der Empfindsamkeit nahestehenden Autor des frühen Briefromans und des Clavigo die Ehre. Wie von Hirschfeld empfohlen, kam Petrarca, dem Becker mehr als zehn Seiten widmet, im Seifersdorfer Tal eine besondere Rolle zu. Als „reizendste[r] Sänger schwärmerischer Liebe, der je gedichtet hat“,17 wurde er durch ein Laura gewidmetes Denkmal gegenüber dem Musen14 W. G. Becker: Das Seifersdorfer Thal, Leipzig, Dresden 1792, S. 22. 15 Ebd., S. 152. 16 Ebd., S. 173. 17 Ebd., S. 32, Anm. Vgl. S. 33 f.: „Petrarca und Laura sind aus gleichen Ursachen, obschon unter verschiedenen Lagen und Umständen, so berühmt geworden als Abelard und Heloise. Liebe hat beide Paare verewiget; aber auf sehr verschiedene Weise. Die Liebe der letztern ward zu einem sinnlichen Rausche, zu einer tobenden Leidenschaft, die, gleich dem brausenden Waldstrome, welchem sich nichts zu widersetzen, den nichts zu hemmen vermag, der alles unaufhaltbar mit sich fortreißt, alle ihre Freuden, ihre ganze Ruhe, die ganze Glückseligkeit ihres irdischen Lebens mit sich in den Abgrund riß. − Petrarca’s Liebe hingegen war ein Hinschweben der Seele in eine geistige Seligkeit; der erhabenste Schwung einer Leidenschaft, welche die noch unsträflichen Sinne in einer unschuldigen Umarmung geboren und Geister des Himmels erzogen hatten; kein bloßes Spiel einer erhitzten Einbildungskraft, sondern wirkliche, einzige Leidenschaft einer trunkenen Seele, von der reinsten Empfindung umflossen; so nahe zuweilen über die sanften Wogen des sinnlichen Entzückens hinwallend,
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tempel, eine auf „Felsenstücken“ stehende „abgebrochene“, „mit Epheu umwunden[e]“ Säule18 sowie eine angebliche Nachahmung seiner „Hütte“ bei Vaucluse mit der Türinschrift „Capanna di Petrarca“ geehrt (nur noch die Grundmauern haben sich erhalten). Gegenüber dem Eingang der Hütte befand sich „Laura’s Bild“,19 an den übrigen Wänden wörtlich aus Hirschfeld übernommene deutsche Prosaversionen dreier Sonette, O du, welches oft von meinen Klagen wiederschallet [!], einsames Thal („Valle, che de’ lamenti miei se’ piena“, Canzoniere, Nr. 301), Wenn ich die Klagen der Vögel, oder das sanfte Geräusch grüner Zweige bey kühlen Sommerlüften („Se lamentar augelli, o verdi fronde / mover soavemente e l’aura estiva“, Nr. 279) und Was machst du? Was denkst du? Warum siehst du noch rückwärts in die Zeit, die niemals mehr zurück kommen kann, trostlose Seele? („Che fai? che pensi? che pur dietro guardi / nel tempo che tornar non pote omai, / anima sconsolata?“, Nr. 27320). Achim Aurnhammer schreibt über das von Becker festgehaltene Gartenprogramm im Zusammenhang des zweiten Petrarkismus zwischen 1750 bis 1850: Im Seifersdorfer Tal erscheint […] Hirschfelds Theorie in die Praxis umgesetzt und das originale Vaucluse in einen poetisch evozierten Erinnerungsort übertragen. Neben Herder-Denkmal, LorenzoHütte und Lorenzo-Grab [nach Sternes Figur in Sentimental Journey through France and Italy] verleiht das Ensemble aus Laura-Grab und Petrarca-Hütte dem Seifersdorfer Tal den Charakter eines poetischen Gartens.21
In Weimar zollte man der Mode empfindsamer Architekturstaffagen schon früh, inspiriert durch Wörlitz und annähernd zeitgleich mit Seifersdorf, Tribut. Felsentreppe, Borkenhäuschen und künstliche Ruine sind im maßgeblich durch Goethe inspirierten Ilmpark noch heute zu besichtigen.22 Auch war man keineswegs immun gegen die gelegentlich etwas wässrige Empfindsamkeit, wie die Jacobi-Inschrift im Ettersburger Park bezeugt. Die Bedeutung Hirschfelds für die frühe Gestaltung der Weimarer Garten- und Parkanund doch so schüchtern, die schmeichelnde Fluth zu berühren; so träumerisch schwärmend, und doch so wahr. Eine solche Liebe konnte wohl sanfte Schwermuth über sein Leben verbreiten, aber es nie mit Reue verbittern: sie veredelte vielmehr seine Gefühle, und gab seinem Geiste die ätherische Heiterkeit, die wir in seinen Gedichten bewundern.“ 18 Ebd, S. 32. 19 Ebd, S. 37. 20 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 4, S. 88-90, Becker leicht abweichend S. 38 f. Für den italienischen Text: Francesco Petrarca: Canzoniere, nach einer Interlinear-Übersetzung von Geraldine Gabor in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, mit Anmerkungen zu den Gedichten von Geraldine Gabor, Frankfurt a. M. 1989, S. 782, 738, 726. 21 Petrarca in Deutschland. Ausstellung zum 700. Geburtstag (20. Juli 2004) im Goethe-Museum in Düsseldorf in Zusammenarbeit mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 18. Juli bis 12. September 2004, Katalog von Achim Aurnhammer, Heidelberg 2004, S. 95. 22 Einschlägig: Susanne Müller-Wolff: Ein Landschaftsgarten im Ilmtal. Die Geschichte des herzoglichen Parks in Weimar, Köln, Weimar, Wien 2007 (zu Tiefurt S. 87–98).
Die Inschriften im Tiefurter Park
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lagen wurde von Goethe noch 1822 hervorgehoben.23 Zugleich aber sahen die großen Weimarer die sentimentale Gedenkkultur schon früh durchaus kritisch. Goethe spottete 1778 im Triumph der Empfindsamkeit: […] Zum vollkommnen Park Wird uns wenig mehr abgehn. Wir haben Tiefen und Höhn, Eine Musterkarte von allem Gesträuche, Krumme Gänge, Wasserfälle, Teiche, Pagoden, Höhlen, Wieschen, Felsen und Klüfte, Eine Menge Reseda und andres Gedüfte, Weimutsfichten, Babylonische Weiden, Ruinen, Einsiedler in Löchern, Schäfer im Grünen, Moscheen und Türme mit Kabinetten, Von Moos sehr unbequeme Betten, Obelisken, Labyrinthe, Triumphbögen, Arkaden, Fischerhütten, Pavillons zum Baden, Chinesisch-Gotische Grotten, Kiosken, Tings, Maurische Tempel und Monumente, Gräber, ob wir gleich niemand begraben, Man muß es alles zum Ganzen haben.24
Schiller, dessen Dresdner Freund Christian Gottfried Körner Seifersdorf 1787 bei aller Wertschätzung „[e]twas voll […] von Innschriften Altären, Büsten und mancherley Hütten“ gefunden hatte,25 distanzierte sich schon im ersten Satz seiner Besprechung Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795 von der durch Hirschfeld beförderten deutschen „Liebhaberei für schöne Kunstgärten“ und ihrem „irregeleiteten Geschmack“: Es fehle an „festen Prinzipien“, „alles“ bleibe „ der Willkür überlassen“. Über die „Fragmentarische[n] Beiträge zur Ausbildung des deutschen Gartengeschmacks“ eines ungenannten „geistreiche[n] Vf.[s]“ − es handelte sich um Gottlob Heinrich Rapp, den ihm persönlich bekannten Schwager seines Jugendfreundes Danecker − schrieb er: Das Urteil […] über […] das Seifersdorfer Tal bei Dresden wird jeder Leser von Geschmack, der diese Anlagen in Augenschein genommen, unterschreiben und sich mit demselben nicht enthalten 23 Im Schema zu einem Aufsatze die Pflanzencultur im Großherzogthum Weimar darzustellen, WA II, 6.1, S. 230. 24 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 2.1: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775–1786 I, hg. von Hartmut Reinhardt, München, Wien 1987, S. 188. 25 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 33, Teil I: Briefwechsel. Briefe an Schiller 1781–28.2.1790, hg. von Siegfried Seidel, Weimar 1989, S. 151.
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können, eine Empfindsamkeit, welche Sittensprüche, auf eigne Täfelchen geschrieben, an die Bäume hängt, für affektiert, und einen Geschmack, der Moscheen und griechische Tempel in buntem Gemische durcheinanderwirft, für barbarisch zu erklären.26
Als barbarisch galt Schiller nach Ausweis der annähernd zeitgleich veröffentlichten Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen nicht der Wilde ohne Kultur, sondern der Zivilisierte, der Kultur zum Werkzeug seiner geschmacklosen Launen erniedrigt und dadurch noch unter jenen zu stehen kommt.27 Goethe und Schiller kannten Beckers Werk über das Seifersdorfer Tal. Schiller empfahl es ironisch dem Freund am 23.12.1795 als „einem so großen Liebhaber von Kunstgärten und sentimentalischen Produktionen“; Goethe antwortete drei Tage später, er kenne die „Abbildung des Seifersdorfer Unwesens“, und fügte abfällig über dessen Urheberin hinzu: „Sie kennen ja wohl die Trude [Hexe], die es bewohnt und die es so ausgeschmückt hat. Wielands Empfang und Bewirtung daselbst im Sommer 1794 gäbe eine vortreffliche Geschichte, wenn er sie aufsetzen wollte, wie er sie erzählt.“28 Auch Wieland hat sich demnach − vermutlich − von Seifersdorf distanziert.29 Wenige Jahre später, 1799, ist in dem von Goethe und Schiller gemeinsam erarbeiteten Schema über den Dilettantismus von der „[p]hantastischen und sentimentalische[n] Nullität“ der dilettantischen „Gartenkunst“ im „[e]nglische[n]“ (bzw. „[c]hinesische[n]“) „Geschmack“ die Rede.30 Der Tiefurter Park erhielt seine heutige Form im Wesentlichen erst durch Eduard Petzold in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In einer Besprechung von dessen Werk Zur Farbenlehre der Landschaft schrieb Pückler, bei dem Petzold in Muskau gelernt hatte, die „glänzende Umwandlung der sehr mangelhaften Anlagen in Tiefurt, wo große Schwierigkeiten zu überwinden waren“, könne als „ein wahres Meisterstück“ angesehen 26 Friedrich Schiller: Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schriften, auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 5. Aufl., München 1975, S. 884–891, hier S. 888 und 891. 27 „Der Mensch kann sich […] auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein.“ Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ebd., S. 570–669, hier S. 579. 28 Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel mit Friedrich Schiller, 2. Aufl., Zürich, Stuttgart 1964 (= Artemis Gedenkausgabe 20), S. 140 f., 144 f. 29 Trotz des Dankesbriefes vom 20.10.1794, vgl. Wielands Briefwechsel, Bd. 12.1: Juli 1792–Juni 1795, 1. Teil: Text. Bearbeitet von Klaus Gerlach, Berlin 1993, S. 341. Vgl. den Brief vom 26.8.1794 an Sophie Katharina Susanna Reinhold, in dem er seiner Begeisterung über die Dresdner Gemäldegalerie Ausdruck verleiht: „Stelle Dir vor […], daß ich zum Anschauen und Genuß aller dieser Magnalium Dei nur 8 Tage hatte“, davon „ein Nachmittag, den sich die Gräfin Tina Brühl vindicierte“. − Ebd., S. 303. 30 Schiller: Über den Dilettantismus, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 1047–1053, hier S. 1050 f.
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werden.31 Diese „sehr mangelhaften Anlagen“ waren seit 1776 maßgeblich durch Knebel, den Erzieher des Prinzen Constantin, dem man Tiefurt zugewiesen hatte, in bescheidenerem Maße auch, seit 1781/82, durch Anna Amalia geschaffen worden.32 Ihren Zustand wenige Jahre vor Petzolds Eingriffen hat Oskar Hensoldt 1844 auf einer kolorierten Handzeichnung festgehalten.33 Petzold ließ, um den „früheren freundlichen Charakter des Ortes wiederherzustellen“, den Tiefurter Baum- bzw. Buschbestand radikal lichten und führte die bereits in den vorausgehenden Jahrzehnten, durch die Verlängerung des Uferweges und das (1948 abgerissene) „Prinzenhäuschen“ in der Nähe des früheren zum Kammergut gehörenden Schafstalls, begonnene Erweiterung zur offenen Landschaft in Richtung Kromsdorf fort. An die Denkmäler als besonders beredte Zeugnisse der „Glanzzeit“ des Sachsen-Weimar-Eisennachschen Hauses rührte er nicht, so sehr er sich ansonsten gezwungen sah, übertriebenen „Pietätsrücksichten“ entgegenzutreten, um die Natur ihr „Werk der Zerstörung“ nicht vollenden zu lassen.34 Schon früh, allerdings sparsamer als im Seifersdorfer Tal und nur schrittweise, war der durch Lage, Kleinheit und Funktion intime und dadurch für empfindsame Tendenzen besonders offene Tiefurter Landschaftsgarten architektonisch, skulptural und durch Inschriften zu einem Ort der Vergewisserung über die selbst gewählten Traditionen, des Gedenkens an unlängst Verstorbene und der Ehrung herausragender Lebender gestaltet 31 Briefwechsel und Tagebücher des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, hg. von Ludmilla Assing, Bd. 9, Hamburg 1876, S. 9. 32 Sie suche, schreibt sie am 23.6.1782 an Knebel, ihr „liebe[s] Tiefurt […] auf alle Art zu verschönern“; am 8.11.1782 versichert sie, sie wolle nicht ruhen, bis sie Tiefurt „in einen (dürft’ ich doch sagen!) beinahe ähnlichen Zustand“ wie Wörlitz gebracht habe; und am 27.10.1783 rühmt sie sich, sie habe „eine ganze Wand von Felsen am Ufer und im Lohholz anbauen lassen“ − K. L. Knebel’s literarischer Nachlaß und Briefwechsel, hg. von K. A. Varnhagen von Ense und Th. Mundt, Bd. 1, Leipzig 1840, S. 190–194. 33 Plan des Großherzoglichen Parks in Tiefurt, 1844, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Kt 100 Weimar 142 E MS. 34 Die Landschafts-Gärtnerei. Ein Handbuch für Gärtner, Architekten und Freunde der Gartenkunst von E. Petzold. Park- und Garten-Director a. D. sr. K. H. weil. des Prinzen Friedrich der Niederlande. Mit 6 erläuternden Figuren, 35 landschaftlichen Ansichten und Abbildungen nach Originalaufnahmen von Friedrich Preller, Professor an der Kunstakademie zu Dresden. Zweite vermehrte und verbesserte Aufl., Leipzig 1888, S. 182 f. Vgl. Huschke und Vulpius: Park um Weimar über die Grundzüge von Petzolds Umgestaltung: „Die Idee des Tiefurter wie des Weimarer Parks […] sah er in dem Idealbild eines von Höhen flankierten Flußtals, im Hügelig-Abwechselnden, wie Goethe es genannt hatte, und dieser Idee widersprach es nach seiner Meinung, daß hochgewachsene Bäume, vor allem Pappeln, im Talgrund standen und dadurch die Niveauunterschiede zwischen Talsohle und Uferhöhe, die möglichst stark in Erscheinung treten sollten, verwischten. In Tiefurt verschwanden verschiedene kleine Anlagen aus der Anna-Amalia-Zeit, so der Blumen- und Gemüsegarten und der Weinberg. Das gesamte Tal wurde zu einem großzügigen, von malerischen Baumgruppen bestandenen Wiesengrund umgestaltet, der sich gegen den leichtbewaldeten Hang des Lohhölzchens stimmungsvoll abhob.“ − S. 67 f.
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worden; auch gedachte man allgemeiner Lebensmächte in Form mythologisch personifizierender Allegorien. So rief die Vergilgrotte (1776), in Anlehnung an das angebliche Dichtergrab auf dem Posilipp bei Neapel, im oberen Lohhölzchen, der östlichen Anhöhe über der Ilm, in Nähe eines − längst verschwundenen − terrassierten Weinbergs den Autor der das Landleben preisenden Bucolica und Georgica ins Gedächtnis; Mozart wurde schon wenige Jahre nach seinem Tod zwischen chinesischem Teehaus und Ilmbrücke das erste Denkmal außerhalb Österreichs mit Lyra sowie einer komischen und einer tragischen Maske gewidmet (1799); und von dem mit Goethe-Versen versehenen Denkmal mit Amor als Nachtigallenfütterer am rechten Ilmufer (1782) nimmt man an, es sei Corona Schröter, die als Schauspielerin und Sängerin die Hauptrolle in Goethes am Tiefurter Ilmufer uraufgeführten „Fischerin“ gespielt und dabei eine eigene Vertonung des „Erlkönigs“ gesungen hatte, einer zum Zeitpunkt der Denkmal-Errichtung noch Lebenden also, gewidmet. (Nach Bettina Seyderhelm allerdings, die in ihrer Monographie zum frühklassizistischen Denkmal ausführlicher auch auf einige Tiefurter Monumente eingeht, handelt es sich eher um ein − der früher im Garten aufgestellten Kaunus und Biblis-Gruppe, 1780, oder der Polyhymnia im neuen Musentempel, 1803, vergleichbares − Amor-Denkmal ohne bestimmten personalen Bezug.35) Nicht alle Denkmäler und Inschriften aus der Frühzeit des Tiefurter Parks haben sich erhalten. Diejenigen, die ihn heute schmücken, stammen zwar aus der Zeit Knebels und Anna Amalias, sind aber vielfach ausgebessert und ganz oder teilweise durch Kopien ersetzt worden; auch stehen sie, wie das Mozart-Denkmal, das um 80 Meter nach Süden versetzt wurde, nicht unbedingt mehr am ursprünglichen Ort. Für die Kopien wurde regelmäßig ein anderer Schrifttyp gewählt, selbst Text und Interpunktion sind nicht mehr unbedingt die der ursprünglichen Fassungen. Am östlichen Uferweg der Ilm befanden sich von Klauer geschaffene Büsten Wielands, Goethes und Herders (178236), für die der Franzose Villoison, der sich zu altphilologischen Studien in Weimar aufhielt und 1783 seine Epistolae vinarienses veröffentlichte, ziemlich pompöse Inschriften verfasst hatte (zu Recht sprach Anna Amalia, die ihn um Vorschläge gebeten hatte, von Villoisons Neigung zu „Superlativen37). Die Inschrift zu Wieland lautete:
35 Seyderhelm weist im Übrigen darauf hin, dass Goethe die „Innschrift“-Verse zuerst in leicht abweichender Form unter dem Titel Der Nachtigall am 26.5.1782 Charlotte von Stein gewidmet hatte (WA IV, 5, S. 334; die Tiefurter Version in WA II, 1, S. 128). Erstdruck Auf eine Bildsäule im Garten zu Weimar, welche eine Nachtigall vorstellt, die von einem Amor geätzt wird, in den Ephemeriden der Literatur und des Theaters, 19. Stück, 7.5.1785; spätere Drucke unter dem Titel Philomele; vgl. Bettina Seyderhelm: Studien zur Denkmalkunst des Frühklassizismus. Kunstgeschichtliche Untersuchungen zu Goethes Denkmalsentwürfen und zu den Denkmälern der Künstler seines Umkreises, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 290 f. 36 Vgl. Anna Amalias Brief an Knebel vom 23.6.1782: „Sie müssen wissen, dass ich unsern drei Genien ihre Büsten in dem Lohhölzchen aufgestellt habe“ – K. L. Knebel’s literarischer Nachlaß, Bd. 1, S. 190. 37 Ebd.
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Iupiter in terris dixisset voce Platonis, Voce Wielandi diceret ipse Plato, Moconiusque senex, Ariostus, & ille sepultis Qui falsas voces ingeniumque dedit.38
Auch die Inschrift zu Goethe scheute nicht vor dem Vergleich mit einem der größten antiken Autoren zurück: Augusto & Musis charus, tractavit amores Lethiferos iuvenum, fortia facta ducum, Atque pari ingenio commissa negotia, doctæ Maecenas Aulæ Virgiliusque simul. 39
Und die zu Herder rückte den Gepriesenen seiner Sprache wegen in die Nähe der von ihm in ihrer erhaben-poetischen Sprachmächtigkeit herausgestellten alttestamentlichen Propheten: Grandiloquos reddit vultu & sermone prophetas Herderus, atque alto fervidus ore ruit. Nil mortale sonat, nec iam mortalis imago Cernis ut ardenti numine plena micat.40
Erst 1804, nach Herders Tod also, wurde der heute noch vorhandene Gedenkstein errichtet, auf dem ein Schmetterling als Symbol der vom Leib befreiten Seele die Unsterblichkeit des Verstorbenen bezeugt; die Zeitgenossen könnten in diesem Schmetterling nicht
38 Epistolae vinarienses in quibus multa Græcorum scriptorium loca emendantur ope librorum ducalis bibliothecæ et cura Io. Bapt. Casp. D’Ansse de Villoison …, Turici 1783, S. 71 (ebd. auch die folgenden Vorschläge für Inschriften). In der Übersetzung Bernd Mendes: „Jupiter hätte auf Erden mit Platons Stimme gesprochen, mit der Stimme Wielands würde Platon selbst reden, und Moconius, Greis [der Greis Moconius], Ariostus, und jener, der den Toten falsche Stimmen und Begabung gab.“ − Bernd Mende: In steinerne Tafeln eingegraben. Parkinschriften in Tiefurt und Weimar aus denkmalpflegerischer Sicht, in: Anna Amalia, Carl August und das Ereignis Weimar, hg. von Hellmuth Seemann, Göttingen 2007, S. 315 (= Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2007). 39 Mende: In steinerne Tafeln eingegraben, S. 314: „Augustus und den Musen lieb handelte er über todbringende Liebschaften junger Menschen, über tapfere Taten der Fürsten und über bewältigte Aufgaben mit gleichem Genie, gleich Maecenas und Vergil für den gelehrten Fürstenhof.“ 40 Ebd.: „Die großartigen Propheten gibt durch Mimik und Sprache Herder uns zurück, und tönt leidenschaftlich mit erhabenem Munde. Nichts Sterbliches erklingt, auch nicht siehst du mehr ein sterbliches Antlitz, wie er voll von brennendem göttlichen Wesen strahlt.“
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nur das bereits in der Antike gebräuchliche Symbol, sondern auch eine Reminiszenz an das von Herder übertragene Lied vom Schmetterlinge gesehen haben.41 Während in Seifersdorf trotz aller familiären Bezüge und der Denkmäler für Petrarca oder Sterne vorzugsweise eine nationale Memorialkultur gepflegt wurde, haben die Tiefurter Monumente fast durchweg einen persönlichen, teilweise ausgesprochen intimen Charakter. Herder und Wieland waren oft im Tiefurter Kreis Anna Amalias zu Gast; dieser wurde, 1805, durch eine Büste Schadows, anstelle der früheren von Klauer, auf seinem Lieblingsplatz am rechten Ilmufer geehrt, jenem schon ein Jahr nach seinem Tod ein Gedenkstein errichtet, der ebenfalls an Stelle eines ersten Denkmals trat. Das Leopold-Monument (1786) gilt dem Bruder Anna Amalias, der Constantin-Kenotaph (1795) dem jüngeren der beiden Söhne der Herzogin, der Tiefurt in den Jahren von 1776 bis 1781 bewohnt hatte. Mozart hielt sich zwar nie an der Ilm auf, doch war er der vielgespielte Lieblingskomponist der Weimarer; Goethe, der den Siebenjährigen in Frankfurt erlebt hatte, dachte an eine Fortsetzung der „Zauberflöte“, in der Trauerfeier für Schiller erklang das „Requiem“. Auch zu Vergil bestand ein über die allgemeine zeitgenössische Wertschätzung hinausgehender Bezug, hatte er Knebel doch, der sich auch als Übersetzer der Georgica versuchte,42 als maßgebliche antike Orientierung bei der Umgestaltung Tiefurts in ein zeitgenössisches Arkadien gedient,43 zu dem auch landwirtschaftliche Tätigkeiten wie Bienenzucht und Weinbau gehörten. Sollte das Amor-Denkmal tatsächlich Corona Schröter gewidmet gewesen sein, so läge der persönliche Bezug auf der Hand; auch an die von Carl August mit großer Härte verhinderte Verbindung seines lange Jahre in Tiefurt lebenden Bruders Constantin mit der geliebten Caroline von Ilten wäre im Übrigen zu denken. Nicht persönlicher als die Seifersdorfer Inschriften, doch spezifischer auf die örtlichen Tiefurter Gegebenheiten − den „genius huius loci“ − bezo41 „DAS LIED VOM SCHMETTERLINGE / Deutsch // Liebes, leichtes, luftges Ding, / Schmetterling, / Das da über Blumen schwebet, / Nur von Tau und Blüten lebet, / Blüte selbst, ein fliegend Blatt, / Das mit welchem Rosenfinger! / Wer bepurpurt hat? // Wars ein Sylphe, der dein Kleid / So bestreut, / Dich aus Morgenduft gewebet, / Nur auf Tage dich belebet; / Seelchen und dein kleines Herz / Pocht da unter meinem Finger, / Fühlet Todesschmerz. // Fleuch dahin, o Seelchen, sei / Froh und frei / Mir ein Bild, was ich sein werde, / Wenn die Raupe dieser Erde, / Auch wie du ein Zephir ist, / Und in Duft und Tau und Honig / Jede Blüte küßt.“ − Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1990, S. 407 f. 42 Vgl. den unter dem Titel Lob des Landvolks. Aus dem zweyten der Bücher des Virgils vom Feldbau veröffentlichten Auszug im Journal von Tiefurt −„Es ward als ein Wochenblatt zum Scherze angefangen“. Das Journal von Tiefurt, hg. von Jutta Heinz und Jochen Golz unter Mitarbeit von Cornelia Ilbrig, Nicole Kabisius und Matthias Löwe, Göttingen 2011, S. 212–216, Kommentar S. 536–541 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft 74). 43 Vgl. das Begleitheft zur Ausstellung Arkadien. Geschichten eines europäischen Traumes, Weimar 2007 sowie Siegfried Seifert: „Tifforte, sede amabile / Di quella gioia vera …“. Tiefurt als weimarisches Arkadien, in: Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach und die Italien-Beziehungen im klassischen Weimar, hg. von Peter Kofler, Thomas Kroll und S. S., Bozen 2010, S. 175–204.
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gen sind schließlich auch die Matthissonsche Oden-Strophe,44 die den früheren Parkeingang in der Nähe der Ilm geschmückt haben soll (frühestens 1792), und das Knebel bzw. Goethe zugeschriebene Distichon auf einem unscheinbaren Stein im südlichen oberen Lohhölzchen (vor 1781 [?]). Im Vergleich mit den von Hirschfeld vorgeschlagenen und den in Seifersdorf realisierten Inschriften sind die Tiefurter bewusst knapp gehalten. Damit wurde in Abwendung von barockem und anakreontischem Wortreichtum die Tradition antiker Epigraphik fortgeführt und dem in der Regel begrenzten Raum Rechnung getragen, der weitschweifigen Versen entgegenstand. Zugleich handelte es sich aber um eine sehr bewusste Wahl, die in der epigraphischen, gegebenenfalls epigrammatischen Kürze bewusst ein lakonisches Gegengewicht zum akzentuiert persönlichen Bezug der Denkmäler suchte. Goethe hatte für das Leopold-Denkmal drei Distichen vorgeschlagen, die darauf Bezug nehmen, dass der Betrauerte beim Versuch, durch Hochwasser Gefährdete zu retten, ertrunken war, was seinerzeit als Ausdruck der ganz ungewöhnlichen Humanität eines Herrschers großes Aufsehen erregt und Chodowiecki zu einem eigenen Blatt, „Herzog Leopold von Braunschweig geht seinem Tode in der Oder entgegen“45, veranlasst hatte: Dich ergriff mit Gewalt der alte Herrscher des Flusses Hält dich und teilet mit dir ewig sein strömendes Reich. Ruhig schlummerst du nun beim stilleren Rauschen der Urne, Bis dich stürmende Flut wieder zu Taten erweckt. Sei dann hülfreich dem Volke, wie Du es Sterblicher wolltest, Und vollend’ als ein Gott, was Dir als Menschen mißlang.46
Herder seinerseits wählte in seinen drei alternativen Vorschlägen dasselbe aus der Antike übernommene metrische Muster. Stärker als Goethe nahm er auf die Umstände von Leopolds Tod Bezug und stellte die Wahl zwischen einer von allen verwandtschaftlichen
44 Nach Mende: In steinerne Tafeln eingegraben, S. 313, Anm. 10 lässt erstmals ein handschriftlicher Vermerk Alfred Jerickes vom 24.2.1956 auf die erneuerte Kenntnis von Jacobis Verfasserschaft schließen (GSA, I A 715). 45 Abb. 67b bei Huschke und Vulpius: Park um Weimar. 46 Johann Wolfgang Goethe: Münchner Ausgabe, Bd. 2.1, S. 102. Ebd, S. 604: „In Abschriften Herders und Luises von Göchhausen: ‚Werde dann hilfreich den Menschen wie du es Sterblicher warest / Den wir als Krieger geehrt, herzlich als Bruder geliebt.‘ […] In einer Einzelhandschrift Goethes: ‚Werde dann hilfreich den Menschen, und was du Sterblicher wolltest, / Führe Unsterblicher aus, bändige Wellen und Not!‘“
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Bezügen zu Weimar absehenden,47 einer sie distanziert ansprechenden48 und einer betont persönlichen Variante anheim. In dieser wurden Anna Amalia die Worte in den Mund gelegt: Hier am rauschenden Strom sei Dir mit Thränen der Liebe dies Andenken geweiht, liebender Bruder, Dir. Menschen zu retten wagetest Du Dein blühendes Leben gingst in der tödtenden Fluth helfend zum Himmel hinauf, Jetzt ein Genius. Sieh, die Thräne der liebenden Schwester guter Genius, hier, wo Dich die Welle beklagt.49
Weder die Goetheschen noch die Herderschen Distichen kamen zur Ausführung. Stattdessen wurde die schlichte Inschrift DEM VEREWIGTEN LEOPOLD ANNA AMALIA
gewählt, deren gesteigerter Lakonismus ein Gegengewicht zum persönlichen, nur durch die Abfolge der Vornamen betonten Bezug bildet, hinter dem die Umstände von Leopolds Tod vollständig in den Hintergrund treten. Für die Inschrift auf dem Kenotaph für Constantin, Carl Augusts jüngeren Bruder, der im September 1793 im Feldlager bei Saarbrücken an der Ruhr gestorben war, hatte Knebel Anna Amalia zwei Vorschläge − es handelte sich wiederum um Distichen − gemacht: „In dem Thale, wo du den Lenz der Jahre genossest, / Bleib’, o seliger Geist, liebend den Deinigen nah.“ Und: „Welle folget der Welle und klagt dem freundlichen Ufer, / Und so klaget mein herz [!] auch dem Geliebteren nach. / Ach, frühzeitig riss ihn hinab die Woge des Schicksals, / Und mein Leid blieb mir hier bey den Schatten
47 „‚Laßt uns helfen den Armen! Auch wir sind Menschen!‘ So sprach er / und stieg muthig voran in den errettenden Kahn. / Und da sprachen die Götter: ‚Dem Menschenfreundlichen Helden / ziemet ein höheres Loos. Komm zum Olympus hinauf, / Tyndaride!‘ Da stürzte der Kahn, da stieg er zum Himmel, / jetzt ein glänzender Stern oder ein rettender Geist.“ − Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan. Bd. 29: Poetische Werke, Bd. 5, hg. von Carl Redlich, Berlin 1889, S. 646. 48 „Andre zu retten, bestieg er den Kahn des Todes. Die Nymphen / trugen den heiligen Leib traurig zum Ufer hinan. / Menschen-errettender Held! Der Kranz den die Nymphen Dir wanden, / grünet in blassem Grün, glänzet von Thränen bethaut, / Die Dir Mutter und Brüder und Schwestern und Helden und Freunde / weinen. Den Kranz im Olymp winden die Gratien Dir.“ − Ebd., S. 646 f. 49 Ebd., S. 646.
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zurück.“50 Anna Amalia erschien der kürzere Text, der die Trauer der Zurückgebliebenen ganz in den Hintergrund treten lässt, „passender für den Verstorbenen und Hinterlassenen zu sein, und auch einfacher“. Doch dann folgte sie dem Vorschlag Goethes, den sie wegen einer Inschrift nicht hatte fragen wollen, weil er „sich nicht mehr mit solchen Sachen abgeben zu wollen scheint“,51 sei es, weil dieser von sich aus die Initiative ergriffen, sei es, dass sie ihre ursprüngliche Scheu aufgegeben hatte. Die nun auf der Vorderseite und den Schmalseiten des Kenotaphs zu lesenden Worte sind ähnlich lakonisch wie die auf dem Leopold-Denkmal gehalten. Zwar werden, unterstützt durch Flachreliefs mit Helm und Lyra, durch die Angaben IM ZWEITEN JAHRE DES UNSELIGEN KRIEGES DER AUCH IHN HINWEGNAHM und DEN GEBILDETEN JÜNGLING DEN WERDENDEN MANN ENTRIS DIE PARZE
in knappster Form die Umstände des Todes und die musischen Neigungen des Verstorbenen angesprochen. Auch verleiht die mit zwei fackelhaltenden Eroten gerahmte Inschrift auf der Vorderseite des Kenotaphs − IHREM ZWEYTEN UND LETZTEN ZU FRÜH ABGESCHIEDENEN SOHN CONSTANTIN TRAUERND AMALIE −
mit der steigernden Aufzählung in der zweiten und dritten Zeile, dem Partizip Präsens der vorletzten, um dem im Vergleich zu „[Anna] Amalia“ um eine Nuance intimeren „Amalie“ ebenso wie die Worte vom „gebildeten Jüngling“ / „werdenden Mann“, die den frühen Tod eines noch nicht zur Reife Gekommenen ansprechen, stärker der Trauer um den Verstorbenen Ausdruck. Doch wird der hier hervortretende persönliche Aspekt durch 50 Joachim Berger: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739–1807). Denk- und Handlungsräume einer aufgeklärten Herzogin, Heidelberg 2003, S. 220. 51 K. L. Knebel’s literarischer Nachlaß, Bd. 1, S. 206 (Anna Amalia am 5.7.1796 an Knebel).
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die Erwähnung des „unseligen Krieges“, der das individuelle Schicksal in den Zusammenhang des ersten Koalitionskrieges gegen das revolutionäre Frankreich stellt,52 und durch die mythologische Rede von der „Parze“, die Constantin „entris“, ein Gegengewicht geschaffen. Dass Anna Amalia sich zunächst für die kürzere − die „einfacher[e]“ − der von Knebel vorgeschlagenen Inschriften und dann für die Goethesche entschied, ist einem sprachästhetischen Willen geschuldet, der noch den existentiellsten Schmerz nur zurückhaltend − epigrammatisch-lakonisch, gedämpft, historisch oder mythologisch allgemeiner bezogen − laut werden lässt und ihm dadurch stärker Ausdruck verleiht als es wohlfeile empfindsame Reime oder auch die eigene Trauer in den Vordergrund stellende Distichen vermöchten. Von bemerkenswertem Lakonismus sind auch zwei weitere Tiefurter Inschriften: die auf dem Mozart-Denkmal, das nach den alliterierend wie rhythmisch parallelisierenden Worten „MOZART / UND DEN MUSEN“ eigentlich ein Mozart- und Musendenkmal heißen müsste, gerade wenn man darin die antike Vorstellung von den Musen, die den Künstler inspirieren, wiederfindet,53 und die auf dem für Herder, das als Inschrift lediglich den Nachnamen des Geehrten trägt:54 Mit dieser extrem lakonischen Kürze wie mit dem pyramidalen Fels-Arrangement, auf dem die Schrifttafel eingelassen ist − Fels als Sinnbild für Standhaftigkeit und Ausdauer − , kommt das Herder-Denkmal in die Nähe des 1782 dem Dessauer Fürsten im Weimarer Ilmpark errichteten und 1787 mit den Worten „FRANCISCO / DESSAVIAE PRINCIPI“ versehenen zu stehen.55 In anderer Weise als die lakonischen Inschriften auf den Monumenten für Leopold und Constantin, Mozart und Herder heben sich die auf dem Denkmal mit Amor als Nachtigallenfütterer und unter der Wielandbüste von der durch Hirschfeld vorzugsweise 52 „Unselig“ mag sich dabei nicht nur auf Verlauf und Folgen des Krieges beziehen, sondern einem weitergehenden Unbehagen Anna Amalias Ausdruck verleihen. Vgl. dazu Berger: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 288: „[…] Dabei erhob sie sich nicht uneingeschränkt zur Parteigängerin des antirevolutionären Preußen. Denn im Gegenzug verurteilte sie schon 1792 die preußischösterreichische ‚Campagne‘ in Frankreich als ‚mauvaise et perilleuse [sic] entreprise‘. Auch das Manifest Carl Wilhelm Ferdinands [ihres ältesten Bruders] an die Pariser Bevölkerung kritisierte Anna Amalia.“ 53 „Durch seine Doppelwidmung wird das Monument zum Denkmal für das verdienstvolle große Individuum Mozart und zugleich zu einem Symbol der sich in seinem Genius offenbarenden überindividuellen geistigen Kräfte.“ − Seyderhelm: Studien zur Denkmalkunst des Frühklassizismus, Bd. 1, S. 322. 54 Nach Thomas C. Starnes hatte Anna Amalia gewünscht, ihr gewidmete lateinische Verse des Erzbischofs von Tarent Giuseppe Capecce-Latro zum Tode Herders auf dessen Grab (!) „zusammen mit einer deutschen Übersetzung des Gedichts im Merkur zu sehen“ − Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, Bd. 3: Der Dekan des deutschen Parnasses 1800–1813, Sigmaringen 1987, S. 180. Diese Übersetzung, für die sie die Form der Elegie wählte, fertigte sie dann selber an, Wieland verbesserte sie und rückte sie mit einer erläuternden Anmerkung in den Neue[n] Teutsche[n] Merkur ein. Vgl. 8. Stück, Stimme aus Italien über Herders Tod, August 1804, S. 237–241. 55 Seyderhelm: Studien zur Denkmalkunst des Frühklassizismus, Bd. 1, S. 239, 242.
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empfohlenen und in Seifersdorf geradezu seriell umgesetzten Empfindsamkeit ab. Die von Goethe stammenden Distichen Dich hat Amor gewiSS, o SAEngerin, fütternd erzogen Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost: SCHLUERFEND SAUGTEST DU GIFT IN die harmlos atmende Kehle UND mit der Liebe Gewalt TRIFFT Philomele das Herz.56
stellen die Erfahrung der beseligend-zerstörerischen Gewalt der Liebe, die im petrarkistischen und shakespearschen Oxymoron einen zwar rhetorisch-artifiziellen, doch vergleichsweise expressiven Ausdruck gefunden hatte, in einen mit „Amor“ und „Philomele“57 aufgerufenen antik-mythischen Zusammenhang. Überdies verlangen sie dem Leser die Anstrengung ab, in der Abfolge der beiden Distichen die Ersetzung des traditionellen Bildes vom Pfeile sendenden Amor durch die von Amor mit dem Pfeil „fütternd erzogen[e]“ Nachtigall nachzuvollziehen, deren Gesang erst „Gift“ in das „Herz“ des Liebenden tröpfelt.58 In Verbindung mit dem mythischen Anspielungshorizont verleiht das dadurch bewirkte reflexive Innehalten der zwiespältigen Erfahrung der Liebe einen deutlich zurückgenommeneren, gedämpfteren Ausdruck, als es bei einem längst konventionalisierten Oxymoron wie „süße Qual“ der Fall gewesen wäre. Auch unter der Schadowschen Wieland-Büste, die an die Stelle der Klauerschen trat, sind Verse Goethes zu lesen, wobei die Verse, in diesem Fall Hexameter, aus Platzgründen
56 1971 angebrachte, heute zu lesende titellose Fassung. Titelvarianten: Der Nachtigall, Auf eine Bildsäule im Garten zu Weimar, welche eine Nachtigall vorstellt, die von einem Amor geätzt wird, Philomele. Zum komplizierten Textbefund vgl. Münchner Ausgabe, Bd. 2.1, S. 87 und 590 bzw. Mende: In steinerne Tafeln eingegraben, S. 317 f. 57 Zu Philomele s. Ovid: Metamorphosen VI, 438-674. Vgl. Knebels 1794 entstandenes Gedicht Philomela in Tiefurt, in dem ein Geier dem „lieblichen Sänger“ „die blutende Brust“ aufreißt, wodurch ein allegorischer Zusammenhang mit der Französischen Revolution hergestellt wird: „Aber der Menschen holdes Geschlecht; wie seh’ ich sie traurig / Jene Gefilde durchwandeln! − Wie fremd am Blick und von Ansehn! / Wohin kehrt sich ihr trüberes Aug’? Ach, hin zu den Scenen / Voll des Mordes und Bluts! − O ruft die Sinne zurücke! / Warum sie tauchen in Gräul und Elend der Menschen? Wer wird euch / Künftig erwecken die Brust zu sanfteren, holderen Gefühlen? / Wird denn das beste Glück des Lebens, die Freiheit, so theuer / So mit strömen des Bluts erkauft? Wer wird sie erkennen, / Wer die schmalere Grenze, wo Recht sich scheidet vom Unrecht?“ − K. L. Knebel’s Literarischer Nachlaß, Bd. 1, S. 20–22, hier S. 21. Auch im 22. Stück des Journal[s] von Tiefurt war ein Gedicht An die Nachtigall erschienen, dessen Verfasser allerdings nicht sicher identifiziert werden konnte, vgl. „Es ward als ein Wochenblatte zum Scherze angefangen“, S. 190 f., Kommentar S. 516. 58 In der am 26. 5. 1782 an Frau von Stein gesandten Fassung unter dem Titel Der Nachtigall lautete der letzte Vers. „Denn wie Cypriens [Aphrodites] Sohn [Amor] trifft Philomele das Herz.“ − Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756–1799, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 1. Abt., Bd.1, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 1053.
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jeweils auf zwei Zeilen verteilt wurden. Der 1971/72 angebrachte Text, wie er heute in Tiefurt zu lesen ist, folgt der Ausgabe letzter Hand von 1826: Wenn zu den Reihen der Nymphen, Versammelt in heiliger Mondnacht, Sich die Grazien heimlich Herab vom Olympus gesellen, Hier belauscht sie der Dichter Und hört die schönen Gesänge, Sieht verschwiegener Tänze Geheimnisvolle Bewegung. Was der Himmel nur Herrliches hat, Was glücklich die Erde Reizendes immer gebar, Das erscheint dem wachenden Träumer. Alles erzählt er den Musen, Und daß die Götter nicht zürnen, Lehren die Musen ihn gleich Bescheiden Geheimnisse sprechen.
Nach Wahl, der keine Quelle nennt, schmückten die von Goethe am 15.5.1782 an Knebel geschickten, mit „Geweihter Platz“ überschriebenen Hexameter, möglicherweise aber auch seine Distichen Ländliches Glück59 zuvor das Innere der Vergil-Grotte.60 Für ihre Platzierung unter der Wieland-Büste Schadows noch in den letzten Lebensjahren Anna Amalias gibt es keine Belege, doch Abschriften Herders (Auf Wielands Büste) und Luise von Göchhausens (Unter Wielands Büste im Garten zu Tiefurt) legen es nahe.61 Dem Wieland-Denkmal kommt wegen der besonderen Neigung dieses Dichters zu Tiefurt, seiner engen Verbundenheit mit Anna Amalia und der Aufstellung auf dem Lieblingsplätzchen des Dichters am östlichen Ilmufer ein gesteigert intimer Wert zu. Auch in diesem Fall aber schuf bzw. intendierte Goethe dazu ein Gegengewicht, indem er das mythologische Wissen von den inspirierenden Musen aufruft, alsbald aber − wie schon den Amor- und den Philomele-Mythos − in besonderer Weise akzentuiert: Der Dichter „belauscht“ und beobachtet die irdischen Nymphen und die vom Olymp herabgestiegenen Grazien und teilt seine danach aus „Erde und „Himmel“ gewobene 59 „Seid, o Geister des Hains, seid o ihr Nymphen des Flusses, / Eurer Entfernten gedenk, und euren Nahen zur Lust! / Jene feierten erst hier still die ländlichen Feste / Wir beschleichen geheim auf ihren Pfaden das Glück / Amor wohne mit uns, es macht der himmlische Knabe / Gegenwärtige lieb und die entfernten euch nah.“ − Münchner Ausgabe, Bd. 2.1, S. 76. 60 Hans Wahl: Tiefurt. Mit 36 Abbildungen, Leipzig o. J. [1929], S. 51 f. 61 Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.1, S. 1053.
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Erzählung den Musen mit; deren inspirierende Rolle aber, wie Wieland selbst sie im berühmten Oberon-Eingang aufgerufen hatte, bleibt darauf beschränkt, „bescheiden Geheimnisse sprechen“ zu lehren und damit den Dichter einer Ästhetik der Diskretion zu verpflichten, in der sich, bei allen Unterschieden, der Verfasser der Inschrift mit dem Adressaten einig weiß. Eine Sonderstellung unter den Tiefurter Inschriften kommt den Matthisson-Versen und den entweder von Goethe oder dem Goethe-Freund Knebel stammenden Distichen im oberen Lohhölzchen zu, weil beide in gesteigerter Weise den besonderen Anmutungsqualitäten des Parks im Ilmbogen entspringen. Wenn man den Park heute, wie die meisten Besucher, vom Parkplatz neben Kammergut und Schlösschen aus betritt, sieht man, leicht nach links versetzt, einen schlichten Travertinstein mit der Inschrift HIER WOHNT STILLE DES HERZENS, GOLDENE BILDER STEIGEN AUS DER GEWÄSSER KLAREM DUNKEL HÖRBAR WALTET AM QUELL DER LEISE FITTIG SEGNENDER GEISTER
Darunter die Verfasserangabe:
FRIEDR. v. MATTHISON
Die Inschrift, von der erstmals 1899 die Rede war,62 soll am früheren Eingang des Parks, an der heutigen Busschleife, zu lesen gewesen sein.63 Der Verfasser der Verse war lange in Vergessenheit geraten. Seine Wiederentdeckung, vermutlich erst 1956, dürfte zwischen 1957 und 1963 den Anstoß dazu gegeben haben, den Stein neben dem Schlösschen aufzustellen, wobei man mit der falschen Schreibung des Autornamens, der metrischen Änderung von „goldne“ in „goldene“ und der Platzierung weitab von der Ilm recht nachlässig und gedankenlos ans Werk ging, verweisen die Verse doch unmissverständlich auf das nahe Flüsschen. Unter den Tiefurter Inschriften kommt Matthissons Versen auch insofern eine Sonderstellung zu, als sie, möglicherweise als einzige nicht von Anfang an dem Park zugedacht, einem größeren Textzusammenhang entnommen sind. Ursprünglich bilden sie die mittlere Strophe einer sapphischen Ode und können frühestens 1792, als Matthisson Knebel besuchte,64 bzw. 1794, dem Jahr des Erstdrucks, den früheren Parkeingang geschmückt haben. Der vollständige Text lautet in der ursprünglichen Fassung:
62 In: Weimar in Wort und Bild. Eine Sammlung von Ansichten und Bildern, verbunden durch Aussprüche und Gedichte von Denkern und Dichtern. Zweite, vermehrte Aufl., Jena 1899; vgl. Mende: In steinerne Tafeln eingegraben, S. 312. 63 Die 1966 beim Bau der Busschleife an den westlichen Ilmuferweg versetzten Torpfeiler stammen aus dem Jahr 1852. 64 Reinhard Krause: Park Tiefurt ab ca. 1775, in: Tiefurt 1206, o. O. o. J. (Weimar 2006), S. 49.
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VAUKLÜSE. 1792. Einsam grünender Ölbaum, der am wilden Moosgesteine sich traurend hinbeugt, athme Kühlung über den Fremdling; Sommergluten Sprühte der Maitag. Hier wohnt Stille des Herzens; goldne Bilder Steigen aus dem [!] Gewässer klarem Dunkel; Hörbar waltet am Quell der leise Fittig Segnender Geister. Fleuch, des Künftigen Traum! verwallt in Nebel, Eitle Schattengebilde des Vergangnen! Einen Tropfen der Lethe nur, und Psyche Schauert vor Wonne.65
In einer langen Anmerkung klärte Matthisson seine Leser durch ein französisches Zitat darüber auf, was es mit dem ersten Teil des Titels auf sich hatte.66 Dass mit „Vauklüse“ und dem „Quell“ zugleich, auch ohne ihre Namen, Petrarca und Laura aufgerufen sind, daran ließ er keinen Zweifel. Immer wieder hatte er die beiden in seinen Gedichten heraufbeschworen, etwa in der Ode Lauras Quelle, der Petrarcas Verse „Chiare, fresche e dolci acque / Ove le belle membra [!] / Pose colei, che sola a me per donna, / Date udienza -- / Alle dolenti mie parole estreme!“ als Motto voranstehen.67 Wie aber ist zu erklären, dass für den Tiefurter Parkeingang noch um 1800 Verse eines so stark der Empfindsamkeit verpflichteten Autors wie Matthisson gewählt wurden? Hans Christoph Buch hat die von ihm aus einer Werkausgabe von 1912 mit dem Titel Vauklüse wiedergegebene Ode auf Grund des Entstehungsjahres 1792 und des Verses „Am Strand der Seine tobt Gewittersturm“ in dem 1792 veröffentlichten Gedicht Der Genfer-
65 Gedichte von Friedrich von Matthisson, 3., vermehrte Aufl., Zürich 1794, S. 51; „dem“ zu „der Gewässer“ in der 4. Aufl. der Gedichte, Zürich 1797, korrigiert (S. 57). 66 Gedichte 1794, S. 155–157: „Vaucluse est un de ces lieux où il semble que la nature aime à se montrer sous une forme singuliere [!]. Dans cette belle plaine de l’île qui ressemble à la vallée de Tempe, du côté du Levant, on trouve un petit vallon terminé par un demicercle [!] de rochers d’une élévation prodigieuse, qu’on diroit avoir été tailler [!] perpendiculairement. Le vallon est renfermé de tout côté par ces rochers qui forment une espece [!] de fer à cheval, de façon qu’il n’est pas possible d’aller au-delà; c’est ce qui lui a fait donner le nom de Vaucluse (Vallis clausa).“ − „Mémoires pour la vie de François Petrarque [!]. Tome I. p. 340“. 67 Ebd., S. 125 f.
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see68 ein „doppelbödiges Idyll“ genannt; der friedlich-stille Raum, den es evoziert, zeuge indirekt von den politischen Leidenschaften, deren der Dichter in Lyon auf der Reise zu Petrarcas Refugium ansichtig geworden sein musste. „Hinter der Naturidylle“ lauerten „Tod und Vergänglichkeit“, „der harmonische Wohlklang der Poesie“ diene als „Vergessensdroge, um die Schrecken der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft aus dem Gedächtnis zu tilgen“. „Vielleicht“ sei dies der Grund gewesen, „warum Gottfried Benn das Gedicht besonders schätzte und seinem Freund Oelze fast überschwänglich dankte für die Mitteilung der ‚schönen Verse‘.“69 Matthissons mittlere Strophe, die heute in Tiefurt zu lesen ist, verschweigt mit dem Titel ihren ursprünglichen örtlichen und zeitlichen Bezug. Gleichwohl dürfte sie dem zeitgenössischen Leser durch das eingangs betonte deiktische „Hier“, in der die „Stille des Herzens“, die den Besucher ergreift, mit dem „leise[n] Fittig / Segnender Geister“, dem Auszeichnenden des Ortes, korrespondiert, dessen idyllisch-idealischen Gegencharakter und das EpiphanischAugenblickshafte seiner Erfahrung bewusst gemacht haben: Im „Hier“ schwingt das „Dort“, die Welt jenseits Tiefurts, mit, die in den 1790er Jahren und den folgenden anderthalb Jahrzehnten durch leidenschaftliche Erregung und Schreckensbilder geprägt war. Unübersehbar zeugte davon in Tiefurt selbst, nur einige hundert Meter weiter, die Inschrift auf dem Constantin-Kenotaph. 1806, nach Jena und Auerstedt, wurde auch Tiefurt geplündert. Zwei Jahre nach Entstehung der Ode hat Schiller Matthisson, der ein zeitgenössischer Lieblingsdichter war, positiv rezensiert, dabei freilich einschränkend von den „bescheideneren Kreisen“ gesprochen, in denen er bislang „seine Schwingen versucht“ habe, und empfohlen, „einen höheren Flug zu nehmen“ und „zu seinen Landschaften nun auch Figuren zu erfinden und auf diesen reizenden Grund handelnde Menschheit aufzutragen“.70 In diesem Vorbehalt trifft er sich mit Goethes kritischem Blick auf die Empfindsamkeit allgemein und speziell auch auf Matthisson. In seinem Brief vom 31.8.1798 kommt Schiller ihm darin entgegen, indem er ihm zugesteht, dass die „Herren Conz, Matthisson und andern“ „gewisse Stimmungen“ Goethescher Gedichte aufnähmen, dabei aber als „moralische[] Gemüter“ die „Mitte“ selten träfen − „und wenn sie menschlich werden, so wird gleich etwas Plattes daraus“.71 Trotz dieser kritischen Einschränkungen ist es keineswegs ausgeschlossen, dass − sollten die Matthisson-Verse tatsächlich schon zur Zeit Anna Amalias am Parkeingang zu lesen gewesen sein − Goethe, der sich schon 1782 bei der Gestaltung der „Entree im Garten“ interessiert gezeigt hatte72 und noch in den neunziger Jahren bei der Beschriftung 68 Friedrich Matthissons Gedichte, hg. von Joh. Heinr. Füßli. Vermehrte Aufl., Carlsruhe 1792, S. 1–9, hier S. 7. 69 Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen, hg. von Marcel Reich-Ranicki, Bd. 30, Frankfurt a. M., Leipzig 2007, S. 36. Vgl. Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze 1950–1956, mit einem Nachwort von Harald Steinhagen, Wiesbaden, München 1980, S. 37, 93 (= Briefe, Bd. 2, 2. Teil). 70 Schiller: Über Matthissons Gedichte, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 992–1011, hier S. 1010 f. 71 Goethe: Briefwechsel mit Friedrich Schiller, S. 620. 72 Anna Amalia am 8.11.1782 an Knebel: „Ich will ihnen einen Plan schicken, den mir Goethe für die Entree im Garten hat machen lassen, die, wie Sie wissen, etwas enge im Raum ist. Sie kennen ja
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des Constantin-Kenotaphs engagierte, dazu die Anregung oder wenigstens seine Billigung gegeben hat: Die an die Antike angelehnte sapphische Odenform, der im „Hier“ mitgedachte reflexive Vorbehalt und die bis ins Rhythmische reichende besondere Angemessenheit an den Ort73 könnten dabei bestimmend gewesen sein. Im Übrigen schätzte der Goethe-Freund Knebel Matthisson durchaus als Ratgeber in metrischen Dingen.74 Die Inschrift auf einem schlichten Stein im oberen Lohhölzchen, wo der Park von der nach Kromsdorf führenden Straße aus zu betreten ist − STEILE HÖHEN BESVCHT DIE ERNSTE FORSCHENDE WEISHEIT SANFT GEBAHNTEREN PFAD WANDELT DIE LIEBE IM THAL.75 − ,
stammt entweder von Goethe oder von Knebel, der seinerseits im Distichon eine bevorzugte Form gefunden hatte.76 Mit der Matthissonschen am früheren unteren Parkeingang korrespondierend, gilt auch sie nicht einer bestimmten Person bzw. einem bestimmten Anlass oder einer mythologisch personifizierten Lebensmacht, sondern den besonderen örtlichen Gegebenheiten Tiefurts. Im rhythmischen Wechsel von Hexameter und Pentameter wird die als Systole und Diastole körperlich erfahrbare Vertikale vom Ilmufer bis zum oberen Rand des Lohhölzchens sprachlich ausgeschritten, wobei die größere Eindrücklichkeit des Blicks von oben ins Tal den Ausschlag für die Positionierung der Inschrift gegeben haben dürfte. Auch die Matthissonsche Strophe spricht mit den Worten „GOLDENE BILDER / STEIGEN AUS DER GEWÄSSER KLAREM DUNKEL“ eine vertikale Bewegung an. Dabei handelt es sich aber nicht um eine sinnlich konkrete, sondern die spirituelle Erfahrung eines in der unteren Horizontale von „Gewässer“ und „Quell“ gebannten Besuchers. Indem sie sich thematisch wie rhythmisch, in der Abfolge von Hebungen und Senkungen − dem Gegen- und Zusammenspiel von Hexameter und Pentameter im Distichon, dem Wechsel von Trochäen und Daktylen in der Odenstrophe − auf die räumlichen Gegebenheiten des Ilmbogens einlassen, kommt ihnen, obwohl vermutlich unspektakulär präsenwohl das bekannte Sprüchwort: les petites choses engendrent des grandes.“ − K. L. Knebel’s literarischer Nachlaß, Bd. 1, S. 193. 73 „Die hingehauchten Bilder dieser Verse, ihre sanfte rhythmische Bewegung ist wie das sprachgewordene Abbild dieses Parkes, der sich so weich hinschmiegt in den weiten Bogen der Ilm und an den Hang des Lohhölzchens.“ − Huschke und Vulpius: Park um Weimar, S. 19 f. 74 Vgl. Matthissons Brief an Knebel vom 25.12.1798 in: K. L. Knebel’s literarischer Nachlaß, Bd. 2, S. 433 f. 75 „Die in etwas ungelenken Buchstaben eingeschlagene Schrift ist serifenlos. Die Anführungszeichen (links oben mit der Ecke abgeschlagen) erscheinen ungewöhnlich, in dieser Art gibt es sonst keine Inschrift. Sollte diese eher unklassische Auffassung auf die frühe Entstehungszeit deuten?“ − Mende: In steinerne Tafeln eingegraben, S. 315. 76 Vgl. seine Lebensblüthen in Distichen in: K. L. Knebel’s literarischer Nachlaß., Bd. 1, S. 89–122.
