Literarische Herrschersakralität – Erzählen von Karl dem Großen: Rolandslied des Pfaffen Konrad – Strickers Karl der Große – Zürcher Buch vom heiligen Karl 9783110768541, 9783110768169

This study examines stagings of the rule of Charlemagne in Upper German chanson de geste adaptations of the twelfth to f

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German Pages 380 [382] Year 2022

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Danksagung
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Theoretische und methodische Grundlagen
III Literarische Herrschersakralität: Perspektiven auf das Erzählen von Karl dem Großen
IV Zusammenfassung
V Literaturverzeichnis
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Literarische Herrschersakralität – Erzählen von Karl dem Großen: Rolandslied des Pfaffen Konrad – Strickers Karl der Große – Zürcher Buch vom heiligen Karl
 9783110768541, 9783110768169

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Fridtjof Bigalke Literarische Herrschersakralität – Erzählen von Karl dem Großen

Literatur | Theorie | Geschichte

Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten

Band 26

Fridtjof Bigalke

Literarische Herrschersakralität – Erzählen von Karl dem Großen Rolandslied des Pfaffen Konrad – Strickers Karl der Große – Zürcher Buch vom heiligen Karl

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC 2060 „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ – 390726036.

ISBN 978-3-11-076816-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076854-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076857-2 ISSN 2363-7978 Library of Congress Control Number: 2021948831 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Karl empfängt – umgeben von seinen Zwölf Paladinen – das Schwert Durndart und das Horn Olifant. St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde, VadSlg Ms. 302, fol. II 3v. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2021 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen und für die Veröffentlichung geringfügig überarbeitet. Prof. Dr. Bruno Quast danke ich herzlich für seine Anregung und Betreuung der Untersuchung. Prof. Dr. Udo Friedrich bin ich dankbar für wertvolle Hinweise und die Übernahme des Zweitgutachtens. Den beiden Betreuern und Prof. Dr. Monika Schausten sei für die Aufnahme in die Reihe ‚Literatur – Theorie – Geschichte‘ und dem De Gruyter-Verlag, stellvertretend Robert Forke, für die kompetente Betreuung meiner Publikation gedankt. Meine Arbeit entstand maßgeblich im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ und hat von der produktiven interdisziplinären Atmosphäre und der Unterstützung der Drucklegung profitiert. Prof. Dr. Silvia Reuvekamp danke ich für Zuspruch und gewährte Freiräume – beides hat der Arbeit zum Abschluss verholfen. Aus dem Kreis meiner Weggefährten standen mir besonders Jan Matthias Hoffrogge und Konstantin Liebrand als Freunde und akademische Kollegen zur Seite. Vor allem danke ich Susanne Spreckelmeier, deren kritische Lektüre, konstruktive Hilfe und unermüdliche Anteilnahme zum Gelingen der Arbeit wesentlich beigetragen haben. Schließlich danke ich meinen Eltern und Schwiegereltern für ihre Unterstützung. Münster im September 2021

https://doi.org/10.1515/9783110768541-202

Fridtjof Bigalke

Inhaltsverzeichnis Danksagung

V

I

Einleitung

II 1 1.1 1.2 1.3 2

Theoretische und methodische Grundlagen 10 Textcorpus: Oberdeutsche Bearbeitungen des Karlsstoffs Das Rolandslied des Pfaffen Konrad 14 Strickers Karl der Große 19 Das Zürcher Buch vom heiligen Karl 24 Herrschersakralität untersuchen: Begriffsklärungen und methodisches Vorgehen 29 Herrschaft 31 Etymologie und formale Definition 31 Herrschaftssoziologische Perspektiven 32 Herrschaft als literarisches Paradigma 37 Herrschersakralität 44 Herrschaft und Charisma 48 Unterscheidungen: Sakralität und Heiligkeit 51 Heiligkeit erzählen 56 Erzählen von Heiligkeit als paradoxe Operation 57 Literarische Inszenierung von Heiligkeit 61 Zusammenfassung 64

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 3 III 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

1

10

Literarische Herrschersakralität: Perspektiven auf das Erzählen von Karl dem Großen 69 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung 69 wie er daz gotes rîche gewan: Heils- und Herrschaftsmethodik im Prolog des Rolandslieds 70 Der heilige Herrscher als Fürsprecher der Rezipienten: Zum Prolog des Strickerschen Karl 76 Zwischenergebnis 87 Genealogische Prädestination und gottgewollte Herrschaft 89 Genealogie – Karls Geburt und Herrschaftsnachfolge 90 Kollektives Gedächtnis statt karolingischer Genealogie (Chanson de Roland) 91 Pippins Sohn und seine göttliche Prädestination im Mutterleib (Rolandslied) 93 Genealogie, ‚göttliche Adoption‘ und ritterliche Bewährung (Strickers Karl) 95

VIII

2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6 6.1 6.2 6.3 6.4

Inhaltsverzeichnis

Chronikalische Vita und genealogische Prädestination (Buch vom heiligen Karl) 100 Zwischenergebnis 105 Karls Auftrag – Herrschaft, Heidenmission und Gewinn des ewigen Lebens 106 Herrscherlicher Missionswunsch als göttlicher Auftrag (Rolandslied) 107 Kaiserherrschaft und Heidenmission von Gottes Gnaden (Strickers Karl) 109 Karls Leben zum ‚Nutzen der Christenheit‘: Heilsgeschichte als Reichsgeschichte (Buch vom heiligen Karl) 115 Zwischenergebnis 121 Über Stiftung und Gefährdung von Gemeinschaft: Beziehungsdynamiken zwischen Herrscher und Kollektiv 123 Konstitution und Legitimation von Herrschaft durch ‚Einmütigkeit‘ 124 Charismatische Herrschaft als konsensuale Herrschaft? Kollektive Einmütigkeit durch individuelle Desintegration 139 Zwischenergebnis 161 Karl ist der tiureste man: Herrscherliche Geltung in figuraler Wahrnehmung und Rede 165 Der Christenherrscher im ‚innerheidnischen‘ Diskurs 167 Kaiserliche Epiphanie und heidnische Hypokrisie 170 Christliche Deutungshoheit im interreligiösen Karlsdiskurs 189 Zwischenergebnis 209 Karls unsägliche Sünde im Spannungsfeld von Stigma und Charisma 212 Sünde, Stigma und Charisma 214 Die unsägliche Sünde und ihre himmlische Vergebung in der Kaiserchronik 216 Herrscherliche Selbststigmatisierung I (Rolandslied) 222 Herrscherliche Selbststigmatisierung II (Strickers Karl) 225 Der Herrscher als heiliger Sünder im Buch vom heiligen Karl 230 Zwischenergebnis 242 Passio cordis: Karls heiligendes Leiden 245 Grundlagen der Passion: Das Herz des Charismatikers 248 Passionskommunikation: Inkorporation von Leid und kollektive compassio 255 Aushandlungen von Herzenspassion und Herrscherpflicht I: Exorbitante Trauer und kollektive Erlösung 263 Aushandlungen von Herzenspassion und Herrscherpflicht II: Persönliche Heiligung durch herrscherliche Desintegration 272

Inhaltsverzeichnis

6.5 6.6 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Verstetigung und Regulation von Heiligkeit 284 Zwischenergebnis 294 Vom heiligen Krieg zur heiligen Vita: Erzählen von Karl zwischen Paradigma und Syntagma 298 Paradigmatisches Erzählen von Karl (Chanson de Roland) 302 Syntagmatisches Erzählen von Karl (Rolandslied) 305 Die Herrschervita als Makrosyntagma (Strickers Karl) 307 Karls Heiligenvita (Buch vom heiligen Karl) 311 Zwischenergebnis 333

IV

Zusammenfassung

V

Literaturverzeichnis

339 351

IX

I Einleitung Memor esto ergo semper, rex mi, Dei regis tui cum timore et amore, quod tu es in vice illius super omnia membra eius custodire et regere, et rationem reddere in die iudicii, etiam per te.1

Karl der Große wird im Jahre 768 König der Franken und im Jahre 800 in Rom zum Kaiser gekrönt, ist zu Lebzeiten bedeutender und im Urteil der Nachwelt bedeutendster Herrscher des europäischen Mittelalters.2 Gut 350 Jahre nach seinem Tod wird er 1165 auf Betreiben Friedrichs I. unter dem Gegenpapst Paschalis III. heiliggesprochen – Karl ist nun kanonisierter Herrscherheiliger oder heiliger Herrscher. Dies ist ein Reflex der Auseinandersetzung mit seiner Person, welche das gesamte Mittelalter über anhält und nahezu alle Bereiche des geistlichen und weltlichen Lebens erfasst: Karl ist als Statue an Rathäusern und Kirchen präsent (als einer der ‚Neun guten Helden‘), wird im Karlskult liturgisch gefeiert (so beispielsweise ab 1215 in Aachen und ab 1233 in Zürich), gilt als Gründer von Kirchen, Bistümern und Schulen, als Rechtsbringer, als idealer Herrscher und Mehrer des Reiches, als Missionar und Propagator des Christentums. Weiterhin verankern die mittelalterliche Geschichtsschreibung (Annalistik, Chronistik) und biographische Porträts (z. B. Einhards Vita Karoli Magni) den Frankenherrscher im kollektiven – sowohl kommunikativen als auch kulturellen – Gedächtnis. Auch floriert im damaligen politischen Diskurs die Strategie, sich als Nachfolger Karls zu inszenieren und darüber Herrschaftsansprüche – nicht zuletzt die Begründung der ‚römisch-deutschen‘ Kaiserherrschaft – zu legitimieren.3 Diese breite, beinahe ubiquitäre Wirkung in verschiedenste Gebiete, die auf je eigene Weise mit der Herrscher- und Heiligengestalt umgehen, macht es schwierig, den historischen Karl und das mittelalterliche Karlsbild freizulegen. Karl ist als „Projektionsfigur“4 verdeckt von Schichten 1 Der Kleriker Cathwulf richtet in einem Brief an Karl den Großen im Jahre 775 die zitierten Worte, die den Herrscher als ersten Stellvertreter Gottes auf Erden an seine bedeutende Aufgabe erinnern: „Denke also stets, mein König, mit Furcht und Liebe an Deinen Gott und König; denn Du wachst als sein Stellvertreter über all seine Glieder, lenkst diese und legst [darüber] am Tag des Gerichts Rechenschaft ab und zwar auch durch Dich (= Dein Wirken)“ (Übersetzung F. B.). Das Zitat findet sich in den Epistolae variorum Carolo magno regnante scriptae. Hrsg. von Ernst Dümmler. In: Epistolae Karolini aevi. Bd. 2. Berlin 1895 (MGH Epistolae. 4), S. 503. 2 „Unter den Herrschern des Mittelalters stellt Karl der Große zweifellos die bedeutendste und wirkungsmächtigste Figur dar“, so eröffnet Geith seinen Beitrag zum Karlsbild (Karl-Ernst Geith: Karl der Große. In: Herrscher, Helden, Heilige. Hrsg. von Ulrich Müller, Werner Wunderlich. St. Gallen 1996 [Mittelalter-Mythen. 1], S. 87). 3 Vgl. für den unterschiedlichen jeweils von politischen und religiösen Interessen geleiteten Umgang mit Karl dem Großen im ‚deutschen Reich‘ und im ‚französischen Königtum‘ die Skizze bei Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. In: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte. Hrsg. von ders. Sigmaringen 1994 (Schriften des Historischen Museums. 19), S. 9–21, bes. S. 13–17. 4 Saurma-Jeltsch, Karl der Große als vielberufener Vorfahr, S. 10. „Keine andere Figur der abendländischen Geschichte scheint ein derart breites Angebot unterschiedlicher Projektionen zur Verfühttps://doi.org/10.1515/9783110768541-001

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I Einleitung

der Zuschreibung und Inanspruchnahme der Nachlebenden: „Schreiben über Karl den Großen heißt auch immer Schreiben über sich selbst und seine eigene Zeit.“5 Für die mediävistische Forschung bedeutet dies eine besondere Herausforderung im Umgang mit der Gestalt Karls des Großen und ihrer möglichst objektiven Profilierung. Und so hält die Beschäftigung mit Karl bis heute an, wovon die in zeitlicher Nähe zum Jubiläum anlässlich seines 1200. Todestages im Jahre 2014 entstandene Fülle der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Literatur verschiedener Disziplinen Zeugnis ablegt.6 Noch in der gegenwärtigen Diskussion um Europa als gefährdete Werte- und Solidargemeinschaft begegnet Karl, den das frühmittelalterliche Paderborner Epos preisend als pater Europe tituliert.7

gung gestellt zu haben wie Karl der Große“ (ebd., S. 10). Eine Übersicht über Karlsbilder und ihre Tradierung bietet auch František Graus: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln/Wien 1975, bes. S. 182–198. 5 Karl Ubl: Karl der Große und die Rückkehr des Gottesstaates. Narrative der Heroisierung für das Jahr 2014. In: Historische Zeitschrift 301 (2015), S. 374–390, hier S. 387. 6 Ubl (Karl der Große und die Rückkehr des Gottesstaates) unterzieht eine Auswahl der im Folgenden genannten Beiträge einer kritischen Betrachtung mit Blick auf „Narrative der Heroisierung für das Jahr 2014“ und skizziert damit Konturen eines zeitgenössischen Karlsbildes. Vgl. u. a. Franz Fuchs, Dorothea Klein (Hrsg.): Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Akten eines interdisziplinären Symposions anlässlich des 1200. Todestages Kaiser Karls des Großen. Würzburg 2015 (Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte. 1); Wilfried Hartmann: Karl der Große. Stuttgart 2015 (Kohlhammer Urban-Taschenbücher. 643); Gabriele Mendelssohn (Hrsg.): Dem Kaiser auf der Spur. 1200 Jahre Karl der Große und Ingelheim. Ingelheim 2014; Bernhard Pinsker, Annette Zeeb (Bearb.): Karl der Große. 1200 Jahre Mythos und Wirklichkeit. Hrsg. vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Petersberg 2014; Sabine Haag (Hrsg.): Väter Europas. Augustus und Karl der Große. Eine Kabinettausstellung des Kunsthistorischen Museums, 27. Mai bis 21. September 2014. Wien 2014; Frank Pohle (Hrsg.): Karl der Große, Charlemagne. Orte der Macht. Essays. Dresden 2014; Barbara Segelken (Hrsg.): Kaiser und Kalifen. Karl der Große und die Mächte am Mittelmeer um 800. Darmstadt 2014; Martina Hartmann, Wilfried Hartmann: Karl der Große und seine Zeit. Die 101 wichtigsten Fragen. München 2014 (Beck’sche Reihe. 7040); Matthias Becher: Karl der Große. 6. Aufl. München 2014 (Beck’sche Reihe. 2120); Steffen Patzold: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard. 2. Aufl. Stuttgart 2014; Horst Bredekamp: Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers. Eine Studie zum schematischen Bildakt. Berlin 2014 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek. 86); Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. 4. Aufl. München 2014. Auch nach dem Jubiläum reißt die Beschäftigung mit Karl nicht ab – vgl. exemplarisch Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa. Darmstadt 2020; Steffen Patzold: Wie regierte Karl der Große? Listen und Politik in der frühen Karolingerzeit. Köln 2020. 7 Das Paderborner Epos oder Aachener Karlsepos (um 800) verarbeitet als panegyrisches Gedicht das Treffen Karls des Großen und Papst Leos III. in Paderborn im Jahre 799. Zugrunde liegt dem Zitat pater Europe die Ausgabe De Karolo rege et Leone Papa. Hrsg. u. übers. von Franz Brunhölzl. Paderborn 1999 (Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte. 36, Beiheft), S. 44 [94], V. 504 (Karl wird auch als ‚Leuchtturm Europas‘ bezeichnet: Europae quo celsa pharus cum luce coruscat [ebd., S. 10 [60], V. 12). Vgl. zum Zusammenhang von Karl dem Großen und Europa aus Sicht der germanistischen Mediävistik Bruno Quast: Bedrohte Christenheit. Über Ikonologie im Rolandslied

I Einleitung

3

Nun verwundert es nicht, dass die Karlsfigur auch in die mittelalterliche Literatur Eingang gefunden hat und dort in spezifischer Weise dargestellt wird. Als besonders populär erweist sich in diesem Zusammenhang die Verarbeitung eines historischen Ereignisses, nämlich der „einzige[n] in historiographischen Quellen dokumentierte[n] Niederlage Karls des Großen bei einer militärischen Auseinandersetzung“.8 Dass ausgerechnet eine Niederlage den Stoff zu einer Erhöhung und Popularisierung Karls liefern soll, erscheint auf den ersten Blick paradox, doch die spätere Ausgestaltung und religionspolitische Aufladung des Ereignisses transformiert die Niederlage zum Auftakt für einen gewaltigen Sieg: Nach einem wenig erfolgreichen Zug in das muslimische Spanien wird am 15. August 778 die Nachhut seines Heerzugs unter der Führung des bretonischen Markgrafen Hruotland (Roland) in den Pyrenäen von Basken angegriffen und besiegt.9 Etwa 300 Jahre später berichtet die sog. Nota Emilianense (um 1075) das Ereignis so: At ubi exercitum portum de Sicera transiret, in Rozaballes a gentibus Sarrazenorum fuit Rodlane occiso.10

des Pfaffen Konrad. In: Europa gibt es doch ... Krisendiskurse im Blick der Literatur. Hrsg. von Florian Kläger, Martina Wagner-Egelhaaf. Paderborn 2016, S. 29–41, bes. S. 29–31. Ein prominentes Beispiel – das auch Ubl (Karl der Große und die Rückkehr des Gottesstaates, S. 376) anführt – für die institutionalisierte Rezeption Karls des Großen als europäische Gründerund Integrationsfigur ist der ‚Internationale Karlspreis zu Aachen‘, dessen jährlich verliehene Medaille den thronenden Karl mit der Titulierung Karolus Magnus Romanorum Imperator Augustus zeigt. Der Preis wird verliehen „an Persönlichkeiten oder Gremien, die sich durch hervorragende Leistungen in politischer, wirtschaftlicher oder geistiger Beziehung für die Einheit Europas oder den Zusammenschluss seiner Staaten auszeichnen“ (Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen: Satzung der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen e.V. vom 4. Dezember 1987 [Auszug] [http://www.karlspreis.de/de/der-karlspreis/dokumente/satzung-der-ge sellschaft-fuer-die-verleihung-des-internationalen-karlspreises-zu-aachen-ev-vom-4-dezember1987-auszug, Zugriff: 13.12.2020]), und damit als ideelle Nachfolger Karls des Großen erscheinen. 8 Helmut Brall-Tuchel: Das Herz des Königs. Karl der Große, Roland und die Schlacht von Roncesvalles in den Pyrenäen am 15. August 778. In: Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung. Hrsg. von Gerd Krumeich, Susanne Brandt. Köln u. a. 2003 (Europäische Geschichtsdarstellungen. 2), S. 33. Vgl. für Karls ‚Heidenkrieg‘ in Spanien mit weiteren Literaturhinweisen Wilfried Hartmann: Heidenkrieg bei Karl dem Großen? In: Friedensethik im frühen Mittelalter. Theologie zwischen Kritik und Legitimation von Gewalt. Hrsg. von Gerhard Beestermöller. Münster 2014 (Studien zur Friedensethik. 46), S. 149–174. 9 So spricht Einhard von den Wascones (Basken) und ihrer Hinterhältigkeit (Wasconica[] perfidia[]) bei dem Überfall auf das durch die schwierigen topographischen Bedingungen benachteiligte Frankenheer (loci et angustiarum situs) und erwähnt den Tod Rolands (Einhardi Vita Karoli Magni. Hrsg. von Oswald Holder-Egger. 6. Aufl. Hannover 1911 [MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi. 25], siehe für die Zitate S. 12, Z. 1–26). Die militärische Niederlage wird so erklärt und einer schmählichen Diskreditierung des Kriegsgeschicks Karls vorgebeugt. Einen kompakten Überblick über die Überlieferung des Ereignisses, seine unterschiedliche Behandlung in den historischen Quellen und literarischen Verarbeitungen bietet Brall-Tuchel, Das Herz des Königs, S. 33–62. 10 „Aber als das Heer den Cisapass überschritt, wurde Roland in Roncesvalles von den sarazenischen Heiden getötet“ (Übersetzung F. B.). Lateinischer Text nach Erich von Richthofen: Théorie de la genèse du ‚Roland‘ confirmée par l’analogie de celle du ‚Cid‘. In: La chanson de geste et le mythe

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I Einleitung

Es handelt sich nun nicht mehr, wie bei Einhard und in den Reichsannalen, um Basken, sondern um (muslimische) Sarazenen, die für den Tod Rolands verantwortlich gemacht werden – der Konflikt wird zur religiösen Frontstellung zwischen Christen und ‚Heiden‘ aufgebaut.11 Die altfranzösische Chanson de Roland (um 1100) formt den Stoff zu monumentalen Schlachten zwischen Christen und Heiden in Roncesvalles, erklärt die Niederlage der Christen um Roland mit einer Verratshandlung des Genelun, inszeniert Karl als siegreiche Herrscher- und Gründerfigur, zelebriert das Ritterideal des miles Christianus und prägt die Formel von la douce France, vom ‚süßen Frankreich‘. Der Spanienfeldzug Karls, die Schlacht in Roncesvalles, Rolands Tod, die anschließende Racheschlacht unter der Führung Karls und die Hinrichtung des Verräters Genelun bilden den Kern der Erzählung. Die Chanson de Roland wird vom Pfaffen Konrad um 1170/1185 ins Mittelhochdeutsche übertragen und dabei nicht nur formal, sondern auch inhaltlich umgestaltet. Sein Rolandslied ist Ausgangspunkt für eine volkssprachliche Tradition von Karls-Erzählungen, die den Spanienfeldzug und die Roncesvalles-Episode fokussieren und die Karlsfigur unterschiedlich inszenieren. Im oberdeutschen Raum bearbeitet im 13. Jahrhundert der Stricker mit seinem Karl (zwischen 1215/1220 und 1233) das Rolandslied des Pfaffen Konrad und das Zürcher Buch vom heiligen Karl aus dem Jahre 1475 hat schließlich, neben weiteren, auch die beiden vorgenannten Texte zur Vorlage. Diese Erzählungen aktualisieren den Karlsstoff jeweils unter sich wandelnden historischen, politischen und literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen. So hat sich die oben bereits erwähnte Heiligsprechung Karls im Jahre 1165 auf die literarische Darstellung ausgewirkt und Bedingungen wie Formen des Sprechens über Karl verändert: Die Chanson de Roland zeichnet – unter dem Eindruck der beginnenden Kreuzzüge – eine Karlsfigur vor der Kanonisierung, der Pfaffe Konrad bearbeitet den Karlsstoff in zeitlicher Nähe zur Heiligsprechung, der Stricker wiederum kann in seiner an den zeitgenössischen höfischen Geschmack angepassten Bearbeitung des Rolandslieds sicher vom kanonisierten sande Karle sprechen. Das Buch vom heiligen Karl des 15. Jahrhunderts schließlich entwirft einen unstrittig heiligen Karl mit Bezügen zur Zürcher Lokaltradition eines Karlskultes. Freilich entwickeln und diskutieren die Texte spezifisch literarische Konzepte von Heiligkeit, die nicht zwingend an die kirchliche Kanonisierung eines heiligen Karl gebunden sind.

carolingien. Mélanges René Louis. Publ. par ses collègues, ses amis et ses élèves à l’occasion de son 75e anniversaire. Bd. 1. Saint-Père-sous-Vézelay 1982, S. 379. 11 Für die Verwendung des Begriffs ‚Heiden‘ halte ich mich an Armin Schulz: „Ich spreche hier und insgesamt nicht von Muslimen, weil die abendländischen Erzählungen des Mittelalters den Monotheismus der ‚Konkurrenz‘ nicht wahrhaben wollen. In ihnen erscheint Mohammed nicht als Prophet des einen Gottes, sondern als ein Hauptgott von dreien in einer falschen Dreieinigkeit, zu der noch die Götter Apoll (oder Jupiter) und Tervigant gehören, flankiert von Tausenden von Nebengöttern“ (ders., Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausg. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller. 2., durchges. Aufl. Berlin/Boston 2015, S. 80, Anm. 7).

I Einleitung

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Karl der Große ist damit auch Gegenstand der Literaturwissenschaft. Die germanistische Mediävistik kann – anders als die Geschichtswissenschaft – bei der Untersuchung literarischer Karlsbilder Fragen danach, ob die Charakterisierungen Karls zutreffen, Tatbestände und Zuschreibungen ‚wahr‘ oder Chronologien historisch korrekt sind, als nachrangig einstufen. Doch können die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen nach der Herrschaftspraxis Karls des Großen, nach seiner Sakralität oder seiner – ab 1165 kanonisierten – Heiligkeit Perspektiven für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Karlsfigur eröffnen und erkenntnisleitende Impulse geben. Die vorliegende Arbeit macht sich dies zunutze und fragt nach der literarischen Inszenierung der Herrschaft und Sakralität Karls des Großen anhand spezifischer Ausformungen von Herrschersakralität. Diese meint Konfigurationen herrscherlicher Praxis und Legitimation in ihrer Kombination mit einer sakralen Auszeichnung und religiösen Funktion. Grundlegend für die folgenden Überlegungen zur Herrschersakralität ist die Annahme, dass Karls Verhältnis zu Gott das Verhältnis zu seinen Beherrschten beeinflusst und in der Folge eine wechselseitige dynamische Beziehung zwischen beiden Interaktionsbereichen besteht – man denke an das Eingangszitat von Cathwulf. Die Vermittlungen zwischen Transzendenz und Immanenz bestimmen damit die Ausrichtung sozialer Interaktion in der Immanenz sowie die Ausrichtung immanenten Handelns auf Transzendenz. Zugleich können Sakralisierungen durch Konzepte wie ‚Askese‘, ‚Passion‘, ‚Heimlichkeit‘ mit Herrschaftsanforderungen wie z. B. ‚Präsenz‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚Politik‘, ‚Kampf‘ in Spannung geraten. Ebendiese komplexen Spannungsfelder einer herrscherlichen Sakralität oder einer sakralen Herrscherlichkeit Karls des Großen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen sollen, loten die ausgewählten Texte aus. Es sollen unter Einbeziehung sakraler Merkmale und Zuschreibungen die Modelle von Herrschaft untersucht werden, welche die oben erwähnten Texte – das Rolandslied, Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl – für die Karlsfigur entwerfen. Zu fragen ist, welche Verbindungen zwischen Herrschaft und Sakralität zu ermitteln sind und welche Funktionen sie aufweisen. Welches Verhältnis wird zwischen Karl und Gott inszeniert? Ist Karls Herrschaft ein Modus der (Heils-)Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz? Liegt die sakrale Legitimation von Karls Herrschaft in seiner persönlichen Heiligkeit begründet? Fragen nach dem Wandel des Erzählens von Karl unter Berücksichtigung der Gattung sowie prä- und intertextueller Verhältnisse zielen auf die Inszenierung und Transformation herrscherlicher Sakralität bzw. kanonisierter Herrscherheiligkeit in der in Rede stehenden literarischen Traditionsreihe. Zunächst führt Kapitel II.1 in das Verhältnis der deutschen Chanson de gesteBearbeitungen zu ihren altfranzösischen Prätexten ein und nimmt eine räumliche und zeitliche Verortung des zu behandelnden Textcorpus auf dem Feld der Chanson de geste vor. Daraufhin werden die Texte jeweils mit einem auf die Fragestellung der Arbeit zugeschnittenen Referat der Forschungslage vorgestellt: Am Anfang steht das Rolandslied des Pfaffen Konrad (1170/1185) als erste mittelhochdeutsche Bearbeitung der altfranzösischen Chanson de Roland (um 1100), die als Prätext

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I Einleitung

gezielt zum Vergleich herangezogen, jedoch nicht durchgängig eigens untersucht werden wird. Dann folgen Strickers Karl der Große (zwischen 1215/1220 und 1233) als Bearbeitung des Rolandslieds des Pfaffen Konrad und schließlich das Zürcher Buch vom heiligen Karl (1475), das als Prosa neben weiteren lateinischen und volkssprachlichen Quellen sowohl das Rolandslied als auch Strickers Karl kompilierend bearbeitet. Kapitel II.2 legt im Anschluss an aktuelle Forschungsdiskussionen zu Karl, seiner Herrschaft und Sakralität sowie den Bearbeitungstendenzen, die sich vom Rolandslied bis zum Buch vom heiligen Karl ergeben, die theoretischen und methodischen Grundlagen für die Analyse der literarischen Inszenierungen einer Herrschersakralität der Karlsfigur. Es wird sich als geboten erweisen, ‚Herrschaft‘ und ‚Sakralität‘ zu definieren und dabei in interdisziplinärem Zugriff geschichtswissenschaftliche, theologische, soziologische, herrschafts- und religionssoziologische Zugänge mit ausgewählten Ansätzen der germanistischen Mediävistik zum Erzählen von Heiligkeit zu kombinieren, um schließlich ein Instrumentarium zur Analyse literarischer Herrschersakralität zu gewinnen. Damit wird das Feld für die Untersuchung der literarischen Inszenierungen von Herrschersakralität Karls des Großen bereitet, die Kapitel III vornimmt. Die Einzelkapitel orientieren sich zumeist am linearen Aufbau der Texte, beginnend mit dem Prolog und schließend mit dem Epilog. Die Erzählungen werden so abgeschritten und Schlüsselstellen der Inszenierung von Herrschaft und Sakralität der Karlsfigur im close reading behandelt, wobei übergreifende Themen gebündelt und jenseits ihrer linearen Aufbereitung innerhalb der Texte besprochen werden. Eine vollständige Erfassung und Auswertung aller Karl betreffenden Textpassagen im Corpus kann und möchte die Arbeit nicht leisten. Um neben einer intratextuellen Perspektive auf die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen eine inter- bzw. prätextuelle Vergleichsperspektive zu eröffnen, wird der Fokus auf jene Passagen gelegt, die in allen Texten abgebildet werden. Dadurch steht der Spanienfeldzug Karls innerhalb der Narration im Vordergrund. Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl produzieren jedoch Überschüsse gegenüber dem Rolandslied, die ebenfalls zu untersuchen sind. Im Hintergrund und zugleich zur Diskussion steht dabei die These, dass der Stricker einen „Um- und Ausbau des ‚Rolandsliedes‘ zur hagiographischen Vita“ vollzieht.12 Diese „Art poetische[] Vita“ präfiguriere jene sowohl in Frankreich als auch in 12 Dorothea Klein: Strickers ‚Karl der Große‘ oder die Rückkehr zur geistlichen Verbindlichkeit. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle. Berlin 1998 (Wolfram-Studien. XV), S. 299–323, hier S. 323. Vgl. zur kritischen Diskussion von Klein u. a. Elke Ukena-Best: Du solt ouch hin ze Spanje varn: got wil dich dâ mit êren. Providentia Dei, Herrschertum und poetische Konzeption im ‚Karl‘ des Stricker mit Blick auf das althochdeutsche ‚Ludwigslied‘. In: Leuvense Bijdragen 89 (2000), bes. S. 330 (mit dem Hinweis auf das Fehlen der für eine Vita konstitutiven hagiographischen Elemente) und Gerhard Wolf: ‚Sante Karle‘, das Wesen der ‚list‘ und die Wirkung der ‚natûre‘: Hybride Formen in der Rolandslied-Bearbeitung des Strickers. In: Vir ingenio mirandus. Studies presented to John L. Flood. Hrsg. von William J. Jones, William A. Kelly, Frank Shaw. Bd. 1. Göppingen 2003 (GAG. 710), S. 93 u. 109.

I Einleitung

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Deutschland sich dominant ausbildende Form der Bearbeitung des Karlsstoffs.13 Da diese Deutungen die gesamte Anlage der Texte betreffen, werden sie wiederholt aufgegriffen und im letzten Kapitel (III.7) abschließend diskutiert. Den Kern der vorliegenden Arbeit bilden die Analysekapitel III.1–III.7, die im Folgenden genauer vorgestellt werden sollen. Kapitel III.1 widmet sich den Prologen des Rolandslieds des Pfaffen Konrad und des Strickerschen Karl, indem es Erzählen von Karl als Heilsvermittlung profiliert und die Grundlegung der Themen ‚Herrschaft‘ und ‚Sakralität‘ im Prolog sowie daraus resultierende Deutungsperspektiven für die Narration aufzeigt. Zudem wird das Selbstverständnis der Erzählungen aufgedeckt, eine Funktionsbestimmung des Erzählens von Karl vorgenommen und so die von den Texten intendierte Rezeption angerissen. Kapitel III.2 untersucht Darstellungen der Prädestination Karls, die seine Geburt und sein Wirken als Erfüllung eines göttlichen Heilsplans erscheinen lassen. Dabei werden Großeltern- und Elterngeschichten sowie Geburts-, Kindheits- und Jugenderzählungen ebenso in den Blick genommen (III.2.1) wie die von einem Engel übermittelte göttliche Botschaft, die Karls Werdegang als Herrscher und seinen Spanienfeldzug determiniert (III.2.2): Es geht somit um die Frage nach der Setzung eines Anfangs von Karls Heiligkeit und um die Begründung seiner sakralen Herrschaft von Gottes Gnaden, d. h. um Strategien der Herrschaftslegitimation aus transzendenter und irdisch-genealogischer Quelle. Kapitel III.3 widmet sich den Beziehungen zwischen Karl und seinem Kollektiv, denn das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten ist ein Spiegel der Herrschaftspraxis, der Passung herrscherlichen Legitimitätsanspruchs und des dem Herrscher entgegengebrachten Legitimitätsglaubens bzw. -einverständnisses. Karls Aufruf zum Kreuzzug, seine Rolle als Vermittler zwischen göttlich-transzendenter Weisung und irdisch-immanenter Umsetzung sowie die Bindung an seine Zwölf Paladine stehen im Zentrum der Analyse des ersten Teilkapitels III.3.1. Mit dem Begriff ‚Einmütigkeit‘, den die Texte sprachlich reflektieren und der als Konzept im Hintergrund der Darstellung zu stehen scheint, wird die Kohäsion des Herrschaftsverbands als kollektiv getragenes Wollen und an einer christlichen Axiologie ausgerichtetes Streben beschrieben. Einmütigkeit wird sich als konstitutiv für das Funktionieren von Karls Herrschaft erweisen. Ihre Irritation durch die Konflikte in der Ratsversammlung wird, wie das zweite Teilkapitel III.3.2 zeigt, als Herausforderung oder gar Gefährdung seiner herrscherlichen Autorität aufscheinen. Kapitel III.4 untersucht dann einen literarisch inszenierten Karlsdiskurs, der die herrscherliche Geltung verhandelt und intrareligiös von Heiden und Christen sowie in interreligiöser Auseinandersetzung geführt wird. Zunächst wird der ‚innerheidnische‘ Karlsdiskurs nachgezeichnet (III.4.1) und in einem zweiten Schritt mit der Hof- bzw. Heerlagerszene konfrontiert (III.4.2), die einen strahlenden 13 Bernd Bastert: Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“: Unterschiede in Konzeption und Überlieferung. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Bettina Bildhauer, Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young. Tübingen 2003, S. 97.

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Herrscher im Zentrum seines Gefolges zeigt. Neben performative Aspekte des herrscherlichen Handelns treten hier auch deskriptive, die Karl in Erzählerrede und fokalisiert in figuraler Wahrnehmung charakterisieren, seine sakrale Herrschaft und persönliche Heiligkeit beleuchten und ihre Geltung reflektieren. In einem letzten Schritt (III.4.3) stellt die interreligiöse Kommunikation über Karl und seine Herrschaft den heidnischen und den dominanten christlichen Karlsdiskurs gegenüber. Dabei werden die der Immanenz verpflichteten heidnischen Erklärungen von Karls herrscherlicher Legitimation christlich ‚korrigiert‘ und dieses diskursive Wissen über den Herrscher unter anderem über Tugendkataloge verbindlich gemacht. Es wird sich zeigen, dass die religionsspezifische Geltung des Karlsdiskurses nicht nur sprechend, sondern auch mit dem Schwert kämpfend behauptet wird. Kapitel III.5 behandelt Karls Sünden, die in allen Texten des Corpus zum Thema gemacht, dabei aber unterschiedlich erzählt und gedeutet werden. Im Anschluss an die soziologische Stigma-Charisma-Theorie nach Wolfgang Lipp werden die Sünden des Herrschers als Makel, als Stigma aufgefasst, die performativ in Auszeichnungen bzw. gnadenhafte Merkmale, in ein Charisma transformiert werden – Sündhaftigkeit kann so als Katalysator von herrscherlicher Sakralität und persönlicher Heiligkeit verstanden werden. Dies wird besonders die ausschweifende und gegenüber dem Rolandslied und Strickers Karl vor dem Spanienfeldzug eingefügte Sündenepisode im Buch vom heiligen Karl vor Augen führen, die einen Todsünden begehenden, doch niemals aus göttlicher Gnade fallenden Herrscher zeigt. Die differenten Bearbeitungen der herrscherlichen Sünden reflektieren dabei unterschiedliche Strategien, von Herrschersakralität zu erzählen. Kapitel III.6 nimmt dann den Leidensweg Karls in den Blick, der sich auf einer psychisch-emotionalen Ebene als ‚Herzenspassion‘ (passio cordis) gestaltet. Das Herz des Herrschers wird vom Erzähler ausgeleuchtet und es werden von Leid, Trauer und Schmerz geprägte (com)passionale Konfigurationen geboten, die Karls Klage um die gefallenen Christen und im Besonderen um Roland strukturieren: In der Exorbitanz der Trauer Karls, die unter anderem in einer Pietà-Figuration avant la lettre ausgedrückt wird, werden herrscherliche wie religiös-asketische Anforderungen der charismatischen Karlsfigur konfrontiert und so die Problematik der Verbindung von individueller heiligender Auszeichnung auf der einen und kollektiver Herrscherverpflichtung auf der anderen Seite verhandelt. Die Institutionalisierung der Heiligkeit und der Memoria der Märtyrer in Roncesvalles sowie die Nachwirkung der Trauererfahrungen auf Karls Verhältnis zu Gott und zu seinem Gefolge erweitern den Blick auf seine Herzenspassion jenseits des Glaubenskampfes. Schließlich widmet sich Kapitel III.7 der Anlage der einzelnen Texte des Corpus und beschreibt vergleichend ihren Gesamtaufbau sowie die grundlegenden syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen der Erzählungen. Besonders im Fokus steht dabei das Buch vom heiligen Karl, das gegenüber den anderen Bearbeitungen einen deutlichen Materialüberschuss aufweist. Auf diese Weise werden kompositorisch-narratologische und generische Perspektiven auf das Erzählen von Karls Herrschersakralität in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen eröffnet. Leitend ist die These, dass ein auf den Spa-

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nienfeldzug konzentriertes Erzählen überführt wird in ein auf die Figur Karls des Großen konzentriertes Erzählen, sodass sich die Figur vom historischen Ereignis emanzipiert und selbst als strukturbildendes Erzählzentrum erscheint. Eine Zusammenfassung (IV.) resümiert den Argumentationsgang und die Ergebnisse des theoretisch-methodischen Grundlagenkapitels sowie der einzelnen Analysekapitel. Dabei sollen neben allgemeinen Bearbeitungstendenzen auch Merkmale und Unterschiede zwischen den verschiedenen oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen zur Sprache kommen, denn es ist dezidiertes Anliegen der Arbeit, literarische Verfahren des Erzählens von Herrschersakralität über ein close reading jenseits summarischer Bilanzen zu profilieren. Schließlich ist im Zuge einer Gesamtschau der Ergebnisse auch das erkenntnisstiftende Potential des Konzepts ‚Herrschersakralität‘ einzuschätzen. Die vorliegende Arbeit möchte zum einen zur Erforschung des Rolandslieds und des Strickerschen Karl beitragen und im Besonderen zur weiteren Beschäftigung mit dem bisher wenig erforschten Buch vom heiligen Karl anregen. Zum anderen hofft sie, mit der Erprobung des Konzepts ‚Herrschersakralität‘ das methodisch-theoretische Instrumentarium zur literaturwissenschaftlichen Erforschung von ‚Herrschaft‘, ‚Sakralität‘ und ‚Heiligkeit‘ bereichern zu können.