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tiert, unter allen Inschriften eine ganz eigene, ja herausragende Stellung zu. Als einzige Inschriften sprechen beide vom Park selbst. – Literatur und Lebenswelt: Der Tiefurter Park ist auf die vielfältigste Weise literarisch geprägt: als Landschaftsgarten, dessen Gestaltung durch imaginär aufgeladene antike Orte wie „Arkadien“, „Tempe“ und „Tibur“ inspiriert wurde und bei dessen Gestaltung man sich auch von zeitgenössischen literarischen Vorbildern wie Rousseau leiten ließ; als frühe Stätte von Anna Amalias geselligem Kreis und des aus ihm hervorgegangenen Journal[s] von Tiefurt;77 als Ort schließlich einer schon zur ersten Blütezeit einsetzenden, im 19. Jahrhundert fortgeführten epigraphischen Memorialkultur wie auch als Sujet retrospektiver poetischer Vergegenwärtigungen. Unter diesen ragen die in Kunst und Altertum abgedruckten Stanzen des Kanzlers Müller anlässlich des Weimar-Besuchs des bayrischen Königs Ludwig I. im Jahr 1827 heraus. Sie beschwören das Dreigestirn Anna Amalia („Olympia“) − Wieland − Herder und wurden von Goethe, dem letzten großen Überlebenden der Tiefurter Blütezeit, in Fortführung der schon früh einsetzenden Historisierung seiner eigenen Person ausdrücklich gutgeheißen und befördert: TIEFURT Und still entzückt so hehren Bund zu schauen, Erhebt die Muse ihren Zauberstab, Dem Königsblick soll frisch sich auferbauen, Was ihre Huld je diesen Thälern gab. Wo sie gewaltet, grünen ew’ge Auen, Sie kennt kein Scheiden, kennt kein düst’res Grab, Und immer neu im Wechsel der Gestalten Will sie das Schöne dauernd uns erhalten. Sie ruft den Chor idyllisch heit’rer Stunden Aus Tiefurts Hain und IHN verklärt herauf, Der um Olympien den Kranz gewunden, Den unverwelklichen im Zeiten-Lauf; Und JENEN – reinstem Priesterdienst verbunden – Ein Morgenstern glänzt er uns ewig auf, Der hellen Blicks der Völker Nacht durchdrungen, Uns ihrer Stimmen Lust und Leid gesungen.78 – 77 Vgl. „Es ward als ein Wochenblatte zum Scherze angefangen“. Das Journal von Tiefurt (2011). 78 Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1824–1832. Über Kunst und Altertum V-VI, hg. von Anne Bohnenkamp, Frankfurt a. M. 1999, S. 408 (= Frankfurter Ausgabe, 1. Abt., Bd. 32). Vgl. Goethe: Zum näheren Verständnis des Gedichts „Dem Könige die Muse“. Gewidmet dem 28. Aug. 1827., ebd., S. 474: „Nach allen Seiten umsichtig, am Vergangenen wie am Gegenwärtigen theilnehmend,
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Zusammenfassend kann man zu den Tiefurter Inschriften festhalten: Nach anfänglichem Zögern wandte sich Anna Amalia, die zwar nicht als Verfasserin hervortrat, doch als Herrin über Schloss und Park das entscheidende Wort zu sprechen hatte, vom superlativischen Latein Villoisons ab; an empfindsame, gereimte deutsche Verse, die sie selbst noch für Ettersburg in Übereinstimmung mit Hirschfelds Vorschlägen gewählt hatte, dachte sie für Tiefurt nicht mehr. Statt dessen bevorzugte sie die antik inspirierten deutschen Metren des Hexameters, des Distichons und der sapphischen Odenstrophe sowie einen epigraphischen Lakonismus, sowohl bei den persönlicheren als auch den auf die allgemeinen Lebensmächte und den auf die spezifischen örtlichen Gegebenheiten des Tiefurter Ilmbogens bezogenen Inschriften. Dabei kam Goethe als Autor der Verse auf dem Amorund dem Wieland-Denkmal wie auch als Verfasser der Inschrift auf dem ConstantinKenotaph, möglicherweise auch des Distichons im oberen Lohhölzchen die zentrale Rolle zu. Es ist naheliegend, dass der schlichte Nachname auf dem Herder- und die zugespitzt lakonischen Worte auf dem Mozart-Monument ebenso wie die Matthisson-Verse nicht ohne seine Billigung gewählt wurden, hat er sich doch noch nach dem Abklingen seiner frühen Inschriften-Begeisterung79 für die Tiefurter Denkmäler interessiert und, wie der Constantin-Kenotaph zeigt, aktiv in ihre Beschriftung eingegriffen. Mit den Worten einer von Goethe selbst so überschriebenen Werkgruppe gesprochen, sind die Tiefurter Inschriften durchweg „antiker Form sich nähernd“ gehalten. Ihnen fehlt die tendenziell ins Beliebige führende serielle Tendenz, die durch Hirschfelds Beispielliste ebenso wie die inflationäre Seifersdorfer Praxis nahegelegt worden war. Sie wurden nicht „hingestreuet“, sondern sparsam und wohlbedacht gewählt und platziert. Für jedes Monument und jeden Stein suchte und fand man eine individuelle Lösung, wie etwa an der um einige Nuancen persönlicheren Note des Constantin- im Verhältnis zum Leopold-Denkmal oder in der Differenz der Verse im oberen Lohhölzchen und am früheren unteren Parkeingang abzulesen ist. Indem die Inschriften noch das schmerzlichste Gefühl in antikisierender Form, gegebenenfalls auch durch objektivierende mythologische oder zeitgeschichtliche Bezüge dämpfen, bilden sie in ihrer Ge- und Verhaltenheit ein spannungsvolles Gegengewicht zu dem fast durchweg persönlichen Charakter ihrer Anlässe und der besonderen Intimität des Tiefurter Ilmbogens, der einer empfindsamen Parkgestaltung Vorschub leistete. Wenn Petzold um 1850 die alten Monumente und Inschriften beließ, aber kein einziges neues Denkmal, keinen einzigen neuen beschrifteten Stein aufstellte, unterhielt Er [der bayerische König Ludwig I.] sich vielfach über Weimars jüngste Vorzeit und so konnte es nicht fehlen, daß auch der / TIEFURTISCHEN / Räume und der hohen Fürstin gedacht wurde, die da in der Mitte freundlichster Naturumgebung, zugleich geist- und kunstreiche Unterhaltungen um sich her anzuregen und zu beleben gewußt hatte.“ 79 An Knebel, 17.4.1782: „Schicke mir von deinem Virgil, du sollst auch all die kleinen Sachen haben mit denen ich mir das Leben würze, ich bin nun auch in den Geschmack der Inschriften / Epigramms gekommen, und es werden bald die Steine zu reden anfangen.“ − J. W. v. G.: Briefe, Bd. 1: Briefe der Jahre 1764-1786, textkritisch druchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe, 4. Aufl. München 1988, S. 395.
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so ist das im ersten Fall nicht nur Pietätsrücksichten und im zweiten nicht nur eigenen ästhetischen Präferenzen geschuldet. Vielmehr stellt sich darin seine spezifische Idee für den Tiefurter Park dar, wonach die durch die natürlichen Gegebenheiten begünstigte Intimität um den östlichen Ilmbogen, in der auch Worte persönlicher Wertschätzung, Anteilnahme und Überzeugung Platz haben, bruchlos in Richtung der weiten, freien Natur geöffnet wird, die alles Geschichtlich-Besondere umgreift und daher frei von je ins Einzelne greifenden sprachlichen Zeugnissen bleiben kann und in den Augen Petzolds auch bleiben sollte. Im Zusammenspiel von Inschrift, Stein oder Denkmal und Park zeigt sich eine besondere Form des Text-Bild-Verhältnisses, die größere Aufmerksamkeit als bisher verdiente. Für Tiefurt lässt sich sagen, dass Geschmack und Diskretion hier etwas schufen, das Maßstäbe setzte. Der seriell-plakative Charakter der heute auf dem Maria-Pawlowna-Weg von Tiefurt nach Kromsdorf − neuerdings auf sehr klobigen Sockeln − zu lesenden Goethe-Worte jedenfalls widerspricht nicht nur Petzolds Parkidee, sondern dem gerade von Goethe geprägten Ethos der Tiefurter Inschriften. In besonderer Weise gilt für das Distichon im oberen Lohhölzchen und die Matthissonsche Odenstrophe, was Michel Deguy, ein zeitgenössischer französischer Dichterphilosoph, so formulierte: „le sens accompli, ou beauté du sens, est beauté des choses dans les mots, et réciproquement. La réciprocité même.“80
80 Michel Deguy: Le Sens de la visite, Paris 2006, S. 289.
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„Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben“ Lebenswelt und Klassizismus bei Hölderlin
I. Eines der Gedichte, die Hölderlin im Tübinger Turm unter dem Namen Scardanelli verfasste, trägt den Titel Griechenland.1 Es ist im Januar 1843 entstanden, ein halbes Jahr vor seinem Tod. Die Besucher des psychisch kranken Dichters wünschten sich von ihm Gedichte zum Andenken. Er lieferte sie wie gewünscht und hielt sich dabei den Besuch mit Geschäftsmäßigkeit, untertänigen Titulaturen und, wie hier, mit der Verbergung seines Namens vom Leibe. So auch bei diesem Besucher: „Wie Ew. Heiligkeit befehlen, soll ich Strophen über Griechenland, über den Frühling, über den Zeitgeist?“ Dieses Gedicht enthält den Vers: „Mit Geistigkeit ist weit umher die alte Sage“. Dem Kontext nach lässt sich die alte Sage, die mit „Geistigkeit […] weit umher“ ist, als die Sage von Griechenland verstehen. In diesem Angebot des Geisteskranken sind zentrale Themen seines Werkes enthalten, die griechische Antike zuerst, dann die Natur und der Geist seiner Zeit.2 Mit dem hier so ganz selbstverständlich genannten Thema „Griechenland“ steht Hölderlin in der Tradition des europäischen Klassizismus, eines erstaunlichen, immer noch erklärungsbedürftigen Phänomens.3 Er ist in der Tat „weit umher“. Setzt man seinen Beginn in das 16. Jahrhundert, in den Beginn der Querelle des Anciens et des Modernes, den 1 Hölderlins Werke werden zitiert mit der Sigle KA, dann Band und Seite, nach der Ausgabe: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992–1994. 2 Dieser Beitrag nimmt einige Überlegungen und Formulierungen meines Artikels Das wahrhaft Altneue, in: Neue Zürcher Zeitung, 6.10.2001, auf. 3 Vgl. zur Geschichte des Begriffs Klassizismus vgl. René Wellek: The Term and Concept of Classicism in Literary History, in ders.: Discriminations. Further Concepts of Criticism, New Haven and London 1970, S. 55–89; Wichtig: Manfred Fuhrmann: Die ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, der Nationalismus und die deutsche Klassik, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, hg. von Bernhard Fabian u.a., München 1980, S. 49–67 (= Studien zum 18. Jahrhundert Bd. 2/3); zum Stand der Forschung vgl. die Artikel Klassizismus und Klassik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 977–1088; sowie die Artikel Antike, in: Der Neue Pauly, hg. von Hubert Cancyk, Bd. 13, Stuttgart, Weimar 1999, Sp. 135–138; Klassik als Klassizismus, in: ebd., Bd. 14, Stuttgart, Weimar 2000, Sp. 887–901; Klassizismus, in: ebd., Sp. 954–978; Graecomania. Der europäische Philhellenismus, hg. von Gilbert Heß u.a., Berlin 2009.
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Streit über den kulturellen Vorrang der Antike oder der Gegenwart, dann erstreckt sich seine Geltung über Jahrhunderte bis weit in das 19. Jahrhundert, bis zur Gründung der Olympischen Spiele Ende des Jahrhunderts.4 Noch weiter erstreckt sich seine Geltung, geht man in das 14. Jahrhundert, in das Jahrhundert des Humanisten Petrarca zurück, der in seinem Werk in produktiver Aufnahme antiker Traditionen neue, komplexe Erfahrungen artikuliert.5 Seitdem bezogen Dichter und Maler noch lange ihre sujets immer wieder aus der griechischen und römischen Mythologie, wurden Schlösser und Paläste nach dem Vorbild antiker Architektur entworfen, wurden Statuen nach Figuren antiker Mythologie in die Parks platziert. Wir leben in Städten, deren Architektur trotz großer Zerstörungen immer noch die „Sage“ der Antike spricht, die Künstler der Gegenwart greifen, wie reflektiert und gebrochen auch immer, auf den Fundus griechischer Kunst und Mythologie zurück, um mit ihrer ästhetischen Form und Deutungskraft die Probleme der Gegenwart zu fassen.6 Im 19. Jahrhundert hatte Marx mit Erstaunen von der „Schwierigkeit“ gesprochen, zu verstehen, dass griechische Kunst noch „Kunstgenuss“ gewährt und „in gewisser Beziehung“ als unerreichbares Muster gilt, obwohl sich seitdem die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Formen radikal geändert haben.7 Marx waren Homers Ilias und Odyssee näher als Courbets Steinklopfer. Uns gilt heute griechische Kunst nicht mehr als selbstverständliche Norm, aber sie gewährt immer noch Kunstgenuss. Der europäische Klassizismus entwickelte die architektonische Formensprache von Metropolen wie Paris, Berlin, London, Petersburg, München, Dresden bis in die Städte der Provinz. Museen, Konzert- und Theaterhäuser, Krankenhäuser, Bahnhöfe, Schulen, Universitäten und Bürgerhäuser wurden im 19. Jahrhundert nach diesem Stilideal gebaut. Der architektonische Klassizismus reicht hinüber in den palladianischen Klassizismus der Neuen Welt mit den, von Washington konzipierten, politisch zentralen Gebäuden des Kapitols (1793–1823) und des Weißen Hauses (1793–1801). Karl Friedrich Schinkel, der in Berlin die Neue Wache (1816), das Schauspielhaus (1818) und das Alte Museum (1822–1830) baute, und Thomas Jefferson, der im „Athenian taste“ sein Anwesen (Monticello), das Kapitol und die Universität von Virginia selbst entwarf, waren überzeugt, dass von der Klarheit und der Würde solcher Bauten eine pädagogische Wirkung ausgeht. Jefferson verstand diese Architektur als eine visuelle Erziehung zu demokratischen Idealen. Die klassizistische Form als Form der Vernunft setzten schon der Bau und die Anla4 Vgl. dazu besonders Alexander Honold: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike, Berlin 2002, S. 77 ff. 5 Vgl. Karlheinz Stierle: Überzähliges Dasein entspringen lassen. Beantwortung der Frage: Hat der Klassizismus eine Zukunft?, in: Neue Zürcher Zeitung, 30./31.12.2000, S. 51. 6 Vgl. Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte und zur Lage der Literaturwissenschaft, in: Begründungen und Funktionen des Kanons, hg. von Gerhard Kaiser und Stefan Matuschek, Heidelberg 2001, S. 223 f. 7 Karl Marx: Einleitung zu einer Kritik der Politischen Ökonomie, in ders.: Werke, Schriften, Briefe, hg. von Hans-Joachim Lieber, Bd. VI, Stuttgart 1964, S. 832.
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ge des Schlosses und Parks von Wörlitz (1769–1773) um, ein Beispiel für die Koalition von Klassizismus und Aufklärung im 18. Jahrhundert. Noch in Wagners Konzeption des Bayreuther Theaters und in der Klarheit und funktionalen Einfachheit der Ästhetik des Bauhauses im 20. Jahrhundert wirkt der Impuls antiker Architektur.8 Der Klassizismus formte Ende des 18. Jahrhunderts auch das Leben an Höfen und in Bürgerhäusern. Die Antike wurde geradezu aufgeführt. Die Zeitgenossen redeten von einem „Fieber der Gräkomanie“.9 Nicht nur die Form der Schlösser, Paläste und Häuser, der Parks und Gärten, auch die Kleidung, die Frisur, die Gesten, das Mobiliar und die Geräte des Hauses mussten à la grecque sein.10 Stilgerecht konnte man Tee aus den Keramiktassen von Josiah Wedgwood mit Reliefs nach griechischen Vorbildern trinken (selbst hielt er sie für etruskische Kunst). Mit durchsichtigem, lockerem Gewand ließ sich die preußische Königin Luise als Göttin Hebe, die Mundschenkin auf dem Olymp, malen. Porträts wurden nach den Gesichtsprofilen griechischer Statuen stilisiert. Bezeichnend für diese gräkomanische Bilder- und Bildungswelt ist eine Überlieferung aus Hölderlins Studienzeit im Tübinger Stift: Wenn er auf und ab gegangen sei, „sei es gewesen, als schritte Apollo durch den Saal.“11 Goethe stattete sein Haus in Weimar zu einem klassizistischen Museum aus. Die Treppe sollte bei den Besuchern den Eindruck erzeugen, sie stiegen in einen Götterhimmel auf.12 Das Weimar Goethes, Schillers, Herders und Wielands „ist Athen“, wie Gleim 1792 in seinem Gedicht Als ich zu Weimar war statuiert. Mit antiken Requisiten umgab sich auch noch Freud in seiner Wohnung, Berggasse 19, in Wien. Am Fußende der Couch hing eine Reproduktion von Ingres’ Ödipus mit der Sphinx und ein Gipsabdruck der Gradiva, ein Relieffragment aus dem 2. Jahrhundert. Freud liebte es bekanntlich, die Arbeit des Psychoanalytikers mit der Arbeit des Archäologen zu vergleichen, der eine antike Stadt ausgräbt. Für die Dauer eines Jahrhunderts bildete in Deutschland die Orientierung an der Antike die Leitkultur des höheren Bildungssystems,13 bald verhärtet zur Ideologie eines „griechischen Reiches deutscher Nation“ (Manfred Fuhrmann). In Bölls Erzählung Wanderer, kommst du nach Spa … von 1950 besteht sie nur noch aus Gips.
8 Mies van der Rohe, der die Architektur Schinkels verehrte, redete z.B. von seinem Ideal einer „griechisch-gotischen“ Architektur, zit. n. Jean-Louis Cohen: Ludwig Mies van der Rohe, Basel, Berlin, Boston 1995, S. 8. 9 Vgl. Schillers Xenion Die zwei Fieber: „Kaum hat das kalte Fieber der Gallomanie uns verlassen, / Bricht in der Gräkomanie gar noch ein hitziges aus.“ Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 1, München 1965, S. 292. 10 Vgl. dazu besonders Hannelore Schlaffer: Klassik und Romantik 1770–1830, Stuttgart 1986, S. 167 ff. 11 Hölderlin: Sämtliche Werke, hg. von Friedrich Beißner u.a., Bd. 7,1: Briefe an Hölderlin, Dokumente 1770–1793, hg. von Adolf Beck, Stuttgart 1968, Nr. 61, S. 399. 12 Vgl. Jörg Traeger: Goethes Vergötterung. Bilder eines Kults, in: Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert, hg. von Wolfgang Braungart, Tübingen 2004, S. 93–136. 13 Vgl. Manfred Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1988.
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Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer neuen Renaissance der Antike. Am Anfang dieser neuen Begeisterung standen die nun systematischen Ausgrabungen von Pompeji (ab 1738) und Herculaneum (ab 1748) und stand Winckelmann. 1755 erschien seine schmale Abhandlung Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Der Titel trifft eine programmatische Vorentscheidung. Winckelmann handelt nicht von der Vorbildlichkeit der Antike allgemein, sondern von der Vorbildlichkeit der griechischen Antike. Gegenüber den Griechen erscheint die römische Antike nur wie ein Abbild. Damit griff Winckelmann in den aktuellen Streit um den Vorrang der griechischen oder römischen Antike ein. Ein Jahr später als Winckelmanns Abhandlung wollte Piranesi mit seiner Schrift Antichitá romane die Originalität der römischen Baukunst erweisen. Winckelmann schreibt: „Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heißt, nach Athen reisen“. Winckelmann verfasste seine Abhandlung in Dresden, einer Stadt mit einer der bedeutendsten Gemälde- und Antikensammlungen. So beendet er den zitierten Satz mit: „und Dresden wird nunmehr Athen für Künstler.“14 Nicht zu überlesen ist die Anspielung des studierten lutherischen Theologen Winckelmann auf die Bibelworte: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps. 34,9), die in der lutherischen Abendmahlsliturgie zitiert werden. Der Umgang mit diesen Quellen der Kunst wird einem ästhetischen Abendmahl gleichgesetzt. So erscheint der europäische Klassizismus gleichermaßen als Kunstreligion, Spiel und Mode. Er war für die Zeitgenossen kein Bildungsgut, sondern eine Lebenswelt. Versteht man unter Lebenswelt im Ausgang von Husserls Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936/1937) einen anonymen, kollektiven, vertrauten, verlässlichen, fraglos gültigen und vorwissenschaftlichen Erfahrungshorizont,15 dann trifft dieser Begriff auf den Klassizismus nicht zu. Denn für den Klassizismus war die Antike zugleich ein fraglos gültiger und ein reflektierter, problematisierter Erfahrungshorizont. Gleichwohl trifft, mit dieser Erweiterung um die theoretische und reflexive Dimension, der Begriff genau die ‚gelebte Antike‘ dieses Klassizismus. Wie intensiv, schon pathologisch intensiv diese Antike ‚gelebt‘ und reflektiert werden konnte, soll das Beispiel Hölderlins zeigen. Aber wer von den deutschen Klassizisten reiste wirklich nach Athen? Die Reise war gefährlich und Griechenland war Teil des Osmanischen Reiches. Winckelmann reiste nicht nach Griechenland, wohl nach Rom, wo er die sinnliche Fülle der antiken Kunstwerke feierte. Auch Herder, Wieland, Moritz, Heinse, Schiller, Hölderlin, Schinkel, Wil14 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Frühklassizismus (= Bibliothek der Kunstliteratur 2), hg. von Helmut Pfotenhauer u.a., Frankfurt am Main 1995, S. 14. Auf den Kommentar zu dieser Schrift, ebd., S. 368 ff., sei nachdrücklich verwiesen. 15 Vgl. als jüngste Übersicht über den Begriffsgebrauch Artikel Lebenswelt, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstraß, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2010, S. 482–487.
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helm von Humboldt reisten nicht nach Griechenland, Goethe wenigstens nach Sizilien, in die Magna Graecia. Hölderlin suchte bei seinem Aufenthalt in Südwestfrankreich im südlichen Lebensgefühl auch griechisches Lebensgefühl zu verstehen. Sie alle suchten das Land der Griechen mit der Seele, um Iphigenies Anfangsmonolog in Goethes Iphigenie auf Tauris (V. 12) zu zitieren. Originale oder Kopien schaute man sich in Antikensammlungen wie in Dresden, Göttingen, Kassel, Mannheim oder in Rom und Paris an. Der farblose Marmor der Statuen wurde als authentischer Ausdruck von Einfachheit und Reinheit wahrgenommen. Dass griechische Statuen auch bemalt sein konnten, lag jenseits der Vorstellung und sollte im 19. Jahrhundert für tiefe Irritationen sorgen. Es zählte der schöne Körper und die Linie, „der Kontour“, wie Winckelmann formulierte. Dass viele Dichtungen der Griechen gesungen und von der Lyra begleitet wurden, wurde ebenfalls nicht wahrgenommen. Nur so offenbar, vor den Statuen, Kupferstichen und Texten, war die „Wunderwelt“ (KA I, 316, V. 5) der griechischen Antike, war sie als rückwärtsgewandte Utopie schöner und freier Menschlichkeit zu wahren. Inspiriert von der kulturkritischen Fiktion eines glücklichen Urzustands bei Rousseau wurde den Griechen eine „Ganzheit“ zugesprochen, die sich in der modernen arbeitsteiligen Gegenwart in Zerrissenheit gekehrt hat. Es war Winckelmann, Schiller, Herder, Heinse, Goethe, Hölderlin oder Friedrich Schlegel jedoch bewusst, dass dieses utopische Bild der Antike von den Bedürfnissen der Gegenwart erzeugt wird. Goethes Faust. Der Tragödie Zweiter Teil führt vor, wie aus dem „Laboratorium“ (2.Akt, unmittelbar darauf folgt „Klassische Walpurgisnacht“) der Gegenwart diese Bilder der Antike entstehen.16 In der Diagnose einer Entfernung von der Antike wird geschichtsphilosophisch und ästhetisch mit dem Verlust aber auch der Fortschritt, der Gewinn, den der „fortgeschrittne Mensch“ (Schiller, Die Künstler, V. 270) erzielt hat, bedacht. Wer reiste?17 Es waren vor allem englische Enthusiasten, darunter viele Mitglieder der Londoner Society of Dilettanti. Englische und französische archäologische Expeditionen in die klassischen Landstriche waren schon im 17. Jahrhundert unternommen worden. Der große Vorgänger Winckelmanns, der Comte de Caylus war schon 1711 in die Levante gereist und hatte Ephesus aufgesucht. Ab 1752 erschienen in sieben umfangreichen Bänden seine Recueil d’antiquité. 1751 brachen zum Beispiel die jungen Architekten Rivette und Stuart nach Athen auf, um die Muster von Bildhauerkunst und Architektur festzuhalten, bevor sie in Vergessenheit versinken. 1762 erschien der erste Band ihrer Antiquities of Athens. 1754 folgt ihnen der französische Architekt Le Roy. Seine publikumswirksameres Resultat, Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce erschien 1758. Bei Reisen und Expeditionen blieb es nicht. Die Sammelleidenschaft für die antiken Kunstwerke führte 16 Heinz Schlaffer: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981, S. 109: „Es ist nicht übertrieben: die Antike wird im Laboratorium der Moderne hergestellt.“ 17 Vgl. dazu den vorzüglichen Beitrag von Norbert Miller: Europäischer Philhellenismus, in: Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 4: Aufklärung und Romantik 1700–1830, hg. von Erika Wischer, Frankfurt a. M., Berlin 1988, S. 314 ff.
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zu wahren Jagdzügen. Lord Elgin, Mitglied der Society of Dilettanti und damals Botschafter in Konstantinopel, holte 1804 Teile des Parthenon-Frieses und der Giebelfiguren nach England, um sie vor Verfall und Zerstörung zu retten. Die erste Reaktion war Empörung über den Raub und Irritation über ihren ästhetischen Wert. Exemplarisch dokumentiert diese Reaktion, wie Norbert Miller feststellt, die Ablösung der an griechischer Antike orientierten Kunsttheorie von der griechischen Kunst: „In fünfzig Jahren klassizistischer Kunstanstrengung hatte kein Bildhauer oder Architekt das Bedürfnis, die Werke des Phidias oder des Alkamenes vor Ort zu studieren.“18 Kolorit und Topographie seines „griechischen Romans“ (KA III, 103. Brief an Neuffer, Sommer 1793) Hyperion oder Der Eremit in Griechenland gewann Hölderlin aus zwei Reiseberichten, die er in deutschen Übersetzungen lesen konnte: Richard Chandlers Travels in Asia Minor and Greece; or An Account of a Tour, Made at the Expense of the Society of Dilettanti, erschienen 1775/76, und Auguste de Choiseul-Gouffiers Voyage pittoresque de la Grèce, 1782 (zweiter Band 1809). In seinen Roman integrierte Hölderlin Formen des Briefromans, des Bildungsromans, des satirischen Romans und des antiquarischen Romans, wie er zum Beispiel in Wielands Geschichte des Agathon (1766/1767) und in Jean Jacques Barthélemys in ganz Europa gelesenen Roman Voyage du jeune Anacharsis en Grèce, 1788 erschienen, vorliegt. Auch Barthélemy reiste nicht nach Griechenland. In ihrer Wirkungsgeschichte19 erhielten, abgesehen von der berühmt gewordenen Formel ‚edle Einfalt und stille Größe‘ als „Kennzeichen der griechischen Meisterstücke“,20 besonders zwei Lehren von Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst eine besondere Brisanz. In der Sache waren sie so neu nicht, Winckelmann stellte sie aber pointiert heraus. Als erste Lehre: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“.21 Die paradoxe Formulierung, die Nachahmung und Originalität in Eins setzt, besagt als ästhetisches Programm: Nicht schaffen wie die Alten, sondern so original schaffen wie die Alten. Nicht der ahmt die Alten nach, der ihre Formen kopiert, denn die Alten hatten niemanden nachgeahmt, sondern der, wie sie die ihren, seine eigenen, zeitgemäßen Formen entwickelt. Wie Goethe 1818 in der kleinen Schrift Antik und Modern formuliert: „Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er
18 Ebd., S. 332. 19 Nützlich zur ästhetischen Debatte nach Winckelmann ist die Sammlung wichtiger Beiträge in Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland, hg. von Ludwig Uhlig, Tübingen 1988. 20 Winckelmann: Gedanken, S. 30: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, so wohl in der Stellung als auch im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“ 21 Ebd., S. 14.
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sei’s.“22 Insofern konnte Schiller seine Elegie Der Spaziergang (1795) mit dem Vers enden lassen: „Und die Sonne Homers, siehe! Sie lächelt auch uns.“23 Die Natur, heißt dies, ist noch dieselbe und auch die Modernen können auf ihre Weise künstlerisch kreativ sein. Implizit wird mit diesem ästhetischen Programm die griechische Antike als überzeitliches Vorbild anerkannt und zugleich als eine geschichtliche Epoche historisiert. Sie ist vergangen und, wie Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) schon nahelegt und wie Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und in Ideen zur Philosophie zur Geschichte der Menschheit (1784/91) dann entschieden lehrt, Teil einer geschichtlichen Folge, in der ihr die Kulturen der Ägypter und Phönizier vorausgehen. Die Gegenwart ist von dieser Antike „wohlgeschieden“ (Hölderlin, Am Quell der Donau, V. 74, KA I, 323). Die Generation nach Winckelmann, die Generation Herders, Klopstocks, Goethes, Schillers, Hölderlins entwickelte aus dieser Spannung von Muster und Zeitgebundenheit ihre je eigene, „moderne“ Ästhetik. Hier formuliert Winckelmann diese Einsicht implizit, am Ende seiner Geschichte der Kunst des Altertums explizit in einem Vergleich, verführerisch in der Sehnsucht nach dem Verlorenen und illusionslos im Bewusstsein des Verlusts. Gegenüber dem griechischen Altertum verhält sich der Betrachter so „wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung, ihn wieder zu sehen, mit betränten Augen verfolgt und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt.“24 Der reale Untergang Griechenlands wird begreifbar als die Bedingung der ideellen Geltung dieses Griechenlands. Mit dieser geschichtsphilosophischen Deutung des Klassizismus endet Schillers Hymne Die Götter Griechenlandes von 1788: „Was unsterblich im Gesang soll leben, / Muss im Leben untergehn.“ (V. 127 f.)25 Die „alte Sage“ ist mit „Geistigkeit“ umher, wie es im anfangs zitierten Gedicht Griechenland heißt. Auch in Hölderlins Hymne Germanien, wohl 1801/1802 entstanden, kündet nach seinem Untergang ein „goldner Rauch, die Sage“ (V. 25) vom antiken Griechenland. Die Griechen bleiben vorbildlich, die Modernen gewinnen ihre eigenen Formen in der steten Auseinandersetzung mit der Antike, entwickeln, wie gerade das Beispiel Hölderlins lehrt, Formen der Modernität aus dem Studium ihrer Formen. Dass das Eigene erst im Durchgang durch das Fremde der Antike verstanden und gewonnen werden kann, bildet die klassizistische Grundfigur.26 Wie im Kunstwerk die Zeiten durchsichtig und die Spannungen zwischen dem Alten und dem Neuen, Dauer und Wechsel fruchtbar gemacht werden, kann dann als Maß künstlerischen 22 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurter Ausgabe, Bd. 20, hg. von Hendrik Birus, Frankfurt a. M. 1999, S. 350. 23 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 234. 24 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1972, S. 393. 25 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 173. 26 Am Beispiel der Übersetzungstheorie der Epoche wird diese Grundfigur instruktiv herausgearbeitet von Friedmar Apel: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982.
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Gelingens gelten. „Wir bringen aber die Zeiten / untereinander“, heißt es in einem Bruchstück eines Gedichts von Hölderlin (KA I, 437, V. 51 f.). Die zweite Lehre: Ursache des „Vorzugs“ der griechischen Kunst war für Winckelmann ein günstiges Klima und, noch wichtiger, die „Freiheit“ und „Menschlichkeit“27 der Griechen. Insofern bedeutete die griechische Kunst immer auch eine kulturelle und politische Anmutung für die Gegenwart. Von dieser Anmutung hat sich Hölderlin ergreifen lassen. In der so genannten ,Athenerrede‘ im ersten Buch seines Romans Hyperion oder Der Eremit in Griechenland lässt Hölderlin Hyperion sagen: „Aus der Geistesschönheit folgte denn auch der nötige Sinn für Freiheit.“ (KA 2, 91) Hinter diesem Satz steht natürlich auch die Verknüpfung von Freiheit und Schönheit bei Kant und noch mehr bei Schiller. Nach dieser Rede, in der Hyperion Diotima und den Freunden erläutert, woher die „Trefflichkeit des alten Athenervolks“ (KA 2, 88) komme und worin sie bestehe, gelangen sie nach dem zeitgenössischen Athen. Wie ein „unermesslicher Schiffbruch“ (KA 2, 96) liegt es Hyperion da. Ich habe bislang immer vom Klassizismus gesprochen. Im Hinblick auf die Rezeption antiker Werke um 1800 müsste ich genauer unterschiedliche Rezeptionslinien herausstellen, müsste von Klassizismen oder unterschiedlichen klassizistischen Kanonbildungen sprechen.28 Es gibt nicht nur den Streit um den ästhetischen und politischen (die französischen Revolutionäre) Vorrang Athens oder Roms oder auch Athens oder Spartas (Rousseau, die französischen Revolutionäre), Athens oder Jerusalems (Hamann, Coleridge),29 sondern auch die Idealisierung der griechischen Antike, z.B. bei Winckelmann oder Hölderlin, und ihre satirische Entidealisierung bei Wieland. Wieland bevorzugte die komische, rhetorische, die politische griechische Antike, also Aristophanes, Euripides, Isokrates, Xenophon. Winckelmann, Herder, Schiller, Goethe und Hölderlin bevorzugten hingegen Homer, Sophokles und Plato.30 Der Romantiker und Klassizist Friedrich Schlegel verband beide Tendenzen, Sophokles und Aristophanes, Plato und Xenophon. Schließlich kam es zu je unterschiedlichen synkretistischen oder komplementären Verbindungen mit dem germanischen oder orientalischen Altertum. Im Blick auf Goethes West-östlichen Divan kann Manfred Koch von einem „Orientalischen Klassizismus“ Goethes sprechen, da er auch im Alten des Orients eine produktive, aktuelle Bedeutung für die Moderne entdeckt.31 Die von Leo von Klenze nach dem Vorbild des Parthenon entworfene, 1842 27 Winckelmann: Gedanken, S. 18 f. 28 Ein weiterer Beleg für Willems’ Kritik der weithin Kanon mit Homogenität identifizierenden Kanondebatte, vgl. Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse, bes. S. 224 ff. 29 Vgl. Gerhard Kurz: Athen oder Jerusalem. Die Konkurrenz zweier Kulturmodelle im 18. Jahrhundert, in: Ästhetische und Religiöse Fragen der Jahrhundertwenden, hg. von Wolfgang Braungart u.a., Bd. 1, Paderborn 1997, S. 83–96. 30 Vgl. dazu besonders Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike in „Aristipp“, Göttingen 1998. 31 Vgl. Manfred Koch: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ‚Weltliteratur‘, Tübingen 2002, S. 225 ff.
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eröffnete Ruhmeshalle für die Großen deutscher Sprache wurde in Anlehnung an den Namen für die Wohnstätte der gefallenen Krieger in der germanischen Mythologie Walhalla genannt.32
II. Hölderlins Rezeption der griechischen Antike verläuft von einer schwärmerischen Identifikation in der Jugend, ablesbar z.B. an der frühen Hymne an den Genius Griechenlands, über die ästhetisch reflektierte Verwendung lyrischer Formen wie Hymne, Ode, Elegie und Epigramm bis zur kulturtheoretischen Distinktion zwischen antiker und christlicher Religiosität, griechischer und moderner deutscher Kultur, zu Reflexionen darüber, wie unter der Bedingung der Differenz von Moderne und griechischer Antike eine „Ansicht“ (KA II, 1498, V. 78) von Griechenland gewonnen werden kann und welche Konsequenzen diese Differenz für die Übersetzung griechischer Kunstwerke hat. Die „vaterländischen Gesänge“ (KA 3, 470), die er nach 1800 entwickelte und die für die Nachwelt seine Modernität ausmachen, gewann er aus dem Studium der Oden Pindars.33 Der junge Hölderlin dichtet 1787, also mit siebzehn Jahren, unter dem Titel Mein Vorsatz ein Gedicht, worin er seinen dichterischen Ehrgeiz befragt: „Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? Ists / Kämpfendes Streben nach Klopstocksgröße?“ (V. 11 f.); er verfasst zum Abschluss seiner philosophischen Ausbildung zwei thematisch bezeichnende Magisterarbeiten, die Parallele zwischen Salomons Sprichwörtern und Hesiods Werken und Tagen und eine Geschichte der schönen Künste unter den Griechen, in der er ausgiebig Winckelmann zitiert; er besingt in der Hymne an den Genius Griechenlands griechische Freiheit und Schönheit, versenkt sich in das Studium griechischer Philosophie und Literatur. Griechenland wird und bleibt eines der großen Themen seiner Dichtung. Immer wieder werden in den Gedichten griechische Landschaft, Geschichte und Mythologie evoziert, verklärt er die griechische Polis, z.B. in der Elegie Der Archipelagus (V. 267 ff.) zu einem Vorbild für eine zukünftige, noch reifere menschliche Gesellschaft. Er denkt in Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben über die Möglichkeit nach, wie „Originalität und 32 Vgl. Die Walhalla, hg. von Jörg Traeger, Regensburg 1980. 33 Zu Hölderlins Rezeption der griechischen Antike vgl. aus einer umfangreichen Forschungsliteratur Robin B. Harrison: Hölderlin and Greek Literature, Oxford 1975; Albrecht Seifert: Untersuchungen zu Hölderlins Pindar-Rezeption, München 1982; Werner Volke: „O Lacedämons heiliger Schutt!“ Hölderlins Griechenland: Imaginierte Realien – Realisierte Imagination, in: Hölderlin-Jahrbuch 24 (1984/85), S. 63–86; Wolfgang Binder: Hölderlin und Sophokles. Turm-Vorträge 1992, Tübingen 1992; Jochen Schmidt: Griechenland als Ideal und Utopie bei Winckelmann, Goethe und Hölderlin, in: HölderlinJahrbuch 28 (1992/93), S. 94–110; Martin Vöhler: „Danken möcht’ ich, aber wofür?“ Zur Tradition und Komposition von Hölderlins Hymnik, München 1997; Cyrus Hamlin: Hölderlin’s Hellenism, in: Hölderlin-Jahrbuch 35 (2006/07), S. 252–311; Dieter Burdorf: Friedrich Hölderlin, München 2011, S. 46 ff.
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Selbständigkeit“ gegenüber einem erdrückenden „Altertum“ gewonnen werden können. Diese Möglichkeit ist gegeben, aber sie hat zur Voraussetzung die genaue Erkenntnis der unterschiedlichen, kulturspezifischen „Richtungen“ eines „Bildungstriebs“, den Hölderlin als universell geltenden unterstellt. (KA II, 507 f.) Er reflektiert z.B. in Brot und Wein, in Patmos und in Der Einzige über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des griechischen und christlich bestimmten neuzeitlichen Weltbildes. Der letzte überlieferte hymnische Entwurf trägt den Titel Griechenland. Kurz vor seinem Tod 1843 dichtet der Kranke das schon mehrmals zitierte, ebenfalls lapidar mit Griechenland überschriebene, Gedicht. Die Ablösung von der frühen Identifikation, die Erarbeitung einer „Ansicht“ Griechenlands auf der Höhe von Winckelmanns ästhetischer Position, die Einsicht, dass Griechenland von der Moderne „wohlgeschieden“ ist, fiel ihm nicht leicht. Die Orientierung an der griechischen Kultur darf nicht zu einem Verlust der Gegenwart führen, sie muss vielmehr der Legitimität und Eigentümlichkeit dieser Gegenwart Rechnung tragen. Im berühmten Brief an den Freund Böhlendorff vom 4.12.1801 expliziert Hölderlin seine Sicht der Differenz und Identität der griechischen und modernen Kultur. Sie basiert auf dem Postulat, dass jede der beiden Kulturen aus einem spannungsvollen, dynamischen Gleichgewicht von zwei Bestandteilen zu begreifen ist, die Hölderlin mit den weltgeschichtlichen Epochen des Orients und des Abendlands verbindet. Er nennt sie das Eigene und das Fremde. Das jeweils Eigene genügt sich nicht, es muss sich ein Fremdes aneignen. Das Eigene (das ‚Angeborene‘, das „Nationelle“34) griechischer Kultur liegt in einer Leidenschaft („Wärme“, „Leidenschaft“, „Feuer vom Himmel“, „heiliges Pathos“35). Das ist ihr orientalisches Erbe. Angeeignet wird eine Klarheit der Form („Präzision“, „Klarheit der Darstellung“, „homerische Geistesgegenwart und Darstellungsgabe“, „abendländische Junonische36 Nüchternheit“). Sie ist das Eigene des Abendlands. Aneignen muss sich die Moderne, deren Erbe dieser abendländische Formwille ist, die ihr fremde Leidenschaft. Daher sind diese Bestandteile in den beiden Kulturen „umgekehrt“ angeordnet. Gleich sind griechische und moderne Kultur im „lebendigen Verhältnis“ und „Geschick“37 dieser beiden Momente, unterschieden sind sie in deren jeweiligen Positionen. Das Begreifen des Eigenen, schwieriger als das Begreifen des Fremden, kann nur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden geschehen. Diese Überlegungen lassen sich verstehen als eine kultur-
34 Lat. natio bedeutet wörtlich Geburt. 35 Griechisch pathos bedeutet ursprünglich Leiden, Leidenschaft. 36 Der Sonnengott Apollo ist im Verständnis Hölderlins nicht der Gott der Klarheit, sondern der Gott der Leidenschaft, des Wahnsinns (vgl. KA III, 466: „[…]wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, dass mich Apollo geschlagen.“). Die Göttin Juno gilt schon früh als Göttin des Mondes, in einer anderen Tradition auch der Erde. Insofern kann Hölderlin sie dem Abend bzw. der Erde, also dem nüchternen Abendland zuordnen. In der römischen Mythologie wird Juno als die höchste Göttin verehrt. 37 Geschick bedeutet hier Anordnung, Ordnung, Verhältnis, Fügung, Passung, vgl. Artikel Geschick, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 5, Sp. 3870 ff.
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theoretische Ausweitung, Differenzierung und stärkere Historisierung von Winckelmanns paradoxer Formulierung des Nachahmungspostulats. Den Untergang der griechischen Kultur erklärt Hölderlin aus einem Bruch des ‚lebendigen Verhältnisses‘. Die Griechen setzten das Moment der Form absolut. „[…] Nämlich sie wollten stiften / Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber / Das Vaterländische von ihnen / versäumet und erbärmlich ging / Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.“ (KA I, 399) In einer anderen Erklärungsfigur liegt der Grund für diesen Untergang im Übermaß an Leidenschaft.38 Im Gedicht Mnemosyne, auf das ich noch eingehe, werden wohl beide Erklärungsfiguren verbunden. Im Brief an Böhlendorff fährt Hölderlin fort: Es klingt paradox. Aber ich behaupt’ es noch einmal […] das eigentliche Nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das Fremde sich anzueignen. Bei uns ists umgekehrt. Deswegen ists auch so gefährlich sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahieren. Ich habe lange daran laboriert und weiß nun, dass außer dem, was bei den Griechen und uns das Höchste sein muss, nämlich dem lebendigen Verhältnis und Geschick, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das Eigene muss so gut gelernt sein, wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das Schwerste ist. (KA III, 459 ff.)
Bei aller Differenz der Griechen und „uns“ – wir „dürfen“ außer diesem „lebendigen Verhältnis“ nichts mit ihnen gleich haben, heißt es sogar, – bleiben „uns“ die Griechen unentbehrlich. Ihre Kunst hebt dasjenige in die „Sphäre des Bewusstseins und des bewussten Verfügens“, wie Jochen Schmidt in seinem Kommentar zu dieser Stelle schreibt, „was uns als ursprüngliche Naturanlage ohne sie unbewusst und also nicht frei verfügbar bliebe.“39 Von einer „Überwindung des Klassizismus“ bei Hölderlin, wie der Titel eines einflussreichen Aufsatzes von Peter Szondi lautet, kann daher keine Rede sein.40
38 Vgl. Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Analecta Hölderliniana II, Würzburg 2004, S. 191 ff. 39 Ebd., S. 910. 40 Peter Szondi: Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1967, S. 85–104. Dahinter steht ein verengtes Verständnis des historischen Klassizismus als epigonale, historisch unreflektierte, geglättete Kunst, das Szondi z.B. auch mit Theodor Adorno teilt, vgl. z.B. dessen Aufsatz Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 41989, S. 495– 514. Vgl. dagegen z.B. den vorzüglichen Katalog: Canto d’Amore. Klassizistische Moderne in Musik
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III. Wie schwer diese Ablösung vom Zauber der griechischen Antike fiel, wie sehr er ‚laborierte‘ und wie ambivalent sein Verhältnis zu diesem Griechenland blieb, reflektiert Hölderlin selbst und immer wieder in Briefen, Gedichten und im Roman. Die große Hymne Der Einzige beginnt mit den Fragen: Was ist es, das An die alten seligen Küsten Mich fesselt, dass ich mehr noch Sie liebe, als mein Vaterland? Denn wie in himmlische Gefangenschaft verkauft Dort bin ich, wo Apollo ging In Königsgestalt, Und zu unschuldigen Jünglingen sich Herabließ Zeus und Söhn’ in heiliger Art Und Töchter zeugte Der Hohe unter den Menschen?
Der positiv und negativ konnotierte Ausdruck ‚fesselt‘ fasst Hölderlins Ambivalenz zusammen.41 Im Vergleich „wie in himmlische / Gefangenschaft verkauft“ erfährt sich das Ich wie ein Sklave dieser Welt. In der zweiten Fassung lauten diese Verse „Denn wie in himmlischer / Gefangenschaft gebückt, in flammender Luft / Dort bin ich […]“. In der dritten Fassung wird das Nachsprechen der griechischen Welt, metaphorisiert als „Tag“, als eine Manifestation des Göttlichen, akzentuiert: „Denn wie in himmlischer Gefangenschaft gebückt, dem Tage nach sprechend / Dort bin ich […]“ (KA II, 1496, V. 5–7). Zu diesem griechischen Himmel gehört in einer theologisch provokativen Wendung auch als ‚fremder Gast‘ (V. 35) Christus, mit ihm das „Maß“ (KA I, 348, 2. F., V. 58), die Selbstbehauptung (KA I, 348, 2. F., V. 58 f.: „[…] dass einer / Etwas für sich ist […]“). In Schillers Hymne Die Götter Griechenlandes ist die schöne Welt Griechenlands ausgestorben.42 Zurück bleibt die Trauer (vgl. V. 54, 101) über ihren Verlust. Von einer solchen Trauer spricht immer wieder auch Hölderlin. Während die Trauer in Schillers Gedicht in der Rhetorik klassizistischer Bildung verbleibt, erlangt sie in Hölderlins Werk eine exisund bildender Kunst 1914–1935, hg. von Gottfried Boehm u.a., Basel 1996. Szondis Aufsatz bleibt sonst von Bedeutung. 41 Vgl. auch aus Hyperion: „Ich liebe meine Heroën, wie eine Fliege das Licht; ich suchte ihre gefährliche Nähe und floh und suchte sie wieder.“ KA, II, 26. 42 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 163–171.
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tentielle, bis ins Pathologische gehende Bedeutung.43 Getrauert wird um Griechenland, wie um den Tod nächster Personen getrauert wird. Welche Auswirkung hat es für den Trauernden, wenn er sich so sehr mit den Gestalten des alten Griechenland identifiziert, dass sie aus der Welt der Bildung und Kunst in die gelebte Lebenswelt versetzt und als „Gestorbene“ erfahren und verstanden werden? Wenn der Klassizismus, so verstanden, aus Toten Wiedergänger macht? Hölderlins durch die eigene psychische Bedrohung geschärfter Blick entdeckt in seinem, im europäischen Antikekult ein krankes, ein pathologisches Potential, in dieser Trauer um die Toten eine „Todeslust“ (Stimme des Volks, KA I, 312, 2. F., V. 19; Der Einzige, KA I, 348, 2. F., V. 56). Von Tod, Toten, Grab und Trauer ist im Hyperion-Roman allenthalben die Rede.44 Eine „wilde Trauer“ (KA II, 83) um Griechenland, wie Diotima sagt, fällt Hyperion immer wieder an, er selbst spricht von seiner „kranken Trauer“ (KA II, 48). Der Roman spielt die Gefahr dieser wilden Trauer, den Wechsel von Selbstverlust und Selbstbehauptung, die Ambivalenz von Sehnsucht und Distanzverlangen, am Beispiel seines Protagonisten, den Hölderlin in einem frühen Brief „mein Hyperion“ (K III, 103) nennt, immer wieder, mit immanenter Kritik, durch. „Wer hält das aus,“ schreibt Hyperion, „wen reißt die schröckende Herrlichkeit des Altertums nicht um, wie ein Orkan die jungen Wälder umreißt, wenn sie ihn ergreift, wie mich, und wenn, wie mir, das Element ihm fehlt, worin er sich stärkend Selbstgefühl erbeuten könnte?“ (KA II, 26). Die biographische Relevanz des Romans wird schon durch die Assonanz der Namen Hölderlin und Hyperion angedeutet. Der Roman stellt eine einzige Ablösung vom Phantasma Griechenland dar. Die erste Strophe der Hymne Germanien (KA I, 334) artikuliert die Trauer des lyrischen Subjekts, das die Götterbilder nicht mehr rufen „darf“, sein Wille, nicht rückwärts zu „fliehen“. Die ‚Vergangenen‘ sind „zu lieb mir“, ‚tödlich‘ ist es „Gestorbene zu wecken“. Gleichwohl kann das lyrische Subjekt davon nicht lassen. Als Parenthese wird eingeschoben „Und kaum erlaubt“. Nicht sie, die Seligen, die erschienen sind, Die Götterbilder in dem alten Lande, Sie darf ich ja nicht rufen mehr, wenn aber Ihr heimatlichen Wasser! Jetzt mit euch Des Herzens Liebe klagt, was will es anders, 43 Für Rudolf Haym war es im späten, realpolitischen 19. Jahrhundert ausgemacht: Bei Hölderlin hat „das ‚Fieber der Gräkomanie‘ den Charakter einer Krankheit angenommen, der zum Tode führen muss.“ Rudolf Haym: Die romantische Schule, Hildesheim 1961 [zuerst 1870], S. 311. 44 Manfred Jürgensen: „Die fabelhafteste Sache der Welt.“ Der Tod in der deutschen Literatur, Tübingen 2010, S. 237 ff. kommt über eine thematische Zusammenstellung und die These, es gehe Hölderlin um eine „geistige Bewältigung des Todes“, S. 261, nicht hinaus. Hölderlin wird mit Kleist in eine „Gegenklassik“ eingeordnet. Differenzierter wird das Motiv des Todes in Hölderlins Gedichten entwickelt von Günter Mieth: Der Tod in Friedrich Hölderlins Briefen und Gedichten, in: HölderlinJahrbuch 34 (2004/05), S. 68–92.
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Das Heiligtrauernde? Denn voll Erwartung liegt Das Land und als in heißen Tagen Herabgesenkt, umschattet heut Ihr Sehnenden! uns ahnungsvoll ein Himmel. Voll ist er von Verheißungen und scheint Mir drohend auch, doch will ich bei ihm bleiben, Und rückwärts soll die Seele mir nicht fliehn Zu euch, Vergangene! die zu lieb mir sind. Denn euer schönes Angesicht zu sehn, Als wärs, wie sonst, ich fürcht’ es, tödlich ists, Und kaum erlaubt, Gestorbene zu wecken.
Wie um sich ihre Bedrohung vom Leibe zu halten, ruft das lyrische Subjekt sogleich die Götter an: „ihr hattet eure Zeiten!“ (V. 18). Ein spätes Gedichtbruchstück ist überschrieben mit Der Totengräber. Im Zusammenhang mit dieser Trauer- und Todesthematik liegt es nahe, im Totengräber den Dichter selbst zu sehen: „Klopstock gestorben am / Jahrtausend. Also heißet um die Alten / Die Trauer. / Furchtbar scheint mir das und als ein“ (KA, I, 441).45 „Viele sind gestorben“, heißt es im Gedichtfragment Die Titanen (KA I, 390, V. 7). Hölderlin war sich bewusst, dass er mit dieser Trauer- und Todesthematik ein Lebensproblem behandelt. Es geht auf frühe Erfahrungen zurück. Der leibliche Vater starb 1772, der geliebte Stiefvater 1779. Von den sieben Kindern, die Hölderlins Mutter zwischen 1770 und 1778 gebar, starben vier. Geburt und Tod wechselten sich ab.46 Selbst wenn man die damalige hohe Sterberate von Kindern bedenkt, also auch eine andere Todeserfahrung als heute, kann man unterstellen, dass diese Todeserfahrungen tiefe Spuren im jungen Hölderlin hinterließen, zumal die Mutter sich nun einer, wie der Sohn ihr schrieb, „allzugroßen Trauer“ (KA III, 60 f.) hingab. Diese Trauer machte sie für den Sohn auch emotional unerreichbar. Noch viele Jahre später führte Hölderlin seine seelische Fragilität, seinen „Hang zur Trauer“ auf die „tägliche Trauer“ (KA III, 361) der Mutter zurück. Manchen „Gesang“, heißt es im Hymnenfragment An die Madonna, „den hat / Mit weggezehret die Schwermut“ (KA I, 385, V. 9–12). Zur psychischen Disposition kam eine kulturelle Disposition, die Ausbildung einer hochkomplexen Gefühlskultur in der Empfindsamkeit und im Sturm und Drang, eine neue Sensibilität für Phänomene der Melancholie und der Trauer. Der zeitgenössische Ossiankult faszinierte mit seinem Amalgam einer griechischen und synthetisierten nordischen Antike und seinen melancholischen, todessüchtigen 45 Vermutlich so zu deuten: So wie die Trauer um Klopstock – der 1803 starb –, ist auch die Trauer um die Alten zu verstehen. 46 Ulrich Gaier u.a.: Hölderlin Texturen, Bd. I.I „Alle meine Hofnungen“. Lauffen, Nürtingen, Denkendorf, Maulbronn 1770–1788, Tübingen (Hölderlin-Gesellschaft) 2003, S. 157: „Geburt und Tod wechselten in einem erschreckenden Rhythmus.“
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Gesängen, seinem „joy of grief“. Sie trafen auf allermodernste Gefühlslagen.47 An einen Freund schreibt der junge Hölderlin: „Da leg’ ich meinen Ossian weg, und komme zu Dir. Ich habe meine Seele geweidet an den Helden des Barden, habe mit ihm getrauert, wann er trauerte über sterbende Mädchen.“ (KA III, 39) Diese Gefühlskultur führte auch zu einer identifikatorischen Emotionalisierung des Umgangs mit Literatur, wie exemplarisch aus der Vorrede zu Die Leiden des jungen Werther und aus Hölderlins Formulierung „meinen Ossian“ hervorgeht.48 In Hölderlins Hymne Mnemosyne, wahrscheinlich zwischen 1803 und 1806 entstanden, lautet die dritte, letzte Strophe (KA I, 365): Am Feigenbaum ist mein Achilles mir gestorben, Und Ajax liegt An den Grotten der See, An Bächen, benachbart dem Skamandros, An Schläfen Sausen einst, nach Der unbewegten Salamis steter Gewohnheit, in der Fremd’, ist groß Ajax gestorben Patroklos aber in des Königes Harnisch. Und es starben Noch andere viel. Am Kithäron aber lag Elevterä, der Mnemosyne Stadt. Der auch als Ablegte den Mantel Gott, das abendliche nachher löste Die Locken. Himmlische nämlich sind Unwillig, wenn einer nicht die Seele schonend sich Zusammengenommen, aber er muß doch; dem Gleich fehlet die Trauer.