II Theoretische und methodische Grundlagen Im Folgenden soll in einem ersten Schritt (II.1) das Textcorpus vorgestellt werden, indem eine Standortbestimmung der oberdeutschen Bearbeitungen des Karlsstoffs vorgenommen wird und die Texte – das Rolandslied des Pfaffen Konrad, Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl – sowie die korrespondierende germanistischmediävistische Forschung, im Besonderen zur Karlsfigur, besprochen werden. In einem zweiten Schritt (II.2) soll im Anschluss an einschlägige Forschungsbeiträge zur literarischen Darstellung der Karlsfigur erarbeitet werden, was in der vorliegenden Arbeit unter ‚Herrschaft‘, ‚Sakralität‘ und schließlich ‚Herrschersakralität‘ zu verstehen ist. Diese definitorischen Bemühungen erscheinen geboten, um den Untersuchungsgegenstand bestimmen und eine terminologisch möglichst klare Beschreibungssprache gewährleisten zu können. Eine Zusammenfassung (II.3) bündelt die theoretischen und methodischen Überlegungen und benennt abschließend Untersuchungsperspektiven, die für die Analyse der literarischen Inszenierung von Herrschersakralität leitend sind.

1 Textcorpus: Oberdeutsche Bearbeitungen des Karlsstoffs In Frankreich etabliert sich mit der Chanson de geste „während des gesamten Mittelalters und darüber hinaus ein außerordentlich beliebtes Genre“, eine „Erfolgsgattung“.1 Sie formiert sich zu heldenepischen ‚Erzählzyklen‘, die prominent durch den Cycle de Guillaume d’Orange (Wilhelmszyklus) und den Cycle de Charlemagne oder Cycle du roi (Karlszyklus) repräsentiert werden.2 Letzterer bildet ein Reservoir an Texten um die Figur des Frankenherrschers. Als vermutlich erster Repräsentant dieses Zyklus figuriert die Chanson de Roland (um 1100), die den historischen Spanienfeldzug Karls, den Verrat des Genelun samt Prozess und Hinrichtung sowie die 1 Bernd Bastert: Von der Hagiographisierung zur Literarisierung des Epischen – Adaptationsformen der französischen Heldenepik in Deutschland. In: Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Hrsg. von Susanne Friede, Dorothea Kullmann. Heidelberg 2012 (GRM-Beiheft. 44), S. 53 u. 56. 2 Vgl. Thordis Hennings: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien. Heidelberg 2008 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 22–35 (Übersicht über den Karlszyklus), S. 67–87 (Übersicht über den Wilhelmszyklus), S. 90–141 (Überblick über Datierung, Überlieferung und Bearbeitungstendenzen der Karlsepik). Siehe zu den Zyklen auch Bernd Bastert: Sequentielle und organische Zyklizität. Überlegungen zur deutschen Karlepik des 12. bis 15. Jahrhunderts. In: „Chanson de Roland“ und „Rolandslied“. Actes du Colloque du Centre d’Études Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne, 11 et 12 Janvier 1996. Hrsg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1997 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter. 57), S. 1–13; ders.: Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen 2010 (Bibliotheca Germanica. 54), S. 162–233. https://doi.org/10.1515/9783110768541-002

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Schlacht in der Ebene von Roncesvalles, Rolands Tod und Karls Racheschlacht verarbeitet. Im deutschsprachigen Raum gibt es zunächst kein Gegenstück zur französischen Chanson de Roland und keine eigenständige elaborierte Karlsdichtung. Doch seit dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts werden heldenepische Karlsdichtungen aus Frankreich importiert, adaptiert und zu eigenen literarischen Erzähltraditionen ausgestaltet.3 Diese Rezeptionsprozesse sind für die literaturgeschichtliche Kontextualisierung und die Kohärenz des Textcorpus grundlegend. Sie sollen in Anlehnung an die einschlägigen Studien von Bastert im Folgenden in ihren Leitlinien nachgezeichnet werden.4 Bastert geht von „drei verschiedenen Kultur- und Literaturräumen“ aus, „in denen die deutschen Adaptationen der französischen Heldenepik jeweils entstanden“.5 Es sind dies 1.) der oberdeutsche Raum (heutiges Österreich, deutschsprachige Schweiz, Südhälfte Deutschlands bis etwa zum Main), 2.) die sog. Nideren Lande ([west]mittel- und niederdeutscher sowie flandrisch-niederländischer Raum) und 3.) der (süd)westdeutsche bzw. rheinfränkische Raum. Bastert kann nach der räumlichen Differenzierung unter Einbeziehung der anzunehmenden Entstehungsdaten der Texte „drei geographisch wie chronologisch divergierende Wellen deutscher Chanson de geste-Rezeption und eine[n] jeweils eigenständigen Umgang[] mit jenem Genre“ ansetzen.6

3 Vgl. für grundlegende Informationen zu Karl dem Großen in der Literatur des Mittelalters u. a. Geith, Karl der Große, S. 87–100 (Karl ist hier übrigens in die Rubrik „Herrscher“ und nicht etwa in die Rubrik „Helden“, in der Roland behandelt wird, oder „Heilige“ eingeordnet); ders.: Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jh. Bern/ München 1977 (Bibliotheca Germanica. 19); Bernd Bastert u. a.: Karlsepen. In: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen. Hrsg. von Geert H. M. Claassens, Fritz Peter Knapp, Hartmut Kugler. Berlin 2014, S. 189–246; Kurt Schnelle u. a.: Die altfranzösische Heldenepik (Chansons de geste) und ihre fremdsprachigen (vor allem deutschen und italienischen) Adaptionen. In: Dichtung des europäischen Mittelalters. Ein Führer durch die erzählende Literatur. Hrsg. von Rolf Bräuer. München u. a. 1991, S. 37–101; Bernd Bastert (Hrsg.): Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos. Tübingen 2004; ders.: Heros und Heiliger. Literarische Karlsbilder im mittelalterlichen Frankreich und Deutschland. In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2001, S. 197–220; Robert Folz: Le Souvenir et la Légende de Charlemagne dans l’Empire germanique médiéval. Genf 1973 (Publications de l’Université de Dijon. 7) [zuerst Paris 1950]. 4 Vgl. Bastert, Helden als Heilige. Den Formen und der Distribution deutschsprachiger Chanson de geste-Rezeption widmet sich auch ders.: „der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott“: Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur des Mittelalters. In: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos. Hrsg. von dems. Tübingen 2004, S. 127–147. 5 Bastert, Helden als Heilige, S. 115. 6 Ebd., S. 116.

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Die erste Phase betrifft die deutschsprachigen Nideren Lande, wo im späten 12. Jahrhundert mit dem Rolandslied des Pfaffen Konrad im Umkreis des Braunschweigischen Hofes Heinrichs des Löwen eine für die Karlsdichtung im (ober)deutschen Raum höchst einflussreiche Dichtung entsteht. Bis in die Neuzeit wird ohne Unterbrechung in den Nideren Landen französische Karlsdichtung rezipiert und spezifisch verarbeitet: „Der nieder- und mitteldeutsche Raum ist damit der produktivste in der mittelalterlichen Geschichte deutschsprachiger Bearbeitungen aus dem Stoffbereich der französischen Heldenepik.“7 Die zweite Phase wird im oberdeutschen Raum durch die Rezeption des (aus den Nideren Landen stammenden) Rolandslieds angestoßen, „das schon rein sprachlich merkwürdig zwischen Nieder- und Oberdeutschland oszilliert“.8 Es erfährt – obgleich es selbst parallel weiterwirkt – im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts eine Bearbeitung in Gestalt von Strickers Karl. Rezipiert wird im oberdeutschen Raum auch der Cycle de Guillaume d’Orange mit Wolframs von Eschenbach Willehalm. Im oberdeutschen Raum entstehen die Chanson de geste-Bearbeitungen im Wesentlichen im 13. Jahrhundert, obgleich auch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts noch Bearbeitungen auftreten (Buch vom heiligen Karl und Buch vom heiligen Wilhelm); bemerkenswerterweise benutzt keiner der Bearbeiter Karlstexte, die aus den deutschsprachigen Nideren Landen stammen.9 Die dritte (spätmittelalterliche) Phase im südwestdeutschen bzw. rheinfränkischen Raum ist mit dem Saarbrücker und dem Heidelberger Hof verbunden. Am Saarbrücker Hof werden französische Chanson de geste-Quellen bearbeitet, wobei der thematische Fokus auf der Darstellung feudaler Konflikte liegt, die sich besonders in den sog. Empörerepen, die von der Auseinandersetzung zwischen Karl und seinen Vasallen erzählen, niederschlagen. Am Heidelberger Hof werden dagegen niederländische Chanson de geste-Dichtungen rezipiert, die ebenfalls feudale Konflikte sowie dynastische Fragen verhandeln. An beiden Höfen findet keine Rezeption der Chanson de geste-Bearbeitungen der deutschsprachigen Nideren Lande statt: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad spielt hier keine Rolle.10 In diesen drei Phasen oder Wellen sind „etwa 15% des französischen Corpus“ – Bastert geht insgesamt von „rund achtzig bekannten französischen Chansons“ aus – „im deutschsprachigen Raum übernommen worden“.11 Dabei stehen die späten rheinfränkischen, die oberdeutschen und die nieder- bzw. mitteldeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen praktisch unverbunden nebeneinander. Es kann folglich

7 Ebd. 8 Ebd. 9 Vgl. ebd., S. 117. 10 Vgl. ebd. 11 Bastert, Hagiographisierung, S. 57. Ebd. findet sich auch eine Übersicht über die zeitliche und räumliche Verteilung der Texte.

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von drei als annähernd geschlossenen Systemen auftretenden deutschen Rezeptionsräumen französischer Heldenepik gesprochen werden.12

Damit ist das Feld der Rezeption französischer Chanson de geste-Dichtungen über Karl den Großen (und Willehalm) im deutschsprachigen Raum umrissen. Erklärungsbedürftig und für die Begründung des Textcorpus der vorliegenden Arbeit entscheidend ist die Stellung des Rolandslieds, d. h. seine Einordnung in den oberdeutschen Raum. Bastert erklärt dazu aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive Folgendes: Der Text [das Rolandslied; F. B.] müsste eigentlich zur Chanson de geste-Tradition der deutschsprachigen Nideren Lande gerechnet werden [...]. Andererseits bildet das Rolandslied zweifellos die Folie, vor der Wolframs Willehalm zu lesen ist und stellt die direkte Vorlage für Strickers Karl dar, der seinerseits wiederum die Hauptquelle für das Buch vom heiligen Karl liefert. Insofern ist das Rolandslied ein Basistext für die oberdeutsche Chanson de gesteRezeption.13

Dadurch ist die Kohärenz des Textcorpus hergestellt: Das Rolandslied als Übertragung der Chanson de Roland bildet den „Basistext“ für die von Karl erzählenden oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl. Auf diese Weise deckt das Textcorpus den oberdeutschen Rezeptionsraum französischer Karlsepik diachron vom ausgehenden 12. bis zum letzten Drittel des 15. Jahrhunderts ab. Eine Fokussierung der Karlsfigur erscheint zur typologischen Ordnung der Texte ertragreich, denn sie „funktioniert als eine Art Brennglas, in dem sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Typen deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen konzentrieren“.14 Bastert hebt die besondere Gestaltung der Karlsfigur in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen hervor, da [...] offenbar nur solche Texte Resonanz [fanden], die ein zwar nicht eindimensionales, aber doch eindeutig positives, mittels verschiedener hagiographischer Schreibmuster generiertes Bild Karls des Großen propagieren. Auf diese Weise wird Karl in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen ganz auf die Rolle des vorbildlichen und heiligen Königs festgelegt.15

Wie die Texte diese Rolle jeweils inszenieren und welche Veränderungen sich bei Betrachtung der literarischen Traditionsreihe ‚Rolandslied – Strickers Karl – Buch vom heiligen Karl‘ ergeben, wird die Analyse im Folgenden prüfend aufarbeiten. Um die Perspektive der vorliegenden Arbeit auf eine Herrschersakralität der Karlsfigur zu kontextualisieren, soll im Folgenden die Forschungslage zu den ausgewählten Texten skizziert werden. Einige Ansätze und Erträge der Forschung zum Rolandslied sind auf den Karl und das Buch vom heiligen Karl übertragbar, da beide den Text

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Bastert, Helden als Heilige, S. 118. Ebd., S. 269. Ebd., S. 272. Ebd., S. 292 f.

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II Theoretische und methodische Grundlagen

des Pfaffen Konrad stets als Kernstück in ihre Komposition integrieren. Der Fokus des Forschungsresümees zum Rolandslied liegt neben einigen grundsätzlichen Hinweisen auf Beiträgen, die sich der Profilierung der Karlsfigur und den Themen ‚Herrschaft‘ sowie ‚Sakralität‘ und ‚Heiligkeit‘ widmen. Die recht übersichtliche Forschung zu Strickers Karl und vor allem zum Zürcher Buch vom heiligen Karl kann anschließend ohne starke Reduktion abgebildet werden.

1.1 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad Als früher Vertreter der mittelhochdeutschen Literatur und prominente Adaptation französischer Chansons de geste blickt das Rolandslied des Pfaffen Konrad auf eine lange Forschungsgeschichte zurück.16 Fragen der Datierung und Lokalisierung sind bis heute nicht eindeutig beantwortet – als Entstehungszeitraum kann 1170/1185 gelten, wobei Regensburg und Braunschweig als Entstehungsorte gehandelt werden.17 Im Besonderen bearbeitete Forschungsfelder sind u. a. das Verhältnis zur Chanson de Roland,18 Gewalt,19 verbale und nonverbale Kommunikation sowie

16 Grundlegende Informationen zum Rolandslied samt weiteren Literaturhinweisen gibt Eberhard Nellmann: Art. Pfaffe Konrad. In: 2VL 5 (1985), Sp. 115–131. Editionen: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hrsg. von Carl Wesle. 3., durchges. Aufl. bes. von Peter Wapnewski. Tübingen 1985 (Altdeutsche Textbibliothek. 69); Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. u. komm. von Dieter Kartschoke. Durchges. u. bibliogr. akt. Ausg. Stuttgart 2011 (RUB. 2745). Das Rolandslied wird nach der von Kartschoke besorgten Ausgabe zitiert und mit „RL“ abgekürzt. Vgl. neben Dieter Kartschoke: Kommentar. In: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. u. komm. von dems. Durchges. u. bibliogr. akt. Ausg. Stuttgart 2011 (RUB. 2745). S. 627–750 auch bis zum Vers RL 2750 Horst Richter: Kommentar zum Rolandslied des Pfaffen Konrad. Teil I. Bern/Frankfurt 1972 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur. 6). 17 Vgl. zu Datierung, Lokalisierung und Überlieferung mit weiterer Literatur Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum, S. 90–110 sowie Bastert, Hagiographisierung und ders., Helden als Heilige, S. 78–85 u. 121–126: „Um 1170/72 kann man sich die deutsche Bearbeitung einer der ersten in buchepische Form gebrachten Chansons de geste ebenso gut entstanden denken wie um 1185 oder gegen Ende der 80er-Jahre, als Heinrichs und Mathildes Mäzenatentum, etwa für das von ihnen errichtete Braunschweiger Stift, einen Höhepunkt erreichte“ (ebd., S. 85). 18 Differenzpunkt ist die heilsgeschichtliche Ausrichtung des Rolandslieds (vgl. Eberhard Nellmann: Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salier- und frühen Stauferzeit. Annolied, Kaiserchronik, Rolandslied, Eraclius. Berlin 1963 [PhSt. 16], S. 173). Diese „Vergeistlichungstendenz“ oder „Spiritualisierung [...], durch die das Rolandslied die auch in der Chanson de Roland bereits nachweisbaren hagiographischen Deutungsmuster noch wesentlich deutlicher herausstreicht“, erscheint bis heute als zentral (Bastert, Helden als Heilige, S. 269; vgl. zu Änderungen zwischen Rolandslied und Chanson de Roland unter dem Stichwort „Hagiographisierung des Epischen“ mit weiterführender Literatur ebd., S. 269–293). 19 Vgl. zuletzt Susanne Spreckelmeier: Geronnenes Erzählen. Autotelische Gewalt und Entscheiden im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad. In: ZfdPh 138 (2019), S. 45–65; Sonja Feldmann, Ralf

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Emotionen,20 Imaginationen des Eigenen und des Fremden (Heidnischen),21 die Genelun-Figur samt Verratshandlung,22 das Verhältnis von Recht und Religion und damit verbundene politische Implikationen.23 Besondere Aufmerksamkeit wird bis heute der Karlsfigur zuteil, womit der engere Forschungskontext für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit angesprochen ist.

Schlechtweg-Jahn: Gewalterzählen als Medium von Konfliktbewältigung im „Rolandslied“. In: Konfliktbewältigung und Friedensstiftung im Mittelalter. Hrsg. von Roman Czaja, Eduard Mühle, Andrzej Radzimiński. Toruń u. a. 2012, S. 359–385; Martin Przybilski: „Ein Leib wie ein Fels“ oder: von der Schönheit des Blutvergießens. Gewalt und Ästhetik im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad. In: Euphorion 101 (2007), S. 255–272. 20 Grundlegende Studien sind in diesem Zusammenhang Herbert Backes: Bibel und Ars praedicandi im Rolandslied des Pfaffen Konrad. Berlin 1966 (PhSt. 36); Dieter Strauss: Redegattungen und Redearten im ‚Rolandslied‘ sowie in der ‚Chanson de Roland‘ und in Strickers ‚Karl‘. Studien zur Arbeitsweise mittelalterlicher Dichter. Göppingen 1972 (GAG. 64); Wolfgang Schulte: „Epischer Dialog“. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdt. Epik (Alexanderlied, Kaiserchronik, Rolandslied, König Rother). Bonn 1970; Martin J. Schubert: Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik. Rolandslied, Eneasroman, Tristan. Köln u. a. 1991 (Kölner Germanistische Studien. 31). Zuletzt widmeten sich der Thematik Evamaria Freienhofer: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts. Berlin/Boston 2016 (TMP. 32); Martin H. Jones: Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes. Die Chanson de Roland, das Rolandslied des Pfaffen Konrad und Karl der Große des Strickers. In: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven. Hrsg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema, Franz Hundsnurscher. Berlin 2011 (Historische Dialogforschung. 1), S. 63–84; Ralf Schlechtweg-Jahn: Zwischen Todesangst und Gottvertrauen. Angst als ,dritter Raum‘ im Rolandslied. In: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Susanne Knaeble, Silvan Wagner, Viola Wittmann. Berlin u. a. 2011 (bayreuther forum TRANSIT. 10), S. 193–212; Claudia Brinker-von der Heyde: Redeschlachten – Schlachtreden. Verbale Kriegsführung im Rolandslied. In: „Krieg und Frieden“. Auseinandersetzung und Versöhnung in Diskursen. Hrsg. von Ulla Kleinberger Günther, Annelies Häcki Buhofer, Elisabeth Piirainen. Tübingen 2005, S. 1–26. 21 Quast, Bedrohte Christenheit; Ricarda Bauschke: Der Umgang mit dem Islam als Verfahren christlicher Sinnstiftung in Chanson de Roland / Rolandslied und Aliscans / Willehalm. In: Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Hrsg. von Susanne Friede, Dorothea Kullmann. Heidelberg 2012 (GRM-Beiheft. 44), S. 191–216; Stephanie Seidl: Narrative Ungleichheiten. Heiden und Christen, Helden und Heilige in der Chanson de Roland und im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), S. 46–64. 22 Dazu zuletzt Ulrich Hoffmann: Verräter in der Literatur des Mittelalters. Zu Dantes ‚Göttlicher Komödie‘, zum ‚Rolandslied‘, ‚Prosalancelot‘ und ‚Nibelungenlied‘. In: Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters. Hrsg. von André Krischer. Wien u. a. 2019, S. 67–91 (mit weiterer Literatur zur Thematik). 23 Einschlägig und bis heute (kritisch) diskutiert sind Marianne Ott-Meimberg: Kreuzzugsepos oder Staatsroman? Strukturen adeliger Heilsversicherung im deutschen „Rolandslied“. München 1980 (MTU. 70); Petra Canisius-Loppnow: Recht und Religion im Rolandslied des Pfaffen Konrad. Frankfurt a. M. u. a. 1992 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte. 22).

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Grundlegende Perspektiven für die Einschätzung der Karlsfigur bietet Geith, der auch einen entsprechenden Forschungsbericht vorlegt;24 Tendenzen der neueren Forschung überblicken Hennings und Bastert.25 Vielfach wird zur Charakterisierung Karls die sog. Hoflagerszene herangezogen, da Karl dort analog zu Christus sowie zu alttestamentlichen Herrschergestalten (Salomo und David) inszeniert und seine Herrschaft dementsprechend sakral eingefasst wird.26 Eingehend wird auch das Verhältnis zwischen kaiserlicher Zentralgewalt und den Fürsten diskutiert, wobei den Ratsversammlungen besondere Bedeutung zukommt, da dort Karls herrscherliches Handeln sowie Spannungen im Herrschaftsverband offenbar werden.27 Konstruktionen von christlicher Identität bzw. Prozesse der Gemeinschaftsbildung durch 24 Geith, Carolus Magnus, S. 84–124. Einen Überblick gibt auch Friedrich Ohly: Die Legende von Karl und Roland [zuerst 1974]. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg, Dietmar Peil. Stuttgart/Leipzig 1995, S. 35–76. 25 Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum, S. 107 f.; Bastert, Helden als Heilige, S. 269–293. 26 Siehe zu dieser Szene u. a. Evamaria Heisler: Christusähnlicher Karl. Die Darstellung von Zorn und Trauer des Herrschers in der ‚Chanson de Roland‘ und im ‚Rolandslied‘. In: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen. Hrsg. von Bele Freudenberg. Berlin 2009 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. 14,1), S. 67–79; Ingeborg Geppert: Christus und Kaiser Karl im deutschen Rolandslied. In: PBB 78 (1956), S. 349–373; Horst Richter: Das Hoflager Kaiser Karls. Zur Karlsdarstellung im deutschen Rolandslied. In: ZfdA 102 (1973), S. 81–101; Barbara Haupt: Das Fest in der Dichtung. Untersuchungen zur historischen Semantik eines literarischen Motivs in der mittelhochdeutschen Epik. Düsseldorf 1989 (Studia humaniora. 14), S. 36–69; Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 86–100. Gerok-Reiter betrachtet die Inszenierung der Karlsfigur in ihrer Bedeutung als legitimationsstiftende Gestalt über imitatio-Reihen (David/Salomo – Karl – Heinrich) (Annette Gerok-Reiter: Figur und Figuration Kaiser Karls. Geschichtsbewußtsein in Rolandslied und Willehalm. In: Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. Georg Wieland zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Cora Dietl, Dörte Helschinger. Tübingen/Basel 2002, S. 173–191). 27 Vgl. dazu u. a. Klaus Zatloukal: Zwischen Kaiser und Fürst: Zur Erzählstrategie des RolandsliedDichters. In: „Ir sult sprechen willekommen“. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Christa Agnes Tuczay, Ulrike Hirhager, Karin Lichtblau. Bern 1998, S. 714–733; Annette Gerok-Reiter: Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers. Konstruktionsbedingungen höfischer Idealität am Beispiel des Rolandsliedes. In: Courtly Literature and Clerical Culture. Selected papers from the Tenth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society, Universität Tübingen, Deutschland, 28. Juli–3. August 2001. Hrsg. von Christoph Huber, Henrike Lähnemann. Tübingen 2002, S. 77–92; Jan-Dirk Müller: Ratgeber und Wissende in heroischer Epik. In: FMSt 27 (1993), S. 124–146; Manfred Hellmann: Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politische Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied, Kaiserchronik, Rolandslied, Herzog Ernst, Wolframs ‚Willehalm‘. Bonn 1967; Merle Marie Schütte: Sitzen – Stehen – Schweigen – Sprechen: Hochmittelalterliche Beratungen im Spannungsfeld von Narration und Herrschaftspraxis. In: Zwischen Fakten und Fiktionen. Literatur und Geschichtsschreibung in der Vormoderne. Hrsg. von ders., Kristina Rzehak, Daniel Lizius. Würzburg 2014 (Religion und Politik. 10), S. 115–142; Jeffrey R. Ashcroft: ‚Si waren aines muotes‘: Unanimity in Konrad’s Rolandslied and Otto’s and Rahewin’s Gesta Frederici. In: Papers from the fifth Strawberry Hill Conference 1990. Hrsg. von Christopher Harper-Bill, Ruth Harvey. Woodbridge 1992

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den Kreuzzug als Gottesdienst unter der Führung Karls werfen ebenfalls ein Licht auf die Herrschafts- und Machtstrukturen, in die der Herrscher eingebettet ist.28 Daneben werden Formen der visuellen Repräsentation von Herrschaft29 und Verhandlungen von Herrschaft in akustischer Dimension untersucht.30 Die Bedeutung des Zorns für Karls Herrschaftspraxis wird über einen Vergleich zwischen Chanson de Roland und

(Medieval knighthood. 4), S. 23–50; Christian J. Gellinek: Herrschaftsmodelle im Rolandslied. In: Ders.: Herrschaft im Hochmittelalter. Essays zu einem Sonderproblem der älteren deutschen Literatur. Bern u. a. 1980 (Germanic Studies in America. 34), S. 39–46; Maria Dobozy: Full circle: kingship in the German epic: Alexanderlied, Rolandslied, „Spielmannsepen“. Göppingen 1985 (GAG. 399). Die politisch-historische Anbindung des Rolandslieds verhandeln u. a. Rudolf Köster: Karl der Große als politische Gestalt in der Dichtung des deutschen Mittelalters. Hamburg 1939 (Hansische Forschungen. 2), S. 4–20; Friedrich Knorr: Das deutsche „Rolandslied“. In: Die Reichsidee in der deutschen Dichtung. Hrsg. von Rüdiger Schnell. Darmstadt 1983 (WdF. 589), S. 83–109; ders.: Vom Reichsgedanken des deutschen Rolandsliedes [zuerst 1940]. In: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 4 (1941), S. 61–66; Friedrich Ohly: Zum Reichsgedanken des deutschen „Rolandsliedes“. In: Die Reichsidee in der deutschen Dichtung. Hrsg. von Rüdiger Schnell. Darmstadt 1983 (WdF. 589), S. 110–147; Karl Bertau: Das deutsche Rolandslied und die Repräsentationskunst Heinrichs des Löwen. In: Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen. Hrsg. von Joachim Bumke. Darmstadt 1982 (WdF. 598), S. 331–370; Christian J. Gellinek: Konrad’s Rolandslied and the Babenbergers. In: Ders.: Herrschaft im Hochmittelalter. Essays zu einem Sonderproblem der älteren deutschen Literatur. Bern u. a. 1980 (Germanic Studies in America. 34), S. 47–59; Jeffrey R. Ashcroft: Honor imperii – des riches ere: The idea of Empire in Konrad’s Rolandslied. In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries: Studies Presented to Roy Wisbey on his Sixty-Fifth Birthday. Hrsg. von Volker Honemann u. a. Tübingen 1994, S. 139–156; Eberhard Nellmann: Karl der Große und König David im Epilog des deutschen Rolandsliedes. In: Die Reichsidee in der deutschen Dichtung. Hrsg. von Rüdiger Schnell. Darmstadt 1983 (WdF. 589), S. 222–238; Roswitha Wisniewski: Der Epilog des deutschen Rolandsliedes. In: ZfdA 93 (1964), S. 108–122; Conrad Eckart Lutz: Herrscherapotheosen. Chrestiens Erec-Roman und Konrads Karls-Legende im Kontext von Herrschaftslegitimation und Heilssicherung. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 89–104. 28 Vgl. Quast, Bedrohte Christenheit; Volker Mertens: Religiöse Identität in der mittelhochdeutschen Kreuzzugsepik (Pfaffe Konrad: Rolandslied, Wolfram von Eschenbach: Willehalm). In: „Chanson de Roland“ und „Rolandslied“. Actes du Colloque du Centre d’Études Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne, 11 et 12 Janvier 1996. Hrsg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1997 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter. 57), S. 77–86; Horst Richter: Militia Dei: a central concept for the religious ideas of the early crusades and the German Rolandslied. In: Journeys toward God. Pilgrimage and crusade. Hrsg. von Barbara Nelson Sargent-Baur. Kalamazoo, Mich. 1992 (Studies in medieval culture. 30; Occasional studies series. 5), S. 107–126. 29 Vgl. Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des deutschen Mittelalters. Berlin 2014 (LTG. 5), vor allem S. 33–87; Karl-Bernhard Knappe: Repräsentation und Herrschaftszeichen. Zur Herrscherdarstellung in der vorhöfischen Epik. München 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung. 17). 30 Vgl. Silvan Wagner: Erzählen im Raum. Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik. Berlin/Boston 2015 (TMP. 28), S. 109–133 (siehe zur Hoflagerszene ebd., S. 114–119).

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Rolandslied profiliert.31 Weitere Bausteine des Karlsbildes sind die herrscherlichen Träume32 sowie Text-Bild-Relationen.33 Eine Bestandsaufnahme der jüngeren einschlägigen Forschung zur Karlsfigur macht Tomasek.34 Der Beitrag unterscheidet verschiedene Rollen der Karlsfigur und gleicht ihre Darstellung mit der Kaiserchronik, dem Pseudo-Turpin und der Aachener Vita Karoli Magni ab. Für das Rolandslied identifiziert Tomasek eine „Leerstelle des politischen Kaisertums“, denn während „Karls religiöse Vorrangstellung“ unangefochten ist, ist er „als politischer Herrscher [...] erstaunlich defizitär“, sodass eine „[i]n sich gebrochene Karlsfigur“ vorliege.35 Spannungen – aber keinen Bruch – in der Konzeption der Karlsfigur arbeitet bereits Bastert heraus. Er unterscheidet zum einen den „roi souffrant“ als „Königstypus des leidenden, meist das Martyrium er-

31 Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 61–122: „Zum einen wird die Emotion [Zorn; F. B.] Teil einer herrscherlichen Aura, die Feinde einschüchtert und charismatischen Glanz erzeugt. Zum anderen reguliert und löst der Zorn des Herrschers als konkrete Verkörperung im Inneren des eigenen Herrschaftsbereichs Konflikte, die die Einheit der christlichen Gemeinschaft (des rîche) gefährden“, so das Resümee (ebd., S. 122). 32 Vgl. Benjamin van Well: Mir troumt hînaht ein troum. Untersuchung zur Erzählweise von Träumen in mittelhochdeutscher Epik. Göttingen 2016 (Schriften der Wiener Germanistik. 4); Karl-Ernst Geith: Die Träume im Rolandslied des Pfaffen Konrad und in Strickers Karl. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hrsg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989, S. 227–240. 33 Vgl. Brigitte Burrichter, Stefan Tomasek: Karlsbilder: „Chanson de Roland“ – „Rolandslied“. Miniaturen der Heidelberger Handschrift. In: Karl der Große. 1200 Jahre Mythos und Wirklichkeit. Bearbeitet von Bernhard Pinsker, Annette Zeeb. Hrsg. vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Petersberg 2014, S. 75–113; Judith Klinger: Stimmklang und Erzählraum. Zur performativen Dimension illustrierter Epenhandschriften. In: Ikono/Philo/Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Hrsg. von Renate Brosch. Berlin 2004 (Potsdamer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte. 2), S. 103–151; Norbert H. Ott: Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften. In: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte. Hrsg. von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch. Sigmaringen 1994 (Schriften des Historischen Museums. 19), S. 87–111; Paul Bertemes: Bild- und Textstruktur. Eine Analyse der Beziehungen von Illustrationszyklus und Text im Rolandslied des Pfaffen Konrad in den Handschriften. Frankfurt a. M. 1984 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. 9); Wilfried Werner: Das Rolandslied in den Bildern der Heidelberger Handschrift. Wiesbaden 1977; Peter Kern: Bildprogramm und Text. Zur Illustration des Rolandsliedes in der Heidelberger Handschrift. In: ZfdA 101 (1972), S. 244–270; Monika Lengelsen: Bild und Wort. Die Federzeichnungen und ihr Verhältnis zum Text in der Handschrift P des deutschen Rolandsliedes. Dortmund 1972. 34 Vgl. Stefan Tomasek: Ambivalenz eines Kaisers. Die Figur Karls des Großen im ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad. In: Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Akten eines interdisziplinären Symposions anlässlich des 1200. Todestages Kaiser Karls des Großen. Hrsg. von Franz Fuchs, Dorothea Klein. Würzburg 2015 (Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte. 1), S. 139–171. 35 Ebd., S. 166. „Zugespitzt formuliert, resultiert der Verrat Geneluns und damit das militärische Desaster von Roncevalle ebenso wie der Tod der Zwölf aus der Schwäche des Kaisers, der die politische Brisanz verkennt und den Konflikt zwischen Roland und Genelun durch die eigene Passivität erst virulent werden lässt“ (ebd.).

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duldenden Herrschers“ und zum anderen den jüngeren Typus (spätes 11./12. Jhd.) des „miles oder athleta Christi, der seine militärischen Fähigkeiten im Kampf für den christlichen Glauben einsetzen darf und soll“.36 Auf diese Weise greift der Pfaffe Konrad konkurrierende „Vorstellungen eines idealen Königtums“ auf, die im Rolandslied kombiniert werden, indem sich „unter das Modell des athleta Christi [...] der dem deutschen Bearbeiter anscheinend ebenso vertraute Entwurf eines ‚klerikalen‘ Herrschers [schiebt]“.37 Dass nicht nur bezogen auf die Karlsfigur, sondern auch aufs Ganze gesehen eine „Hagiographisierung des Epischen“38 in der Adaptation der Chanson de Roland durch den Pfaffen Konrad statthat – und diese Tendenz sich über die Bearbeitungen durch Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl intensivierend fortsetzt –, kann cum grano salis als Forschungskonsens gelten.

1.2 Strickers Karl der Große Der Dichter des zumeist kurz als Karl bezeichneten Textes nennt sich ebendort sowie in drei weiteren Werken namentlich,39 ohne dass entschieden werden könnte, „[o]b es sich um einen Eigennamen oder einen sprechenden Übernamen handelt“.40 Seine Person bleibt im Dunkeln, denn „[ü]ber das Leben des Strickers ist so gut wie nichts bekannt, und sichere Anhaltspunkte für eine Biographie oder eine Lokalisierung der Texte lassen sich weder aus seinen Werken noch aus den Schreibsprachen der überlie-

36 Bastert, Helden als Heilige, S. 278. 37 Ebd., S. 278 f. 38 Ebd., S. 269. 39 So in den Werken Daniel von dem Blühenden Tal (V. 16), Pfaffe Amis (V. 39) und Frauenehre (V. 138). Die differierenden Schreibweisen des Namens in den Handschriften lauten „Strickaere, Strickhere, Strikaere, schribære, tihtaere“ (Karl Ernst Geith: Art. Der Stricker [A. Person]. In: 2VL 4 [1995], Sp. 418). Mit den genannten Werken ist auch das breite, verschiedene Gattungen abdeckende Œuvre des Strickers angesprochen: Es handelt sich um zwei Romane – den Karl und eine Bearbeitung des Artusstoffs (Daniel von dem Blühenden Tal) –, einen Schwankroman (Pfaffe Amis), eine längere Rede (Frauenehre) und ein großes Corpus an Kleindichtungen (Mären, Bispeln, Reden und Schwänke). Singer führt im Apparat zu seiner Edition (s. u.) die Überschriften des Textes an. Handschrift D: Hie hebet sich daz bvch von chvnech Karl an; Handschrift E: Dis buch ist uns bekant von eime ds hiz Rulant. Karl und Roland kommen damit beide als Protagonisten der Erzählung in Frage, so ist auch für das Rolandslied diskutiert worden, ob es sich um ein Rolands- oder um ein Karlslied handelt. Ein Lösungsangebot ist die Beschreibung der Architektur des Textes mit einem „Zwei-Helden-Modell im Mittelteil des Werkes“ (Elke Ukena-Best: Art. Der Stricker. In: 2Killy 11 [2011] [https://www.degruyter.com/view/VDBO/vdbo.killy.6559, Zugriff: 13.12.2020]). Den konstitutiven Rahmen um diesen Mittelteil, die Schlacht von Roncesvalles, bildet die Herrscherfigur Karl (vgl. auch dies., Providentia Dei, S. 329, 346 u. 353). 40 Geith, Art. Der Stricker (A. Person), Sp. 418.