47 Vgl. Werner Hoffmann (Hg.): Ossian und die Kunst um 1800. Katalog Hamburger Kunsthalle, München 1974. Vgl. als Beispiel die Ossian-Passagen in Goethes Die Leiden des jungen Werther in Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. 5, München 1982, S. 108 ff. Zur Frage, inwieweit diese Gesänge erfunden oder nicht erfunden sind, vgl. Howard Gaskill: „Ossian“ Macpherson. Towards a rehabilitation, in: Comparative Criticism 8 (1986), S. 113–146; ders.: Hölderlin und Ossian, in: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990/91), S. 100–130. Aufschlussreich für die Folge: Wolfgang Braungart: Hyperions Melancholie, in: Christentum und Antike, hg. von Valérie Lawitschka, Tübingen (Hölderlin-Gesellschaft) 1992, S. 111–140. 48 Vgl. zu diesem emotionalen Lektürehabitus Erich Schön: Geschichte des Lesens, in: Handbuch Lesen, hg. von Bodo Franzmann u.a., München 1999, S. 1–85, siehe bes. S. 31.
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Dieses Gedicht ist in seiner kondensierten, emphatischen49 Bedeutungsstruktur schwer zu verstehen. Seine Interpretation ist umstritten, umstritten zumal die Textkonstitution einschließlich der Zahl (drei oder vier) der Strophen.50 Auf diese Diskussion gehe ich nicht ein. Ich lege die Textkonstitution in der Klassiker-Ausgabe von Jochen Schmidt zugrunde. Das Gedicht trägt den griechischen Titel Mnemosyne. Die Titanin Mnemosyne ist in der griechischen Mythologie die Verkörperung der Erinnerung und die Mutter der Musen. Die erste Strophe handelt von der zwiespältigen Kraft der Erinnerung. Erinnerung kann Vergangenes „behalten“ (V. 14), damit auch Kontinuität und Identität stiften, und Erinnerung kann das Gegenteil bewirken. Sie kann einen Sog ausüben, in dem sich der Erinnernde verlieren kann. So entsprechen die beiden Möglichkeiten der Erinnerung zwei elementaren Lebenstendenzen, der Tendenz zur Bewahrung des Selbst und der Tendenz zur Entgrenzung und Auflösung des Selbst. Sie entsprechen den Elementen, welche, der Kulturtheorie des Briefes an Böhlendorff zufolge, je unterschiedlich angeordnet die antike und moderne Kultur bilden. Der Tendenz zur Selbstbewahrung wird „Treue“ (V. 14) zugeordnet, ein Sehen „Vorwärts“ und „rückwärts“ (V. 15), der Tendenz zur Selbstauflösung eine „Sehnsucht“ ins „Ungebundene“ (V. 13). Im Gedicht werden diese beiden Tendenzen der Erinnerung teils in Lehrsätzen (z.B. „Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist / Zu behalten.“ V. 12 f.), teils in einer Selbstexposition des lyrischen Subjekts vorgeführt. Der Zumutung, vorwärts und rückwärts zu sehen, will die Fantasie einer Flucht in einen kindlichen Zustand ausweichen. In einer sermocinatio heißt es: „Vorwärts aber und rückwärts wollen wir / Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See.“ (V. 15–17). In der zweiten Strophe werden als „Tageszeichen“ (V. 24) mit dem an Dächern ‚blühenden‘ Rauch und den ‚Kronen‘ der Türme Bilder einer Harmonie von Natur und Kultur angeführt. In Hölderlins poetischem Lexikon wird, wie schon erwähnt, der „Tag“ auch als Metapher für die Offenbarung des Göttlichen verwendet.51 Griechenland kann 49 Den Begriff der Emphase verwende ich entsprechend der rhetorischen Bestimmung. Die Emphase ist eine Formulierung, die ihre Bedeutung mehr impliziert als expliziert. Die heute übliche Bedeutung „Ausdrucksverstärkung“ ist eine spätere Entwicklung. Vgl. Artikel Emphase, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 1121–1123. 50 Zur Interpretation des Gedichts vgl. neben dem Kommentar von Jochen Schmidt ders.: Hölderlins letzte Hymnen „Andenken“ und „Mnemosyne“, Tübingen 1970; Harrison: Hölderlin and Greek Literature, S. 220–238; Roland Reuß: „…Die eigene Rede des andern“. Hölderlins „Andenken“ und „Mnemosyne“, Frankfurt a. M. 1990, S. 555 ff.; Helmut Hühn: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken, Stuttgart, Weimar 1997, S. 249–272; Flemming Roland-Jensen: Vernünftige Gedanken über Die Nymphe Mnemosyne, Würzburg 1998, bes. S. 128 ff.; Bart Philipsen: Gesänge (Stuttgart, Homburg), in: Hölderlin-Handbuch, hg. von Johann Kreuzer, Stuttgart, Weimar 2002, S. 375–378; Gunter Martens: Über Handschriften gebeugt. Ein Versuch, Hölderlins „Mnemosyne“ zu fassen, in: Literatur als Erinnerung. Winfried Woesler zum 65. Geburtstag, hg. von Bodo Plachta, Tübingen 2004, S. 165– 192; Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Marginalien zu Hölderlins Werk, Würzburg 2010, S. 7–29. 51 Vgl. z.B. KA I, 239, V. 19; 247, V.6; 262, V.277; 305, V. 5.
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so metaphorisch der „Tag“ der Götter (KA I, 288, V. 72) genannt werden. Zu den Bildern einer göttlichen Harmonie von Natur und Kultur treten natürliche Zeichen für das „Edelmütige, wo / Es seie“ (V. 26 f.). Es sind Zeichen der Vergänglichkeit und einer zarten Erneuerung, der Verbindung des Himmels (Glanz des Schnees) und der Erde (die Blumen): der glänzende Schnee, der zur Hälfte die „grüne[n] Wiese“ (V. 28) bedeckt, die „Maienblumen“ (V. 25). Auch hier bedeutet (V. 27: „bedeutend“) Natürliches auch menschliches Handeln, das „Edelmütige, wo / Es seie“: Also auch in der Gegenwart. Diese Zeichen werden dem Erinnerungszeichen des christlichen Kreuzes gegenübergestellt. Es erinnert an ein historisches Ereignis („einmal“). Von ihm wird ‚geredet‘. Über dieses Zeichen muss man sich also verständigen. Dieses Zeichen, dieses ‚Mal‘ wird von Menschen bewusst gesetzt: „da, vom Kreuze redend, das / Gesetzt ist unterwegs einmal / Gestorbenen“ (V. 29–31). Ein „Wandersmann“ (V. 32), den man als eine objektivierende Selbstfiguration des lyrischen Subjekts verstehen kann,52 geht „zornig, / Fern ahnend mit / Dem andern“ (V. 32–34). Wer ist der ohne weitere Angabe eingeführte, offenbar eine weitere Angabe nicht brauchende ‚andere‘? Damit könnte, wie man vermutet hat, Christus gemeint sein, der, auferstanden, von ihnen lange unerkannt zwei Jünger „unterwegs“ (Lukas 24, 17; V. 30) nach Emmaus begleitete (Vgl. Lukas 24, 13–35).53 Die beiden Jünger redeten über die Kreuzigung und den Tod von Christus. Es könnte sein, dass der Zorn des Wandersmanns sich auf diesen „andern“, auf Christus bezieht. Er könnte dann als „Ein Himmlisches“ (V. 24) verstanden werden, das „gegenredend“ die Seele „verwundet“ (V. 23 f.). Grammatisch und im Kontext möglich ist die Überlegung, in „[d]em andern“ sowohl den Anderen als auch das Andere zu verstehen, eine andere, mit dem Tod verbundene Erinnerungskultur, eine andere, christliche, nachantike Welt. Emphatisch gedeutet evozieren die Ausdrücke „hälftig“, das „unterwegs einmal“ gesetzte „Kreuz[e]“ den Gang der Geschichte von Griechenland in das christliche Abendland. Die Alpen bilden die Grenze und den Übergang zwischen den beiden ‚Hälften‘. Jochen Schmidt hat in einer Untersuchung über das Motiv des Zorns in Hölderlins Spätwerk nachgewiesen, dass Zorn als eine Metapher für die Fülle und Leidenschaft des Lebens verwendet wird. Das Außer-sich-Sein, in das man im Zorn gerät, wird als Bedrohung und Befreiung zugleich erfahren.54 Hier scheint sich der Zorn des Wandersmanns, „hälftig, da“, noch in einem Ausgleich mit dem ‚Gesetzten‘ des Kreuzes zu befinden. Doch könnte die Wahl des Adverbs „zornig“ schon oder auch darauf deuten, dass sich dieser Zorn an dem ‚gesetzten‘ Kreuz entzündet, dass der Ausgleich gefährdet ist. „Fern ahnend“ bezieht sich auf zeitlich und räumlich Fernes, besonders auf Zukünftiges.55 Das Ahnen in die Ferne steht 52 Die Rolle des Dichters als Wanderer findet sich z.B. auch in der Ode Ganymed. 53 Vgl. Roland-Jensen: Vernünftige Gedanken, S. 135 f. 54 Vgl. Jochen Schmidt: Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk, in: Hölderlin-Jahrbuch 15 (1967/68), S. 128–157. 55 Vgl. auch „fernahnend die Rosse des Herrn“ (KA I, 398, V. 26), der „ fernsinnende“ Kaufmann (KA I, 255, V. 72).
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gegen die eskapistische Versuchung des „Vorwärts aber und rückwärts wollen wir / Nicht sehn.“ Diese Strophe endet mit der Frage „was ist dies?“. Mit dieser Frage wird im lutherischen Katechismus die Erklärung der einzelnen Gebote eingeleitet.56 Sie kann sich reflexiv auf den Sinn des Gedichts beziehen,57 aber auch, im Kontext, auf die Erinnerung an den Tod der Heroen der Ilias, die das lyrische Subjekt geradezu überfällt. Denn dann heißt es, wie nach einem scharfen Filmschnitt, wie in einem Selbstgespräch: „Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben“. Die Erinnerung scheint das lyrische Subjekt zu überfallen, erscheint aber auch als provoziert durch das ,gesetzte‘ Todeszeichen des Kreuzes und durch den Zorn, der sich daran entzündet. Nicht an einem Kreuz, sondern an einem Feigenbaum ist Achilles „für“ das lyrische Subjekt gestorben. Sein Zorn führt auf den „Zorn“ des Achilles, von dem die Ilias (I, 1) singt. Auch die anderen Helden werden in der Ilias zornig genannt. Mit dem Feigenbaum wählt Hölderlin auch einen Baum, der symbolisch für Fruchtbarkeit und Leben steht.58 Feigenbäume stehen zwar in der Ilias auf dem Schlachtfeld vor Troja, aber Achilles fiel am Skäischen Tor (Ilias XXII, 359 f.), nicht an einem Feigenbaum. Man kann also unterstellen, dass Hölderlin diesen Baum wegen seiner symbolischen Bedeutung gewählt hat, wohl um den Tod dieses zornigen Helden mit Fülle und Leidenschaft des Lebens in Verbindung zu bringen. Herausgestellt wird aber nicht eine mögliche Verbindung von Tod und Leben wie in der zweiten Strophe. Der Tod des Achilles dient vielmehr als Mittel eines narzisstischen Selbstbezugs. In der hypertrophen Paarung des Pronomens „mein“ mit dem ethischen Dativ „mir“ äußert sich eine identifikatorische Bemächtigung des Helden durch das lyrische Subjekt, die ihn in einer ‚wilden Trauer‘ ganz und ausschließlich auf sich bezieht. Das Pronomen „mein“ kann durchaus als ein Possessivpronomen verstanden werden. Dieser Achilles ist keine Figur aus einer antiquarischen Welt mehr! Die Formulierung und der Kontext statten den Tod des Achilles mit einer religiösen, neuzeitlichen Bedeutung für das lyrische Subjekt aus. Sie lehnt sich an die christliche Lehre an, dass Christus „für mich“59 oder „für uns“ (Römer, 5,8) gestorben ist. Im Unterschied zu ‚für mich gestorben‘ zieht die Formulierung ‚mir gestorben‘ jedoch diesen Tod in die unmittelbare Gefühlswelt des Ich. ‚Für mich gestorben‘ wahrt eine Distanz zwischen dem, der gestorben ist, und dem, für den er gestorben ist. Die Handlung ist 56 Vgl. Sabine Doering: Aber was ist diß? Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk, Göttingen 1992, S. 140. 57 Vgl. ebd., S. 140 f. 58 Vgl. Artikel Feige / Feigenbaum / Feigenblatt, in: Metzler-Lexikon literarischer Symbole, hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart 2008, S. 98 f. 59 Philipp Friedrich Hiller: Geistliches Liederkästlein, Metzingen 1994, S. 596, Str. 1. Das Geistliche Liederkästlein erschien zuerst 1762/1767 und wurde das Hausbuch pietistischer Familien in Württemberg. Hölderlin erhielt es als Geschenk zu seiner Konfirmation 1784; Evangelisches Kirchengesangbuch in Hessen und Nassau, Nr. 91, Strophe 9: „[…] Du hast mein Heil, da du für mich gestorben, / am Kreuz erworben.“ (Text von Gellert, 1757).
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auf den, der ‚für‘ stirbt, zentriert. ‚Mir gestorben‘ löst diese Distanz in die Innigkeit einer Beziehung auf. Sie ist auf das fühlende, erlebende Subjekt zentriert. Zugleich übernimmt die Formulierung ein sprachliches Muster der Empfindsamkeit, die Hölderlins Jugend auch bestimmte. Werther schreibt in Goethes Roman von „meinem Homer“ oder „Ich halte mein Herzchen wie ein krankes Kind“. Im Ort Wahlheim „lass’ ich mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese meinen Homer.“60 Dieses emotional aufgeladene Werther-Pronomen wird auch in Hölderlins Roman ständig verwendet, z.B. heißt es „mein Bellarmin“, „meine Geliebten“ – gemeint sind die Gestalten der Antike − „mein Vaterland“, „mein Adamas“, „mein Homer“ und auch „meine Heroen“ (KA II, 26). Hier wie dort artikuliert das Pronomen ein narzisstisches, im Narzissmus possessives Verhältnis zur Welt. Und es artikuliert damit eine in der Neuzeit angelegte Tendenz. Denn zur Signatur der Neuzeit gehört in Hölderlins Verständnis auch eine durch das Christentum eingeführte Individualisierung der Religion und der Lebensverhältnisse, wie z.B. aus der Hymne Der Einzige hervorgeht. Diese Individualisierung wird nach seinem Verständnis in der griechischen Kultur schon vorbereitet. In seiner Übersetzung des sophokleischen Dramas Antigone legt er Antigone gegen Kreon die Worte in den Mund: „Mein Zeus berichtete mirs nicht“ (KA II, 877, V. 467; wörtlich: Es war nicht Zeus, der mir dies verkündete, vgl. KA II, 1419). In den folgenden Versen löst sich das lyrische Subjekt aus dieser narzisstischen Verfallenheit an den Tod des Achilles und gewinnt Distanz. Es exponiert sich nicht mehr direkt, sondern tritt hinter seine Aussagen zurück. Erwähnt wird, dass Ajax an den „Grotten der See, / An Bächen, benachbart dem Skamandros“ [einem Fluss] liegt, also in der Nähe des Wassers. Angespielt wird mit „An Schläfen Sausen“ auf seinen Wahnsinn und die Taten, die er darin verübte. Aus Scham darüber tötete er sich selbst. Davon berichtet u.a. das Drama Aias von Sophokles.61 Vielleicht soll durch die Erwähnung des Wassers diesem Tod etwas Tröstliches mitgegeben werden. In Hälfte des Lebens (KA I, 320; V. 7,5) wird das Wasser ‚heilignüchtern‘ genannt, weil es die ‚Trunkenheit‘, das Außer-sich-Sein ausgleicht. Patroklos starb „aber“ im Kampf in des „Königes Harnisch“, in der Rüstung des Achilles (vgl. Ilias, XVI. Gesang). Der Ausdruck ‚König‘ verleiht der Formulierung eine neuzeitliche Konnotation. Lakonisch wird angefügt: „Und es starben / Noch andere viel.“ Wieder emphatisch verstanden, könnten der Tod des Achilles am Feigenbaum, des Ajax „An Schläfen Sausen […] in der Fremd’“ und der Tod des Patroklos in des Königs Harnisch, also in einem ‚fremden‘ Schutz, auch im Zusammenhang von Hölderlins Analyse der griechischen Kultur ausgelegt werden, wonach sie unterging, weil sie den Ausgleich von Naturanlage und ‚fremder‘ Form verlor.62 Im Tod aller 60 Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, S. 10, 14 f. 61 Partien daraus hat Hölderlin übersetzt, vgl. KA II, 778–781. Dort werden auch die Bäche, die Höhlen am Meer und der Skamander erwähnt. 62 Vgl. auch Kolomb: „wohl nämlich mag / Den Harnisch dehnen / […] ein Halbgott“, KA I, 411, V. 130 f.; KA II,16: „Eines zu sein mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch […]weg“.
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drei Helden konnte Hölderlin, nach der Darstellung bei Homer und Sophokles, ein Moment von ‚Todeslust‘ entdecken.63 Darin liegt wohl auch die Bedeutung des Feigenbaums als Symbol einer entgrenzenden Lebensfülle. Synekdochisch stünde der Tod der Helden daher für den Untergang Griechenlands. Auf diesen Untergang deutet auch die Formulierung, dass das „abendliche“, eine Antonomasie des Abendlandes, „Elevterä“ die Locken löste. Das Lösen der Locken kann ein Auflösen und ein Ablösen bedeuten.64 Auch der Untergang von „Elevterä, der Mnemosyne Stadt“65 stünde dann für den Untergang Griechenlands. Er vollzieht sich hier in einem intimen, liebevollen, geradezu befreienden, aber auch gewaltsamen, ,unwilligen‘ Akt. Versteht man „Gott“ als Synekdoche für den griechischen Götterhimmel, dann kann man, wie Gunter Martens vorschlägt, das Ablegen des Mantels als ein Ablegen der Macht verstehen.66 Versteht man „Gott“, artikellos, als Gott des christlichen Abendlandes, dann bedeutet das Ablegen des Mantels seine Ankunft, seine Einkehr. Zur Nacht werden „nachher“ die Locken gelöst. Die Schlussverse konstatieren lapidar die Ambivalenz der Erinnerung und der Lebenstendenzen, die das ganze Gedicht durchzieht. Ihre Vermittlung bleibt fragil. Der Mensch muss sich zusammennehmen, um seine Seele zu „schonen“, „aber er muß doch“, heißt es, ihn drängt es ins „Ungebundene“ (V. 13). Der Tod der Helden, der Untergang der Stadt der Mnemosyne („auch“) wird aus diesem Entgrenzungsdrang erklärt (vgl. KA I, 1051). „Dem gleich“, also dem gleich, der sich nicht zusammennehmen kann, „fehlet die Trauer“. Eine solche exzessive Trauer geht fehl und führt zum Untergang wie die griechische Welt (vgl. KA I, 1051 f.). Diese Deutung von ‚fehl gehen‘ wird durch den Kontext nahegelegt. Durch das Enjambement „dem / Gleich fehlet die Trauer“ wird freilich noch eine andere Bedeutung nahegelegt. Sie wird auch nahegelgt, wenn man mit Reitani nicht „er muß“, sondern „es muß“ liest.67 Zur Trauer über den Tod eines Menschen gehört die Annahme eines unwiederbringlichen Verlustes, die Annahme also auch einer Grenze. Grenzenlos ist die „wilde Trauer“ Hyperions und die „allzugroße“ Trauer der Mutter. Eine über diese Grenze gehende Trauer über den Untergang der griechischen Welt nimmt ihren unwiederbringlichen Verlust nicht an. Daher kann der letzte Vers nicht nur bedeuten, dass die Trauer fehl geht, sondern auch, „Gleich fehlet die Trauer“, dass sie fehlt, dass diese Trauer keine Trauer ist. Wer sich zusammennimmt, hieße dies, dessen Trauer „fehlet“ nicht.
63 Vgl. Harrison: Hölderlin and Greek Literature, S. 222. 64 In antiker Vorstellung bezeichnet das Ablösen einer Locke den Augenblick des Todes, vgl. KA I, 1048. 65 Nach Hesiods Theogonie, V. 915, ist Mnemosyne eine „lockige Schönheit“; in anderer Übersetzung die „Schönlockige“. 66 Vgl. Martens: Über Handschriften gebeugt, S. 183. 67 Friedrich Hölderlin: Tutte le liriche, a cura di Luigi Reitani, Milano 2001, S. 1110, V. 50 und S. 1826.
Alexander Löck
Denkt Ich an Deutschland Humor und Lebenswelt bei Heine
1. Wer Teetisch auf ästhetisch reimt, hätte natürlich gefehlt, wenn es um Literatur und Lebenswelt geht. Dass Heinrich Heine in den Florentinischen Nächten dem Wort „Lebenswelt“ ein gleichsam prähistorisches Textdenkmal gesetzt hat, ist in diesem Zusammenhang nur eine Fußnote.1 Wichtiger ist, dass Heines „Schreibart“ ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die grundsätzliche Lebensweltlichkeit von Literatur ist: für das anschauliche Vergegenwärtigen2 lebensweltlichen „Wahr- und Wertnehmens“,3 das den Rezipienten zum Anlass und zum Stimulus einer wertenden Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer eigenen Lebenswelt wird.4 Wolfgang Preisendanz hat gezeigt, dass und wie Heine in seinen Prosaschriften „die eigenen Wirklichkeitsbezüge und Wirklichkeitsspiegelungen als ein Feld von Vermittlungsrelationen vergegenwärtigt“:5 wie sich „der Autor durch seine Erlebnis- und Reflexi1 Heinrich Heine: Florentinische Nächte, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verb. mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 5, bearb. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1994, S. 197–250, hier S. 214. – Die „sonnig[e] Lebenswelt“ wird hier vom „schweflichten Schattenreich“ der Hölle unterschieden. – Die Düsseldorfer Heine-Ausgabe wird im Folgenden zitiert als DHA, jeweils mit Angabe der Bandnummer. 2 Zum Begriff der Anschaulichkeit und seiner literaturtheoretischen Bedeutung als „elementare“ „Bestimmung“ von Literatur, die „über die Epochengrenzen hinweg Bedeutung besitzt“, weil sie ein „Wesensmoment mit großer historischer Reichweite“ bezeichnet, siehe Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989 (= Studien zur deutschen Literatur 103), S. 4. 3 Vgl. Gottfried Willems: Literatur, in: Fischer Lexikon Literatur, hg. von Ulfert Ricklefs, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1995, S. 1006–1029, hier S. 1014. 4 Vgl. Gottfried Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Literaturwissenschaft. Die Literatur als Refugium des Wertlebens und das Ideal der wertfreien Wissenschaft. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich unter Mitarb. von Andreas Grimm, Berlin, New York 2010, S. 223–245, S. 241–243. 5 Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik, in: ders.: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München 1973, S. 21–68, hier S. 61. Nach wie vor sind Preisendanz’ Arbeiten der Stand der Forschung, an dem keiner vorbeikommt, der sich mit Heines „Schreibart“ beschäftigt.
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onsmuster oder durch die Intentionalität seiner Wahrnehmungen“ präsentiert6 und wie dadurch eine „Vermittlung von Bewußtsein und Welt“ erkennbar wird, deren „determinierender Faktor“ eine „Korrelation von Erfahrungsstruktur, Einstellung und Phänomenbereich“ ist.7 Der unübersehbare Bezug auf phänomenologische Termini ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Preisendanz’ Formulierungen sich gut eignen, das Verhältnis von Literatur und Lebenswelt überhaupt zu beschreiben. Das ist insofern wenig überraschend, als Preisendanz mit diesen Bestimmungen den „Kunstfaktor“ von Heines Prosaschriften aufzeigen will: „das Vielschichtige und Beziehungsreiche einer ausgeprägten Formensprache, also einer durch ihren Kunstfaktor informierenden und kommunizierenden Textbildung“.8 Mit Preisendanz’ Argumentation lässt sich deshalb der Zusammenhang zwischen literarischer Lebensweltlichkeit und jenem „impliziten“,9 „nicht-propositionalen“10 Sprechen der Form erläutern, das als literarische „Formensprache“11 wesentlich den „Kunstfaktor“ literarischer Rede ausmacht. Damit steht aber die Frage im Raum, was nun das Neue an Heines „Schreibart“ ist, um das es Preisendanz ja eigentlich geht. Das Neue in Heines Schreibart sieht Preisendanz darin, dass lebensweltliche „Vermittlungsrelationen“ nicht nur Bezugspunkt und Voraussetzung der Darstellung, sondern geradezu ihr eigentlicher Gegenstand sind. Mit Eckhard Lobsiens Terminologie lässt sich Preisendanz’ Analyse so zusammenfassen, dass sich Heines Schreibart durch „Selbstthematisierung“ und „Entgrenzung“ auszeichnet, also jene zwei Momente, die in „moderner Kunst“ die gewohnte lebensweltliche Wahrnehmung zugleich stören und (durch diese Störung) zum Gegenstand lebensweltlicher Selbstreflexion werden lassen.12 6 Ebd., S. 63. 7 Ebd., S. 44. 8 Ebd., S. 66. 9 Zum Zusammenhang von „Implizitheit“ und „Konkretheit“ literarischer Rede siehe Bernd Auerochs: Literatur und Reflexion, in: Löck/Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur, S. 263–288, hier S. 274. 10 Vgl. Gottfried Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur, in: Löck/Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur, S. 247–262, hier S. 259. Siehe auch S. 254–256. 11 Zum Begriff der Formensprache siehe Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Erster Band: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Der Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Hamburg 1949, S. 18. – Gottfried Willems: Form/Struktur/Gattung, in: Fischer Lexikon Literatur, hg. von Ulfert Ricklefs, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1995, S. 1006–1029, hier S. 696–698. – Zum Zusammenhang von Formensprache, Implizitheit, Nicht-Propositionalität und Lebensweltlichkeit der Literatur siehe Alexander Löck: Was vom Fragen übrig blieb. Versuch einer Synthese, in: Löck/Urbich (Hg.) Der Begriff der Literatur, S. 63–117, hier S. 112–116. 12 Vgl. Eckhard Lobsien: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft, München 1988 (= Übergänge: Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 20), S. 25–28, 212. – Hier zeigt sich zum einen die Kompatibilität von Lobsiens phänomenologischem und Preisendanz’ formgeschichtlichem Ansatz. – Formgeschichtlich interessant ist zudem, dass Heines Schreibart Lobsiens
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Entgrenzt wird zum einen der Gegenstandsbereich, da in Heines Prosaschriften „jeder beliebige Stoff“, vor allem aber die „Politik des Tages“, kurz: die jeweils konkrete historisch-soziale Situation der Gegenwart den Gegenstand bildet, die der klassischen Ästhetik nicht als kunstwürdig gegolten hatte.13 Heines neue Schreibart ist somit Teil einer formgeschichtlichen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die durch einen „Hunger nach konkreter Wirklichkeit“ (Friedrich Sengle) motiviert ist, also dadurch, „daß die empirische Wirklichkeit immer größere Bedeutung für Weltbewußtsein und Lebensgefühl gewinnt.“14 Wichtiger aber noch als die Entgrenzung des Gegenstandsbereichs ist die Entgrenzung jenes „Bezugsrahmens“, der den quasi-lebensweltlichen Zusammenhang der einzelnen Darstellungselemente gewährleistet. Die „Korrelation von Erfahrungsstruktur, Einstellung und Phänomenbereich“ ist bei Heine nicht „vorgegeben“ durch ein als überzeitlich verbindlich betrachtetes Weltbild – den christlichen Glauben, den frühneuzeitlichen Neustoizismus, den Glauben an die eine große Natur. Vielmehr wird diese Korrelation in der literarischen Darstellung als „ideologische“, weil „an einer bestimmten Zeitstelle auftretende Denk- und Erfahrungsstruktur“ gekennzeichnet.15 Es werden nicht nur die Gegenstände der Darstellung „als faktische, historisch-empirische ausgewiesen“, sondern auch der Bezugsrahmen für jenen Zusammenhang, den die Darstellung zwischen diesen Gegenständen herstellt, wird dargestellt als abhängig vom Historisch-Sozialen.16 Dadurch weist die Darstellung die ihr zugrundeliegende „Mentalität“ nicht als universell gültig, sondern als „historisch determiniert“17 und damit letztlich kontingent aus. Das „komplementäre Moment“ zu dieser „geschichtlichen Ortsbestimmung“ von Gegenständen und Bezugsrahmen ist das, was Preisendanz im Rückgriff auf Karl Mannheim als „Selbstrelativierung des Denkens, Fühlens, Wollens und Wertens“ bezeichnet.18 Diese Selbstrelativierung ist wesentlich eine Leistung eines „ständigen Konstatieren[s], Hervorkehren[s], Dokumentieren[s] der eigenen Persönlichkeit“.19 Dabei handelt sich um eine Selbstthematisierung der Sprecherinstanz und der auf sie bezogenen Darstellungsmittel. Das geschieht direkt durch entsprechende Reflexionen und Kommentare, vor allem aber indirekt formensprachlich, indem der Sprecher sich „durch seine Erlebnis- und Refle-
idealtypische Unterscheidung von „moderner“ anti-illusionistischer und „traditioneller“ illusionistischer Kunst unterläuft, weil hier Selbstthematisierung und Entgrenzung mit illusionsbildender Darstellung einhergehen. 13 Vgl. Preisendanz: Funktionsübergang, S. 23–24. 14 Willems: Anschaulichkeit, S. 337. 15 Vgl. Preisendanz: Funktionsübergang, S. 40–41 Anm. 28. Preisendanz folgt hier Karl Mannheims nicht-pejorativer Verwendung des Begriffs der Ideologie. 16 Vgl. ebd., S. 60. 17 Vgl. ebd., S. 62. 18 Vgl. ebd., S. 61. 19 Ebd.
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xionsmuster oder durch die Intentionalität seiner Wahrnehmungen oder auch durch sein esoterisches Lesen als Bild oder Signatur der Zeit“ präsentiert.20 Die Lebensweltlichkeit von Heines „neuer Schreibart“ besteht also darin, dass in der Darstellung „ein eigenartiges Verhältnis von Welthaltigkeit und Subjektivität“21 zum Ausdruck kommt, so dass Wirklichkeit zugleich als Gegenstand subjektiver Weltdeutung und als Quelle jener subjektiven Erfahrungsstruktur erscheint, die diese Deutung gleichermaßen ermöglicht und bedingt: Ein Sprecher-Ich wird inszeniert „als ein in die ‚erste wirkliche Welt‘ des Historischen, Politischen, Sozialen, Ideologischen verwickeltes und verwobenes“,22 so dass der Konstruktcharakter des Verhältnisses von Welt und Subjekt kommuniziert wird. Aus der Perspektive des Sprecher-Ichs werden die Gegenstände so dargestellt und „esoterisch gelesen“,23 dass sie als „Signatur“ erscheinen – als Symptom und/oder quasi symbolische Veranschaulichung der „historisch-politisch-sozialen Verhältnisse“24 ebenso wie des „‚Zeitgeistes‘, […] der aktuellen geistigen und gesellschaftlichen Potenzen, Faktoren und Prozesse“.25 Die Darstellung bei Heine lässt nun aber nicht nur die dargestellte Welt, sondern auch das der Darstellung zugrundeliegende Wertungsgeschehen als „Signatur“ erscheinen. Auf diese Weise werden auch „die eigenen Ideen und Interessen, die eigene geistig-seelische Verfassung [als] Emanation [sic!] des ‚Zeitgeistes‘“ vergegenwärtigt.26 Der „Weltpsychologe“27 Heine liegt bei sich selbst auf der Couch. Dieser Befund führt nun unmittelbar zur alten und doch immer neuen Frage nach dem Verhältnis von Ironie und Humor. Preisendanz hat beide Momente getrennt voneinander in unmittelbaren Zusammenhang mit dem eigentümlichen Verhältnis von „geschichtlicher Ortsbestimmung“ und „Selbstrelativierung“ in Heines Schreibart gebracht, ohne jedoch das Verhältnis von Ironie und Humor explizit zu klären. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine klärende Synthese dessen, was Preisendanz jeweils zur Ironie und zum Humor bei Heine herausgearbeitet hat, nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, um das doppelte Paradoxon angemessen beschreiben zu können, das die Lebensweltlichkeit von Heines Texten kennzeichnet: Zum einen führt die ironische Selbstrelativierung der eigenen Wirklichkeitsbezüge und Wirklichkeitsspiegelungen nicht zu einer Relativierung, sondern zu einem Absolut-Setzen des eigenen subjektiven Standpunkts. Zum andern versichert sich das Sprecher-Ich gerade durch die Einsicht in die unhintergehbare geistig-seelische Abhängigkeit von „aktuellen geistigen und gesellschaftlichen Potenzen, Faktoren und Prozessen“ seiner selbst als autonomes Subjekt. Es 20 21 22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 63. Ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 55. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 61. Ebd., S. 41. Preisendanz zitiert hier Thomas Mann.
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wird gezeigt, wie einerseits „individuelle Werterlebnisse“ unhintergehbar durch „kollektive Normen“28 bedingt sind, wie aber andererseits kollektive Normen nur durch individuelles Wahr- und Wertnehmen lebensweltliche Evidenz gewinnen. Dieser Auffassung von Lebenswelt entspricht bei Heine eine humoristische Darstellung, die das Disparate der Wirklichkeit zugleich mit der subjektiven Willkür und ideologischen Relativität lebensweltlicher Orientierung vergegenwärtigt, ohne dadurch die Wirklichkeit als Lebenswelt und das Ich als autonomes Subjekt zu desavouieren. Dieser Zusammenhang von Lebensweltlichkeit und Humor bei Heine soll nun aufgerissen und anschließend am Beispiel der Nachtgedanken erläutert werden.
2. Zentraler Bezugspunkt für Preisendanz’ Bestimmung von Ironie und Humor bei Heine ist seine These, dass in Heines Darstellung sowohl die dargestellte Welt als auch deren Deutung durch das jeweilige Sprecher-Ich „Signaturcharakter“ bekommen. Die „Weltironie“ – die lebensweltliche „Verquickung von Absurdem und Vernünftigem, von Tragischem und Komischem, Erhabenem und Lächerlichem, von Fug und Unfug“ – „ist für Heine die eigentliche Signatur des Menschenlebens wie der Menschheitsgeschichte“;29 und ihr Bewusstseins-Korrelat – der „Bürgerkrieg in seiner Brust“, der „Konflikt zwischen Ansichten und Gefühlen“, die „‚Ironie des Geschicks‘, nie mit sich selbst einig zu sein,“ – „ist ihm die Signatur der geistigen Situation der Zeit, des großen Weltrisses, der nun keineswegs ontologisch oder metaphysisch gemeint ist, sondern als Ergebnis politischer, sozialer und ideologischer Prozesse.“30 Vom Humor wiederum heißt es in einem zustimmenden Referat der zeitgenössischen Heine-Rezeption: „Heines Humor ward als Ausdruck einer Bewußtseins- und Identitätskrise verstanden, die ihrerseits wieder als Signatur der geschichtlichen Krise galt.“31 Der mögliche Eindruck, Humor und Ironie würden hier synonym verwendet, trügt allerdings. Darauf verweist unmissverständlich Preisendanz’ Polemik gegen jene „IronieEnthusiasten und Satire-Fans“, die die „fortschreitende Perhorreszierung des Humorbegriffs“ betrieben, indem sie den Humorbegriff „eskamotierten“ und Heines ursprünglich als humoristisch „verbuchtes“ Werk „fast ausschließlich und einhellig auf die Seite des 28 Vgl. Willems: Literatur, S. 1019. 29 Wolfgang Preisendanz: Ironie bei Heine, in: Ironie und Dichtung. Sechs Essays von Beda Allemann, Ernst Zinn, Hans-Egon Hass, Wolfgang Preisendanz , Fritz Martini und Paul Böckmann, hg. von Albert Schaefer, München 1970 (= Beck’sche Schwarze Reihe 66), S. 85–112, hier S. 98. 30 Ebd., S. 109. 31 Wolfgang Preisendanz: Die umgebuchte Schreibart. Heines literarischer Humor im Spannungsfeld von Begriffs-, Form- und Rezeptionsgeschichte, in: Heinrich Heine. Artistik und Engagement, hg. von Wolfgang Kuttenkeuler, Stuttgart 1977, S. 1–21, hier S. 15.
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Witzes, der Satire, hauptsächlich aber der Ironie umgebucht“ hätten.32 Diese Polemik ist dem zentralen Anliegen einer Revision jener begriffsgeschichtlichen Entwicklung geschuldet, in deren Verlauf der komplexe Humorbegriff des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einerseits „domestiziert“ und unter „das Vorzeichen der Harmlosigkeit“ gestellt und andererseits „auf eine ‚Welthaltung‘ oder ein ‚Lebensgefühl‘ reduzier[t]“ worden sei.33 Mit diesem Anliegen einer „Revindikation“ des Humor-Begriffs34 ist Preisendanz zu einer viel zitierten Hausnummer der Realismusforschung und der Heine-Forschung geworden. Dem dahinter stehenden Gedankengebäude widerfährt allerdings keine Gerechtigkeit,35 wenn in jüngeren, Preisendanz zitierenden Arbeiten zu Heines Schreibart nicht unterschieden wird zwischen „Humor“ und „Komik“,36 zwischen Humor als „Welteinstellungen“ und als Darstellungsverfahren37 oder zwischen humoristischer Darstellung und dargestelltem Lachen.38 Wie wenig die spätere Forschung Preisendanz’ Bemühungen um eine Revindikation des Humor-Begriffs tatsächlich folgt, zeigt sich aber gerade auch da, wo diese Bemühungen ausführlich referiert werden, wo dieses Referat aber nur als Überleitung dazu dient, auf Heines „Ironievorstellung“ zu sprechen zu kommen.39 Eine sinnvolle Unterscheidung von Ironie und Humor bei Heine muss nun von dem ausgehen, was Preisendanz’ getrennt voneinander zu Ironie und zum Humor bei Heine vorgelegt hat. In seinen Ausführungen zur Ironie konzentriert sich Preisendanz nicht auf den „gedanklich-sprachlichen Prozeß“, sondern auf dessen Grundlage – Heines radi32 Vgl. ebd., S. 1–2. 33 Vgl. ebd., S. 15–16. 34 Ebd., S. 2. – Vgl. die „Vorrede zur 2. Auflage“ von Preisendanz’ Hauptwerk Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus, 3., durchges. und mit einem Register versehene Aufl., München 1985 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 1), S. 349–350. 35 Zum analogen Phänomen einer selektiven Rezeption Preisendanz’scher Revindikationsbemühungen in der Realismusforschung siehe Alexander Löck: „Auge und Liebe gehören immer zusammen.“ Fontanes Begriff der Verklärung, in: Fontane Blätter 85 (2008), S. 84–102, hier S. 84–87. 36 Vgl. Manfred Windfuhr: Heine als Polemiker, in: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag, hg. von Joseph A. Kruse, Bernd Witte und Karin Füllner, Stuttgart, Weimar 1997, S. 57–70, vor allem S. 57. – Christian Liedtke: „… und es lachten selbst die Mumien“. Komik und grotesker Humor in Heines „Romanzero“, in: Heine-Jahrbuch 43 (2004), S. 12–30, vor allem S. 12–15. Ein prägnantes Beispiel für ahistorisch verharmlosenden und indifferenten Gebrauch des Humorbegriffs findet sich ebd., S. 25, wo davon die Rede ist, dass die „Komik in Heines Spätlyrik“ sich „deutlich [abhebt] vom beschwichtigenden, versöhnenden Humor des bürgerlichen Realismus.“ 37 Vgl. Gerhard Höhn: „Sauerkraut mit Ambrosia“. Heines Kontrastästhetik, in: Heine-Jahrbuch 48 (2009), S. 1–27, hier S. 20–21. 38 Vgl. Liedtke: „… und es lachten selbst die Mumien“, S. 17–20. – Vgl. Erhard Schüttpelz: Humor, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 86–98, hier Sp. 96: „Es scheint das Schicksal des internationalen H[umor]-Begriffs zu werden, trotz seiner proteischen und exzentrischen Vorgeschichte vor allem die Theorie des Lächerlichen fortzuführen.“ 39 Vgl. Höhn: „Sauerkraut mit Ambrosia“, S. 20–21.
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kal skeptische Sicht auf jene „Weltironie“, die für ihn „den Grundzug der menschlichen Dinge und insbesondere der geschichtlichen Welt“ darstellt.40 „Weltironie“ oder „Gottesironie“41 meint demnach das, was man bezeichnen könnte als Gegensatz zwischen dem lebensweltlichen Zusammenhang aller möglichen Gegenstände einerseits und deren faktischer Zusammenhangslosigkeit andererseits. Daraus resultiert bei Heine ein doppelter „Protest“: zum einen der „Protest gegen den Unfug der faktischen Wirklichkeit“, den Heines Ironie mit der romantischen Ironie teilt, und zum anderen der „Protest gegen die theologische oder philosophische Verklärung dieses Unfugs als Fügung, sinnvolle Ordnung, Vernünftigkeit“,42 der Heines Ironie von der romantischen Ironie unterscheidet.43 Den Begriff der Ironie verwendet Preisendanz also vor allem, um den Bezugsrahmen zu bestimmen, innerhalb dessen Heines Darstellung ihre Gegenstände verortet, und der so fungiert als „der geometrische Ort des Ironisierenden in Schreibart und Komposition, das kaum in einzelnen Formulierungen dingfest zu machen ist, das viel eher im unaufhörlichen Wechsel der Mentalität, im stets veränderlichen Blick auf die Dinge, in der bizarren Verbindung der Gegenstände, Themen und Aspekte liegt.“44 Und diese, durch „Heines Kontrastästhetik“45 erzeugte Ironie dient dazu, der „Weltironie“ „Rechnung zu tragen“.46 „[I]ronische Diktion, ironische, Phrasierung, ironischer Gestus“ bezeichnen für Preisendanz aber nur ein Element von Heines Schreibart, wenn auch ein zentrales: Sentimentalität, Pathos, Überschwang und Ironie können changieren, Ironie kann eine Unterströmung bilden, sich als Gegentrift durchsetzen, sie kann sich auch als schockierender Umschwung, als pointierter Einspruch oder Widerruf einstellen; Ironie kann aber auch ganz vage die Ergriffenheit umwittern, kann das scheinbar ungebrochene Sentiment wie ein heimlicher Anflug von Ressentiment befallen.47
Für das Zusammenwirken der Ironie mit diesen anderen Elementen in einer sentimentalpathetisch-ironischen Schreibart wiederum reserviert Preisendanz den Begriff des Humors, den er unter Rückgriff auf die zeitgenössische Rezeption bestimmt als „Verhaltens-, Auf40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Preisendanz: Ironie bei Heine, S. 92. Vgl. ebd., S. 92–93. Vgl. ebd., S. 95, 98, 100. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103. Ebd., S. 109. Vgl. Höhn: „Sauerkraut mit Ambrosia“, S. 21. Vgl. Preisendanz: Ironie bei Heine, S. 98. Das gilt für die „katalogartigen“ „Aufzählungen heterogenster, disparatester Dinge und Realitäten“, für das „Oszillieren“ zwischen zwei Geschichtsmodellen, aber auch für jene „sich selbst dementierende lyrische Sprache“, in der sich „die Diskrepanz zwischen Bewußtseinsverfassung und lyrischer Ausdrucksweise, zwischen Erfahrung und poetischer Spiegelung gerade im Medium solch entfremdeter Ausdrucksweise […] ausdrückt“. Vgl. ebd., S. 95, 103, 91. 47 Ebd., S. 89–90.
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fassungs- und Kommunikationsform“48 einer „ekstatisch-subjektivistische[n], pathetischkomische[n] Opposition gegen Lebensverhältnisse und Weltzustand“49: Heines literarischer Humor war demnach für die zeitgenössische Rezeption eine Schreibart, in welcher sich Opposition gegen die geschichtlichen Verhältnisse und Selbstrelativierung zu einer Sprache gestalten, die das Unvernünftige der geschichtlichen Welt nur auf der Folie der eigenen Bedingtheiten, Gegensätze und Paradoxien darzustellen vermag.50
Während der ironische Bezugsrahmen die dargestellte Welt als Äquivalent des „Unvernünftigen der geschichtlichen Welt“ ausweist, markiert die humoristische Darstellung diesen ironischen Bezugsrahmen als „ideologischen Bezugsrahmen“: als Perspektive eines Sprecher-Ich, dessen „eigene Bedingtheiten, Gegensätze und Paradoxien“ als Signatur derselben unsinnigen geschichtlichen Verhältnisse erscheinen, gegen die das Sprecher-Ich opponiert. Das Moment der Selbstrelativierung ist nun auch zentral für Dirk von Petersdorffs Bestimmung von „Heinrich Heines Ironie“ als einer Ironie, die aus dem Aufeinandertreffen verschiedener Perspektiven hervorgeht. Heine weiß um die Grenzen jeder Weltbeschreibung, um die Vielzahl der Geltungsansprüche in der Moderne und bezieht sich selbst in die Relativität mit ein: Auch der eigene Standpunkt zieht Begrenzungen nach sich, auch die eigenen Konzepte sind vorläufig, das Selbst ist kontingent und hinfällig.51
Dem liegt die These zugrunde, dass Heine in der Tradition eines ironischen Sprechens steht, das „erstens aus einer erkenntnistheoretischen Reflexion hervorgeht, die um die Bedingungen und Grenzen der eigenen Weltbeschreibung weiß, und zweitens sich aus einer Beobachtung der modernen, pluralisierten Gesellschaft ergibt, in der verschiedene Geltungsansprüche miteinander konkurrieren.“52 Diese Bestimmung stellt jene Tendenz zum „understatement“, die der Ironie seit ihren sokratischen Anfängen eigen ist,53 in den Dienst erkenntnistheoretischer Skepsis und gesellschaftlicher Toleranz.
48 Preisendanz: Die umgebuchte Schreibart, S. 9. 49 Ebd., S. 14. 50 Ebd., S. 15. 51 Dirk von Petersdorff: Grenzen des Wissens, gemischte Gefühle. Heinrich Heines Ironie, in: Heine-Jahrbuch 45 (2006), S. 1–19, hier S. 16. 52 Vgl. ebd., S. 3. 53 Beda Allemann: Ironie als Stilprinzip, in: Schaefer (Hg.): Ironie und Dichtung, S. 12. – Dieses understatement der Ironie ist freilich verschieden aufgefasst worden: als Ausdruck einer „verfeinerten, humanen und zugleich humorvollen Selbstdemütigung“ oder als Heuchelei. Vgl. Ernst Behler: Ironie, in: Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Sp. 599–624, hier Sp. 600–601, 602.
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Ironie wird so verstanden als Ausdruck jener „Bescheidenheit“ und jenes „baaren Skepticismus“, den Wieland in seiner Behandlung der Frage „Was ist Wahrheit?“54 anmahnt: Nur „ein Esel, dem der Herr den Mund aufthut“, darf unbescheiden Wahrheiten verkünden,55 suggeriert Wieland mit jener Ironie, die ihm fast immer dazu dient, diejenigen als Esel zu entlarven, die sich zu absoluten, quasi-göttlichen Wahrheitsansprüchen versteigen.56 Genau darin sieht auch Petersdorff die Funktion der Ironie: „Die Ironie hält den Platz des Absoluten frei, indem sie jene Aussagen oder Institutionen verlacht, die sich für substantiell und unbezweifelbar halten. Demonstriert wird die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit dessen, was mit sich ganz einig ist.“57 Nun gehört das ironische Verlachen zweifelloser Esel zu Heines Kerngeschäft. Aber zum einen fragt sich, ob ein solches ironisches Verlachen gerade bei Heine nicht doch zumeist die Form jener „satirischen Ironie“ annimmt, die ohne Selbstrelativierung, also von einem „festen Standbein“ aus, erfolgt.58 Zum andern aber fragt sich, ob die Selbstrelativierung bei Heine tatsächlich darin besteht, mit den eigenen „Widersprüchen heiter und auch distanziert umzugehen.“59 Für die Beantwortung dieser beiden Fragen sind zwei Beobachtungen Manfred Windfuhrs aufschlussreich. Zum einen stellt Windfuhr Heines zunehmenden Hang zu einer Polemik heraus, die „etwas mit Haß und Dissonanz zu tun [hat]“ und der es „um die Vernichtung bestimmter Positionen [geht]“;60 einer Polemik, in der „das für den Aufklärer verpflichtende Toleranzgebot zurück[tritt]“,61 die „Sach- und Personalkritik“ nicht trennt62 und deren „fundamentalistische Strenge“ zum Beispiel gegen Platen „kein Verständnis“ für dessen Sexualverhalten aufbringt.63 54 Christoph Martin Wieland: Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen, in: ders.: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, Bd. 14.1, bearb. von Peter-Henning Haischer, Hans-Peter Nowitzki und Tina Hartmann, Berlin, Boston 2011, S. 80-95, hier S. 88, 89, 83. 55 Vgl. ebd., S. 89. 56 Gottfried Willems hat gezeigt, dass und wie diese Art von Ironie sowohl in Wielands Versepos Musarion als auch in Thomas Manns Zauberberg die Darstellung bestimmt. Den Anfang einer literarischen Tradition ironischen Sprechens im Namen von Skepsis und Toleranz verortet er allerdings nicht erst in der Jenaer Frühromantik, sondern bereits in der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts. Vgl. Gottfried Willems: Hans Castorp und Herkules am Scheideweg. Das Leib-Seele-Problem und seine Wendung im Sinne aufgeklärter Humanität in Thomas Manns „Zauberberg“ und Wielands „Musarion“, in: Bejahende Erkenntnis. Festschrift für T. J. Reed zu seiner Emeritierung am 30. September 2004, hg. von Kevin F. Hilliard, Tübingen 2004. S. 145–162. 57 Petersdorff: Grenzen des Wissens, gemischte Gefühle, S. 3. 58 Ebd., S. 1. Petersdorff zitiert hier Manfred Frank. 59 Vgl. ebd., S. 13. 60 Vgl. Manfred Windfuhr: Heine als Polemiker, S. 58. 61 Vgl. ebd., S. 59. 62 Ebd., S. 60. 63 Vgl. ebd., S. 65, 64.
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Zum andern weist Windfuhr darauf hin, dass Heines Engagement für die „Einführung demokratischer Grundsätze in Deutschland“ vor allem auf „die Anfänge einer solchen Entwicklung“ zielte, also darauf, „die elementaren Grundrechte durchzusetzen. Dies geschah zunächst und vor allem in der Form, Verletzungen dieser Prinzipien zu kritisieren und das Volk gegen die herrschenden Zustände aufzurütteln.“64 Dagegen fänden sich „bei Heine keine Aussagen“ zum „weiter[en] Ausbau der Demokratie, z. B. Parteibildung, Gewerkschaften, Mitbestimmung usw.“, da diese Fragen „damals noch nicht auf der Tagesordnung“ standen.65 Das bedeutet aber, dass bei Heine von „der Beobachtung der modernen, pluralisierten Gesellschaft“ nicht die Rede sein kann. Heines Beobachtung der Gesellschaft führt denn auch nicht zur Toleranz gegenüber „verschiedenen Geltungsansprüchen“, sondern zur polemischen Kritik an jenen „Positionen, die die augenblickliche Krise herbeigeführt haben und daher entlarvt werden müssen.“66 Zudem fragt sich, ob Heine tatsächlich eine „pluralisierte Gesellschaft“ anstrebte, „in der verschiedene Geltungsansprüche miteinander konkurrieren.“ Dagegen sprechen Heines „lebenslange Vorliebe für große Könige und Kaiser“ und die Vorstellung einer idealen Demokratie als Gesellschaft, „wo ein Einziger als Inkarnazion des Volkswillens an der Spitze des Staates steht, wie Gott an der Spitze der Weltregierung“ und „unter jenem inkarnirten Volkswillen […] die sicherste Menschengleichheit, die ächteste Demokratie [blüht].“67 Ganz offensichtlich stand Heine dem Verhandeln verschiedener konkurrierender Geltungsansprüche in einer pluralisierten Gesellschaft kaum weniger kritisch gegenüber als etwa sein Zeitgenosse Richard Wagner dem Gezänk der vier brabantischen Edlen im Lohengrin – jener Vision einer idealen Gesellschaft als Diktatur eines „inkarnirten Volkswillens“. Und so dürfte es schwerfallen, eine Stelle zu finden, wo Heines Sprecher-Ich einen anderen Standpunkt gelten lässt. Das gilt nicht nur für die satirischen Zeitgedichte oder etwa den polemischen Rundumschlag der Börne-Denkschrift, sondern gerade auch für Texte, die die eigene Polemik und Satire thematisieren und ironisieren. Im Nachwort zum Romanzero wird die vorgebliche Reue über die Ausfälle gegen Hans Ferdinand Maßmann durch die Komposition der Passage „dementiert“68 und zum Ausgangspunkt für neuerliche Beleidigungen genutzt. Und im Gedicht Enfant perdü rührt die Reue des Ich nicht aus der Einsicht, dass es damit jemandem Unrecht getan haben könnte, sondern allein daher, dass die Kontrahenten des Ich auch scharf schießen konnten und das Ich sich so im Kampf 64 Manfred Windfuhr: Zum Verhältnis von Dichtung und Politik bei Heinrich Heine, in: ders.: Rätsel Heine. Autorprofil – Werk – Wirkung, Heidelberg 1997 (= Reihe Siegen: Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 133), S. 134–158, hier S. 139–140. 65 Ebd., S. 139. 66 Windfuhr: Heine als Polemiker, S. 58. 67 Vgl. Windfuhr: Zum Verhältnis von Dichtung und Politik, S. 149. Windfuhr zitiert hier aus Shakespeares Mädchen und Frauen. 68 Petersdorff: Grenzen des Wissens, gemischte Gefühle, S. 14.