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II Theoretische und methodische Grundlagen

ferten Texte gewinnen.“41 Zwar ist eine Entstehung des Karl „im bairisch-österreichischen Raum“42 recht wahrscheinlich, doch werden Entstehungszeit und -kontext bis heute kontrovers diskutiert, wobei zwei zeitliche Anknüpfungspunkte besonders hervorgehoben werden: zum einen die Königskrönung des Staufers Friedrich II. in Aachen im Jahre 1215 (in deren Zuge die Gebeine Karls in den sog. Karlsschrein überführt wurden), zum anderen die Translation von Karlsreliquien nach Zürich im Jahre 1233 zur Etablierung eines Karlskultes.43 Beide Ereignisse sind zentrale Bezugnahmen auf Karl den Großen aus legitimatorisch-machtpolitischen Gründen und können somit ein Milieu der Motivierung von Karlsdichtung im Wirkungsfeld seines Kultes gebildet haben. Doch beide Entstehungsthesen sind nicht gesichert und so folgert Bastert diplomatisch, dass die „Gebrauchsfunktion [des Karl; F. B.] nicht zu sehr auf ein bestimmtes Ereignis eingeschränkt werden sollte“.44 Singer bestimmt für die Entstehung des Karl „als Eckdaten die Jahre zwischen 1215/1220 und 1233“.45 Der Stricker legt mit seinem Karl als Bearbeitung des Rolandslieds des Pfaffen Konrad „eines der am häufigsten überlieferten Werke der volkssprachigen Erzählliteratur des Mittelalters“46 vor. Aktuell verzeichnet Singer (mindestens) 24 Handschriften sowie „Fragmente und Streuüberlieferungen aus weiteren 21 Handschriften“ – „eine im Vergleich zu anderen Epen des 13. Jahrhunderts ungewöhnlich reiche Über-

41 Johannes Singer: Einleitung. In: Strickers Karl der Große. Hrsg. von dems. Berlin/Boston 2016 (DTM. 96), S. XI, Anm. 9. Die Forschung attestiert dem Stricker eine gute Bildung; so habe er Kenntnisse im Altfranzösischen, in Rhetorik, Jurisprudenz und Theologie, demnach also eine „bedeutende lat[einische] Bildung“ (Geith, Art. Der Stricker [A. Person], Sp. 419). Seine Herkunft aus dem „südliche[n] Rheinfranken“ und ein langer oder dauerhafter Aufenthalt in Österreich werden angenommen (ebd., Sp. 418). Damit ist das wenige Bekannte umrissen. Eine Profilierung des Strickers unternimmt Sabine Böhm: Der Stricker – Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes. Frankfurt a. M. u. a. 1995 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Deutsche Sprache und Literatur. 1530), vgl. bes. das abschließende Kapitel „VI. Dichterprofil“, S. 245–257. Vgl. zum Wirken des Strickers auch Michael Schilling: Der Stricker am Wiener Hof? Überlegungen zur historischen Situierung des Daniel von dem Blühenden Tal (Mit einem Exkurs zum Karl). In: Euphorion 85 (1991), S. 273–291. 42 Singer, Einleitung, S. XIV. Vgl. auch Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 91–110. 43 Hauptvertreter der „Staufer-These“ (1215) ist Rüdiger Schnell (Strickers ‚Karl der Große‘. Literarische Tradition und politische Wirklichkeit. In: ZfdPh 93 [1974], S. 50–80). Hauptvertreter der „Zürich-These“ (1233) hingegen sind Robert Folz (Le Souvenir) und Karl-Ernst Geith (Carolus Magnus). Vgl. zu „Staufer-“ und „Zürich“-These samt weiterer Literatur Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 109 und ders., Helden als Heilige, S. 85–87. 44 Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 109. 45 Singer, Einleitung, S. XI. Hier findet sich auch eine umfängliche Übersicht der Datierungsversuche. Mit den expliziten Bezugnahmen des Karl auf den in das Jahr 1217 datierten Willehalm Wolframs – mit welchem der Karl auch gemeinsam überliefert wird – ist ein terminus post quem gegeben, ansonsten muss die Datierung über eine relative Chronologie innerhalb des Opus des Strickers erfolgen (vgl. ebd., S. X samt Anm. 7). 46 Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 91.

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lieferung“.47 Andersen spricht vom Karl pointiert als einem „best-seller“.48 Der Stricker greift für seine Bearbeitung auf eine vollständige Fassung des Rolandslieds zurück, „wie sie in der Heidelberger Handschrift P überliefert ist.“49 Diesen Adaptationsvorgang beschreibt der Dichter selbst mit der Operation des niuwen:50 Diz ist ein altes mære. nů hat ez der Strickære geniwet durch der werden gunst, di noch minnent hoͤfesliche chunst. (K 115–118)51

Die ‚alte‘ Erzählung wird vom Stricker ‚aktualisiert‘ (geniwet) für Liebhaber der ‚höfischen (Dicht-)Kunst‘. Aber nicht nur eine sprachliche Glättung und Anpassung des Karlsstoffs, wie ihn Konrad bearbeitet hat, nimmt der Stricker vor, sondern auch umfangreiche kompositionelle Veränderungen.52 Dabei bezieht er neben dem Rolandslied weitere Quellen in seine Aufbereitung des Karlsstoffs ein.53 Die ältere Forschung konnte der dichterischen Leistung des Strickers wenig abgewinnen. So ist die Rede vom „Versuche eines Anfängers“,54 dem es an „Kraft“55 mangele und der hinter dem ‚Original‘ des Pfaffen Konrad zurückstehe. Fränkel unterstellt dem Stri47 Singer, Einleitung, S. XV. 48 Peter Hvilshøj Andersen: L’innovation dans le ‚Karl‘ de Stricker. In: Charlemagne dans la réalité historique et la littérature. Actes du Colloque de Saint-Riquier (13 et 14 décembre 2003). Hrsg. von Danielle Buschinger, Peter Hvilshøj Andersen. Amiens 2004 (Médiévales. 36), S. 12. 49 Singer, Einleitung, S. X. 50 Vgl. zum niuwen Hedda Ragotzky: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981, S. 14 (vgl. zum „Programm des erniuwens“ in Strickers Frauenehre ebd., S. 10–19). 51 Hier und im Folgenden zitiert nach: Strickers Karl der Große. Hrsg. von Johannes Singer. Berlin/ Boston 2016 (DTM. 96). Strickers Karl wird abgekürzt mit „K“. 52 „Zu den Grundzügen der Bearbeitung [...] gehören [...]: die Modernisierung des Vokabulars, die Herstellung reiner Reime und ebenmäßiger, d. h. vierhebiger Verse; die engere Verknüpfung der einzelnen Handlungsteile wie die rationale und konsequente Umgestaltung des Handlungsgefüges durch Vor- und Rückschau, Resümees und Überleitungen, durch kausale, finale oder konsekutive Bezüge; Komplettierung unvollständiger und Systematisierung inkonsequenter Angaben, Umstellungen und Ausformulierung von Handlungsmotiven; die Konzentration auf die Hauptgestalten durch Eliminierung von Nebenpersonen und Nebenmotiven und die Kürzung von Reden“ (Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 301, Anm. 7). 53 Als weitere Quellen führt Bastert auf: Chanson de Roland in einer anderen, nicht der Oxforder nahen Fassung (wie sie für das Rolandslied Verwendung fand), der Mainet-Stoff (Karls Jugend), unter Umständen Berhte aux grands piéds (Zeugung des Kaisers), Kaiserchronik sowie lateinische Quellen (Pseudo-Turpin) und eventuell „ein Pilgerführer nach Santiago de Compostela“ (ders., Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 94). 54 Geith, Carolus Magnus, S. 169. 55 Ruolandes Liet. Hrsg. von Wilhelm Grimm. Göttingen 1838, S. CXXVIII. Diese und weitere Bewertungen der frühen Forschung finden sich bei Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 92 f.

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cker eine „geringe Begabung für die Manier des großen Epos“, ein Gebiet, „das seinem Naturell nicht lag“.56 Unter diesen vernichtenden literarkritischen Urteilen mag auch die Editionslage des Karl gelitten haben:57 Die Edition von Bartsch aus dem Jahre 1857 „bietet [...] einen aus drei unterschiedlichen Fassungen kontaminierten, synkretistischen Text, wie ihn kein mittelalterliches Publikum je gehört oder gelesen haben kann.“58 Sie bildete aber für gut 150 Jahre die (problematische) Grundlage für die Forschung,59 bis zunächst Weber 2010 eine Edition auf Grundlage der Leithandschrift C60 und zuletzt Singer 2016 eine Edition, ebenfalls mit C als Leithandschrift, aber unter Hinzuziehung der überlieferungsgeschichtlich mit C verbundenen Handschriftengruppe *CDEQ, vorgelegt haben.61 Die rasche Folge der beiden Neueditionen verdankt sich auch der schwierigen und bis heute nicht vollständig geklärten Überlieferungsgeschichte, die in der Forschung intensiv bearbeitet wurde.62 Seit den Anfängen der Beschäftigung mit dem Karl steht das Verhältnis der Bearbeitung des Strickers zu seiner Hauptvorlage, dem Rolandslied des Pfaffen Konrad, im Fokus.63 Aus diesen vergleichenden Untersuchungen werden Deutungen des Ge-

56 Ludwig Fränkel: Art. Stricker. In: Allgemeine Deutsche Biographie 36 (1893), S. 580–587 [https://www.deutsche-biographie.de/pnd118619284.html#adbcontent, Zugriff: 13.12.2020]. 57 Vgl. Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 93. 58 Ebd., S. 93. Zur Diskussion der Edition von Bartsch siehe auch Singer, Einleitung, S. LIX. 59 Einen Überblick über die überschaubare Forschung zum Karl bieten Singer, Einleitung, S. IX–LXVIII; Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“; ders., Helden als Heilige, S. 184–189; ders.: ‚Karl der Große‘ von dem Stricker. In: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen. Hrsg. von Geert H. M. Claassens, Fritz Peter Knapp, Hartmut Kugler. Berlin 2014, S. 206–214; Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum, S. 111–125. 60 Stefanie Weber: Strickers Karl der Große. Analyse der Überlieferungsgeschichte und Edition des Textes auf Grundlage von C. Hamburg 2010 (Schriften zur Mediävistik. 18). Vgl. die Diskussion der Ausgabe von Weber bei Singer, Einleitung, S. LX. 61 Singer erklärt die Vorzüge seiner Edition: „Andere Schwerpunkte als Weber legt die vorliegende Neuedition ferner, indem sie Verweise auf den Text des ‚Rolandsliedes‘, [...] die Zählung nach Bartsch mitführt, [...] im Kommentar Wert auf Übersetzungs- und Verständnishilfen zum Text legt, den Text durch ein detailliertes Glossar und ein Namensverzeichnis aufschlüsselt [...]“ (ders., Einleitung, S. LX, Anm. 166). 62 Zur Überlieferung des Karl vgl. vor allem ebd., S. XV–LXVIII und Weber, Strickers Karl der Große, S. 17–269. Vgl. auch dies.: Handschriftenfunde zur Literatur des Mittelalters, 199. Beitrag. Ein neuer und ein verloren geglaubter Textzeuge zu Strickers ‚Karl der Große‘. In: ZfdA 140 (2011), S. 23–27; Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum, S. 111–125; Bastert, Helden als Heilige, S. 124–127; Udo von der Burg: Strickers Karl der Große als Bearbeitung des Rolandsliedes. Studien zu Form und Inhalt. Göppingen 1974 (GAG. 131), S. 41–85; Johannes Singer: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte von Strickers Karl dem Großen. Bochum 1971. 63 Vgl. zum Verhältnis von Bearbeitung und Vorlage Diether Haacke: Konrads Rolandslied und Strickers Karl der Große. In: PBB 81 (1959), S. 274–294; Strauss, Redegattungen und Redearten; von

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samtwerks formuliert, doch ohne Vollständigkeit beanspruchen oder einen Konsens in der Forschung erzielen zu können. So konstatiert Geith: „Eine befriedigende Gesamtdeutung des ‚Karl‘ ist bisher nicht geleistet.“64 In diesem Zusammenhang würdigt Singer in seinem Forschungsüberblick den Beitrag von Klein,65 mit dem „[f]ür die Gesamtdeutung des ‚Karl‘ [...] wohl eine neue Phase begonnen haben [dürfte].“66 Klein deutet nämlich – wie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit bereits angeführt – die Bearbeitung des Strickers als „Um- und Ausbau des ‚Rolandsliedes‘ zur hagiographischen Vita“.67 Auch die Überlieferungskontexte sowie Illustrationen sprechen für eine zeitgenössische Rezeption der „hagiographischen Valenzen“ des Karl und für seinen Status als „legendenähnlicher Text“.68 Damit unterscheidet sich die Gattung des Strickerschen Karl als hagiographische Vita von jener des älteren Rolandslieds als ‚Kreuzzugs- oder Heldenepik‘.69 Diese Gattungstransponierung erscheint plausibel, ist doch der Stricker im Bereich der Märendichtung gattungsschöpferisch tätig, in verschiedenen Genera produktiv und insofern an divergierenden Texttraditionen und Schreibweisen geschult. In der neueren Forschung wird – ganz anders als in der älteren – auch Originelles an der Bearbeitung des Strickers gefunden. So bilanziert Bastert, dass der Stricker „etwas qualitativ Neues“ schafft; er erkennt eine narrative Programmatik im Karl und bewertet die Eingriffe des Strickers in seine Quellen als Kohärenzstiftungen seiner Erzählung.70 Im Anschluss an Klein begreift Bastert den Karl als

der Burg, Strickers Karl der Große als Bearbeitung des Rolandsliedes; Rüdiger Brandt: erniuwet. Studien zu Art, Grad und Aussagefolgen der Rolandsliedbearbeitung in Strickers ‚Karl‘. Göppingen 1981 (GAG. 327). 64 Karl-Ernst Geith: Art. Der Stricker (B. Werk; I. ‚Karl‘). In: 2VL 4 (1995), Sp. 421. 65 Klein, Strickers ‚Karl der Große‘. 66 Singer, Einleitung, S. XIII, Anm. 23. 67 Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 323. So habe der Stricker „das alte Kreuzzugsepos des ‚Rolandsliedes‘ zu einer Vita vom heiligen Karl erweitert[]“ (ebd., S. 321). Angelegt ist die Deutung des Textes als Vita bereits bei Brandt: „Strickers Epos ist nicht Karlsverherrlichung in einer nur graduell vom dR verschiedenen Form, sondern es ist, so meine Behauptung, eine (wenn auch gekürzte und geraffte) Karlsvita“ (Brandt, erniuwet, S. 189; [Hervorhebung übernommen]). 68 Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 96 mit Anm. 17. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Karl-Handschriften St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde, VadSlg Ms. 302 (Zürich, um 1300) – diesem Textzeugen ist auch die Abbildung auf dem Cover der vorliegenden Arbeit entnommen – sowie Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 623, „deren Miniaturen zum bedeutendsten gehören, was die Buchmalerei der Zeit hervorgebracht hat“ (Ott, Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften, S. 93). „In beiden Handschriften steht dem Karlsepos die Weltchronik des Rudolf von Ems voran: die ‚Vita Caroli‘, wie eine spätere Hand über den Textbeginn im St. Galler Codex geschrieben hat, fungiert gewissermaßen als reichsgeschichtliche Fortsetzung der heilsgeschichtlich-universalhistorischen Reimchronik“ (ebd., S. 93). Vgl. für weitere Illustrationen zu Karl und Roland die umfängliche Sammlung von Rita Lejeune, Jacques Stiennon: Die Rolandssage in der mittelalterlichen Kunst. 2 Bde. Brüssel 1966. 69 Vgl. zu diesem Verschiebungsprozess auch Bastert, Helden als Heilige, S. 269–293. 70 Ders., Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 97.

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II Theoretische und methodische Grundlagen

Gestaltung einer Vita Karls des Großen – samt Geburt, Jugend, erotischer Versuchung, Martyriumsbereitschaft und Verbreitung des Christentums, Aufnahme in ewige Seligkeit –, die gegenüber dem Rolandslied von einer stärkeren „hagiographische[n] Aufladung“ geprägt sei.71 So entstehe eine „Art poetische[] Vita“, die jene sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sich dominant ausbildende Form der Bearbeitung des Karlsstoffs präfiguriert.72 Doch verdrängt Strickers Karl das Rolandslied des Pfaffen Konrad nicht, vielmehr „verhalten sich [beide Texte; F. B.] zueinander komplementär“.73 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad ist im ost- und mitteldeutschen Raum verbreitet, Strickers Karl vor allem im oberdeutschen Raum und kann demzufolge als „oberdeutsche Umsetzung“ des Rolandslieds angesprochen werden.74

1.3 Das Zürcher Buch vom heiligen Karl Das Zürcher Buch vom heiligen Karl ist eine „[f]rühneuhochdeutsche Prosaauflösung von Konrad Flecks ‚Flore und Blancheflur‘ und Strickers ‚Karl‘, ergänzt durch

71 Ebd., S. 95. Dem Modell der Heiligenvita folgend profiliere der Stricker besonders die nôt, also die passio Karls auf dem Spanienfeldzug (vgl. ebd., S. 96). Hammer teilt die Deutung des hagiographischen Charakters des Karl, indem er einen Vergleich mit der Chanson de Roland unter der Perspektive der Memoria anstellt: Der Stricker gestaltet ein ‚Heiligengedenken‘, die älteren Bearbeitungen des Karlsstoffs und stellvertretend die Chanson de Roland gestalten noch ein ‚Heldengedenken‘ (Andreas Hammer: Erinnerung und memoria in der Chanson de Roland und im Karl der Große von dem Stricker. In: Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Hrsg. von Susanne Friede, Dorothea Kullmann. Heidelberg 2012 [GRM-Beiheft. 44], S. 237–260). Anders als Klein deutet Ukena-Best den Karl in seiner Gesamtanlage nicht als Vita, sondern erklärt, dass der Stricker „den Gattungsrahmen der christlichen Heldenepik“ des Rolandslieds verlasse und „ein eigenes Genus von christlich-religiöser Herrscherdichtung“ schaffe, einen „Herrscherroman[]“ (dies., Providentia Dei, S. 357). So sei der Karl ein an Modellen der Universalhistoriographie „entfaltetes poetische[s] Exempel[] für Dn 2,21“ (ebd., S. 362). Mit den Thesen von Klein geht Wolf hart ins Gericht: „Welche methodologischen Schwierigkeiten [...] entstehen, wenn man die Frage Kreuzzugsepos oder Hagiographie zu entscheiden versucht, zeigt der Aufsatz von Dorothea Klein, die in dem Werk eine ‚Vita vom heiligen Karl‘ sieht. Ihre Arbeit belegt das zirkuläre Verhältnis von Gattungs- und Funktionsbestimmung“ (Wolf, ‚Sante Karle‘, S. 93; vgl. zur Kritik an Klein auch ebd., S. 109, Anm. 49). Wolf fährt fort: „Das Werk ist zu komplex, enthält zu viele Bedeutungsschichten, als daß sich dies einem einheitlichen Interesse unterordnen ließe“ (ebd., S. 94) und weist auch die Thesen von Ukena-Best zurück (vgl. ebd., S. 95). So sei schließlich die Frage, „‚Staatsroman‘ oder ‚Heiligenvita‘“ eine „Scheinfrage“, „weil in Text und Figuren verschiedene Diskurse zusammenlaufen“ (ebd., S. 112). Auf die Thesen von Klein, Ukena-Best, Wolf und Bastert werden Kapitel III.7 sowie die Zusammenfassung (IV.) zurückkommen. 72 Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 97. 73 Ebd., S. 108. 74 Ebd., S. 108 u. 110 (Zitat).

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Teile des Pseudo-Turpin und anderer Karlstexte“.75 Es verbindet damit verschiedene Stoff- und Erzähltraditionen um Karl den Großen, wobei mit der Rezeption des Strickerschen Karl und des Rolandslieds eine Traditionslinie bis zur altfranzösischen Chanson de Roland gezogen werden kann.76 Damit reiht es sich – ergänzt um die Bearbeitung weiterer deutscher und lateinischer Karlstexte – in die Rezeption der Chanson de geste-Erzählungen von Karl dem Großen im oberdeutschen Raum ein. Datiert werden kann der Text durch eine Schreibernotiz im Textzeugen Ms. Car. C 28 auf das Jahr 1475, verortet wird er in Zürich: Explicit per me Georgium Hochmuott cappellanum Thuricy et Nördlingen oppidorum 1475.77 Maßgeblich ist noch immer die Edition von Bachmann und Singer,78 die den Text nach der Handschrift Ms. Car. C 28 wiedergibt,79 einen ergänzenden Lesartenapparat nach Ms. A 121 bietet und den Cod. Gen. 16 nicht kennt.80 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Ms. Car. C 28. Dort erscheint das Buch vom heiligen Karl als erster von insgesamt

75 Karl-Ernst Geith: Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1597. Vgl. auch Christine Stridde: Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter: Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Hrsg. von Wolfgang Achnitz. Bd. 5. Berlin/Boston 2013, Sp. 1781–1783. 76 Nach Kletzin benutzt der Redaktor von Ms. Car. C 28 eine Prosaauflösung vom Stricker sowie Textzeugen des Rolandslieds; Übereinstimmungen hat es mit der Weihenstephaner Chronik, diese sei „anregung“, aber nicht Vorlage des Buchs vom heiligen Karl (Urte Kletzin: Das Buch vom heiligen Karl, eine Zürcher Prosa. In: PBB 55 [1931], S. 24 f.). 77 Albert Bachmann, Samuel Singer: Einleitung. In: Deutsche Volksbücher. Aus einer Zürcher Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von dens. Tübingen 1889 (BLV. 185), S. VII. Der Text ist in drei Handschriften überliefert: 1.) Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Car. C 28, Papier, 406 Blätter, fol. 1r–47v, südalemannisch/nordschweizerisch, 1474–1478 (vgl. Bastert, Helden als Heilige, S. 478 sowie Handschriftencensus [http://www.handschriftencensus.de/4021, Zugriff: 13.12.2020]; Bachmann/Singer (Einleitung, S. VI) beschreiben die Ausstattung der Handschrift); 2.) Schaffhausen, Stadtbibliothek, Cod. Gen. 16, Papier, 165 Blätter, hochalemannisch, 1483 (Buch vom heiligen Karl, fol. 1r–69v; Buch vom heiligen Wilhelm, fol. 71r–164v); 3.) Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 121, Papier, 221 Blätter, frühneuhochdeutsch (hochalemannisch), 12.2.1551 (Auszüge aus dem Buch vom heiligen Karl, fol. 1r–32v; Morgant der Riese, fol. 33r–221v). Ms. A 121 bietet folgende Abschnitte der von Bachmann/Singer wiedergegebenen Handschrift Ms. Car. C 28: S. 1–19,16; 20,6–38,15; 94,7– 105,17; 106,14–108,12. Vgl. auch Christine Putzo: Konrad Fleck, ‚Flore und Blanscheflur‘. Berlin u. a. 2015 (MTU. 143), S. 141. 78 Deutsche Volksbücher. Aus einer Zürcher Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Bachmann und Samuel Singer. Tübingen 1889 (BLV. 185), S. 1–114. Das Buch vom heiligen Karl wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert, mit „BhK“ abgekürzt unter Angabe von Seite und Zeile. 79 Vgl. für eine Beschreibung der Handschrift Ms. Car. C 28 Bachmann/Singer, Einleitung, S. V–XI. Für das Buch vom heiligen Karl relevant sind neben der Einleitung (ebd., S. V–XXVIII) die Lesarten von Ms. A 121 (ebd., S. 365–387), die Nachträge zu den Anmerkungen (ebd., S. 476–483) sowie das Namen- und Wörterverzeichnis (ebd., S. 487–508). 80 Vgl. Putzo, Konrad Fleck, S. 141.

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zehn in der Handschrift versammelten Texten81 und „stammt vom selben Bearbeiter wie die Bearbeitungen des ‚Willehalm‘ und des ‚Georg‘“.82 Der Bearbeiter ist anonym, bekannt ist allerdings der Schreiber des Buchs vom heiligen Karl als Georg Hochmuot aus Donauwörth (s. o.), der auch das Buch vom heiligen Wilhelm sowie das Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen niederschrieb.83 Auftraggeber der kompilierenden Handschrift ist vermutlich Hans Rüeger, Priester am Fraumünster in Zürich seit 1472, der als Besitzer der Handschrift „in einer alten notiz auf dem hintern deckblatt“ genannt ist.84 Eine Motivierung zur Abfassung des Buchs vom heiligen Karl wird im Zürcher Karlskult gesehen, der ein Bedürfnis an Informationen und Erzählungen über den heiligen Kaiser hervorgerufen haben wird.85 Der Bezug zum Entstehungsort Zürich wird auch durch die Darbietung von Episoden, die ebendort ihren Schauplatz haben, hergestellt. Bastert bezeichnet das Buch vom heiligen Karl als „[...] neben der Karlmeinet-Kompilation kompletteste[n] mittelalterliche[n] deutschen[n] Text über Karl den Großen,“ wobei der Titel, den Bachmann und Singer ihm gegeben haben, auf ebenjenes zielt, „was im Zentrum des Werkes steht: die Heiligkeit Karls“.86 Feistner resümiert die Beschaffenheit und Qualität des Buchs vom heiligen Karl wie folgt: Insgesamt besteht die Leistung des unbekannten Bearbeiters v. a. in der Redaktion des heterogenen, zwischen Epik u[nd] Historiographie eingespannten Materials, das er durch Verweise

81 Buch vom heiligen Karl (fol. 1r–47r), Buch vom heiligen Wilhelm (fol. 49r–101v), Gesta Romanorum, dt. (fol. 107r–212v), Christus als Kaufmann (fol. 215r–221v), Reinbot von Durne: Georg (Prosaauflösung) (fol. 227r–254v), Hester (fol. 259r–261v), Anastasia (fol. 261v–264v), Meister Ingold: Guldîn spil (fol. 265r–296v), Konrad von Ammenhausen: Schachzabelbuch (fol. 299r–402r), Evangelium Nicodemi/Pilatus (fol. 402v–405r). 82 Geith, Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl, Sp. 1598. Wolframs Willehalm ist „stofflich verwandt“ (Edith Feistner: Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. In: 2Killy 12 [2011] [https://www.degru yter.com/view/VDBO/vdbo.killy.7627, Zugriff: 13.12.2020]) und wird bereits im Epilog des Strickerschen Karl aufgerufen (vgl. K 12044–12050); so spiegelt das Arrangement von Ms. Car. C 28 in der Auswahl und Anordnung der Texte eine Form der Zyklusbildung durch die Verbindung von Karlsund Wilhelmszyklus (vgl. dazu auch Bastert, Helden als Heilige, S. 220–233). 83 Bachmann/Singer, Einleitung, S. VIIf. u. X. Zum Bearbeiter und zu den Händen vgl. ebd., S. Xf. 84 Vgl. ebd., S. IXf. „Später gelangte der codex in den besitz des chorherrenstiftes und gieng von hier aus an die kantonsbibliothek über“ (ebd., S. X). Vgl. auch Bastert, Helden als Heilige, S. 87. 85 Vgl. Geith, Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl, Sp. 1598 unter Verweis auf dens., Karl der Große, S. 97 f. 86 Bastert, Helden und Heilige, S. 113. Eine kompakte Übersicht über die Forschung findet sich ebd., S. 113–115. Das Buch vom heiligen Karl lässt sich folgendermaßen gliedern: I. Geschichte von Karls Großeltern Flore und Blanscheflur (BhK 3,1–15,30), II. Karls Geburt, Jugend, Aufstieg zum Kaiser und weitere Taten (BhK 15,31–27,14), III. Spanienfeldzug (BhK 27,15–94,6), IV. Karls (und Rolands) Heidenkämpfe, (Rolands und) Karls Tod, Herrscherporträt, Heiligsprechung und miracula post mortem (BhK 94,7–114,14). Vgl. für eine dreigeteilte – II. und III. werden zusammengefasst –, detailliert aufgefächerte Gliederung und eine Diskussion der Quellen des Buchs vom heiligen Karl Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl.

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übersichtlicher zu gestalten sucht. Das sprachlich-stilistische Niveau seiner Erzählprosa verrät trotz einiger Reimreste durchaus literar[ischen] Anspruch.87

Mit den bisher genannten Beiträgen ist die Forschung zum Buch vom heiligen Karl nahezu abgedeckt und Feistner konstatiert: „Das Z[ürcher] B[uch] zählt zu den wichtigsten – gleichwohl noch immer wenig untersuchten – Zeugnissen der deutschen Karlsverehrung im ausgehenden Mittelalter.“88 Dieser zurückhaltende Umgang der Forschung mit dem Buch vom heiligen Karl gibt Anstoß zur Reflexion und Geith sucht hierfür eine Erklärung in der problematischen Gattungszuweisung: „Die Zuordnung des Textes zu den Volksbüchern durch die Herausgeber mag dazu geführt haben, daß die Zürcher Karlskompilation in der Forschung wenig Beachtung gefunden hat.“89 Bastert fasst die Forschungslage folgendermaßen zusammen: „Die einzige etwas ausführlichere Studie [von Urte Kletzin; F. B.], die dem Text je gewidmet wurde, datiert von 1931 und arbeitet mit ihrem motiv- und quellengeschichtlichen Ansatz recht sorgfältig die Vorlagen des Buchs vom heiligen Karl heraus [...].“90

87 Feistner, Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. Ähnlich urteilt auch Geith (Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl, Sp. 1600): „Der Kompilator erweist sich als guter Kenner der im 15. Jh. vorhandenen Karlstexte. [...]. Die Leistung des Bearbeiters besteht in der Anordnung (Binnenverweise) sowie der gelegentlichen Kommentierung und Umdeutung des Materials.“ 88 Feistner, Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. Das Buch vom heiligen Karl behandeln (knapp) auch Geith, Carolus Magnus, bes. S. 243 u. 266; ders., Karl der Große, S. 97; Stefanie Schmitt: Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman. Tübingen 2007 (MTU. 129), S. 165 f. 89 Geith, Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl, Sp. 1599 f. Bachmann/Singer sind mit der Titulierung des Zürcher Buchs als „Volksbuch“ selbst nicht zufrieden und erklären: „Schließlich noch ein wort über den titel unserer ausgabe. Wir gestehen, daß derselbe nicht besonders glücklich gewählt ist. Ein wesentliches merkmal des volksbuches, die allgemeine verbreitung durch den druck, geht allen unsern texten ab. Wir nahmen ‚volksbuch‘ lediglich im sinne von prosaerzählung, welche die edlern erzeugnisse eines frühern zeitalters dem roher gewordenen geschmack eines spätern anzupassen sucht. So konnten wir den hauptsächlichen inhalt der ausgabe, die parabel von Christus als kaufmann und allenfalls auch das evangelium Nicodemi ausgenommen, unter eine überschrift bringen. Daß wir damit gegen eine allgemein geteilte ansicht, die auch wir als zutreffend anerkennen, verstoßen haben, möge man uns zu gut halten!“ (dies., Einleitung, S. XIf.) Vgl. zur Problematik der Bezeichnung „Volksbuch“ gegenüber „Prosaroman“ auch Jan-Dirk Müller: Art. Volksbuch. In: 3RLW 3 (2007), S. 789–791 und ders.: Volksbuch/Prosaroman. Perspektiven der Forschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 (Sonderheft 1985. Forschungsreferate), S. 1–128. Schmitt spricht von einer „Prosaauflösung von Strickers ‚Karl‘“ (dies., Inszenierungen von Glaubwürdigkeit, S. 165), obgleich neben dem Karl auch weitere Texte herangezogen und bearbeitet werden. 90 Bastert, Helden als Heilige, S. 113 f. Gemeint ist der oben bereits genannte Beitrag von Kletzin, den Bastert wie folgt einschätzt: „Insgesamt geht die Tendenz dieser Untersuchung allerdings sehr stark dahin, sämtliche Textpartien auf, notfalls hypothetische, ältere Vorlagen zurückzuführen, wodurch die Leistung des spätmittelalterlichen Prosaisten automatisch abgewertet wird“ (ebd., S. 114, Anm. 169).

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Neben den Quellen91 des Buchs vom heiligen Karl werden auch seine Bezüge zu Zürich als prominentem Ort der Karlsverehrung untersucht92 und aus gender-Perspektive wird die Inszenierung von Karls Männlichkeit beleuchtet.93 Zuletzt hat Dietl den Text mit Blick auf Kohärenzstiftungen über Träume und Visionen sowie auf pragmatischer Ebene untersucht.94 Bastert bespricht das Buch vom heiligen Karl in verschiedenen Studien,95 diskutiert seine zyklische Verbindung zum Buch vom heiligen Wilhelm und bettet es in den Prozess der bereits genannten „Hagiographisierung des Epischen“ ein, den er für die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen ansetzt.96 Die Bearbeitungstendenzen vom Rolandslied über Strickers Karl bis zum Buch vom heiligen Karl zeichnen nach Bastert folgendes Bild: „Aus unterschiedlichen, teilweise gegenläufigen hagiographischen Diskursen“ entsteht ein Karlsbild, das durch Verschränkungen von „legendarisch-hagiographischen Valenzen“ besonders

91 Folz, Le Souvenir, S. 469–479; Bastert, Helden als Heilige, S. 224–233. Relevant für die Quellen des ersten Abschnitts des Buchs vom heiligen Karl, der die Geschichte von Karls Großeltern auf Grundlage von Konrad Flecks Flore und Blanscheflur erzählt, sind auch Hans Herzog: Die beiden Sagenkreise von Flore und Blanscheflur. Eine litterarhistorische Studie. Wien 1884 (Selbständig paginierter Separatdruck aus: Germania. Vierteljahresschrift für deutsche Alterthumskunde 29 [1884], S. 137–228), S. 13 f. u. 82–90; Lorenz Ernst: Floire und Blantscheflur. Studie zur vergleichenden Literaturwissenschaft. Straßburg 1912 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der Germanischen Völker. 118), S. 25–34 (u. a. Katalog der Abweichungen gegenüber Fleck) sowie im Besonderen Christine Putzo, Konrad Fleck, S. 141–153. 92 Vgl. zum Zürcher Karlskult und den Bezügen des Herrschers zur Stadt Julian Führer: Karl der Große und Zürich. Zum Nachleben eines Idealherrschers. In: Francia. Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte 42 (2015), S. 27–50; Robert Folz: Études sur le Culte liturgique de Charlemagne dans les églises de l’Empire. Genf 1973 (Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg. 115) [zuerst Straßburg 1951], S. 44–49 u. 90–100. Vgl. auch Michele C. Ferrari: Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800. In: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit. Hrsg. von Berndt Hamm, Klaus Herbers, Heidrun Stein-Kecks. Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie. 6), S. 265–267; Bastert, Helden als Heilige, S. 113 f. u. 346 f. 93 Bea Lundt: Der Mythos vom Kaiser Karl. Die narrative Konstruktion europäischer Männlichkeit im Spätmittelalter am Beispiel von Karl dem Großen. In: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Hrsg. von Martin Dinges. Frankfurt a. M. 2005 (Geschichte und Geschlechter. 49), S. 37–51. Lundt konzentriert sich auf die Reibungen in der Konzeption der Karlsfigur, die zwischen göttlicher Begnadung und herrscherlicher Idealität bei gleichzeitiger Sündhaftigkeit, sexueller Triebe und Vergehen (u. a. Inzest und Nekrophilie) sowie einer problematischen Vaterrolle (fehlende Vaterschaft für Roland) aufgespannt ist. Der Beitrag wird in Kapitel III.5 für die Sündenerzählung im Buch vom heiligen Karl genauer diskutiert. 94 Cora Dietl: Kohärenzstiftung ‚von oben‘. Träume und Erscheinungen im ‚Zürcher Buch vom heiligen Karl‘. In: Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Jens Haustein u. a. Stuttgart 2019 (Meister-Eckhart-Jahrbuch. Beihefte. 7), S. 283–295. 95 Bastert, Sequentielle und organische Zyklizität, S. 12 f.; ders., Heros und Heiliger, S. 214 f.; ders., „der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott“, S. 139 f.; ders., Helden als Heilige, bes. S. 113–117 u. 224–233. 96 Zur zyklischen Verbindung des Buchs vom heiligen Karl und des Buchs vom heiligen Wilhelm vgl. auch Kapitel III.7 zu Syntagmatik und Paradigmatik.

2 Herrschersakralität untersuchen: Begriffsklärungen und methodisches Vorgehen

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geprägt wird.97 Damit wird das „ursprüngliche Verhältnis von heldenepischem Substrat und hagiographischem Superstrat in der deutschen Adaptation umgekehrt“.98 Bastert blendet in seiner Analyse bewusst andere Diskurse der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, namentlich einen „herrschaftspolitische[n]“,99 aus und begründet dieses Vorgehen mit der Rezeption und diachronen Bearbeitung der Texte, die besonders das hagiographische Potential und die Rolle Karls als „vorbildliche[r] und heilige[r] König[]“ betonen.100 Im Lichte dieses Analyseergebnisses sollen die genannten Bearbeitungstendenzen vom Rolandslied, über Strickers Karl bis hin zum Buch vom heiligen Karl überprüft und dabei im Besonderen das Buch vom heiligen Karl, das – auch bei Bastert – zumeist kursorische Behandlung erfährt, genauer betrachtet werden. Dabei soll die hagiographische Perspektive auf Karl erweitert werden, indem neben Heiligkeitsdiskursen gezielt die herrscherliche, politische Seite der literarisch inszenierten Karlsfigur einbezogen wird. Zugrunde liegt die zentrale Frage danach, wie sich (sakrale) Herrschaft und Heiligkeit erzählen lassen. Schließlich soll das harmonisch-synergetische, aber auch spannungsreiche Verhältnis von Herrschaft und Sakralität bzw. Heiligkeit, das die Texte verhandeln und das sich im Besonderen an der Herrscherfigur aufzeigen lässt, diskutiert werden. Dazu erscheint es notwendig, zunächst eine Terminologie zur Beschreibung der literarischen Inszenierung von Herrschersakralität voranzustellen, die zum einen den Untersuchungsgegenstand genauer zu bestimmen hilft und zum anderen erlaubt, Textbefunde einordnen und deuten zu können.

2 Herrschersakralität untersuchen: Begriffsklärungen und methodisches Vorgehen Im Folgenden sollen im interdisziplinären Zugriff die begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen für die literaturwissenschaftliche Analyse der Inszenierung von Herrschersakralität in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen geschaffen werden.101 Dazu nimmt das Kapitel seinen Ausgang bei der Explikation von

97 Bastert, Helden als Heilige, S. 287. 98 Ebd., S. 286. 99 Ebd., S. 287. 100 Ebd., S. 293. 101 ‚Herrschaft‘, ‚Sakralität‘ und ‚Herrschersakralität‘ figurieren als Gegenstände verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, zu denen die Literaturwissenschaft nicht primär zählt, weshalb eine Untersuchung der zur Rede stehenden Phänomene in literarischen Texten den fächerübergreifenden Austausch unbedingt erfordert. In diesem Zusammenhang hat sich die Übertragung von Fragestellungen und Perspektiven disparater Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft und der (Religions-)Soziologie auf eine germanistische Mediävistik, die sich als Kulturwissenschaft versteht, in der Gestalt heuristischer Hilfsmittel als fruchtbar für die philologische Arbeit erwiesen. Auf einige Beispiele sei an dieser Stelle stellvertretend verwiesen: Müller liest das Nibelungenlied unter Rückgriff

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Herrschaft (II.2.1), indem zunächst eine auf der Etymologie basierende formale Definition vorgestellt wird, die dann um soziologische Perspektiven erweitert wird, die auf Herrschaftspraxis, -typologie, -geltung und -legitimität abzielen und so eine Heuristik für die sich anschließende Untersuchung bereitstellen. Diese epochenunspezifischen theoretischen Überlegungen sollen dann anhand der Nachzeichnung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Herrschaft, die einen Verständnisrahmen für die literarischen Bearbeitungen der frühmittelalterlichen Herrscherfigur Karl darstellt, historisiert werden. Hieraus ergibt sich der Bezug zur Herrschersakralität, die in Kapitel II.2.2 vorgestellt wird. Neben der Erarbeitung ihrer zentralen Merkmale sollen auch leitende Fragen für ihre literaturwissenschaftliche Untersuchung entwickelt werden. Anschließend greifen Überlegungen zur Konstruktion und Legitimation von Herrschaft auf das Charisma-Konzept Max Webers zurück, das die besondere außeralltägliche Auszeichnung des Herrschers fokussiert. Dabei wird sich zeigen, dass das herrscherliche Charisma eine Funktionsstelle bezeichnet, die durch verschiedene auszeichnende und damit Herrschaft Geltung verschaffende Merkmale besetzt werden kann. Zu diesen Merkmalen zählen auch Sakralität und Heiligkeit. Um Sakralität und Heiligkeit terminologisch unterscheiden zu können, setzt der darauffolgende Abschnitt bei etymologischen Erklärungen an, begreift ‚Herrscherheiligkeit‘ als spezifische Form von Herrschersakralität und fragt nach der narrativen Repräsentation

auf die Webersche Herrschaftssoziologie (Jan-Dirk Müller: Sivrit: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes. In: ABäG 7 [1974], S. 85–124); Welz und Ridder applizieren Webersche Charisma-Theorie und Stigma/Charisma-Ansätze von Wolfgang Lipp auf den Prosa-Lanzelot (Dieter Welz: Negation höfischer Kommunikationsformen in der mittelhochdeutschen Gral-Queste oder Lanzelot als Pönitent. In: Höfische Literatur und Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld [3. bis 5. November 1983]. Hrsg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 [Studia humaniora. 6], S. 333–362; Klaus Ridder: Stigma und Charisma. Lancelot als Leitfigur im mittelhochdeutschen Prosaroman. In: ZfG NF 3 [2009], S. 522–539); Quast deutet den Weg des Helden in Hartmanns Erec mit religionssoziologischem Blick auf das bei Weber beschriebene Virtuosenmuster (Bruno Quast: „Ein saelic spil“. Virtuosentum im höfischen Roman. In: ZfG NF 3 [2009], S. 510–521); SchlechtwegJahn untersucht Macht- und Herrschaftsstrukturen in den Alexanderromanen (Ralf SchlechtwegJahn: Macht und Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman. Trier 2006 [Literatur, Imagination, Realität. 37], zur „Machttheorie“ siehe S. 3–30); auch die Systemtheorie Luhmanns wird vielfach literaturwissenschaftlich perspektiviert, so beispielsweise von Susanne Knaeble: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ‚Parzival‘. Berlin/New York 2011 (TMP. 32), v. a. S. 39–82; Quast wiederum greift für eine Lektüre der Rundtafel im Parzival Wolframs von Eschenbach auf die Religionssoziologie Durkheims zurück (Bruno Quast: Dingpolitik. Gesellschaftstheoretische Überlegungen zu Rundtafel und Gral in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr u. a. Unter Mitarbeit von Ulrich Hoffmann. Berlin/Boston 2016 [LTG. 9], S. 171–184). Unter Rückgriff auf die Macht- und Herrschaftssoziologie von Weber und Popitz untersucht Freundschaft und Herrschaft in der Heldenepik Anne-Katrin Federow: Dynamiken von Macht und Herrschaft. Freundschaftskonzeptionen in der Heldenepik der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Berlin/Boston 2020 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 13).

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beider Konzepte. Werden Heiligkeit und Sakralität in den vorangehenden Kapiteln aus dem Blickwinkel von Herrschaft betrachtet, möchte Kapitel II.2.3 beide schließlich als eigens zu betrachtende Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Untersuchung begreifen. Dazu werden Spezifika des Erzählens von Heiligkeit als Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz gefasst sowie inhaltliche und formale Bestimmungen der Erzählungen vom Heiligen erarbeitet. Daraus ergeben sich Perspektiven auf die Verbindung von Herrschaft und Sakralität bzw. Heiligkeit, die neben stützenden, komplementären und legitimierenden Verhältnissen auch auf Spannungen und zuwiderlaufende Anforderungen verweisen – Herrschersakralität wird auf diese Weise nicht als bloß synthetische Harmonisierungsfigur, sondern auch als Figur des Konflikts erscheinen.

2.1 Herrschaft 2.1.1 Etymologie und formale Definition Was ist Herrschaft? „Weder gibt es einen Konsens über eine allgemeingültige Definition und Abgrenzung von Macht und Herrschaft (und Gewalt), noch findet sich eine Theorie, die besondere Autorität für sich beanspruchen könnte.“102 Diese Feststellung macht die Beschäftigung mit Herrschaft nicht obsolet, sondern drängt dazu, das Verständnis von Herrschaft offenzulegen. Denn was unter Herrschaft zu verstehen ist, legt schließlich fest, welche sozialen Konfigurationen als ‚Herrschaft‘ anzusprechen sind. Einen sicheren Ausgangspunkt bildet die Etymologie des Lemmas ‚Herrschaft/Herr‘, denn [ü]ber die Grundzüge der aufschlußreichen Etymologie herrscht in der Forsch[ung] Einigkeit. Das Wort ‚H[err]‘ leitet sich vom ahd. Adjektiv her ab (‚hoch‘, ‚erhaben‘, ‚würdig‘). Dabei liegt der urspr[ün]gl[ichen] Wortform herro der Komparativ heriro zugrunde. Daraus hatte schon Grimms Wörterbuch gefolgert, ‚H[err]‘ meine ‚zunächst nur den Höhergestellten gegenüber dem Geringeren [...]‘. Ein H[err] nimmt dem Wortsinne nach also nur im Verhältnis zu anderen eine relativ höhere Stellung ein, ohne daß über eine ihn möglicherweise selbst betreffende Unterordnung schon irgendetwas ausgesagt wäre.103

102 Peter Hoeres, Armin Owzar, Christina Schröer: Herrschaftsverlust und Machtverfall in der Historiographie. Zur Einführung. In: Herrschaftsverlust und Machtverfall. Hrsg. von dens. München 2013, S. 1. Aus diesem Grund sollen die Diskussionen um die Definitionen und begrifflichen Abgrenzungen von ‚Herrschaft‘ gegenüber ‚Macht‘, ‚Gewalt‘, ‚Einfluss‘, wie sie beispielsweise Hannah Arendt (Macht und Gewalt. München 1970 [Engl. Orig.: On Violence. San Diego u. a. 1970]), Heinrich Popitz (Phänomene der Macht. 2., stark erw. Aufl. Tübingen 1992, bes. S. 43–78) und ByungChul Han (Was ist Macht? Stuttgart 2005 [RUB. 18356]) führen, ausgespart werden – die theoretisch-methodische Grundlagenarbeit würde andernfalls zum Selbstzweck und ihre dienende Funktion für die literaturwissenschaftliche Untersuchung aufgegeben werden. 103 Dietmar Willoweit: Art. Herrschaft. In: LexMA 4 (1989), Sp. 2176 (Hervorhebungen übernommen).

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Grundsätzlich ist Herrschaft also ein soziostrukturelles Verhältnis zwischen einem nicht näher qualifizierten Höheren und einem Geringeren. Somit handelt es sich um ein mindestens zwei Personen voraussetzendes Phänomen, das soziale Beziehungen durch Über- bzw. Unterordnung vertikal arrangiert. Damit verdienen drei Aspekte Beachtung: die Eigenschaften des Herrn, die Eigenschaften des Geringeren sowie die Form bzw. Struktur des Verhältnisses beider zueinander. Von diesem Punkt aus rücken qualitative Bestimmungen in den Blick, also Ressourcen und Modi der Differenzierung sozialer Superiorität und Inferiorität – zu denken ist an Dienst, Zwang, Unterwerfung, Freiwilligkeit usw. –, also Formen der Kommunikation von Herrschaft. Da es sich nicht um ‚absolute‘, sondern um relative Herrschaftsverhältnisse handelt, die je eigens beschaffen und dynamisch sind, können sich soziale Ketten oder Geflechte der Herrschaftsstruktur ergeben: X ist Herr(scher) in Bezug auf einen Beherrschten Y; Y ist wiederum Herr(scher) in Bezug auf Z; X, Y und Z sind allesamt Beherrschte von A usw. Diese aus der Etymologie abgeleitete formale Definition ist inhaltlich flexibel aufzufüllen und kann so auf verschiedene Untersuchungsgegenstände angewandt werden. Narratologisch perspektiviert bedeutet, (von) Herrschaft zu erzählen, Unterscheidungen zwischen Höherem und Geringerem, zwischen Herr und Beherrschtem vorzunehmen, also mit semantischen Oppositionen zu operieren; die erzählerisch generierte histoire wird darüber mit vertikalen Beziehungsgefällen versehen und sozial strukturiert. Als erkenntnisleitende Frage sowohl für die discours- als auch die histoireEbene ergibt sich somit: Wie erzählen die Texte von sozial Höheren und Geringeren und von ihrem Verhältnis zueinander? 2.1.2 Herrschaftssoziologische Perspektiven Um die Darstellung von Herrschaft umfänglich und analytisch präzise in der Literatur untersuchen zu können, lohnt es sich, diese ersten Bestimmungen um einen soziologischen Zugriff zu erweitern, der Herrschaft als soziales Handeln begreift und beschreibbar macht.104 Dieser interdisziplinäre Schritt liegt nahe, denn „[i]m 20. Jh. fällt die Behandlung der Begriffe ‚M[acht]‘ und ‚H[errschaft]‘ ganz überwiegend in den Zuständigkeitsbereich der Sozialwissenschaften.“105 In diesem Zusammenhang

104 Die performative Dimension von Herrschaft verhandeln beispielsweise die interdisziplinären Beiträge in Alf Lüdtke (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 91). Vgl. auch die instruktiven Ausführungen von Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis. In: Ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis, S. 9–63. 105 Thomas Schwietring: Art. Macht/Herrschaft/Gewalt. In: Enzyklopädie Philosophie. Unter Mitwirkung von Dagmar Borchers u. a. hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. 2. Aufl. Hamburg 2010, S. 1483.

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ist Max Webers Herrschaftssoziologie grundlegend – sie wird über die Fachgrenzen der Soziologie hinaus bis heute diskutiert, überprüft und fortgeschrieben.106 Webers „weithin akzeptierte[] Definition“ von Herrschaft lautet:107 ‚Herrschaft‘ soll, definitionsgemäß (Kap. I, § 16), die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden. Nicht also jede Art von Chance, ‚Macht‘ und ‚Einfluß‘ auf andere Menschen auszuüben. Herrschaft (‚Autorität‘) in diesem Sinn kann im Einzelfall auf den verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.108

106 Grundlegend sind die Beiträge in Edith Hanke, Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung. Tübingen 2001. Um einen möglichst unverstellten Blick auf Webers Herrschaftssoziologie zu ermöglichen, ergänzen die folgenden Ausführungen den Weberschen Text lediglich durch sparsame Rückgriffe auf Handbuchartikel. Vgl. für eine kritische Auseinandersetzung und Fortschreibung der Herrschafts- und Machtsoziologie Max Webers die Arbeiten des Bonner SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“. Anliegen des SFB 1167 ist es, „Webers kulturübergreifenden und universalisierenden Ansatz weiterzuentwickeln“ (Matthias Becher: Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive. In: Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von dems., Stephan Conermann, Linda Dohmen. Göttingen 2018 [Macht und Herrschaft. 1], S. 17). Vgl. für eine theoretische Auseinandersetzung mit ‚Herrschaft‘ und ‚Macht‘ in germanistisch-mediävistischer Perspektive zuletzt Ann-Kathrin Deininger: Könige. Konzeptionen von Herrschaft im mittelhochdeutschen ‚Prosalancelot‘ (Studien zu Macht und Herrschaft. 3), Göttingen 2019, bes. S. 29–33; Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, bes. S. 30–49. 107 Dietmar Willoweit: Art. Herrschaft. In: 2HRG 2 (2012), Sp. 976. 108 Max Weber: Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920. Hrsg. von Knut Borchardt, Edith Hanke, Wolfgang Schluchter. Tübingen 2013, S. 449 (Hervorhebungen übernommen); im Folgenden zitiert als MWG I/23. Siehe für das Zitat auch Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Aufl. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausg. Tübingen 1980, S. 122; im Folgenden zitiert als „WuG5“. „Weber umgeht mit diesen formalen Definitionen eine substanzielle oder phänomenologische Bestimmung von M[acht] und H[errschaft] und begreift sie stattdessen als soziale Beziehungen, die durch eine ungleiche M[acht]verteilung bzw. durch die Akzeptanz einer H[errschaft] gekennzeichnet sind. Er zieht damit in gewisser Weise die Konsequenz aus der begrifflichen Ambivalenz der Begriffe. Unter M[acht] und H[errschaft] versteht Weber dabei keineswegs bloß politische Kategorien, sondern seine allgemeine Definition lässt sich auf praktisch alle sozialen Beziehungen und Organisationsformen übertragen“ (Schwietring, Art. Macht/Herrschaft/Gewalt, S. 1477). Weber definiert in Abgrenzung von ‚Herrschaft‘ auch ‚Macht‘, diese Definition sei genannt, da die Analyse zur Beschreibung der Inszenierung der Karlsfigur insbesondere in den Beratungsszenen (Kapitel III.3) darauf zurückkommen wird: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (MWG I/23, S. 210 [Hervorhebung übernommen]; vgl. auch WuG5, S. 28). Es sei auf die Diskussion um Webers Machtbegriff und die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ hingewiesen (vgl. stellvertretend u. a. Becher, Macht und Herrschaft; Andreas Anter: Macht und Herrschaft: Max Webers Perspektive. In: Macht und Herr-

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Weber möchte mit diesem Ansatz „eine reziproke soziale Beziehung erfassen“,109 wodurch der Blick vom Herrscher ausgehend für die Untersuchung der Beherrschten erweitert wird. Auf Seiten des Herrschenden – das ist in der etymologischen Betrachtung der ‚Höhere‘ – stehen ‚Autorität‘, welche ‚Herrschaft‘ entspricht, und ‚Befehl‘, also ein implizit oder explizit hervorgebrachter Imperativ; auf Seiten der Beherrschten stehen ‚Gehorsam‘, ‚Fügsamkeit‘ (von Gewöhnung bis hin zu zweckrationalen Motiven) sowie ein Maß an innerem oder äußerem Interesse am Gehorchen (ein ‚Gehorchenwollen‘). Somit ist auf die Disposition von Herrscher und Beherrschten zu achten und es darf in diesem Sinne nicht jede Form von Domination und Subordination vermittels ‚Macht‘ oder ‚Einfluss‘ als ‚Herrschaft‘ bezeichnet werden. Um das Vorliegen einer „echten“ Herrschaft im Sinne Webers zu beurteilen, müssen folgende Bereiche beschrieben werden: 1.) Befehle des Herrschers, 2.) a) Gehorsam bei den Befehlsempfängern, b) Ermittlung der Motive des Gehorsams, c) Bestimmung des Grades des Gehorchenwollens, 3.) Kommunikation(sstrukturen) zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfängern. Die Fokussierung der Beherrschten ist nicht zu übersehen, von ihrem Verhalten gegenüber den Befehlen des Herrschers hängt die Existenz und Stabilität des Herrschaftsverhältnisses ab. Schwietring folgert daraus: „H[errschaft] ist demnach nicht durch die Methoden der H[errschafts]ausübung oder durch ihre M[acht]mittel gekennzeichnet, sondern durch die Motive des Gehorchens.“110 Es scheint m. E. jedoch geboten, für eine vollständige und angemessene Untersuchung von Herrschaft, die „Methoden der H[errschafts]ausübung“ und die „M[acht]mittel“ der Herrschaft durchaus zu berücksichtigen (Formen der Kommunikation von Herrschaft, Ressourcen und ihre [ungleiche] Verteilung usw.). Wie aber wird Herrschaft begründet, wie beansprucht sie Geltung? Für Webers Verständnis von Herrschaft ist der Aspekt der Legitimität als Signum „echter“ Herrschaft zentral. Legitimität wird dabei nicht in einem normativen oder ethischen Sinne von „Rechtmäßigkeit“ verstanden, sondern als Anerkennungswürdigkeit bzw. Grundlage, auf der die Geltung der Herrschaft beruht. Eine normativ-ethische Bewertung des Anerkennungsgrundes oder der Herrschaft selbst ist damit ausgeklammert, kann jedoch fakultativ hinzutreten. Weber macht die Legitimität zum Kriterium der Idealtypen von Herrschaft:

schaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Matthias Becher, Stephan Conermann, Linda Dohmen. Göttingen 2018 [Macht und Herrschaft. 1], S. 43–58; Andrea Maurer: Herrschaft und Macht: ein altes Thema neu konturiert. In: Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Matthias Becher, Stephan Conermann, Linda Dohmen. Göttingen 2018 [Macht und Herrschaft. 1], S. 59–90). 109 Johannes Winckelmann: Art. Herrschaft (II.). In: HWPh 3 (1974), Sp. 1087 (Hervorhebung übernommen). 110 Schwietring, Art. Macht/Herrschaft/Gewalt, S. 1477.

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Es gibt drei reine Typen legitimer Herrschaft. Ihre Legitimitätsgeltung kann nämlich primär sein: 1. rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft), – oder 2. traditionalen Charakters: – auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen ruhen (traditionale Herrschaft), – oder endlich 3. charismatischen Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen [ruhen; F. B.] (charismatische Herrschaft).111

Die Geltung der Herrschaftstypen basiert auf einer Haltung der Beherrschten, die Weber als „Glauben“ beschreibt; dadurch beruht die Geltung von Herrschaft auf den persönlichen, auch affektiven Einstellungen von Individuen, die wiederum mit dem Herrschafts- bzw. Legitimitätsanspruch des Herrschers zusammenhängen. Diese Interdependenz fasst Winckelmann wie folgt: Entsprechen der von den Herrschenden je geltend gemachte Legitimitätsanspruch und der die Beherrschten leitende Legitimitätsglaube einander, so ist eine optimale Reziprozität und damit Stabilität der H[errschafts]-Beziehung gegeben. Je nach Art dieses Legitimitätseinverständnisses sind die spezifische Eigenart der Beziehung des oder der Herrschenden zu dem Apparat und Verwaltungsstab und beider zu den Beherrschten, die Verteilung der Befehlsgewalten, der Charakter der H[errschafts]-Ausübung und der Typus des Gehorsams typisch verschieden.112

Bei der Untersuchung von Herrschaftsverhältnissen müssen somit der Legitimitätsanspruch des Herrschenden und der Legitimitätsglaube der Beherrschten beschrieben werden, um das Legitimitätseinverständnis als Grad ihrer Übereinstimmung bzw. der fehlenden Passung bestimmen zu können. Eine erste Orientierung über die Verteilung der genannten Herrschaftstypen und damit über die Wahrscheinlichkeit ihres Auffindens im zu untersuchenden Material gibt ihre historische Verortung. Recht holzschnittartig ergibt sich mit Blick auf Westeuropa folgendes Makrobild: In der Moderne dominiert legale Herrschaft rationalen Charakters – ihre Merkmale sind: Bürokratie, Beamte (vor allem der Typus des Vorgesetzten), Verwaltungsstab, sachliche Amtspflicht, eine durch Gesetze geregelte Satzung, Institutionen und Zweckrationalität

111 MWG I/23, S. 453 (Hervorhebungen und Layout übernommen). Vgl. auch WuG5, S. 124. 112 Winckelmann, Art. Herrschaft, Sp. 1087 (Hervorhebung übernommen). Die Konvergenz des Legitimitätsanspruchs und des Legitimitätsglaubens und somit eine Konvergenz der Sozial-, Herrschafts- und Sakralitätsstruktur im Zuge der Formung einer Kreuzzugsgemeinschaft um Karl den Großen behandelt Kapitel III.3.1; die Herausforderung und Fragilität dieser harmonischen Konvergenz im Rahmen der Ratsversammlung Karls und seiner Fürsten zeichnet Kapitel III.3.2 nach.

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(d. h. Abwägen von Handlungen angesichts von Belohnung oder Strafe).113 Traditionale Herrschaft – eher der Vormoderne zuzuordnen – ist gekennzeichnet durch die Tradition von Ordnungen, das Auftreten eines Herrn samt Dienerschaft, persönliche Treue der Dienerschaft/Genossen/Untertanen sowie die Akzeptanz der Willkür des Herrn. Ein Beispiel für diesen Herrschaftstypus ist der primäre Patriarchalismus mit Erbfolgeregeln. Traditionale Herrschaft wird zumeist als im europäischen Mittelalter dominante Herrschaftsform begriffen.114 Charismatische Herrschaft schließlich ist außeralltäglich und baut zentral auf das Charisma, die außergewöhnlichen Qualitäten – wozu auch Heiligkeit gehören kann – eines „Führers“; von der Aufrechterhaltung seines Charismas hängt der Bestand des Herrschaftsverhältnisses ab.115 Charismatische Herrschaft kann verstetigt, veralltäglicht,116 vererbt werden und sich in traditionale Herrschaft auflösen. Es gibt also Phasen des Wandels und Wechsels der Herrschaftstypen.117 Bei dem hier in Kürze Gezeigten handelt es sich – wie gesagt – um Idealtypen, die in dieser Reinheit realiter kaum anzutreffen sind, weshalb der Einzelfall einer ent-

113 „Der Legalismus ruht auf dem Glauben an die Legitimität rational gesatzter oder interpretierter Ordnungen und der Machtbefugnis der durch diese zur Ausübung der H[errschaft] jeweils Bestimmten. Dem legitimierenden Ordnungsgehalt gesatzter Grundprinzipien legaler H[errschaft] steht die Legitimität der eingesetzten H[errschafts]- und Rechtsetzungsinstanz gegenüber. Legitimität bildet somit die Rechtfertigungsgrundlage der H[errschaft], gewährt legitime Kompetenzen und setzt dem legitimen Geltungsbereich zugleich innere Schranken, für die eine institutionalisierte Legitimitätskontrolle eingesetzt sein kann“ (Winckelmann, Art. Herrschaft, Sp. 1088 [Hervorhebung übernommen]). 114 „Der Traditionalismus ruht auf dem Glauben an die Unverbrüchlichkeit des praktizierten Herkommens und an die in ihm verbürgten Autoritäten. Traditionale H[errschaft] ist gekennzeichnet durch ein Doppelreich: a) der den Inhalt der Anordnungen bindend bestimmenden Tradition; b) der der freien Willkür und Gnade des Herrschers einen Spielraum sichernden Tradition, wobei der Brauch wiederum der Betätigung eine Grenze setzt. In der Realität kann traditionale H[errschaft] von der dumpfen Gewöhnung an das ewig Gestrige bis zur bewußten Pflege der in der Tradition tradierten Prinzipien und Überzeugungen reichen und damit in die Sphäre der Wertrationalität hinübergreifen“ (ebd., Sp. 1087 [Hervorhebung übernommen]). 115 „Der Charismatismus ruht auf der gläubigen Hingabe der Gefolgschaft an die Außeralltäglichkeit einer durch spezifische Gnadengabe (Heiligkeit, Heldentum, Vorbildlichkeit) in den Augen ihrer Anhänger ausgezeichneten Person und der durch sie gestifteten Ordnungen. Der durch keine Tradition oder Satzung gehemmten Herrschermacht kraft persönlicher Gnadengabe steht gegenüber der fortwährende Zwang für den Herrscher zur Bewährung an dem konstitutiven Sendungsgedanken, der seine ‚Berufung‘ trägt“ (ebd., Sp. 1087 f. [Hervorhebungen übernommen]). 116 Vgl. zur „Veralltäglichung des Charismas“ MWG I/23, S. 497–513 (WuG5, S. 142–148). 117 „Die verschiedenen Formen unterscheiden sich auch durch die Art, wie ein Herrscherwechsel bzw. die Nachfolgefrage geregelt wird. Im Fall traditionaler H[errschaft] ist die Nachfolgeregelung an die Tradition gebunden, und in bürokratischen H[errschafts]ordnungen ist die Besetzung von Ämtern oder Funktionen durch das geltende Recht geregelt. Da persönliches Charisma nur bedingt übertragbar ist, stellt die Nachfolgefrage für eine charismatische H[errschaft] ein schweres Problem dar. Reale H[errschafts]ordnungen sind praktisch immer Mischformen dieser drei Idealtypen. Und sie stützen sich darüber hinaus fast immer auf einen H[errschafts]- oder Verwaltungsstab, also auf soziale Gruppen oder formale Organisationen, die an der H[errschaft] teilhaben oder sie faktisch ausführen“ (Schwietring, Art. Macht/Herrschaft/Gewalt, S. 1483).

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sprechenden Untersuchung bedarf. Winckelmann beschreibt diese Typologie von Herrschaft, ihre Reichweite und methodische Anwendung wie folgt: Von diesen Legitimitätstypen, die in einem eigenartigen wechselseitigen Beziehungsverhältnis zueinander stehen, ist weder ein einzelner der Grundtyp, noch sind diesen theoretisch konstruierten Strukturtypen in etwa entsprechende Phänomene in der historisch-politisch-sozialen Realität stets in einer bestimmten invariablen Reihenfolge nacheinander aufgetreten oder auch nur überall vorhanden gewesen. Die Bildung dieser Typen legitimer H[errschafts]-Struktur beruht auf dem faktischen Material einer mehrtausendjährigen Geschichtserfahrung: Sie stellen Archetypen menschlicher Geschichts- und Sozialerfahrung dar. Die realen H[errschafts]-Phänomene weisen demgegenüber zumeist komplizierte Abwandlungen, Kombinationen und Übergänge zwischen den Typenkonstruktionen auf. Diese dienen methodisch als heuristische Forschungs- sowie als terminologische Darstellungsmittel bei der konkret-empirischen Analyse.118

In diesem Sinne sollen die drei reinen Typen legitimer Herrschaft als Ordnungsschema und Heuristik verstanden werden, die eine Terminologie zur Beschreibung der literarisch inszenierten Formen von Herrschaft in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen liefern. Es geht der vorliegenden Arbeit schließlich nicht darum, historische, außerliterarisch verbürgte Herrschaftsmodelle in einem Eins-zu-eins-Verhältnis auf die Literatur zu übertragen bzw. ihre Repräsentation im Textcorpus festzustellen, sondern um die Profilierung der spezifisch literarischen Modelle von Herrschaft. Freilich ist die literarische Inszenierung von gesellschaftlichen Herrschaftsdiskursen beeinflusst und diesem Umstand tragen die folgenden Ausführungen auch Rechnung. 2.1.3 Herrschaft als literarisches Paradigma Die etymologischen und soziologischen Überlegungen bieten eine Grundlage für die Analyse literarisch inszenierter Herrschaft und eröffnen Untersuchungsperspektiven, indem sie Herrschaft formal, typologisch und inhaltlich epochenunspezifisch beschreiben. Webers Blick auf das westeuropäische Mittelalter und Herrschaft als schematische Gegenüberstellung eines Herrschers und vieler ‚passiver‘ Herrschaftssubjekte ist kritisch zu betrachten. So hat die mediävistische Geschichtswissenschaft mittelalterliche Herrschaft vielmehr als ‚konsensuale Herrschaft‘ profiliert und geht von einer Beteiligung vieler Akteure am kollektiv und dabei auch agonal auszuhandelnden Herrschaftshandeln aus.119 Webers Bestimmungen sind also vor

118 Winckelmann, Art. Herrschaft, Sp. 1088 (Hervorhebung übernommen). 119 Vgl. stellvertretend Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Hrsg. von Paul-Joachim Heinig u. a. Berlin 2000 (Historische Forschungen. 67), S. 53–87; Steffen Patzold: Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik. In: FMSt 41 (2007), S. 75–103. Vgl. dazu auch Kapitel III.3.2.

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allem formal-klassifikatorisch zu begreifen und sollen im Folgenden um ein Referat mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse ergänzt werden. Dadurch wird ein historischer und ideengeschichtlicher Verständnis- und Bezugsrahmen für die Deutung der Inszenierungen von Herrschaft in den oberdeutschen Bearbeitungen des Karlsstoffs geschaffen. Das Rolandslied, Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl entstehen in Kulturen, in denen Herrschaft spezifisch erlebt und reflektiert wird, und sie erzählen aktualisierend von der historischen Herrschaft Karls des Großen im 8. und frühen 9. Jahrhundert. Das Thema ‚Herrschaft‘, das zum gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungshorizont gehört, wird also von den Texten aufgegriffen, bearbeitet und in die Gesellschaft und ihre Kultur eingebracht – damit wird ‚Herrschaft‘ auf paradigmatischer Ebene ausgewählt, syntagmatisch konfiguriert und mit Blick auf die rezipierende Gesellschaft refiguriert. Bei der Analyse der Art und Weise, wie Erzählungen kulturelle Phänomene und Welten – also z. B. Ereignisse, Geschichten, kulturelle Gedächtnisse und Identitäten – erzeugen, bietet es sich an, zwischen der paradigmatischen Achse der Selektion, der syntagmatischen Achse der Kombination bzw. Konfiguration von Elementen sowie der diskursiven Achse der Perspektivierung zu unterscheiden. Der Selektion von Kulturthemen und Erzählformen entspricht der Begriff der paradigmatischen Ebene bzw. des Paradigmas, der die Gesamtheit aller Teilsysteme bezeichnet, aus denen Themen und Darstellungskonventionen ausgewählt werden.120

Dieses dreischrittige Modell verdankt sich Ricœurs ‚Kreis der Mimesis‘ und Nünning perspektiviert es auf das Verhältnis von Narrationen und Kulturen: Erstens sind narrative Texte und Erzählungen generell bezogen auf und präformiert durch eine vorgängige, außerliterarische Wirklichkeit (Präfiguration): Erzählungen aller Art entstehen stets im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Erzählmuster bzw. Repertoires an Erzählformen und Plots (objektiviert in sozialer Interaktion, Institutionen, Medien und Symbolsystemen) kursieren. Zweitens können narrative Texte unterschiedlichste Aspekte und Formen dieser kulturellen Wirklichkeitsmodelle auf je spezifische Weise darstellen (Konfiguration), indem sie diese mit spezifisch narrativen Verfahren repräsentieren. Solche narrativen Inszenierungen von Welten vermögen drittens auf die außertextuelle Wirklichkeit zurückzuwirken (Refiguration): Erzählungen waren und sind an der Ausformung und Reflexion von individuellen und kollektiven Identitäten sowie kulturellen Welten und Weltbildern in nicht unwesentlichem Maße beteiligt.121

Die oberdeutschen Erzählungen von Karl dem Großen leisten als Medien sozialer Kommunikation und gesellschaftlicher Selbstbeobachtung einen Beitrag zur Kultur

120 Ansgar Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Hrsg. von Alexandra Strohmaier. Bielefeld 2013, S. 34. 121 Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S. 32. Vgl. zum ‚Kreis der Mimesis‘ Paul Ricœur: Time and Narrative. Bd. 1. Chicago/London 1984 [Frz. Orig.: Temps et récit. Paris 1983].

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einer Gesellschaft, indem sie das Thema ‚Herrschaft‘ als Komplex gesellschaftlicher bzw. kultureller Wirklichkeit bearbeiten und reflektieren. Die Präfiguration zu bestimmen, hilft zu bestimmen, worin die spezifische narrative Leistung und Bearbeitungsweise der Texte besteht (Konfiguration) – literarisch inszenierte Herrschaft wird so beschreibbar.122 Um das kulturelle Feld der Präfiguration erfassen zu können, sollen im Folgenden Spezifika mittelalterlicher Herrschaft (die freilich Ergebnisse wissenschaftlicher Rekonstruktion sind) dargelegt und damit eine Historisierung der theoretischen Bestimmungen von Herrschaft vorgenommen werden. Es sollen hier unter Verzicht auf Kontroversen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung Grundzüge und konstante Vorstellungen mittelalterlicher Herrschaft referiert werden, die insbesondere das König- und Kaisertum beleuchten – Karl der Große ging schließlich als fränkischer König und erster mittelalterlicher römischer Kaiser in die Geschichte und in die literarischen Texte des 12., 13. und späten 15. Jahrhunderts ein. Grundsätzlich besteht eine Differenz zwischen der Verwendung und Bedeutung der metasprachlichen und objektsprachlichen Bezeichnung ‚Herrschaft‘ und verwandter Ausdrücke.123 Von den bereits vorgestellten Definitionen von Herrschaft und besonders den soziologischen Bestimmungen „ist der wort- und begriffsgeschichtliche Befund der Quellen zu unterscheiden, in dem sich das Rechtsdenken

122 Es liegt dem Folgenden die Annahme zugrunde, dass die spezifisch literarischen Inszenierungen von Herrschersakralität in der produktiven Konfrontation mit außerliterarischen, realhistorischen Formen und Rekonstruktionen dieses universalen Phänomens an Profil gewinnen. Zu klären, welche Vorstellungen von den Aufgaben, Rechten und Pflichten des königlichen bzw. kaiserlichen Herrschers greifbar sind, trägt dazu bei, das literarische Herrscherbild beschreiben zu können. Freilich sind Prä- und Intertexte sowie das Feld literarischer Darstellungsmittel und -traditionen wirkmächtige Elemente der Präfiguration – sie werden im Zuge der Analysen in Kapitel III über diachrone Vergleiche zwischen den Texten des Corpus berücksichtigt. 123 Mit ‚Herrschaft‘ wird auf einen wissenschaftlichen, metasprachlichen Begriff zurückgegriffen, um literarisch geformte herrscherliche Beziehungen aufzudecken, ohne sich dabei auf das mittelhochdeutsche Lexem hêrschapht o. Ä. beschränken zu müssen. Äquivokationen oder Äquivalenzen auf der Ausdrucksebene können irreführend sein und lassen sich strukturell umgehen, indem die historische Ausdrucksebene von einer begrifflich-konzeptuellen analytisch geschieden wird. Die Differenz quellenund wissenschaftssprachlicher Terminologie kann exemplarisch an einer Übersetzungs- und Interpretationsproblematik des Rolandslieds vorgeführt werden: Kartschoke übersetzt im Rahmen der Beschreibung des Hoflagers Karls hêrschapht (RL 672) mit nhd. ‚Pracht‘ (zitiert nach Kartschoke [Hrsg.], Das Rolandslied des Pfaffen Konrad); Freienhofer übersetzt dagegen, „[u]m sowohl die Integration von Gewaltpotential und Rechtspflege als auch die Relation zwischen Herrscher und Gemeinschaft miteinzubeziehen“, hêrschapht mit ‚Macht‘ (dies., Verkörperungen von Herrschaft, S. 90, Anm. 63) – beide Übersetzungen geben somit mhd. hêrschapht nicht mit nhd. ‚Herrschaft‘ wieder. Vgl. zur Differenz von Objekt- und Metasprache auch Hubert Seiwert: Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers. In: Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen. Hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2002, S. 245–265.