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die eine oder andere Verwundung eingehandelt hat.69 In beiden Fällen dient die Darstellung nicht der Selbstrelativierung des Ich, sondern seiner Selbstbehauptung. Aber nicht nur die polemische Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, auch die Thematisierung der eigenen Widersprüche führt bei Heine dazu, dass die eigene subjektive Perspektive absolut gesetzt wird. Ein deutlicher Beleg hierfür ist die einschlägige „Weltriß“-Passage aus dem vierten Kapitel der Bäder von Lukka: Ach, theurer Leser, wenn du über jene [byronische] Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sey ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgegelegenes Winkelherz hat. Durch das meinige ging aber der große Weltriß, und eben deßwegen weiß ich, daß die großen Götter mich vor vielen Anderen hoch begnadigt und des Dichtermärtyrthums würdig geachtet haben.70
Einerseits dient diese Passage der Selbstrelativierung der eigenen Weltsicht als Signatur des Zeitgeistes.71 Daher die Ironie, die durch das Hyperbolische der Bildlichkeit kommuniziert wird: Wenn das Ich das eigene Fühlen zum Mittelpunkt der Welt und sich selbst „vor allen andern“ durch „die großen Götter hoch begnadigt“ erklärt, klingt im ironischen Gestus Wielands Bild vom Esel als Sprachrohr des Herrn an. Zugleich wird hier aber durch den polemischen Seitenhieb auf einen möglichen anderen Standpunkt deutlich, wie diese Selbstrelativierung verschränkt ist mit Selbstbehauptung, so dass die Frage im Raum steht, ob das Bild vom gottbegabten Esel hier nicht doch auch umgewertet wird. Die Rede vom „Weltriß“ dient eben doch auch dazu, das eigene Fühlen zum (eigenen) „Mittelpunkt der Welt“ zu erklären und jeden, der das Ich dafür einer Eselei schelten wollte, als „prosaisch“ und weltfremd („weitabgelegenes Winkelherz“) zu desavouieren. Die Skepsis und Ironie gegenüber einer als unsinnig empfundenen Welt ebenso wie gegenüber fremden und eigenen Ideologien, Standpunkten, Weltbildern dient letztlich der Aufwertung und der Selbstvergewisserung des Ich als Instanz des Erkennens und Sagens. Die Ironie gegenüber der eigenen Fehlbarkeit ist damit eigentlich keine Selbstironie. Sich selbst nimmt das Heine’sche Ich uneingeschränkt ernst. Was das Ich im Einzelnen erkennt und sagt, kann sich natürlich als falsch herausstellen. Aber auf Wahrheit und Falschheit bestimmter Aussagen kommt es auch gar nicht an, wenn in einer als sinn- und zusammenhanglos verstandenen Welt ohnehin nichts als wahr erkannt werden kann. Worauf es 69 Jeglicher Selbstrelativierung entgegen steht schon die (ganz der Selbstbehauptung dienende) titelgebende Selbststilisierung zum „ganz vorne kämpfende[n], aufgeopferte[n] Soldat[en]“. Vgl. Peter Stein: Heinrich Heine im Nachmärz: „Enfant perdü“. Missdeutungen der Begriffe und Widersprüche im Gedicht, in: Heine-Jahrbuch 49 (2010), S. 19–29, hier S. 23. 70 Heinrich Heine: Die Bäder von Lukka, in: DHA, Bd. 7/1, bearb. von Alfred Opitz, S. 81–152, hier S. 95. 71 Vgl. Preisendanz: Funktionsübergang, S. 62.
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allein ankommt bei Heine, ist, dass das Ich in einer solchen Welt sich selbst nicht verliert. Entsprechend heißt es in Ideen. Das Buch Le Grand: Und sie ließ mich am Leben, und ich lebe, und das ist die Hauptsache. […] Das Leben ist gar zu spaßhaft süß; und die Welt ist so lieblich verworren; sie ist der Traum eines weinberauschten Gottes, der sich aus der zechenden Götterversammlung à la française fortgeschlichen, und auf einem einsamen Stern sich schlafen gelegt, und selbst nicht weiß, daß er alles das auch erschafft, was er träumt – […] aber es wird nicht lange dauern, und der Gott erwacht, und reibt sich die verschlafenen Augen, und lächelt – und unsre Welt ist zerronnen in Nichts, ja, sie hat nie existirt. Gleichviel! ich lebe.72
Die Einsicht in die Sinnlosigkeit des Daseins und in die eigene Fehlbarkeit wird bei Heine inszeniert als Moment der lebensweltlichen Selbsterfahrung; Selbstrelativierung geht einher mit Selbstbehauptung; umgekehrt lässt die radikale Skepsis Selbstbehauptung nur im Zusammenhang mit Selbstrelativierung zu: Nur wer den Weltriss fühlt, darf sein Herz zum Mittelpunkt der Welt erklären. Daher wird Selbstrelativierung bei Heine nicht im Gestus heiterer, distanzierter Selbstbescheidung artikuliert, sondern mit subjektiver Willkür und Involviertheit im Gestus der Selbstbehauptung. Für diese Schreibart bietet sich der Humorbegriff deshalb an, weil Humor bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich als Ausdruck von Individualität verstanden worden ist. Das gilt für den exzentrischen englischen humour ebenso wie für den subjektiven Humor der Romantik.73 Und noch der objektive epische Humor in der Literatur des Realismus fungiert ja wesentlich als Anwalt einer in der faktischen Wirklichkeit entfremdeten und marginalisierten Subjektivität.74 Der hier aufgerissene Zusammenhang zwischen Lebensweltlichkeit und humoristischer Darstellung soll im Folgenden anhand der Nachtgedanken illustriert werden.
3. Heines Nachtgedanken gehören zu den prominentesten Unbekannten der deutschen Literaturgeschichte: Die ersten beiden Zeilen sind zum geflügelten Wort geworden, mit dem üblicherweise deutsche Politik, deutsche Befindlichkeiten, gesellschaftliche Zustände und Probleme kritisch kommentiert werden.75 Dem kollektiven Gedächtnis mehr oder weni72 Heinrich Heine: Reisebilder. Zweyter Theil. Ideen. Das Buch Le Grand, in: DHA, Bd. 6, bearb. von Jost Hermand, S. 169–222, hier S. 175. 73 Vgl. Schüttpelz: Humor, Sp. 87–94. 74 Vgl. Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 350. 75 Vgl. Joseph A. Kruse: Heines Popularität und seine populären Texte am Beispiel von „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, in: Wirkendes Wort 4 (1983),
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ger entfallen ist der Rest des Gedichts, der vor allem von privaten Beziehungen zu Mutter, Freunden und Ehefrau handelt. Da mag es überraschen, dass sich die deutsche Rezeption in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Teil ganz auf diese private Ebene des Textes konzentrierte.76 Eine selektive Rezeption provoziert das Gedicht allerdings auch, da die Darstellung von Lebenswelt hier bestimmt ist von Ambivalenzen, die sich speisen aus der Spannung von Gallophilie und Heimweh, von Heimatliebe und Deutschlandkritik, von politischem Interesse und Verankerung in privaten Beziehungen. Die verschiedenen Spannungen werden formensprachlich als Kontraste zur Geltung gebracht, deren Verbindung allein durch den doppelten Bezug auf das lyrische Ich und auf bestimmte Nationalklischees hergestellt wird, die den ideologischen Bezugsrahmen der hier kommunizierten Weltsicht bilden. Dem dient eine humoristische Darstellung, die den Status der meisten anschaulichen Details in einem eigentümlichen Schwebezustand hält: Diese Details markieren oberflächlich als Elemente beschreibender Rede die Sphäre privaten Erlebens im französischen Exil und der persönlichen Beziehungen des Ich zur Mutter, zur heimatlichen Natur, zu in der Heimat verbliebenen Freunden. Die Stimmigkeit einer solchen Interpretation wird aber durch zwei Momente gestört: zum einen dadurch, dass die verschiedenen Aspekte der privaten Sphäre scheinbar unmotiviert und ohne erkennbare Vermittlung aneinandergereiht werden; zum anderen dadurch, dass auffällige Wiederholungsstrukturen und die wenigen Elemente bildlicher Rede eine latente Komik erzeugen, die in merkwürdiger Spannung zum pathetischen Gestus der Rede steht. Die Frage danach, was hier einen formensprachlichen Zusammenhang stiften könnte, lenkt die Aufmerksamkeit auf das lyrische Ich selbst und auf eine mögliche bildliche Funktion auch der beschreibenden Details, die außer als Aspekte rein privaten Wahrnehmens und Erinnerns auch als nationalromantische Kollektivsymbole gelesen werden können. Erst dieser ideologische Bezugsrahmen verleiht den anschaulichen Details als Elementen bildlicher Rede einen formensprachlichen Zusammenhang, den sie als reine Beschreibung persönlichen Wahrnehmens und Erinnerns nicht haben. Das Humoristische der Darstellung besteht nun eben darin, zugleich die Zusammenhanglosigkeit der beschreibenden Details und den möglichen Zusammenhang derselben Details auf einer möglichen bildlichen Ebene zur Geltung zu bringen und damit formensprachlich die durch das Ich explizit vorgenommene Trennung von Privatem und Politischem, von Authentischem und Ideologischem zu dementieren. Während das Ich explizit die Sphäre des privaten Erlebens gleichsam als authentische Lebenswelt gegen die Sonderwelt des Politischen ausspielt, werden formensprachlich beide Sphären kenntlich als untrennbar miteinander verschränkte Bereiche derselben komplexen Lebenswelt: Seiner Beziehung zur politischen Sphäre, zur deutschen Heimat kann S. 215–223, hier S. 220. – Kruses Diagnose ist auch dreißig Jahre später noch immer gültig, wie jede Internetsuchanfrage zur ersten Zeile des Gedichts bestätigen wird. 76 Vgl. den Kommentar in DHA, Bd. 2., bearb. von Elisabeth Genton, S. 768–769.
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das Ich sich nur in Analogie zum lebensweltlichen Erleben in seinen privaten Beziehungen versichern. Und umgekehrt wiederum wird das Scheitern des Versuchs vorgeführt, das Authentische vom Ideologischen zu trennen, weil jede konkrete Erlebnissituation auf den öffentlich-politischen Rahmen verweist, innerhalb dessen das erlebende Ich sich seiner Lebenswelt als Zusammenhang seiner Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen sinnstiftend versichert. Dieser komplexe formensprachliche Zusammenhang zeigt sich am konkreten Textbeispiel so: Dargestellt wird eine Situation, wie Heine sie so ähnlich auch in anderen Neuen Gedichten, z.B. In der Fremde II und Anno 1839, gestaltet. Das Ich hat im französischen Exil Heimweh nach Deutschland, das so stark ist, dass ihm die Tränen kommen. Die private und die öffentliche Ebene dieses Heimwehs werden dabei auf eine Weise präsentiert, die suggeriert, dass beide Ebenen miteinander sachlich wenig zu tun haben. Die Nachtgedanken takten auf mit der berühmten Sentenz, die den Blick auf Deutschland lenkt; aber in der zweiten Strophe kommt das Gedicht scheinbar unvermittelt auf die Mutter zu sprechen. Nicht Deutschland an sich, nicht Deutschland als Ganzes ist es, wonach das Ich Heimweh hat, sondern die Mutter: „Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr, / Wenn nicht die Mutter dorten wär’.“ (25–26)77 Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte zeigt, dass die Keimzelle des Textes ein Gedicht über die Mutter war, so dass die Rede von Deutschland eine spätere Zutat ist.78 Um das private Verhältnis zur Mutter ging es Heine ursprünglich und geht es dem lyrischen Ich auch im fertigen Text eigentlich.79 Wozu dann aber der ergänzte Deutschlandbezug? Ganz offensichtlich steht die Betonung der privaten Sphäre im Zusammenhang mit Heines Kritik an der Tendenzdichtung seiner Zeit: Dem ideologischen, bornierten „so allgemein wie möglich“ gehaltenen „Schmettern“ und „Donnern“ der Tendenzdichtung stellt Heine mit einem Wechsel der „Richtung“80 die Perspektive des lebensweltlichen Erlebens entgegen. Zu dieser Sichtweise passt, dass in diesem Gedicht, das so pathetisch zeitkritisch zu beginnen scheint, vom Vaterland nur wenig die Rede ist. Es sei „ein kerngesundes Land“ (22) und habe daher „ewigen Bestand“ (21), der an „seinen Eichen, seinen Linden“ (23) anschaulich wird. Das ist wohl ironisch zu verstehen, ebenso wie das Lob der deutschen Zustände in Anno 1839. Wäre Deutschland ein kerngesundes Land, wäre die ganze Abteilung der Zeitgedichte, die das Gedicht ja abschließt, ohne Gegenstand; denn der Gegenstand der Zeitgedichte ist ja all das, was in Deutschland nicht gesund ist. Aber darüber 77 Alle Versangaben im Haupttext beziehen sich auf folgende Ausgabe: Heinrich Heine: Nachtgedanken, in: DHA, Bd. 2, S. 129–130. 78 Kommentar in DHA Bd. 2, S. 768–769. 79 So wie in In der Fremde II, vgl. DHA Bd. 2, S. 72. 80 Vgl. die letzte Strophe von Zeitgedichte XIII: Die Tendenz: „Blase, schmettre, donn’re täglich, / Bis der letzte Dränger flieht – / Singe nur in dieser Richtung, / Aber halte deine Dichtung / Nur so allgemein als möglich.“ Vgl. DHA Bd. 2, S. 120.
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hinaus erfährt man über Deutschland nur noch, dass eben die Mutter dort wohnt, und dass das Ich dort „geliebte“ Menschen zurückgelassen hat, von denen „viele“ mittlerweile gestorben sind (30). Daraus ergibt sich einerseits die Trauer um die Verstorbenen – „so will verbluten meine Seele“ (32) – und andererseits die Sorge um die Mutter, denn auch „die alte Frau kann sterben“ (28). So schlüssig diese Deutung des Textes als Ausdruck rein privaten Kummers ist, so wenig befriedigend ist sie, wenn man bedenkt, dass man über die Mutter und die Freunde kaum mehr erfährt als über Deutschland, wenn nicht sogar noch weniger. Warum das Ich die Mutter so liebt, warum dem Ich die verstorbenen Freunde so teuer waren – darüber schweigt sich das Gedicht merkwürdigerweise aus. Dieser Umstand ist umso auffälliger, als alles, was die Darstellung hier vermissen lässt, in dem motivisch fast identischen Gedicht In der Fremde II vorhanden ist; dort wird das Verhältnis des Ich zu Freunden und Bäumen durch die Andeutung von Erlebniserinnerungen veranschaulicht, das gute Verhältnis zu Mutter und Schwester explizit benannt.81 In den Nachtgedanken dagegen kommt die Rede scheinbar ganz unmotiviert auf Bäume und Freunde, nachdem sie sich zuvor ergangen hat in leeren Wiederholungen beim Kreisen um die Sehnsucht nach der Mutter. Was erfährt man überhaupt? Dass „die alte Frau“ das Ich „behext“ habe (10), dass das Ich an der zittrigen Handschrift in ihren Briefen zu sehen glaubt, „wie tief das Mutterherz erschüttert“ ist (14–16); dass das Andenken an die verstorbenen Freunde dem Ich zu einer emotionalen Last wird, so dass deren „Leichen“ sich dem Ich „auf die Brust wälzen“ (35– 36). Befremdlich, wenn nicht gar verstörend, ist, dass die Verschränkung metaphorischer und metonymischer Rede an dieser Stelle die Trauer des Ich keineswegs nachvollziehbar macht. Die metonymische Reduktion der Freunde auf ihre physischen Überreste, die sich metaphorisch auf die Brust des Ich wälzen, erzeugt stattdessen eine eigenartige Komik, die in befremdlichem Kontrast zu jenem Pathos steht, das die Rede des Ich auszeichnet: Das Bild der sich auf die Brust des Ich wälzenden Leichen der Freunde erscheint geradezu als Travestie der Beschreibung jener „großen Stunden“ in In der Fremde II, da dem Ich die Freunde „an die Brust sanken“.82 Diese für den Humor typische Verschränkung von Pathos und Komik findet sich nun auch in den so auffälligen Wiederholungen, wenn von der Mutter die Rede ist. Dass die Mutter mehrfach als „alte Frau“ bezeichnet wird (10, 12, 13, 28), ist sachlich plausibel, denn so wird die Sorge um das Leben der Mutter verständlich. Zudem lassen sich die Wiederholungen als ostentative Verstärkungen des die Rede kennzeichnenden Pathos auffassen. Dass die „alte Frau“ das Ich „behext“ haben soll, scheint dagegen als Ausdruck von Sorge doch eher unpassend, weil nicht recht einleuchtet, warum das Ich sich um eine
81 Vgl. DHA Bd. 2, S. 72. 82 Vgl. ebd.
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alte Hexe sorgen sollte und weil andererseits die mögliche erotische Konnotation83 von „behexen“ zur „alten Frau“ nicht passt. Die erotische Komponente würde geradezu die Verhältnisse verkehren: Das Weib lächelt in der letzten Strophe die Sorgen des Ich fort – tröstet also, wie einen eine Mutter tröstet; dagegen verwirrt die Mutter die Gedanken des Ich so sehr, dass seine Rede sich wie im Liebestaumel durch auffällige Wiederholungen auszeichnet (8 u. 9, 10–13, 18–19), wodurch diese Wiederholungen denselben pathetischen Gefühlsausdruck, den sie verstärken, zugleich komisch konterkarieren. Auch anderswo verwendet Heine solche wörtlichen Wiederholungen als Mittel zum Komisieren, zum Lächerlichmachen.84 Und um die Dinge noch komplizierter zu machen: Nachdem neun Strophen lang von Heimweh, Tränen, Sehnen, Verlangen und Seelenqualen die Rede war, sollen diese „Sorgen“ im Handumdrehen „fortgelächelt“ (40) sein, als wäre nichts gewesen. Wird sich hier also nicht nur über Deutschland lustig gemacht, sondern auch über die Mutter und über die verstorbenen Freunde, womöglich gar über den Leser? Ich glaube, dass das nicht so ist; nicht zuletzt, weil das Gedicht gar keine Anhaltspunkte dafür bietet, warum das Ich sich über die Mutter und die Freunde lustig machen wollte, – so wie andererseits aber auch keine Anhaltspunkte dafür gegeben werden, warum das Ich an der Mutter und an den Freunden so hängt. Komik und Pathos negieren hier einander nicht, sondern verweisen in ihrem Neben- und Miteinander ironisch auf das Disparate der dargestellten Welt und damit zugleich auf jene Willkür, die in der fast schon katalogartig bunten Aneinanderreihung von Deutschland, Mutter, Bäumen, Freunden und Weib liegt. Dieselbe subjektive Willkür des Ich wird nun aber zugleich humoristisch zur Quelle eines poetischen Zusammenhangs, den die katalogartige Aufzählung vermissen lässt und den die ironische Verquickung von Komik und Pathos gänzlich zu negieren scheint. Die Frage danach, was all diese Spannungen, Brüche und Inkompatibilitäten zusammenhält, führt einerseits zum Ich als einzigem durchgängigen Bezugspunkt des hier präsentierten lebensweltlichen Durcheinanders und andererseits zu jenen nationalromantischen Ideologemen, die der oberflächlich zusammenhanglosen Aufzählung lebensweltliche Einheit und Sinn verleihen. Dabei muss zunächst auffallen, dass in fast jeder Zeile das Personalpronomen oder das Possessivpronomen der ersten Person Singular auftaucht. Die alte Frau hat das Ich behext; aus der zittrigen Handschrift schließt das Ich, wie sehr es von der Mutter lieb gehabt wird. Die Vorstellung, dass die Leichen der Freunde sich auf die Brust des Ich wälzen, ist eine Vorstellung des Ich. Und es ist die Ehefrau des Ich, die die Sorgen des Ich fortlächelt. Heines Nachtgedanken-Gedicht ist vor allem ein permanentes Ich-Sagen, so wie Heine einer der größten Ich-Sager der deutschen Literaturgeschichte ist. 83 So wie bei der „Hexe Lorelay“ (Eichendorff). Zu Heines Bearbeitung des Motivs siehe Nikolas Immer: Schiffbruch mit Zuschauerin. Spielarten der Ironie in Heinrich Heines „Loreley“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 185–200, vor allem S. 197. 84 Vgl. z. B. Die Tendenz.
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Besonders auffällig ist hier die rhythmische Gestaltung des ersten Verses. Das durchgängige Metrum der in diesem Text benutzten Liedstrophen ist der vierhebige Jambus. Um es präziser zu bestimmen: Es handelt sich um vierhebige Verse mit regelmäßig einfacher Füllung, mit Auftakt und wechselnder Kadenz, wobei die ersten beiden Zeilen der paargereimten Strophen eine stumpfe und die dritte und vierte Zeile jeweils eine klingende Kadenz aufweisen. Nach diesem metrischen Muster fällt die erste Betonung des Gedichts auf das Wort „ich“. Selbst wenn man zugunsten einer natürlichen Satzbetonung vom Metrum abweichen und eher das „Denk“ betonen würde,85 wird metrisch der Blick auf das Ich und das Denken des Ich als zentraler Bezugspunkt der Darstellung gelenkt. Mögen Heimweh, Mutter- und Freundesliebe auch unvermittelt aneinandergereiht werden – als Empfindungen des Ich stehen sie doch in einem lebensweltlichen Zusammenhang. Es spielt letztlich keine Rolle, ob die Mutter bald sterben wird, ob die zittrige Handschrift wirklich Ausdruck eines erschütterten, liebenden Mutterherzens ist oder vielleicht doch nur eine Alterserscheinung; es spielt keine Rolle, ob Deutschland wirklich kerngesund ist und ewigen Bestand haben wird, so wie es ja auch keinen faktischen Zusammenhang zwischen dem möglichen Sterben der Zurückgelassenen und dem Exil des Ich gibt. Was immer im Text über Deutschland, die Mutter, die Freunde, die Frau gesagt wird, wird vor allem über das Ich selbst gesagt – über sein Denken, sein Empfinden. Deswegen wird ja ständig „ich“ gesagt auch an Stellen, wo es sachlich keineswegs zwingend wäre. Wenn zum Beispiel Deutschland wirklich ewigen Bestand hätte, dann müsste es doch heißen, dass „man“ auch in ferner Zukunft es immer wieder finden müsse. Hier wird aber gesagt, dass das Ich „es immer wieder finden“ wird (24). Ich-Bezug ist hier wichtiger als Sach-Bezug. Zum humoristischen Geltendmachen des Subjektiven gehört aber auch, dass den oberflächlich rein beschreibenden Details der Anschein symbolischer Bedeutung verliehen wird. Dass das Tageslicht in der letzten Strophe durch „meine“ Fenster bricht (37), ist einerseits ganz konkret als Beschreibung zu verstehen: Nach einer durchgrübelten Nacht wird es Morgen, die Frau tritt ins Zimmer und das Ich wird durch beides aufgeheitert. Zwischen Morgenlicht und dem Hereintreten der Frau besteht zunächst ein zeitlicher Zusammenhang innerhalb einer immerhin angedeuteten konkreten Erlebnissituation. Zugleich suggeriert der Text aber einen bildlichen, genauer: einen symbolischen Zusammenhang, spätestens wenn gesagt wird, dass das Tageslicht „französisch heiter“ (38) und dass die französische Frau „schön wie der Morgen“ (39) ist. Es ist, als bestünde zwischen Tageslicht und Ehefrau ein innerer Zusammenhang, als brächte die Frau mit ihrem morgendlichen Hereintreten allererst jenes Tageslicht herein, das seinerseits personifiziert wird als „französisch heiter“.
85 Eckhard Heftrich: Der Mutter Land, in: 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, hg. von Marcel Reich-Ranicki, Bd. 4, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1995, S. 109–111, hier S. 110.
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Auf die humoristische Ambiguität der Darstellung verweist ebenfalls, dass „deutsche Sorgen“ (40) zum einen die Sorge um Deutschland, andererseits aber auch meinen kann, dass die Sorgen – die ja wesentlich nicht Deutschland an sich, sondern die Mutter und die Freunde zum Gegenstand haben – etwas typisch Deutsches sind. Deutsche Sorgen erscheinen so als Gegenstück zur französischen Heiterkeit, so wie die Nacht die deutsche Romantik als Gegenstück zum Tageslicht der französischen Aufklärung in den Blick rückt – und nicht nur Tageszeit ist, in der das Ich eben Muße hat, um ins Grübeln zu kommen. Eine lediglich angedeutete quasi-symbolische Beziehung wird formensprachlich auch zwischen Deutschland und der Mutter hergestellt – quasi-symbolisch, weil das lyrische Ich explizit klar macht, dass eine solche Beziehung nicht in dem jeweiligen Wesen Deutschlands und der Mutter liegt, da zwischen beiden nicht mehr als ein zufälliger Zusammenhang besteht: „Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr, / Wenn nicht die Mutter dorten wär’; / Das Vaterland wird nie verderben, / Jedoch die alte Frau kann sterben.“ (25–28) Nun suggeriert hier aber die Aufeinanderfolge der Wörter „Mutter“ und „Vaterland“ eine Beziehung zwischen beiden, die über das Faktische hinausgeht – als würden Mutter und Vaterland irgendwie zusammengehören. Das ist schon zu Beginn des Textes so. Der unvermittelte Übergang von der Rede über Deutschland zur Rede über die Mutter lässt nämlich durch eine fehlende Markierung dieses Übergangs zunächst in der Schwebe, ob mit der Mutter in der zweiten Strophe nicht metaphorisch Deutschland gemeint ist.86 Die Mutterliebe und die Liebe zur Ehefrau erscheinen in der Darstellung als quasi-symbolische Veranschaulichung der Liebe des Ichs zu Deutschland und zu Frankreich. Was das lyrische Ich explizit trennt – die private und die öffentliche Dimension des Heimwehs –, findet in einer dem lebensweltlichen Erlebnisintegral äquivalenten humoristischen Darstellung poetisch zueinander, weil das Ich Deutschland eben nicht als politisches Gebilde, als Gesellschaft, als Staat liebt, sondern wie man eine Mutter liebt: voraussetzungs- und grundlos. Und damit wird das Gedicht zu dem, worum es angeblich gar nicht geht: zu einem Denken an Deutschland. Dieses Denken über Deutschland erscheint selbst als typisch deutsch – eine deutsche Sorge, die das Ich auch im Exil unter anderen Lebensbedingungen nicht los wird, so wie es die besondere Beziehung zu seiner Mutter nie los wird. Auch im Exil sind Mutter und Heimat Teil der Lebenswelt, so wie sie sich dem Bewusstsein des Ich darbietet. In Anbetracht dieser Betonung der Ich-Perspektive ist es nun aber bemerkenswert, dass das Ich weder zu Deutschland, noch zur Mutter, noch zu den Freunden, noch zur französischen Ehefrau mehr als Klischees mitzuteilen hat. An Deutschland denkt das Ich natürlich in der Nacht, während die französische Frau „schön wie der Morgen“ ist und hereintritt, wenn „französisch heit’res Tageslicht“ durchs Fenster „bricht“. Der Gegensatz zwischen Nacht und Licht wird verstärkt durch die lautliche Gestaltung des jeweils ersten Reimpaars in der ersten und der letzten Strophe: „[B]richt“ auf „Licht“ (37–38) ersetzen 86 Vgl. Walter Hinck: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung im Widerstreit von Nationalidee, Judentum und Antisemitismus, Frankfurt a. M., S. 188.
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in der ansonsten gleichen Laut- oder besser: Graphemkombination wie in „Nacht“ auf „gebracht“ (1–2) den dunklen Vokal a durch den hellen Vokal i. Zudem gehören die Mutterliebe, die Verwurzelung in der Heimat, auf die womöglich Eichen und Linden anspielen, und die Freundestreue ebenso zum deutschen Nationalklischee wie die Eichen und Linden selbst, die in Heines Texten immer wieder als Klischee zitiert werden. Schließlich ist die Verbindung von Nacht und Spuk, von Verhexen und von wilden Träumen – wie dem vom Leichenhaufen – ein typisches Merkmal romantischer Texte. Nichts, was hier also über Deutschland, die Mutter, die Freunde oder die Ehefrau gesagt wird, ist an und für sich genommen originell oder individuell, irgendwie persönlich. Dass der Sinnzusammenhang des Gedichts sich erst offenbart, wenn man die Beschreibung individuellen Erlebens zugleich als Zusammenstellung von Nationalklischees auffasst, zeigt, dass der Zusammenhang der individuellen Lebenswelt des Ich durch jenen kollektiven ideologischen Bezugsrahmen bedingt ist, von dem das Ich sich durch die explizite Beschränkung auf seine privaten Beziehungen gerade lösen will. Umgekehrt gewinnt jener zeitgenössische Deutschlanddiskurs, der in der humoristisch suggerierten Bildlichkeit der anschaulichen Details aufscheint, durch den Bezug auf die private Sphäre des Ich eine lebensweltliche Bedeutsamkeit jenseits des rein Ideologischen. Es ist allein die humoristische Komposition, die die klischeehaften Versatzstücke im Gestus subjektiver Willkür zu einem Ganzen zusammenzwingt, dessen künstlerischer Wert in der gleichzeitigen Darstellung des Disparaten der Wirklichkeit, der Zerrissenheit des Ich und der Versuche des Ich besteht, sich dennoch lebensweltlich als ganzheitliches Subjekt zu behaupten. Nur in der Erfahrung lebensweltlicher Zerrissenheit – der eigenen und der der Welt – kann Heines Ich die Welt und sich selbst ganzheitlich erfahren. Und nur in der Erfahrung der eigenen ideologischen Relativität ist ihm authentisches lebensweltliches Erfahren möglich. Humor als Darstellungsform dient Heine dazu, zu zeigen, dass und wie lebensweltlich zusammengehört und zusammengehören soll, was in Wirklichkeit nicht zusammenwächst und nicht zusammenwachsen muss.
Dirk Oschmann
„Der Alltag ging weiter.“ Die Selbstbehauptung des Lebensweltlichen in Siegfried Kracauers Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben 1. Voraussetzungen Die Frage nach der Lebenswelt hat Siegfried Kracauer über mehrere Jahrzehnte und zwei Kontinente hinweg unablässig beschäftigt: erstens in changierenden Problemstellungen, etwa als Konstituens des Bewusstseinslebens, als unhintergehbares Gegebensein von Welt, als zentrales Wahrnehmungs- und Erfahrungsfeld; zweitens in verschiedenen Gattungen, etwa Feuilletons, Denkbildern, Essays, Rezensionen, literarischen Texten, soziologischen Studien; drittens schließlich in wechselnder Terminologie, etwa als Wirklichkeit, Leben, Materialität, Konkretion. Doch den Begriff der Lebenswelt selbst macht er sich im Anschluss an Husserl erst in seinem letzten, postum publizierten Buch Geschichte – Vor den letzten Dingen explizit zueigen, in dem er zugleich wesentliche Felder seines kritischen Interesses zusammenführt, hier vornehmlich Historiographie, Filmtheorie und Ästhetik, die ihm zufolge allesamt von der „Alltagserfahrung“1 vorstrukturiert werden. „Das Universum des Historikers ist so ziemlich aus dem gleichen Stoff wie unsere tägliche Welt – der nämlichen Welt, der Husserl als erster philosophische Würde verlieh. In jedem Fall kommt diese Welt dem am allernächsten, was er die Lebenswelt nennt […].“2 Der auf Simmel zurückgehende, also gleichsam stimmig aus der Lebensphilosophie erwachsene3 und von Husserl dann theoretisch aufgeladene Begriff der Lebenswelt ist gewissermaßen ein spätes ‚terminologisches Geschenk‘ an den Autor, der damit seine eigenen lebenslangen Bemühungen um die Bedeutung dessen, was den Einzelnen unmittelbar und konkret umgibt, schlüssig erfasst sieht.4 Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er den Terminus 1 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt a. M. 1973, S. 62. 2 Ebd., S. 61. 3 Georg Simmel: Die Religion, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 10: Philosophie der Mode. Die Religion. Kant und Goethe. Schopenhauer und Nietzsche, hg. von Michael Behr u.a., Frankfurt a. M. 1995, S. 39–118, hier S. 46. Vgl. hierzu Hans-Helmuth Gander: Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger, Frankfurt a. M. 2001, S. 113. 4 Umgekehrt hatte auch Husserl die Schriften Kracauers mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Als Adorno 1939 ein curriculum vitae und eine Publikationsliste Kracauers zusammenstellt, möchte dieser an nachhaltigen Einflüssen nicht nur Simmel und Scheler, sondern auch Husserl
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Dirk Oschmann
fast stets durch Kursivierung drucktechnisch hervorhebt, um seine Relevanz zu betonen. Durchgängig erscheint hier der Begriff der Lebenswelt als eine Art Zauberwort, das einerseits die verschiedenen Bereiche miteinander verbindet und zugleich den Horizont möglicher Fragestellungen und Aufgaben umreißt, der ja allererst übergreifende Zusammenhänge zu stiften vermag, beispielsweise zwischen Theorien des Films, der Fotografie und der Historik: Es besteht folglich eine fundamentale Analogie zwischen Geschichtsschreibung und den photographischen Medien: wie der Photograph ist der Historiker nicht willens, über seinem Vorverständnis seine Aufnahme-Verpflichtung zu vernachlässigen und das Rohmaterial, das er zu gestalten sucht, vollständig zu verzehren. […] Vielmehr hat die „Kamera-Realität“ – die Art Realität, auf die der Photograph oder Filmemacher seine Linsen richtet – alle Kennzeichen der Lebenswelt an sich. Sie umfaßt leblose Objekte, Gesichter, Massen, Leute, die sich mischen, leiden und hoffen; ihr großartiges Thema ist Leben in seiner Fülle, Leben, wie wir es gemeinhin erfahren.5
Der Begriff Lebenswelt grenzt andererseits jedoch auch die Historik von der Philosophie ab, in den Gegenstandsbereichen ebensowohl wie in methodologischer Perspektive: „Geschichte ist der praktisch endlosen, zufälligen und unbestimmten Lebenswelt – Husserls Begriff für die Grunddimension des Alltags – um vieles näher als die Philosophie. Folglich ließe der Historiker es sich nicht im Traum einfallen, seinen Funden und Folgerungen die Art Allgemeinheit und Gültigkeit zuzuschreiben, die philosophischen Behauptungen eignet.“6 Mit dieser Differenzierung ist einer der alten, zumal lebensphilosophisch grundierten Einwände gegen die Philosophie als systematische Philosophie aufgerufen, sofern sie es an den notwendigen „Konkretionen des Intellekts“ mangeln lässt.7 Mögen sich Religion und Philosophie den vermeintlich großen Fragen und letzten Dingen widmen – sein eigenes Erkenntnisinteresse gilt hauptsächlich den vorletzten, den „last things before the last“, wie der programmatische Untertitel seines ursprünglich auf Englisch erschienenen letzten Buches lautet, kurz: Sein Interesse gilt der Lebenswelt. „In genannt wissen: „Man kann auch Husserl beifügen, der mir noch kurz vor seinem Tod nach Paris schrieb, daß ich in meiner Soziologie als Wissenschaft Gedanken entwickelt hätte, die sich in seinem Nachlaß fänden, und meine Artikel in der F.Z. immer von großem Interesse für ihn gewesen wären.“ Kracauer an Adorno, 13. April 1939, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923– 1966, hg. von Wolfgang Schopf, Frankfurt a. M. 2008, S. 424. Der Brief Husserls an Kracauer aus dem Jahr 1934 findet sich in Kracauers Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Vgl. den Hinweis ebd., S. 426. 5 Kracauer: Geschichte, S. 74 f. 6 Ebd., S. 221. 7 Siegfried Kracauer: Minimalforderung an die Intellektuellen, in: ders.: Schriften, hg. von Karsten Witte und Inka Mülder-Bach. Bd. 5.2: Aufsätze 1927-1931, Frankfurt a. M. 1990, S. 352–356, hier S. 356. Vgl. dazu Dirk Oschmann: Kracauers Ideal der Konkretion, in: Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext, hg. von Frank Grunert und Dorothee Kimmich, München 2009, S. 29–46.
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der Lebenswelt, die alle Züge eines vermittelnden Bereiches an sich hat, konzentrieren wir uns gewöhnlich nicht so sehr auf die letzten als auf die vorletzten Dinge.“8 Freilich vollzieht Kracauer wie etliche seiner Zeitgenossen auf geradezu paradigmatische Weise bereits Mitte der zwanziger Jahre diese allgemeine „Wende zur Lebenswelt“, von der Odo Marquard im Rückblick auf die Philosophie jener Epoche gesprochen hat,9 eine Wende, die wesentlich mit der historischen Konstellation von Lebensphilosophie und Phänomenologie zusammenhängt.10 Dafür gibt die intellektuelle Biographie des Autors ein charakteristisches Beispiel. Während seine Anfänge von Vitalismus und Lebensphilosophie geprägt sind und er ganz im Banne der Lektüreerfahrungen von Nietzsche und Simmel steht,11 beginnt er sich Anfang der zwanziger Jahre in zunehmendem Maße mit der Phänomenologie zu befassen, insbesondere mit Texten Husserls und Schelers, wobei er die Schriften des letzteren bereits seit dem Ersten Weltkrieg ausführlich zur Kenntnis nimmt. An Leo Löwenthal heißt es im Jahr 1921: „Seit einem Vierteljahr denke ich sehr über Phänomenologie nach, ohne dieses wichtige Gebiet bisher völlig klären zu können. […] aber ich habe mich so in das Thema eingelagert, daß es mich mit Gewalt bei sich fest hält.“12 Skeptisch beurteilt er jedoch zu diesem Zeitpunkt, an dem Husserls Wende zur Lebenswelt noch aussteht, das Übermaß an phänomenologischer Formalisierung, welches qua Wesensschau die materialen Gehalte zum Verschwinden zu bringen droht, und erwägt darum eine „Kritik der Phänomenologie“.13 In der Korrespondenz mit Löwenthal kommt er wiederholt auf diese „Kritik“ zu sprechen, ohne sie freilich auszuformulieren. Beobachten lässt sich aber ein Doppeltes. Erstens finden sich in Kracauers Texten jener Zeit kontinuierlich kritische Bemerkungen zum 8 Kracauer: Geschichte, S. 240. 9 Vgl. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2002, S. 125. 10 Zu dieser Konstellation vgl. Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl [1931], 3. Aufl., Darmstadt 1967. 11 Vgl. hierzu vor allem Inka Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985; David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück 1989; Dirk Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers, Heidelberg 1999, S. 20–38. 12 Kracauer an Leo Löwenthal, 14. Januar 1921, in: In steter Freundschaft. Leo Löwenthal – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1921-1966, hg. von Peter-Erwin Jansen und Christian Schmidt, Springe 2003, S. 18. Zu Kracauers Auseinandersetzung mit der Phänomenologie vgl. etwa Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativität – Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der „Oberfläche“, in: DVjs 61 (1987), S. 359–373; Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung, Hamburg 1996, S. 21–38; Dirk Oschmann: Kracauers Herausforderung der Phänomenologie, in: Essayismus um 1900, hg. von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann, Heidelberg 2006, S. 193–211 sowie Dorothee Kimmich: „Begrenzen ohne zu definieren“. Kracauers Ästhetik der Aufmerksamkeit als „praktische Phänomenologie“, in: Grunert/dies. (Hg.): Denken durch die Dinge, S. 85–100. 13 Kracauer an Löwenthal, 4. Dezember 1921, in: Löwenthal – Kracauer Briefwechsel, S. 32.
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Fehlen einer „materialen Phänomenologie“,14 wie sie ihm selber vorschwebt und wie er sie in Ansätzen bei Simmel und Scheler realisiert sieht. Was damit näherhin gemeint ist, gibt die ausführliche Rezension zum Werk des heute weithin vergessenen Leipziger Philosophen Hans Driesch zu erkennen, die 1925 in der Frankfurter Zeitung erschien. Nachdem Kracauer den Philosophen in der Konstellation von Vitalismus, Lebensphilosophie und Phänomenologie positioniert hat, würdigt er insbesondere „die Gegenständlichkeit seines Blickes“ und sein Bestreben um den „Aufweis und [die] Einteilung der Sachbestände“.15 Beides unterscheide Drieschs Denken wohltuend von den als obsolet beurteilten Totalitätsansprüchen der Hegelschen Tradition. „Und eben deshalb, weil seiner Philosophie die Abschlußhaftigkeit fehlt, ist sie wirklicher, existenzhafter als die idealistische.“16 Im Schlussteil der Rezension forciert und verallgemeinert Kracauer dieses Moment der Gegenständlichkeit und Sachadäquatheit, indem er, gut phänomenologisch, die Objektintentionalität als „Eigenwesen der Gegenstände“ herausstellt, dem auch Driesch sehr aufgeschlossen begegne, und diese „Aufgeschlossenheit“ wiederum sei „bezeichnend für unsere Epoche“,17 eine Epoche nämlich, die sich der von Husserl eingeleiteten „Wendung zum Objekt“18 verschrieben habe. Denn „[n]ach einer Zeit des übertriebenen Subjektivismus, der in der Form des Idealismus die Gegenstände und ihren Zusammenhang rein vom Ich her verstehen wollte, ist heute das Streben mächtig, sich in die Dinge zu versenken, um gleichsam ihr Ansich zu erfahren.“19 Genau solch eine „Wendung zum Objekt“, die nicht nur dem phänomenologischen Schlachtruf „Zu den Sachen!“ entspricht, sondern sich auch als Vorbedingung und Teil jener übergreifenden Wende zur Lebenswelt verstehen lässt, kann man nun zweitens in Kracauers eigener Denkbewegung ebenso am Werk sehen. Während sich die frühen Texte, etwa Über das Wesen der Persönlichkeit (1913/14), Von der Erkenntnismöglichkeit seelischen Lebens (1916), Das Leiden unter dem Wissen und die Sehnsucht nach der Tat (1917) oder Autorität und Individualismus (1921) mit allgemeinen und dezidiert großen Fragen befassen, mit den berüchtigten großen Narrativen des Abendlandes, und dies oft schon im Titel ankündigen, erfolgt ab Mitte der zwanziger Jahre eine radikale Umorientierung in der Wahl der Gegenstände, hin zum Kleinen, scheinbar Abseitigen, das tatsächlich in seiner Gegenständlichkeit und, nicht zuletzt, Widerständigkeit erfasst werden soll. Auch dies ist bereits den Titeln abzulesen: Das Klavier, Die Hosenträger, Das Monokel (alle 1926), Lichtreklame, Das Schreibmaschinchen (jeweils 1927). In der Tendenz werden die Titel aber nicht nur konkreter, sondern auch komplizierter und gewinnen an Literarizität: Felsen14 So die Formulierung gegenüber Löwenthal im Brief vom 14. Januar 1921, vgl. ebd., S. 18. 15 Siegfried Kracauer: Hans Driesch. Zu seiner Philosophie, in: ders.: Schriften, hg. von Inka MülderBach, Bd. 5.1: Aufsätze 1915–1926, Frankfurt a. M. 1990, S. 312–317, hier S. 313. 16 Ebd., S. 316. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd.
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wahn in Positano (1925), Knabe und Stier oder auch Falscher Untergang der Regenschirme (beide 1926).20 Walter Benjamin zeigt sich begeistert von diesen der Gegenständlichkeit zugewandten Texten, welche offenbar zugleich die „Inventarisierung der mittelständischen Welt“ leisten.21 Dass die Zeitung – ein Alltagsmedium schlechthin22 – als Publikationsort der Ausbildung solcher kleinen Prosaformate zuträglich ist, kommt noch hinzu; das kleine Format befördert die kleinere Form und legt implizit kleinere Fragen nahe. Doch die Vorgabe des engen medialen Rahmens ist nur die Außenseite einer grundsätzlich veränderten Performanz der Darstellung, welche die dreigliedrige Konstellation von kleinem Format, kleiner Form und kleinem Gegenstand zur Weiterentwicklung von Prosagattungen wie Skizze, Denkbild, Groteske, Feuilleton, philosophischer Miniatur oder Kurzessay experimentell und innovativ nutzt, von Gattungen mithin, die sich fast durchgängig im Grenzbereich von Philosophie und Literatur bewegen, nicht zuletzt von literarischen Texten mit inhärent theoretischem Anspruch.23 Sukzessiv realisiert sich in diesen Texten die postulierte materiale Phänomenologie, nämlich als eine Phänomenologie des Kleinen und als eine Phänomenologie im Kleinen, in Benjamins Sicht zugleich ein „Orbis pictus jenes Hausrats einer sterbenden Klasse“.24
2. Phänomenologie und Roman Das Kleine und die Phänomenologie spielen nun aber auch in der epischen Großform von Kracauers Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben eine zentrale Rolle. Die Thematisierung des Kleinen ist folglich nicht an die kleine äußere Form gebunden. Allerdings besteht in darstellungstechnischer Hinsicht ebensowohl wie in der Textintention kein Zweifel am 20 Zu Genese und Konjunktur dieser zwischen Theorie und Literatur angesiedelten kleinen Formen in der Weimarer Republik vgl. Oschmann: Kracauers Ideal der Konkretion, S. 36–46; ders.: Kleine Prosa – Kleine Phänomenologie. Benjamins Erkundungen der Lebenswelt, in: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, hg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche, Tübingen 2007, S. 235–251 sowie Joachim Jacob: Undurchdringlichkeit. Oder: Über Kracauer und die „Fruchtbarkeit des gegenständlichen Widerstandes“ in der deutschen Kulturphilosophie der 1920er Jahre, in: Grunert/Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge, S. 103–118. 21 Benjamin an Kracauer, 17. Juni 1926, in: Walter Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer. Mit vier Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin, hg. von Theodor W. Adorno Archiv, Marbach 1987, S. 24. 22 Wo sie mehr sein will, gerät sie sofort unter Legitimationsdruck. Vgl. Almut Todorow: „Wollten die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen?“ Die Feuilletonkonzeption der „Frankfurter Zeitung“ während der Weimarer Republik im redaktionellen Selbstverständnis, in: DVjs 62 (1988), S. 697–740. 23 Vgl. hierzu Gerhard Richter: Thought-Images. Frankfurt School Writers’ Reflections from Damaged Life, Stanford 2007. 24 Benjamin an Kracauer, 20. April 1926, in: Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer, S. 17.
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Zusammenhang zwischen den ursprünglich für die Zeitung konzipierten Texten und dem 1928 publizierten Buch. Mit Recht vermerkt Helmut Brandt dazu: „Sein Roman ist […] die aus seinem Feuilleton hervorgetriebene literarische Form.“25 Auf die diskursive und die performative Auseinandersetzung mit der Phänomenologie folgt durch den Roman auch die literarische. Die anfänglich geplante Studie zur „Kritik der Phänomenologie“, insbesondere zu der sich verselbständigenden Formalisierung, kam zwar nicht über Vorarbeiten hinaus, dafür bietet aber jetzt der Roman im Modus anschaulicher Rede genau eine solche Kritik. Signifikanterweise wird sie nicht auf diskursiver Ebene artikuliert, sondern hauptsächlich in der nicht-propositionalen Form des literarischen Textes, der als Roman gerade im Verfahren umfassender Detaillierung an jene Fülle phänomenaler und lebensweltlicher Gegebenheiten anschließt, welche der inkriminierten Formalisierung entgegenstehen, und der damit einerseits seine grundsätzliche Lebensweltaffinität unterstreicht26 und andererseits auf ein entscheidendes Potential der Literatur setzt, sofern diese qua Vergegenwärtigung etwas anschaulich zeigt, statt es zu sagen.27 Schon die Gattungsentscheidung darf als Teil der Kritik verstanden werden, weil der Roman auch in Kracauers Verständnis nicht die Formalisierung oder das theoretische Argument anstrebt, sondern die Darstellung konkreten Daseins, wie ja überhaupt Literatur zunehmend als „Zuflucht des Lebensweltlichen“28 in den funktional ausdifferenzierten, hochspezialisierten Gesellschaften der Moderne fungiert. Der programmatische Status dieser Entscheidung, auf das 25 Helmut Brandt: Der Held ist kein Held. Siegfried Kracauers Roman „Ginster“, in: Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur, hg. von Gerhard R. Kaiser, Heidelberg 1998, S. 199–230, hier S. 226. 26 Vgl. dazu Gottfried Willems: Ästhetische Thaumaturgie. Die Geburt der Literatur aus der Alltagskommunikation, in: Was sich nicht sagen läßt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, hg. von Joachim Bromand und Guido Kreis, Berlin 2010, S. 533–554. 27 Vgl. dazu Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989; Martha C. Nussbaum: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York, Oxford 1990 und Gottfried Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich, Berlin, New York 2010, S. 247–261. 28 Gottfried Willems: Der Literaturbegriff als Problem der Wissenschaft, in: Löck/Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur, S. 223-245, hier S. 241. Willems’ ausführliche Begründung dazu lautet: „In eben dem Maße, in dem die moderne Wissenschaft den Rahmen der Ethik sprengte, in den sie von ihrem griechischen Ursprung her eingestellt war, und auf ein Wissen ausging, das unabhängig von allem persönlichen Werten und Meinen, das ein un- und überpersönliches Wissen wäre; in dem sie mit Hilfe technischer, dem Messen und Rechnen dienender Apparaturen ein Bild der Welt entwarf, das über alle Möglichkeiten der sinnlich-leiblichen Erfahrung und das Fassungsvermögen des einzelnen Menschen hinausging, so dass es allenfalls noch von den zuständigen Experten in Einzelaspekten adäquat zu haben war, – in eben dem Maße wurde die Literatur zu einer Art Refugium des lebensweltlich-persönlichen Handlungswissens, mit dessen Hilfe sich der Einzelne durchs Leben schlägt, zur Zuflucht seines Meinungs- und Wertlebens. Und das ist sie umso mehr geworden, je weiter die Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Lebens, die ‚Kolonialisierung des Menschen durch Expertenkulturen‘ (Jürgen Habermas) voranschritt.“ Ebd., S. 240 f.
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von vornherein „der Romanform zugekehrte konkrete Dasein“29 zu setzen, wird zudem dadurch verstärkt, dass sich dieser Roman bewusst dem Gewöhnlichen, Alltäglichen, vermeintlich Nichtigen widmet und nicht dem Exzeptionellen, wie man es namentlich von einem Kriegsroman – denn auch das ist Ginster mit seiner Schilderung des heimatlichen Hinterlandes30 – offenbar erwarten sollte,31 ja dass dieser vordergründig realistische Roman weniger die üblichen Muster literarischer Sinnstiftung bedient, als vielmehr das Kontingente, Widerständige, Unverständliche aufsucht, das doch oft zugleich das Nächstliegende,32 den Einzelnen eminent Beschäftigende ist, und sei es als die notorische Tücke des Objekts – gleichsam die humoristische Variante der Objektintentionalität. Diese im und durch den Roman geführte Auseinandersetzung mit der Phänomenologie und dem damit verbundenen Einklagen des Alltäglichen als dem Entscheidenden soll hier in drei Hinsichten skizziert werden. Das betrifft zum einen die eben erwähnte Tücke des Objekts, also das „Eigenwesen der Gegenstände“, mit dem der Protagonist unablässig zu kämpfen hat; es betrifft zum zweiten die explizite Kritik am phänomenologischen Verfahren der „Wesensschau“, das vor lauter Formalisierung das Selbstverständliche aus dem Blick verliert; und es betrifft drittens schließlich das gezielte Ausspielen des Alltags gegen die scheinbar übermächtige Ausnahmesituation des Kriegs. Alle drei Hinsichten 29 Siegfried Kracauer: Zu einem Roman aus der Konfektion. Nebst einem Exkurs über die soziale Romanreportage, in: ders.: Schriften, Bd. 5.3: Aufsätze 1932–1965, Frankfurt a. M. 1990, S. 75–79, hier S. 77. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eckhardt Köhn: Die Konkretionen des Intellekts. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Erfahrung und literarischer Darstellung in Kracauers Romanen, in: Siegfried Kracauer. Text & Kritik 68, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1980, S. 41–54. In dieser Zugekehrtheit zum konkreten Dasein galt freilich der Roman einst als problematisch. So erblickte bekanntlich Schiller im Romanschreiber nur den „Halbbruder“ des Dichters, weil er „die Erde noch so sehr berührt“. Anders gesagt: weil der Roman bereits formimmanent als lebensweltaffin erscheint. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, Darmstadt 1996, S. 694–780, hier S. 741. 30 Zu Ginster im Kontext der Kriegsromane am Ende der Weimarer Republik vgl. Brandt: Der Held ist kein Held, S. 199–203. Siehe auch Peter von Matt: Der Narr im Hinterland, in: Romane von gestern – heute gelesen, hg. von Marcel Reich-Ranicki, Bd. II: 1918–1933, Frankfurt a. M. 1989, S. 132–139. 31 Darauf hat bereits Joseph Roth in einer prominenten Rezension hingewiesen. Vgl. Joseph Roth: Wer ist Ginster?, in: ders.: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924–1928, hg. von Klaus Westermann, Köln 1990, S. 996–999. Zur Thematisierung des Alltags bei Kracauer vgl. die – allerdings in Ansätzen verharrende – Studie von Christian Sieg: Reading the Surface. Siegfried Kracauer and the Ornaments of the Ordinary, in: ders.: The Ordinary in the Novel of German Modernism, Bielefeld 2011, S. 48–93. Deutlicher konturiert ist das Problem schon bei Brandt: Der Held ist kein Held, S. 226: „Unter den modernen Romanen der zwanziger Jahre ist Ginster einer der hervorragenden Versuche, die Gesellschaft von unten, von ihrer jedermann greifbaren Wirklichkeit her zu fassen, sie in den Erscheinungen ihres sozialen Alltags dingfest zu machen.“ 32 Entsprechend definiert Blumenberg die Lebenswelt auch als „Nahwelt“. Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, hg. von Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2010, S. 52.
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insistieren auf dem Recht des Lebensweltlichen, indem sie die „tägliche Lebenswelt“ als die „Vorzugsrealität“33 jedes einzelnen zeigen; denn sie lassen keinen Zweifel daran, dass die „Lebenswelt des Alltags […] die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen“ ist.34
2.1. Subjekt-Objekt-Relation Zur Klärung des ersten Aspekts bedarf es vorab einer Charakterisierung des Protagonisten, von dem man nur den Spitznamen „Ginster“ kennt.35 Aus der Perspektive normalistischer Diskurse ist er der Inbegriff des „Feiglings“,36 „Drückebergers“ (180) und Versagers. Die ihm zugeschriebenen Eigenschaften und Attribute, die ein ganzes Panoptikum der Unfähigkeit bilden, sind sämtlich negativer Art. Um dies zu illustrieren, genügt eine einfache Auflistung: Ginster hat „kein Auftreten“, weshalb er niemals zu einem Generaldirektor vorgelassen würde (14 f.); er ist nicht in der Lage, „seinen Platz in der Gesellschaft […] vorauszubestimmen“ (24); er ist kein „Eigentümer richtiger Sachen“ (38); ihm fehlen die „richtigen Gefühle“ (47); er kann seine eigenen Sachen „nicht packen“ und er kann auch nicht „einkaufen“ (136); er hat eine „schwere Auffassungsgabe“ (162); er ist nicht in der Lage, einen Knopf anzunähen (185); des Öfteren verliert er seine Sachen sogar (167, 195). Selbst eine neue Krawatte wirkt bei ihm hässlich und abgetragen (98 f.). – Mit einem Wort: Er „funktioniert“ nicht richtig, und zwar weder in der bürgerlichen Welt noch beim Militär, das ihm bei der ersten Musterung mit logischer Konsequenz seine „völlige Untauglichkeit“ attestiert (35). Als er dann schließlich doch Soldat wird, versagt er beim Fensterputzen, was der Vorgesetzte wütend mit den Worten kommentiert: „Sie sind zu nichts zu verwenden.“ (170) Ähnliches hatte ihm bereits seine Familie zu verstehen gegeben und wiederholt seine Ungeschicklichkeit und mangelnde Gewandtheit angesprochen (185 u.ö.). „Du bist aber auch zu ungeschickt“ (137), stellt beispielsweise die Mutter fest. Und ganz allgemein wird konstatiert: „Auch sonst kannte sich Ginster schlecht aus.“ (156) Sowohl beim Militär als auch in der Familie wittern die anderen Figuren, dass hier etwas nicht stimmt, ohne dass sie zu durchschauen vermögen, ob sie es gerade mit Ginsters passivem Widerstand, mit regelrechtem Boykott oder schlicht mit tatsächlicher Unfähigkeit zu tun haben.37 In dieser Nichtentscheidbarkeit liegt freilich gerade das subversive 33 Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 61. 34 Ebd., S. 29. 35 Zur Problematik dieser Namensgebung vgl. ausführlich Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit, S. 127–156. 36 Siegfried Kracauer: Ginster. Von ihm selbst geschrieben, in: ders.: Werke, hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, Bd. 7: Romane und Erzählungen, Frankfurt a. M. 2004, S. 9–256, hier S. 85. Alle weiteren Zitate aus diesem Text werden mit Seitenzahl in Klammern nachgewiesen. 37 Zur Charakteristik der Figur vgl. auch Mülder: Grenzgänger, S. 125–145; Dirk Niefanger: Transparenz und Maske. Außenseiterkonzeptionen in Siegfried Kracauers erzählender Prosa, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 253–282; ders.: Gesellschaft als Text. Zum Verhältnis von
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Potential einer Figur, die aus immer wieder neuen Gründen nicht mitmacht, die sich also den Erwartungen der bürgerlichen Welt ebenso verweigert wie den Zumutungen des Militärs, einer Figur mithin, die sich im Geiste Kierkegaards ganz aufs Selbstsein statt aufs Heldsein verlegt hat. Daher rührt auch die Ablehnung, doch endlich „ein Mann“ zu sein, sich folglich mit den üblicherweise anerkannten Verhaltensmustern abzufinden: „Trotz seiner achtundzwanzig Jahre verabscheute Ginster die Notwendigkeit, ein Mann werden zu müssen.“ (139) Diese Haltung verwundert allerdings nicht bei einem Akteur, dessen „Leidenschaft“ einst „das Stricken“ gewesen war (150), einer doch offenbar völlig unmännlichen Tätigkeit. Am Kontrast zwischen den abfälligen Wertungen und Bewertungen des Protagonisten durch die Figuren auf der erzählten Ebene einerseits und seiner positiven Perspektivierung auf der Erzählebene andererseits handelt der Text kontinuierlich Vorstellungen von Normalität aus. Man könnte auch sagen: An Ginster wird zuschanden, was als „normal“ gilt und gelten dürfte, weil er nicht nur auf sein Selbstsein und Sosein besteht, sondern auch auf das im Grunde Selbstverständliche. Das macht ihn in den Augen der anderen sogleich verdächtig und veranlasst sie, ihm mit Misstrauen zu begegnen (20, 41). Durch die Kontrastierung wird darüber hinaus etwas geleistet, das die Phänomenologie Husserls ausdrücklich für sich beansprucht, nämlich das Selbstverständliche der Lebenswelt in die Verständlichkeit zu überführen.38 Freilich hat solche suspekte und subversive Umständlichkeit auch ihre Kehrseite. Denn ein Subjekt, das ganz es selbst sein will, hat nicht nur mit dem Widerstand der anderen Subjekte zu rechnen, sondern offenbar auch mit der Tücke der Objekte, die im Roman ebenso skrupulös wie lustvoll dargestellt wird: Der Teufel steckt auch hier in den Details, auf die sich das Erzählen folgerichtig konzentriert. Überdies bildet die Tücke der Objekte den Raum des Konkreten und Gegenständlichen, das Ginster im Wortsinne entgegensteht, zugleich den Ort einer eigenen materialen Phänomenologie. Zwei Szenen veranschaulichen dies besonders nachdrücklich. So mögen Gestellungsbefehl und Krieg am Soziographie und Literatur bei Siegfried Kracauer, in: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert, hg. von Gerhart von Graevenitz und David E. Wellbery, Stuttgart 1999, S. 162–180; Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung, S. 66–78; Manuela Günter: Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein. Würzburg 1996, S. 61–110; Jörg Lau: „Ginsterismus“. Komik und Ichlosigkeit. Über filmische Komik in Siegfried Kracauers erstem Roman ‚Ginster‘, in: Siegfried Kracauer. Zum Werk des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers und Soziologen, hg. von Andreas Volk. Zürich 1996, S. 13–42; Michael Winkler: Über Siegfried Kracauers Roman „Ginster“, mit einer Coda zu „Georg“, in: ebd., S. 297–306; Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit, S. 111–237; Hildegard Hogen: Die Modernisierung des Ich. Individualitätskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti, Würzburg 2000, S. 51–88; Barbara Thums. „am liebsten zerrieselte ich“. Zum Verschwinden des Subjekts in Siegfried Kracauers Roman „Ginster“. In: Rhetoriken des Verschwindens, hg. von Tina K. Pusse, Würzburg 2008, S. 147–159; Sieg: Reading the Surface, S. 69–93. 38 Vgl. dazu Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 28 und 31.