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einer Epoche genauer und subtiler widerspiegelt.“124 Im Gegensatz zur modernen wissenschaftlichen Verwendung des Herrschaftsbegriffs hält Willoweit fest, dass „H[errschaft] im M[ittelalter] niemals wie ein Abstraktum zur Bezeichnung jedweder polit[ischer] Gewalt verwendet wurde, sondern stets an konkrete Befugnisse gebunden blieb.“125 Das ist für eine Verwendung im geschichtswissenschaftlichen Kontext faktischer Herrschaft treffend und bedeutet für die Untersuchung literarisch inszenierter Herrschaft, dass die herrscherlichen „Befugnisse“ einer Figur untersucht werden können; mögen diese nun explizit oder implizit ausgedrückt werden. Wenn dazu auch die herrscherliche Legitimation berücksichtigt wird, „dann ist H[err]schaft im Sinne eines heurist[istischen] Forsch[ung]sbegriffs zu definieren als ein rechtl[ich] begründeter Anspruch auf fremdes Tun, mit welchem Befehls- (Gebots-) befugnisse meist verbunden sein werden.“126 Dieser ‚heuristische Forschungsbegriff‘ kann durchaus für die Untersuchung literarischer Herrschaft in Anschlag gebracht werden, indem nach Formen der Herrschaftslegitimation und ihrer rechtlichen Begründung gesucht, die Ausübung und die Reichweite des „Anspruchs[s] auf fremdes Tun“ sowie konkrete Befehle, Gebote, Weisungen des Herrschenden gegenüber Beherrschten betrachtet werden. Willoweit benennt „charakterist[ische] Merkmale aller Typen m[ittelalterlicher] H[err]schaft“:127 Das sind die „Verpflichtung zum Gehorsam und zu Rat und Hilfe“ auf Seiten der Beherrschten und die Gewährung von „Schutz und Schirm“ auf Seiten des Herrschenden;128 und „[i]n dieser Wechselbezüglichkeit der gegenseitigen Pflichten im Rahmen eines H[err]schaftsverhältnisses spiegelt sich dessen personale Struktur wider“.129 Es geht also bei mittelalterlicher Herrschaft um eine Verbindung von ‚Personalisierung‘ und ‚Institutionalisierung‘,130 deren genaues Verhältnis auch mit Blick auf das Lehnswesen in der Forschung kontrovers diskutiert wird.131 Nach Papalekas wird „[u]nter Bezugnahme auf den christlichen Glaubens124 Willoweit, Art. Herrschaft (2HRG), Sp. 976. 125 Ders., Art. Herrschaft (LexMA), Sp. 2177. 126 Ebd. 127 Ebd., Sp. 2178. 128 Willoweit, Art. Herrschaft (2HRG), Sp. 980. 129 Ders., Art. Herrschaft (LexMA), Sp. 2178. Vgl. zur Kritik an dieser auf Brunner zurückgehenden Auffassung der reziproken, idealisierten Beziehungsverhältnisse stellvertretend Karl Ubl: Art. Herrschaft. In: Enzyklopädie des Mittelalters. Bd. 1. Hrsg. von Gert Melville, Martial Staub. 3., unveränd. Aufl. Darmstadt 2017, S. 9–12. 130 Vgl. u. a. den perspektivenreichen Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg: Herrscher als Typusfiguren der Verkörperung institutioneller Macht im Kampffeld von Spannungsbalancen. In: Die Macht des Herrschers: Personale und transpersonale Aspekte. Hrsg. von Mechthild Albert, Elke Brüggen, Konrad Klaus. Göttingen 2019 (Macht und Herrschaft. 4), S. 27–68. 131 So hat „[d]er klassischen Sichtweise auf das Lehnswesen [...] Susan Reynolds in letzter Zeit deutlich widersprochen, insbesondere die personale Bindung des Vasallen an den Herrn hat sie in Frage gestellt und damit eine weitreichende Forschungsdiskussion ausgelöst, die noch nicht abgeschlossen ist“ (Deininger, Könige, S. 31 f. [mit weiterer Literatur]); Susan Reynolds: Fiefs and Vassals. The Medieval Evidences Reinterpreted. Oxford 1994. Vgl. u. a. Steffen Patzold: Das Lehnswesen. München

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satz, daß alle irdische Macht von Gott sei (Röm. 13,1), [...] im weltlichen Herrscher die personale und institutionelle Inkarnation göttlicher Allmacht erblickt.“132 Der Herrscherkörper ist theoretisch, wie Kantorowicz wegweisend aufgezeigt hat, in einen persönlich-leiblichen und in einen überpersönlich-amtlichen differenziert.133 Diese persönliche und institutionelle Struktur schlägt sich auch in den Aufgaben und Pflichten des königlichen Herrschers nieder. So steht im Zentrum der Herrschaft die „Gerechtigkeit (iustitia), die der König als dem Recht unterworfener rex iustus nicht nur üben und wahren, sondern die er als Vorbild für das Volk auch persönlich verwirklichen sollte, indem er ein an den christl[ichen] Normen orientiertes, moralisch einwandfreies Leben führte.“134 Nicht nur der König selbst gilt „als von Gott begründet (rex a deo electus/coronatus)“,135 sondern auch die Institution des Königtums. Als Stellvertreter (vicarius Dei/Christi) besitzt der König zudem „eine priesterähnliche (sazerdotale) Verantwortung für die ihm von Gott anvertrauten Beherrschten“.136 Diese besondere Gottesnähe, „die dem K[önig] eine in Frankreich und England wäh-

2012 (Beck’sche Reihe. 2745). Einschlägig für die germanistisch-mediävistische Diskussion der Vasallitätsbeziehungen sind die Studien von Ursula Peters (vgl. stellvertretend dies.: Die Ligesse als Problemfeld romanisch-deutscher Literaturbeziehungen im 12. und 13. Jahrhundert In: FMSt 51 [2017], S. 141–192). 132 Johannes Christian Papalekas: Art. Herrschaft (I.). In: HWPh 3 (1974), Sp. 1084. 133 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. 2. Aufl. München 1994 [Engl. Orig.: The King’s Two Bodies. Princeton, N. J. 1957]. Vgl. zu Personalisierung und Institutionalisierung aus germanistisch-mediävistischer Perspektive mit weiterer Literatur zum Thema Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 7–12. 134 Franz-Reiner Erkens: Art. König. In: 2HRG 3 (2016), Sp. 9 (Hervorhebungen übernommen). 135 Ebd. (Hervorhebungen übernommen). 136 Ebd., Sp. 9 (Hervorhebungen übernommen). Die Form dieser umfänglichen, auch das Seelenheil betreffenden herrscherlichen Verantwortung lässt sich auch mit Foucaults Konzept der „Pastoralmacht“ fassen. Pastoralmacht „stellt [...] eine christlich-religiöse Konzeption dar, in deren Mittelpunkt die umfassende Führung der Einzelnen steht. Die Pastoralmacht fasst das Verhältnis zwischen Führenden und Geführten nach der Idee eines Hirtenamtes, dessen Ziel in der ‚Regierung der Seelen‘ – der (An-)Leitung und Führung der Individuen im Hinblick auf ein jenseitiges Heil – besteht. Im Unterschied zu antiken griechischen und römischen Führungskonzepten liegt die Eigenart des christlichen Pastorats in der Entwicklung von Analysemethoden, Reflexions- und Führungstechniken, welche die Kenntnis der ‚inneren Wahrheit‘ der Individuen sicherstellen sollten. Neben den Gehorsam gegenüber den (moralischen und rechtlichen) Gesetzen tritt die Autorität eines Hirten, der die Einzelnen unablässig überwachen und seelsorgerisch betreuen soll, um sie auf den Weg zum Heil zu führen“ (Thomas Lemke: Art. Gouvernementalität. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider. 2., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 2020, S. 304). Vgl. auch Hannelore Bublitz: Art. Macht. In: FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider. 2., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 2020, S. 316–319. Auch die umfassende und im Hinblick auf die christliche Axiologie und das Streben nach Seelenheil einmütige Gemeinschaft um Karl (vgl. Kapitel III.3.1) kann als Wirken einer pastoralen Macht bzw. als die erfolgreich durchgesetzte und geltende und damit auf das Wirken pastoraler Macht zurückgehende Verfassung der Individuen und des Kollektivs beschrieben werden.

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rend des späteren M[ittelalters] und der frühen N[euzeit] durch das herrscherliche Thaumaturgentum zusätzlich verdichtete Sakraldimension verlieh, fand ihren äußeren Ausdruck in der kirchl[ichen] Herrscherweihe“.137 Dass der Herrscher als Vorbild zu dienen und sein Leben nach christlichen Vorstellungen zu gestalten hat, verweist auf eine Ethisierung und axiologische Besetzung von Herrschaft: Christlich fundierte Norm und Moral fassen die bei Weber unter Absehung einer ethischen Bewertung für die Herrschaft entscheidende Legitimität im Mittelalter ein. Das spiegelt die personale Seite als Facette mittelalterlicher Herrschaft. Die Stellvertreterschaft Gottes auf Erden bezieht sich sowohl auf das Amt, die Institution, als auch auf den König und damit auf den amtlichen ebenso wie auf den persönlichen Herrscherkörper. Die Verbindung des Amtes und des einzelnen Herrschers zu Gott sowie die Übernahme auch einer priesterähnlichen Verantwortung konstituieren eine herrscherliche Sakralität. Weihe und Salbung markieren diesen Status rituell und begründen „die herausgehobene Stellung des K[önigs] zwischen Klerus und Laien“.138 Auf diese hier umrissene besondere herrscherliche Sakralität ist im folgenden Kapitel II.2 genauer einzugehen. Auch in der Folgezeit bleiben „Rechtsprechung, Friedenssicherung und Heerführerschaft“139 zentrale herrscherliche Aufgaben, die um die Verantwortung für die Aushandlung der Interessen von Fürsten und Kirche sowie die Regulation von Konflikten zwischen dem König selbst und den Großen des Reiches ergänzt werden. Dabei figuriert der Hof als „institutionelle[s] Element[]“ der Herrschaft.140 Trotz aller Änderungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (man denke an die „voll ausgebildete Wahlmonarchie“ und das „alleinige Votum der sieben Kurfürsten“)141 gilt der Reichsbeherrscher als „Wahrer von Recht und Ordnung sowie als militärischer Verteidiger der Reichsrechte und Reichsinteressen an der Spitze eines Herrschaftsverbandes“.142 Daraus folgert Erkens, dass „[d]er Herrscher des Reiches [...] damit auch weiterhin der sakral legitimierte und bei der Krönung gesalbte Repräsentant einer vormodernen Ordnung mit prinzipiell universaler Dimension [blieb]“.143 Damit hat es bei allem Wandel in Politik und Recht über die Jahrhunderte „einen sehr lange Zeit

137 Erkens, Art. König, Sp. 9. Vgl. ebd., Sp. 17 f. für weitere Literatur zum Thema ‚König(tum)‘. Siehe auch Karl Ubl: Art. Königtum. In: Enzyklopädie des Mittelalters. Bd. 1. Hrsg. von Gert Melville, Martial Staub. 3., unveränd. Aufl. Darmstadt 2017, S. 30–39. Vgl. für die Karolingerzeit sowie für Aspekte sakraler Herrschaft exemplarisch Franz-Reiner Erkens (Hrsg.): Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen. Berlin u. a. 2005 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 49). 138 Erkens, Art. König, Sp. 9. 139 Ebd., Sp. 11. 140 Ebd. 141 Ebd., Sp. 12. 142 Ebd., Sp. 14. 143 Ebd.

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nahezu unwandelbaren Kern der Königsidee gegeben, der erst durch das Gedankengut der Aufklärung allmählich aufgelöst worden ist.“144 Diese Charakterisierung des mittelalterlichen Königtums sei in aller Kürze ergänzt um Aspekte des Kaisertums, das die Kompetenzen des Königs erweitert, aber strukturell keine gänzlich andere Herrschaftsform darstellt: „Die K[aiser]würde war seit dem M[ittelalter] mit der d[eu]t[schen] Königswürde verbunden; der d[eu]t[sche] König galt als rex in imperatorem promovendus.“145 Grundsätzlich war und blieb der K[aiser] bis zum Ende des röm[isch]-d[eu]t[schen] Reiches unangefochten dessen Oberhaupt. Damit war allerdings zu keinem Zeitpunkt eine souveräne Herrschaftsstellung verbunden. [...] Als Schutzherr der Kirche, höchster Wahrer von Frieden und Recht und oberster Lehnsherr war der K[aiser] vielmehr in erster Linie die symbolische Spitze des Gesamtverbandes, das Haupt, das – in der zeitgenössischen Vorstellung – dem polit[ischen] Körper seine Einheit verlieh. Die K[aiser]würde war der symbolische Schlussstein der gesamten polit[isch]-sozialen Ordnung, die Quelle aller legitimen Gewalt im Reich.146

Dieser Abriss zu Grundstrukturen früh- und hochmittelalterlicher sowie (in Ansätzen) frühneuzeitlicher Königs- und Kaiserherrschaft konturiert den theoretischen und herrschaftspraktischen Verständnis- und Erlebnishorizont (‚Präfiguration‘ nach Ricœur bzw. Nünning), in dem die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen und ihre Inszenierungen von Herrschaft verortet werden können.147 Damit ist ein makrostruktureller Rahmen für das Thema ‚Herrschaft‘ abgesteckt, der freilich auf lokale, mikrostrukturelle realhistorische Artikulationen von Herrschaft verzichten muss. Der Einfluss literarischer und gattungsgebundener Traditionsbildung im Sprechen bzw. Schreiben über Herrschaft wird über die diachronen intertextuellen Vergleiche zwischen der altfranzösischen Chanson de Roland und den oberdeutschen Bearbeitungen des Karlsstoffs in den einzelnen Kapiteln verhandelt. Diese prä- und intertextuellen Bezüge stellen einen eigenen Bereich oder kommunikativen Modus 144 Ebd., Sp. 15 f. 145 Barbara Stollberg-Rilinger: Art. Kaiser, Kaisertum (Neuzeit). In: 2HRG 2 (2012), Sp. 1506 (Hervorhebungen übernommen). Vgl. ebd., Sp. 1513 f. für weitere Literatur zum Thema ‚Kaiser(tum)‘. 146 Ebd., Sp. 1505 f. 147 Die Forschung hat sich eingehend mit der Anbindung der Texte (Rolandslied und Strickers Karl) an zeitgeschichtliche und -genössische politische und religiöse Ereignisse und Verhältnisse beschäftigt und insbesondere zu den Fragen der Datierung, des Entstehungsortes, des Auftraggebers und der Zielsetzung detaillierte Studien vorgelegt. Exakte Nachweise für den Eingang historischer Bezüge oder tendenziöser Darstellung z. B. einer pro-kaiserlichen oder pro-päpstlichen Ausrichtung, wie sie für Strickers Karl vorgeschlagen worden sind, haben sich in keinem Fall vollends erhärten bzw. beweisen lassen. Der Kontext, in dem und für den die Texte geschrieben und entstanden sind, wird damit zwar nicht unerheblich, doch wird die literaturwissenschaftliche Analyse auf den Text selbst und seine Strukturen zurückverwiesen. Und in diesem Sinne liegt der vorliegenden Arbeit an der literaturwissenschaftlichen Analyse der narrativen Hervorbringung und Inszenierung von Herrschaft und Sakralität der Karlsfigur mit Blick auf die Texte und ihren spezifischen Sprachgebrauch, der einer unmittelbaren ‚Referenz‘ auf die außertextuelle Wirklichkeit nicht zwingend bedarf.

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der Präfiguration neben der historischen, außerliterarischen Verhandlung von Herrschaft dar und verdienen die besondere Aufmerksamkeit der vorliegenden philologischen Studie.

2.2 Herrschersakralität Herrschaft und Sakralität gehen – das haben die vorausgehenden Ausführungen zur mittelalterlichen Herrschaft bereits gezeigt – im gesellschaftlichen Raum Verbindungen ein, denn „Dynamiken von Sakralisierungsprozessen“ erscheinen mit der „Dynamik von Prozessen der Machtbildung“ derart gekoppelt zu sein, „daß sich kein Prozeß der Sakralisierung in einem machtfreien Raum abspielt.“148 So begreift Joas Sakralisierung als anthropologisch konstantes Phänomen, „das für die Geschichte der Religion wie die der Macht – und für die Geschichte der Fusionen von Religion und Macht – das zentrale zu sein scheint: die immerwährende Tendenz zur kollektiven Selbstsakralisierung.“149 Als Konstellation von Macht und Sakralität beansprucht herrscherliche Sakralität als prominente Ausformung kollektiver Selbstsakralisierung universale Bedeutung: Überall aber findet sich die Herausbildung eines sakralen Königtums. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das sich von frühen Agrargesellschaften bis in unsere Gegenwart hinein findet, wobei die genaueren ökonomischen Bedingungen und religiösen Vorstellungen weit voneinander abweichen. Für die Frage nach den Verknüpfungen von Sakralität und Macht ebenso wie für die nach den Gestalten kollektiver Selbstsakralisierung liegt hier ein Gegenstand von allerhöchster Bedeutung.150

Joas’ soziologisches Attest der Universalität findet auch in der mediävistischen Geschichtswissenschaft Rückhalt, wie die folgende Bilanz der Forschungslage zur Herrschersakralität vor Augen führt: Die Sakralität des Herrschers wird seit langem in diachroner und synchroner Perspektive als Phänomen verschiedener Epochen und Kulturen untersucht. Die Vielfalt der Zugangsweisen und der jeweils in den Blick genommenen Einzelphänomene läßt es aussichtslos erscheinen, eine verbindliche Definition der Begriffe ‚Sakralität‘ bzw. ‚Sakralkönigtum‘ vorzugeben. Reli-

148 Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 441 f. (Hervorhebungen übernommen). Vgl. zur Verbindung von Herrschaft und Sakralität auch Günter Dux: Die Genese der Sakralität von Herrschaft. Zur Struktur religiösen Weltverständnisses. In: Erkens (Hrsg.), Das frühmittelalterliche Königtum, S. 9–21. 149 Joas, Die Macht des Heiligen, S. 422 f. (Hervorhebungen übernommen). Die Gründe für diese anthropologische Konstante können hier ausgeblendet werden, Joas entfaltet sie ebd., S. 422–440. 150 Ebd., S. 461. Vgl. zum sakralen Königtum und zu seiner älteren Erforschung auch La regalità sacra. The Sacral Kingship. Contributions to the Central Theme of the VIIIth International Congress for the History of Religions (Rome, April 1955). Published with the help of the Giunta Centrale per gli Studi Storici, Rome. Leiden 1959 (Studies in the History of Religions. 4).

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gionsphänomenologische Deskriptionen stellen eine Fülle von Merkmalen sakraler Herrschaft zusammen, deren Relevanz für verschiedene Epochen und verschiedene Herrschaftsformen jeweils kontrovers diskutiert wird; das Spektrum reicht von der göttlichen Einsetzung über kultisch-priesterliche, heilsvermittelnde Funktionen bis zur Vergöttlichung des Herrschers.151

Da bereits die theoretische Fassung von ‚Herrschaft‘ schwierig ist, überrascht es nicht, dass die Verbindung von Herrschaft und Sakralität – deren Definition ebenfalls kontrovers und unabgeschlossen ist – theoretisch und methodisch herausfordert. Das Fehlen „eine[r] verbindliche[n] Definition“, die Kontroverse über die „Fülle von Merkmalen sakraler Herrschaft“ und das weite „Spektrum“ an Merkmalen sakraler Herrschaft legen nahe, Herrschersakralität anhand einschlägiger Kriterien so zu bestimmen, dass der Variabilität ihrer Erscheinungsformen Rechnung getragen wird; eine feingliedrige Definition kann insofern nicht angestrebt werden. Körntgens Auswahl aus dem Spektrum der Ausprägung sakraler Herrschaft verdeutlicht eine graduelle Abstufung herrscherlicher Sakralität und gibt Kriterien zur Bestimmung von Herrschersakralität an: 1.) die göttliche Einsetzung des Herrschers, 2.) seine kultisch-priesterlichen, 3.) seine heilsvermittelnden Funktionen und 4.) eine Vergöttlichung des Herrschers. Relevant für Herrschersakralität erscheinen damit die Einsetzung des Herrschers und die damit verbundene Legitimation des Amtes und seines Trägers. Die Einsetzung von Gott als höchster Instanz vermag unter Umständen besondere Legitimation zu spenden und den Herrschaftsanspruch zu rechtfertigen. Der Weg zum Amt und die Einsetzung bilden damit zentrale und zu untersuchende Phasen im (sakralen) Herrscherleben – sei es realhistorisch oder literarisch inszeniert wie die Vorgeschichte in Strickers Karl und darauf aufbauend im Buch vom heiligen Karl, die den Weg zur fränkischen Königs- und ‚römischdeutschen‘ Kaiserherrschaft erzählt.152 Der zweite Aspekt betrifft die Funktionen des Herrschers im Amt: Aufgaben im religiösen Bereich, z. B. als Kultvorsteher und Verantwortlicher einer Gemeinde, verleihen dem Herrscher pastorale Züge. Er sorgt damit nicht bloß für die Ermöglichung eines Lebens in Frieden und für den Schutz seiner Beherrschten, sondern ist verantwortlich für ihr Seelenheil. Die Funktion der Heilsvermittlung hängt mit der letztgenannten kultisch-priesterlichen eng zusammen: Als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz, Himmel und Erde, Gott und Menschen kommt dem sakralen Herrscher die Aufgabe zu, für das Seelenheil der Beherrschten zu sorgen, eine Lebensführung gemäß göttlichem Willen zu ermöglichen und ihre Interessen vor Gott zu vertreten. Sakrale Herrschaft figuriert als umfängliche Sozialbeziehung, die diesseitige, ‚profane‘ Aspekte der gegenseitigen Verpflichtung auf Schutz und Schirm, Gehorsam und helfende Gefolgschaft einschließt und zugleich für die spirituelle Dimension des menschlichen Lebens verantwortlich ist. Aus 151 Ludger Körntgen: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit. Berlin 2001 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters. 2), S. 17. 152 Vgl. dazu Kapitel III.2.2.

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dieser Verantwortung des sakralen Herrschers für die Beherrschten ergibt sich der Bezug zu seiner Einsetzung von Gottes Gnaden. Seine besonderen und weitreichenden Kompetenzen bedürfen besonders einschlägiger Legitimation: Je umfänglicher die Kompetenzen und Aufgaben des Herrschers sind, umso stabiler und unverbrüchlicher muss seine Vorrangstellung befestigt sein. In äußerster Ausprägung geht damit seine Vergöttlichung zu Lebzeiten einher; eine Vorstellung, die aus dem Kaiserkult der Antike bekannt ist, für das Christentum bzw. christliche Herrscher freilich ausgeschlossen und als Blasphemie unter Strafe gestellt ist. Als höchste Auszeichnung erscheint dort die Heiligsprechung, die posthum das Leben des sakralen Herrschers zum Heiligenleben erklärt und vor allem seine – bereits als Herrscher zu Lebzeiten ausgeführte – heilsvermittelnde Funktion auf Dauer stellt: Als Fürsprecher der Menschen, als Schutzhelfer und Mittler vor Gott wird der heilige Herrscher in Dienst genommen und so in die religiöse Praxis einbezogen.153 Intensiv setzt sich auch Erkens – ebenfalls aus Sicht der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik – mit dem Phänomen der Herrschersakralität auseinander und benennt drei konstitutive Elemente:154 1.) Das Königtum ist von Gott geschaffen und der Herrscher von Gottes Gnaden (dei gratia); 2.) der Herrscher gilt als Stellver-

153 Vgl. dazu auch Karls Rolle als heiliger Heilsvermittler im Prolog des Strickerschen Karl (Kapitel III.1.2). 154 Vgl. die einschlägige Monographie Franz-Reiner Erkens: Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit. Stuttgart 2006 sowie ders.: Der Herrscher als „gotes drút“. Zur Sakralität des ungesalbten ostfränkischen Königs. In: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 1–39; ders.: Heißer Sommer, geistliche Gewänder und königliche Siegel. Von der Herrschersakralität im späten Mittelalter. In: Zeit und Raum. Aspekte des Alltagslebens im mittelalterlichen Wien. Hrsg. von Ferdinand Opll, dems. Prag 2003 (Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica Universitatis Carolinae Pragensis factae. 6), S. 29–44; ders.: Art. Sakralkönigtum. III. Sakrale Elemente. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Begr. von Johannes Hoops. Bd. 26. 2., völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl. mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen unter redaktioneller Leitung von Rosemarie Müller hrsg. von Heinrich Beck u. a. Berlin 2004, S. 219–234; ders. (Hrsg.): Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen. Berlin 2002; ders. (Hrsg.): Das frühmittelalterliche Königtum; ders.: Der „pia Dei ordinatione rex“ und die Krise sakral legitimierter Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit. In: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung. Historischer Begleitband zur Ausstellung „Canossa 1077, Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik“. Hrsg. von Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff. München 2006 (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens. Paderborn. 13), S. 71–101; ders.: Anmerkungen über die Sakralität des Reiches im späteren Mittelalter. In: Wege und Spuren. Verbindungen zwischen Bildung, Wissenschaft, Kultur, Geschichte und Politik. Festschrift für Joachim-Felix Leonhard. Hrsg. von Helmut Knüppel, Manfred Osten, Uwe Rosenbaum. Berlin 2007 (Schriftenreihe des Wilhelm-Fraenger-Instituts Potsdam. 10), S. 223–240; ders.: Herrschersakralität – Ein Essai. In: Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen. Hrsg. von Andrea Beck, Andreas Berndt. Stuttgart 2013 (Beiträge zur Hagiographie. 13), S. 15–32.

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treter Gottes; 3.) dem Herrscher obliegt „eine priesterähnliche Verantwortung für die ihm anvertraute Gemeinschaft vor Gott“.155 Diese drei Elemente seien in allen Religions- und Gesellschaftsordnungen vorhanden, jeweils unterschiedlich ausgeprägt und reichen nach Erkens aus, um die Sakralität von Königen näher zu bestimmen.156 Erkens und Körntgen stimmen darin überein, dass sie die einzelnen Ausprägungen als kulturabhängig und jeweils eigens zu untersuchende ansprechen. Weitere Parallelen zwischen den Merkmalen von Herrschersakralität sind nicht zu übersehen und lassen vermuten, dass es – bei aller Kontroverse in den Details – grundlegende Funktionen und Ausprägungen gibt, die einer Herrschaft zur Sakralität gereichen: 1.) Die göttliche Verantwortung der Institution ‚Königtum‘ und die göttliche Einsetzung des (einzelnen) Herrschers: Darin wird zum einen die Verbindung einer persönlichen und überpersönlich-institutionellen Struktur der Herrschaft sichtbar (vgl. Kantorowicz’ Konzept der zwei Körper des Königs) und zum anderen die Verflechtung irdischer, immanenter Herrschaft mit göttlichem Transzendenz und Immanenz umspannenden Walten. 2.) Der Herrscher als Stellvertreter Gottes: Mit einer Stellvertreterschaft Gottes geht eine Aufwertung des Herrschers einher, die ihn sakralisiert, in besonderer Weise tabuisierend vor Übergriffen schützen und mit einer göttlichen Aura einhüllen kann. 3.) Die priesterähnliche Verantwortung des Herrschers für die Beherrschten vor Gott: Diese ist wesentlich und berührt die heilsvermittelnde Funktion, die zu Lebzeiten und nach dem Tod des Herrschers gegebenenfalls anhält und eine Gelenkstelle zwischen Leben und Tod des sakralen Herrschers bildet – so können sich bereits im Herrscherleben Anzeichen für eine später zu attestierende Heiligkeit qua Kanonisierung abzeichnen. Aus diesen Merkmalen der Herrschersakralität ergibt sich die Annahme einer Interdependenz zwischen dem Verhältnis des Herrschers zu Gott und dem Verhältnis des Herrschers zu seinen Beherrschten. Beide Seiten charakterisieren die (sakrale) Herrschaft und sind aufeinander bezogen, indem eine Änderung des Gottesverhältnisses des Herrschers eine Änderung seiner irdischen Herrschaftsstruktur bedeuten kann (z. B. Legitimations- und Autoritätsverlust). Was bedeutet das? Die irdische soziale Ordnung wird über einen Transzendenzbezug begründet und der Herrscher erscheint als Vermittler göttlichen Wirkens in der Immanenz. Aus dieser Funktion, mit der eine besondere Gottesnähe einhergeht, bezieht er seine Legitimation bzw. Legitimität als Herrscher – eine Operation an der Schnittstelle von Transzendenz und Immanenz erscheint so herrschaftslegitimierend. Zugleich wird die Herrschergestalt

155 Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 29. Joas gibt eine von Werner Stark (The Sociology of Religion. A Study of Christendom. London 1966 [International Library of Sociology and Social Reconstruction. 1], S. 24–35) erstellte soziologische Typologie wieder, die ebenfalls drei Hauptformen von Herrschersakralität unterscheidet (vgl. ders., Die Macht des Heiligen, S. 462 f.). 156 Vgl. Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 30. Zu den drei Elementen als „substantielle[m] Kernbestand[]“ können im Einzelfall „weitere, allerdings eher akzidentielle Elemente“ hinzutreten (ebd., S. 32 f.).

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göttlicher Universalherrschaft untergeordnet und in dieser Subordination in etwaigen universalen Ansprüchen beschnitten: „In der mittelalterlichen Auffassung geht es darum, dass Gott durch den Herrscher wirkt und die soziale Ordnung somit einem göttlichen Plan folgt, was die Herrscherfigur zugleich legitimiert und relativiert.“157 Es ergibt sich daraus die Vorstellung einer Herrschaft von Gottes Gnaden oder eines Gottesgnadentums. Aus dieser Perspektive können die folgenden Fragen gestellt werden: Wie wird die soziale Ordnung als von Gott strukturiert und abhängig vorgestellt? Wie wird das Verhältnis zwischen Gott und Herrscher inszeniert? Wie wirkt Gott durch den Herrscher? Damit stellt sich sakrale Herrschaft als vertikal strukturiertes Gebilde dar, das seinen Ursprung in der Transzendenz hat und von dort in die Immanenz, in menschliche Gefilde, hineinragt und Sozialstrukturen spezifisch (z. B. nach christlichen Vorstellungen) organisiert. Der Herrscher wird damit selbst zum Beherrschten und zwar zum ersten Beherrschten Gottes. Diese Struktur oder Perspektive erfasst Herrschersakralität ‚von oben‘, das Königtum als ‚gottgegebenes‘, somit als ‚Aufgabe‘ für eine Gesellschaft und einen Herrscher in dieser Gesellschaft. Doch die Beziehung des Herrschers zu Gott, zur Transzendenz, beleuchtet nur eine Seite des Phänomens einer sakralen Herrschaft. Die andere Seite charakterisiert die Beziehung des Herrschers zu den Beherrschten und betrifft das – oben bereits umrissene – Verhältnis zwischen Legitimitätsanspruch des Herrschers und Legitimitätsglauben der Beherrschten. Die Anerkennung seiner Legitimität kann eine besondere Qualität des Herrschers erfordern: Was zeichnet einen sakralen Herrscher aus? Auf Grundlage welcher Eigenschaften wird seine Herrschaft anerkannt? Diese Perspektivierung der Herrschersakralität bzw. des sakralen Herrschers legt die Konstruktionsmechanismen der Herrschaft von einer personalen und individuellen Seite offen. Sie setzt bei den Beherrschten an und fragt nach dem Legitimitätsglauben, nach der Wahrnehmung des Herrschers, nach den Hoffnungen, die mit ihm verbunden werden. Dabei erscheinen die besonderen Eigenschaften des Herrschers mit dem Legitimitätsglauben der Beherrschten verknüpft. Das führt nun zurück zu Webers Herrschaftssoziologie, genauer zum Typus ‚charismatischer Herrschaft‘. 2.2.1 Herrschaft und Charisma Mittelalterliche sakrale (Königs-)Herrschaft kann nach Webers typologischer Unterscheidung als eine Mischung aus traditionaler und charismatischer Herrschaft beschrieben werden, die zugleich personal und institutionell funktioniert. Das gilt – wie später zu zeigen sein wird – auch für Karls sakrale Herrschaft bzw. für Karls Herrschersakralität in den zur Untersuchung stehenden oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen. Entscheidend ist, dass es weniger der Glaube an ein Amt, also an eine traditional legitimierte Institution und seinen über Geburt und Gewohnheit vorbestimmten Träger, sondern an eine besondere persönliche, individuelle (nicht 157 Schwietring, Art. Macht/Herrschaft/Gewalt, S. 1480.

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traditional begründete) Eignung des Herrschers ist, der die Herrschaft legitimiert. Das soll im Folgenden erklärt werden, indem die besondere Qualität des Herrschers mit Weber als ‚Charisma‘ verstanden und auf die literarische Inszenierung der Konfiguration von Herrschaft und Sakralität als Herrschersakralität bezogen wird. Charismatische Herrschaft ist eingeführt worden als jener Typ, dessen Legitimitätsgeltung „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“158 ruht. Die besondere Intensität der Zuwendung der Beherrschten zeugt von einer starken und oftmals affektiven Bindung zwischen den Beherrschten und dem Charismaträger. Zunächst erklärt Weber, was unter ‚Charisma‘ zu verstehen ist:159 ‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‚objektiv‘ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘, bewertet wird, kommt es an.160

Charisma meint eine außeralltägliche Qualität einer Persönlichkeit, also ein Merkmal, das einer Gruppe als besonders, exzeptionell oder überdurchschnittlich gilt und aufgrund dessen die Person als „Führer“ distinguiert und gedeutet wird. Wichtig ist eine gewisse Exklusivität und Seltenheit des Merkmals, wodurch es vom Gewöhnlichen, Alltäglichen und damit Profanen geschieden und in den Bereich des „Übermenschlichen“ oder „Übernatürlichen“ verlegt werden kann. So kann bei-

158 MWG I/23, S. 453. Vgl. auch WuG5, S. 124. 159 Es liegen kaum zu überblickende Diskussionen um die Herrschaftssoziologie Webers und im Besonderen um den Charisma-Begriff vor; der Verweis auf ausgewählte, exemplarische Beiträge aus Soziologie, Geschichtswissenschaft und germanistischer Mediävistik muss hier genügen: Winfried Gebhardt, Arnold Zingerle, Michael Ebertz (Hrsg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik. Berlin/New York 1993 (Materiale Soziologie TB. 3); Winfried Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens. Berlin 1994 (Schriften zur Kultursoziologie. 14); Martin Riesebrodt: Charisma. In: Max Webers „Religionssystematik“. Hrsg. von Hans G. Kippenberg, dems. Tübingen 2001, S. 151–166; Thomas Kroll: Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft und die zeitgenössische Charisma-Debatte. In: Hanke/Mommsen (Hrsg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 47–72; Wilfried Nippel (Hrsg.): Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao. München 2000; Pavlína Rychterová, Stefan Seit, Raphaela Veit (Hrsg.): Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentationen. Berlin 2008 (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften. 2); Welz, Negation höfischer Kommunikationsformen; Ridder, Stigma und Charisma (mit weiteren Literaturangaben zum Thema auf S. 523, Anm. 8); Federow, Dynamiken von Herrschaft und Freundschaft, bes. S. 43–47. 160 MWG I/23, S. 490 f. (Hervorhebungen übernommen). Vgl. auch WuG5, S. 140.

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spielsweise besondere Gottesnähe als Charisma einem Herrscher Geltung verschaffen. Die außeralltägliche Eigenschaft kann auch darin bestehen, ein im Kollektiv besonders hochgeschätztes Ideal (Werte, Tugenden usw.) zu verkörpern, dessen Quelle nicht in einer „Gottgesandtschaft“, „Übernatürlichkeit“, „Übermenschlichkeit“ liegt, sondern im Zentrum der Gesellschaft selbst. Wie diese Qualität aus externer Perspektive objektiv, moralisch oder ethisch zu bewerten ist, ist gleichgültig, denn es kommt nach Weber allein darauf an, dass sie aus freier Hingabe von den Anhängern anerkannt wird.161 Es ist bei der Untersuchung charismatischer Herrschaft somit geboten, neben der anerkennenden Bezugsgruppe auch die Provenienz des als besonders hoch bzw. außeralltäglich Eingeschätzten zu bestimmen. Bedeutend für die Sicherung der ‚Geltung‘ einer charismatischen Herrschaft ist die ‚Bewährung‘ des Herrschers: Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese ‚Anerkennung‘ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige ganz persönliche Hingabe.162

Zur Aufrechterhaltung der ‚Geltung‘ der außergewöhnlichen Qualität (Charisma) der Persönlichkeit ist ein dyadisches Bezugs- bzw. Bewertungssystem in Form einer Gruppe erforderlich. Instanzen zur Bewertung der außergewöhnlichen Eigenschaft können textuell auf unterschiedlichen Ebenen liegen, wenn es sich um literarisch inszenierte charismatische Herrschaft handelt, und zwar auf der intradiegetischen Ebene der Figuren (z. B. direkte Rede, implizit durch Handlung), der extradiegetischen und heterodiegetischen Ebene der Erzählerrede und -kommentare und schließlich auf der Ebene der Rezeption. Charisma braucht perpetuierte Kommunikation zur Sicherung der Herrschaftsgeltung. Diese Geltung ist geknüpft an die Bewährung des Charismaträgers, der damit zu Aktivität, zu erfolgreichen charismatischen Handlungen verpflichtet ist. Auf diese Weise wird eine Wiederholung und Aktualisierung charismatischer Taten erforderlich: Erzählen von Charisma ist folglich auf Repetition

161 „Wohl kaum mehr eigens betont zu werden braucht, dass sich das sozialwissenschaftliche Verständnis des Charisma-Phänomens grundsätzlich jeglicher Wertung zu enthalten bemüht. Es bezieht alle Formen von Autorität, Führung oder Herrschaft, die auf emotionalen Bindungen zwischen einem Einzelnen und einer unterstützenden Gruppe beruhen, in die Kategorie ‚Charisma‘ ein – und damit ausdrücklich auch solche, die, gleich aus welchen Gründen, von einer Mehrheit von Beobachtern negativ beurteilt werden“ (Götz Hartmann: Selbststigmatisierung und Charisma christlicher Heiliger der Spätantike. Tübingen 2006 [Studien und Texte zu Antike und Christentum. 38], S. 19 f.). Vgl. für eine Diskussion des Charisma-Begriffs mit einer Sichtung der sozialwissenschaftlichen Forschung ebd., S. 14–20. 162 MWG I/23, S. 492 (Hervorhebungen übernommen). Vgl. auch WuG5, S. 140.