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Horizont drohen, wesentlich mehr Engagement erfordert doch stets die „private Front“ (203), also immer etwas Unmittelbares als das gerade Wichtigere, wie zum Beispiel ein Kiesel im Schuh, der alle Aufmerksamkeit absorbiert. So wie Ginster als Subjekt nicht „funktioniert“, so „funktionieren“ fast zwangsläufig die Objekte in seiner Gegenwart nicht und führen ihr Eigenleben. Das wird minutiös, bis zur Karikatur, beschrieben: Der Alltag ging weiter. Er enthielt eine Menge von Schwierigkeiten, die beseitigt werden mußten. Wenn Ginster etwa den Weg zum Büro durch die städtischen Anlagen nahm, sprangen ihm neuerdings Sandkörnchen in die Schuhe. Die Anlagen waren mit frischem Kies bestreut. So vorsichtig er schritt, die Steinchen fanden den Eingang und glitten unter die Ferse. Ihre Geschicklichkeit übertraf die von Jongleuren. Ginster suchte ihnen hinter die Tricks zu kommen, konnte aber niemals feststellen, wie sie hineinzurutschen vermochten. Auf einmal saßen sie drin. Sie hüpften zu schnell. Schließlich mied er die Anlagen und blieb auf dem Pflaster. (96)
Alltag ist durchgängig das, was Ginster beschäftigt, was ihn umtreibt und aufhält, was sich als „Labyrinth“ und komplexe Realität darbietet,39 woran er sich aber dennoch festhält und was ihn trotz seiner Widrigkeiten – „Unaufhörlich stachen die Mücken.“ (40) – stabilisiert; er ist ihm als unmittelbare Lebenswelt fraglos gegeben und ist doch, wie hier gut zu sehen, zugleich undurchschaubar.40 Das gilt auch für das zweite, noch tückischere Beispiel, die schon erwähnte Fensterputzszene beim Militär, die Ginster eine Mischung aus Verzweiflung und glückseliger Situations- und Selbstvergessenheit beschert, ihm freilich fast als Sabotage ausgelegt wird. Der Lappen war so schmutzig, daß Ginster sich nicht vorzustellen vermochte, wie mit seiner Hilfe das Glas wieder durchsichtig gemacht werden könne. Die Leiter schwankte zwar ein wenig, aber es war doch schön, so allein über allen Leuten. Oben setzte sich Ginster hin und schloß die Augen; wie auf einem Hochgebirgsgipfel zwischen den Wolken. Dann rieb er, noch benommen von der veränderten Luft, die Scheiben ab, der Lappen war brüchig und schmiegte sich den Flächen schlecht an […]. Je fester er rieb, desto trüber wurde das Glas, und dabei rieb er in seiner Erregung längst nicht mehr mit dem Lappen allein, sondern wetzte den ganzen Körper am Fenster […] Nach und nach entstand zu seinem Entsetzen ein undurchdringlicher Schmierbrei, der ihn freilich zugleich mit einem gewissen Triumph erfüllte, da das Geschmier dem sofort durchschauten Lappen entsprach. Gerade wollte Ginster die Arbeit einstellen, als er bemerkte, daß sich je nach Art des Wischens verschiedene Muster hervorrufen ließen. Rührte er etwa den Brei kreisförmig um, so bildeten sich Schnecken. Vielleicht gelang es, durch Ausnutzung der Falten im Lappen künstliche Frostblumen zu erzeugen. ‚Herunterkommen!‘ schrie es zu ihm hinauf. Verwirrt nahm er Sprosse um Sprosse, die ganze Korporalschaft hatte sich am Fuß der Leiter angesammelt und lachte über ihn. ‚Sie sind zu 39 Zur Komplexität von Alltag vgl. Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 153–178. 40 Vgl. dazu Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 201.
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nichts zu verwenden‘, befahl Knötchen und schickte mit demselben Lappen einen anderen Kanonier nach oben, der unverzüglich die leicht gelbe Außenwelt wiederherstellte, Ginster wußte nicht wie. (169 f.)
Was sich zunächst als Schwierigkeit darbietet, vermag Ginster allmählich zum eigenen Vergnügen auszunutzen. Denn am Ende vermag er sich offenbar über die Tücke des Objekts, eben des Putzlappens, zu erheben – nicht indem er es zu beherrschen lernt, sondern indem er es umdeutet, es auf diese Weise entpragmatisiert und ihm seine Schärfe nimmt, wobei sich Bewusstsein und Gegenstand fast unauflöslich zu verschlingen scheinen. Dies ist sein trickreiches Verfahren, sich in der Wirklichkeit einzurichten: „Man mußte so schlau sein, jeden Tag wurde etwas Neues verlangt.“ (214) Darüber hinaus zeigt die Szene aber noch etwas anderes, nämlich die Banalität und zugleich Resistenz des militärischen Alltags, der sich vom Alltag der bürgerlichen Welt in diesem Text nur geringfügig unterscheidet. Kurz vor der Fensterputzszene heißt es lapidar: „Sonst begab sich nichts Außergewöhnliches.“ (169) Dementsprechend muss die Szene dann in ihrer Absurdität und Lächerlichkeit als das Außergewöhnliche, das nicht stattfindet, herhalten. Selbst im Krieg ist man offensichtlich auch beim Militär mit Nebensächlichkeiten, Trivialitäten und „Kleinigkeiten“ (157) aller Art befasst, mit Fensterputzen, mit dem korrekten Ausrichten der Bettdecken,41 und natürlich muss man „gegen die Feinde Kartoffeln schälen“ (204). Der Alltag erscheint als Korrektiv, denn das konkret Lebensweltliche behauptet sich hier als Langeweile und Nichtstun auch in der Ausnahmesituation des Kriegs, oder, um es mit einer Kriegsmetapher Hans Blumenbergs zu sagen – hier obsiegt „die Lebenswelt mit ihrer hochgradigen Verteidigungsfähigkeit“.42 Alles in allem gilt: „Essen, dösen.“ (152) Mehr an Kommentar verdient das Geschehen im Hinterland nicht. Der Roman veranschaulicht demnach kaum die „militarization of everyday life“43 – das wäre in Kriegszeiten zweifellos trivial –, wohl aber, und darin besteht seine originäre Perspektive, die alltäglich-lebensweltliche Überformung des Militärischen in der Heimat. Diese Entgegensetzung von Alltag und Ausnahmezustand mit dem Erweis der Durchsetzungskraft des Alltäglichen wird zudem explizit betont durch die Bemerkung von Ginsters Onkel, einem Historiker, dass auch „in den schlimmsten Zeiten der französischen Revolution das Alltagsleben ruhig weiterging“ (123).
41 „Gleich zu Beginn der Ausbildung erfuhr Ginster, daß ein richtig geführter Krieg von Kleinigkeiten abhing, deren Bedeutung für Schlachten ihm früher entgangen war. So durfte er morgens das Deckbett nicht unordentlich liegen lassen, sondern hatte es nach erfolgtem Schütteln durch Kneten und Streichen in die vorschriftsmäßigen Winkel zu pressen.“ (157) 42 Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 56. 43 Vgl. Sieg: Reading the Surface, S. 69 und S. 79–84.
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2.2. Kritik der „Wesensschau“ In Gestalt von „Professor Caspari“ lässt Kracauer im Roman Max Scheler als Beispiel für eine in die Irre gegangene phänomenologische Formalisierungsanstrengung auftreten.44 Die Hauptfigur Ginster besucht einen Vortrag des berühmten Professors, um sich von ihm über die „Gründe des Großen Kriegs“ belehren zu lassen (123), denn das hatte ihn schon länger interessiert: „Man mußte, darauf kam er immer wieder zurück, die Gründe erforschen, die zu dem Krieg geführt hatten, mitten durch die Lügen hindurch und quer durch die dummen Gefühle. Ginster haßte die Gefühle, den Patriotismus, das Glorreiche, die Fahnen; sie versperrten die Aussicht, und die Menschen fielen für nichts.“ (86) Die Darstellung des Vortragsabends nimmt im Roman vergleichsweise viel Raum ein und zeigt damit die Bedeutung der Szene, zumal sie in der kompositorischen Mitte des Textes platziert ist (123–133). Der Leser bekommt jedoch nur einen minimalen Einblick in die Argumentation des Vortrags selbst, der nicht eigentlich referiert, sondern nur punktuell angesprochen wird. Wesentlich intensiver schließt man dagegen Bekanntschaft mit dem wahrnehmenden Bewusstsein der Hauptfigur, natürlich auch mit dem, was sie vom Vortrag hört, mehr aber noch mit dem, was sie abschweifen lässt, was sie an Umständen und Nebensächlichkeiten registriert, was sie denkt, assoziiert oder erinnert, kurz: mit dem ganzen „Drumherum“ der Situation sowie mit der Art und Weise, wie die Figur in die Welt hineingestellt ist und sich dazu verhält. Dabei geht es keineswegs um das Vorführen eines bloß zerstreuten Bewusstseins, das sich scheinbar nicht recht zu konzentrieren vermag. Stattdessen kommt es auf die Präsentation der allgemeinen Komplexität des Bewusstseinslebens an, das stets zwischen Wahrnehmen und Denken, Sammlung und Zerstreuung, Innen- und Außenlenkung changiert und das sich bekanntlich über einen längeren Zeitraum gar nicht absolut konzentrieren kann. Bewusstsein als Bewusstsein von etwas ist dann vor allem als Bewusstsein rasch und permanent wechselnder Bewusstseinsinhalte zu denken. Gleich zu Anfang des Vortrags wird die Wechselhaftigkeit solchen Bewusstseinslebens am Beispiel des Protagonisten vorgeführt: „Professor Caspari hatte mit den Kriegsgründen begonnen, das heißt, er fing noch lange nicht an, sondern bereitete den Anfang erst vor. Von seinem Studium her erinnerte sich Ginster, daß die Dozenten, ehe sie ihr eigentliches Thema besprachen, stets bei der Einleitung zu verweilen liebten, die bis ins Unendliche reichte; wie die indischen Fakire, die an einem Seil zum Himmel emporklettern.“ (125) In dieser Form setzt sich die Rezeption des Vortrags fort. Einzelne Sätze oder Absätze dringen zu Ginster durch, werden von ihm jedoch stets zugleich als Sprungbrett zu etwas ganz anderem genommen, bis er wieder zum Vortrag zurückkehrt. Im zitierten Beispiel folgen auf den einen Satz zum Anfang des Vortrags allein vier Sätze, die von Ginsters Assozia44 Siehe dazu den ironischen Kommentar Benjamins: „Johann Caspari – das ist der Taufname für Schelers intelligiblen Charakter.“ Benjamin an Kracauer, 21. Dezember 1927, in: Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer, S. 55.
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tionen, Erinnerungen und Reflexionen der Erinnerungen handeln, die also nur insofern mit dem Vortrag in Verbindung stehen, als dieser sie im wahrnehmenden Bewusstsein der Figur ausgelöst hat. Der alternierende Rhythmus von vortragseigenen und vortragsfremden Passagen wird vornehmlich auktorial erzählt, dennoch kommen Effekte zustande, die man aus Verfahren der erlebten Rede oder des stream of consciousness kennt. Gemein ist allen drei Darstellungsmodi der Wechsel von Innen und Außen und die Inszenierung des Bewusstseins als Erlebnisintegral. Alle geläufigen Erklärungen des Konflikts lehnt der Referent ab, „[w]eder unsere auswärtige Politik noch der Neid der Feinde auf unsere geschäftlichen Erfolge trügen am Völkerweltringen die Schuld; die echten Gründe seien viel tiefer gelegen“ (126). Die entscheidenden Ursachen seien eher in den unterschiedlichen „Wesen der Völker“ (126) zu suchen. Mit ungläubigem Staunen nimmt Ginster die durch phänomenologische „Wesensschau“45 gewonnenen hochgestochenen Hohlheiten des Redners wahr: Jedes Volk hat ein Wesen, sagte Professor Caspari. Er hatte große Augen – Ginster saß nahe genug, um sie erkennen zu können –, die sich nicht nach innen richteten wie bei manchen anderen Professoren, aber auch nicht eigentlich den Raum durchmaßen. Sie erschauten die Wesen. Ginster fühlte, daß sie bis in die äußerste Tiefe drangen, hinter den Raum. Ein Frostschauer lief ihm über den Rücken, noch nicht geheizt, viele Leute saßen in ihren Mänteln. (126)
Auch dieser Abschnitt folgt dem beschriebenen Muster, dass ein Satz des Referenten den Zuhörer in eine ganz andere Richtung an Überlegung und Verhalten führt und ihn die konkreten Umstände des nicht geheizten Raumes wahrnehmen lässt. Anschließend macht er die Probe aufs Exempel, indem er sich ebenfalls in der Wesensschau versucht, hier freilich zu einer ganz anderen als der erwarteten Erkenntnisgewissheit gelangt: „Unwillkürlich ahmte Ginster die Augen Professor Casparis nach, um die Wesen auch anzuschauen.“ (126) Was sieht er? „Er blickte in sich hinein: kein Wesen vorhanden, nur der Gedanke, daß er in vier Tagen einrücken müsse.“ (126) Während Caspari über die Schrecken Krieges hinweg räsoniert, zeigt sich mit Bezug auf Ginster dreierlei: Wenn er kein Wesen hat, kann das entweder heißen, dass er es womöglich aufgrund mangelnder Übung in der Wesensschau nicht zu sehen vermag oder dass er tatsächlich substanzlos ist; es kann drittens aber auch heißen, dass das Verfahren der Wesensschau insgesamt untauglich erscheint, weil es in seinem Zug zum Allgemeinen die Wirklichkeit des Einzelnen zwangsläufig verfehlen muss. Die aber liegt Ginster in aller Klarheit als existentielle Bedrohung unmittelbar vor Augen: dass er sein Leben riskieren und in eben den Krieg ziehen muss, den der Redner, ein mit den „Völkerwesen“ spielender „Zauberer“, für „unvermeidlich“ erklärt (127). Wo sich Caspari zu letztlich unangemessenen Abstraktionen und Allgemeinheiten versteigt, 45 Zu diesem Erkenntnisverfahren vgl. Karl-Heinz Lembeck: Wesensschau, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u.a., Bd. 12: W – Z, Basel 2004, Sp. 655–659; zur Wesensschau speziell bei Scheler vgl. ebd., Sp. 658.
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ist der Krieg für Ginster als konkrete, unhintergehbare und unumgängliche Wirklichkeit einfach da; das macht das Leben dieses Einzelnen in seinem In-die-Welt-Hineingestelltsein aus. Mit der Kritik eines im Grunde wirklichkeitsvergessenen Denkens folgt Kracauer unübersehbar Kierkegaards Argumentation,46 der nicht nur kontinuierlich die Existenz gegen die Essenz – das „Wesenhafte“ – ausspielt, sondern der auch feststellt: „Die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender mehr als wissend ist, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist.“47
2.3. Triumph des Alltags Abschließend sei noch knapp eine letzte Szene betrachtet, die den Soldaten Ginster zum Friseur führt. Der Laden bietet ihm nicht nur Schutz vor der draußen herrschenden Kälte, sondern ermöglicht ihm trotz seiner Armeezugehörigkeit auch, „liebenswürdig behandelt zu werden wie ein persönlicher Herr“ (186). Dieses schöne Gefühl, privat zu sein, endet jedoch rasch, weil bald darauf ein Offizier den Laden betritt und ihn automatisch in die Welt der militärischen Hierarchien zurückstößt: „So dicht neben dem fremden Offizier fühlte sich Ginster doch etwas befangen […].“ (186) Wie beim Umgang mit der Tücke der Objekte behilft sich Ginster allerdings erfolgreich, indem er das Paradigma des vermeintlich üblichen Umgangs wechselt und hier kurzerhand vom militärischen auf den bürgerlichen Verhaltenskodex umschaltet, als der nächste Stuhl frei wird: Niemand wäre befremdet gewesen, wenn Ginster ihn eingenommen hätte; am allerwenigsten der Offizier selbst, der in einer Zeitschrift verschwand, um seine Gleichgültigkeit zu beweisen. Schon wurde Ginster der Sitz angeboten, aber er zog es plötzlich vor, auf sein Recht zu verzichten. Trat er freiwillig hinter dem Offizier zurück, so hob er mit der Reihenfolge, die hier unnachsichtig herrschte, mindestens auch für einen Augenblick den Rangunterschied auf; als werde durch einen leichten Hebeldruck eine schwere Last in Bewegung gesetzt. ‚Gestatten, Herr Leutnant… wenn Sie vielleicht zuerst…‘ Der Leutnant dankte, nahm an. Während er eingeseift wurde, genoß Ginster seinen Triumph. Die Anrede Sie, deren er sich dem Offizier gegenüber geflissentlich bedient hatte, war nicht beanstandet worden. Er hatte wie ein Privatmann zum Privatmann gesprochen, eine gleichberechtigte Gefälligkeit sozusagen, durch die der Krieg aus dem Lokälchen expediert wurde. (187) 46 Mit allem Nachdruck heißt es bei Kierkegaard: „[D]enn die Konkretion ist das Existieren, und existieren entspricht dem Einzelnen, wovon gerade das Denken absieht. In der Eigenschaft als (qua) Denker kann es ganz richtig sein, den reinen Menschen zu denken, aber in der Eigenschaft als (qua) existierendes Individuum verbietet ihm das Ethische, sich selbst zu vergessen, nämlich daß er ein existierender Mensch ist.“ Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Zweiter Teil, 3. Aufl., Gütersloh 1994, S. 48. Zur Kierkegaard-Rezeption Kracauers vgl. Mülder: Grenzgänger, S. 39–44 sowie Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit, S. 273– 287. 47 Kierkegaard: Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 17.
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Die Szene veranschaulicht auf exemplarische Weise die Distanzierung des Krieges als Ausnahmesituation mit den Mitteln des Alltags, aber gewissermaßen auch das temporäre Zurechtrücken einer aus den Fugen geratenen Welt. Während der Krieg zu Beginn des Romans das Bewusstsein nicht nur der Hauptfigur okkupiert, wird er allmählich, aber gleichsam systematisch aus der unmittelbaren Lebenswelt ausgeschlossen. Das beginnt schon, als Ginster den Kriegstod seines Freundes Otto mitgeteilt bekommt und vor allem froh ist, selbst am Leben geblieben zu sein. „Lange wollte er leben. Er erfuhr weiter mit sich, daß er Otto abstieß und verkleinerte.“ (81) Diese Tendenz setzt sich dann im Text verstärkt fort (vgl. 221 f.), selbst bei Figuren, die wie der Onkel dem Krieg anfangs aufgeschlossen gegenüber gestanden hatten. Einerseits lässt sich die Verbannung des Krieges aus dem Bewusstsein als naheliegender Mechanismus des Selbstschutzes deuten; sie lässt sich andererseits aber als grundsätzliches Bedürfnis nach alltäglicher Lebenswelt verstehen, die dem Einzelnen Sicherheit und Stabilität verleiht; denn niemand erträgt den permanenten Ausnahmezustand. Auch das ist wohl eine der ganz praktischen Wahrheiten, die der unpraktische Protagonist als Phänomenologe der Lebenswelt für den Leser bereithält.
Wolfgang Düsing
Wann ist die Wirklichkeit „wirklich“? Medienkritik in Prosatexten von H. Böll bis F. Dürrenmatt
I. Einleitung Der Titel spielt auf eine Bemerkung des Pressefotografen Peschkalek in Bernhard Schlinks Roman Selbs Betrug an, dessen Credo lautet: „Die Wirklichkeit ist erst wirklich, wenn sie im Kasten ist“, das heißt, wenn er sie fotografiert hat. Der Ich-Erzähler teilt diese Auffassung jedoch nicht und nennt sie eine „mediengenügsame Vorstellung von Wirklichkeit“.1 Die kleine Kontroverse gehört zum Hintergrund des 1994 erschienenen Romans, der als zweiter Band der Trilogie um den Privatdetektiv Selb die Medienproblematik knapp und präzise, aber nur am Rande thematisiert. Es wirkt wie ein Nachklang der hier ausgewählten, in dem Zeitraum von 1974 bis 1986 erschienenen Romane und Erzählungen, die sich alle kritisch mit der Problematik der modernen Massenmedien auseinandersetzen. Die Literatur beteiligt sich damit an einer Diskussion, die bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreicht und durch die rasante technische Entwicklung und die damit verbundene Ausbreitung der Medien im Laufe der Zeit noch an Intensität gewonnen hat. Massenmedien sind seit langem ein zentrales Thema wissenschaftlicher Untersuchungen. Grundlegende medientheoretische Überlegungen von Walter Benjamin, Marshall McLuhan, Neil Postman, Niklas Luhmann u.a.2 sind mittlerweile von medienwissenschaftlichen Spezialdisziplinen übernommen und fortgeführt worden. Publizistik, Filmund Theaterwissenschaft, Buchwissenschaft und Kunstwissenschaft entwickeln eigene fachspezifische Medientheorien. Das gilt auch für die Literaturwissenschaft.3 Parallel dazu entstehen Studien, die am Beispiel einzelner Werke den Einfluss der Medien auf die moderne Literatur und die Auseinandersetzung zwischen Literatur und Medien untersu1 Bernhard Schlink: Selbs Betrug. Roman, Zürich 1994, S. 230. 2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1938], in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt a. M. 1969, S. 148–184. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1992. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. Opladen 1996; Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a. M. 1992. 3 Helmut Schanze: Medienkunde für Literaturwissenschaftler, München 1974. – Literaturwissenschaft – Medienwissenschaft, hg. von Helmut Kreuzer, Heidelberg 1977.
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chen. Das geschieht beispielsweise in dem Sammelband Mediensprache – Medienkritik, der die Thematik aus germanistischer Perspektive behandelt und dabei sprachwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Aspekte miteinander verbindet.4 Die in der Literatur mit literarischen Mitteln geführte Auseinandersetzung mit den neuen Medien soll hier an ausgewählten Prosatexten untersucht werden. Im modernen Roman hat sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Tradition der Medienkritik entwickelt. Damit ist einmal die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der als Bedrohung empfundenen Macht der Medien gemeint. Dabei geht es vor allem um die Massenpresse, aber auch um die Auswirkungen von Rundfunk und Fernsehen. Eine zweite Linie der Medienkritik in der Literatur vollzieht sich vor allem als Sprachkritik, wobei die hier getrennten Linien oft auch miteinander verbunden sind und sich gegenseitig ergänzen. Seit der Sprachphilosophie Mauthners, der Sprachkritik von Karl Kraus, Hofmannsthal u.a. verfügt die Literatur über ein hoch entwickeltes sprachkritisches Instrumentarium, das differenzierte Auseinandersetzungen ermöglicht. Eine dritte, hier allerdings nicht berücksichtigte Antwort der Literatur auf die neuen Medien ist ihre produktive Adaption in neuen Schreibweisen. Das lässt sich schon früh bei der Rezeption des Films beobachten, weshalb man hier zu Recht von „filmischer Schreibweise“ oder von „Kinostil“ spricht. Eines der bekanntesten Beispiele in der deutschen Literatur ist Döblins Berlin Alexanderplatz.5 Die Tendenz zu literarischen Experimenten nimmt heutzutage eher noch zu und führt zu Computer-Romanen, zu epischen Hypertexten, Polytexten und komplexen Montagen, wobei aber nicht vergessen werden sollte, dass die Anfänge solcher Experimente mit der literarischen „Formensprache“ im Dadaismus und Futurismus liegen.6 Die hier ausgewählten Texte stehen jedoch nicht in dieser Tradition, die kritische Auseinandersetzung mit den modernen Medien folgt ihren eigenen Gesetzen.
II. Medienkritik in H. Bölls Roman: Die verlorene Ehre der Katharina Blum Wir beginnen mit einem Klassiker der literarischen Medienkritik, mit Heinrich Bölls 1974 veröffentlichter Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Hier geht es um die Methoden der Massenpresse, der um der Sensation willen jedes Mittel recht ist, die unter dem Vorwand der Pressefreiheit vor keiner Verfälschung der Fakten zurückschreckt. Der Erzähler, der in der Rolle des Berichterstatters die einzelnen Kapitel eines Kriminal4 Mediensprache – Medienkritik, hg. von Ulrich Breuer und Jarmo Korhonen, Frankfurt a. M. 2001. 5 Ekkehard Kaemmerling: Filmische Schreibweise, in: Materialien zu Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“, hg. von Matthias Prangel, Frankfurt a. M. 1975, S. 185–198. 6 Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 414 f.
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falles referiert, ist meistens sachlich und um Objektivität bemüht. Wenn er interpretierend und kommentierend eingreift, kann er selten mit Humor, häufiger schon mit Ironie oder bitterer Satire auf die unglaublichen Ereignisse reagieren, die er zu berichten hat. Katharina Blum, eine sympathisch gezeichnete, unbescholtene junge Frau lernt auf einem Hausball, der zu Beginn des Kölner Karnevals bei Bekannten stattfindet, einen jungen Mann kennen, der ihr verschweigt, warum er polizeilich gesucht wird. Da er in ihrer Wohnung übernachtet und der Polizei am nächsten Morgen entkommen kann, gerät sie in das Fadenkreuz der Ermittlungen. Sie ist sich keiner Schuld bewusst, reagiert naiv, glaubt, ohne Anwalt auskommen zu können, und verschlimmert dadurch ihre Situation von Tag zu Tag. Was aber ihre Lage immer unerträglicher macht, sind die unsensiblen Verhörmethoden, gegen die sie sich zur Wehr zu setzen versucht, und vor allem die Berichte der Zeitung, worunter Böll die Bild-Zeitung versteht, die ihn selbst über Jahre geradezu verfolgte und diskriminierte. Was Böll damals anprangerte, hat auch heute noch nichts von seiner Aktualität verloren. Die Aufdeckung krimineller Machenschaften oder politischer Affären durch die Medien ist durchaus verdienstvoll, aber der einzelne, der unschuldig ins Visier der Massenmedien gerät, verliert vor einem Millionenpublikum seine persönliche Würde. Eine nachträgliche Richtigstellung, zu der die Zeitungen oder die Sender gelegentlich verurteilt werden, kommt oft zu spät. Die öffentliche Vorverurteilung durch die Medien ist endgültig wie eine Hinrichtung. Dieses Spiel treibt die Zeitung mit Katharina Blum. Der Erzähler geht auf die geradezu kriminellen Methoden der Journalisten ein, die nach bewährter Manier Nachbarn, Verwandte und Bekannte interviewen, dabei suggestive Fragen stellen und die Antworten so manipulieren, dass in der öffentlichen Meinung ein Bild von Katharina entsteht, das von übelsten Verdächtigungen und Klischees geprägt ist. Die Polemik der Zeitung führt zu einer Flut von anonymen Briefen an Katharina mit derben sexuellen Angeboten oder auch zu Drohungen und Beschimpfungen mit politischem Hintergrund, die alles enthalten, was die Phantasie und der Wortschatz empörter Spießbürger zu bieten hat. Der ganze Mief der frühen siebziger Jahre der Bundesrepublik, die durch den kalten Krieg und die Teilung des Landes auf ein politisches Freund-Feind-Schema fixierten Vorurteile und eine durch das Kölner Milieu kaum gemilderte, reaktionäre Einstellung zur Rolle der Frau und zur Sexualität werden hier lebendig. Die heute museal wirkende, damals höchst einflussreiche Mentalität hat Böll hier als Schriftsteller durch ihre Sprache charakterisiert und karikiert, so dass sie für spätere Generationen wie ein Präparat unter Glas zu bestaunen sein wird. Katharina hat ihren Mann, den sie überstürzt heiratete, um bedrückenden häuslichen Verhältnissen zu entkommen, verlassen, weil er einfach zu primitiv war und sie ihn nicht mehr ertragen konnte. Sie wurde – wie damals üblich – schuldig geschieden und war damit gesellschaftlich stigmatisiert. Dazu kommen gelegentliche Herrenbesuche, bei denen sie übrigens, wie später mitgeteilt wird, keinerlei Entgegenkommen zeigte, und eine einzige Liebesnacht mit ihrem neuen Freund, von dessen krimineller Vergangenheit sie nichts wusste –, das reicht, um sie in der Zeitung als „Räuberliebchen“ zu titulieren und dem Leser nahezulegen: Wer so etwas tut, ist so tief gesunken, dass man ihm alles zutrauen darf!
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Da das Medium der Presse die Sprache ist und Böll als Schriftsteller der Sprache besondere Aufmerksamkeit schenkt, wird die Medien- und Gesellschaftskritik hier zur Sprachkritik. Es geht um den Nachweis, wie nach und nach durch sprachliche Mittel ein Klima von Verdächtigungen geschaffen wird, das sich bis zur Hetze steigert, um die bis dahin bei allen beliebte, von ihrem Arbeitgeber wegen ihrer Tüchtigkeit besonders geschätzte Haushälterin Katharina Blum zu vernichten. Katharina dagegen verschlägt die Lektüre der Zeitung im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Sie kann ihre Betroffenheit nicht artikulieren und verstummt. Nach vier Tagen, als ihr Freund gefasst wird und die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass sie von seiner kriminellen Vergangenheit nichts wusste, ist es zu spät. Sie verabredet ein Treffen mit dem Journalisten, der ihren Ruf zerstört und damit ihre Existenz vernichtet hat. Als dieser auftritt, als wäre nichts geschehen, und Anstalten macht, ihrer verbalen Vergewaltigung durch die Zeitung noch eine physische hinzuzufügen, greift sie zur Waffe und erschießt ihn. Das Opfer wird zum Täter. Den Gang der Ereignisse fasst der Erzähler folgendermaßen zusammen: „Da ist eine junge Frau gut gelaunt, fast fröhlich zu einem harmlosen Tanzvergnügen gegangen, vier Tage später wird sie – da hier nicht ge-, sondern berichtet werden soll, soll es bei der Mitteilung von Fakten belassen bleiben – zur Mörderin, eigentlich, wenn man genau hinsieht, auf Grund von Zeitungsberichten.“7 Zu ergänzen ist noch, dass nicht nur Katharina, sondern auch ihr Anwalt und seine Frau Opfer der Pressekampagne werden. Es ist bezeichnend, dass man Böll vorgeworfen hat, er verherrliche Gewalt. Man wollte nicht sehen, dass die wahre Gewalt nicht von der Titelfigur der Erzählung, sondern von der Zeitung ausgeht. Sie verfügt über trübe Quellen, die ihr immer wieder Material aus den Vernehmungsprotokollen zuspielen, das dann skrupellos ausgeschlachtet wird. Die ausführliche Quellen-Metaphorik – der Erzählprozess dient unter anderem der Analyse trüber Quellen – charakterisiert vortrefflich das inoffizielle Zusammenspiel von Kriminalpolizei, Justiz und Zeitung, wenn es darum geht, Verdachtsmomente gegen Katharina zu sammeln. Böll entlarvt vor allem die rhetorischen Mittel, mit denen die ahnungslosen Leser der Zeitung durch Sprache manipuliert werden. Er war bekanntlich selbst zuvor die Zielscheibe einer groß angelegten Medienkampagne geworden, die ihn in die Nachbarschaft des Terrorismus rückte. Den Hintergrund der Erzählung bilden die wilden Jahre der Bundesrepublik, in denen der Kampf gegen die „Baader-Meinhof-Bande“ den Staat erschütterte und nicht nur zu berechtigten Maßnahmen, sondern auch zu hysterischen Reaktionen führte. Die Chronik der Ereignisse braucht hier nicht rekapituliert zu werden. Die politische Vorgeschichte der Erzählung ist eingehend dokumentiert und diskutiert worden.8 Sie führte dazu, dass in den Rezensionen und der späteren Rezeption vor allem 7 Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann, 4. Aufl., München 1976, S. 117. 8 Heinrich Böll: Freies Geleit für Ulrike Meinhoff. Ein Artikel und seine Folgen, hg. von Frank Grützbach, Köln 1972. Hanno Beth macht darauf aufmerksam, dass die Erzählung nicht nur als Reaktion Bölls
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die politische Dimension des Textes betont wurde. Dass Medienkritik und Sprachkritik damit unmittelbar zusammenhängen, wurde weniger betont. Eine Ausnahme bildet die Rezension von Wolfram Schütte mit der Feststellung: Denn nicht nur ist die Presse Gegenstand der Kritik – und damit deren hauptsächliches Mittel, die Sprache, die sie als Waffe, als Totschläger und Aufputschmittel benutzt: Böll in der Nachbarschaft von Karl Kraus –, sondern auch Katharina Blum hat eine sehr bestimmte, sehr genaue Sensibilität für die Wahrheit und Lüge der Sprache.9
Böll imitiert den Stil der Bild-Zeitung, um die Rhetorik der Diffamierung, der falschen Gefühle, der Manipulation von Fakten zu entlarven. Die vielfachen Entstellungen, mit denen die Aussagen über Katharina aus ihrem Bekanntenkreis verfälscht werden, bis das Gegenteil dessen, was gemeint war, herauskommt, müssen hier nicht wiedergegeben werden. Bemerkenswert ist, dass sich Katharina gegen die Sprache der Polizei in den Verhören wendet: „Es kam zu regelrechten Definitionskontroversen zwischen ihr und den Staatsanwälten, ihr und Beizmenne“, dem Kommissar. Vor allem, wenn es um ihre Beziehung zu dem gesuchten Ludwig Götten geht, reagiert sie sprachlich sensibel. „Zärtlichkeiten“ und „innig“ haben für sie eine andere Bedeutung als „Zudringlichkeiten“ und „intim“, ganz zu schweigen von Wörtern wie „gefickt“.10 Wir haben hier den Konflikt zweier Sprachebenen, wobei der Erzähler sich aber nicht vorbehaltlos mit der Sprache Katharinas identifiziert, denn ihre Ausdrucksweise ist nicht frei von Klischees. Katharina hat wegen ihrer auch für das katholische Köln der siebziger Jahre schon befremdlich wirkenden Ehrbarkeit den Spitznamen „Nonne“ und so spricht sie auch gelegentlich, was vom Erzähler leise ironisiert wird. Die Figuren charakterisieren sich vor allem durch ihre Sprache. Polizei und Regenbogenpresse geben ebenfalls durch ihre Sprache mehr von sich preis, als ihnen bewusst ist. Den verschiedenen Stilebenen steht dann noch der Bericht des Erzählers, meist sachlich und um Objektivität bemüht, gelegentlich aber auch wertend und ironisierend, gegenüber. Es geht vor allem um Medienkritik als Sprachkritik, nicht um eine Kopie der gesprochenen Sprache, wie Kritiker meinten. Böll hebt zu Recht hervor, dass der Schein der Natürlichkeit in der Literatur Resultat bewussten Gestaltens ist. Der Vorwurf, dass er einfach so schriebe, „wie die Leute sprechen“, beruht auf einem Missverständnis. auf Angriffe der Presse wegen seines Spiegel- Artikels „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ (Der Spiegel, 10.1.1972, S. 54 ff.) verstanden werden dürfe. Die eigentliche Ursache war wohl die PresseKampagne gegen Peter Brückner wegen seines Kontaktes zu den „Baader-Meinhof-Leuten“, wie Böll selbst anmerkt (H. Beth: Rufmord und Mord: die publizistische Dimension der Gewalt, in: Heinrich Böll. Eine Einführung in das Gesamtwerk, hg. von dems., 2. Aufl., Königsstein i. Ts. 1980, S. 71 f.). 9 Wolfram Schütte: Notwehr, Widerstand und Selbstrettung. Heinrich Bölls Erzählung ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘, in: Frankfurter Rundschau, 10.8.1974. Zit. n. Rainer Nägele: Heinrich Böll. Einführung in das Werk und in die Forschung, Frankfurt a. M. 1976, S. 165. 10 Böll: Die verlorene Ehre, S. 18, 27. Vgl. Bernd Balzer: Heinrich Böll: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, Frankfurt a. M. 1990, S. 44 ff.
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Böll betont dagegen: „[D]as, was man eine natürliche Sprache nennt, ist das Ergebnis sehr komplizierter künstlerischer Vorgänge“.11 Böll kommt hier zu dem gleichen Resultat wie Fontane, dessen Figuren bei leichtem Anklang an den Berliner Dialekt eine Kunstsprache sprechen, die es so nie gegeben hat. Die Analyse der ästhetischen Struktur der Erzählung führt bei Jeziorkowski zu dem Ergebnis, dass Böll, nicht ohne Ironie, Elemente der Bänkelsang-Geschichten, der Moritaten und der Schauerballade einarbeitet. Schon der Doppeltitel: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ verbindet auf deklamatorische Weise ein Mädchenschicksal mit einer moralischen Lehre.12 Hanno Beth dagegen betont vor allem, dass der Erzähler für die Darstellung der dramatischen Ereignisse immer wieder auf die Form des Berichtes zurückgreift, dass er sich auf Quellen stützt und sich dabei der „klassischen und wichtigsten Methode journalistischer Arbeit“ bedient, der „Recherche“.13 Der Schriftsteller überführt die Zeitung nicht mit den Mitteln der Polizei und Justiz durch eine Beweisaufnahme, sondern transponiert das Geschehen in eine Romanhandlung, deren Figuren dem überlieferten Personal entsprechen, schafft darüber hinaus die Figur eines Erzählers, der allen Feststellungen und Behauptungen der Zeitung nachgeht, auf der Suche nach falschen Behauptungen, Fehlinformationen und der Vorverurteilung Katharinas. So entsteht eine spannende Geschichte, deren Überzeugungskraft nicht nur in den nachgewiesenen Schlampereien und der Sensationsgier der Journalisten der Zeitung liegt, sondern auch in der sprachlichen und kompositorischen Meisterschaft des Autors.
III. Der Krieg und die Massenmedien P. Henisch: Die kleine Figur meines Vaters und N. Born: Die Fälschung Medienkritik durch Kontrastierung verschiedener Sprachebenen, die dadurch für den Leser transparent werden, prägt auch den Erzählprozess in dem 1975 erschienenen Roman Die kleine Figur meines Vaters des Österreichers Peter Henisch. Der Erzähler geht der Biographie seines Vaters nach, der am Ende seines Lebens die bedeutsamsten, prägenden Stationen noch einmal Revue passieren lässt. Der Vater war Kriegsberichterstatter auf deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg. Filmkamera und Fotoapparat waren die Medien, mit denen er die Realität erfasste und dokumentierte. Da der Vater nicht nur bei den Bildern bleibt, sondern in einem großen Rückblick seine Erinnerungen auch auf Band spricht, setzt sich 11 Balzer: Heinrich Böll, S. 46 f. 12 Klaus Jeziorkowski: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann, in: Heinrich Böll. Romane und Erzählungen, hg. von Werner Bellmann, Stuttgart 2000, S. 249–267, hier 256 f. 13 Hanno Beth: Rufmord und Mord, S. 75.
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der Sohn, der als Schriftsteller an der Biographie des Vaters arbeitet, nicht direkt mit dem optischen Medium auseinander, sondern mit der sprachlichen Fassung der gefilmten Ereignisse. Der gesamte Krieg wird in den Erinnerungen des Vaters, ähnlich wie in dem Bildmaterial, zu einer Folge heroischer Bilder. Gelegentlich werden auch humoristische Anekdoten erzählt, aber das alles bleibt für den Sohn zu sehr an der Oberfläche. Ihn stört die Verharmlosung des 2. Weltkriegs, die Selbststilisierung des Vaters als eine Art Schwejk, der sich pfiffig überall durchgemogelt hat und es den anderen überließ, ihren Krieg zu führen. Der Sohn vermisst eine kritische und selbstkritische Auseinandersetzung des Vaters mit der belasteten Vergangenheit. Die Arbeit an der Biographie des 1913 geborenen Vaters bringt, als es um das Kriegsende und die Nachkriegszeit geht, auch das eigene Leben des 1943 geborenen Autors ins Spiel. Er kommt sich zunächst wie ein „Detektiv“ vor, der die verborgene Wahrheit im Leben des Vaters aufdecken will. Allmählich aber wird ihm bewusst, dass es dabei genau so auch um ihn selbst geht: „Hinter einem anderen her, begegnet man sich selbst“.14 Die indirekte Form der Vergegenständlichung des eigenen Ich ist zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Vater und ein Dialog zwischen einem Schriftsteller und einem Fotografen, zwischen Text und Bild, ein Ringen um ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit. Die bohrenden Fragen des Sohnes: „Wie konnte das geschehen, wieso habt ihr da mitgemacht, wieso habt ihr nichts getan ?“ bleiben ohne Antwort, denn: „Ich war halt mittendrin“ ist keine Antwort.15 Die Texte bestehen aus verschiedenen Schichten. Sie enthalten Hinweise auf Fotos und Filme des ehemaligen Kriegsberichterstatters, dann dessen auf Tonband gesprochene Erinnerungen und die Kommentare des Erzählers, also des Sohnes, der die Erinnerungen des Vaters zu verstehen versucht und durch eigene Nachforschungen ergänzt. Dazu kommen dann für die spätere Zeit noch dessen eigene Erinnerungen hinzu. Das leitmotivisch wiederkehrende Traumbild, dass der Erzähler auf den Schultern des Vaters sitzt oder auch umgekehrt der Vater auf seinen, spiegelt eine allmähliche Annäherung beider im Bemühen um die Wahrheit, um ein angemessenes Verständnis dessen, was beide erlebt haben. Dabei gewinnt das Erzählen im Vergleich zur Fotografie immer mehr an Bedeutung. Die heroischen Bilder des Vaters verbergen mehr, als sie enthüllen. Erst als der Vater nach dem Zusammenbruch die Rolle des großen Kriegsberichterstatters aufgeben muss und von diesem Lebensabschnitt ausführlicher erzählt, wird er auch als Figur lebendig. Neue Entwicklungsmöglichkeiten kommen in den immer wieder variierten Geschichten zum Ausdruck: „Das Bewußtsein [...] solcher Freiheit, solcher Freiheit als Potentialität, spiegelt sich wieder als Freiheit des Erzählens.“ Das bedeutet: „Die Erzählung befreit sich von der bisher noch mehr oder minder aufrechterhaltenen Zwanghaftigkeit des Dokumentarischen.“16 Die im Erzählprozess sichtbar
14 Peter Henisch: Die kleine Figur meines Vaters, Salzburg, Wien 1987, S. 14, 17. 15 Ebd., S. 145. 16 Ebd., S. 122 f.
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werdende Differenz zwischen Dokumentieren und Erzählen ist nicht nur eine theoretische Einsicht, sie verändert auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Die Kritik des Autors richtet sich gegen eine politisch gelenkte Art des Filmens und Fotografierens, nicht gegen das visuelle Medium als solches, nur gegen die Manipulation der Wirklichkeit durch dessen Gebrauch zu Propagandazwecken. Der Vater gewinnt durch seine Rückblicke Distanz zu sich selber, womit sich auch sein bisher unreflektiertes Verhältnis zur Fotografie verändert. Auf einer politischen Veranstaltung zum Tag des Kindes gelingt ihm das Foto eines glücklichen kleinen Mädchens mit einem Luftballon. Er versäumt dadurch allerdings das Standardfoto eines Politikers, der ihn deshalb zur Rede stellt. Der Vater distanziert sich von der „verlogenen Knipserei“ im Dienste des Staates, er möchte in der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt, versuchen, „wahrhaftig zu fotografieren“. Das ist die Gegenposition zum Missbrauch des Mediums im Dritten Reich. Der Vater erinnert sich noch genau an die „Heim-ins-Reich-Kundgebung auf dem Heldenplatz“ in Wien: „Jeder von uns hat genaue Order gehabt.“ Und dann heißt es in einem durch „Kapitälchen“ ausgezeichneten Satz: „Die Bilder waren viel wichtiger als die Wirklichkeit.“17 Henischs Roman macht darauf aufmerksam, dass auch die Aufnahmen eines professionellen Pressefotografen kein objektives Bild der Wirklichkeit liefern, sondern immer nur einen Ausschnitt der Realität wiedergeben, der durch die Perspektive des Fotografen, damit verbundene Arrangements und die technischen Vorgaben des Mediums geprägt ist. Noch gravierender sind jedoch die den Blick auf die Realität verstellenden politischen Vorgaben, die der Vater des Erzählers als Pressefotograf so verinnerlichte, dass sie ihm erst nach vielen Jahren, in einer durch die Fragen des Erzählers angeregten selbstkritischen Rückbesinnung bewusst wurden. Bei einem unkritischen Verhältnis zum Medium der Fotografie besteht die Gefahr, dass die Bilder wichtiger werden als die Wirklichkeit. Es entsteht eine zweite Wirklichkeit, deren falscher Schein von einem Schriftsteller vor allem durch Sprachkritik zerstört werden kann. Die zweite Wirklichkeit artikuliert sich in einer Sprache, die sich durch ihre Abweichungen selbst entlarvt. Henischs Sprachkritik setzt eine bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurückreichende österreichische Tradition fort. Man kann hier auf Hofmannsthals Brief des Lord Chandos verweisen, auch auf Mauthner, Karl Kraus u.a. Hier wäre auch Doderer zu nennen, dessen Werk von einem Ringen um eine vom öffentlichen Jargon noch nicht zerstörte Sprache der Literatur geprägt ist, die der „Anti-Sprache“ abgerungen werden muss. Sein sprachkritischer Rigorismus ist allerdings nicht frei von konservativen Zügen, wie betont wurde,18 andererseits ist er auch wieder
17 Ebd., S. 187, 56. 18 Frank Trommler: Doderers Moral der Sprache, in: Colloquia Germanica (1971), S. 283–298, hier S. 286.
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aktuell angesichts neuerer Forderungen nach einer „sprachkritischen Ethik“.19 Bemerkenswert ist auch, dass die Unterscheidung zwischen zwei Arten der Wirklichkeit, die in den hier erörterten Texten von Böll bis Dürrenmatt zunehmend an Bedeutung gewinnt, auch schon bei Doderer in Verbindung mit zwei verschiedenen Arten von Sprache thematisiert wird: „Die zweite Wirklichkeit ist ein Fall, der, überall vorhanden, doch selten ganz kraß auftritt: die entscheidende Eigentümlichkeit dieses Zeitalters.“20 Die Problematik der Massenmedien in der heutigen Zeit thematisiert auch Nicolas Born in seinem 1979 erschienenen Roman Die Fälschung, der wie Bölls Erzählung ebenfalls von Volker Schlöndorff verfilmt wurde. Der Reporter Laschen wird in den Libanon entsandt, um eine Reportage über einen Krieg zu liefern, über den er schon das Jahr zuvor bis zum Waffenstillstand berichtet hatte. Schon damals hatte er als Fremder Mühe, die Situation der Menschen im Orient zu verstehen. Alles erschien ihm „absurd“.21 In Beirut wird ihm wieder bewusst, wie fremd ihm die „arabische Welt“ ist: „Nie hatte er eine Welt kennengelernt; er besuchte sie nur, haftete jeweils ein paar Tage an ihrer Außenschale, das war alles.“22 Die Ehe von Laschen steht unter dem gleichen Gesetz. Trotz der Kinder ist die Kommunikation der Eheleute nur noch scheinbar. Im Hotel in Beirut dagegen schreibt er einen langen Brief an seine Frau, den er immer wieder abzusenden vergisst. Er ist mit einem Fotografen unterwegs, aber er misstraut den Bildern und seinen Berichten. Was er wirklich erlebt, versucht er zwar aufzuschreiben, aber es ist für die „Hamburger Illustrierte“, für die er arbeitet, nicht interessant.23 Man erwartet sensationelle Berichte und Fotos. Wie er die zustande bringt, ist seine Sache. Es wird geradezu verlangt, dass er „Bildunterschriften fälschte“.24 So wenigstens empfindet er die Forderung seiner Illustrierten, Kriegsbilder für ein deutsches Publikum reißerisch zu kommentieren. Er arbeitet an einem „Lügengewebe“.25 Das Gefühl einer Spaltung des eigenen Ich wird immer größer, denn er soll „Erfahrungen machen ohne Erfahrungen, Gefühle behaupten, Verantwortung behaupten [...]. Er kopierte Erfahrung, er fälschte drauflos.“26 Als er nach Hamburg zurückkommt und an der Redaktionskonferenz teilnimmt, wird ihm bewusst, dass erst hier aus seinem Material und den Fotos für ein Millionenpublikum das Bild des Krieges geschaffen wird. Nicht was er wirklich persönlich erfahren hat, 19 Helmut Arntzen: Medienkritik und sprachkritische Ethik. Ein Prolegomenon, in: Breuer/Korhonen (Hg.): Mediensprache – Medienkritik, S. 273–283. 20 Heimito von Doderer: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers. 1940–1950, München 1964, S. 847. 21 Nicolas Born: Die Fälschung, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 15. 22 Ebd., S. 18. 23 Gemeint ist der STERN. Vgl. Wolfgang Herles: Die (doppelte) Fälschung. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Literatur und Journalismus am Beispiel des Romans von Nicolas Born, in: Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Festschrift für Helmut Motekat, hg. von Erich HuberThoma, Ghemela Adler, Frankfurt a. M. 1986, S. 213–223, hier S. 213. 24 Born: Fälschung, S. 89. 25 Ebd., S. 54. 26 Ebd., S. 79.
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sondern was hier konstruiert wird, ist für die Leser die Wahrheit über den Krieg, über das Land, über die Menschen. Das Medium schafft seine eigene Realität, eine andere gibt es nicht: „Eine Weltgeschichte wurde hier gemacht [...].“27 Allmählich erkennt er, dass auch sein privates Leben, seine Ehe und sein Verhältnis zu seinen Kindern von diesen Fälschungen tangiert werden. Er fühlt sich diesem Prozess zunächst wehrlos ausgeliefert. Als er beginnt, sich gegen die zunehmende Durchdringung seines Bewusstseins mit einer Scheinwelt zur Wehr zu setzen, entdeckt er in der Literatur, die diesen Prozess darstellen und dadurch bewusst machen kann, eine Gegeninstanz. Mit dieser Einsicht wird er zum Schriftsteller, der hofft, dass ihn die Entlarvung der gefälschten Wirklichkeit der Medien, die Marktzwängen gehorchen, der authentischen Realität, wie er sie erfährt, einen Schritt näher bringt. Es geht nicht darum, dass jede Darstellung durch das „Medium Sprache“ nur eine „Reproduktion“ ist und damit „Fälschung des Originals“ und „mehr oder weniger gültig“. Journalistische Reportagen unterliegen Zwängen, von denen Literatur frei ist. Sie haben eine Tendenz, die die Perspektive bestimmt, und können nicht zweckfrei sein wie die Kunst. Die von der Kunst gestaltete Realität ist eine andere als die der Medien. Da es jedoch Überschneidungen gibt, entsteht ein Konkurrenzverhältnis, das sich bei den Printmedien noch verschärft, da beide, Journalist wie Schriftsteller, sich der Sprache bedienen. Laschen leidet unter den Zwängen, denen eine journalistische Berichterstattung unterworfen ist. Indem Born in der Person der Hauptfigur beides darstellt – die Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet für seine Redaktion und das zunehmende Leiden des Protagonisten an der Diskrepanz zwischen der medienwirksam dargestellten Pseudorealität und der Lebenswirklichkeit, wie er sie persönlich erfährt –, entsteht ein Roman, der aus dem Kontrast dieser beiden Realitäten seine Spannung bezieht. Das Existieren in zwei Wirklichkeiten droht, die personale Identität Laschens zu zerstören. Der Erzähler bezieht eindeutig Stellung, was sein Verhältnis zu den beiden konkurrierenden Realitätskonzepten angeht. Wahr und wirklich ist für ihn nur die unmittelbar erfahrene, persönliche Lebenswirklichkeit, während das aus der Kriegsberichterstattung hervorgehende Bild der Realität als „Fälschung“ entlarvt wird. Laschen rettet sich vor der drohenden Zerstörung seiner personalen Identität durch den Entschluss, den Journalismus aufzugeben und Schriftsteller zu werden. Die Wandlung zum Schriftsteller führt zu einer neuen personalen Identität und damit auch zu einer unverstellten Erfahrung der Unmittelbarkeit des Lebens.28 Die These, dass es nicht nur bei der journalistischen Berichterstattung zu Fälschungen kommt, sondern auch bei der literarischen Auseinandersetzung mit dem Krieg, dass es sich bei dem Roman also um eine „doppelte Fälschung“29 handele, da Dichtung immer eine subjektive Komponente habe, lässt einige Fragen offen. In dem Essay „Das Ende der 27 Ebd., S. 299. 28 Zur Bedeutung dieser Vorstellung der „Lebensunmittelbarkeit“ in der modernen Dichtung vgl. Willems: Anschaulichkeit, S. 370 ff., 417 f. u.ö. 29 Herles: Die (doppelte) Fälschung, S. 213.
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Fiktionen“ erinnert Hildesheimer daran, dass Kunst nicht die Aufgabe hat, Fakten zu vermitteln: „Kunst ist Kreativität, nicht Wiedergabe [...].“ Fälschungen kann man korrigieren, aber nicht die „kreative Reaktion“ eines Schriftstellers, „die eine Passage von Wörtern über die Ebene eines Zeitungsartikels oder eines Briefes hinaushebt, indem sie Aspekte wahrnehmbarer Realität zu subjektiver Wahrheit macht.“30
IV. Im Labyrinth der Medien. F. Dürrenmatt: Der Auftrag Dürrenmatt thematisiert in seiner Novelle Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter aus dem Jahre 1986 die Medienproblematik in einer Weise, die alle bisher behandelten Texte an Radikalität übertrifft. Mit dem paradox formulierten Titel spielt er, nicht ohne Ironie, auf einen Grundbegriff der Systemtheorie an. Niklas Luhmann bestimmt die Haltung des Menschen gegenüber der von den Medien konstruierten Realität als „Position des Beobachters“.31 Nach Luhmann bedeutet das nicht nur, dass der Mensch seiner von den Medien geschaffenen Wirklichkeit als Beobachter gegenübersteht. Wenn das Verstehen der medial vermittelten Realität über die Kenntnisnahme von Fakten hinausgeht und der Mensch sich seiner Position als Beobachter bewusst wird, wird die einfache Beobachtung „zur Selbstbeobachtung im Modus zweiter Ordnung, zur Beobachtung des eigenen Beobachtens.“32 Ganz ähnlich heißt es etwas später: „Die Realität der Massenmedien, das ist die Realität der Beobachtung zweiter Ordnung.“ Das bedeutet, „daß eine Gesellschaft, die ihre Selbstbeobachtung dem Funktionssystem der Massenmedien überläßt, sich auf eben diese Beobachtungsweise im Modus der Beobachtung von Beobachtern einläßt.“33 Man sollte nicht meinen, dass diese schwierige und abstrakte Theorie über den besonderen Charakter der „Realitätskonstruktion“34 der Massenmedien auch ein Novellenthema sein könnte. Der Titel signalisiert, dass Dürrenmatt, ausgehend von einem Grundbegriff der Systemtheorie, den kühnen Versuch unternommen hat, das Schicksal des Menschen in einer von den Massenmedien geprägten Realität in einer „unerhörten Begebenheit“35 zu konzentrieren und in der Form der Novelle literarisch zu gestalten. Der Geschlossenheit und Stringenz der medialen Realitätskonstruktionen entspricht die Stringenz des Kriminalmodells, das hier vom späten Dürrenmatt, der mit seinen frühen Kriminalromanen 30 Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen, in: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. von C. L. Hart Nibbrig und Volker Jehle, Bd. VII., Frankfurt a. M. 1991, S. 141–158, hier S. 153. 31 Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 151. 32 Ebd., S. 152. 33 Ebd., S. 153 f. 34 Den Begriff einer medialen „Wirklichkeitskonstruktion“ erläutert Marcus S. Kleiner in: MedienHeterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie, Bielefeld 2006, S. 60–245. 35 Goethes Novellenbegriff (Gespräch mit Eckermann am 29. Januar 1827).
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und Kriminalstücken Weltruhm erlangte, noch einmal angewandt wird. Das ist allerdings keine Wiederholung, keine Rückkehr zu Bewährtem, sondern eher ein gewagtes Experiment. Nicht zufällig ist das „Experiment“ eine Leitvorstellung in Dürenmatts Überlegungen zur Poetik und Ästhetik.36 Die Novelle ist in 24 Abschnitte gegliedert, deren Länge von einer bis zu zehn Seiten wechselt. Da jeder Abschnitt immer nur aus einem Satz, die gesamte Novelle also aus 24 Sätzen besteht, entsteht der Eindruck eines atemlosen Tempos bei überlangen Sätzen. Die Komplexität des Themas spiegelt sich in der ungewöhnlichen Darstellungsweise. Der Psychiater Otto von Lambert erfährt, dass seine Frau „am Fuße der Al-HakimRuine“ Opfer eines Verbrechens geworden sei.37 Die Bestattung verläuft etwas ungewöhnlich, denn der Sarg mit der Toten wird durch einen Helikopter per Halteseil im Beisein der Trauergemeinde in das Grab hinabgelassen. Die Aktion wird gefilmt von einer F. Alle Personen – mit Ausnahme des Ehepaars von Lambert – werden nur mit einem Buchstaben genannt und auf ihre Rollen als Funktionsträger reduziert. Der F. gibt von Lambert, der zunächst ein Filmporträt von sich anfertigen lässt, den Auftrag, das Verbrechen am Tatort möglichst genau zu rekonstruieren und alles, was damit zusammenhängt, in einem Film festzuhalten. Er fühlt sich schuldig am Tod seiner Frau, denn er glaubt, er habe sie als Psychiater immer mehr zum Objekt seiner Beobachtungen gemacht. Die F. jedoch – F. steht wohl für Filmemacherin, eine Anspielung auf Charlotte Kerr, die zweite Frau Dürrenmatts – erzählt später einem anderen Bekannten, einem D., der als „Logiker“ bezeichnet wird,38 dass sie nach Lektüre des Tagebuchs der Frau einen ganz anderen Eindruck habe. Nicht nur er habe sie, auch sie habe ihn zum Objekt von Beobachtungen gemacht. Sie betont die Genauigkeit und die unmenschliche Sachlichkeit dieser Beobachtungen. Sie habe ihn „wie unter einem Mikroskop mit immer steigender Vergrößerung und in immer schärferem Licht betrachtet, seitenlang beschrieben [...] wie er esse, seitenlang wie er in den Zähnen stochere, seitenlang wie er sich und wo er sich kratze [...].“39 Die Filmemacherin glaubt, dass „jeder Mensch, filme man ihn so, zu einem von Lambert werde.“40 Auf sie, so erzählt sie D., habe von Lambert einen ganz anderen Eindruck gemacht. Er sei kein Monstrum, eher harmlos, allerdings ein „Fanatiker seines Berufs“.41 Lamberts Notizen über seine Frau, bei der er eine Depression diagnostizierte, sind so abstrakt und mit halb36 Das poetische Experiment ermöglicht – nach Dürrenmatt – eine für die moderne Literatur unerlässliche Annäherung an die Naturwissenschaften. Deren Methoden müsse er in seine „dramatischen und Prosa-Experimente einbeziehen“, erläutert er in: Friedrich Dürrenmatt und Charlotte Kerr: Rollenspiele, Zürich 1986, S. 46. 37 Friedrich Dürrenmatt: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Novelle, Zürich 1986, S. 9. 38 Wohl eine ironische Anspielung des Autors, der damit auch als Figur teilnimmt. Als Büchner spielt Dürrenmatt in Achterloo mit (Achterloo III, 1. Akt, in: Dürrenmatt, Kerr: Rollenspiele, S. 209 f.). 39 Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 14. 40 Ebd., S. 15. 41 Ebd.
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verstandenen Wendungen Heideggerscher Philosophie garniert, dass sie von F. einfach als „Quark“ abgetan werden.42 Im übrigen hängt, ihrer Meinung nach, der Satz in Tinas Tagebuch: „Ich werde beobachtet“ nicht mit Lamberts Tagebuch zusammen, sondern mit ihrem eigenen. Sie fürchtet, ihr Mann habe ihr Tagebuch gelesen und sie durchschaut. Ihr blieb deshalb nur noch die Flucht, um Konsequenzen zu entgehen. Der Logiker schlägt Tina eine weitere Interpretationsmöglichkeit vor. Der Psychiater empfindet die Flucht seiner Frau nur deshalb als unersetzlichen Verlust, weil er mit ihr seine interessanteste Patientin verloren hat. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Bemerkungen von D. zur Problematik des Beobachtens, weil er darin einen Grundzug des Medienzeitalters sieht. Wenn er beispielsweise von seinem Haus in den Bergen aus mit seinem Spiegelteleskop eine gegenüberliegende Felswand betrachte, entdecke er jedes Mal Leute, die ihn mit ihren Ferngläsern beobachten. Sie ziehen sich jedoch zurück, wenn sie merken, dass er sie ebenfalls beobachtet. Bei dieser Darstellung kommt es nicht nur auf das „Beobachten“ an, sondern auch auf die technischen Geräte, die diese Art von Kommunikation erst ermöglichen. D.s Formulierung bringt die Absurdität des Geschehens auf den Punkt, wenn er feststellt: „[Z]u jedem Beobachteten gehöre ein Beobachtendes, das, werde es von jenem Beobachteten beobachtet, selber ein Beobachtetes werde […].“43 Er nennt das eine „banale logische Wechselwirkung“,44 die jedoch als realer Prozess durchaus bedrohliche Folgen haben könne. So werde er immer wieder von seinen Beobachtern bedroht, weil sie sich von ihm ertappt und beobachtet fühlten. Dies sei „für unsere Zeit symptomatisch“: „jeder fühle sich von jedem beobachtet und beobachte jeden, der Mensch heute sei ein beobachteter Mensch, der Staat beobachte ihn mit immer raffinierteren Methoden, der Mensch versuche sich immer verzweifelter dem Beobachtet-Werden zu entziehen“.45 Das wechselseitige Beobachten grassiert nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich oder im Verhältnis des Bürgers zum Staat, auch die Staaten beobachten sich ständig. Eine weitere Folge dieses Verhaltens besteht darin, dass auch das Verhältnis des Menschen zur Natur immer mehr zu reiner Beobachtung reduziert wird, wobei es Dürrenmatt darauf ankommt, dass das Beobachten sich über „Kameras, Teleskope, Stereoskope, Radioteleskope, Röntgenteleskope, Mikroskope, Elektronenmikroskope, Synchrotrone, Satelliten, Raumsonden, Computer“46 vollzieht. Das nur noch durch Technik und Medien vermittelte, auf Ausbeutung gerichtete Verhältnis zur Natur ist Symptom einer Entfremdung von der Natur, die sich gegen diese Behandlung mit Katastrophen und Schadstoffen zu wehren beginnt.
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Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19 f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 20 f.
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Die angeführten Belege demonstrieren, wie genau und wie variantenreich Dürrenmatt die Kommunikationsprozesse in einer durch die Medien geprägten sozialen Wirklichkeit gestaltet hat. Dazu gehören Beobachtung und Selbstbeobachtung, d.h. eine Beobachtung des eigenen Beobachtens. Mit Luhmann müsste man allerdings gegen Dürrenmatt einwenden, dass der Beobachter „nicht ohne weiteres ein psychisches System“, ein „Bewußtsein“, also ein Subjekt ist. Aber Luhmann selbst bezieht sich auf das Verhältnis Lehrer – Schüler, um das Beobachten und Beobachtet-Werden zu veranschaulichen.47 Dürrenmatt skizziert am Beispiel eines Einzelfalls die bis ins Absurde und Groteske gehenden Auswirkungen eines von den Medien beherrschten Empfindens und Denkens und die damit verbundenen Irritationen in der Kommunikation der Menschen miteinander. Der Prozess wechselseitiger Beobachtung mit Hilfe einer immer perfekteren Technik ist schon so weit fortgeschritten, dass alles unter diesem Diktat steht. Dadurch ändert sich auch das menschliche Verhalten. D. bemerkt in seiner Unterredung mit F., dass er mittlerweile noch schlimmer als unter dem ständigen Beobachtet-Werden unter dem Fehlen jeder Beobachtung leide. Nicht beobachtet zu werden, bedeute, nicht beachtet zu werden. Man könne dadurch in eine tiefe Depression geraten. Ein Dasein ohne Beobachtung, ohne Beachtung durch andere werde sinnlos: „[D]arum beobachteten alle einander, knipsten und filmten einander aus Angst vor der Sinnlosigkeit ihres Daseins angesichts eines auseinanderstiebenden Universums mit seinen Milliarden Milchstraßen“.48 Angesichts der Unendlichkeit des Weltalls, das keinen persönlichen Gott mehr zulasse, sei es denkbar, dass Tinas Notiz „Ich werde beobachtet“ auch Ausdruck einer Hoffnung sein könnte, durch ihre spektakuläre Flucht die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen. Tragisch sei dann nur, dass ihr Mann ihre Flucht nicht als Versuch, beobachtet zu werden, verstanden habe. Er habe alle Nachforschungen unterlassen, wodurch ihre Flucht sinnlos geworden sei und sie erst durch ihren Tod die Beachtung gefunden habe, die sie sich wünschte. Die F. bricht nach diesen Informationen in Begleitung eines Kamerateams zu einer abenteuerlichen Reise auf, um das vermutliche Verbrechen, dem Tina, die Frau von Lambert, zum Opfer fiel, aufzuklären. Sie gerät in einem orientalischen Land in gefährliche Konflikte mit Geheimdienst, Polizei und Militär, die sie von Anfang an beobachtet haben, sich aber auch alle gegenseitig bespitzeln und bekämpfen, weil ein Umsturz herbeigeführt, beziehungsweise verhindert werden soll. Dürrenmatt hat schon früh in dem Mythos vom Minotaurus, der in einem Labyrinth existiert, ein Gleichnis für sein Bild der Welt gesehen. Die „Dramaturgie des Labyrinths“49 prägt auch seine Prosatexte. Nicht zufällig lautet der Titel von Dürrenmatts letztem 47 Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, hg. von Dirk Baecker, 5. Aufl. Heidelberg 2009, S. 147. 48 Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 23. 49 Manfred Durzak: Dramaturgie des Labyrinths – Dramaturgie der Phantasie. Friedrich Dürrenmatts dramentheoretische Position, in: Zu Friedrich Dürrenmatt, hg. von Armin Arnold, Stuttgart 1982, S. 173–186.
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Roman Durcheinandertal. In der Novelle Der Auftrag wird der mit immer neuen Wendungen überraschende Erzählverlauf durch die Bindung an das Kriminalschema zusammengehalten. Die F. gerät bei ihren Nachforschungen in ein undurchdringliches, immer bedrohlicher werdendes Labyrinth von Ereignissen und Figuren, aus dem sie nur mit viel Glück wieder hinausfindet. Das gilt auch für das vermeintliche Opfer. Tina von Lambert wurde nicht ermordet. Das Opfer eines Verbrechens war eine andere Frau, die dänische Journalistin Jytte Sörensen, der Tina ihren Pass geliehen hatte, damit diese überhaupt einreisen konnte, und ihren roten Pelzmantel, was dann zu Verwechslungen führte. Die illegal eingereiste, „tollkühne Dänin“, wie der Chef des Geheimdienstes sie nennt, wollte im Auftrag einer „dänischen privaten Fernsehanstalt“,50 die für ihre „Sensationsreportagen“ bekannt war, einen Film über die hier mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte drehen und wurde dabei in dem von mehreren Staaten umkämpften Grenzgebiet ermordet. Aber auch diese Auskunft beruht mehr auf Vermutungen als auf Tatsachen, wie der Chef des Geheimdienstes Tina gegenüber einräumt. Der labyrinthische, spannend erzählte, zur Auflösung aller Verwicklungen führende Weg braucht in dem hier behandelten Zusammenhang nicht weiter verfolgt zu werden. Ein längeres Kierkegaard-Zitat, das als Motto der Erzählung vorangestellt wird, verdient jedoch besondere Beachtung. Es wird wie ein Leitmotiv in der Novelle mehrfach zitiert und stammt aus Kierkegaards Abhandlung Entweder – Oder: Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.51
Auf das Kierkegaard-Zitat stößt die F. in einem verfallenen Hotel am Rande der Wüste. Es steht auf einem Zettel, den sie im Papierkorb findet, in einer ihr fremden „nordischen Sprache“. Deshalb kann sie den Sinn der Sätze nur erraten. Später hört sie, dass es vielleicht ein Hilferuf der ermordeten Jytte Sörensen sei. Sie fürchtet, da sie nun auf dem gleichen Weg ist wie die Dänin, auch das gleiche Schicksal zu erleiden. Sie „fühlte sich hilflos wie eine in den leeren Raum fallende Spinne, dieser Weg, den sie nun ging […], war eine Konsequenz ihres ganzen Lebens […].“52 Während dieser Überlegungen wandert sie immer weiter auf einem Wüstenpfad und stößt plötzlich auf einen durch eine Explosion zerstörten Bus und die grausam zugerichtete Leiche eines Kameramannes der Jytte Sörensen, den sie einen Tag zuvor noch kennen gelernt hatte. An diesem Ort des Grauens überrascht sie ein weiterer Kameramann, der sie schon lange verfolgt und filmt 50 Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 78. 51 Ebd., S. 7. 52 Ebd., S. 81.
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und ihr seine Unterstützung anbietet. Sie geraten auf ein Schlachtfeld mit zerschossenen Panzern, auf dem jedoch noch immer geschossen und gleichzeitig gefilmt wird, ein groteskes Bild der „fürchterlichen Stupidität der Welt“.53 Wenn die F. ihr Leben mit dem Sturz einer Spinne ins Leere vergleicht, wenn sie sich als Opfer eines Prozesses sieht, der in der Vergangenheit begann und nun unaufhaltsam abläuft, dann bezieht sich das auch auf die „fürchterliche Stupidität der Welt“. Der eine Aspekt, die in kriegerischen Auseinandersetzungen sich austobenden Machtkämpfe, sind nichts Neues in der Geschichte der Menschheit, der andere Aspekt dagegen, die Herrschaft der Medien, hier vor allem Film und Fotografie, verwandelt alles in eine pseudoreale Traumwelt. Das Kriterium für die Realität eines Geschehens ist seine Verfilmung. Wer nicht beobachtet und gefilmt wird, bzw. nicht selber als Beobachter aktiv ist, lebt nicht wirklich, denn alle Kommunikation findet auf dem Umweg über die modernen Medien statt. Dürrenmatt gestaltet durch eine Steigerung bis zur Groteske ein Bild der modernen Gesellschaft unter der Herrschaft roher kriegerischer und subtiler medialer Gewalt. Dass dies keine Überinterpretation der Novelle ist, belegt ein medienkritischer Kommentar Dürrenmatts in den Rollenspielen, die im gleichen Jahr veröffentlicht wurden wie Der Auftrag: „Du bist informiert wie noch nie durch Zeitungen, Radio, Fernsehen, du wirst unter einer Nachrichten- und Bilderlawine vergraben, aber unter dieser Lawine siehst du die Zeit nicht mehr, in der du lebst.“ Diese Situation ist besonders für ihn als Künstler ein Problem, weil sie jede produktive Auseinandersetzung verhindert: „Du versuchst dich ins Freie zu kämpfen, aber die Lawine donnert immer weiter auf dich herunter: Morgennachrichten, Mittagsnachrichten, Abendnachrichten.“ Der nötige „Freiraum, um nicht zu ersticken“, wird immer kleiner. Dürrenmatt sieht für sich nur einen einzigen Ausweg: „Du musst dir selber ein Bild zu schaffen suchen.“ Man darf sich nicht zu sehr auf die Lawine einlassen. Dürrenmatts Haltung ist dabei experimentell, wie die eines Naturwissenschaftlers. Er identifiziert sich nicht mit einem Stoff oder einem Thema, er experimentiert mit seinen Möglichkeiten. Mit „dramatischen und Prosa-Experimenten […] bin ich handkehrum außerhalb der Lawine, und die Lawine wird mein Stoff.“54 Dürrenmatt baut seine Geschichten wie Versuchsanordnungen auf, mit denen er experimentierend spielt. Die in der Fabel angelegte Problematik wird durch Figurenkonstellation und Handlungsführung zu Ende gedacht. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man das durch die Medien, hier vor allem durch Fotografie und Film vermittelte Bild der Welt mit dem Labyrinth vergleicht, in dem Minotaurus gefangen gehalten wurde. Dürrenmatt veröffentlichte 1985, ein Jahr vor der Publikation des Auftrags, den Text Minotaurus. Eine Ballade. Das Labyrinth ist für den Minotaurus etwas Unbegreifliches, weil es aus Spiegelwänden besteht, durch die er immer nur sich selbst begegnet. Die ‚Spiegelwände‘ einer hoch entwickelten Medientechnik führen zu einer Verunsicherung, die die F. immer wieder zweifeln lässt, was real und was Täuschung ist, wem sie eigentlich begegnet ist, wer die Frau im roten Mantel ist, mit 53 Ebd., S.130. 54 Dürrenmatt, Kerr: Rollenspiele, S. 45 f.
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der sie dann selbst verwechselt wird, weil sie ebenfalls einen roten Mantel trägt. Aber sie entkommt dem Inferno, das sie im Orient auf der Suche nach Tina von Lambert erlebt, die ebenfalls davonkommt. Die Novelle endet humoristisch. D. liest nach Wochen in der Zeitung, dass Tina von Lambert, „die schon Totgeglaubte und Beerdigte einem gesunden Knaben das Leben geschenkt habe“ und kommentiert das F. gegenüber mit der Bemerkung: „Donnerwetter, hast du aber Glück gehabt.“55
V. Resümee Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei allen Unterschieden der jeweiligen Handlung jeder Text auf seine Weise ein kritisches Verhältnis zwischen der Literatur und den Massenmedien thematisiert. Bei Böll geht es um eine harmlose junge Frau, die durch eine Zeitungskampagne regelrecht vernichtet wird, bei Peter Henisch um die Hinterfragung der Berichterstattung seines Vaters, der als Pressefotograf kritiklos die Propaganda übernahm. Nicolas Born behandelt die problematische Montagetechnik, mit der Bilder und Texte zu einer aufregenden Kriegsreportage aus dem Nahen Osten in einer Hamburger Redaktion kombiniert werden. Dürrenmatt verdichtet in seiner Novelle die Macht der Medien über den Menschen zu einem Albtraum. Indem jeder jeden unausgesetzt beobachtet und diese wechselseitige Beobachtung auch noch schriftlich festgehalten und gefilmt wird, entsteht eine zweite Wirklichkeit, die dem Menschen den Zugang zu seiner eigentlichen Wirklichkeit verbaut. Unter dem Gesichtspunkt der Medienkritik lässt sich bei den ausgewählten Texten eine Steigerung feststellen. Bei Böll sind gut und böse noch klar getrennt, und auch die Medienkritik beschränkt sich bei aller satirischen Schärfe auf eine bestimmte Zeitung. Bei Henisch macht der Vater eine Wandlung durch, er beginnt in den Gesprächen mit seinem Sohn, die Problematik seiner Propaganda-Fotos zu durchschauen und leistet später gegen aktuelle politische Zwänge Widerstand, indem er nicht – wie gefordert – die politische Prominenz fotografiert, sondern ein Mädchen mit einem Luftballon. Diese Möglichkeiten einer Versöhnung zwischen der Realitätsdarstellung der Massenmedien und dem Anspruch der Literatur gibt es nicht mehr in Borns Fälschung. Laschen resigniert, weil der praktizierte Journalismus auch zu Verfälschungen seines Lebens geführt hat. Ehrlich und zu verantworten ist für ihn nur noch eine literarische Darstellung. Die kompromissloseste Medienkritik bietet Dürrenmatts Groteske mit ihrer ironischen Anknüpfung an die Systemtheorie. Der „Widerspruch“ zwischen den problematischen „Selektionsverfahren der Massenmedien und ihrem Erfolg im Konstruieren der Realität“ ist für die Literatur ein Stein des Anstoßes. Indem sie darstellt, wie „Informationen über die Realität“ produziert werden,56 stellt sie den Anspruch der Massenmedien auf Wahrheit und Wirklichkeit, 55 Dürrenmatt: Der Auftrag, S. 132 f. 56 Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 215.
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auf die Konstruktion der Realität der modernen Welt in Frage. In Schlinks Roman Selbs Betrug, der hier nicht mehr behandelt wurde, weil seine Medienkritik in eine Reihe anderer Probleme eingebettet ist, wird der Stein des Anstoßes, wie eingangs zitiert, auf die kürzeste Formel gebracht: “Die Wirklichkeit ist erst wirklich, wenn sie im Kasten ist“,57 das heißt wenn sie fotografiert worden ist. Gegen diese „mediengenügsame Vorstellung von Wirklichkeit“ wendet sich die Literatur in den hier behandelten Texten und entwickelt dagegen eine neue „Ästhetik des Widerstandes“ (P. Weiss). Sie stellt die Wirklichkeitsvorstellung der Medien in Frage, indem sie Sprachkritik und Bildkritik treibt, indem sie der zweiten Wirklichkeit eine erste entgegensetzt und die Bedingungen bewusst macht, unter denen „Fälschungen“ als Wahrheit produziert werden. In der Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Medien auf objektive Erfassung der Realität wird sich die Literatur ihrer eigenen Möglichkeiten bewusst. Dass die Auseinandersetzung der Literatur mit den neuen Medien nicht als Rückzugsgefecht konservativer Literaten abgetan werden darf, sondern durchaus aktuell ist und Aufmerksamkeit verdient, geht aus einer hier abschließend zitierten Äußerung Luhmanns hervor: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien […]. Andererseits wissen wir soviel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können.“58
57 Schlink: Selbs Betrug, S. 230. 58 Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 9. – Marcus S. Kleiner verweist neben Luhmann noch auf eine ähnlich kritische Stellungnahme von Noam Chomsky. Kleiner: Medien-Heterotopien, S. 212.
Juliane Köster
Lebenswelt im deutschen Lesebuch Der französische Germanist Robert Minder hat dem Lesebuch eine doppelte soziologische Funktion zugewiesen: „Stimmungen, Denkgewohnheiten, Verhaltensweisen“ zu „spiegeln“ und zu „prägen“.1 „In den Geschichten und Gedichten der Leseb[ücher]“, die Minder 1953 untersucht hat, findet er zwar „Welt“, aber die von gestern und vorgestern. Minders viel zitierte Kritik richtet sich in erster Linie gegen das Deutschlandbild, das der „Mann vom Mond“ angesichts der Lesebücher entwickeln müsste: „[E]in reiner Agrarstaat muß dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahrhunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.“2 Auf diese Kritik wurde reagiert: Sowohl mit Bekenntnissen zu „vollständige[r]“ „Lebens- und Weltorientierung“, zum Lesebuch als „Brevier weltlichen Lernens“3 als auch mit der Forderung, „allen Möglichkeiten sprachlicher Weltbegegnung und sprachlicher Weltdeutung aus Dichtung und Wirklichkeit, aus Vergangenheit und Gegenwart Raum zu geben, soweit sie dem Kinde und dem Jugendlichen zugänglich sind und soweit sie Qualität besitzen.“4 „Welt im Wort“ erscheint für Gerth sowohl in der „Dichtung“ als auch in der „Sachprosa“. Während Dichtung „eine autonome fiktive Welt schafft, in der unser Leben symbolisch gedeutet wird“, berichte die „Sachprosa […] über unsere reale Welt […], die sie schildert und betrachtet.“5 Und Anton J. Gail sieht den Anspruch, dass das Lesebuch „ein ‚Informatorium‘ der Wirklichkeit“ sei, erst dann eingelöst, wenn es „Wirklichkeit vermittelt“.6 Walther Killy beschreibt die Geschichte des Lesebuchs als Prozess fundamentaler Veränderungen: „Das Lesebuch war aus einem ‚wahrhafftigen Schauplatz der sichtbaren Welt‘, aus einer ‚Anleitung zur schönen Literatur für Jünglinge‘, aus einer Mustersammlung
1 Robert Minder: Soziologie der deutschen und französischen Lesebücher, in: Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, hg. von Hermann Helmers, Darmstadt 1969, S. 1–13, hier S. 1. 2 Ebd., S. 9. 3 Wilhelm Flitner: Zur Lesebuchfrage, in: Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 14–27, hier S. 27. 4 Klaus Gerth: Gedanken zu einem neuen Lesebuch, in: Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 165–179, hier S. 167. 5 Ebd. 6 Anton J. Gail: Das Lesebuch − Ein „Informatorium“ der Wirklichkeit?, in: Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 192–205, hier S. 205.
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oder einer Darstellung ideellen Reichtums zum Instrument einer Ideologie geworden.“7 Gemeint ist das „Gesinnungslesebuch“. Dessen Modell sieht Helmers (1970) in Wackernagels Deutschem Lesebuch (1843), das sich „einer bürgerlichen Gesinnungsbildung durch Dichtung“8 verpflichtet hat. Der literarische Text solle „durch ‚Einfühlung‘ seiner affektiven Wirkung entbunden werden“.9 Abhilfe sehen Helmers und – aus der Perspektive der DDR – Horst Strietzel10 im „Literarischen Arbeitsbuch“. Bereits dieser kurze Einblick in die Geschichte und Kritik des deutschen Lesebuchs zeigt, dass „Welt“ und „Leben“ − die beiden Komponenten des „Begriffskentauren“ „Lebenswelt“11 − eng und facettenreich mit dem Lesebuch verknüpft sind. „Lebens- und Weltorientierung“, „weltliches Lernen“, „sprachliche Weltbegegnung“, „sprachliche Weltdeutung“ werden simultan und teilweise synonym verwendet: „unsere reale Welt“ steht der „autonome[n] fiktive[n] Welt“ der Literatur gegenüber, „Wirklichkeit“ erscheint als Garant der „welteröffnenden Funktion“12 des Lesebuchs. Folgt man einschlägigen „Handreichungen für den Unterricht“, so orientieren sich moderne Deutschbücher an der „Alltagsrealität der Schülerinnen und Schüler“, bieten deshalb „realitätsnahe Lernsituationen“ und folgen dem Prinzip der „konsequente[n] Anknüpfung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler“.13 Dieser diffuse Befund zeigt zum einen, dass Deutschunterricht lebens- und realitätsnah14 zu sein hat, und zum anderen, dass unter diesem Etikett sehr unterschiedliche Aspekte und Konzepte versammelt sind. Lebensnähe oder Realitätsnähe des Lesebuchs verbürgen aber weder eine Fokussierung auf die „Lebenswelt“, noch verhindern sie deren Ausklammerung. Das gilt sowohl für das Textangebot eines Lesebuchs als auch für seine Nutzungsmaximen. 7 Walther Killy: Zur Geschichte des deutschen Lesebuchs, in: Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 355-377, hier S. 377. 8 Hermann Helmers: Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen, Stuttgart 1970, S. 193. Helmers hat den von Philipp Wackernagel etablierten Lesebuchtyp mit der Bezeichnung „Gesinnungslesebuch“ verknüpft, während Dietrich Boueke Wackernagel in erster Linie „ein Gespür für den Zauber einer Dichtung“ bescheinigt, verbunden mit der Intention, „diesen nicht zu zerstören, sei es auch auf Kosten des Verstehen“. Vgl. Dietrich Boueke: Grundzüge einer Geschichte der Leseerziehung, in: Lesen − Ein Handbuch, hg. von Alfred Clemens Baumgärtner, Hamburg 1974, S. 356–389, hier S. 376. Anders als Helmers sieht Boueke die Akzentuierung der Gesinnungsbildung vor allem durch Herbart und die Pädagogik vorangetrieben, vgl. ebd., S. 378. 9 Ebd. 10 Horst Strietzel: Von der „Anthologie“ zum „literaturkundlichen Arbeitsbuch“ − Aspekte der Lesebuchentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 378–394. 11 Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 19. 12 Vgl. Gail: Das Lesebuch − Ein „Informatorium“ der Wirklichkeit?, S. 197. 13 Bernd Schurf und Andrea Wagener (Hg.): Deutschbuch 5. Handreichungen für den Unterricht. Neue Ausgabe, Berlin 2004, S. 4. 14 Vgl. Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 189.
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Auch wenn der synonyme Gebrauch von Lebenswelt und Alltagsrealität, von Lebenswelt und Lebenswirklichkeit in pädagogischen und didaktischen Zusammenhängen geläufig ist, so verliert der Lebensweltbegriff dadurch doch die Trennschärfe und analytische Leistungsfähigkeit, die er seiner philosophischen Prägung durch Husserl und der Weiterentwicklung durch Blumenberg verdankt. Sowohl Husserl als auch Blumenberg gehen von einer doppelten Begriffsbedeutung aus: Einmal als „die Welt, wie sie dem einzelnen vorkommt“ − als die gegebene − und zum anderen als transzendentale. Aus dieser − erkenntnistheoretischen − Perspektive unterscheidet Husserl zwischen Lebenswelt in ihrer „vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit“ einerseits und „theoretisch bestimmter wissenschaftlicher Weltsicht“15 andererseits. Wissenschaft habe sich objektivistisch von der natürlichen Welt separiert. Blumenberg führt diese Unterscheidung fort, indem er Lebenswelt dadurch charakterisiert sieht, „ohne Befund gewesen zu sein“.16 Für Blumenberg resultiert das, was er als „Lebensweltschwund“ bezeichnet, aus den Erfahrungen der Negation (d. h., dass „die Identität von Wahrnehmbarem und Vorstellbarem der räumlichen und zeitlichen Nahumgebung“ nicht mehr gegeben ist), aus der Ablösung des Vorstellbaren vom Wahrnehmbaren (d. h. aus der Vorstellung der Sache ohne ihre Gegebenheit).17 Zugleich hebt Blumenberg als prominente Merkmale von Lebenswelt ihre „Selbstverständlichkeit“ und „Uneinsichtigkeit“ im Sinne ihrer Abstinenz von Selbstreflexion18 hervor. Angesichts der überwältigenden Präsenz von „Leben“ und „Welt“ im Lesebuch wird der Begriff „Lebenswelt“ in der folgenden Untersuchung restriktiv gebraucht. Dadurch lässt sich eine Unschärfe vermeiden, die kurzerhand alles, was mit dem Leben und dem Alltag der Schüler zusammenhängt, als „Lebenswelt“ zu deklarieren erlaubt. Das gilt gleichermaßen für die Konfliktfelder des Alltags, für weltpolitische Ereignisse und für die großen und kleinen „Lebensthemen“. Folgt man Husserls Unterscheidung zwischen Lebenswelt in ihrer „vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit“ und „theoretisch bestimmter wissenschaftlicher Weltsicht“19, dann steht die Schule sowohl innerhalb als auch außerhalb der Lebenswelt. In seiner selbstverständlichen Gegebenheit ist Unterricht Teil der Lebenswelt. In seinen Zielsetzungen geht es jedoch darum, „Befunde“ zu erheben, „die spezielle Betrachtungsweise, wie sie von den wissenschaftlichen Disziplinen erarbeitet wurde“,20 zu befördern. Für den Deutschunterricht heißt das, „den Rezeptionsprozess auf der Seite 15 http://de.wikipedia.org/wiki/Lebenswelt 16 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 23. Vgl. dazu vor allem den Beitrag von Stefan Matuschek: Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff in diesem Band. 17 Vgl. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. 18 Vgl. Stefan Matuschek in diesem Band: „Das Problem der ‚Uneinsichtigkeit‘ wird von der Literatur auf ihre Weise bewältigt, indem sie das, was sich der Beobachtung entzieht, erfindet und durch fiktionale Darstellung gegenwärtig werden lässt.“, S. 63. 19 Vgl. Anm. 15. 20 Helmers: Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen, S. 106 f.
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der rationalen und kritischen Reflexion“ zu akzentuieren.21 Diese von Helmers erhobene Forderung hat die im Folgenden rekonstruierte Entwicklungslinie vom „Deutschen Lesebuch“ zum „Deutschbuch“ nachhaltig geprägt, obwohl es bis zur Jahrtausendwende und PISA 2000 als zentralem Datum nostalgische und kontrastive Alternativangebote22 gab. Es geht also darum, das deutsche Lesebuch mit Hilfe eines präzisen Begriffs von Lebenswelt zu befragen, welche Rolle Lebenswelten sowohl im Textangebot als auch in den jeweiligen sich verändernden Nutzungsmaximen spielen. Die Untersuchung berücksichtigt Lesebücher aus den vergangenen 50 Jahren. Gegenstand exemplarischer Analysen sind drei Lehrwerke für Gymnasien aus den Jahren 1967, 1988 und 2007, und zwar jeweils der Band für die 8. Jahrgangsstufe.
Vom „Deutschen Lesebuch“ zum „Deutschbuch“ Ausgangspunkt der Analysen ist die Annahme, dass das Lesebuch in seiner eingangs genannten doppelten Funktion immer Lebenswelt-Proben bietet. Das geschieht in sehr unterschiedlicher Darbietungsform: im Bereich des Sachtextangebots kann es sich um die Abbildung eines Werbeplakats handeln, um den Abdruck einer Reportage oder eines Berichts über wissenschaftliche Studien, auch in Form von Tabellen und Diagrammen. Was die literarischen Texte betrifft, so ermöglichen Matuscheks Analysen eine Differenzierung zwischen Texten in auktorialer Verpackung und Texten mit „konsequent personaler Perspektivierung“. Während Texte mit einem kommentierenden und bewertenden heterodiegetischen Erzähler keine Lebenswelt sensu Husserl und Blumenberg fingieren, sondern Welt im Sinne fiktionaler Wirklichkeit, können personal perspektivierte Texte Lebenswelten simulieren. Sie können virtuelle Lebenswelten mit den von Blumenberg zugeschriebenen Merkmalen erzeugen, während die reale Lebenswelt − so Blumenberg − „ihrer Definition nach […] jede Auskunft darüber verweigern [muß], wie es sich in ihr lebt“.23 Mit Blumenberg gesprochen: „Es gibt keine Geschichten aus der Lebenswelt.“24
1. Erich Bender: Deutsches Lesebuch 4 (1967) − „Welt im Wort“ als Leseerlebnis 1967 liegt Band 4 des Benderschen Deutschen Lesebuchs für Gymnasien in Neubearbeitung vor. Diese zeigt sich vor allem im Gliederungsprinzip. Die Abteilungen „Lesestücke“ und 21 Ebd., S. 241. Vgl. auch Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 180–192. 22 Vgl. exemplarisch: Deutschstunden. Lesebuch, hg. von Harald Frommer, Hans Jürgen Heringer, Theo Herold, Ulrich Müller, Berlin 1987; Lektüre. Lesebuch für Gymnasien, hg. von Harro MüllerMichaels, Hannover 1992; AugenBlicke, erarbeitet von Ulla Dorenkamp, Helmut Melzer, Regina Nußbaum, Bettina Pfeffer, Braunschweig 1999. 23 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 59. 24 Ebd., S. 23.
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„Gedichte“ sind nicht mehr nach Themenkreisen angeordnet, sondern nach Textsorten und Genres. Die einzelnen Unterabteilungen haben unterschiedlichen Umfang: „Berichte“, „Beschreibungen“, „Schilderungen“ und „Erzählungen“ sind reichlich vertreten (zwischen neun und sechzehn Angeboten), „Legende“, „Kurzgeschichten“ und „Dramatisches Spiel“ nur in zwei Exemplaren, je drei Beispiele gibt es für „Fabel − Parabeln“, „Sagen“, „Anekdoten“, „Humoresken − Satiren“ und „Schnurren“. Die Texte bieten Wirklichkeitsbilder. Folgt man der programmatischen „Betrachtung“, mit der die Anthologie eröffnet wird, Peter Suhrkamps Text Über das Lesen (1947), dann geht es darum, zu entdecken, „daß es verschiedene Welten gibt“. Das „Geheimnis des Lesens“ sei das „innere Hören“ und das „innere Sehen“. Das ermögliche „ein Gespräch mit Menschen anderer Zeiten und mit Menschen anderer Welten“.25 Diese Orientierung an den Spezialisierungen der Fachwissenschaft erscheint allerdings eher als formales Zugeständnis an die Forderungen der Lesebuchkritiker.26 Denn im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis findet sich ein weiteres „Inhaltsverzeichnis, thematisch geordnet“: „Natur“ mit achtzehn Texten, „Menschen untereinander“ mit insgesamt fünfzehn. Sieht man sich die Unterthemen näher an, dann zeigt sich eine gewisse Nähe zu den Themen des „Gesinnungslesebuchs“: „Naturgewalten“, „Erlebnis und Schicksal“, „Erfahrung – Erkenntnis“, „Aus Sage und Vergangenheit“. Auch die thematische Ordnung der Gedichte entspricht in einigen Teilen den „Gesinnungslesebüchern“: „Arbeit und Werk“, „Der Mensch und die Elemente“, „Tugenden und Leidenschaften“, „Humor“. Dieser Befund legt es nahe, Benders Deutsches Lesebuch für Gymnasien nicht zur Gruppe der um 1965 entstehenden Literarischen Arbeitsbücher zu zählen. Als reine Anthologie bietet dieses Lesebuch keine Arbeitsaufträge oder -anregungen. Die tatsächlichen Intentionen ließen sich dem mir nicht zugänglichen Lehrerband entnehmen. Ihre Umsetzung jedoch hängt, wie Karlheinz Rebel schon 1964 angemerkt hat, „von der guten oder schlechten Qualität des betreffenden Deutschlehrers“27 ab. Implizit werden die didaktischen Intentionen auch durch die Textauswahl bestimmt. Interessant ist das Ergebnis vor allem deshalb, weil die Lesebuchkonzepte der 1950er und 60er Jahre anders als der Gegenentwurf des „literarischen Arbeitsbuchs“ auf Intuition und Einfühlung setzen und darüber hinaus Texte wählen, die nah am menschlichen Erleben sind und dabei häufig an die Emotionalität appellieren.28 Je mehr Erleben ein Lesebuch gewährt, desto näher ist es am Konzept der Lebenswelt. 25 Peter Suhrkamp: Über das Lesen, in: Deutsches Lesebuch für Gymnasien, Band 4: 8. Schuljahr, hg. von Erich Bender, Karlsruhe 1967, S. 1–2. 26 Als Promotor des literarischen Arbeitsbuchs hält Helmers die „Anordnung und Auswahl der Lesestücke nach den ohnehin umstrittenen Darstellungsformen des Aufsatzunterrichts (Erzählung, Schilderung, Beschreibung, Bericht, o.ä.)“ für obsolet, denn die poetischen Formen seien kein Muster für den Aufsatzunterricht; vgl. Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 186. 27 Karlheinz Rebel: Das deutsche Lesebuch einst und jetzt, in: Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, S. 84–107, S. 104. 28 Helmers: Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen, S. 200; unter Berufung auf Killy: Zur Geschichte des deutschen Lesebuchs.
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Was also bietet Benders Deutsches Lesebuch in Bezug auf Teilhabe an menschlichem Erleben? Das Textangebot ist reichhaltig, vielfältig und anspruchsvoll. Literarische Texte haben ein starkes Gewicht. Unter den als „Beschreibungen“ und „Schilderungen“ deklarierten Texten finden sich zahlreiche Beispiele prominenter literarischer Autoren wie Döblin, Thomas Mann, Joseph Roth, Robert Musil, Carl Zuckmayer und Thomas Wolfe. Elf der vierzehn „Erzählungen“ stammen aus der Zeit nach 1945. Auch wenn das Unterthema „Erlebnis und Schicksal“ Affinität zu den Themen der „Gesinnungskreise“ zeigt,29 lassen sich die zugeordneten Erzählungen nicht einer bestimmten Ideologie zuordnen. Bölls Waage der Baleks steht neben dem Trockendock von Stefan Andres, Popp und Mingel von Marie Luise Kaschnitz neben Gerd Gaisers Der Mensch, den ich erlegt hatte. Im Gegensatz zu Andres und Gaiser gelten Böll und Kaschnitz im Hinblick auf ihre Gesinnung als unverdächtig. Alle diese Erzählungen sind jedoch so beschaffen, dass sie Nicht-Alltägliches zur Sprache bringen und einladen, daran teilzunehmen. Kurz: Das Fehlen expliziter Nutzungshinweise erlaubt es, Benders Deutsches Lesebuch als ein Angebot von Lebensweltproben zu beschreiben, das Texte mit starker Prägung durch Erzählereingriffe mit personal perspektivierten Texten kombiniert. Auch auktorial geprägte literarische Wirklichkeitsbilder schließen leserseitig „Erleben“ nicht aus. Es sind die von Lesern erzeugten Textweltmodelle, die das „natürlich normale menschliche Weltleben“30 repräsentieren, indem sie von den „Eingriffen“ des auktorialen Erzählers abstrahieren und das Erzählte als selbstverständlich gegeben erleben. Das ist eine Leserleistung, die erklärt, warum auch die großen – kommentierenden – Erzähler des 19. Jahrhunderts Erleben ermöglichen. Während der Typus „literarisches Arbeitsbuch“ die Wissenschaftsorientierung zum Programm macht, folgt das Bendersche Lesebuch Peter Suhrkamps Maxime des „innere[n] Hören[s]“ und des „innere[n] Sehen[s]“. Damit ist Lesen als konstruktiver Prozess bestimmt, der das „Angebot an fiktiven Erfahrungen“31 zum Leseerlebnis macht. Das Bendersche Lesebuch realisiert, was Klaus Gerth als Motto der neuen Lesebücher proklamiert. „Welt im Wort“, das bedeutet: „Grundbilder und Mächte des Lebens, das Alltägliche und das Außerordentliche, das Aktuelle und das Zeitlose, Komik und Tragik, Heiterkeit und Trauer, der objektive und der subjektive sprachliche Zugriff auf Welt: all dies soll das Welt- und Selbstverständnis prägen und erweitern.“32
29 Vgl. ebd., S. 199. 30 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, zit. n. Matuschek: Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff, S. 57. 31 Matuschek: Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff, S. 69. 32 Gerth: Gedanken zu einem neuen Lesebuch, S. 167.
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2. Robert Ulshöfer: Arbeit mit Texten 7/8 (1988) − „Texte“ als Erlebnisangebot und Analyseobjekt Zwanzig Jahre später ist das literarische Arbeitsbuch zum Standard geworden. Neben die Texte ist ein Aufgabenapparat unterschiedlichen Umfangs und unterschiedlicher Qualität getreten. Lehrerhandbücher und teilweise auch Arbeitshefte für die Schüler sind Bedingung für die Zulassung in den Bundesländern. Wodurch unterscheidet sich Arbeit mit Texten vom Typ des Benderschen Lesebuchs? Das Buch bietet keine systematische Gliederung. Die Kapitelüberschriften sind durch den Wechsel zwischen Gegenständen („Kurze Geschichten“, „Balladen“, „Sagen um Troja und Worms“), Textfunktionen („Gedichte spiegeln die Welt“, „Unterhalten, Spotten und Belehren“) und Schüleraktivitäten („Denken − Diskutieren − Reden“, „Bücherlesen − ein Hobby“, „Dramatisieren und Inszenieren“, „Umgang mit Medien“) bestimmt. Den Abschluss bildet ein thematisches Kapitel: „Keiner lebt für sich allein“. Dieser Synkretismus verweist auf die unterschiedlichen Komponenten des Deutschunterrichts. Dem entsprechen auch die Nutzungshinweise, die sich im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis finden: „Das Buch will unterhalten und neugierig machen. Aber es will auch anleiten zum Untersuchen und Diskutieren, zum Verstehen und selbständigen Schaffen, zu gemeinsamem Spiel und fairem Verhalten.“33 Anders als bei Bender finden sich hier auch Auszüge aus Jugendromanen. Ähnlich wie bei Bender ist viel Raum für Kurzgeschichten des 20. Jahrhunderts reserviert. Es finden sich allerdings nur zwei gemeinsame Titel: Die Waage der Baleks und Popp und Mingel. Signifikant ist die deutliche Akzentuierung der „Kurzgeschichte“ als typischer Erzählform der Moderne. Die Unterkapitel zeigen eine Linie vom Außerordentlichen zum Alltäglichen: „Im Augenblick der Gefahr“, „Ausgestoßen“, „Neben- und miteinander“. Neu vor allem sind die „Arbeitshinweise“ am Ende jedes Kapitels. Der Vorzug dieser Anordnung besteht darin, dass die Texte als Erlebnisangebot wahrgenommen werden können und nicht sofort als Untersuchungsgegenstand erscheinen. Damit ist der doppelten Intention des Lehrmittels entsprochen: „zum Lesen“ und „zum Arbeiten“34 da zu sein. Es bietet nacheinander die „undisziplinierte ‚Weite der Welt‘“ und die „Enge des Fachspezifischen“.35 Die Arbeitshinweise sind unterteilt in „Zielsetzung und Planung“ einerseits und „Anregungen“ andererseits. Bezogen auf die „Kurzgeschichten aus unserem Jahrhundert“ sollen die Schüler „[d]iese Geschichten“ gut vorlesen oder erzählen, „die Art, wie sie gemacht sind […] untersuchen“ und den „Inhalt […] [d]iskutieren“. Hier wird explizit, dass Arbeit mit Texten über das Programm des „innere[n] Hören[s]“ und des „innere[n] Sehen[s]“ hinausgeht und damit die von Helmers und anderen geforderten Maximen des literarischen Arbeitsbuchs umsetzt. Damit ist jedoch der Weg der „Disziplinierung“ beschritten. Die Arbeitsanregungen richten den Fokus auf die Erzählweise und 33 Robert Ulshöfer (Hg.): Arbeit mit Texten. 7./8. Schuljahr, Neubearbeitung, Hannover 1988, S. 12. 34 Ebd. 35 Gottfried Willems: Einführung in die Literaturwissenschaft, Typoskript 2002, S. 4.
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die Aussageabsicht sowie auf deren Zusammenhang – unter Berücksichtigung des Inhalts. Die Schüler sollen untersuchen, wer erzählt und wie erzählt wird, ob die Er-Form bzw. die Ich-Form durchgängig verwendet wird, in welcher der Erzählungen mehr innere Vorgänge und in welcher mehr äußere Vorgänge dargestellt werden. Zudem sollen sie überlegen, „wie ein Kameramann die Erzählungen verfilmen würde“ und wie man „seelische Vorgänge, Gedanken und Gefühle im Film sichtbar darstellen“ kann.36 Inhaltsbezogene Anregungen folgen im Anschluss und werden am Beispiel von Max von der Grüns Erzählung Kinder sind immer Erben konkretisiert. Zwischen den Arbeitsaufträgen finden sich für die Bearbeitung der Aufträge nützliche Informationen und Erklärungen. Die Anregungen auf der Ebene der Erzählweise treffen durchaus das, wofür die gewählten Texte exemplarisch sind: Die Perspektivierung und die damit verbundenen erzählerischen Darstellungsmittel. Ein Zusammenhang zwischen den Darstellungsmitteln und der Generierung fiktiver Lebenswelten wird nicht hergestellt. Dabei würde sich Kaschnitz’ Erzählung von Popp und Mingel in besonderer Weise dafür eignen. Was Matuschek an Schnitzlers Lieutenant Gustl vorführt, gilt in gewisser Weise auch für Popp und Mingel. Bereits der erste Satz verweist auf das, „was sich der Beobachtung entzieht“:37 „Noch immer fragen sie mich alle, wie das gekommen sei, neulich, am Tag vor Allerseelen, und warum ich das getan hätte.“38 Was alle von dem phantasievollen Jungen (an der Schwelle zur Pubertät) wissen wollen, das lässt die Erzählung „durch fiktionale Darstellung gegenwärtig werden“:39 Dass der Junge sich eine Parallelfamilie erfunden hat, die „in lautes fröhliches Gelächter“ ausbricht, wenn er „aus der Prärie“ nach Hause kommt. Die Eltern sind Popp, „ein alter Fußball“, und Mingel, „eine komische Puppe ohne Beine“. Harry und Luzia sind die älteren Geschwister. Harry ist ein „Schachpferd aus Elefantenzahn“ und Luzia „ein eingeschrumpfter Luftballon“. Kennzeichen dieser Familie sind Fürsorge, Kommunikation und Heiterkeit. Am fraglichen Tag ist dem Jungen diese Parallelwelt abhanden gekommen. Die Schachtel, in der er die „Familie“ aufbewahrt hat, war nicht mehr da und war auch nirgends zu finden, nicht im Wäscheschrank und nicht im Mülleimer. So mit sich selbst konfrontiert, registriert er, wie „entsetzlich öde und still“ es in der Wohnung ist, und weiß, „daß [er] das nicht aushalten und wieder fortgehen würde“, um „dann nicht mehr so allein zu sein“.40 Diese Erzählung ist – wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Länge – in den aktuellen Deutschbüchern nicht mehr präsent. An ihr lässt sich jedoch vorzüglich lernen, dass Literatur (künstliche) Modelle der Lebenswelt bietet, die der Uneinsichtigkeit der wirklichen Lebenswelt entgegenarbeiten. An Popp und Mingel können die Schüler lernen, dass Literatur etwas macht, was in der Wirklichkeit nicht geht: in der Lebenswelt zu sein und sie zugleich zu beobachten. Das gelingt nur mit Hilfe von Modellen – vergleichbar dem gläsernen Modell 36 Ulshöfer: Arbeit mit Texten, S. 84 f. 37 Matuschek: Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff, S. 63. 38 Ulshöfer: Arbeit mit Texten, S. 54. 39 Matuschek: Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff, S. 63. 40 Ulshöfer: Arbeit mit Texten, S. 57.
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eines Menschen. Wirklichen Menschen ist der Blick in das Innere ihres Körpers versagt. Die Anstrengung der Literatur wäre dann darauf gerichtet, sichtbar zu machen, was in der Realität uneinsehbar ist. Die Erzählung erfindet nicht nur diese Innenwelt, sie macht deren Uneinsehbarkeit geradezu zum Thema. Denn die Erzählspannung resultiert daraus, dass die Erwachsenen sich keinen Reim darauf machen können, warum der Junge alle vier Flammen des Gasherds aufgedreht hat. Und weil auf dem Herd viel Seidenpapier lag, loderten die Flammen hoch auf und haben die Gardinen angesteckt. Was die Erzählung als „Unverfügbarkeitskern“ des Jungen preisgibt, bleibt seiner Umgebung uneinsichtig. Diese unterstellt dem Jungen Hass auf seine Eltern oder eine pyromanische Neigung. Dass das Feuer ohne Vorbedacht aus der Phantasie eines Jungen entfacht wurde, der sich gefreut hat und „gedacht, dass man mit den Flammen vielleicht auch reden kann“.41 Angesichts dieser Zuspitzung mag man fragen, ob die Erzählung nicht besser unter „Neben- und miteinander“ platziert wäre als unter dem Thema „Im Augenblick der Gefahr“. Ulshöfers Lesebuch bietet noch eine weitere Erzählung, deren Funktionieren mit Hilfe des Lebensweltbegriffs erhellt werden kann. In Herbert Malechas Erzählung Die Probe wird Lebenswelt als Nemesis wirksam und zwar in ihrer Selbstverständlichkeit. Jens Redluff, die Hauptfigur der Erzählung, ist ein steckbrieflich gesuchter Verbrecher. Mit neuem Namen und gut gefälschtem Pass ist er nach drei Monaten im Verborgenen wieder in der großen Stadt und sucht ein Schiff, das ihn wegbringt. Er ist angespannt und fürchtet, identifiziert zu werden. „[W]er soll mich denn schon erkennen in dieser Menge, sagte er sich. Aber er spürte nur zu genau, daß er in ihr nicht eintauchen konnte, daß er wie ein Kork auf dem Wasser tanzte, abgestoßen und weitergetrieben.“42 In einer Kneipe gerät er in eine Personenkontrolle: „Ihren Ausweis, bitte!“ Redluff schaute erst gar nicht auf das runde Metall in seiner Hand. Er drückte seine Zigarette aus und war plötzlich völlig ruhig. Er wußte es selbst nicht, was ihn mit einmal so ruhig machte, aber seine Hand, die in die Innentasche seines Jacketts fuhr, fühlte den Stoff nicht, den sie berührte, sie war wie von Holz. Der Mann blätterte langsam in dem Paß, hob ihn besser in das Licht. Redluff sah die Falten auf der gerunzelten Stirn, eins, zwei, drei. Der Mann gab ihm den Paß zurück. „Danke, Herr Wolters“, sagte er. Aus seiner unnatürlichen Ruhe heraus hörte Redluff sich selber sprechen. „Das hat man gern, so kontrolliert werden wie“ –, er zögerte etwas, „ein Verbrecher!“ − „Man sieht manchmal jemand ähnlich“, sagte der Mann, grinste, als hätte er einen feinen Witz gemacht. „Feuer?“ Er fingerte eine halbe Zigarette aus der Manteltasche. Redluff schob seine Hand mit dem brennenden Streichholz längs der Tischkante ihm entgegen. Die beiden gingen.