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angelegt. So können beispielsweise, das wird unter anderem Kapitel III.6 zeigen, Wunder charismatische Bewährung inszenieren. Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden. Dies ist der genuine charismatische Sinn des ‚Gottesgnadentums‘.163

Bewährt sich das Charisma nicht (mehr), verliert der Herrscher seine als Charisma beschriebene Qualität und ist sein Handeln nicht mehr erfolgreich und durchschlagend, wird die charismatisch legitimierte Herrschaft destabilisiert. Als wichtigsten Maßstab für die erfolgreiche Bewährung des Herrschers benennt Weber die Garantie des Wohlergehens der Beherrschten. Bringt die Herrschaft des Charismaträgers kein Wohlergehen mehr, verletzt dieser seine Herrscherpflicht der Sorge um die Beherrschten. Diese Korrelation zwischen erfolgreicher Herrschaft und garantiertem Wohlergehen der Beherrschten drückt eine Reziprozität aus, die auch für mittelalterliche Herrschaft als charakteristisch ausgemacht wurde. Mit dem „genuine[n] charismatische[n] Sinn“ des Gottesgnadentums meint Weber wohl die besondere göttliche Gnade und Nähe, die dem Herrscher als Verantwortlichem für die Beherrschten auf Erden zuteilwird. Daraus folgt, dass die Herrschaftsform des Gottesgnadentums Anteile charismatischer Herrschaft im Sinne Webers aufweist, zugleich aber auch ‚traditional‘ durchsetzt ist. Demnach kann mittelalterliches Gottesgnadentum als mixtum compositum verstanden werden: Charismatisch und traditional, persönlich und institutionell, von Gottes Gnaden begründet und von den Beherrschten anerkannt. Zu welchem Grade es jeweils eher charismatisch oder traditional geprägt ist, lässt sich nicht generalisiert bestimmen, sondern kann allein im Einzelfall und in Abhängigkeit der deutenden Instanzen entschieden werden. Die besondere als ‚Charisma‘ bezeichnete Eignung des Herrschers wird dabei jeweils als Funktionsstelle zu besetzen sein, wobei beispielsweise ‚Sakralität‘ oder ‚Heiligkeit‘ als aktualisierende Besetzungen firmieren können. Beide Konzepte begrifflich zu unterscheiden, auf Herrschaft zu beziehen und ihre narrative Abbildung zu beleuchten, ist Aufgabe des nächsten Abschnitts. 2.2.2 Unterscheidungen: Sakralität und Heiligkeit Erkens unternimmt im Zuge seiner oben referierten Überlegungen zur Herrschersakralität eine Bestimmung von ‚Sakralität‘ und Unterscheidung der Bedeutungen von ‚sacer‘, ‚sanctus‘ und ‚heilig‘. Anders als im Falle der aufschlussreichen Etymologie von ‚Herr/Herrschaft‘, die eine Grundstruktur der Über- bzw. Unterordnung ausdrückt, „hilft ein etymologisches Verfahren wenig weiter“,164 denn „[d]ie lateini-

163 Ebd. (Hervorhebungen übernommen). 164 Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 27.

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schen Worte ‚sacer‘ (geweiht, heilig, aber auch verwünscht, verflucht) und ‚sanctus‘ (geweiht, heilig, unverletzlich) sind [...] zu vielschichtig und beziehen sich zudem teilweise auch noch auf dieselben Inhalte“.165 Ein auffälliger Befund ist jedoch der Umstand, „daß ‚sacer‘ in der Spätantike auch alles bezeichnen konnte, was mit dem Kaiser zusammenhing (selbst das Schlafgemach des Imperators wurde zum sacrum cubiculum), und daß seit dem 12. und vor allem seit dem 13. Jahrhundert der sancta ecclesia ein sacrum imperium (Romanum) zur Seite oder gegenüber stand“.166 Sacer ist zwar nicht definitorisch aufs Schärfste von sanctus abzugrenzen,167 doch bildet die Beziehung von sacer zur herrscherlichen Domäne (vgl. sacrum imperium) eine herrscherlich geprägte Heiligkeit als ‚Sakralität‘, die von einer eher geistlichen Heiligkeit als ‚Sanktität‘ (von sanctus) unterschieden erscheint: ‚Sanctus‘ wurde im christlichen Verständnis offenbar sehr stark im Sinne einer geistlichen Frömmigkeit und mithin hauptsächlich zur Bezeichnung einer besonderen, am göttlichen Willen und Walten orientierten Heiligkeit verwendet. In diesem Sinne konnten Herrscher [...] aus welchen konkreten Gründen auch immer und manchmal erst recht spät nach ihrem Ableben eine persönliche sanctitas erringen und als heilig betrachtet werden.168

Daraus folgt, dass sich ‚Sakralität‘ und ‚Sanktität‘ nicht ausschließen, sondern letztere vielmehr eine spezifische Ergänzung bzw. in christlicher Perspektive und Axiologie eine Steigerung von herrscherlicher Sakralität darstellt. Und zwar in der Form, dass die Heiligkeit eines Herrschers zum dominanten und mit dem größten autoritativen Potential ausgestatteten Charakteristikum bzw. Charisma wird. Insbesondere die (posthume) kanonisiert-institutionalisierte Heiligsprechung kann in Bezug auf Herrscher als spezifisches Autorisierungs- und Legitimierungsverfahren angesprochen werden. In einem nächsten Schritt unterscheidet Erkens ‚Heiliges‘ und „‚Sakrale[s]‘ als historisch-politische Deutungskategorie“:169

165 Ebd., S. 27. 166 Ebd. (Hervorhebungen übernommen). 167 So zeigt sich eine semantische Schnittmenge, wenn man die Bedeutungen von sacer und sanctus gegenüberstellt: Entsprechungen für sacer sind „heilig“, „ehrfurchtsvoll“, ehrwürdig“ (sacer. In: Der Neue Georges 2, Sp. 4226 [Hervorhebungen nicht übernommen]), für sanctus „heilig“, „unverletzlich“, „ehrwürdig“, „göttlich“ (sanctus. In: Der Neue Georges 2, Sp. 4255 [Hervorhebungen nicht übernommen]). Des Weiteren ist für sanctus das Abstraktum sanctitas belegt als „Heiligkeit“, „Unverletzlichkeit“, „Ehrwürdigkeit“, „die Frömmigkeit“ (sanctitas. In: Der Neue Georges 2, Sp. 4255 [Hervorhebungen nicht übernommen]). Bedeutungsgleich zu sanctitas ist sanctitudo. Demgegenüber ist das Abstraktum ‚Sakralität‘ weder im klassischen Latein noch im Mittel- oder Neulateinischen anzutreffen – etwa als *sacralitas –, sondern eine sprachliche Schöpfung der Moderne. Zur Etymologie und zum Sprachgebrauch von ‚heilig‘ vgl. Carsten Colpe: Art. heilig (sprachlich). In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 3. Unter Mitarbeit von Günter Kehrer, Hans G. Kippenberg, Matthias Lauscher. Hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. Stuttgart/Berlin/Köln 1993, S. 74–80. 168 Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 27 (Hervorhebung übernommen). 169 Ebd., S. 28.

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Das Kirchenschiff ist nach modernem Verständnis ein Sakralraum, aber nicht unbedingt ein heiliger Raum; ein (in christlichem Sinne) heiliger König wird in der Regel auch ein sakraler Herrscher gewesen sein, aber ein sakraler König ist nicht zwangsläufig auch ein (christlicher) Heiliger.170

Was ist nun (in christlichem Verständnis) ‚heilig‘? Erkens referiert die Bemühungen um eine Konturierung des Heiligen über das dichotome Verhältnis zum Profanen, die an Ottos Überlegungen zum Heiligen angelehnt sind:171 Profan ist [...] das Nicht-Heilige, das Weltlich-Säkulare, während das Heilige, das definitorisch wiederum nur schwer einzugrenzen ist, als etwas verstanden wird, dem eine besondere Ehrfurcht entgegengebracht wird, weil es mit dem Numinosen, mit göttlichen Kräften oder Wesen in Verbindung steht und mit dem Verstand allein kaum oder überhaupt nicht zu erfassen ist. Natürlich ist Gott selbst heilig und alles, was zu ihm gehört: Personen ebenso wie Sachen. Nach christlichem Verständnis ist vor allem der Mensch heilig, der seine Hingabe an Gott durch ein Leben gemäß evangelischer Norm, durch Martyrium, Askese und Bekennertum, durch das Bemühen um Sündenferne und Abkehr von der Welt beweist und der nach seinem Tode nicht nur nach Ansicht des einfachen Volkes zum Wohle von bedrängten und hilfesuchenden Gläubigen als Fürbitter und Wundertäter wirksam wird.172

Um das Verhältnis von Sakralität und Heiligkeit mit Bezug auf Herrschaft weiter zu erhellen, sei nochmals Webers Charisma-Begriff angeführt: Charismatisch begründete Herrschaft kann „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“ ruhen,173 d. h. auf einem persönlichen Charisma – Heiligkeit, Heldenkraft, Vorbildlichkeit – des Herrschers und auf einer Mischform von persönlichem und heteroreferentiellem Charisma, das nämlich zugleich die Vorbildlichkeit des Herrschers und die Vorbildlichkeit der durch ihn offenbarten oder geschaffenen Ordnung verbindend umfasst. Der vorbildliche Herrscher kann

170 Ebd. „Den meisten Herrschern jedoch, selbst den thaumaturgisch begabten aus England und Frankreich, würde man nie das Epitheton ‚heilig‘ (sanctus) in diesem christlichen Verständnis zubilligen, wohl aber sind sie in wissenschaftlichen Arbeiten oft als ‚sakral‘ bezeichnet worden und dies nicht zu Unrecht“ (ebd., S. 27). 171 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans Joas. München 2014 [zuerst Breslau 1917]. 172 Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 28. „Mindestanforderungen“ für zu kanonisierende Heilige sind in Ableitung aus der Kanonisation Ulrichs von Augsburg im Jahre 993 die beiden folgenden: „Ein Mensch gilt erstens als heilig, wenn er einen frommen, tugendhaften und vorbildlichen Lebenswandel geführt hat, und zweitens, wenn nach seinem Tod mehrere durch ihn gewirkte Wunder nachgewiesen werden können (die späteren Verfahren fordern mindestens zwei)“ (Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin/Boston 2012 [LTG. 10], S. 1). Siehe grundlegend auch Winfried Schulz: Art. Heiligsprechung. In: 3 LThK 4 (1995), Sp. 1328–1331. 173 MWG I/23, S. 453. Vgl. auch WuG5, S. 124.

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also Schöpfer einer Ordnung sein oder eine bereits existierende Ordnung (re)präsentieren. In christlicher Perspektive ist eine Form von charismatischer Herrschaft dann diejenige, in der der Herrscher Teil einer durch ihn offenbarten göttlichen Ordnung ist, die von den Beherrschten als ‚vorbildlich‘ anerkannt wird. Bezogen auf diese Ordnung und damit hierarchische, statusbezogene Strukturierung von Welt und Leben, ist der Herrscher ein sakraler: Sakral bezeichnet seinen Status, das hierarchische Verhältnis von Domination und Subordination, durch strategische Sichtbarmachung und damit Geltungs- bzw. Legitimitätsbehauptung dieser Herrschaftsverhältnisse. Abgebildet oder sichtbar gemacht werden diese Verhältnisse über Bild- und Formensprachen, die autorisierendes, legitimierendes und den Herrscher auratisierendes Potential aufweisen. Diese werden bevorzugt aus Bereichen bezogen, die bereits mit solcher Formensprache und der Artikulation damit verbundener Hierarchien strukturiert, selbst in dem Maße legitimiert und gegebenenfalls institutionell stabilisiert sind, dass sie als Autoritäts- und Legitimitätsspender figurieren können. Im vorliegenden Kontext bildet diesen Bereich die christliche Religion mit ihren axiologischen, ideellen, medialen, organisatorischen Implikationen, der Institution ‚Kirche‘ sowie ihren Strategien der Produktion von Differenzen zu einem als „normal“ oder „profan“ bezeichneten Bereich der Alltäglichkeit. Herrscherliche Sakralisierung und Heiligung können also aus einer Quelle schöpfen, sodass die sakralisierende Auszeichnung des Herrschers strukturanalog zur Auszeichnung des Heiligen funktioniert. So kann sich die literarische Konstruktion von (sakraler) Herrschaft und Heiligkeit identischer erzählerischer Operationen bedienen, indem hierarchisierende und valorisierende Unterscheidungen getroffen werden: ‚oben/unten‘, ‚ewig/vergänglich‘, ‚sakral/profan‘, ‚herrschend/beherrscht‘, ‚befehlend/befehlsausführend‘ usw. Es geht um vertikale Abschichtungen und damit formulierte Wert- und Geltungsansprüche. Diese analogen Differenzierungen und axiologischen Besetzungen machen eine symbolische Überblendung von Herrschaft und Heiligkeit wahrscheinlich, mit der Folge, dass die Herrschaftsbeschreibung auf religiös vorgeprägte Bildund Formensprache zurück- und ihr Autorisierungspotential aufgreift. Das „Oben“ des Herrschers entspricht dem „Himmel“, der göttlichen Transzendenz, das „Unten“ der Beherrschten entspricht der „Erde“, der irdischen Immanenz usw., sodass sich die Ehrfurcht vor dem Herrscher analog zur Ehrfurcht vor dem Heiligen artikuliert. Dennoch ist die Verbindung von Herrschaft und Heiligkeit in einer herrschaftspraktischen Realisierung nicht spannungsfrei, denn ihnen liegen unterschiedliche, bisweilen diametral entgegengesetzte Anforderungen zugrunde – man denke beispielsweise an heimliche Askese gegenüber öffentlich sichtbarem Herrscherhandeln, an die Problematik persönlicher Distinktion bei gleichzeitiger sozialer Einbindung.174

174 Vgl. dazu Kapitel III.6.

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‚Sakralität‘ bezieht sich auf den Herrscher im Amt und erscheint als Form eines ‚herrscherlich-amtlichen Charismas‘, ‚Heiligkeit‘ bezieht sich auf den Herrscher selbst (als Person) und erscheint als Form eines ‚persönlichen Charismas‘:175 „Wo eine personale Heiligkeit und die Lebensheiligkeit im Blick ist, wird sanctus bevorzugt [...], wo hingegen von einer kult-, weihe-, hierarchie- und statusbezogenen Heiligkeit die Rede ist, wird oft sacer bevorzugt.“176 Schließlich ist der Grad der Institutionalisierung von ‚Heiligkeit‘ zu reflektieren: So kommt Karl dem Großen in der Chanson de Roland eine herrscherliche Sakralität zu, aber keine persönliche Heiligkeit (sanctitas) – seine Herrschaft und seine Figur weisen Bezüge zu Gott, zur Transzendenz auf und fallen so aus dem Durchschnittlichen heraus, er ist aber kein (kanonisierter) Heiliger bzw. wird nicht als solcher adressiert. Heilig ist er ab 1165, wodurch an die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen sowohl Sakralitätsals auch Heiligkeitsparameter angelegt werden können: Literarisch tradierte und gattungsspezifisch inszenierte Sakralität wird verbunden mit den außerliterarischen Einflüssen der kanonisierten Heiligkeit Karls des Großen. Die hier getroffenen Unterscheidungen sind auf einer theoretisch-analytischen Ebene angesiedelt, aber wenn es um literarische Inszenierungen der Karlsfigur geht, ist es schwierig, im Einzelnen Differenzierungen von ‚Sakralität‘ und ‚Heiligkeit‘ auszumachen. Möglicherweise besteht für die volkssprachlichen Verfasser der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen keine Differenz zwischen ‚Sakralität‘ und ‚Heiligkeit‘ oder eine Repräsentation der Differenz ist textuell-narrativ nicht ohne Weiteres zu leisten, da identische Ausdrücke und Sequenzen benutzt werden. Oder die Differenzierung wird auf einer anderen textuellen sowie außertextuell-pragmatischen Ebene jenseits der Narration vorgenommen. So können metapoetische Passagen – Pround Epiloge, an die Rezipienten gerichtete Erzählerrede – eine Heiligkeit der Karlsfigur reflektieren; die Analyse des Prologs des Strickerschen Karl wird dies zu zeigen versuchen.177 Auf diese Weise schreiben sich die Texte pragmatisch in eine Kommunikation ein, die sich religiös über Karlskult, Liturgie, persönliche Ansprache und Fürbitten sowie öffentlich in Orten, Gebäuden, Statuen usw. manifestieren kann. Die Möglichkeiten der narrativen Repräsentation, formale und inhaltliche Bestimmungen von ‚Sakralität‘ bzw. ‚Heiligkeit‘ sowie literaturwissenschaftliche Perspektiven für die Untersuchung der Karlsfigur werden im nächsten Kapitel entfaltet. 175 Das Charisma der Person bzw. literarischen Figur Karls des Großen kann auf das von ihm ausgeübte Herrscheramt ausstrahlen und zur Legitimation beitragen – so gilt er als charismatischer Begründer des ‚römisch-deutschen‘ Kaisertums. 176 Berndt Hamm: Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherung an ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Nine Miedema, Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 644, Anm. 41. Hamm bilanziert dies mit Blick auf das „spätmittelalterliche lateinische Christentum“ (ebd.) und stimmt mit den bis auf die Antike zurückgreifenden begrifflichen Untersuchungen von Erkens u. a. überein. 177 Vgl. Kapitel III.1.2.

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2.3 Heiligkeit erzählen Die Diskussion darüber, was als ‚sakral‘ oder ‚heilig‘ anzusprechen ist, führt jede Disziplin eigens und in Abhängigkeit von Untersuchungsgegenstand und -interesse. Die germanistisch-mediävistischen Ansätze zur Definition und narratologischen Untersuchung von Sakralität und Heiligkeit ebnen den Unterschied zwischen den beiden Begriffen zumeist ein, die Rede ist dann von einer christlich vorgestellten ‚Heiligkeit‘, die ‚Sakralität‘ einschließt. Überlegungen zum Erzählen von Heiligkeit haben ihren Ort vorzugsweise in der Legendenforschung. Die mediävistische Auseinandersetzung nimmt dabei wiederum interdisziplinären Bezug auf die (religions-)soziologische, philosophisch(-phänomenologische), ethnologische und theologische Forschung zum Heiligen.178 Für das Anliegen der vorliegenden Arbeit

178 Es sei auf ausgewählte Beiträge hingewiesen, die weitere Hinweise auf Forschungsdiskussionen samt Literatur versammeln: Julia Weitbrecht u. a.: Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter. Berlin 2019 (PhSt. 273); Hamm, Heiligkeit im Mittelalter; Eva von Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt: Die kommunikative Situation in ausgewählten Heiligenviten des englischen Mittelalters. In: Gottes Werk und Adams Beitrag. Formen der Interaktion zwischen Mensch und Gott im Mittelalter. Hrsg. von Gerlinde Huber-Rebenich, Volker Leppin. Berlin 2014 (Das Mittelalter. Beihefte 1), S. 113–127; Knaeble, Höfisches Erzählen von Gott; Julia Weitbrecht: Häusliche Heiligkeit. Zur Transformation religiöser Leitbilder in der Oswaldlegende. In: PBB 137 (2015), S. 63–79; Ricarda Bauschke: Der Dichter als Schöpfer. Zur Heiligkeit des Sprechens bei Konrad von Würzburg. In: Schöpfung: Varianten einer Weltsicht. Hrsg. von Wilhelm G. Busse. Düsseldorf 2013 (Studia humaniora. 46), S. 99–116; Susanne Köbele: Die Illusion der einfachen Form. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In: PBB 134 (2012), S. 365–404; Stephanie Seidl: Blendendes Erzählen von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. Berlin/Boston 2012 (MTU. 141); Margreth Egidi: Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 607–657; Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 99 (2005), S. 323–364; Christian Kiening: Gewalt und Heiligkeit. Mittelalterliche Literatur in anthropologischer Perspektive. In: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Hrsg. von Wolfgang Braungart, Klaus Ridder, Friedmar Apel. Bielefeld 2004, S. 19–39; Petra Paschinger: An der Schwelle zur Heiligkeit: Die Liminalität der Askese in der Alexiuslegende Konrads von Würzburg. In: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Caroline Emmelius u. a. Göttingen 2004, S. 67–82; Ursula Schulze: Schmerz und Heiligkeit: Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel). In: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters: Festschrift für Johannes Janota. Hrsg. von Horst Brunner, Werner Williams-Krapp. Tübingen 2003, S. 211–232; Peter Strohschneider: Georius miles – Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne. In: Literarisches Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 781–811; Ulrich Ernst: Der Körper des Asketen. Zur Theatralik von „Heiligkeit“ in legendarischen Texten von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. In: Körperinszenierungen in mittelalterli-

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reicht es aus, auf zwei einschlägige Beiträge zur Diskussion des Erzählens vom Heiligen zurückzugreifen: Zum einen sind dies die auf den (religions-)soziologischen Studien Luhmanns basierenden Beiträge von Strohschneider, die sich als grundlegend für die theoretische Arbeit an ‚Heiligkeit‘ in der germanistischen Mediävistik erwiesen haben.179 Zum anderen ist es Hammers Studie „Erzählen vom Heiligen“, die die (interdisziplinäre und germanistisch-mediävistische) Forschung zu ‚Heiligkeit‘ und ihrer narrativen Umsetzung sowie literaturwissenschaftlichen Untersuchung überblickt und dabei explizit von Strohschneiders Beiträgen ausgehend erweitern möchte.180 In der Auseinandersetzung mit den genannten Ansätzen sollen Konsequenzen für die Untersuchung des Erzählens von Karls Sakralität bzw. Heiligkeit in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen gezogen werden. 2.3.1 Erzählen von Heiligkeit als paradoxe Operation Strohschneider begreift im Anschluss an Luhmann ‚Heiligkeit‘ binär in Oppositionen von Transzendenz und Immanenz, Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, Kommensurabilität und Inkommensurabilität: Das Heilige wird hier ganz formal aufgefaßt als Transzendentes, als das aus der Immanenz Ausgeschlossene. Was immanent ist, die Dinge der Welt und diese insgesamt sind je ein Unterschiedenes und Unterscheidbares, so daß sich das Heilige differenztheoretisch (und damit in der Tradition der negativen Theologie) bestimmen läßt als das, was jenseits aller Unterschiede ist, was von allen Unterschieden durch einen Unterschied unterschieden ist: das Nichtunterschiedene.181

cher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 18. bis 20. März 1999. Hrsg. von Klaus Ridder, Otto Langer. Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur. 11), S. 275–307; Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter. 20); Klaus Brinker: Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt des Heiligen in mittelhochdeutschen Legendenepen des 12. und 13. Jahrhunderts. Bonn 1968; Theodor Wolpers: Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1964 (Buchreihe der Anglia. Zeitschrift für englische Philologie. 10). 179 Vgl. Peter Strohschneider: Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns „Gregorius“. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 105–133; ders.: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg,Alexiusʻ. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hrsg. von Gert Melville, Hans Vorländer. Köln u. a. 2002, S. 109–147. 180 Vgl. Hammer, Erzählen vom Heiligen; ders.: Heiligkeit als Ambiguitätskategorie. Zur Konstruktion von Heiligkeit in der mittelalterlichen Literatur. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von Oliver Auge, Christiane Witthöft. Unter redaktioneller Mitarbeit von Steve Riedl, Susanne Koch. Berlin/Boston 2006 (TMP. 30), S. 157–178. 181 Strohschneider, Textheiligung, S. 111. Vgl. zur Kritik an solchen „differenztheoretischen Modellen“ und „transzendenzreligiöse[n] Konzept[en] von Heiligkeit“ zuletzt Elke Koch, Julia Weitbrecht:

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Diese differenztheoretische Minimaldefinition von Heiligem, die im Besonderen auf die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz abhebt, bildet in ihrer Formalisierung eine Basis, die in der konkreten textuellen Analyse inhaltlich aufzufüllen ist. Strohschneider verweist darauf, „daß das Heilige als Transzendentes zugleich auch immanent zu sein vermag. Speziell unter den epistemischen Voraussetzungen mittelalterlicher Frömmigkeit kann es nicht allein in den vermittelten Formen textueller (oder visueller) Repräsentationen in der Welt ‚sein‘“.182 ‚Präsent‘ sei das Heilige dann in der Funktion heiliger Männer und Frauen als magische Helfer und diese Funktion werde nicht nur über Gebete oder Sakramente, sondern auch über Reliquien aktualisiert: In der Reliquie also ist der Heilige und das Heil real präsent, sie ist die Gegenwart des Heiligen und des Heils in einem ganz substantiellen Sinn. Mit der Reliquie ragt Transzendenz direkt und konkret in die Immanenz herein, und deswegen kann man ihr auch nicht durch allein hermeneutische Operationen, also Sinnzuschreibungen gerecht werden, wie sie etwa im liturgischen Gebrauch oder vermittels der Bild- und Textprogramme von Reliquiaren geschehen. Es muß vielmehr zugleich auch eine sinnliche Praxis hinzutreten: das Geblendetsein von göttlichem Glanz, das Riechen des süßen Geruchs der Heiligkeit, die körperliche Berührung der Reliquie.183

Damit manifestiert sich Heiligkeit in den Hinterlassenschaften Heiliger, wodurch eine Präsenz des Heiligen vorliegt; doch „[f]reilich kann das Heilige in der Welt nicht nur präsent sein, es kann daneben in ihr auch repräsentiert werden“.184 Prominentes und von Strohschneider in den Blick genommenes Beispiel für die (textuelle) Repräsentation von Heiligem ist die Legende, denn sie ist nicht Heil (in einem präsentisch-ontologischen Sinn), sondern repräsentiert Heil bzw. Heiliges über symbolische Referenzen. Der Text der Legende ist zu verstehen als Zeichen, das als Ganzes in seiner Zeichenhaftigkeit von der Immanenz ausgehend auf Transzendenz verweist. Der Text selbst bleibt dabei der Immanenz verhaftet, verweist gewissermaßen als unterschiedenes und unterscheidendes Zeichen auf die Sphäre des Nichtunterschiedenen – Heiliges wird deiktisch repräsentiert. Strohschneider fasst diesen Umstand für die Legende so: Man kann nämlich von Heil, Transzendenz und Gott zwar zu reden versuchen – sei es rituell hymnisch, katachretisch, ekstatisch lallend oder repetitiv murmelnd usw. Doch eine narrative Rede, eine Erzählung davon ist von vorneherein unmöglich. Was als ein Jenseits aller Differenzen von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, als Jenseits von allen Unterschieden überhaupt konstituiert wird, schließt jede narrative Repräsentation in Zeit und Geschichte kategorial aus. Die Differenzierungsoperationen des Erzählens erzählen daher nicht von der Transzendenz selbst, sondern sie erzählen eine Geschichte vom Hereinragen der Transzendenz in die Imma-

Einleitung. In: Dies. u. a.: Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter. Berlin 2019 (PhSt. 273), S. 16. 182 Strohschneider, Textheiligung, S. 111. 183 Ebd., S. 113 (Hervorhebung übernommen). 184 Ebd.

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nenz, von ihrem Wirksamwerden in der Geschichte. Stets ist dies eine Geschichte vom Leben und Sterben eines heiligen Menschen.185

Und er schließt: Insofern könnte man sagen, daß die legendarische Erzählung die Repräsentation eines gewissermaßen doppelt Abwesenden leistet: Sie repräsentiert abwesende Transzendenz – mithin dasjenige, was jeder Zeitstruktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthoben ist – als innerhalb von Zeitlichkeit, als in der Vergangenheit einmal gegenwärtig wirksam gewesene und darin sich immanent offenbart habende Transzendenz. Dies ist eine paradoxe Struktur. Die Legende erzählt, was sie als unerzählbar konstituiert.186

Insofern lässt sich mit Strohschneider für den legendarischen Text folgern: Der Text verweist als immanentes Phänomen vermittels Zeichen, die über eine Erzählung sequentialisiert werden, als ‚Superzeichen‘ auf Transzendentes, also auf Heiliges, das im und mit dem Text nicht präsent, also verfügbar gemacht, sondern repräsentiert wird. Im Akt des Erzählens werden vergangene Wirkungen der Transzendenz in der Immanenz aktualisiert, wodurch Erzählen zum Versuch der Verfügbarmachung des Unverfügbaren, der Verzeitlichung des Un- bzw. Überzeitlichen, zur Differenzierung des Nichtdifferenzierten wird – eine „paradoxe Struktur“. Die Legende ist maßgeblich durch diese ‚paradoxe Operation‘ des Erzählens vom Heiligen geprägt, doch auch in anderen Gattungen und Texttraditionen ist sie anzutreffen: Es ist freilich kein Exklusivrecht der Legende, vom Heiligen zu erzählen. Auch die zur Untersuchung stehenden oberdeutschen Bearbeitungen des Karlsstoffs narrativieren Heiligkeit. Wenn nun nochmals weiterführende textontologisch-semiotische Unterscheidungen zwischen Heiligkeit und Sakralität getroffen werden dürfen,187 dann ergibt sich folgendes Bild: In jenen Texten, die wie das Rolandslied des Pfaffen Konrad eine christliche Axiologie und Textwelt auf histoire-Ebene dominant spiegeln, ist Sakralität als spezifische Zeichenformation, die auf Heiliges hinweist, sinnfällig zu begreifen. Diese diskursiven Zeichenformationen, die als sakral anzusprechen sind, verweisen als immanentes Phänomen, das einem historisch-politischen Wandel seiner Form und somit auch seiner literarischen Inszenierung unterliegt (discoursEbene), auf einen transzendenten Horizont, auf das Heilige, das Göttliche. Es geht also bei Sakralität in diesem Sinne um den Verweis auf Unverfügbares und zugleich um den Versuch eines Distanzabbaus von Transzendenz und Immanenz, der freilich nie auf Dauer zu stellen ist. Dabei können einige Zeichen in ihrer Verweisfunktion auf Heiliges selbst zu Heiligem werden – besonders dominant auf Heiliges Verweisendes wird so semiotisch mit dem Heiligen kurzgeschlossen, indem das be185 Ebd., S. 114 (Hervorhebungen übernommen). 186 Ebd., S. 115. 187 Es sei hier an die Unterscheidung von Sakralität (Amt) und Heiligkeit (Person) mit Blick auf den Herrscher erinnert.

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zeichnende sakrale Zeichen (Signifikant/signifiant) selbst zum Bezeichneten wird (Signifikat/signifié). Ob diese kategoriale semiotische Referenzverschiebung zur Selbstreferenz als ‚Idolatrie‘ oder ‚Heiligung‘ anzusprechen ist, obliegt der Deutung externer Beobachterinstanzen. Das bedeutet für die literarische Inszenierung der Herrschersakralität Karls Folgendes: Indem Karl als Herrscherfigur an der Schnittstelle zwischen Transzendenz (Heiligem) und Immanenz (von Heiligkeit temporär Durchdrungenem) operiert und auch heilsvermittelnd von Gottes Gnaden agiert, ist er sakraler Vermittler von Heil – Karl ist ‚sakrales figurales Zeichen‘ oder ‚sakrales Figuralzeichen‘. Er kommt mit dem Heiligen wiederholt in Kontakt, ohne selbst a priori heilig zu sein. In dieser Funktion ist ein Umschlag, eine Verschiebung vom sakralen Zeichen zum bezeichneten Heiligen, besonders unter Einfluss außerliterarischer Faktoren (wie z. B. einer Heiligsprechung und einem Kult), wahrscheinlich, indem der Kontakt zum Heiligen nach Belieben wiederholbar und scheinbar auf Dauer zu stellen ist, sodass Karl selbst zum Heiligen avanciert.188 Seine Heiligkeit kann als textuell hervorgebrachte Geltungsbehauptung verstanden werden und ist nicht gleichzusetzen mit einem tatsächlichen ontologischen Heiligsein – Karl gilt als Heiliger. Eine dem amtskirchlichen Anspruch nach über eine Geltungsbehauptung hinausgehende ontologische Statusveränderung des sakralen Herrschers wird über das Verfahren der Heiligsprechung befördert. Karl unterliegt dann kanonisiert den Regeln der Heiligenverehrung, bedarf entsprechender Behandlung und Besprechung (vgl. Karlskult und -liturgie). Diese Heiligkeit wird textuell repräsentiert, indem beispielsweise beim Stricker oder im Buch vom heiligen Karl auf Wortebene von sante Karle gesprochen werden kann oder indem generisch betrachtet auf eine bestimmte Form zurückgegriffen wird, namentlich auf die einer hagiographischen Vita. Somit sind auch die gattungsspezifischen Bauformen der oberdeutschen Texte in den Blick zu nehmen und auf Verschiebungen in diachroner Perspektive zu untersuchen, um so einer Transponierung der heldenepischen Textur, wie sie die Chanson de Roland aufweist, zu einer legendarisch erzählenden Vita Karls des Großen in den späteren oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen prüfend nachzugehen.189 2.3.2 Literarische Inszenierung von Heiligkeit Hammer sucht in seiner Studie „Erzählen vom Heiligen“ den Anschluss an Strohschneider und motiviert seine Untersuchungen folgendermaßen: So richtungsweisend Strohschneiders Darlegungen sind, so befassen sie sich doch in erster Linie mit den Problemen, die das Erzählen von Heiligkeit und Heiligen grundsätzlich mit sich bringen (!); über deren Darstellung und Inszenierung innerhalb dieser Geschichten ist damit

188 Diese persönliche Heiligkeit kann auch auf das bekleidete Herrscheramt ausstrahlen. 189 Vgl. dazu besonders Kapitel III.7.

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hingegen noch wenig gesagt. Daher gilt es, den Blick vom Erzählen verstärkt wieder auf die Erzählung zu richten.190

Hammer erarbeitet Prämissen für die literaturwissenschaftliche Analyse des Erzählens vom Heiligen mit Blick auf sein legendarisches Textcorpus, das Passional, die übertragbar auf andere Gattungen, also auch auf die oberdeutschen Bearbeitungen des Karlsstoffs, und fruchtbar für die Konzeptualisierung des Heiligen erscheinen. Den grundsätzlichen Verständnishorizont für das Verhältnis von Religion, Literatur und Heiligem in den mittelalterlichen vom Heiligen erzählenden Texten fasst Hammer so: „Das religiöse Bezugssystem ist stets das abendländische Christentum, und die Form der Symbolisierung ist die der Literatur, d. h. es geht um narrative, nicht um kultische Repräsentationen des Heiligen [...].“191 Die Generierung von „Repräsentationen des Heiligen“ bedeutet eine besondere Herausforderung der Texte aufgrund des Wesens von Heiligkeit „als ein[em] Gegenstand, von dem gerade nicht erzählt werden kann“.192 So setzt Hammer beim Typus des heiligen Menschen an und bestimmt von dieser Konkretisierung ausgehend grundlegende Züge von Heiligkeit: Als ‚heilig‘ werden im allgemeinen Persönlichkeiten bezeichnet, die in besonderer Weise Anteil an der Sphäre der Transzendenz haben bzw. mit dieser in Kontakt stehen. Wiewohl diese sich in der Immanenz befinden, weltverhaftet sind, sind sie gleichermaßen auch mit der Transzendenz verbunden; sie sind mithin nur in dem Modus in der Immanenz, dass sie zugleich immanent und in gewissem Maße transzendent sind. ‚Der‘ Heilige ist daher mit besonderem Charisma ausgestattet, welches ihn zu einem ‚religiösen Ausnahmemenschen‘ macht.193

Heilige partizipieren an der Heiligkeit Gottes, welche vermittelt ist in der Heiligkeit Christi, an dem sie sich orientieren und in dessen Nachfolge sie stehen (imitatio Christi bzw. Christomimese).194 Besonderes „Signum der Heiligkeit“ sind Wunder, denn „[i]m Wunder manifestiert sich die Partizipation des Heiligen an der Heiligkeit

190 Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 3. Hammer möchte mit seiner Studie „ein Beschreibungsmodell [entwickeln], welches die narrativen Operationsformen für das Erzählen von Heiligkeit erfasst, und zwar sowohl strukturell (Umschlagsmomente, finale Handlungslogiken und Motivierungen, paradigmatische und syntagmatische Durchdringung) als auch auf der Ebene der sprachlichen Realisierung (imitatio, Semantisierungen und Typisierungen, die axiologische Besetzung von Oppositionen usw.)“ (ebd., S. 18 f.). 191 Ebd., S. 9. 192 Ebd., S. 6. 193 Ebd., S. 11 (Hervorhebungen übernommen). 194 „Imitatio lässt sich dann auch auf die narrativen Strukturen und Motive beziehen, mit denen Heiligkeit in der Erzählung inszeniert wird. Dies betrifft in erster Linie natürlich biblische Erzählmuster: Da für jeden Heiligen Christus die wichtigste imitatio-Figur ist, sind auch die Inszenierungsformen des Neuen Testaments vorbildhaft für die legendarischen Erzählungen von Heiligkeit; insbesondere ist hier natürlich der Kreuzestod Jesu als Imitabile des Märtyrertodes zu beachten“ (ebd., S. 14). So gilt es zu fragen, „inwieweit auf der narrativen Ebene diese größtmögliche Nähe zu Christus eine Christusidentität inszeniert, welche es diskursiv gerade nicht geben kann“ (ebd., S. 21).

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Gottes“.195 Zugleich wirken Heilige selbst als vorbildliche exempla, als Orientierung für Zeitgenossen und die Rezipienten ihrer Erzählungen. Zudem treten sie in der religiösen Praxis in einer wirkmächtigen Mittlerfunktion auf: „Als Mittler zwischen Mensch und Gott kommt ihnen kultische Verehrung zu, sie sind über Gebet und Fürbitte erreichbar und können dadurch in die Gegenwart der Menschen eingreifen.“196 Die exemplum- und die Mittlerfunktionen werden auch für die Karlsfigur in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen in Prologen und in Erzählerkommentaren, die das Erzählte reflektieren und die Rezipienten adressieren, zu untersuchen sein (Kapitel III.1); auch Wunder als Ausdruck der Teilhabe an der Heiligkeit Gottes und als Ausweis der herrscherlich-charismatischen Bewährung werden in den Blick genommen (Kapitel III.6). Neben der imitatio Christi, der Orientierung an seinen Tugenden und der Martyriumsbereitschaft besteht ein weiteres zentrales Merkmal für Heiligkeit in der Prädestination, der göttlichen Vorausschau des Schicksals des Heiligen: „Der Heilige ist immer schon, was er erst sein wird“, denn „Heiligkeit resultiert – und daran müssen sich Legendentexte immer wieder abarbeiten – dennoch gerade nicht aus der Summe von Wundern und Tugenden, sondern ist von Anfang an begründet“.197 Es wird keine „konsequente Entwicklungsgeschichte“ geboten, sondern „[d]er Heilige ist eben immer schon, was er erst sein wird“:198 Dadurch erweist sich die „narrative Struktur“ der Legende „als zutiefst final“ und „vom Ende her motiviert“.199 Daran anschließend fragt Kapitel III.2, inwiefern ein Anfang für Karls persönliche Heiligkeit inszeniert wird? Ist auch Karls sakrale Herrschaft göttlich prädestiniert? Hammer benennt als Resultat der Auseinandersetzung mit der Forschung das „imitatioModell [...] sowie Finalität und Umschlagsmomente“ als „grundlegende Kriterien [...], die sich als konstitutiv für das Erzählen von Heiligkeit erweisen“.200 Damit ist eine Merkmalsbestimmung für literarische Texte, die Heiligkeit inszenieren, formuliert, die nicht nur für Viten gelten kann, die das Heiligenleben geschlossen darstellen, sondern auch für weitere „zahlreiche Erzählformen, in denen der Einbruch der Transzendenz in die Welt verhandelt wird und die dabei die Partizipation eines Menschen an der Heiligkeit Gottes darlegen“.201 Somit können diese Merkmale auch an die zu untersuchenden Bearbeitungen des Karlsstoffs herangetragen werden, um die spezifischen Inszenierungen von Herrschersakralität bzw. -heiligkeit sowie die Struktur der Erzählungen profilieren zu können (Kapitel III.7).

195 Ebd., S. 15. 196 Ebd., S. 11. 197 Ebd., S. 5. 198 Ebd., S. 21. 199 Ebd., S. 22. 200 Ebd., S. 21. 201 Ebd., S. 12.

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Darüber hinaus bringt Hammer als methodisches Vorgehen zur Untersuchung von Heiligkeit die Bildung von Oppositionen in Anschlag. Es geht um „Dichotomien [...] im Verhältnis von Oberfläche und Tiefenstruktur“ der Texte, um „Gegensatzpaare“ und „ihr Verhältnis zueinander, ihr Aufeinanderbezogensein und die Relation von Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit, welche die Ambiguität des Heiligen unterstreicht“.202 Als Beispiel gibt Hammer die „Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion“ an,203 also Abschied von der Welt und der Familie (Exklusion) bei gleichzeitigem Eintritt in die communio sanctorum (Inklusion): „Der Heilige bewegt sich mit seinem Wirken in der Welt fortdauernd im Spannungsfeld dieser Oppositionen.“204 Auf solche Oppositionen und Spannungen ist bei der Untersuchung der Herrschersakralität bzw. -heiligkeit der Karlsfigur in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen zu achten. Als übergreifendes Spannungsfeld ergibt sich – wie oben bereits angesprochen – das Verhältnis von Herrschaft und Heiligkeit:205 Heiligkeit kann als Charisma herrschaftslegitimierend funktionalisiert werden, aber sie kann auch eigene Logiken entfalten, selbst thematisch werden und mit den Anforderungen von Herrscherlichkeit kollidieren.206 Formen der Heiligung wie ‚Askese‘, ‚Heimlichkeit‘, ‚Exklusion‘, ‚Passion‘ und ‚Martyrium‘ können mit Herrschaftsanforderungen wie (traditionale) ‚Genealogie‘, ‚Präsenz‘ und ‚Öffentlichkeit‘ sowie mit

202 Ebd., S. 22 f. 203 Ebd., S. 23. 204 Ebd., S. 24. 205 Es handelt sich nicht etwa um ein Spannungsfeld von Heiligkeit und Sakralität, denn Heiligkeit ist eine spezifizierte Form von Sakralität. 206 Ein verwandtes Erkenntnisinteresse hat auch Standke, wenn er spätmittelalterliches legendarisches Erzählen auf die „sakrale Idoneität“ der Herrscherfigur untersucht: „Für die legendarischen Erzählungen bedarf Karl [...] einer herrschaftlichen sowie einer sakralen Idoneität. Dabei prallen die Konzepte von Heiligkeit und Herrschaft aufeinander, die sich prinzipiell nur schwer miteinander vereinbaren lassen. Das zeigt sich nicht zuletzt an der geringen Zahl der heiliggesprochenen Herrscher. Legendarische Erzählungen partizipieren insofern außerordentlich am Performanzdiskurs der Mächtigen, denn sie bemühen sich, Eigenschaften und Fähigkeiten, die einem Herrscher, hier Karl dem Großen, Macht, Idoneität, Charisma, ja teilweise sogar Heiligkeit verleihen, literarisch zu vermitteln. Allein die dabei aufgezeigten performativen Akte des Herrschers sind dann die Basis einer späteren imitatio“ (Matthias Standke: „How to do things with holiness“. Legendarisches Erzählen von Karl dem Großen zwischen Macht und Idoneität. In: Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters. Hrsg. von Klaus Oschema u. a. Ostfildern 2015 [RANK. Politisch-soziale Ordnungen im mittelalterlichen Europa. 5], S. 196 f.). Im Einzelnen verfolgt Standke in seinem Beitrag folgende Fragen: „Inwieweit müssen die sakralen Fähigkeiten erst durch performative Akte entstehen oder sich auf solche berufen? Welchen Stellenwert hat die sakrale Idoneität des Herrschers gegenüber anderem herrschaftlichen Handeln? Und letztlich auch die Frage, wem die Erzählungen als performative Akte per se Idoneität und Macht verleihen“ (ebd., S. 197).

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der gewalttätigen Bewährung im Kampf in Konflikt geraten.207 Das wirft Fragen der Akzentuierungen der Karlsfigur auf: Wird eine sakrale bzw. heilige Herrscherlichkeit oder eine herrscherliche Sakralität bzw. Heiligkeit inszeniert? Weiterhin wird ein gravierender Unterschied zwischen einer von Hammer beschriebenen „[l]egendarischen Narratologie“ und den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen darin deutlich, dass die „Protagonisten“ der Legenden „längst Gegenstand kirchlich-ritueller Verehrungspraxis“ sind.208 Gerade das gilt für Karl den Großen und seine Darstellung in den zu untersuchenden Erzählungen bis mindestens 1165 nicht. Und die Wirkung der politisch motivierten und in ihrer Geltung nicht unumstrittenen Heiligsprechung auf das Rolandslied bleibt – auch in Abhängigkeit von seiner Datierung – unklar. Mit seiner Heiligsprechung und der Etablierung von Karlskulten samt -liturgie werden die Erzählungen also herausgefordert, wenn sie das über die Gattungstradition überlieferte Bild eines sakralen, aber nicht heiligen Herrschers um Elemente christlicher Hagiographie erweitern. Denn auch in der narrativen Inszenierung stellen Herrschaft und Heiligkeit unterschiedliche Ansprüche: Ist Herrschaft als soziale Praxis dynamisch und somit syntagmatisch-prozesshaft problemlos zu entfalten, dann steht Heiligkeit quer dazu, da es sich als Plötzlichkeitsphänomen einem linear-syntagmatischen Erzählvorgang verschließt, denn „Heiligkeit kann [...] nicht als Werden, sondern nur als Sein dargestellt werden, ereignis-, nicht prozesshaft.“209 Und genau das Sein als Heiligsein können die Texte – wie oben in der Auseinandersetzung mit Strohschneider herausgearbeitet wurde – nicht darstellen, sondern es lediglich behaupten, indexikalisch darauf verweisen.

3 Zusammenfassung Im Anschluss an die Forschungen von Klein und Bastert – um zwei einschlägige Positionen aus dem Forschungsreferat im Zuge der Vorstellung des Textcorpus stellvertretend aufzugreifen – fokussiert die vorliegende Studie Transformationsprozesse der oberdeutschen Bearbeitungen in Bezug auf die Karlsfigur und ihren Status als sakraler bzw. heiliger Herrscher.210 Die These einer zunehmenden Hagiographisierung der Erzählungen und einer damit verbundenen Transponierung ihrer generischen Zugehörigkeit vom heldenepischen Text zur Vita Karls des Großen bildet eine Diskussionsgrundlage für die folgenden Analysen. Eine hagiographische

207 Eine partielle Integrationsmöglichkeit böte eine Heiligung der Gemeinschaft, also des gesamten Herrschaftsverbands – der heilige Herrscher wäre dann Vorsteher einer heiligen Gemeinschaft. Dieser Aspekt wird in Kapitel III.3 beleuchtet. 208 Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 387. 209 Ebd. 210 Vgl. Klein, Strickers ‚Karl der Große‘; Bastert, Helden als Heilige; ders., „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“.

3 Zusammenfassung

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Transformation von der Chanson de Roland (um 1100) bis zum Zürcher Buch vom heiligen Karl (1475) verläuft freilich nicht teleologisch, also nicht mit Notwendigkeit: Der literarische Adaptationsprozess ist vielmehr beeinflusst durch kontingente Kontextfaktoren, die zur Ausprägung des Bildes eines ‚heiligen Karl‘ in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen beitragen. In diesem Sinne wird eine Linie a posteriori identifiziert und rekonstruiert, deren Entwicklung nicht a priori determiniert ist. Vor diesem Hintergrund sollen die literarischen Inszenierungen von Herrschersakralität und ihrer spezifizierten Form von Herrscherheiligkeit jeweils intratextuell analysiert und intertextuell vergleichend gedeutet werden. Die bisherige Forschung bezieht sich – wie im Forschungsreferat dargelegt – intensiv auf die Adaptationsprozesse von der Chanson de Roland zum Rolandslied und von dort zu Strickers Karl. Diese hagiographischen Bearbeitungstendenzen werden für das Buch vom heiligen Karl lediglich knapp konstatiert, ohne differenziert die Eigenheiten der Kompilation zu beleuchten. Hier möchte die vorliegende Studie Abhilfe schaffen und dem Buch vom heiligen Karl zu einem Profil verhelfen, das seine spezifischen Akzentuierungen und die Formung des Karlsbildes erhellt. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit, eine systematische Zusammenschau von Herrschaft und Sakralität im Konzept von Herrschersakralität vorzunehmen, richtet die Aufmerksamkeit auf die narrative Konstituierung von Herrschaft und fragt somit danach, wie die Texte von Herrschaft erzählen, welche Modelle und Konfigurationen sie präsentieren. Dieser Ansatz erfordert die in den zurückliegenden Kapiteln erfolgte theoretisch-methodische Auseinandersetzung mit Herrschaft. Um die Karlsfigur nun als Herrscher profilieren zu können, muss eine Beschreibung vorgenommen und ihr Verhältnis zu anderen Figuren bzw. Instanzen (z. B. Beherrschte, Immanenz; Gott, Transzendenz) in den Blick genommen werden. Herrschaft zu erzählen, bedeutet, Unterscheidungen zwischen einem sozial Höheren und einem Geringeren, zwischen Herr und Beherrschtem zu treffen, folglich mit semantischen Oppositionen zu operieren. Die erzählerisch generierte histoire wird auf diese Weise mit vertikalen Beziehungsgefällen versehen und sozial strukturiert. Auf der einen Seite sind Deskriptionen in Erzähler- und Figurenrede für eine Charakterisierung Karls als (sakraler oder heiliger) Herrscher aufschlussreich.211 Auf der anderen Seite wird Herrschaft als soziale Praxis performativ hergestellt, weshalb eine beim Herrschaftssubjekt und -objekt ansetzende Beschreibung (inter)figurales Handeln fokussiert, um ein Dominations- und Subordinationsprofil für die Karlsfigur zu erstellen. Welche Befehle, Weisungen und Handlungen konstituieren Karls Herrschaft? Wie wird Herrschaft kommuniziert? Bei welchen Figuren(gruppen) findet er Gehör und Gefolgschaft? Als weiterer Aspekt gerät die Herrschaftsbegründung in den Blick: Wodurch wird Herrschaft begründet? Was zeichnet den Herrscher aus, rechtfertigt seine Stellung? Die drei Typen legitimer Herrschaft nach Weber – legale, traditionale und

211 Vgl. dazu Kapitel III.4.

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charismatische Herrschaft – sind als Heuristik in Anschlag zu bringen, um die Legitimitätsgeltung und den Legitimitätsgrund der literarisch inszenierten Herrschaft bestimmen zu können. Der Legitimitätsanspruch Karls und der Legitimitätsglaube seiner Beherrschten sollen abgeglichen und damit der Grad des Legitimitätseinverständnisses und somit der Stabilität der Herrschaft bestimmt werden.212 Die knappe Beschreibung der historischen Ausprägung mittelalterlicher Herrschaft – als ‚Präfiguration‘ für die literarische Bearbeitung (‚Konfiguration‘) – warf ein Licht auf die Rechte und Pflichten des herrschenden Königs und Kaisers: Reziprozität, gegenseitige Verpflichtung auf Schutz und Schirm wie auf Gefolgschaft und Hilfe, kann als bestimmend für das Verhältnis von Herrscher und Beherrschten gelten. Auch wenn über die genaue Ausprägung der vasallitischen Verhältnisse im westeuropäischen Mittelalter zu diskutieren ist. Aufgaben des Herrschers sind es, Recht und Gerechtigkeit zu garantieren, Frieden zu sichern und als Schützer von ‚Witwen und Waisen‘ und der Kirche auch militärisch zu handeln. Die Vorstellung der zwei Körper des Königs (Amtskörper und persönlicher Körper) sowie die Annahme, dass königliche und kaiserliche Herrschaft von Gott kommen (rex a deo electus/coronatus), sodass der Herrscher als Stellvertreter Gottes auf Erden (vicarius Dei/Christi) erscheint und mit der besonderen autorisierenden Gnade der Salbung (unctio) bedacht sein kann, sind als historisch verbürgter Herrschaftsdiskurs resümiert worden. Damit kann sakrale Herrschaft als vertikal strukturiertes Gebilde imaginiert werden, das seinen Ursprung in der Transzendenz hat und von dort in die Immanenz, in menschliche Gefilde, hineinragt und Sozialstrukturen spezifisch, z. B. nach christlichen Weltordnungsvorstellungen, organisiert. Diese Verbindungen des Herrschers zur Transzendenz verknüpfen Herrschaft und Sakralität in spezifischer Weise als Herrschersakralität, für die folgende Bestimmungen nach Erkens angebracht und diskutiert worden sind: 1.) Das Königtum ist von Gott geschaffen und der Herrscher von Gottes Gnaden (dei gratia); 2.) der Herrscher gilt als Stellvertreter Gottes; 3.) dem Herrscher obliegt „eine priesterähnliche Verantwortung für die ihm anvertraute Gemeinschaft vor Gott“.213 Als Analysefragen ergeben sich daraus: Wie wird das Verhältnis zwischen Gott und Karl inszeniert? Wie wirkt Gott durch Karl? Welche priesterähnlichen Aufgaben übernimmt der Frankenherrscher? Die Beziehung des Herrschers zu Gott, zur Transzendenz, beleuchtet die eine Seite des Phänomens einer sakralen Herrschaft, die Beziehung des Herrschers zu den Beherrschten die andere Seite. Leitend für die Untersuchung ist dabei die These, dass eine Interdependenz zwischen der Beziehung Karls zu Gott – also der Transzendenz – und seiner Beziehung zu seinen Beherrschten – also der Immanenz –

212 Vgl. dazu Kapitel III.2 und III.3. 213 Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 29.

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besteht, vor allem dergestalt, dass ein intakter Transzendenzbezug notwendig für die Genese und Aufrechterhaltung von immanenter Herrschaft ist.214 Die besondere Position des Herrschers an der Schnittstelle von Transzendenz und Immanenz in Verbindung mit seinen weitreichenden Aufgaben, die sich – neben rechtlichen, militärischen und politischen Bereichen – auch auf das Seelenheil der Beherrschten erstrecken, erfordert eine besondere Legitimation des Amtes und der Person, namentlich ein herrscherliches ‚Charisma‘, sowie die Bewährung dieses Charismas. Das Charisma, also die besondere Qualität des Herrschers, kann sich als Sakralität (herrscherlich-amtliches Charisma) und Heiligkeit (persönliches Charisma) ausprägen. Darin besteht ein weiteres zentrales Anliegen der Arbeit, nämlich die Untersuchung der narrativen Hervorbringung von Sakralität und Heiligkeit. Die Sakralität des Herrschers bezieht sich auf seine hierarchische Stellung in der Welt, auf seine Superiorität, die sich metaphorisch durch eine erhöhte Position in einer vertikal geschichteten Gesellschaftsordnung ausdrückt. Diese Symbolisierung der sakralen Herrscherposition und des legitimierten Herrschers kann die Bild- und Formensprache religiöser Heiligung, die ebenso auf valorisierende Unterscheidungen setzt, aufgreifen. Darüber hinaus kann persönliche Heiligkeit herrscherliche Sakralität spezifisch transformieren und legitimatorisch aufladen, so in Form kanonisierter Heiligkeit, als sanctitas, wie sie Karl 1165 zugesprochen wird. Heiligsprechung und Karlskult können die Texte als außerliterarische Faktoren der Verschiebung vom sakralen zum heiligen Herrscher beeinflussen. Zudem können literarische Formen der Inszenierung von Heiligen, wie sie hagiographische Erzählungen aufweisen, auf die Darstellung der Karlsfigur in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen wirken. Dementsprechend sollen Merkmale von Heiligkeit wie die imitatio Christi – Orientierung an seinen Tugenden und Martyriumsbereitschaft – und die göttliche Determination des Schicksals des Heiligen bei der Analyse der Karlsfigur betrachtet werden.215 Die Texte können nicht artikulieren, dass Karl ein Heiliger ist – das bleibt einem kirchlich-institutionellen Diskurs vorbehalten –, sie können jedoch Anzeichen für seine Heiligkeit sammeln, den Rezipienten nahelegen und damit Geltung behaupten. Das Verhältnis von Herrschaft und Heiligkeit ist – wie mehrfach angesprochen – nicht zwingend komplementär und harmonisch, denn Heiligkeit kann als persönliches Charisma zwar herrschaftslegitimierend funktionalisiert werden, aber auch selbst eigene Logiken entfalten, thematisch werden und mit den Anforderungen von Herrscherlichkeit kollidieren. Auf narratologischer Ebene ist prüfend zu untersuchen, in welchem Verhältnis eine eher syntagmatisch-prozesshafte Verhand-

214 Störungen bzw. Verletzungen des Transzendenz- und Immanenzbezugs, die Karl als (selbst-)stigmatisiert kennzeichnen, sowie ihre Konsequenzen beleuchtet Kapitel III.5. Den Beweis für einen intakten Transzendenzbezug, z. B. als Beglaubigung der göttlichen Gunst gegenüber Karl und seiner charismatischen Bewährung, liefert die Gewährung von (erbetenen) Wundern (vgl. u. a. Kapitel III.6). 215 Vgl. Kapitel III.2 und III.6.

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lung von Herrschaft zu einer eher paradigmatisch-ereignishaften Verhandlung von Heiligkeit steht.216 Wie die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen die Karlsfigur als Herrscher, eine damit verbundene Sakralität oder sogar persönliche Heiligkeit entwerfen, sollen die folgenden Analysen unter verschiedenen thematischen Perspektiven zu beantworten versuchen.

216 Diese Unterscheidung ist angelehnt an Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 387.

III Literarische Herrschersakralität: Perspektiven auf das Erzählen von Karl dem Großen 1 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung Das vorliegende Kapitel nimmt die Prologe als rezeptionssteuernde Texteröffnungen der zur Rede stehenden Bearbeitungen des Karlsstoffs in den Blick. Da die Chanson de Roland sowie das Buch vom heiligen Karl keine Prologe aufweisen und beide Erzählungen, besonders die altfranzösische, in medias res einsetzen, konzentriert sich die Untersuchung auf die Prologe des Rolandslieds des Pfaffen Konrad und des Strickerschen Karl.1 Die Betrachtung dieser metapoetischen und programmatischen Textelemente ist dabei zweifach begründet: Zum einen soll das Konzept einer Herrschersakralität fokussiert werden. Gibt der Prolog Hinweise darauf, dass sie in der Erzählung thematisch wird? Wird Karl der Große bereits im Prolog in spezifischer Weise herrscherlich, sakral oder gar heilig inszeniert? Zum anderen soll untersucht werden, wie das Erzählen von Karl motiviert wird: Werden Gründe für den Erzähl- bzw. Schreibanlass angeführt (causa scribendi), die mit Karls herrscherlichem Status verbunden sind? Werden eine mit dem Erzählanlass in Verbindung stehende Auswahl des Stoffs sowie Inhalt und Form der Narration expliziert und in 1 Der Chanson de Roland – folgt man dem Oxforder Roland – ist kein Prolog beigegeben. Hier setzt die Handlung in Spanien unmittelbar ein, ohne dass eine explizite Kommunikation zwischen Dichter bzw. Erzähler und Rezipienten erfolgt. Diese Eröffnung erweckt den Eindruck einer stabilisierten Kommunikation in einem Kollektiv mit gemeinsam geteilter Stoff- und Erzähltradition – es bedarf keiner ausführlichen Einleitung oder Motivierung des Stoffs. Zu Anfang werden Hinweise auf den Protagonisten der Erzählung, eine Handlungsskizze sowie ein (den Erzähler einschließender) kollektiver Rezipientenbezug geboten: Charles li reis, nostre emper[er]e magnes, / Set anz tuz pleins ad estet en Espaigne: / Tresqu’en la mer cunquist la tere altaigne (ChdR 1–3: ‚König Karl, unser großer Kaiser, / War sieben ganze Jahre in Spanien: / Bis hin zum Meer eroberte er das hochmütige Land‘). Text und Übersetzung – abgekürzt mit „ChdR“ – entstammen hier und im Folgenden der Ausgabe: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übers. u. komm. von Wolf Steinsieck. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 2015 (RUB. 2746). Bastert spricht von ‚epischen Schnittstellen‘, die am Beginn und Ende des Textes liegen und auf eine Zyklizität, d. h. die Eingliederung in einen Erzählzyklus, hinweisen (vgl. ders., Helden als Heilige, S. 175–180). Damit werden ein Kontext und Sinnhorizont für die Chanson de Roland angegeben, die ihr Verständnis sichern. Vgl. zum Prolog von Chanson de Roland und Rolandslied auch Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 46–52. Das Buch vom heiligen Karl setzt unvermittelt und in chronikalischem Gestus narrativ mit der Geschichte von Karls Großeltern ein: In dem zit bi seben hundert jaren nach der geburt unseres herren, do ist gesin in der grossen Hispania land ein heidescher küng [...] (BhK 3,1–3); von einem Exordium ist hier keine Spur. Schmitt beschreibt diesen Beginn als „Beglaubigung durch historische Situierung“, auch in die Narration sind exakte Datierungen, Angaben zu Karls Alter und zu Zeiträumen eingefügt; auch schließt das Buch vom heiligen Karl mit genauen zeitlichen Angaben (vgl. BhK 110,29–36) – so „wird das Erzählte mit einem quasi objektiven Faktizitätsanspruch versehen“ (Schmitt, Inszenierungen von Glaubwürdigkeit, S. 165 f.). Siehe für den Aufbau der Chanson de Roland und des Buchs vom heiligen Karl auch Kapitel III.7. https://doi.org/10.1515/9783110768541-003

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ihrer Bedeutung für einen Rezipientenkreis reflektiert? Die Prologe eröffnen unter Zusammenführung beider Fragekomplexe Analyseperspektiven im Hinblick auf die jeweilige Narration und einen Bezugspunkt für die dort entfalteten Herrschaftsund Sakralitätsentwürfe.

1.1 wie er daz gotes rîche gewan: Heils- und Herrschaftsmethodik im Prolog des Rolandslieds Im deutschsprachigen Raum fehlt ein Karlszyklus und damit ein Kontext für das Rolandslied, das der Pfaffe Konrad entsprechend vorstellen muss, um Verständnis zu sichern und literarische Kommunikation gelingen zu lassen.2 Die Herausforderung besteht darin, den Stoff der Chanson de Roland für ein deutschsprachiges Publikum zu motivieren und den nach „epischem Formelstil“ arrangierten Prätext formal wie inhaltlich zu transponieren sowie (legitimierende) Anknüpfungspunkte in der deutschen Literaturlandschaft zu suchen.3 Der gewichtige erste Vers, der Teil einer Inspirationsbitte (invocatio) ist, setzt mit der rubrizierten Initiale S des angerufenen Schephære aller dinge (RL 1) ein:4 Schephære aller dinge, keiser aller küninge, wol du oberester êwart, lêre mich selbe dîniu wort. (RL 1–4) 2 Vgl. Bastert, Helden als Heilige, S. 178–180. 3 Vgl. zum „epischen Formelstil“ und zu den Herausforderungen der Übertragung des altfranzösischen Textes u. a. Ricarda Bauschke: Chanson de Roland und Rolandslied. Historiographische Schreibweise als Authentisierungsstrategie. In: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Annegret Fiebig, Hans-Jochen Schiewer. Berlin 1995, S. 1–18. Siehe zur Problematisierung des Oxforder Roland als ‚Vorlage‘ des Rolandslieds mit weiterer Literatur ebd., S. 4, Anm. 14. 4 Vgl. das Schriftbild samt Rubrizierung in Hs. P des Rolandslieds (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 112, fol. 1r [um 1200]). Schmitt hebt die „heilsgeschichtliche Relevanz des Karlsstoffs“ hervor, die ein Inspirationsgebet um göttlichen Beistand provoziert (dies., Inszenierungen von Glaubwürdigkeit, S. 24 [vgl. zum Prolog insgesamt ebd., S. 23–28]). Vgl. grundlegend zum Prolog und für weiterführende Literaturhinweise Kartschoke, Kommentar, S. 627–632, zum Prologauftakt ebd., S. 628; Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 46 f. u. 50–52; Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 41–50 (mit weiterer Literatur); mit Blick auf biblische Bezüge und weitere Prätexte deutet den Prolog versweise Richter, Kommentar, S. 19–24; vgl. auch Marion Oswald: Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur. Göttingen 2004 (Historische Semantik. 7), S. 301–304 und Ferdinand Urbanek: Lob- und Heilsrede im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad. Zum Einfluß einer Predigt-Spezies auf einen literarischen Text. In: Euphorion 71 (1977), S. 221–223, der seine Analyse wie folgt zusammenfasst: „Alles in allem bildet dieser Prolog somit nach Inhalt, Aufbau und rhetorischer Strukturierung das klassische Beispiel einer Predigt-Einleitung in der Gattung Lob- und Heils-Sermo“ (ebd., S. 223).

1 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung

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Die Einführung des Schöpfers der Welt als erstes Lexem gibt Hinweise auf Bedeutung und Anspruch der Dichtung. Es geht darum, dass der Verfasser, Konrad, mit Hilfe des ‚heiligen Zeugnisses‘‚ der heilege[n] urkunde (RL 6),5 die wârheit scrîbe / von eineme tiurlîchem man, / wie er daz gotes rîche gewan (RL 8–10).6 In Verbindung mit der Anrufung des Schöpfers wird stofflich das Terrain der Erzählung eines Heiligenlebens, einer Legende, aufgerufen, die den Weg eines Gottesmannes zum ewigen Leben zu beschreiben verspricht.7 Mit dem Anspruch, die ‚Wahrheit‘ zu schreiben, wird nach Ott-Meimberg die „Wahrheit der Heilsgeschichte“8 bezeichnet: „‚Wahr‘ ist alles, was sich in heilsgeschichtliche Zusammenhänge einordnen und hier deuten läßt.“9 Über dieses „Wahrheitsverständnis“ knüpfe der Text an das Annolied und die Kaiserchronik an, die ebenfalls einen Wahrheit-Lüge-Diskurs in ihren Prologen behandeln.10 Da die Kaiserchronik die Karlsgeschichte „mit heilsgeschichtlichem Sinn aufgefüllt“ bietet, beansprucht das Rolandslied durch den Rückbezug auf die Kaiserchronik analog „für alle Beteiligten (Autor, Auftraggeber, Publikum) Heilsgewinn in der Teilhabe an der suoze der Geschichte“.11 Dadurch wird die Rezeption des Textes

5 Ott-Meimberg versteht „urkunde im Sinne von ‚Heiliger Geist‘“ (dies., Staatsroman, S. 43, Anm. 12). 6 In den Versen RL 9 f. liegt nach Ott-Meimberg ein ausdrücklicher Bezug auf die Karlsgeschichte der Kaiserchronik vor und zugleich zitieren sie „auch das zeitgenössische Wissen um Karls Vorbildlichkeit, vor allem aber das Karlsbild der Aachener Kanonisation“ (ebd., S. 45). 7 Damit „beginnt das RL mit einem Dichtergebet, dessen Bestandteile – Anrufung Gottes, Bitte um Erleuchtung, Streben nach Wahrheit, Nennung des Gegenstandes der Erzählung – typisch sind für Legendenprologe“ (Kartschoke, Kommentar, S. 627 [mit weiterführenden Literaturhinweisen]). Die Verse RL 1–8 des „Legendenprolog[s]“ bieten ein „einleitendes Gebet“ und die Verse RL 9–30 eine „Einführung in das Werk“ (Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 43). 8 Ebd., S. 44. Differenziert betrachtet den Wahrheitsbegriff im Rolandslied Frank Fürbeth: ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Spurensuche in Sprach- und Geschichtslandschaften. Festschrift für Ernst Erich Metzner. Hrsg. von Andrea Hohmeyer, Jasmin Rühl, Ingo Wintermeyer. Münster u. a. 2003 (Germanistik. 26), S. 233–249. Wârheit im Prolog des Rolandslieds „meint weder nur die propositionale Wahrheit im Sinne der Wahrheit des Erzählten noch einfach nur die Wahrheit der Heilsgeschichte; vielmehr handelt es sich um die veritas Dei selbst, die, wie es das Johannesevangelium schreibt, in der Menschwerdung Jesu logos geworden ist und in seiner Nachfolge immer wieder werden wird; es meint die Wahrheit als summum bonum und als rectitudo“ (ebd., S. 246). 9 Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 44. 10 Ebd., S. 44. Die von Ott-Meimberg angenommene Verhandlung von Wahrheit und Lüge im Prolog des Annoliedes ist m. E. nur schwer nachzuvollziehen. Der Prolog der Kaiserchronik (Kchr 1–42) hingegen behandelt in den Versen 27–42 Lüge und Wahrheit in Bezug auf literarische Werke; sie wird zitiert nach: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übers., komm. u. mit einem Nachwort vers. von Mathias Herweg. Stuttgart 2014 (RUB. 19270); hier und im Folgenden abgekürzt mit „Kchr“. Die Ausgabe von Herweg basiert auf der Edition: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder. Berlin/Zürich 1964 [zuerst München 1892] (MGH Deutsche Chroniken I.1). 11 Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 44.

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heilsrelevant und attraktiv gemacht. Zugleich könnte mit dem vorliegenden ‚Legendenprolog‘ eine Gattungsverschiebung von der heldenepischen Chanson de Roland hin zum Rolandslied als Legende indiziert werden.12 Im Rolandslied folgt dann die Explizierung des tiurlîche[n] man (RL 9): daz ist Karl, der keiser (RL 11). Von ihm heißt es weiter: vor gote ist er, want er mit gote überwant vil manige heideniske lant, dâ er die cristen hât mit gêret, alse uns daz buoch lêret. (RL 12–16)

Damit ist nun klar, dass es sich um eine Erzählung über Kaiser Karl den Großen handelt, der deshalb bei Gott ist, weil er im Namen Gottes bzw. mit Gott im Bunde den Christen zur Ehre ‚Heidenländer‘ unterworfen hat. Der Fokus liegt damit auf einer Heilsmethodik, die es Karl ermöglichte, in das Reich Gottes aufgenommen zu werden. Diese Methodik meint spezifische Handlungen im Diesseits, die als Arbeit am Seelenheil eine erfolgreiche Aufnahme ins Jenseits, ins Himmelreich, garantieren. Diese Praxis weist strukturell eine Triangulierung von Gott, Karl und christlichem Kollektiv auf: Karls Handlungen sind gottgewollt und zugleich Gottesdienst, wobei sie sich in heilsindividueller Dimension auf sein Seelenheil beziehen. Zudem ist die Mission Dienst an der Christenheit, deren Ausbreitung und Geltung befördert werden – damit sind Karls Handlungen auf ein Kollektiv bezogen und weisen neben einer heilsindividuellen auch eine heilskollektive Wirkung auf.13 Der Herrscher handelt also von Gottes Gnaden zum Nutzen der Christenheit. Dass Heidenmission als Gottesdienst mit dem Einzug in das Reich Gottes belohnt wird, formulieren hier die ersten Verse programmatisch als jene Logik, die alle christlichen Märtyrer im Rolandslied betrifft und ihr Streben motiviert. Nachdem Karl zu Lebzeiten Gott auf seiner Seite hatte, als er Heidenländer eroberte, erscheint das aktuelle – im Präsens formulierte – himmlische Nahverhältnis Karls zu Gott (vor gote ist er; RL 12) als Perpetuierung dieser bereits auf Erden eingegangenen Verbindung mit gote (RL 13). Karl offenbart sich somit als eine bereits zu Lebzeiten der Sphäre des Heiligen verbundene und damit sakrale Herrscherfigur. Karls Gottesnähe zu inszenieren, ist ein wichtiges

12 Vgl. ebd., S. 46. Ott-Meimbergs Deutung basiert hier auf Friedrich Ohly: Wolframs Gebet an den Heiligen Geist im Eingang des Willehalm. In: ZfdA 91 (1961/62), S. 305 f. „Im Sinne eines sehr weitgefaßten und funktional begründeten Gattungsbegriffs kann das ‚Rolandslied‘ durchaus als Legende bezeichnet werden“ (Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 46). 13 Unter ‚Heilsindividualität‘ wird die Bezugnahme auf das Seelenheil eines Individuums bzw. einer Figur verstanden, wohingegen ‚Heilskollektivität‘ auf das Seelenheil einer Gruppe von Menschen bzw. Figuren bezogen ist. Handlungen können heilsindividuell oder -kollektiv perspektiviert sein, aber auch beide Dimensionen zugleich betreffen.

1 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung

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Anliegen des Prologs, das die Häufung des Lexems ‚Gott‘ sowie Periphrasen seiner Bezeichnung augen- und ‚ohrenfällig‘ macht. Die Omnipräsenz Gottes im Prologauftakt hüllt Karl göttlich ein und garantiert eine wahrheitsgemäße Erzählung des Pfaffen Konrad.14 Herrscher- und Textsakralisierung korrelieren hier: Denn neben der invocatio des Schöpfergottes wird der Schreibprozess mit der Bitte um Gottes heilege urkunde (RL 6) legitimiert. Die göttliche Inspiration wird zusätzlich zur schriftlichen Aufzeichnung (daz buoch; RL 16) der Taten Karls herangezogen, wodurch der Adaptationsprozess stabilisiert und geistlich von höchster Instanz autorisiert wird.15 Mit dem zweiten Abschnitt werden nun neue thematische Fäden eingeschossen sowie bestehende aufgenommen und weitergeknüpft. Setzte der erste Abschnitt mit dem Schephære ein, so beginnt der zweite, eine Sinneinheit bildende Abschnitt in der Handschrift P mit der rubrizierten Initiale K von Karl (RL 17). In einem hierarchisch-kosmologischen Verhältnis nimmt Karl den zweiten Rang nach dem Schöpfer ein,16 was somit auch über das Textbild nahegelegt wird – der Herrscher figuriert als vicarius Dei, als Stellvertreter Gottes. Damit wird das Thema einer sakralen Herrschaft Karls profiliert: Der Prolog nimmt deskriptiv – und das Textbild illustriert dies – eine Scheidung der Welt in einen Höchsten (Gott) und einen Geringeren (Kaiser Karl) vor, der auf diese Weise als Höchster in der Immanenz erscheint. Karl wird göttlicher universaler Herrschaft unmittelbar subordiniert und durch Gottesnähe ausgezeichnet. Zudem wird seine Herkunft in genealogischer Abbreviatur behandelt: Karl der was Pipines sun (RL 17). Diese irdische Verwandtschaftsbeziehung tritt jedoch hinter der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Kaisers deutlich zurück: „Erwartet der Rezipient auf Grund dieser genealogischen Eingangsbemerkung weitere Informationen über die Sippe des Herrschers, so wird er enttäuscht.“17 Karl wird gerade nicht über eine

14 „So ist Karl im Text zeichenhaft von got eingeschlossen“ (Urbanek, Lob- und Heilsrede, S. 221). 15 „[...] Konrad schiebt hier die Verantwortung für sein Werk Gott bzw. dem Heiligen Geist zu und sichert sich so für sein Vorhaben höchste Legitimität und Dignität“ (Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 43). Vgl. zum ‚Buch‘ und zum damit verbundenen Wahrheitsdiskurs u. a. Klaus Grubmüller: Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: bickelwort und wildiu mære. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dorothee Lindemann, Bernd Volkmann, Klaus-Peter Wegera. Göppingen 1995 (GAG. 618), S. 37–50 sowie Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit. Berlin 2017 (PhSt. 259), S. 115–118. 16 Vgl. Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 69. „Die das ganze Rolandslied beherrschende Analogie von Gott, dem himmlischen Kaiser, und Karl, dem irdischen Kaiser, bannt der Dichter gleich zu Anfang in seinem Prolog durch die rhetorische Determinatio: Schephare [...], cheiser allir chuninge und daz ist Karl der cheiser“ (Urbanek, Lob- und Heilsrede, S. 221). 17 Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 131. Zu „verwandtschaftlichen Verhältnissen“ Karls vgl. ebd., S. 131–134. Es gibt Ansätze, die Nennung Pippins als Hinweis auf ein genealogisch legitimierendes Element zu begreifen, denn aus Pippins Salbung ergebe sich eine „sakrosankte Erbfolge“ und somit auch „die sakrosankte Person Karls des Großen“ (Herbert Backes: Dulce France – Suoze Karlinge. In: PBB 90 [1968], S. 38). Konrad mag die genealogische ‚Sakrosanktität‘ aufrufen, aber nutzt ihr legitimatorisches Potential nicht aus.