41 Ebd., S. 57. 42 Ebd., S. 48.
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Redluff atmet auf. „Die Spannung in ihm zerbröckelte, die eisige Ruhe schmolz. Er hätte jubeln können. Das war es, das war die Probe, und er hatte sie bestanden.“ Beim Verlassen der Kneipe hätte er beinahe seinen Hut vergessen. „Draußen atmete er tief, seine Schritte schwangen weit aus, am liebsten hätte er gesungen.“ Das Bestehen der Ausweis-Probe versichert ihn der Selbstverständlichkeit seiner Existenz. Jetzt ist ihm angenehm, was ihn zuvor in Panik versetzt hat, die Berührung mit anderen Menschen. „Aus einem Kino kam ein Knäuel Menschen, sie lachten und schwatzten, er mitten unter ihnen. Es tat ihm wohl, wenn sie ihn streiften.“ Redluff hat es nicht mehr nötig zu improvisieren. Er ist wieder in die Lebenswelt eingetaucht. „Er gehörte wieder dazu, er hatte den Schritt der vielen, es machte ihm keine Mühe mehr. Im Sog der Menge ging er über den großen Platz auf die große Halle zu […].“ Die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt hat wieder Macht über Redluff gewonnen. Auf der Spur einer attraktiven Frau kauft er eine Eintrittskarte für eine Ausstellung und wird als hunderttausendster Besucher registriert. Gleißendes Scheinwerferlicht übergoß ihn. Jemand drückte ihm einen riesen Blumenstrauß in die Hände. Zwei strahlend lächelnde Mädchen hakten ihn rechts und links unter. Fotoblitze zuckten. […] Redluff stand wie betäubt. „Und jetzt sagen Sie uns Ihren werten Namen“, schmalzte die Stimme unwiderstehlich weiter. „Redluff, Jens Redluff“, sagte er, noch ehe er wußte, was er sagte, und schon hatten es die Lautsprecher dröhnend bis in den letzten Winkel der Halle getragen. Der Kordon der Polizisten, der eben noch die applaudierende Menge zurückgehalten hatte, löste sich langsam auf. Sie kamen auf ihn zu.43
Die Erzählung basiert auf der Gegenüberstellung von Selbstverständlichkeit und Improvisation. Für Blumenberg ist zur Improvisation verurteilt, „wer Selbstverständlichkeit verloren habe“.44 In dem Moment, in dem Redluff merkt, dass seine falsche Identität funktioniert und glaubt, dass die Erde ihn wieder hat, gerät er in den Bann der Selbstverständlichkeit. Ohne alle Reflexion − „noch ehe er wußte, was er sagte“ − nennt er seinen wirklichen Namen. Was es zu lernen gibt: Es ist nicht einfach Unaufmerksamkeit, die Redluffs wahre Identität aufdeckt, er macht auch nicht einfach einen Fehler, sondern sein Eintauchen in den „Erlebnisstrom“ entzieht ihn der gebotenen Wachsamkeit und Reflexion. Insofern ist der Lebensweltbegriff in besonderer Weise geeignet, den Reiz der Erzählung deutlich zu machen. Arbeit mit Texten erweist sich als Zwitter. Einerseits proklamiert der Titel deutlich fachdisziplinäre Orientierung. Sowohl „Arbeit“ als auch „Texte“ signalisieren Distanz zu allem, was mit „Einfühlung, Gemüt und Erleben“ zu tun hat. Die Kritik am „Gesinnungslesebuch“ hat hier Wirkung gezeigt. Andererseits wird in der Einführung des Kapitels darauf verwiesen, dass Kurzgeschichten „Erzählungen [sind], die einzelne Situationen oder Vorgänge aus unserer Welt so erhellen, als ob man selbst am Geschehen beteiligt 43 Ebd., S. 49 f. 44 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 23; unter Berufung auf Manès Sperber.
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wäre“.45 Dieses Nebeneinander von analytischem Anspruch und „Geschehensbeteiligung“ mag jedoch auch ein Ungenügen am literaturkundlichen Ansatz signalisieren. Im Vergleich zum Benderschen Lesebuch ist Folgendes festzuhalten: Aus der Anthologie ist ein überwiegend literarisches Arbeitsbuch geworden, das zwischen Textangebot und Arbeitshinweisen eine strikte räumliche Trennung vollzieht. Die Erzählungen sollen unabhängig von den didaktischen Intentionen gelesen werden. Dennoch zeichnet sich gegenüber dem Benderschen Buch ein deutlicher Schritt ins Disziplinäre ab und damit in die Wissenschaftsorientierung. Die didaktischen Intentionen werden für die Schüler transparent gemacht. Auch ein Zuwachs an Lebensnähe ist festzustellen. Die grafische Gestaltung ist nah an der Realität und hat die Adressaten im Blick. Die Fotos sind typisch für Jugendliche in den späten 1980er Jahren. Aber Lebensnähe und Realitätsbezug verbürgen keinen Lebensweltbezug. Dieser erwächst hier sowohl aus der Auswahl von Texten, in denen Darstellungsverfahren der literarischen Moderne wirksam sind, als auch in der letztlich doch produktiven Absicht, zwischen Lesen und Arbeiten zu vermitteln und dabei eine bloße Parzellierung der Texte und Systematisierung der Befunde zu vermeiden.
3. Bernd Schurf & Andrea Wagener: Deutschbuch 8 (2007) − „Alltagswelt“ als Ausgangspunkt des Kompetenzerwerbs Deutschbuch ist das erfolgreichste „Sprach- und Lesebuch“ der beiden vergangenen Dekaden. Im Anschluss an ältere integrative Lehrwerke hat es den Typus des literarischen Arbeitsbuchs lernbereichsübergreifend weiter entwickelt und den Erfordernissen der Kompetenzorientierung angepasst. Es handelt sich um ein anspruchsvolles und intelligentes Lehrmittel, in das viel Unterrichtserfahrung und didaktische Kreativität eingeflossen ist. Sein Erfolg besteht deshalb zu recht. Im Konfliktfeld von Lebenswelt und Wissenschaft steht es jedoch massiv auf der Seite der Wissenschaft. Obwohl sich die Herausgeber auf die „Anknüpfung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler“46 verpflichtet haben, gehen die Intentionen der fünfzehn Unterrichtseinheiten in die andere Richtung. „Raus aus der Lebenswelt, hin zur Wissenschaft(spropädeutik)“ erscheint durchaus als passendes Motto. In jedem Kapitel werden Arbeitsanweisungen unmittelbar im Anschluss an die Texte präsentiert. Traut man dem Augenschein, dann hat im „Deutschbuch“ der Apparat mehr Raum als die Texte. Nicht nur die Anzahl der Texte hat gegenüber 196747 abgenommen, sondern vor allem auch deren Umfang. Brechts Unwürdige Greisin ist die einzige längere Erzählung, die en bloc vorgestellt wird. Auszüge aus längeren Texten werden portioniert, durch Arbeitsaufträge unterbrochen: so etwa im Kapitel „Friedrich Schiller: Wilhelm Tell − Szenen aus einem klassischen Drama“. Die Szenen sind so ausgewählt und durch Zwi45 Ulshöfer: Arbeit mit Texten, S. 47. 46 Vgl. Schurf und Wagener (Hg.): Deutschbuch 5. Handreichungen für den Unterricht, S. 4. 47 Arbeit mit Texten bezieht sich auf die Doppeljahrgangsstufe 7/8.
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schentexte ergänzt, dass das Lehrbuch-Angebot die Lektüre des ganzen Stücks ersetzt. Die Schüler erhalten zwar Informationen zum historischen Hintergrund, die Unterkapitel orientieren sich jedoch am Aufbau des aristotelischen Dramas und an den einschlägigen dramentheoretischen Begriffen. Dafür gibt es farblich markierte Merkkästen, Hinweise auf Arbeitstechniken in anderer Farbe: so z. B. auf den Entwurf einer Rollenbiografie.48 Als typisch für das wissenschaftspropädeutische Konzept in seiner kompetenzorientierten Ausprägung lassen sich die folgenden Aufgaben bezeichnen: „Ordnet den Konflikt, der die Handlung des Dramas in Gang setzt, in den geschichtlichen Hintergrund ein, der im Folgenden beschrieben wird.“ – „Die Einführung in ein Drama nennt man Exposition. Schreibt eine Definition zu dem Begriff in euer Heft. Ordnet dazu die Begriffe aus dem Wortspeicher in den Lückentext ein.“49 – „Stellt in einer Verlaufskurve dar, wie sich der Konflikt von der ersten Szene der Exposition an entwickelt hat, und tragt die wesentlichen Konfliktmomente als Stichworte in die Kurve ein.“50 Das sind zweifellos kognitiv anregende und fachlich relevante Aufgaben. Jedes der drei Beispiele zeigt jedoch, dass die Schüler Textstrukturen ermitteln und passende Begriffe zuordnen sollen. Solche Reflexion ist nicht nur nötig und sinnvoll, sie ist elementarer Bestandteil aktuellen Deutschunterrichts. Es geht also keineswegs darum, reflexionsfeindliche Tendenzen im Deutschunterricht zu befördern; es geht vielmehr darum, den Preis der Wissenschaftsorientierung zu benennen, nämlich auf Distanz zu gehen zum Dahinströmen des Textes als Bestandteil der Lebenswelt − zum Drama als Erlebnisangebot. Ein „Erlebnis“ versprechen vielmehr das szenische Spiel und andere handlungsorientierte Verfahren wie die Improvisation einer „Szene im Hause Tell“, ein Interview Geßlers auf dem „heißen Stuhl“, eine „Szenische Lesung“ oder „Standbilder“.51 Es wäre durchaus zu diskutieren, ob Tell für 13oder 14-Jährige überhaupt ein Erlebnisangebot darstellt, ob es der genannten Verfahren bedarf, um den Text zu einem Erlebnisangebot zu machen, oder ob die Verfahren selbst das Erlebnisangebot sind. Auch im Deutschbuch ist die Einsicht wirksam, dass Wissenschaftsorientierung und Kompetenzaufbau einhergehen mit dem Verlust dessen, was sich unreflektiert von selbst versteht. Ebenso wie in Arbeit mit Texten werden auch im Deutschbuch Ausschnitte aus Jugendromanen angeboten. In Band 8 wurde eine überzeugende Wahl getroffen. Unter dem Titel „Leben auf der Flucht – Jüdische Schicksale in Jugendromanen“ geht es um den Vergleich von zwei Klassikern: Mirjam Presslers biografischem Roman Malka Mai (2001) und Der gelbe Vogel (1977) von Myron Levoy. Im Prinzip funktioniert dieses Kapitel genauso wie das Tell-Kapitel: Wechsel zwischen Textpräsentation, Aufgaben und InfoKästen. Der Aufgabenapparat beginnt mit dem Auftrag, zusammenzufassen, was man „am Anfang des Romans über die Hauptfigur Malka erf[ä]hrt“, Malkas Vorgeschichte zu 48 Schurf und Wagener (Hg.): Deutschbuch 8, S. 248. 49 Beides ebd., S. 249. 50 Ebd., S. 255. 51 Ebd.
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erschließen, zu klären, wer diese Informationen gibt. Des Weiteren geht es um die Gliederung der Handlung, deren zeitliche Abfolge und um „Figurencharakteristik“. Einen zweiten Fokus bilden erzähltheoretische Aspekte: Personales Erzählen, die Unterscheidung von innerer und äußerer Handlung. Die Schüler lernen, dass die „erlebte Rede“ „zu den modernen Erzählweisen [gehört]“: „Als ob man in die Figur hineinschaute, werden Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle aus deren Sicht direkt wiedergegeben.“ Die Schüler realisieren, dass sie Erzähltes segmentieren, strukturieren, einzelne Elemente isolieren, sie Begriffen zuordnen und dadurch differenzierte Einsicht in die erzählte Welt gewinnen. Woran dieses didaktisch überzeugende Kapitel nicht rührt: Warum das, was diese Erzählweise leistet, modern ist. Der Lebensweltbezug des Deutschbuchs könnte dann darin bestehen, dass vor allem Levoys Roman sich nicht abfindet mit der Uneinsichtigkeit der realen Lebenswelt, sondern sie als Problem begreift, das literarisch zu bewältigen sein könnte.52 Die berechtigte Frage ist, ob solche Theoriebezüge, seien sie philosophischer oder poetologischer Art, für schulischen Unterricht überhaupt in Frage kommen. Und wenn ja: Für welche Klassenstufe? Wäre das etwas für höhere Klassen und nicht für den hier verhandelten achten Jahrgang? Ein Blick auf das Kurzgeschichten-Kapitel im Deutschbuch 8 zeigt, dass die sechs Kurzprosatexte zum Thema „Nicht ganz alltägliche Situationen“ von Alltäglichkeit als Erfahrung der Schüler ausgehen. Die ersten drei sollen die Schüler mit dem Genre bekannt machen: Streuselschnecke von Julia Franck (2001), Nachts schlafen die Ratten doch von Wolfgang Borchert (1946) und Schönhauser Allee im Regen von Wladimir Kaminer (2001). Es geht vor allem um die „Kennzeichen der Kurzgeschichte“, um „Redewiedergabe“, „Perspektivierung“ und „Leitmotive“. Es gibt aber auch ein paar inhaltsbezogene Fragen. Um das Gelernte in neuen Kontexten zu nutzen, denn darauf zielt jeder Kompetenzerwerb, sind von den folgenden drei Erzählungen zwei nur unvollständig abgedruckt, damit die Schüler sie um- und weiterschreiben. Unabhängig von der Drift zu wissenschaftlicher Objektivierung und Kompetenzerwerb ließe sich anhand dieses Themas eine Brücke zur Lebenswelt schlagen. Denn für Blumenberg „ist es keinesfalls abwegig, ‚Alltäglichkeit‘ als fortgeführte, mitgeführte, unterlaufende Lebensweltlichkeit zu beschreiben.“ Das „bewahrt auch vor dem gefälligen Gegenspiel von Lebenswelt und technischer Welt“.53 Für einen solchen Brückenschlag wäre jedoch die Chance wahrzunehmen, sich das Alltägliche in den einzelnen Kurzgeschichten anzusehen und auf dieser Folie zu fragen, worin jeweils das „nicht ganz Alltägliche“ besteht. Letztlich erweist sich die Darstellung von Alltäglichem als das, was die drei untersuchten Lehrwerke locker verbindet. Während in Benders Deutschem Lesebuch das „Alltägliche“ kaum an den Alltag der damals Vierzehnjährigen rührt, ändert sich das in den beiden 52 Vgl. Matuschek: Lebenswelt als literaturtheoretischer Begriff, S. 63. 53 Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 64.
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folgenden Lesebuchgenerationen rapide. Denn die Forderung nach Realitäts- und Lebensnähe wird zunehmend durch Bezüge zum gelebten Alltag der Jugendlichen realisiert. Es lässt sich sogar eine Korrespondenz zwischen dem Grad an Wissenschaftsorientierung und der Präsenz von „Alltag“ nachweisen. Je wissenschaftsorientierter die Lehrwerke werden, desto häufiger kommt der Alltag der Jugendlichen zur Sprache. Im Bereich der mündlichen Kommunikation und der Sprachreflexion erhalten solche Alltagsaspekte durchaus substanzielles Gewicht: Es geht um Themen wie Essen und Kleidung, Schönheit und Mode, Wochenendgestaltung, Sport und immer wieder „Jugendsprache“. Die Alltagsnähe kann sogar so weit gehen, dass der Lebenslauf von Eichendorffs Taugenichts damit verknüpft wird, „[s]ich in einem Bewerbungsgespräch vor[zu]stellen“.54 Was dabei aus dem Blick gerät, ist der von Blumenberg evozierte Überlappungsbereich von Lebenswelt und Alltäglichkeit. Denn der bloße Alltagsbezug ist ebenso wie Lebensnähe kein Mittel gegen den Lebensweltschwund. Als Fazit ergibt sich dann für die Entwicklung des deutschen Lesebuchs nicht nur eine Entsprechung von Wissenschaftsorientierung und Lebensweltschwund, sondern auch von Wissenschaftsorientierung und Alltagsbezug, der den Lebensweltschwund weniger auffällig macht.
Bilanz Der Lebensweltbezug eines Lesebuchs besteht also zum einen in einem Textangebot, das den Schülern ein „Als ob“ der wirklichen Erfahrbarkeit eröffnet. Die stetige Abnahme eines solchen Angebots im Übergang vom „Lesebuch“ zum „Arbeitsbuch“ ist auf die wachsende Wissenschaftsorientierung zurückzuführen, die sich in einer Vielzahl von Arbeitshinweisen und Aufgabenstellungen nachweisen lässt. Zum anderen könnte sich der Lebensweltbezug eines Deutschbuchs auch darin zeigen, den Schülern gerade das Artifizielle als Gewähr der Lebenswelt-Simulation bewusst zu machen. Wie das geschehen könnte, hat die Besprechung der Kurzgeschichten von Kaschnitz und Malecha gezeigt. Ein Grund dafür, dass diese Chance ungenützt bleibt, resultiert sicher aus der Schwierigkeit der Lebenswelt-Theorie. Demgegenüber ist der Lebensweltschwund aufgrund von Wissenschaftsorientierung eher mit dem Verdacht zu verbinden, Vortheoretisches bzw. das, was Husserl als Erleben bezeichnet, sei notwendig irrational oder gar vernunftfeindlich. Hinzu kommt die Orientierung an Bildungsstandards und Kompetenzerwerb und deren Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit. Dass dem aktuellen Deutschbuch der Lebensweltbezug so völlig fehlt, das hat wohl mit allen hier genannten Vorbehalten zu tun. Arbeit mit Texten ist als Repräsentant der 1980er und frühen 90er Jahre ambitioniert objektivistisch, was seinen Aufgabenapparat betrifft und insofern als einer der Vorläufer des Deutschbuchs zu charakterisieren. In den 54 Schurf und Wagener (Hg.): Deutschbuch 8, S. 68.
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ausgewählten Kurzgeschichten macht Arbeit mit Texten jedoch Erlebnisangebote und zeigt Potenziale, um Grundzüge des Lebensweltbegriffs für das Textverständnis produktiv zu machen. Wie das Bendersche Lesebuch, das den Typ der reinen Anthologie repräsentiert, erlaubt auch Arbeit mit Texten den Blick auf die „polythematische Totale“55 der Literatur, sodass Schülerinnen und Schüler mit ihrem „natürlichen Erfahrungsapparat und [ihren] Erlebnissen bei der Welt sein [können], wie sie wirklich ist“.56 Das ist didaktisch nicht nur vertretbar, sondern als eine wichtige Facette des Literaturunterrichts auch unverzichtbar, weil der Mensch – so sehr er das Kopernikanische System verstanden hat − „mit seinen Augen niemals etwas anderes zu sehen bekommen [wird], als daß die Sonne im Laufe eines Tages am Horizont einen Bogen um ihn und seine Erde beschreibt“; weil „in seiner Lebenswelt […] die Sonne immer um die Erde kreisen [wird].“57 Mit dem impliziten Programm, lesend „bei der Welt sein [zu können], wie sie wirklich ist“58, steht das Bendersche Lesebuch in der Tradition eines Lesebuchs, das um 1970 aus triftigem Grund als „Gesinnungslesebuch“ verworfen wurde. Es war vor allem die Anfälligkeit dieses Lesebuchtyps für den Transport von Ideologien, die ihn diskreditierte. Und die Lesebücher der NS-Zeit waren ein starkes Argument. Durch die Arbeit mit dem Lebensweltbegriff ist jedoch sichtbar geworden, dass der Typus dieses Lesebuchs auch auf den „Zauber der Dichtung“ und damit auf die subjektiv-erlebnishafte Zuwendung zur Welt gesetzt hat, allerdings ohne dieses Programm theoretisch artikuliert zu haben. Hinfällig geworden ist es deshalb nicht. Stark zu machen wäre der Anspruch an das Lesebuch, einen Beitrag zu leisten zur Reflexion dessen, „was überhaupt das Bewußtseinsleben des Menschen ausmacht“ und der „Verunsicherung des Weltbezugs und der Selbstgewißheit des Ich“59 zu begegnen. Denn diese Diagnosen des 20. Jahrhunderts gelten auch für die heute nachwachsende Generation. Die Reflexion auf das Lebenswelt-Konzept60 und dessen Verwendbarkeit für die Literatur hätte die Leistung dessen besser verstehen lassen und im Schulunterricht lebendig halten können, was mit dem Diltheyschen Erlebnis-Konzept zum alten Eisen geworfen worden ist.
55 Willems: Einführung in die Literaturwissenschaft, S. 12 und 17. 56 Ebd., S. 107 f. 57 Ebd., S. 109. 58 Ebd., S. 107 f. 59 Walter Schulz, zitiert nach ebd., S. 110. 60 Dass mir diese Reflexion möglich wurde, verdanke ich zahlreichen Gesprächen mit meinen Kollegen Stefan Matuschek und Lambert Wiesing.
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Meine Begegnung mit Polen in der deutschen Literatur Es ist interessant, Polen aus einer Außenperspektive zu erleben – konkret, wie es in der deutschen Literatur dargestellt wird. Hierbei zogen mich jene Werke, in denen Polen als ein Land der Anarchie und schlechten Wirtschaft dargestellt wurde, weniger an als jene, in denen die Autoren ihre Verwunderung über dieses Land zum Ausdruck brachten.1 Diese beginnt ja bereits im 17. Jahrhundert, als es den Beobachtern schwer fiel, die polnische Adelsrepublik in das übliche Schema der Regierungsarten einzureihen. So schrieb der Nuntius Germanico Malaspina 1690: Polen ist weder völlig eine Monarchie, noch auch völlig eine Republik, sondern es hat teils eine, teils die andere Regierungsform, denn einerseits ist es nicht der König allein, der die Gesetze betreffs der Verteidigung des Landes, der Ordnung und öffentlichen Sicherheit in Krieg und Frieden erläßt und vollstreckt, sondern er tut dies gemeinsam mit dem Senat und der Schlachta, die ihre Bevollmächtigten, die sogenannten Landtagsabgeordneten, in den Sejm schickt, bald mit unbeschränkten, bald mit genau festgelegten Befugnissen, und wenn man nur diesen Punkt ins Auge faßt, könnte man Polen eine Republik nennen; aber da einerseits nur der König allein die Macht hat, den Sejm einzuberufen, und im Sejm ohne seine Zustimmung kein einziger Beschluß gefaßt werden kann, geht daraus hervor, daß die polnische Regierungsform auch der monarchischen nahekommt.2
Nach weiteren Beschreibungen von scheinbar schwer Verständlichem kommt Malaspina zu dem Schluss, dass man, wenn man in Polen etwas anstrebe, mit Geld wenig erreiche,
1 Hierzu wäre ein getrennter Artikel zu verfassen. Im Nachkriegspolen überwogen Arbeiten, in denen abfällige Äußerungen über Polen als Land und einzelne Polen in der deutschen Literatur zusammengestellt wurden. Zu nennen wäre vor allem die Posner Germanistik unter der Leitung von Jan Chodera (1915–1975). Siehe hierzu die entsprechenden Stellen in dem Band Germanistik in Polen. Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik − 18 Porträts, hg. von Wojciech Kunicki und Marek Zybura, Osnabrück 2011, v. a. S. 184-185, 196, 271–273. Im Gegensatz zu ihm stand Elida Maria Szarota in Warschau, der es um die Herausarbeitung eines differenzierten Polenbilds ging. Zu einer offenen Auseinandersetzung darüber konnte es aber aus politischen Gründen nicht kommen. 2 Elida Maria Szarota (Hg.): Die Gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen. Zeitgenössische Texte, Wien, München, Zürich 1972, S. 41.
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denn dort sei niemand wirklich beschlussfähig. Trotzdem lag ihm, dem guten Katholiken, sehr am Gedeihen Polens. Die polnischen Gegebenheiten versuchte auch Christoph Hartknoch zu verstehen. Er ist ein an Aristoteles geschulter Gelehrter und möchte dessen Klassifizierung der Herrschaftsformen anwenden. Doch muss er in seiner Schrift über die Republik Polen von 1687 einsehen, dass man mit den aristotelischen Kategorien die Respublica Polonica nicht in den Griff bekommt, zumal sie im Laufe der Geschichte Wandlungen unterlegen war. Auch ein Vergleich mit der Republik Venedig erkläre wenig. Am Schluss zitiert er den berühmten Spruch „Polska nierządem stoi“ im Original, was in zeitgenössischer Übersetzung lautet: Polen wird durch Verwirrung regiert. Er will diesen Spruch aber nicht negativ verstanden haben. Der „Ruhm dieses glorreichen Volkes“ könne „nicht zunichte“ gemacht werden, schreibt er, denn es gäbe bei ihm keineswegs mehr Aufstände als bei anderen Völkern. Hartknoch zitiert am Ende sogar Korcińskis Perspectiva Politica regno Polonico elaborata von 1652, der diese Verwirrung zu preisen wusste.3 So kann nur ein Gelehrter aus der humanistischen Tradition sprechen, der sich der Vielfalt aller Erscheinungen bewusst ist und daher nicht alles unter feste Begriffe bekommen will. Aber er würde sich wahrscheinlich nicht so sehr für Polen interessieren, wenn es keinen allgemeinen politischen Diskurs gegeben hätte, in dem Autoren wie Bodin und Hobbes, um nur zwei führende Denker zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert zu nennen, die Anarchie als die größte Gefahr der Zeit an die Wand malten. Das mittelalterliche System der Balance zwischen den verschiedensten Kräften wurde mehr und mehr als zu aufwendig, zu wenig rational hingestellt. Am Ende galt Polen als das beste Beispiel für ein Land, das unregierbar sei. Dass die absolutistischen Nachbarn mit einem Land, in dem Wahlmechanismen und Autonomierechte − ich verwende absichtlich nicht den damals üblichen Begriff der Freiheit bzw. Freiheiten − gewahrt sind, eines Tages kurzen Prozess machen werden, ist für diejenigen, die einem zentralistischen Regierungsmodell anhängen, einleuchtend und sogar willkommen. Gleichzeitig kam für sie die Existenz der polnischen Adelsrepublik wie gelegen, denn damit stand ihnen ein ideales Negativbeispiel zur Verfügung. Es sollte nach den polnischen Teilungen so weit gehen, dass selbst Polen − bis auf wenige Ausnahmen − dieses Negativbild übernahmen und am Ende autoritäre Regierungsformen gut hießen. Sie wehrten sich allerdings oft dagegen, dass andere, Ausländer, ihnen dieses Bild vorhalten. Wenn diese zu einem solchem Bild gelangt sind, meinten und meinen sie immer noch, muss es aus einer bestimmten Absicht heraus geschehen sein, indem diese auf Bestellung eines bestimmten Herrschers bzw. seines Ministers schrieben, wie das beispielsweise Leibniz tat.4 Und prompt wird diesem vorgeworfen, er habe in seiner Polenschrift gar nicht das Wohl Polens im Sinn gehabt, denn sonst hätte er das Liberum Veto 3 Ebd., S. 129. 4 Er schrieb im Auftrag von Christian Boineburg, dem ehemaligen Minister des Kurfürsten von Mainz. Er sollte begründen, dass es am besten sei, wenn der Pfalzgraf Neuburger zum polnischen König gewählt werden würde.
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verworfen. Als das einzig Erstaunliche an seinem sehr ausführlichen Text von 1669 wird die mathematische Methode angesehen,5 die bei näherem Hinsehen so mathematisch nun wiederum nicht ist. Leibniz geht einfach von einer Reihe von Prämissen aus, die bei der Wahl des polnischen Königs eingehalten werden müssten, wenn Polen als Staat erhalten bleiben soll. Dazu sei es notwendig, dass dieser frei von Bürgerkriegen bleibt und nicht zu Interventionen einlädt. Da sich Leibniz nur auf die ausstehende Wahl nach der Abdankung von Jan Kazimierz im Jahre 1668 konzentriert und an die Elektoren denkt, hütet er sich, eine Reform des Wahlverfahrens oder andere Reformen vorzuschlagen. Trotzdem ist diese Schrift keine einfache Auftragsarbeit. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Herausbildung eines neuen politischen Denkens. Drei Dinge fallen besonders auf: die Charakteristik der Eigenschaften, über die ein idealer Herrscher verfügen müsse; die Idee, dass alles politische Denken um die Erhaltung, Festigung und eventuelle Erweiterung des Staates zu kreisen habe; die Überzeugung, dass die Existenz der polnischen Republik für ein Gleichgewicht des europäischen Staatengefüges absolut notwendig sei. Ohne diese Existenz würden Russland und die Türkei das christliche Europa destabilisieren. Es ist bemerkenswert, wie geopolitisch und staatsbezogen Leibniz zu argumentieren vermochte. Der König gilt für ihn bereits als Diener des Staates und nicht als selbstherrlich absolut Regierender. Versuche, den polnischen Staat zu reformieren, um sich gegen die zentralistisch regierten Nachbarn, Russland und Preußen, verteidigen zu können, gab es im 18. Jahrhundert nicht wenige. Sie wurden aber im Ausland erst wirklich bemerkt, als am 3. Mai 1791 in Warschau die erste Verfassung Europas − die zweite nach der amerikanischen − mit Billigung des Königs beschlossen wurde. Nicht wenige meinten, da sei der richtige Weg gefunden worden. So erklärte Christoph Friedrich Daniel Schubart in sehr direkter Weise angesichts des einsetzenden Terrors in Frankreich: In Warschau hat man keinen Laternenpfahl zum Galgen gemacht, sah keinen Schädel eines ansehnlichen Mannes starräugig und bluttröpfelnd auf Stangen herumtragen; da gibts keine Rotten, die gleich den Teufeln in Miltons Pandämonion über diejenigen Verderben rathschlagen, die nicht ihres Gelichters sind. In Warschau ist man vor Rasenden sicher, in Paris nicht.6
Und im Politischen Journal nebst Anzeigen von gelehrten und anderen Sachen schrieb ein Anonymus nach der Annahme der französischen Konstitution im September 1791, dass 5 Über sie reflektiert beispielsweise ausführlich Waldemar Voisé in seinem Nachwort zu der polnischen Übersetzung des Specimen demonstratonium politicarum pro eligendo rege Polonorum novo scribendi genere exactum von 1969. Auf Leibniz’ politische und staatsrechtliche Ansichten im Kontext der damaligen europäischen Diskussion geht er kaum ein. Auch Adam Kersten interessiert sich in seinem Vorwort zu dem Kapitel „Die Wahl Michael Korybut Wiśniowieckis“ in: Szarota (Hg.): Die Gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen, S. 338 f., einzig für die praktischen Umstände bzw. die realen Gegebenheiten zur Zeit der Wahl. 6 Christoph Friedrich Daniel Schubart: Chronik 60. Freitags, den 29sten Julius 1791, in: Chronik. 1791. Zweites Halbjahr, Stuttgart S. 500 f.
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der polnische „dritte Mai“ durch die „Klugheit, Entschlossenheit und den Muth von Stanislaus August verewigt worden“ sei. Und er fügt enthusiastisch hinzu: Eine neue Constitution von Polen, eine wahrhaft weise, der französischen Anarchie-Constitution ganz entgegengesetzte, ein Meisterstück der Staatsklugheit − war eher fertig, angenommen, beschworen, begründet, ehe auswärts nur ein Gedanke der Möglichkeit davon gewesen war. Polen bekam durch seine Constitution neue Kräfte, und eine ganz neue Existenz.7
Auch Johann Erich Biester, von 1783 bis 1791 Mitherausgeber und danach alleiniger Herausgeber der Berliner Monatszeitschrift, vergleicht in seinen 1791 verfassten Briefen über eine Reise nach Polen und Preussen die Veränderungen beim östlichen Nachbarn mit denen beim westlichen und gibt den gewaltlosen den Vorzug, obwohl er recht genau die Unvollkommenheiten der polnischen Verfassung sieht. Trotzdem bildet sie nach seiner Meinung einen Meilenstein in der Erkämpfung der Menschenrechte. Er nennt sie „eine der besten neuern“, welche „sich Völker, die ihre Konstituzionen umschaffen wollten, gebildet haben“.8 Ähnliche Reaktionen gab es auch in anderen Ländern. Unter den zahlreichen Stimmen ist die des großen scharfsinnigen Gegners der Französischen Revolution, Edmund Burke, im Morning Herald besonders bemerkenswert: Hier [in Polen] war ein Zustand, der ein kühnes Unternehmen, einen verzweifelten Versuch zu Neuerungen, veranlassen, und rechtfertigen konnte. Aber auf was für eine Art ist dies Chaos in Ordnung gebracht worden? Die Mittel rühren die Einbildungskraft nicht lebhafter, als sie den Verstand befriedigen und dem sittlichen Gefühl schmeicheln. Wenn man diese Veränderungen betrachtet, so freut sich das menschliche Herz und erhebt sich: durch nichts wird es beleidigt, durch nichts beschämt. Bis hierher ist es, wahrscheinlicher Weise, die reinste und unvermischteste Wohltat, die jehmals dem menschlichen Geschlechte wiederfahren ist. Wir sehen Anarchie und Sklaverey zerstört, dem Throne Macht ertheilt das Volk zu beschützen, ohne seinen Freiheiten zu nahe treten zu können; die Kabale des fremden Einflusses vernichtet, indem der Thron erblich erklärt worden; und, was in der That in das angenehmste Erstaunen versetzt, wir sehen einen regierenden König, der alle Bemühungen, Geschicklichkeit, alle Künste der Ueberredung und der Intrigue, durch welche ergeizige Männer ihre eigene Familie zu vergrößern suchen, aus heldenmüthiger Liebe zu seinem Vaterlande zum Vortheil eines fremden Hauses anwendet. Zehn Millionen Menschen auf dem Wege, allmälig, also mit Sicherheit, für sich und für den Staat zur Freyheit zu gelangen, nicht von bürgerlichen und politischen Banden, sondern von wahrer politischer Sklaverey befreyt zu werden. Bewohner der Städte, bisher 7 Übersicht des Jahres 1791. Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und anderen Sachen. Jahrgang 1792, hg. von einer Gesellschaft von Gelehrten, Erster Band. Erstes Stück, Januar 1792, S. 10. 8 Zit. n. Gerard Koziełek: Das Polen des ausgehenden 18.Jahrhunderts in der deutschen Literatur und Publizistik, in: Germania Wratistlaviensia XXXIV (1978), S. 15–76, hier S. 23.
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ohne Rechte, gegenwärtig mit dem Ansehen beliehen, welches den Verhältnissen dieses in der Bildung fortschreitenden Standes angemessen ist. Ein Adel, der unter die stolzesten, zahlreichsten und kühnsten des Erdbodens gezählt ward, und nunmehr nur die erste Stelle unter freyen und edeln Bürger einnimmt. Nicht ein einziger Mensch hat etwas verlohren oder ist herabgesetzt. Alle, vom König bis zum Tagelöhner, haben in ihrer Lage gewonnen. Alles ist in seiner Stelle und in seiner Ordnung geblieben, aber alles ist in seiner Stelle und Ordnung verbessert. Und was dieser wunderbaren Begebenheit, dieser ungehörten Verbindung von Weisheit und Glück, noch die Krone aufsetzt: nicht ein Tropfen Bluts ist vergossen worden; keine Verrätherey, keine Gewaltthätigkeit, nichts von Künsten der Verläumdung, deren Wirkungen herber sind als das Schwerdt, keine Beleidigung der Religion, der Sittlichkeit, oder der Gewohnheit, kein Raub, keine Confiscation, kein Bürger geplündert, keine Gefangenschaft, keine Verweisung; alles ist mit einer Klugheit, einer Mäßigung, einer Einmüthigkeit, und Verschwiegenheit ausgeführt, dergleichen nie gesehen worden. Aber diese weise Führung hatte die wahren Rechte und das wahre Interesse der Menschheit zum Entzwecke. Glückliches Volk! Wenn es versteht so fortzufahren wie es angefangen! Glücklicher Fürst, würdig als der erste in einer Reihe von Patrioten und Königen zu glänzen, oder sie mit Ruhm zu beschliessen. Das große Gute was hier bewirkt worden, enthält den Keim aller künftigen Verbesserungen und einer vollendeten 9 Staatsverfassung. […].“
Die Zukunft sah anders aus, als sie Burke so enthusiastisch ausmalte. Die Verfassung konnte nicht wirksam werden, denn bereits ein Jahr später marschierten russische Truppen in Polen ein, um ihre Außerkraftsetzung zu erzwingen, da sie aus dem Geist der Französischen Revolution erwachsen sei. Es kam in der Folge zum Kościuszko-Aufstand und nach seiner Niederschlagung zur dritten Teilung Polens, d.h. zur Liquidierung des polnischen Staates. Für Polen ist die 3.-Mai-Verfassung trotz alledem ein Symbol der Freiheit und des gewaltfreien Weges dorthin geblieben. Man kann sie im Sinne von François Furet als eine „geologische Schicht“ bezeichnen, die zwar „von späteren Ablagerungen zugedeckt ist“, aber „immer noch das Relief und die Landschaft prägt“.10 Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass Polens Geschichte nur durch vergebliche Aufstände gekennzeichnet sei. Der Wille, das Land auf friedlichem Wege zu reformieren, ist im Grunde genommen viel dominierender gewesen. Das Erstaunliche an der Verfassung vom 3. Mai 1791 war, dass sie von Adligen ausgearbeitet wurde und dass sich der König an ihrer Vorbereitung intensiv beteiligte und sogar zu ihrer Annahme durch den Sejm wesentlich beitrug. Es trat mit anderen Worten das Außergewöhnliche ein, dass eine herrschende Schicht, die Schlachta, bereit war, ihre
9 Edmund Burke: Das Recht der Völker, ihre Staatsverfassungen willkürlich abzuändern, geprüft von Burke, in: Der neue Teutsche Merkur 11 (1791), S. 255–257. 10 François Furet: 1789 − Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1980, S. 12.
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Macht in Zukunft mit anderen Schichten zu teilen. Selbst Karl Marx erkannte die Einmaligkeit dieses Ereignisses, als er 1863/64 erklärte: Mit allen ihren Mängeln erscheint diese Konstitution mitten in der russisch-preußisch-österreichischen Barbarei als das einzige Freiheitswerk, das Osteuropa je selbständig aufgerichtet hat. Und sie ging ausschließlich von der bevorrechteten Klasse, dem Adel aus. Die Weltgeschichte bietet kein andres Beispiel von ähnlichem Adel des Adels.11
Während die 3.-Mai-Verfassung im innerpolnischen Diskurs immer wieder eine Rolle spielte, geriet sie international weitestgehend in Vergessenheit. In Polen selber lebte sie in allen Erneuerungsbewegungen fort. So auch 1980/81, als Solidarność entstanden war und in ähnlicher Weise wie 190 Jahre zuvor ein großes Reformwerk auf friedliche Weise anstrebte. Doch die damals herrschende Klasse, die sogenannte Nomenklatura, war zu Veränderungen, zu eigener Machtbeschränkung weder bereit, noch in der Lage. Sie zog es vor, mit Jaruzelski an der Spitze am 13. Dezember 1981 „Ordnung“ zu schaffen. Unter den Deutschen gab es einen, der diese Maßnahme, die Einführung des Kriegszustandes, gut verstand: Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er begriff sich durch und durch als Realpolitiker. Die entschiedenere amerikanische Reaktion auf die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen legte er als ein typisches Beispiel von Medienabhängigkeit aus. Als er am 4. Januar 1982 mit Reagan zusammentraf, wunderte er sich, wie er in seinem Buch Menschen und Mächte von 1987 berichtet, dass die „Ereignisse in Polen“ für den amerikanischen Präsidenten „bei weitem das wichtigste Thema“ bildeten, obwohl es „vielerlei Gesprächsstoff“ über anderes gegeben hätte. Aber das Fernsehen habe „in seiner Berichterstattung aus Danzig und Warschau“ eine so heftige Erregung in der amerikanischen Nation ausgelöst,12 dass Reagan nicht anders − d.h. nicht so wie Schmidt − hätte reagieren können. Es wäre falsch gewesen, wenn Westeuropa den amerikanischen Embargowünschen gegenüber Polen gefolgt wäre. Das hätte „bei den freiheitsliebenden Polen Hoffnungen wecken […] und sie verleiten [können], im Vertrauen auf amerikanische oder westliche Hilfe ihr Leben und jedenfalls ihre persönliche Freiheit aufs Spiel zu setzen […].“13 Washington würde natürlich schnell „zu der Erkenntnis gelangen […], die ganze dramatische Anstrengung sei aussichtslos. Man würde die Sache im Sande verlaufen lassen und durch ein neues fernsehgerechtes Thema ersetzen“. Er, Helmut Schmidt, wollte sich an „einer solchen würdelosen Inszenierung, die schließlich zu Lasten der polnischen Frei-
11 Karol Marx: Przyczynki do historii kwestii polskiej. Rękopisy z lat 1863–1864. Beiträge zur Geschichte der polnischen Frage. Manuskripte 1863–1864, Warszawa 1971, S. 154. 12 Helmut Schmidt: Menschen und Mächte, Bd. 1, Berlin 1987, S. 302. 13 Ebd., S. 306. − Sind die Polen tatsächlich so freiheitsliebend? Ist man dies, wenn man sich einfach über die Dummheit der Machthaber ärgert, die das Land ruinieren?
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heitsbewegung, zu Lasten der Menschen gehen mußte, […] nicht beteiligen.“14 Am Ende schreibt Schmidt in seinen Erinnerungen: Ich habe hier die Kontroverse über die zweckmäßige „Antwort“ des Westens auf die Unterdrückung der polnischen Freiheitsbewegung deshalb so ausführlich geschildert, weil sie auf charakteristische Weise den möglichen Konflikt zwischen Fernsehdemokratie und politischer Ratio beleuchtet. Zwar hat sich in diesem Fall die Vernunft durchgesetzt; alle amerikanischen Maßnahmen wurden später ziemlich sang- und klanglos beendet, ohne daß die Lage in Polen sich grundlegend geändert hätte. Aber solche Konflikte können und werden sich wiederholen. Selbst in diesem Falle der Konfliktbeilegung durch gleitflugartige Revision des emotionalen Standpunktes hat sich die Ratio keineswegs auch im Bewußtsein der Beteiligten durchgesetzt. Weder das Gros der amerikanischen Medien noch die Administration haben sich eingestanden, daß die in Jalta vorgenommene Teilung Mitteleuropas in zwei Einflußsphären (oder in eine westliche Einflußsphäre und einen östlichen Machtblock) nicht durch Fernsehansprachen, große Gesten und anschließende kleine Maßnahmen aufgehoben werden kann.15
Die aktive Verurteilung der ‚Konfliktbereinigung‘ erscheint Schmidt als ein Zeichen der Ermunterung für weiteren Protest, der ihm, dem Rationalisten, sinnlos erscheint. Interessant ist an diesen Ausführungen, dass Schmidt hier von ‚polnischer Freiheitsbewegung‘ spricht, obwohl er überhaupt nicht an Freiheitsbewegungen glaubt. Es ist ein rhetorisches Einsprengsel, das ihm dazu dient, nicht als prinzipieller Gegner polnischer Souveränitätsbestrebungen zu erscheinen. Aber es geht ihm nicht um einen Polen- oder gar Freiheitsdiskurs, eine Verbindung, die wir vom 19. Jahrhundert her kennen, sondern um die Diskreditierung aller Bewegungen, die den Status quo in Frage stellen. Er scheute sich dabei nicht, ein Stereotyp einzusetzen: nämlich das der ‚freiheitsliebenden Polen‘. Dass es diese als solche gar nicht gibt, weiß er nur zu gut, er hätte ja Jaruzelski mit dazu rechnen müssen. Das Stereotyp dient ihm dazu, einen Diskurswechsel zu erzwingen bzw. den problembezogenen Diskurs, den über die Ewigkeit der Ordnung von Jalta, überhaupt zu desavouieren. Hiermit stoßen wir auf ein Problem: Stereotypen werden zumeist eingesetzt, um vom eigentlichen Diskurs, auf den sie verweisen, abzulenken (das Stereotyp ‚die polnische Adelsrepublik ist am Vetorecht zugrundegegangen‘ lenkt vom Diskurs über verschiedene Formen der Demokratie ab − heute heißt es, die UNO verfalle durch das Vetorecht der Großmächte in die Bedeutungslosigkeit; es ist nicht ausgeschlossen, dass man das auch einmal von der Europäischen Union sagen wird, sollte sie instabil bleiben). Ein anderes Problem, das von der Stereotypenforschung kaum beachtet wird, ist folgendes: Hinter der Verwendung von Stereotypen verbirgt sich zumeist ein Diskurs, der zum herrschenden geworden ist, etwa Verwirrnis ist eo ipso etwas Schlechtes. Daher konn14 Ebd., S. 306. 15 Ebd., S. 313 f.
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ten nicht nur das mittelalterliche Reich deutscher Nationen, die polnische Adelsrepublik, das komplizierte venezianische Wahlrecht, sondern auch die Solidarność-Bewegung zu Symbolen der Un-Ordnung, des drohenden Untergangs werden. Heute, wo neue komplizierte politische Gebilde, wie es die Europäische Union oder die UNO sind, geschaffen werden, beginnt man an mittelalterlichen Rechtskonstruktionen wieder Interesse zu finden. Plötzlich ist ein Urteil von der Art möglich: „In [ihrer K. S.] politischen Verfassung“ haben die ostmitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn und Tschechien „nicht nur keinen Entwicklungsrückstand aufzuweisen, sondern“ sie haben „darüber hinaus die spätmittelalterliche Verfassungsmodernisierung besonders ausgeprägt, dauerhaft in den Regionen tief verwurzelt institutionalisiert“. Professor Winfried Eberhard, den ich hier zitiere, meint, dass die „‚politische Nation‘ des Adels“ dort „sogar noch in der Umwandlung zur modernen Nation mitgewirkt und in Polen zwar nicht das politische System, aber doch die gesellschaftliche Elite bis nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hat“.16 Es ist hier nicht der Platz, die Ausführungen Eberhards über die Entstehung einer „entpersonalisierten Staatsauffassung“, in der „Krone und Land als Angelegenheiten ihrer Repräsentanten, der Gemeinschaft des Landes“ galten und nicht mehr das „Eigentum des Herrschers […]“ waren, ausführlich darzustellen.17 Vielleicht ist die Hartnäckigkeit, mit der sich polnische Bürger gegen die nicht aus der Rechtsgemeinschaft hervorgegangenen Herrschaftsformen gewehrt haben, zum Teil auch mit dieser Vergangenheit zu erklären, die in dem unerhörten Ereignis der Revolution von 1980/81 münden konnte.18 Sie gehörte nach Arista Maria Cirtautas zu den wenigen demokratischen Revolutionen, welche ein Land selber hervorgebracht hat. Sie vergleicht diese ganz im Sinne von Hannah Arendts Revolutionsauffassung − meine Gedanken hierzu habe ich einst in der Alten Synagoge in Essen ausgeführt − mit der amerikanischen und französischen.19 Ich komme hier von Polen zu einem allgemeineren Diskurs, dem Revolutionsdiskurs. Wer über Polen spricht, spricht zumeist auch über etwas sehr Aktuelles. Auch Heinrich Heine hatte ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu Polen. Auf die Polenbegeisterung der Deutschen oder besser der liberalen Süddeutschen 1831/32 reagierte er eher verstimmt. Man hat den Eindruck, die Sache kam ihm ungelegen. Er empfand sie als störend für seine Kunstberichte aus Paris und sein poetisches Schaffen.20 Erst in dem 1840 publizierten Buch Ludwig Börne. Eine Denkschrift nahm er zur Polenfrage prinzi-
16 Winfried Eberhard: Der spätmittelalterliche Ständestaat als Modernisierungsprozeß, in: Berichte und Beiträge des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Leipzig 1996, S. 64–78, hier S. 65 f. 17 Ebd., S. 76. 18 Vgl. hierzu Norman Davies: Boże Igrzysko: Historia Polski. / God's Playground: A History of Poland, übersetzt von Elżbieta Tabakowska, Bd. 2, Kraków 1992, S. 797. 19 Karol Sauerland: Hannah Arendt in polnischer Wahrnehmung, in: Treue als Zeichen der Wahrheit. Hannah Arendt: Werk und Wirkung, hg. von Alte Synagoge. Essen 1997, S. 139–150. 20 Siehe die zweite Vorrede zum Salon.
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piell Stellung.21 Der Aufstand der Polen, der ihn anfänglich begeistert habe, sei in Wirklichkeit eine schlecht vorbereitete und durchgeführte Unternehmung gewesen. Polen sei durch „Verwirrung und Unzuverlässigkeit“ zu Grunde gegangen, gleichsam durch eigene Schuld. Für die Begeisterung, die die Deutschen − d.h. die Nicht-Preußen − den durch ihre Städte ziehenden geschlagenen polnischen Revolutionären entgegenbrachten, hat er nur Spott übrig: Die deutschen Mütter schlugen angstvoll die Hände über den Kopf, als sie hörten, daß der Kaiser Nikolas, der Menschenfresser, alle Morgen drei kleine Polenkinder verspeise, ganz roh, mit Essig und Öl. Aber am tiefsten erschüttert waren unsre Jungfrauen, wenn sie im Mondschein an der Heldenbrust der polnischen Märtyrer lagen, und mit ihnen jammerten und weinten über den Fall von Warschau und den Sieg der Barbaren … Das waren keine frivolen Franzosen, die bei solchen Gelegenheiten nur schäkerten und lachten … nein, diese larmoyanten Schnurrbärte gaben auch etwas fürs Herz, sie hatten Gemüt, und nichts gleicht der holden Schwärmerei, womit deutsche Mädchen und Frauen ihre Bräutigame und Gatten beschworen, so schnell als möglich eine Revolution zu machen … zum Besten der Polen.22
Mit einem Wort, so schlimm stand es mit der russischen Herrschaft auch wieder nicht. Und vor allem hätte man klüger vorgehen müssen, wenn man erfolgreich sein wollte. Heine warnt daher die Deutschen davor, aus bloßer Sentimentalität23 im fremden Interesse und so spontan und undurchdacht wie die Polen eine Revolution zu entfachen. Prinzipiell stelle zwar jede Revolution „ein Unglück dar, aber ein noch größeres Unglück“ sei eine „verunglückte Revolution“.24 Für die Deutschen habe die polnische Revolution immerhin auch einen Vorteil gehabt, fügt Heine seinen Ausführungen hinzu, nämlich den, dass sie den Russenhass ins deutsche Gemüt übertragen habe. Er werde in ihm fortwuchern und die Deutschen „mächtig vereinigen“, wenn „die große Stunde“ schlagen wird, wo wir uns zu verteidigen haben gegen jenen furchtbaren Riesen, der jetzt noch schläft und im Schlafe wächst, die Füße weitausstreckend in die duftigen Gärten des Morgenlands, mit dem Haupte anstoßend an den Nordpol, träumend ein neues Weltreich … Deutschland wird einst mit diesem Riesen den Kampf bestehen müssen, und für diesen Fall ist es gut, daß wir die Russen schon früh hassen lernen, 21 Vgl. hierzu Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 4, München 1997, S. 7–143. 22 Ebd., S. 78. 23 Am 24. Juli 1848 sollte der demokratische Abgeordnete Wilhelm Jordan in der Paulskirchte erklären: „Polen bloß deswegen herstellen zu wollen, weil sein Untergang uns mit gerechter Trauer erfüllt, das nenne ich schwachsinnige Sentimentalität“, zitiert nach Siegfried Baske: Die deutsch-polnischen Beziehungen im Großherzogtum Posen von 1831–1848, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1831–1848: Vormärz und Völkerfrühling. XI. deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom 16.–21. Mai 1978, Braunschweig 1979, S. 48. 24 Heine: Ludwig Börne, S. 78.
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daß dieser Haß in uns gesteigert wurde, daß auch alle andren Völker daran Teil nehmen … das ist ein Dienst, den uns die Polen leisten, die jetzt als Propaganda des Russenhasses in der ganzen Welt herumwandern. Ach, diese unglücklichen Polen! sie selber werden einst die nächsten Opfer unseres blinden Zornes sein, sie werden einst, wenn der Kampf beginnt, die russische Avantgarde bilden, und sie genießen alsdann die bitteren Früchte jenes Hasses, den sie selber gesät. Ist es der Wille des Schicksals, oder ist es glorreiche Beschränktheit, was die Polen immer dazu verdammte, sich selber die schlimmste Falle und endlich die Todesgrube zu graben … seit den Tagen Sobieskis, der die Türken schlug, Polens natürliche Alliierte, und die Österreicher rettete … der ritterliche Dummkopf!25
Polen ist nun nicht mehr das Land, das als erstes das Schicksal aller Nationen teilt, in einer brüderlich gesinnten, sich liebenden Welt aufzugehen, sondern ein Vorbote, die Avantgarde des großen Kampfes zwischen Deutschland und den westlichen Völkern einerseits und Russland andererseits, dem Gendarmen Europas, dem Despoten an sich. Polen hat die Deutschen und andere freiheitsliebende Völker den Hass, an dem die Sarmaten leider zugrunde gehen werden, gelehrt. Dass Polen ritterliche Dummköpfe waren, versteht sich nach Heine von selber, denn im Grunde gehören sie alten Zeiten an, wo der Adel noch ein und alles bedeutete. Sie sind, wie es Heine ausdrückt, ihrem heimatlichen Mittelalter entsprungen, und, ganze Urwälder von Unwissenheit im Kopf tragend, stürmten sie nach Paris, und hier warfen sie sich entweder in die Sektionen der Republikaner oder in die Sakristeien der katholischen Schule: denn um Republikaner zu sein, dazu braucht man wenig zu wissen, und um Katholik zu sein, braucht man gar nichts zu wissen, braucht man nur zu glauben. Die Gescheutesten unter ihnen begriffen die Revolution nur in Form der Emeute und sie ahnten nimmermehr, daß namentlich in Deutschland durch Tumult und Straßenauflauf wenig gefördert wird.26
Um dieses harte Urteil etwas abzuschwächen, endet Heine seine Polenausführungen in Ludwig Börne. Eine Denkschrift mit den Worten: Nein, Polen ist noch nicht verloren … Mit seiner politischen Existenz ist sein wirkliches Leben noch nicht abgeschlossen. Wie einst Israel nach dem Falle Jerusalems, so vielleicht nach dem Fall Warschaus erhebt Polen sich zu den höchsten Bestimmungen. Es sind diesem Volke vielleicht noch Taten vorbehalten, die der Genius der Menschheit höher schätzt, als die gewonnenen Schlachten und das rittertümliche Schwertengeklirre nebst Pferdegetrampel seiner nationalen Vergangenheit! Und auch ohne solche nachblühende Bedeutung wird Polen nie ganz verloren sein … Es wird ewig leben auf den rühmlichsten Blättern der Geschichte!!!27 25 Ebd., S. 79 f. 26 Ebd., S. 80. 27 Ebd., S. 81.
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Polen wollten verständlicherweise nicht zum Buchstaben oder einem Kapitel auf den Blättern der Geschichte herabgewürdigt − oder wenn man will − erhoben werden. Sie fragten vielmehr, welche Rolle ihnen in Zukunft zugewiesen werden könnte. Ich müsste an dieser Stelle auf Mickiewicz eingehen. Als ich in Mainz an einer Würdigung Heines zu dessen 200. Geburtstag teilnahm, hatte ich es mir nicht nehmen lassen, die Metaphern, die Mickiewicz für Polens und Europas Freiheitskampf erfand, der Sichtweise Heines gegenüberzustellen. Ich unterstrich auch, welch besondere Rolle Mickiewicz den Exilierten und Emigranten zuwies, die er Ritter der Freiheit oder auch Pilger nennt − in den 1970er und 1980er Jahren sprach man von Dissidenten −, welche dem Ziel der doppelten Freiheit, der des eigenen Volkes und der aller Völker, zustreben. Als Polen 1918 wiederauferstand, d.h. wieder ein souveräner Staat wurde, musste dieser im Grunde genommen Vielvölkerstaat für westeuropäische Augen ein Unikum darstellen, waren doch die großen Vielvölkerstaaten, die k.u.k-Monarchie und das osmanische Reich, gerade untergegangen. Wie Polen in dieser Zeit auf einen westlichen Beobachter wirkte, konnte man besonders deutlich an Alfred Döblins Reise in Polen, jenem literarischen Meisterwerk erkennen, das 1924 erschien und leider immer noch zu wenig Beachtung findet. Ich hatte es zu Beginn der achtziger Jahre gelesen, d.h. in der Zeit, nachdem der Kriegszustand in Polen eingeführt worden war. Ich behandelte es sofort in einer wissenschaftlichen Sitzung unserer Literaturabteilung. Wenn Döblin etwa im ersten Kapitel vom Zaun spricht, der die zum Teil schon abgetragene Alexander-Newsky-Kathedrale auf dem damaligen Sächsischen Platz umgab, so erinnerte uns das an den Zaun, der an dem gleichen Ort vom Jaruzelski-Regime gezogen worden war, um zu verhindern, dass sich dort Solidarność-Anhänger mit der Absicht versammeln, Blumen in Form eines Kreuzes an die Stelle hinzulegen, an der 1979 der polnische Papst gestanden hatte. Als Döblin im Herbst 1924 durch Polen reiste,28 sollte dieser Zaun den Abriss der russisch-orthodoxen 28 Über den Anlass der Reise schreibt Döblin Jahre später: „In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ereigneten sich in Berlin pogromartige Vorgänge, im Osten der Stadt, in der Gollnowstraße und Umgebung. Das geschah auf dem Landknechtshintergrund dieser Jahre: der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus. Damals luden Vertreter des Berliner Zionismus eine Anzahl Männer jüdischer Herkunft zu Zusammenkünften ein, in denen über jene Vorgänge, ihren Hintergrund und über die Ziele des Zionismus gesprochen wurde. Im Anschluß an diese Diskussion kam dann einer in meine Wohnung und wollte mich zu einer Fahrt nach Palästina anregen, was mir fremd war. Die Anregung wirkte in anderer Weise auf mich. Ich sagte zwar nicht zu, nach Palästina zu gehen, aber ich fand, ich müßte mich einmal über die Juden orientieren. Ich fand, ich kannte eigentlich Juden nicht. Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren. Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: in Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren“. − Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Leipzig 1980, S. 129. Leo Kreutzer meint, dass die Polen-Reise „auch Konsequenz und Ausdruck einer ästhetischen Entscheidung Döblins gewesen wäre. Wenn einst deutsche Dichter reisten, so zog es sie meist in den Süden, zum Hellen, Schönen. Döblins Reise in den Osten ist unter anderem eine bewußte Absage an die Tradition der italienischen Reisen und der ‚Augen-
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Kathedrale umgrenzen. Zu unserer Überraschung fand er für diese Aktion Verständnis. Zwar wirke, schreibt er, das Ganze „erschreckend, unheimlich, finster beunruhigend“, man empfinde „etwas Schmerzlich-Ergreifendes, Rührendes im Anblick dieser Kirche, die einem Gott, einem doch tief geglaubten Gott, geweiht war, − und wie sie eben steht, zertrümmert man sie, als wäre sie böse.“29 Aber es gehe hier darum, dass dieses Bauwerk vom zaristischen Statthalter nicht „als Kirche gedacht, gewollt“ war. Da sollte eine Faust sein, eine ganz und gar eiserne, die auf den besten Platz der Stadt niederfiel und deren Klirren man immer hören sollte. Diese Kirche war nicht zu übersehen. Das sollte noch mal ein Denkmal des Generals Paskewitsch sein. Was ist dieser Zaun? Der Käfig, das Gitter, hinter dem man ein Untier eingesperrt hat. Trauergefühl, Mitleid, aber ich kann der Lösung nicht widersprechen.30
In den achtziger Jahren sollte der Zaun wieder einen Käfig markieren, einen solchen, hinter dem die kommunistischen Machthaber ein unsichtbares Wahrzeichen eingesperrt hatten: den Ort, wo 1979 der Papst mit einem Wort gefleht hatte: „Möge Dein Geist herabkommen und das Antlitz der Erde, dieser Erde erneuern“.31 Das wurde verstanden als: hier, wo der für den Papst errichtete Altar stand, wird sich von nun an das freie, nicht okkupierbare Polen befinden. Als am 13. Dezember 1981 der Kriegszustand von Wojciech Jaruzelski ausgerufen wurde, sprach man ja von einer Okkupation, wenn auch von einer hausgemachten, womit dieser Ort, an dem der Papst die denkwürdigen Worte in die Menge gerufen hatte, der einzige Platz des freien Polens wurde, weswegen hier verschiedenste Leute tagtäglich ein Kreuz mit Blumen formierten, solange bis die Machthaber den Zaun errichteten, was allerdings im Endeffekt wenig half. Hier und an anderen Stellen wurde das Lied und Gebet gesungen, das Döblin im ersten Kapitel anführt: Gott, der du Polen so viele Jahrhunderte hindurch / Umgeben hast mit dem Glanze der Macht und des Ruhmes, / Der du es beschirmt hast mit dem Schilde deiner Vorsehung / Vor Unglücksfällen, die es niederbeugen sollten: / Vor deinen Altären erheben wir unser Flehen, / Herr! gib uns das Vaterland, die Freiheit wieder.32 blicke in Griechenland‘.“ − Leo Kreutzer: Alfred Döblin. Sein Werk bis 1933, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, S. 107. 29 Döblin: Reise in Polen, München 1987, S. 16. 30 Ebd., S. 16 f. Iwan F. Paskewitsch war ein russischer Feldmarschall, der von 1828 bis 1829 den Oberbefehl der russischen Armee im Kaukasus innehatte. 1831 warf er den polnischen Aufstand nieder und wurde zaristischer Statthalter im russisch besetzten Polen. 1849 besiegte er die von General A. Görgey angeführten aufständischen ungarischen Truppen bei der Schlacht bei Világos. Er war ein erklärter Feind aller liberalen und demokratischen Bewegungen. Polen versuchte er so weit wie möglich zu russifizieren. 31 Niech wstąpi duch Twój i odnowi oblicze ziemi, tej ziemi. 32 Döblin: Reise in Polen, S. 43.
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Und die Kirche spielte erneut die Rolle, wie sie Döblin für die älteren Zeiten schildert. Sie nahm die Flüchtenden auf und gab ihnen ihren Segen: „Von Straßen und Plätzen verjagt die Nationalität, der Stolz des Volkes, in die unnahbaren Kirchen.“33 Und ganz außerordentlich gegenwärtig klang der Satz: „Die Bolschewiken kennen die Polen nicht. Es war falsch, militärisch in das Land zu fallen.“34 Immerhin hatte so mancher 1980/81 mit einer sowjetrussischen Intervention gerechnet. Döblin ließ uns jedoch nicht nur das Kontinuierliche, Sich-Wiederholende, die überraschende Aktualität des Vergangenen, sondern vor allem den Bruch, den radikalen Unterschied zwischen dem heutigen und damaligen Polen erleben, einem Polen, das man mittlerweile nur durch literarische Werke kennenlernen kann. Döblin führt uns − wie angedeutet − den Vielvölkerstaat Polen vor, in dem mehrere Sprachen gesprochen wurden, weswegen er schreibt: „Ich verzage rasch, weil ich die Sprache, nein die Sprachen des Landes nicht kann: Polnisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Jiddisch, Litauisch.“35 Einzig das Deutsche brauchte er nicht zu nennen. Er beherrschte es nicht nur, sondern diese Minderheit interessierte ihn auch nicht besonders, wenngleich er in Łódź mit einer gewissen hämischen Freude bemerkt, dass hier Juden und Deutsche als Minderheiten, als „Fremdvölker“,36 zusammenleben müssen. Aber insgesamt war er nach Polen gefahren, um ein authentisches Judentum kennenzulernen, ein Judentum, das im heutigen Polen zur Legende geworden ist.37 Für Döblin ist die größte Überraschung, die er bei seiner Polenreise erfahren sollte, dass die Juden hier tatsächlich „ein Volk“ bilden.38 Wer nur 33 Ebd., S. 42. 34 Ebd., S. 50. Es geht um den Feldzug der Roten Armee gen Westen, der im August 1920 in einer blutigen Schlacht bei Warschau gestoppt wurde. Sie wird in Polen das „Wunder an der Weichsel“ genannt. 35 Ebd., S. 47. 36 Ebd., S. 306. 37 Die polnische Germanistin Cecylia Załubska endet charakteristischerweise ihren Artikel Polen nach dem 1.Weltkrieg in den Augen eines deutschen Schriftstellers mit den Worten: „Obwohl die meisten Zeilen des Buches den Bräuchen, Sitten und der Religiosität des jüdischen Volkes, das damals in Polen lebte, gewidmet sind, können wir von unserem jetzigen Standpunkt aus feststellen, daß Döblin in vielem was unseren Staat betraf, Recht hatte, aber wir dürfen nicht übersehen, daß er mit manchen unreflektierten Aussagen dem polnischen Staat auch manchen Schaden bringen konnte.“ In: Studia Germanica Posnaniensia V., Poznań 1976, S. 29–35, hier auf S. 35. Sie wundert sich, dass Döblin nicht Spalier stehen wollte, als Piłsudski vorbeikommen sollte. Jeder andere deutsche Schriftsteller hätte sicher Piłsudski sehen wollen. 38 Döblin: Reise in Polen, S. 73. Max Brod erklärte gleich nach dem Krieg, das Ostjudentum stelle ein Volk dar; vgl. hierzu u. a. Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler, Königstein 1981; sowie Eva G. Reichmann: Der Bewußtseinswandel der deutschen Juden, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916 bis 1923, hg. von Werner E. Mosse, Tübingen 1971, S. 511–612. Insgesamt war die Ansicht, die Juden gäbe es als ein Volk, eine banale Erkenntnis, wie Hans Bloch in seiner Besprechung der Reise in Polen für die Jüdische Rundschau Nr. 31, 1926 hervorhebt. Der Satz „die Juden − ein Volk“ sei
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Westeuropa kenne, wisse das nicht.39 „Sie haben ihre eigene Tracht, eigene Sprache, Religion, Gebräuche, ihr uraltes Nationalgefühl und Nationalbewußtsein.“40 Die Entdeckung des jüdischen Volkes geht jedoch einher mit einem Schrecken. Man fühlt sich an Heines erste Reaktion beim Anblick der polnischen Juden in Posen erinnert. Zu viele der Juden in Warschau seien „grausig zerlumpt“, müssten „herumstehen und warten, warten, warten“. Döblin versteht zwar die Ursachen ihrer Armut, aber nicht, warum sie, wie er beim Versöhnungsfest erlebt hatte, uralten Totenriten, wie ihm scheint, nachhängen. Das, was er sieht und hört, „durchschauert“ ihn. In dem Ganzen sei „etwas Grauenhaftes, zugleich Urnatürliches, Atavistisches“. Er fragt sich: Hat das mit Judentum etwas zu tun? Das sind leibhaftige Überbleibsel uralter Vorstellungen! Das Überbleibsel der Angst vor den Toten, der Angst vor den Seelen, die herumschweifen. Ein Gefühl, den Menschen dieses Volkes überliefert mit ihrer Religion. Es ist der Rest einer anderen Religion, Animismus, Totenkult.41
Auch das Laubhüttenfest, das dem Andenken an die vierzigjährige Wanderschaft der Juden durch die Wüste und an die Hütten, mit denen sie hatten Vorlieb nehmen müssen, diente, sowie der Besuch des großen chassidischen Rebbe in Góra Kalwaria, wo er den Eindruck hat, „unter eine exotische Völkerschaft geraten“ zu sein,42 berühren ihn unangenehm. Das Gedränge beim Rebbe, dem Zadik, kann er nicht ertragen, er will weg und ist froh, als er den Bahnhof sieht.43 Auf dem Rückweg hört er sich im Zug „jiddische Spottlieder auf die Rebbes“ mit Freude an.44 Er will offensichtlich Abstand zu allem Jüdischen gewinnen, aber dann lässt er sich auch gern das in Góra Kalwaria Gesehene von einem chassidischen
für uns Zionisten „fortentwickelt bis zur Zerfaserung, aber das sei nicht das Wichtigste, denn nie ist das jüdische Volk der Gegenwart mit solcher Kraft der Impression aufgezeichnet worden.“ In: Alfred Döblin im Spiegel zeitgenössischer Kritik, hg. von Ingrid Bode und Ingrid Schuster, Bern, München 1973, S. 166. 39 Hans Bloch schreibt in seiner Besprechung: „Es ist sehr wichtig, daß Döblin zu den Juden gefahren ist. Denn wir haben ein großes Interesse daran, daß dieses Volk entdeckt wird − nach Chinesen, Mexikanern, Eskimos und anderen Exoten auch dieses Volk. Die Westeuropäer müssen es entdecken, wie sie nach vielen Ungezieferwitzen selbst den Balkan entdeckten, und die Westjuden müssen es entdecken, trotz der großen scheuen Furcht vor dem Gespenst im Hause. Wir können mit Westlern und Westjuden schlecht über die Judenfrage reden, wenn sie die Juden nicht kennen. Wir [die Zionisten − K.S.] sind Parteileute, wir sind verdächtig. Aber: Döblin hat Geltung, er sieht und weiß zu sagen, was er sieht, er ist mutig und reinen Herzens. Es ist wichtig, daß er die Juden entdeckt hat und Bericht gibt“. In: Alfred Döblin im Spiegel zeitgenössischer Kritik, S. 164. 40 Döblin: Reise in Polen, S. 73. 41 Ebd., S. 92 f. 42 Ebd., S. 103. 43 Ebd., S. 109. 44 Ebd., S. 108.
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Juden erklären, um sich dann selber die Frage zu beantworten, wie „das demokratische Volk zu den Heiligen“ komme: Ein alter Rest: das Reich ist zerfallen; das Gerüst, an das man sich hält, ist Religion und Kult, und ihr Hauptträger der Rabbi. Es ist aus dem Nationalen zu verstehen; das sind die Führer, Könige, Herzöge, Fürsten. Und sie haben auch wirklich geherrscht bis ins vorige Jahrhundert. Das ist aber nicht alles. Die Juden schleppen Mittelalterliches mit sich fort. Sie haben ihre Thora, ein einziges Buch, aber Magisches und Zauberglaube laufen anonym nebenher. Das ähnelt dem Buddhismus, der Eigenes lehrt, daneben eine alte Götterwelt bestehen läßt. Den jüdischen Führern, den geistlichen Fürsten wird hinterrücks vom Volk diese illegitime Zaubergabe beigelegt. Besonders lebhaft von dem Augenblick an, wo der mystische Chassidismus die Magie neu gebiert. Da werden die Magiker Fürsten, werden Rebbes; das Blättchen hat sich gedreht. Und jetzt noch sind die Rebbedynastien da − ihre große Zahl ist vorbei −, in denen sich eine geheimnisvolle Auserwähltheit forterbt.45
Doch das Kapitel endet mit der Anführung von zwei Tischreden, die der Vater des Gorer Rebbe gehalten hatte. Die Klage vom Mittelalterlichen ist plötzlich vergessen. Eine ganz andere, „sehr mutige Judenschaft“,46 die europäisch gekleidet ist, ohne ihr Judentum aufgegeben zu haben, trifft er in Wilna an. In seinem Urteil über sie wiederholt er eine Meinung, die Theodor Behr in der Zeitschrift Der Jude kurz nach dem Friedensschluss in Brest-Litowsk dargelegt hatte. Er schreibt u.a. über das litauische Judentum: Seine geistige Regsamkeit, sein für europäische Verhältnisse unerhörter Bildungsdrang sind sprichwörtlich. Der litauische Jude, fest verwurzelt in den besten Traditionen des Judentums, bildet den erfreulichen Typus des aufrechten, mit allem Jüdischen eng verwachsenen, seiner Zugehörigkeit zu seinem Volk stolz bewußten Juden, der freigeblieben ist von der Verkettung in eine erstarrte Orthodoxie, wie sie mit so furchtbarer Gewalt auf der polnischen Judenheit lastet. Es weht etwas Fröhliches, Lebendiges durch jedes litauische Judenstädtchen, und während man immer wieder vor der Fülle des jüdischen Wissens staunt, bewundert man eine rege Fähigkeit in den Dingen des Tages, eine besondere Gestaltungskraft, eine Fülle des Organisationsvermögens, das man bei den polnischen 47 Juden so schmerzlich vermißt.
45 Ebd., S. 110. 46 Ebd., S. 118. Ich verstehe nicht, wie Klaus Schröter erklären kann: „Daß Döblin von Anfang der Reise bis zum Schluß vor Juden und Jüdischem erschrickt, durch ihren Gang, ihre Haltung und Sprachgebärden abgestoßen ist und dergleichen mehr, erwähnen wir nicht weiter.“ Klaus Schröter: Zu Alfred Döblins Reise in Polen, unternommen Ende 1924, in: Studien zur Kulturgeschichte des deutschen Polenbildes 1848–1939, hg. von Henrik Feindt, Wiesbaden 1995, S. 165–174, hier S. 173. Man hat den Eindruck, dass er nur den Anfang gelesen hat. 47 In: Der Jude, 1918/1919, S. 2 f.
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In Wilna gewinnt Döblin auch einen tieferen Einblick in den Streit zwischen den „Hebraisten“ und „Jiddischisten“. Nachdem er sich die recht einleuchtenden Argumente für den Unterricht in Hebräisch und gegen den in Jiddisch angehört hat, kommt er zu dem umgekehrten Schluss: Die eigentliche Volkssprache der Juden im Osten sei das Jiddische. Wenn er hebräisch reden höre, klinge es ihm so, „als wenn man in Deutschland französisch“ spräche.48 Dagegen hätten die jiddischen Gedichte, die Kinder in einer jiddischen Mädchenschule aufsagten, einen „ganz altdeutschen Ton“. Es sei im „jüdischen Volk gewachsen“. Man sehe, die „Jiddischisten“ wollen die im Volke fortlebenden Reichtümer nicht aufgeben, während die „Hebraisten“ vor allem an den irdischen Reichtümern hängen würden. Die ersteren seien daher die wahren Vertreter der orientalen Tradition, d.h. einer Tradition, die sich in einer intensiven Pflege „der schriftlichen Hinterlassenschaften entfernter Vorväter“ ausdrücke. Es sei also falsch, ausschließlich von einem Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit, der sich im Ostjudentum abspiele, zu sprechen, sondern man müsse gleichzeitig sehen, dass es hier auch um den Gegensatz zwischen dem Orient und Okzident, zwischen Verankerung im Religiösen, Geistigen und moderner weltlicher Politik gehe. Er erkennt gleichzeitig immer deutlicher, dass die Ostjuden keineswegs eine in sich geschlossene Einheit bilden, weder im Religiösen noch im Sozialen, dem er größte Aufmerksamkeit schenkt. Erstaunlich ist, dass Döblin in Lublin, der Station nach Wilna, nicht bereit ist, die Juden gegenüber den Polen, die hier eine Minderheit waren, in Schutz zu nehmen. Bei den Gemeinderatswahlen hatten die orthodoxen Juden die absolute Mehrheit errungen. Danach geriet der Gemeinderat in einen „Konflikt mit der Regierung, weil von seinen Mitgliedern über die Hälfte nur jiddisch sprach. Die Regierung verlangte, wenigstens der Vorsitzende sollte polnisch sprechen. Aber als er es versuchte, gab es Tumult, und das war die letzte Sitzung.“49 Der Gemeinderat wurde aufgelöst. Döblin scheint den polnischen Behörden Recht zu geben. Überhaupt behagt ihm Lublin nicht besonders. Er empfindet hier eine zu große Provinzialität, was ihn allerdings nicht zu zurückhaltenden Urteilen veranlasst, denn gerade die Lubliner Juden bilden den Ausgangspunkt für eine generelle Charakteristik der Ostjuden: Sie sind wirklich scharf, man darf sich vor ihnen nicht gehenlassen, sie sind mit Wonne polemisch und überlogisch. Das Formale liegt ihnen. Sie verhalten sich aber intensiv ablehnend gegen Fremdes, und das entspringt ihrer Abschließung. Sie lehnen ab und können auch nicht annehmen; sie sind blind; ihnen fehlt die Einsicht in viele Dinge und Zusammenhänge. Es ist etwas Plumpes und durchaus Bäuerliches, Bäuerisches. − Noch nach ihrer „Emanzipation“ haftet das an ihnen.50
48 Döblin: Reise in Polen, S. 140. 49 Ebd., S. 174. 50 Ebd., S. 176.
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Eine solche Charakteristik hatte man, wie gesagt, nach dem Wilnaer Kapitel nicht erwartet. Von Lublin begibt sich Döblin nach Lemberg, d.h. in jenen Teil Polens, der während der Teilungen unter österreichischer Oberhoheit stand. In diesem Ort leben drei Völker zusammen, nebeneinander: Polen, die Stadt beherrschend, aufmerksam, lebendig, die Besitzer, − Juden, vielspältig, versunken und abweisend, oder mißtrauisch, sich wehrend, rege, zum Leben erwacht, − Ukrainer, unsichtbar, lautlos hier und dort, zurückhaltend, jähzornig, gefährlich, trauernd, die Spannung von Verschwörern und Aufrührern um sich.51
Für die ukrainischen Ansprüche zeigt Döblin großes Verständnis, denn Bedrücktsein, Fremdsein im eigenen Lande − ich fühle es scharf, wie ich hier herumwandere −, ist das Gräßlichste, was es gibt. Freiheit ist der allernötigste „Alltag“! Freiheit ist keine politische Phrase, sondern real und notwendig wie die Luft, unter der man zu leben hat, wichtiger als Landstraßen und ausgetrocknete Sümpfe. Versklavte Menschen und die sich so fühlen sind sterbende Menschen, erstickende Menschen; ihnen nützen die Landschaften nichts.52
Die Polen wüssten „das alles aus ihrer eigenen Geschichte“, aber sie würden dieses Wissen zu wenig auf die Anderen anwenden. Döblin lässt sich das Wesentliche von der ukrainischen Kultur, insbesondere der Dichtung, von Taras Schewtschenko und Iwan Franko, erzählen. Zu seiner Überraschung können seine ukrainischen Gesprächspartner gut deutsch, besser als die Polen. Sie haben diese Sprache aus „Sympathie für Deutsches und Deutschland“ gelernt, während aus vielen ein „schrecklicher, blinder, dumpfer Haß, ein ganz animaler Haß auf die Polen“ spritze.53 Die Stadt läge dadurch „in den Armen zweier Gegner“. Am Ende kommen Döblin jedoch diese ganzen nationalen Kämpfe sinnlos vor, denn es gäbe ja noch andere, wichtigere Gemeinschaften als Nationen, etwa die der „Arbeitermassen“ oder die der „wirklichen Christen“. Nationen würden gerade von solchen Gemeinschaften „zerklüftet“, was die Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit übersehen. Sie tun so, als sei gerade die Nation eine homogene Gemeinschaft. Die sich anbietende Alternative „Vereinigte Staaten von Europa“ klinge „utopisch“, bekennt Döblin, und trotzdem gäbe es sie bereits, was man an der Ossolineum-Sammlung erkenne, mit der zwei polnische Adlige, Graf Ossoliński und Fürst Lubomirski, einen Grundstock für eine Art Nationalbibliothek, die Sammlung von etwa 700.000 Büchern zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen hatten. Hier sehe man, „wie kollektiv wir sind“, dass es schon „längst ein gemeinsames Gehirn“ − gleichsam ein europäisches − gibt. Aber, 51 Ebd., S. 205. 52 Ebd., S. 194. 53 Ebd., S. 191.
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wirft Döblin ein, der „Organismus ist nicht angepaßt an das Gehirn. Der menschliche Körper ist zerfasert, und ein Teil tut dies, ein Teil dies.“54 Wie zerfasert wir und Europa überhaupt sind, sollte Hans Magnus Enzensberger über vierzig Jahre später in Ach Europa! zeigen. Und zerfasert ist für ihn auch das Polen, welches er im Herbst 1986 erlebte. Es war für mich und einige meiner Mitarbeiter ein denkwürdiger Aufenthalt. Ich hatte in letzter Minute bewirken können, dass er nicht von einem braven Guide in Diensten der Sicherheit, der polnischen Stasi, „fachmännisch“ begleitet wurde. Enzensberger war, wie sich herausstellte, zu einem offiziellen Poesie-Festival angereist, an dem kein bedeutender polnischer Lyriker teilnahm. Jaruzelski und Rakowski, den er unbedingt sehen wollte, bewunderte er insgeheim. Aber im Grunde genommen wollte er sich nicht über Politik auslassen, sondern den Alltag studieren, so wie er es anderswo an den Rändern Europas getan hatte − auch in Ungarn. Ich war entsetzt. „Herr Enzensberger“, sagte ich ihm, „Sie befinden sich in einem geschichtsträchtigen Land“. Ich war, muss man hinzufügen, überzeugt, dass sich hier ein Stück Zukunft abspielt. „Hier“, setzte ich fort, „kommen Sie mit dem gesunden Menschenverstand, den Sie so verteidigen, nicht zurecht. Mit ihm lässt sich das, was sich hier tut und tun wird, nicht erfassen.“ Wir trafen uns während seiner Polenreise oft, und am Ende waren wir zerstritten. Eines Tages schickte er mir sein Buch mit einem Kärtchen: „Mit herzlichem Dank für ihre gastfreundschaft und mit der bitte um nachsicht“. Nur das Wort Dank war groß geschrieben. Ich brauchte lange, bis ich mich zur Lektüre seines Buches Ach Europa! entschloss. Am liebsten hätte ich es sein gelassen, doch ich musste ihm auf das versöhnlich klingende Kärtchen antworten. Ich weiß nicht, was ich ihm geschrieben habe. Ich weiß nur, dass ich bei der Lektüre seine Schreibtechnik bewunderte. Ich kannte so gut wie jedes Detail, das er erlebt hatte und das er hier beschrieb, aber alles war so kunstvoll durcheinander gewürfelt, dass ich an Heines Harzreise denken musste, über die ich in den siebziger Jahren einen ausführlichen Artikel verfasst hatte. Enzensberger hatte alles literarisiert, auch meine Person und meine Sätze, die ich hie und da wiedererkennen konnte. Wie bei Heine war das Ganze voller Ironie. Enzensberger ist allerdings liebenswürdiger als dieser. Er hatte ja auch Döblins Reise in Polen gelesen, aus der er − neben Georg Brandes und Kazimierz Brandys − zitiert. Die Ironie betraf auch ihn selber, besonders seinen „gesunden Menschenverstand“, dessen Wert ich bis ins Philosophische hinein bezweifelt hatte. Enzensberger war am Ende zu dem Schluss gekommen, dass sich in Polen das Politische nicht umgehen lässt, es hier zu keiner Normalisierung im Sinne von Jaruzelski kommen wird. Natürlich lässt er seine Gesprächspartner von der Furcht erfassen, dass in einem, wie wir heute sagen, postkommunistischen Polen anarchische Zustände herrschen werden, und es für Europa zu provinziell sein wird. Ryszard Kapuściński sagt ihm sehr klug, was er wahrscheinlich im O-Ton wiedergibt:
54 Ebd., S. 217.
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Die Intelligenz, eine relativ schmale Schicht wurde von den Deutschen und Russen liquidiert […] Die Juden wurden fast völlig ausgelöscht. Es ist ein Wunder, daß es heute so etwas wie eine Intelligenz gibt. – Kurzum, was uns fehlt, sind nicht die Fabriken, es ist nicht einmal in erster Linie Kapital. Es ist eine Führungsschicht im europäischen Sinn des Wortes.55
Erst heute wissen wir, wie wahr dieses Urteil ist. Damals meinten wir, es stehe um Polen glänzend. Hatten wir doch eine westlichere Ausbildung genossen als die Akademiker in allen anderen realsozialistischen Staaten. Enzensbergers Bild von Polen wirkt auf junge Leute, unsere Germanistikstudentinnen und -studenten bedrückend, zu grau in grau. Sie möchten es farbiger haben. Sie meinen, in einem neuen Jahrhundert zu leben – das 20. hat ja kurz gewährt: von 1914 bis 1989 −, aber es lohnt sich auch für junge Leser, Enzensbergers Eindruck als Warnung zu verinnerlichen: Provinzialität droht nach wie vor, es muss viel getan werden, wenn sie überwunden werden und wenn es nicht wie Enzensbergers Polenkapitel mit einem matten Murmeln enden soll. 1988 reiste Horst Bienek mit dem Filmemacher Stanisław Krzemiński durch Oberschlesien, um sich das anzuschauen, was er in seiner Tetralogie aus der Erinnerung heraus dargestellt hatte.56 Ich kannte sie gut, sie vermittelte mir allerdings kein neues Bild von Polen, sondern ein Bild von dem Verhältnis der deutschen Oberschlesier zu ihren Nachbarn. Aber tief in Erinnerung bleibt mir, als mich Horst Bienek nach seiner OberschlesienReise in Warschau mit den Worten begrüßte: Weißt Du, Karol, es ist doch erschütternd, wenn man erlebt, dass sich ein Ort überhaupt nicht verändert hat, dass er noch genauso aussieht, wie man ihn in der Kindheit erlebt hat. Zum Ende seiner Reise in die Kindheit schreibt Bienek bekanntlich: „Wir klagen im Westen darüber, wie sehr unsere Städte nach dem Krieg ihr Gesicht verändert haben, mit Recht. Aber schlimmer ist es, wenn sich überhaupt nichts verändert. Dann gibt es nur Erstarrung, eine Versteinerung, eine Lähmung, die auch die Menschen ergreift. Die Zeit tritt auf der Stelle, die Geschichte, das Leben“.57 Dies hat mir sehr zu denken gegeben. Ich mochte nie dorthin zurückkehren, wo ich vor langer Zeit schon einmal war, denn ich befürchtete, dass die Veränderungen meine alten Eindrücke übermalen werden, sodass mir meine schönen oder auch weniger schönen, jedoch bemerkenswerten Erinnerungen verloren zu gehen drohen. Und es gelang mir auch, die Orte der Kindheit und Jugend nicht wieder zu besichtigen, abgesehen davon, 55 Hans Magnus Enzensberger: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern, Franfurt 1987, S. 353 f. Über die Leute der Partei, die sogenannten Kader, sagte Kapuściński: „es ist doch klar, daß sie über keine wie auch immer ausgeartete kulturelle Ausrüstung verfügen, über keine Begriffe, keine Perspektiven, keine Aspirationen, die über das Bedürfnis hinausgehen, Karriere zu machen. Sie sind unwissend und brutal. Im besten Fall verfügen sie über eine gehörige Portion Schlauheit.“ − Ebd., S. 354. 56 Sie drehten beide den Dokumentarfilm Gleiwitzer Kindheit (30’). Siehe auch: http://www.amok. gliwice.pl/page.php?page=movie&id=1170 (letzter Zugriff: 12.12.2011). 57 Horst Bienek: Reise in die Kindheit, München 1988, S. 179.
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dass es zu viele waren, aber nie fiel mir ein, einer der Orte könnte sich so gar nicht verändert haben. Bienek hat es sich nicht nehmen lassen, seiner Bemerkung über die Erstarrung einen Absatz hinzuzufügen, für den ich 1988 sehr dankbar war, denn er gab auch meine Gefühle wieder: Die Menschen hier spüren es. Seit dem Kriegsrecht, seit Dezember 1981, ist es noch schlimmer geworden. Sie sehen keine Veränderung, keine Entwicklung, keine Perspektive. Ich spüre in ihren Worten mehr Skepsis als sonst, in ihren Gedanken mehr Zögern, in ihren Bewegungen mehr Langsamkeit. Schlimmer als die furchtbarste Veränderung ist: keine Veränderung.58
Schon in Beschreibung einer Provinz, als er in seinem Tagebuch den Verlauf seiner Arbeit an der oberschlesischen Tetralogie festhielt, hatte Bienek mit Polen gelitten. Ihm war die Zerschlagung der Solidarność-Bewegung mit der Einführung des Kriegszustands durch die Jaruzelski-Clique äußerst nahe gegangen. Beeindruckend ist jene Notiz: Ich kann mich nicht den ganzen Tag über mit der Lage in Polen beschäftigen, Nachrichten hören und sehen (in beiden Programmen und in Ö1), und dann, abends, an die Schreibmaschine gehen und über das Jahr 1945 in Oberschlesien schreiben − diese Provinz, die jetzt Gorny Slask heißt und in der gerade Einheiten der Zomo die Zeche Wujek stürmen, während die Arbeiter skandieren GESTAPO GESTAPO. Ich kann nicht so tun, als ob das zwei verschiedene Welten wären.59
Die Spezialeinheiten ZOMO hatten am 16. Dezember 1981, drei Tage nach Einführung des Kriegsrechts, beim Sturm der Grube Wujek, die von streikenden Arbeitern besetzt worden war, neun Bergleute erschossen und einundzwanzig verletzt. Der Prozess gegen die Täter zog sich nach 1989 zwei Jahrzehnte hin. 2008 wurden im dritten Prozess vierzehn Polizisten und zwölf Mitglieder der Spezialeinheiten zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt. Aber im Grunde genommen ist der Prozess bis heute noch nicht abgeschlossen, denn der Hauptverantwortliche, der damalige Innenminister Czesław Kiszczak, versucht, alle Schuld von sich zu weisen. Horst Bienek hatte mir sein Buch Beschreibung einer Provinz über diplomatische Kanäle mit einer Widmung zukommen lassen. Er gehörte zu den wenigen westdeutschen Schriftstellern, die sich durch die Solidarność-Bewegung mit ihren nationalen und katholischen Wahrzeichen nicht irritieren ließen, sondern in ihr eine eindeutige Freiheitsbewegung sahen. So hält er der Bemerkung von Peter Weiss aus dessen Notizbüchern: „Ich hatte das einzige Verhältnis zu diesem Land, das man haben kann, ein gestörtes … “ entgegen, wie er in München die Tage nach der Ausrufung des Kriegszustands in Polen miterlebt: „Nicht gearbeitet, wieder nur Nachrichten gehört und gesehen. In der Akademie der 58 Ebd., S. 180. 59 Bienek: Beschreibung einer Provinz, München 1983, S. 237.
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Wissenschaften in Warschau, wo Professoren und Studenten ein Protestmeeting abhalten wollten, wurden dreihundert Leute verhaftet. Die anderen sollen gerufen haben: ,Faschisten, Gestapo!‘60 Höchstwahrscheinlich fühlte er sich auch an die Zeit erinnert, als er Teilnehmer der Protestaktion in Workuta war, die von den sowjetischen Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen wurde. Im Oktober 1989, dem Wendejahr, reiste der Schweizer Autor Reto Hänny nach Polen. Es sollte eine Lesereise werden, aber ein Kollege hatte ihm in letzter Minute ins Ohr geflüstert, er möge doch seine Erlebnisse für etwas Größeres niederschreiben, was er auch tat. Zwei Jahre später legte er das Buch Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa vor. Es ist wohl das Umfassendste, was über Polen in literarischer Form entstanden ist. Der Autor lässt sich von zwei Berichten leiten: von Döblins Polenreise und von den Aufzeichnungen des polnischen Autors Kazimierz Brandys, die in Deutschland unter dem Titel Warschauer Tagebuch. Die Monate davor, 1978−1981 erschienen waren. Beide nennt er seine Baedecker.61 Aber es ist erstaunlich, wieviel Hänny an polnischer Literatur gelesen hat und wieviel er davon in seine größtenteils kunstvoll geformten Bandwurmsätze einarbeitete. Besonders Zbigniew Herbert, Czesław Miłosz, Stanisław Ignacy Witkiewicz und Bruno Schulz hatten es ihm angetan. Letzteren ahmt er sogar stellenweise in seinem skurrilen Stil und seiner skurrilen Sicht der Dinge nach, etwa in der Beschreibung der Thorner Wohnung, in der er von zwei Damen, einer Germanistin an der Nikolaus-Copernikus-Universität und ihrer Mutter − in meiner Anwesenheit − noch und noch genötigt wurde, die selbst verfertigten Speisen und alkoholischen Getränke zu sich zu nehmen. Im Nachhinein kann man dieses Buch als einen Wenderoman lesen. Eine Generation, die diese Zeit nicht miterlebt hat, weil sie noch zu jung war, erfährt, wie unklar die Zukunft aussah, einerseits wirtschaftlich (der Kapitalismus, oder besser: freie Markt als die einzige Alternative – „Ohne Zweifel, es gibt Diktaturen mit freiem Markt, aber keine Demokratie ohne freien Markt“, bemerkt der Erzähler),62 andererseits politisch. Was mag aus diesem Teil Europas, Mitteleuropa genannt, werden – zumal die deutsche Wiedervereinigung droht, fragt sich der Erzähler. Er selber fühlt sich als Schweizer wie ein Mitteleuropäer, was wohl heißen soll, als Bürger eines Staates, der im Grunde genommen nur am Rande der europäischen Ereignisse agieren kann und irgendwie bestehen muss. Auch Polen dürfte sich bald „in einer äußerst unkomfortablen Lage wiederfinden“, lesen wir in dem Buch. „Statt eine Brücke zwischen Ost und West darzustellen“, wird es sich „einmal mehr zwischen Stuhl und Bank, in der Rolle des Paria“, befinden.63 Es droht, dass es von
60 Ebd. 61 Reto Hänny: Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa, Frankfurt a. M. 1993, S. 54. 62 Ebd., S. 211. 63 Ebd., S. 138.
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deutschem Kapital aufgekauft wird. Was nicht durch militärische Aktionen gelang, könnte auf friedliche Weise erfolgen, erklärt der Erzähler. Dieser spielt mit seinem intelligenten, etwas eigenwilligen polnischen Begleiter Janusz, mit dem er in einem fortwährenden Dialog steht, die verschiedensten möglichen Szenarien durch. So sagt er an einer Stelle: „[W]er das großmaulige Gerede von einem Europäischen Wirtschaftsraum sowie das leidige Starren auf die EG und deren egoistische Geldscheffelei, gar aus der Position des ausgezehrten Kaninchens vor der Schlange, jedoch satt habe“ − denn, fügte Hänny in Paranthese hinzu, „wo jede Spur einer ursprünglichen Idee kleinlichen Interessen gewichen, besetze nach der Emanzipation vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in eben den gleichen Staaten nun das Gerangel um die raschstmögliche Integration ins Heilige Römische Reich Europäischer Nation die Köpfe“ − ein Synonym fürs erstere also – könne „sich vielleicht mit dem Gedanken einer Föderation zentraleuropäischer Staaten anfreunden […]. Eine europäische Föderation, gebildet zunächst einmal, aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, regiert von den heute noch inhaftierten Mitgliedern der Charta 77, vielleicht Österreich […] der Schweiz, die sich, wenn man recht orientiert sei, seit je gern als Mitte von Mitteleuropa sonne, als das Herz des Herzens […]“.64 Solche Ideen kreisten damals tatsächlich in den Köpfen herum, und es gab auch politische Versuche, die genannten Staaten, ohne die Schweiz allerdings, in einer Gruppe zu vereinen.65 Aber nicht das ist das Wesentliche an dem Buch, ob sich eine der Visionen verwirklichen lassen könnte oder nicht, sondern es vermittelt − aus der Sicht eines Außenstehenden − ein Bild Polens aus einer Zeit, in der noch alles möglich war, aus der sogenannten Wendezeit. Der Erzähler nimmt darüber hinaus alle wichtigen Ereignisse der polnischen Geschichte wahr (von der 3.-Mai-Verfassung über die Teilungen, den Stalin-Hitler-Pakt, Katyń, den Zweiten Weltkrieg mitsamt der Shoah, das antisemitische Jahr 1968, die sechzehn Monate der Solidarność und die Einführung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, den Mord an Popiełuszko bis hin zu der Bildung der neuen Regierung unter Führung von Tadeusz Mazowiecki am 24.8.1989), aber er scheint am Ende Döblins Verärgerung in der Reise in Polen zu teilen: Geschichte, Geschichte und immer Geschichte. Ich weiß: diese Bilder beweisen nichts für das, was das Volk fühlt. Sowenig unsere Siegesallee beweist. Das Volk ist reicher, als alle diese Maler wissen“, kommentiert Döblin, und er fragt: „Beweist überhaupt die Geschichte etwas dafür, was ein Volk fühlt? Wieviel vom Volk nimmt an dieser Art Geschichte teil?“66
64 Ebd., S. 164 f. 65 Am bekanntesten ist die Visegrád-Staatengruppe, die 1991 gegründet wurde. Sie besteht noch heute, politisch spielt sie jedoch keine Rolle. 66 Hänny: Am Boden des Kopfes, S. 190 f.
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Aber Reto Hänny kann von der Geschichte nicht lassen. Schließlich will er als Besucher des ihm bis dahin unbekannten Landes all das verstehen, was ihm gezeigt wird und was er aus eigener Initiative besichtigt. Und als Autor scheint er an einigen Stellen mit Peter Weiss als Bildbeschreiber zu wetteifern, was ihm auch gelingt, etwa in der Nationalgalerie in Warschau oder bei dem Anblick des Danziger Denkmals zu Ehren der 1970 erschossenen Arbeiter. Es ist schade, dass dieses Buch so wenig Beachtung gefunden hat.
Verzeichnis der Autoren ADRIAN BRAUNEIS, M.A., geb. 1987, seit 2011 Doktorand am Institut für germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Studium der Deutschen Philologie und der mittleren und neueren Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen 2006–2011; Mitorganisator des Göttinger „Forums für junge Mediävistik“ (2009–2011); Master-of-Arts-Abschluss 2011; seit 2011 Arbeit an einer problemgeschichtlich ausgerichteten Promotion zu den Werken von Ernst Weiß und Uwe Johnson im Rahmen einer Theorie literarischer Anthropologie. WOLFGANG DÜSING, geb. 1938, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft (i. R.) an der Universität Trier (1976–1983) und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (1983–2004). Promotion 1967, Habilitation 1975. Mehrfach Gastprofessuren in den USA. Arbeitsgebiete: Literatur und Ästhetik vom 18. bis zum 20. Jh., Klassik und Klassikrezeption, Romantheorie, Geschichtsdrama. Buchpublikationen: Schillers Idee des Erhabenen (1967); Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1981); Erinnerung und Identität. Musil, Döblin, Doderer (1982); Experimente mit dem Kriminalroman. Ein Erzählmodell in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts (Hg. 1993); Traditionen der Lyrik. Festschrift für H.-H. Krummacher (Hg. 1997); Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun (Hg. 1998); Tendenzen im Geschichtsdrama und Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts (Mhg. 2004). Zahlreiche Aufsätze, Rezensionen und Lexikonartikel. JENS HAUSTEIN, geb. 1956, Studium der Germanistik und Geschichte in Göttingen, Freiburg und Berlin (FU), Promotion 1987, Habilitation 1992, seit 1993 Professor für germanistische Mediävistik in Jena. Seit 2004 Mitglied der Sächsischen Akademie, 2005 Ruf an die Universität Würzburg, 2004–2012 Mitglied im Fachkollegium ‚Literaturwissenschaften‘ der DFG, 2000–2002 Dekan der Philosophischen Fakultät, seit 2011 Prorektor für Lehre und Struktur der Universität Jena. Bücher: Der Helden Buch. Zur Erforschung deutscher Dietrichepik im 18. und 19. Jahrhundert (1989); Marner-Studien (1995); Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (Mhg., 2000); Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters (2006); Briefwechsel zwischen den Brüdern Grimm und Wilhelm Wackernagel (Hg., 2009); Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ (Mhg., 2010). Herausgeber u.a. des germanistischen Teils des Archivs für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, der Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit und der Beiträge zur Geschichte der Germanistik (mit Uwe Meves). WOLFRAM HOGREBE, geb. 1945, seit 1980 Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf, seit 1992 an der Universität Jena, seit 1996 an der Universität Bonn.
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Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Akademie für Gemeinnützige Wissenschaften zu Erfurt, der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zu Düsseldorf, des Institut International de Philosophie/Paris und des Internationalen Zentrums für Philosophie NRW (Gründungsdirektor). Gastprofessuren an der Staatlichen Universität Belo Horizonte/Brasilien (1978) und der American University of Cairo/Ägypten (2000); Gadamer-Professur der Universität Heidelberg (2006). Fellow an Wissenschaftskollegs: Institute for Advanced Study/Budapest (1998/99 und 2006), Wissenschaftskolleg zu Berlin (2004/5), Fellow am ‚eikones‘, NFS Bildkritik der Universität Basel. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (1999–2002). Bücher (Auswahl): Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik (1974); Archäologische Bedeutungspostulate (1977); Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert (1987); Prädikation und Genesis (1989); Metaphysik und Mantik (1992); Ahnung und Erkenntnis (1996); Echo des Nichtwissens (2006); Die Wirklichkeit des Denkens (2007); Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen (2009); Beuysianismus. Expressive Strukturen der Moderne (2011). GERHARD R. KAISER, geb. 1943, Studium der Germanistik, Romanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie in Mainz und Tübingen. 1973–1993 Professur für Vergleichende Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Neuere deutsche Literatur in Gießen, 1993–2008 Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Jena. 1987–1993 Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“, 1996–2000 Fachgutachter der DFG für Neuere deutsche Literatur. Austauschprofessur: Montréal (1983/84); Gastprofessuren: Witwatersrand, Johannesburg (1984), Innsbruck (1986/87), Sorbonne Nouvelle, Paris (2002). Bücher (Auswahl): Proust – Musil – Joyce. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats (1972); Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsstand, Kritik, Aufgaben (1980); E. T. A. Hoffmann (1980); Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur (Hg., 1998); Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie (Mhg., 2001); Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Mhg., 2003); Deutsche Berichterstattung aus Paris. Neue Funde und Tendenzen (2008); Eberhard Haufe. Schriften zur deutschen Literatur (Mhg., 2011). TOM KINDT, geb. 1970, seit 2011 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Hamburg, Promotion 2001; 2001–2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFGForschergruppe Narratologie; 2004–2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen, Habilitation 2010. Letzte Buchveröffentlichungen: Leo Perutz’ Romane (Mhg., 2007); Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne (2008); Moderne Interpretationstheorien (Mhg., 2008); Helmut Krausser (Hg., 2010); Literatur und Komik (2011) und Unreliable Narration (Mhg., 2011).
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JULIANE KÖSTER, Lehrstuhl für Fachdidaktik Deutsch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bücher: Konstruktion und Hellsicht – Vergleichende Verfahren im Literaturunterricht der Sekundarstufe II (1995); Bernhard Schlink: Der Vorleser (2000, OldenbourgInterpretationen, Bd. 98); Archive der Zukunft. Der Beitrag des Literaturunterrichts zur Auseinandersetzung mit Auschwitz (2001). Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Literaturdidaktik, Unterrichtsforschung; Aufgaben für Lern- und Leistungssituationen; Problemlöseprozesse im Deutschunterricht. GERHARD KURZ, geb. 1943, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Heidelberg, Promotion und Habilitation in Düsseldorf. 1980–1984 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Amsterdam, danach bis 2008 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Gießen. Veröffentlichungen u.a. zu Hölderlin, Kafka, zur Literaturtheorie, Poetik und Hermeneutik, zur deutsch-jüdischen Literatur- und Geistesgeschichte und zur Kulturgeschichte. Bücher (Auswahl): Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin (1975); Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse (1980); Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit (1999); Metapher, Allegorie, Symbol (62009). ECKHARD LOBSIEN, geb. 1945, Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Kiel, Göttingen, Konstanz; Promotion 1973 und Habilitation 1979 in Konstanz; von 1981 bis 2011 Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Publikationen: 11 Monographien zur Literaturtheorie, zu Geschichte und Theorie der Imagination sowie zu Konstitutionsproblemen der englischen Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne; zuletzt erschienen: Zeit der Imagination: Das Imaginäre (in) der englischen Romantik (2008) und Schematisierte Ansichten: Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg (2012). ALEXANDER LÖCK, geb. 1974, Studium der Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Neueren Geschichte in Jena und Norwich, GB; Promotion 2008; seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für germanistische Literaturwissenschaft der Universität Jena; erschienen: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven (Mhg., 2010). STEFAN MATUSCHEK, geb. 1962, Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1990 Promotion, 1996 Habilitation an der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster, seit 1996 Professor für Neuere deutsche Literatur, seit 2004 Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität, Jena. 2004–2006 Prorektor, seit 2011 Direktor des Jenaer Forschungszentrums „Laboratorium Aufklärung“. Publikationen (Auswahl): Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse (1991), Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel (1998), Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht.
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Verzeichnis der Autoren
Platons „Symposion“ und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne (Hg., 2002), Organisation der Kritik. Die „Allgemeine Literatur-Zeitung“ in Jena 1785–1803 (Hg., 2004), Mythos Iphigenie. Texte von Aischylos bis Volker Braun (Hg., 2006), Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur (Mhg., 2008), Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Kommentar (2009). DIRK OSCHMANN, geb. 1967, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Studium der Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Jena und Buffalo/ USA (Fulbright-Stipendium). Promotion 1998 und Habilitation 2006 in Jena. FeodorLynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der University of Wisconsin in Madison/USA 2001–2002. Gastprofessuren an der University of California in Davis/ USA 2006 und an der University of Notre Dame/USA 2010, Gastdozentur an der University of Kent in Canterbury/England 2009. Bücher: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers (1999); Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist (2007); Friedrich Schiller (2009). DIRK VON PETERSDORFF, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2011/2012 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, zuletzt erschienen: Nimm den langen Weg nach Haus. Gedichte. (2010); Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart. (2011). KAROL SAUERLAND, Studium der Philosophie, Mathematik und Germanistik in Berlin (Humboldt-Universität) und vor allem in Warschau; Professor für deutsche Literaturwissenschaft und Ästhetik an den Universitäten in Warschau und Thorn (dort von 1979 bis 2005 Lehrstuhlleiter); lehrt zur Zeit an der Universität in Czestochowa; Gastprofessuren in Zürich (ETH), Mainz, Frankfurt am Main (Fritz Bauer Institut), Berlin (FU), Amiens, Hamburg, Franz Rosenzweig Professur in Kassel (2008), Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin 1994. Bücher: Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs (1972); Einführung in die Ästhetik Adornos (1979); Od Diltheya do Adorna. Studia z estetyki niemieckiej (1986); Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen (2004); Literatur- und Kulturtransfer als Politikum am Beispiel Volkspolens, (2006); Dreissig Silberlinge. Das Phänomen der Denunziation (2012).
JOHANNES PAUSE
TEXTUREN DER ZEIT ZUM WANDEL ÄSTHETISCHER ZEITKONZEPTE IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEGENWARTSLITERATUR
Seit den 1990er Jahren findet in der deutschsprachigen Literatur eine neue Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Zeit‘ statt. Ambitionierte und erfolgreiche Autoren wie Daniel Kehlmann, Helmut Krausser und Thomas Lehr inszenieren in ihren Werken fantastische Entgleisungen der Zeit, thematisieren den Wandel gesellschaftlicher Zeitstrukturen und reflektieren die spezifische Zeitlichkeit schriftlicher, bildlicher und digitaler Medien. Johannes Pause fragt nach den ästhetischen Konzepten, die diesen Erzähltexten zugrunde liegen, und analysiert ihre impliziten Bezugnahmen auf Werke klassisch-moderner und postmoderner Autoren. Herausgearbeitet wird ein literarästhetischer Paradigmenwechsel, der zentrale Zeitmotive ebenso betrifft wie die kulturelle und literarische Praxis des Erzählens. 2012. 350 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20738-0
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
HANSJÖRG BAY, WOLFGANG STRUCK (HG.)
LITERARISCHE ENTDECKUNGSREISEN VORFAHREN – NACHFAHRTEN – REVISIONEN
Ein Jahrhundert nachdem mit der ‚Eroberung‘ von Nord- und Südpol die Geschichte der klassischen Entdeckungsreisen einen Abschluss gefunden hat, ist diese Geschichte mit ihren mehr oder weniger bekannten Protagonisten zu einer der produktivsten Herausforderungen der Literatur, aber auch des Films geworden. Gerade im deutschsprachigen Raum haben in den letzten Jahren eine Reihe von Texten die Geschichten der großen Expeditionen neu erzählt und ihre Helden noch einmal auf den Weg geschickt. Der Band spürt dieser Produktivität nach und diskutiert das phantasmatische, politische und ästhetisch-mediale Verhältnis der aktuellen Reinszenierungen zu ihren Vorläufern aus der Hochphase der europäischen Expansion. 2012. 376 S. 35 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-20764-9
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Jean Paul
eine Biografie
Klappentext
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Michael Zaremba
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Vorschau
Michael Zaremba
Jean Paul Dichter und Philosoph
eine Biografie
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IS B N 978-3-412-20 9308- 0 | w w w. Boehl au -V erl ag .com
Richard Hamann (1879–1961) war einer der bedeutendsten deutschen Kunsthistoriker des 20. Jahrhuderts. er begründete das Marburger Bildarchiv und xxxx xxxxxx xxxxx x xxx xxxxxx Blindtext xxx Blindtext xxxx xxx xxxx xxxxxxx x zeitweiliger Vorsitzender des Kunsthistorikerverbandes. In den langen Jahren seiner Lehrtätigkeit von 1911 bis 1957 und in seinen zahlreichen Publikationen trat er stets energisch für die Durchsetzung einer leistungsbetonten Sachkultur ein und verwarf jedes gesellschaftliche Rangbewusstsein im Sinne personenkultischer Vorstellungen. Da er dieses Konzept selbst nach dem ende des Zweiten Weltkriegs in West- und Ostdeutschland vertrat, geriet er sehend zwischen die Fronten ► des Kalten Kriegs und wurde dement sprechend an den Rand gedrängt. Jost Hermand versucht, xxxx xxxxxx xxxxx x xxx
MICHAEL ZAREMBA
JEAN PAUL DICHTER UND PHILOSOPH EINE BIOGRAFIE
Am 21. März 2013 jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal: Jean Paul, 1763 in Wunsiedel geboren, 1825 in Bayreuth verstorben, war schon zu Lebzeiten einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Mehrfach wurde er zum »Lieblingsdichter der Deutschen« ausgerufen. Seine literarischen Werke fanden viele Bewunderer. Die Weimarer Klassiker Wieland und Herder zählten dazu, ebenso wie die Philosophen Fichte und Hegel. Auch nachfolgenden Dichtergenerationen galt er als großes Vorbild. Doch seine ausufernden Textlabyrinthe stießen bisweilen auch auf Kopfschütteln und Unverständnis. Als autodidaktisch gebildeter Literat und Philosoph stand Jean Paul als Solitär zwischen Weimarer Klassik und Romantik, zwischen Auf klärung und Idealismus. Michael Zaremba stellt das Leben und Wirken des freigeistigen und feinsinnigen Dichters und Denkers nach dem neuesten Forschungsstand kompetent und kurzweilig vor. Seine Biografie ist eine Einladung, diesen liebenswert versponnenen Romantiker und scharfzüngig spottenden Realisten (neu) kennen und schätzen zu lernen. 2012. 336 S. 20 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. | ISBN 978-3-412-20930-8
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THEO BUCK
GOETHES MONODRAMA „PROSERPINA“ EINE GESAMTDEUTUNG
Die Geschichte von Proserpina, die Pluto in die Unterwelt entführte, wo sie als Königin an seiner Seite um ihr irdisches Leben betrogen wurde, hat seit der Antike zahlreiche Künstler fasziniert. So auch Goethe, der ihr ein Monodrama gewidmet und dieses sogar zweimal selbst inszeniert hat. Dennoch wurde sein Werk von der Forschung bislang weitgehend ignoriert. Der bekannte Literaturwissenschaftler Theo Buck eröffnet mit der vorliegenden Gesamtdeutung einen einfühlsamen Zugang zu dem wenig bekannten Werk. Er macht deutlich, dass Goethe hier das Gelingen existenzieller Selbstbehauptung auf die Bühne hebt. Seine Proserpina führt aus ihrer tragischen Verzweiflung heraus einen engagierten Kampf um eine menschenwürdige Existenz. Damit zeichnet Goethe sie als beispielhafte Persönlichkeit und leidenden Menschen mit vorbildhaften Zügen. 2012. 115 S. 21 S/W-ABB. BR. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-20867-7
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Liter atur und Leben Neue Folge Eine Auswahl
Bd. 77 | Christian Neuhuber Lenz-Bilder
Bd. 71 | Gottfried W. Stix,
Bildlichkeit in Büchners
Herbert Zeman (Hg.)
Erzählung und ihre Rezeption in
Die gesuchte Mitte
der bildenden Kunst
Skizzen zur österreichischen
2009. 386 S.100 s/w- u. 23 farb. Abb.
Literatur- und Geistesgeschichte
Gb. mit SU. | ISBN 978-3-205-78380-0
2006. 402 S. Gb. | ISBN 978-3-205-77568-3 Bd. 78 | Rüdiger Görner Bd. 72 | Susanne Utsch
Die Pluralektik der Romantik
Sprachwechsel im Exil
S tudien zu einer epochalen Denk-
Die »linguistische Metamorphose«
und Darstellungsform
von Klaus Mann
2010. 302 S. Br. | ISBN 978-3-205-78528-6
2007. 431 S. 13 Faksimiles. Gb. ISBN 978-3-412-20054-1
Bd. 79 | Dietmar Scharmitzer Anastasius Grün (1806–1876)
Bd. 73 | Thomas Goetz
L eben und Werk
Poetik des Nachrufs
2010. 604 S. 13 s/w-Abb. Br.
Zur Kultur der Nekrologie
ISBN 978-3-205-78575-0
und zur Nachrufszene auf dem Theater
Bd. 80 | Carsten Scholz
2008. 281 S. Gb. | ISBN 978-3-205-77734-2
Der junge Hebbel Eine Mentalitätsgeschichte
Bd. 75 | Sabine Zelger
2011. 675 S. 29 s/w-Abb. auf Taf. Gb.
Das ist alles viel komplizierter,
ISBN 978-3-412-20820-2
Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische
Bd. 81 | Johann Georg Lughofer (Hg.)
Reflexionen aus Österreich
Thomas Bernhard
2009. XIII, 413 S. 23 s/w-Abb. Gb.
G esellschaftliche und politische
ISBN 978-3-205-78299-5
Bedeutung der Literatur 2012. 453 S. Gb. | ISBN 978-3-205-78811-9
Bd. 76 | Karl Müller, Hans Wagener (Hg.) Österreich 1918 und die Folgen Geschichte, Literatur, Theater und Film. Austria 1918 and the Aftermath. History, Literature, Theater, and Film 2009. 206 S.15 s/w-Abb. Br.
TC244
ISBN 978-3-205-78244-5
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