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genealogische Linie geadelt – wie es für die Begründung traditionaler Herrschaft kennzeichnend wäre –, sondern erhält eine charismatische, sich aus göttlicher Begnadung speisende Herrschafts- und Heilsaufgabe. So gründet sein Ruhm in der oben bereits angeführten heilsmethodischen Praxis der Bekämpfung und Missionierung der grimmigen heiden (RL 20). Als ‚Werkzeug‘ Gottes (instrumentum Dei) trägt er daz wâre liecht (RL 21) in die Welt und bringt Selbsterkenntnis zu den Heiden, denn sîne wessen ê nicht, / wer ir schephære was (RL 22 f.).18 Karls Leben verläuft von Kindheit über Jugend bis ins Alter in linearem Aufstieg auf Tugend zu:19 ie baz unt baz steic der hêrre ze tugente von kintheit ze jugente, von der jugent in daz alter. (RL 24–27)

Als vita perfecta mündet Karls Weg im himmlischen Reich Gottes, wo er sich nun iemer êwichlîche (RL 30) befindet. Das irdische Leben ist in dieser Hinsicht eine rasch durchmessene Phase und die Herrscherbiographie nimmt sich so als Stufenweg zum Heil aus. Es steht in Frage, inwiefern Karl im Prolog als Heiliger anzusprechen ist. Ohly erkennt in Karl als „Bekenner und Bekehrer“ zwar den „Titelhelden“, nicht jedoch den „Titelheiligen“.20 Dagegen begreift Ott-Meimberg Karl durchaus als Heiligen und sieht das Rolandslied insgesamt „im Dienste der Heiligenverehrung Kaiser Karls“.21 Ob Karl nun eine kanonisierte Heiligkeit oder eine laikale Adels- und Staatsheiligkeit oder eine spezifisch literarische Heiligkeit aufweist, wie Ott-Meimberg differenziert, ist m. E. für die Funktion des Prologs und die Inszenie-

18 Zum Licht-Dunkel-Dualismus und der Scheidung von Christen und Heiden vgl. u. a. Bauschke, Der Umgang mit dem Islam, bes. S. 191 f. u. 200. 19 Vgl. zum Begriff der Tugend sowie zur gegenüber dem Neuhochdeutschen verschiedenen Bedeutung der mittelhochdeutschen Ausdrücke kintheit, jugent und alter Kartschoke, Kommentar, S. 630 f. In dieser biographischen Skizze als „Geschichte“ Karls sieht Ott-Meimberg den „würdige[n] Gegenstand des angekündigten literarischen Vorhabens“ (dies., Staatsroman, S. 46). Das ist m. E. aber nicht zutreffend, denn es wird im Rolandslied nicht von Karls Herkunft, Kindheit, Jugend und Herrschaftsantritt erzählt. Die Geschichte Karls steht erst in späteren Bearbeitungen im Fokus. 20 Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 51. 21 Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 46. Ott-Meimberg schreibt Karl eine spezifische Heiligkeit zu, die zwischen Legende und Staatsroman steht und den Herrscher als „Adelsheiligen“ und schließlich als „Staatsheiligen“ auszeichnet (ebd., S. 47 f.); Karl sei „Inbegriff eines hochadeligen Heiligkeits- und Frömmigkeitsideals“ (ebd., S. 48). Ott-Meimberg folgert, „daß das ‚Rolandslied‘ durch seinen Prolog, der die Vita des Staatsheiligen Karl ankündigt, als Staatslegende, als politische Legende eingeführt wird. In dieser spezifischen Form literarischer ‚Heiligen‘-Verehrung kommen Funktion und Absicht von Legende und Staatsroman zur Deckung“ (ebd., S. 49 [Hervorhebungen übernommen]). Doch wird die Vita Karls von Konrad gar nicht erzählt, eine „politische Legende“ kann damit nicht mit der problematischen Gattungsbezeichnung „Staatsroman“ zusammenkommen.

1 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung

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rung Karls zweitrangig und zudem auf Grundlage des vorliegenden Wortmaterials kaum zu entscheiden.22 Im Hintergrund dieser Diskussion steht Kartschokes Frage, die das Rolandslied in Gänze betrifft: „Ist Karl als Heiliger dargestellt, wenn auch nicht ausdrücklich als solcher bezeichnet?“23 Festzuhalten ist, dass Karl nicht als ‚heiliger Karl‘ oder ‚sankt Karl‘ angesprochen wird, sondern lediglich mit dem identifizierenden Epitheton der keiser (RL 11) versehen wird, womit seine kaiserliche Herrschaft und sein Amt zentriert und sakral eingefasst werden. Folglich beleuchtet der Prolog eine Herrschersakralität: Die Kluft zwischen Irdischem und Himmlischem, Profanem und Heiligem wird über den Schöpfergott auf der einen und Kaiser Karl auf der anderen Seite abgetragen. Karl rangiert an der Schnittstelle von Transzendenz und Immanenz, indem er als Herrscher bereits zu Lebzeiten Partizipient der Sphäre des Heiligen ist und im ewigen Leben in ein Nahverhältnis zu Gott gesetzt wird. Seine Gottesnähe und Stellvertreterschaft Gottes sind Merkmale einer Herrschersakralität.24 Damit sind der Protagonist (Karl), die Handlung (Heidenmissionierung als Modus des Heilserwerbs) und das Ergebnis der folgenden Erzählung benannt, welches in kollektiver Dimension einen Ausbau christlicher Herrschaft und göttlicher Ordnung auf Erden sowie in individueller Dimension Karls Aufnahme in das Reich Gottes bedeutet. Zu erzählen ist – und dafür wird die göttliche Inspiration im Besonderen erbeten – das „Wie“, das der Text selbst zu behandeln verspricht, nämlich wie er daz gotes rîche gewan (RL 10). Der Fokus wird so auf die genauer zu entfaltenden heilswirksamen Praktiken Karls gelegt und es wird zugleich im Sinne eines attentum parare Aufmerksamkeit für den Akt des Erzählens, die Darstellung selbst, gesucht. Die Sicherstellung des wahren Berichts, um frei von Lüge und göttlich inspiriert die Heilsmethodik Karls ausbreiten zu können, relationiert Gott, Dichter und Gegenstand. Der Rezipientenbezug wird in diesem Modell eher implizit hergestellt,25 indem die Grundkoordinaten für die weitere Rezeption und damit auch für die Analyse von Herrschersakralität in der Narration des Rolandslieds festge-

22 Ott-Meimberg thematisiert die Problematik von kanonisierter und literarischer Heiligkeit (vgl. ebd., S. 262–267) und legt fest: „Das Vorhandensein bzw. Fehlen der Attribute sante und heilec sagt so nichts über die spezifische Heiligkeit auch Karls im ‚Rolandslied‘ aus“ (ebd., S. 262, Anm. 3). 23 Dieter Kartschoke: Die Datierung des deutschen Rolandsliedes. Stuttgart 1965 (Germanistische Abhandlungen. 1682), S. 159. Auf die Darstellung Karls in den Versen des Prologs bezogen, wendet Kartschoke die Frage so: „Das kann so von einem Heiligen gesagt sein, aber kann es nur von einem Heiligen gesagt sein? Das ist eine der vielen unlösbaren Fragen, die sich dem späteren Betrachter stellen“ (ebd., S. 162 [Hervorhebung übernommen]). Vgl. zur Diskussion von Karls Heiligkeit u. a. OttMeimberg, Staatsroman, S. 262–267; Nellmann, Die Reichsidee, S. 178; Geith, Carolus Magnus, S. 107. 24 Vgl. bereits Kapitel II.2.2. 25 Gerok-Reiter deutet von den Versen RL 9–11 ausgehend die exemplarische Funktion Karls, die der Erzählung eine Heilsrelevanz für die Rezipienten zuweist: „Implizit heißt das, der Protagonist, Kaiser Karl, soll als Exemplum dienen für jeden edel Gesinnten, der das Himmelreich zu gewinnen trachtet“ (Gerok-Reiter, Figur und Figuration, S. 180).

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legt werden:26 Karls Herrscherhandeln ist bezogen auf Diesseits und Jenseits, individuell und kollektiv heilsrelevant sowie sakral konzeptualisiert, wodurch die Frage danach, wie er daz gotes rîche gewan (RL 10), eine Frage der Heils- und Herrschaftsmethodik zugleich ist.

1.2 Der heilige Herrscher als Fürsprecher der Rezipienten: Zum Prolog des Strickerschen Karl Der Prolog des Strickerschen Karl beginnt mit einer Ich-Aussage: Ich han gemerchet einen list (K 1). Diese Zentrierung des Ich profiliert einen Sprecher,27 der weder vollständig in einem Kollektiv aufgeht, wie es der Anfang der Chanson de Roland vermuten lässt, noch hinter göttlicher Inspiration demütig zurücktritt, wie es im Prolog des Rolandslieds der Fall ist: Der göttliche Schephære (RL 1) ist einem menschlichen Ich (K 1) gewichen. Aus dieser selbstbewussten Haltung heraus – die sich in der Folge auch in der üppigen Ausgestaltung der I–Initiale im Layout der Handschriften niederzuschlagen scheint –28 gibt das Ich an, dass sich eine üble oder gute Gesinnung des Menschen sichtbar artikuliert. So lasse äußerliches Handeln Rückschlüsse auf das Innere, die Gesinnung und ethische Integrität zu.29 Diese allgemeine Beobachtung in Form der list (K 1) wird, wie sich im Folgenden zeigt, konkret auf die Rezipienten bezogen.30 Ihre Gesinnung werde besonders dann auf die Probe gestellt, wenn das Ich 26 So kann auf Grundlage des Prologs festgehalten werden, dass „[d]ie drei Aspekte: Gottesnähe, Heidenkampf, Gewinn der Seligkeit, [...] der Karlsdarstellung im deutschen Rolandslied auch im weiteren ihre spezifische Prägung [geben]“ (ebd., S. 180). 27 Singer, der sich den rhetorischen Strukturen des Prologs widmet, indem er verschiedene Kausalitäten als Motivation für die Erzählung des Strickers anführt (causa materialis, efficiens, finalis) und Formen der benevolentia, docilitas und attentio als rhetorische Grundintentionen untersucht, spricht hier vom „Aufbau der Erzählerfigur“ (Johannes Singer: Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘. Text und Anmerkungen. In: ZfdPh 93 [1974], S. 80–107, hier S. 65). Schnell stellt die Aussagen der Prologe des Rolandslieds und des Karl einander gegenüber. Mag das Rolandslied auch mit einem „einer religiösen Dichtung zukommenden Gebet“ und der Karl mit einer „im allgemeinen ein weltliches Epos einleitenden communis sententia“ eröffnet werden – letztere erstreckt sich über die Verse K 1–40, das Gebet auf die Verse RL 1–6 –, bedarf dieser erste Eindruck genauerer Prüfung (Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 321; zum Prolog ebd., S. 321–325 [mit weiterführenden Literaturhinweisen]). 28 Handschrift C, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857, S. 452 (I–Initiale über etwa 26 Zeilen); Handschrift D, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Regin. lat. 1354, fol. 1r (I–Initiale über etwa 12 Zeilen); Handschrift E, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2715, fol. 1r (Es ist nur ch zu lesen; die I–Initiale ist angelegt und scheint vom Illustrator nicht ausgeführt worden zu sein.). Abbildungen der genannten Handschriftenseiten bietet Singer im „Tafelteil“, der seine Edition beschließt. 29 Vgl. K 2–8. 30 Nach Singer richtet sich die list vor allem auf den Erzähler und „die stofflich erzählerische Kompetenz [...], die in der Aufdeckung der significatio des Stoffes begründet liegt“ (ders., Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 100). Wolf identifiziert die vorliegende ‚List‘ als „Fähigkeit des richtigen Erkennens des wahren Wesens eines Menschen“ (ders., ‚Sante Karle‘, S. 98).

1 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung

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von einem integren Mann erzähle, der das Lob seiner Zeitgenossen gewann und ihnen als der aller beste (K 15) galt. Denn wenn einer unter den Rezipienten ist, der ein so valschez herce hat (K 17), sodass er Bosheiten dem frommen Werk vorzieht, dann schmerze ihn der gute Ruf, des mannes ere (K 20), wodurch er sich selbst des guten Rufes entfremde und schwer daran trage, dass ein guter Mann rechtschaffen handelt.31 Auf diese Weise zeige sich seine Gesinnung, also dasjenige, swaz in des mannes hercen ist, / daz wir da heizzen den můt (K 2 f.). Das Herz gebe Bewertung und Sprache ein (swaz lobes im sin herce giht; K 8), darin offenbare sich der můt (K 24) des ‚schlechten‘ Rezipienten, denn er giht, ich liege oder ich tobe (K 25). Der ‚falschherzige‘ Rezipient gönnt also dem dargestellten ausgezeichneten Mann seinen guten Ruf und seine Ehre nicht, was sich in der Diskreditierung des Erzählers als Lügner oder Wahnsinniger niederschlägt – wem das Erzählte missfällt, der verachtet auch den Erzähler. Über dieses nidære-Motiv wird eine Schutzklausel installiert, die eine Kritik an der Darstellung des Erzählers verhindern und seine rhetorisch-poetischen Fähigkeiten außer Frage stellen soll, denn jede Kritik rühre schließlich vom ‚falschen‘ Herzen des Rezipienten, der das Dargestellte verachtet (und dadurch seine Schlechtigkeit beweist). Das Herz als moralisch-ethischer Kern des Menschen wird hier mit einem Diskurs über Wahrheit und Lüge verknüpft, der sich auf die Produktion, Rezeption sowie den Gegenstand literarischen Sprechens bezieht.32 Ein solcher Wahrheit-Lüge-Diskurs findet sich auch im Auftakt des Rolandslieds, diesen greift der Stricker hier womöglich auf, arbeitet ihn jedoch erweiternd um, denn von der moralisch-ethischen Disposition der Rezipienten sowie vom Herzen ist bei Konrad nicht die Rede. Diese Herz-Reflexion im Prolog des Karl ist verknüpft mit der Herz-Thematik in der Narration: So bestimmt die im Prolog festgelegte Zusammenschau von Innerem und Äußerem, von Intention und Gebaren, als Stück literarisch oder rhetorisch vermittelter Anthropologie nicht nur das Verhältnis zwischen Sprecher bzw. Verfasser und Rezipienten, sondern auch zwischen Erzähler und Figuren. In der Narration wird im Besonderen das Herz des Herrschers ausgeleuchtet, indem eine Passion Karls inszeniert wird, die am Herzen ansetzt und für die Aushandlung von herrscherlichen und heiligen Zügen der Figur aufschlussreich ist.33 Das Ich verweilt noch für einige Verse bei der Missgunst des Mannes mit ‚falschem‘ Herzen und beschließt diese Überlegungen mit einem Sinnspruch:34 swer di frFmcheit meret, / des sold er sin geeret (K 39 f.) – Ehre gebührt dem, der sich um

31 Vgl. K 21–23. 32 „Mit einer derartigen Vermischung von erzählter Geschichte und Poetologie steht der Prolog in unmittelbarer Nähe jener Mären [des Strickers; F. B.], die eine handlungspragmatische Komponente in die Erzählung selbst integrieren. Der Prolog des Karl verspricht nicht weniger, als daß anhand des Vollzugs der Erzählung die lebenswichtige Unterscheidung von Sein und Schein möglich wird“ (Wolf, ‚Sante Karle‘, S. 98). 33 Vgl. hierzu auch Kapitel III.6. 34 Vgl. K 30–38.

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Tüchtigkeit verdient macht.35 Der Mann, von dem der Erzähler den Rezipienten (iu; K 41) berichten will, sei der sælde so voll, dass er zunächst Ruhm und Lob der Welt erworben habe und seine Seele schließlich ‚schön‘ in den Himmel aufgefahren sei: Von dem ich iu sagen wil, der hete sælden so vil, daz er der werlde lop erwarp unde fůr, do im der lip erstarp, diu sele ze himele schone. (K 41–45)

Das irdische Idealleben findet seine Vollendung in der Aufnahme der Seele in den Himmel: sus trůg er hie di chrone / und hat dort daz selbe heil (K 46 f.).36 Krönung – das ruft zugleich eine Vorstellung von Herrschaft auf – auf Erden (hie) und Krönung im Himmel (dort) bringen Immanenz und Transzendenz in ein Verhältnis der Entsprechung. Irdisches Handeln zeitigt Konsequenzen für das Schicksal der Seele nach dem Tod.37 Und dieser Mechanismus wird zusammengefasst im Schlüsselbegriff der sælde:38 In ihm fließen himmlische Gnade und irdische Vortrefflichkeit zu-

35 Für Singer wird im Abschnitt K 1–40 eine „literarische Gemeinde“ gestiftet, die dann mit Vers 41 adressiert werden kann (ders., Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 99). Er sieht hier das Ende des prologus praeter rem, der prologus ante rem erstreckt sich dann von Vers 41–114 (vgl. ebd., S. 101 u. 104). Dieser leistet „[d]ie Umgestaltung der literarischen Gemeinde in eine religiöse ‚Karl-Gemeinde‘“, „Erzähler und Hörer in gleicher Weise umfassend[]“ (ebd., S. 99); darin erschöpft sich auch Karls Bedeutung als Helfer und Bote vor Gott. 36 Brandt sieht hier „die religiöse Thematik zur Geltung“ kommen, die sich für den Karl als zentral erweist (ders., erniuwet, S. 36 f.). Vgl. auch Joachim Bumke: Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit. Heidelberg 1959 (Germanische Bibliothek), S. 104 f. zum ‚Fürsten‘-Status von Heiligen im Himmel. Klein verweist auf den Bezug zu Willehalm 4,10 f. (zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 2009 [Bibliothek des Mittelalters. 9]) für die Verse K 46 f.: „Sie formulieren die Vorstellung vom himmlischen Mitkönigtum Karls nach seinem Tod. Die auf der Grundlage von 2 Tim 2,12 und Iac 1,12 entwickelte Vorstellung gehört jedoch [...] traditionell zum mittelalterlichen Herrscherpreis“ (dies., Strickers ‚Karl der Große‘, S. 310, Anm. 38). 37 Vgl. hierzu auch den Prolog des Rolandslieds (bes. RL 12–16). 38 Einschlägig setzt sich mit dem Begriff sælde auseinander: Clifton Hall: The Saelde-Group in Konrad’s „Rolandslied“ and Strickers „Karl der Grosse“. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 61 (1969), S. 347–360. Hall bezieht sich dabei kritisch auf Theo Scharmann: Studien über die Saelde in der ritterlichen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. Würzburg 1935. Er vergleicht den Gebrauch und die Bedeutung von sælde und seinen Derivationen als „Saelde-Group“ im Rolandslied und in Strickers Karl (er bietet auch eine Aufstellung der Belege; vgl. für eine Liste auch Udo von der Burg [Hrsg.]: Indizes zu Strickers Karl der Große. Wortindex, Reimpaarindex, Häufigkeitsindex. Göppingen 1974 [GAG. 143], S. 63). Für sælde im Rolandslied hält Hall fest: „In the RL, all saelde is ‚given‘, either by God or by the heathen gods, and we can assume that for Konrad, the source of saelde was divine. [...]. It may be said of saelde in the RL that it represents a favorable development brought about through benign divine intervention, and the implied condition of well-being resulting therefrom“ (ders., The Saelde-Group, S. 350). Der Stricker

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sammen, wobei sich sælde zu Lebzeiten auf Erden artikuliert und dabei auf das Leben nach dem Tod und damit zeichenhaft auf Transzendentes, (noch) Unverfügbares verweisen kann. Handlungen in der Immanenz tragen also zur Akkumulation einer graduell differenzierten sælde bei, die an christlicher Ethik ausgerichtet als Gradmesser für ideale Lebensführung erscheint: Glück, Erfolg im Handeln (besonders im Krieg), gesellschaftliche Anerkennung sowie Gottes Gnade und Rettung des Seelenheils sind semantische Dimensionen von sælde. So bildet sie in der vorliegenden Konzeptualisierung des Strickers einen Baustein einer Karl zugeschriebenen Heils- und Herrschaftsmethodik und figuriert auch als Indikator für gnadenhafte, sakrale Handlungen der Figuren auf Erden. Scharmann sieht die sælde mit Karls Gottesverhältnis verbunden und deshalb „wird man die Karlssaelde füglich als einem dem Charisma zumindest verwandten Begriff auffassen dürfen“.39 Die besondere sælden-Fülle, die Karl zuteilwird, markiert seine herausgehobene Stellung und Nähe zu Gott. Indem Karl auch andere Menschen planvoll zur sælde zu führen vermag – darin liegt eine besondere Facette seiner sælde –, wird sein persönliches Charisma als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz deutlich und seine Herrschaft sakral legitimiert. Wenn das Sprecher-Ich einen ‚Großteil Gutes‘ (gůtes ein michel teil; K 48) von diesem Mann vorträgt, soll man jemanden, der es von der Rede abbringen möchte, als zagen (‚Lästermaul‘) ansehen (K 50) – das zielt wieder auf die geneigte und rich-

macht sechsmal so häufig wie Konrad Gebrauch von Ausdrücken der ‚Saelde-Gruppe‘, wobei Hall eine Aufweichung der Bedeutung von sælde gegenüber dem Rolandslied ausmacht, die darin besteht, dass die Quelle für sælde nicht mehr allein in Gott („all of Konrad’s saelde ist given by a divine source“ [ ebd., S. 353]), sondern zugleich in der Welt, in der Gesellschaft liegt: Der Stricker benutzt „saelec to describe the man who has found favor with God and society“ (ebd., S. 358 [Hervorhebung übernommen]). Hall hebt auf die Formel „Gott und der Welt gefallen“ ab, welcher der Stricker mit seinem sælde-Konzept Rechnung trage (vgl. ebd., S. 357). Festgehalten sei, dass der Stricker Karl im Besonderen als Träger von sælde inszeniert (K 61 [sælig], 208 [sælig], 311 [sælig], 1282, 2045, 2250–2276, 2792 [er ist ein so sælich man]), der als Herrscher den Menschen durch seine Taten zur sælecheite (K 82) verhilft und damit analog zu Christus die sæligen erlöst (K 1295, 2518; Gott urteilt zum Heil der sæligen [vgl. K 9174]; auch die Rezipienten werden als potentiell sælige bezeichnet [K 79]). Aufschlussreich ist zudem, dass Rolands Tod in Karls Augen den Verlust seiner sælde, also seines Glücks, seines herrscherlichen Gelingens, seiner Gnade bedeutet (vgl. dafür stellvertretend: daz dů fFrest mit dir / mine sælde und alle min ere! [K 10484 f.]; 10424; vgl. auch Karls ausführliche ‚sælde-Rede‘ K 11116–11130; 11296, 11299); darin wird die besonders enge Bindung zwischen Karl und Roland deutlich, die göttlich verfügt ist und auf die Kapitel III.3 und III.6 genauer eingehen werden. Und schließlich stellt der Epilog die unsælde Geneluns der sælde Karls antithetisch gegenüber und schlägt damit einen Bogen zur im Prolog beschworenen sælde des Herrschers, die nach der Narration im Epilog gewissermaßen als ‚bewiesen‘ gelten kann (vgl. K 12026–12041; Geneluns Sippe ist durch seinen Verrat unwert und unsælech; K 12013). Vgl. jenseits der Chanson de geste-Bearbeitungen zur sælde Thomas Cramer: Sælde und êre in Hartmanns Iwein. In: Euphorion 60 (1966), S. 30–47 sowie den religionssoziologische Ansätze Webers einbeziehenden Beitrag von Quast, „Ein saelic spil“. 39 Scharmann, Studien über die Saelde, S. 51. Hall widerlegt in seinem Beitrag diese Deutung von Scharmann für das Rolandslied (vgl. ders., The Saelde-Group, S. 359).

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tige Rezeptionshaltung des Publikums ab.40 Wenn nun jemand sogar allez (K 52) niederschreiben und allez (K 54) berichten wollte, was diesen ausgezeichneten Mann betrifft, dann wäre das in einem halben Jahr kaum möglich.41 Die Idealität des Mannes scheint sich somit gemäß dieser topischen wie hyperbolischen Darstellung nicht umfänglich abbilden zu lassen. Das Ich folgert: der rede wære uns ze vil (K 57) und muss aus der Fülle des Materials auswählen (Selektion), kann nicht allez darbieten und auch nicht in voller Länge erzählen; damit ist eine Vollständigkeit des Erzählten verabschiedet (Reduktion):42 der es chFrzliche wil ein teil h=ren umbe daz, daz er bechenne deste baz den vil sæligen man, dem sage ich, so ich beste chan (K 58–62).

Indem exemplarisch für die Idealität des Mannes Charakteristisches dargeboten wird, nimmt der Erzähler eine sinnstiftende Komposition vor. In Kurzfassung, zugleich kurzweilig und unterhaltend, kann weder allez (K 52, 54) noch ein michel teil (K 48), sondern nur ein teil (K 59) vorgetragen werden. Wer willens ist, sich darauf einzulassen, den vil sæligen man (K 61) besser kennenzulernen, dem werde das Ich nach Kräften davon erzählen – die geneigte Einstellung des Rezipienten ist Voraussetzung für die Aufnahme der Erzählung. Damit ist über die zurückliegenden sechzig Verse ein ethisch aufgeladenes Modell literarischer Kommunikation normativ eingezogen worden, das nun aufgefüllt wird: Die Position des Rezipienten mit ‚falschem‘ Herzen kann als Leerstelle situativ je neu, also in actu von den Rezipienten besetzt werden, und sich Erzähler wie Erzählung geneigt zu zeigen, ist den Rezipienten mit ‚aufrichtigem‘ Herzen anempfohlen. Die paradigmatische Position des ‚ausgezeichneten‘ bzw. sæligen Mannes vergangener Tage, der von allen Zeitgenossen für den besten gehalten worden sei, wird nun besetzt. Mit der Beantwortung der Frage, wer jener Mann war, entlädt sich die über Reflexionen und Umkreisen des Gegenstands aufgebaute Spannung:43 Daz was Karl der reine, / der alle die gemeine / ze friunde het gewůnnen (K 63–65). Damit ist nun der mit dem Epitheton ‚reine‘ versehene Karl in die Textwelt eingetreten, dessen Eigenschaft es war, ‚jeden Menschen gemeinhin als Freund gewonnen

40 Singer sieht darin den Topos „Der Besitz von Wissen verpflichtet zur Mitteilung“ umgesetzt, wodurch der Erzähler geradezu verpflichtet ist, von Karl zu erzählen (ders., Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 104). 41 Vgl. K 55 f. 42 Singer identifiziert diese Selektion als Topos ex pluribus pauca (ebd., S. 104). 43 Das fällt unter „de[n] Topos des ‚Hinauszögern(s) der Namensnennung‘“, den Singer als Form der attentio unter der rhetorischen Grundintention des Prologs subsumiert (ebd., S. 101).

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zu haben‘ (im Mittelhochdeutschen: Perfekt). Karl affiziert somit jeden Menschen und wirkt dadurch egalisierend, denn er wird nicht als Herrscher eingeführt wie im Rolandslied, das ihn im Prolog als keiser (RL 10) vorstellt. Augenscheinlich geht es dem Stricker zunächst nicht um einen herrscherlichen Aspekt Karls, sondern um einen moralisch-ethischen.44 Alle verständigen Menschen schätzen Karl (im Mittelhochdeutschen: Präsens), da er in allen Belangen redlich und gut war (im Mittelhochdeutschen: Präteritum), erklärt der Sprecher.45 Das Tempusrelief in Gestalt des Wechsels von Präteritum/Perfekt und Präsens verknüpft Karls in der Vergangenheit liegendes rechtschaffenes Leben mit zeitgenössischer Aktualisierung.46 Dadurch erhält der Erzählgegenstand lebenspraktische Bedeutung für die Rezipienten und bietet einen Brückenschlag zwischen Literatur und Leben an. Der Erzähler verortet Karl weiter: swaz man von kFnegen ie gelas, so h=re wir diu bůch jehen, man habe decheinen gesehen, der in der christenlichen ê gotes ere geschFffe me danne Karl Pippines chint. (K 70–75)

Unter Berufung auf Prätexte (diu bůch; K 71) berichtet der Erzähler, dass es unter allen Königen keinen gebe, der in der Christenheit Gottes Ehre stärker vermehrt habe als Karl, der nun genealogisch-historisch als Sohn Pippins verortet wird (das geschieht so auch im Prolog des Rolandslieds).47 Das tertium comparationis christli-

44 Karl wird beim Stricker erstmals nach seiner Krönung durch den Papst in der Erzählung ‚Kaiser‘ genannt (vgl. K 505). Siehe dazu Brandt, erniuwet, S. 223. 45 Vgl. K 66–69. 46 Vgl. zur Aktualisierung des vergangenen Ideals auch den Prolog von Hartmanns Iwein: Hier geht es um die Idealität des Königs Artus, die zwar vergangen ist, an der es sich aber noch immer zu orientieren lohne, da sælde und êre gewonnen werden können: Swer an rehte güete / wendet sîn gemüete, / dem volget sælde unde êre (Hartmann von Aue: Gregorius – Der arme Heinrich – Iwein. Hrsg. u. übers. von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2008 [Bibliothek des Mittelalters. 6], V. 1–3). Weiter heißt es: er ist lasterlîcher schame / iemer vil gar erwert, / der noch nâch sînem [Artus’; F. B.] site vert (V. 18–20). Beide Herrscherfiguren, Artus und Karl, werden (bei allen Unterschieden der Figuren und der Texte) im jeweiligen Prolog als Inhaber sowie Vermittler von sælde inszeniert. Auf diese Weise korrespondieren Herrschaft und Heilsvermittlung als besondere Verantwortung des Herrschers für seine Beherrschten, die über die Garantie eines Wohlergehens auf Erden hinausgeht. Vgl. zu Berührungen des Rolandslieds und Hartmanns Iwein in Bezug auf sælde auch die Überlegung von Gerok-Reiter, Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers, S. 90. 47 Schmitt erklärt, dass der Bezug auf diu buoch die Funktion habe, „Karl als den vorbildlichsten aller christlichen Könige auszuweisen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Quellenberufung, sondern um einen Bezug auf nicht näher konkretisierte schriftliche Überlieferung, die Karls Exorbitanz bezeugt“ (dies., Inszenierungen von Glaubwürdigkeit, S. 7).

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cher Herrscher besteht in der Mehrung der Ehre Gottes, also im Gottesdienst. Karl überragt darin alle anderen Herrscher und nimmt unter ihnen den höchsten hierarchisch-axiologischen Rang ein. Auch im Prolog des Rolandslieds ist es Karls Handeln für die Ehre der Christenheit, seine Heidenmission im Namen Gottes, die ihn auszeichnet und als Element einer Heilsmethodik das Himmelreich gewinnen lässt. Daraufhin werden die vergangenen Taten Karls durch einen Gegenwartsbezug aktualisiert. All jene, die in der Gegenwart sælech sint (K 76), können erfahren, wie sich Karl um das (Seelen-)Heil vieler Menschen verdient gemacht hat und diese Seelen durch seine Mühen (arbeite; K 81) Gott zuteilwerden ließ. Sein Einsatz für das Seelenheil anderer, verstanden als Aufgabe der Nächstenliebe, fällt auch in den Bereich der priesterähnlichen Verantwortung, die ein Herrscher gegenüber seinen Anvertrauten vor Gott übernimmt. Damit trägt Karl zu Lebzeiten, folgt man der Definition Erkens’, Züge eines sakralen Herrschers.48 Zugleich kommt Karl eine exemplarische Funktion zu, da er als Vorbild für Menschen, die sælech sint, fungiert. So werden bezüglich einer (überzeitlichen) Heilsmethodik Karl und damit das Erzählen von Karl relevant gemacht: Der Nutzen der Erzählung – so suggeriert der Prolog – besteht in der Präsentation des idealen Handelns Karls des Großen und in der Anregung einer imitatio Karoli als lebenspraktischer Effekt der literarischen Kommunikation. Imitatio Karoli meint die Umsetzung einer bestimmten Heilsmethodik, deren zentrale Elemente Nächstenliebe, der Dienst am Seelenheil der Menschen und die Mehrung der Ehre Gottes sind, über den Weg der Heilsstiftung (Seelenrettung) – verbunden sind all diese Elemente im Sammelbegriff der sælde. Von einer Heidenmission oder Gewaltanwendung ist hier – anders als im Prolog des Rolandslieds – noch keine Rede. Der Prolog des Karl bleibt in dieser Hinsicht unbestimmt und damit in der Rezeption situativ flexibel applizierbar. Karl wird dann für uns (K 83) alle, ein Kollektiv, das Erzähler und Rezipienten als Heils- und Rezeptionsgemeinschaft einschließt, als nutzbringender Helfer verbindlich gemacht: der selben sælecheite mag er uns nů gehelffen baz. ir sult rehte wizzen daz: er hat nů gewaltes me unde ist ouch richer dann ê. (K 82–86)

Nach seinem Tod vermag Karl nun in der Gegenwart zu eben jener historisch zu seinen Lebzeiten manifest gewordenen sælecheit zu verhelfen, die eine Sicherung des Seelenheils bedeutet. Karl ist damit als wirkmächtige heilige Helferfigur ausgemacht. Der Erzähler, der das kollektive ‚uns‘ hier wieder in ‚ich‘ und ‚ihr‘ spaltet, wird in seiner Ansprache an die Rezipienten deutlich, denn Karl habe nun in der 48 Vgl. Kapitel III.2.2.

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Gegenwart mehr Macht als (je) zuvor.49 Damit versichert der Erzähler, dass eine Hinwendung zu Karl im Moment besonders attraktiv und effektiv ist: Die Arbeit am eigenen und am Seelenheil anderer erscheint mithilfe Karls erfolgversprechend. Wodurch nun die vom Erzähler proklamierte ‚Karlszeit‘ zustande kommt, wird nicht explizit gemacht. Seine kanonisierte Heiligkeit, die im Karlskult gefeiert wird, könnte auf die Darstellung ausstrahlen. Der Erzähler setzt daraufhin neu an, nun mit einer Demutsformel, die sich aus der Dignität Karls zu speisen und direktes unumwundenes Sprechen über ihn zu verbieten scheint: Disiu grozziu rede wære / mir tumben man ze swære (K 87 f.). Angesichts des Karlsstoffs nimmt sich das eingangs selbstbewusst inszenierte Ich zurück, wagt doch der topische tumbe man kaum, den seine Fertigkeiten übersteigenden Stoff (grozziu rede) anzugehen. Doch wieder – wie in Vers 1 – kann das Ich auf eine ‚List‘ zurückgreifen, um die grozziu rede bearbeiten zu können:50 Denn Gott sei so gnädig, dass er dem Erzähler bzw. Stricker helfe, wie er einst auch dem Vieh half. Der Stricker führt als Argument das biblische Beispiel der Eselin Balaams an.51 Schnell erkennt darin einen Beweis für das Hagiographische des Strickerschen Karl, das hier im Prolog bereits angelegt sei.52 Gott verhilft ihm demnach zur Sprache, wodurch an dieser Stelle ein Autorschaftsmodell inszeniert wird, das dem im Prolog des Rolandslieds entworfenen ähnlich ist. Nun möchte sich der Erzähler nicht seiner Erzählung enthalten, da er sonst von ihr und von Karl, dem sæligen bzw. heiligen man (K 100), keinen Nutzen habe (ich engenieze; K 99) – die Differenzierung zwischen einer ‚Seligkeit‘ und ‚Heiligkeit‘ Karls resultiert aus den verschiedenen Lesarten der Überlieferungsträger.53 Er erklärt, dass man in der Vergangenheit Nutzen von Karl ge-

49 Vgl. K 85 f. 50 Singer schließt aus dieser Stelle: „Bezeichnend für Stricker scheint uns, daß er zwar kunst als eine Gnade Gottes auffaßt, daß er sich den Zugang zu dieser Gnade jedoch wiederum ‚rational‘ (durch list) verschafft“ (ders., Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 96). 51 Vgl. K 93–96; Num 22,22–31. 52 „Drei Zusätze des Strickers sollen offensichtlich Beziehungen zur Hagiographie herstellen: der brevitas-Topos (V. 52–62), der Bescheidenheitstopos mit Balaams Eselin (V. 87–96) und die intercessio Karls (V. 82–86, 97–106, 112–114)“ (Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 322). Brevitas-Formel und Bescheidenheitstopos „kommen im Eingang lateinischer Legenden sehr häufig vor“ (ebd., S. 323); der Balaam-Topos sei auch in deutschen religiösen Dichtungen anzutreffen: „So stehen wir vor einer merkwürdigen Erscheinung: der Karl, der sich im ersten Teil des Prologs als ein höfischer Roman vorgestellt hatte, nimmt im weiteren Verlauf Versatzstücke aus religiösen Dichtungen auf“ (ebd., S. 323). Die Frage nach der Gattung drängt sich gleich zu Beginn des Textes förmlich auf bzw. wird vom Text möglicherweise selbst dadurch problematisiert. 53 Bartsch führt in seiner Edition (Der Stricker: Karl der Grosse. Hrsg. von Karl Bartsch. Quedlinburg 1857 [ND Berlin 1965] [Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. 1,35]) in Vers 100 anstelle von Singers des sæligen man (K 100) die Lesart des heiligen man. Karl würde als ‚heilig‘ angesprochen werden, was gegenüber den im Prolog gehäuft verwendeten Formen und Derivationen von sælde und sælech (vgl. analog K 61: den vil sæligen man) unikal auftreten würde, aber inhaltlich nicht unpassend wäre. Wichtig ist, dass im Pro-

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habt habe (im Mittelhochdeutschen Perfekt: des man vil genozzen hat; K 101) und nun in der Gegenwart erst recht die Zeit beginne, in der man von Karl Nutzen haben soll (im Mittelhochdeutschen Präsens): unde nů aller erst ane gat, / daz man sin geniezzen sol (K 102 f.). Wie in Vers 82 f. wird der Anbruch einer ‚Karlszeit‘ beschworen, die besonderes Heil verspricht, da Karls Macht nun ihren Zenit erreicht habe: ‚Karlszeit‘ bedeutet also Heilszeit und Erzählen von Karl bedeutet Medialisierung von Heil, so die Argumentation des Prologs. Die Forschung sucht ausgelöst durch K 102 nach zeitgeschichtlichen Anknüpfungspunkten dafür, dass Karl in der Entstehungszeit des Textes als besonders wirkmächtig gilt, und unternimmt auf dieser Grundlage Datierungsversuche:54 So bindet Singer die Verse K 97–103 an „die Erneuerung des Karlskultes unter Friedrich II.“ in Aachen im Jahre 1215 und schlägt damit als Datierung des Karl „bald nach 1215“ vor.55 Geith nimmt hingegen an, dass nicht der Aachener, sondern der später mit der Reliquienüberführung aus Aachen im Jahre 1233 in Zürich

log zumindest Karls Seligkeit (beatitudo) angesprochen wird, aber noch nicht zwingend seine (kanonisierte) Heiligkeit, weshalb Singer in seiner Edition wohl in K 100 heilic durch sælig ersetzt hat: „Der Schritt zur Attribuierung der sanctitas wird aber folgerichtig erst nach dem Bericht seiner Werke [...] mit dem Schlußvers des ‚Karl‘ getan [...]“ (Singer, Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 105 [Hervorhebung übernommen]). Denn ‚heilig‘ ist nicht bedeutungsgleich mit ‚sant‘, dem Attribut eines kanonisierten Heiligen, wie es Karl in K 12057 zugesprochen wird (vgl. ebd., S. 97–99). Vgl. zur Diskussion von ‚Heiligkeit‘ und ‚sanctitas‘ auch Ohly, Zum Reichsgedanken des deutschen ‚Rolandsliedes‘, S. 110–147 sowie Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘: Der Stricker stelle Karl – in der Edition nach Bartsch – als heiligen man (Bartsch: K 100) vor, „was dennoch schon einen Schritt über das Rolandslied hinausgeht, denn dort erhält Karl weder das Attribut sanctus, noch wird er heilic genannt“ (ebd., S. 324). Doch lebt Karl im Himmelreich (vgl. K 46 f.) und wird schließlich am Ende der Dichtung sante Karle genannt, was bedeutet, „daß Stricker Karl als einen ‚echten‘ Heiligen verstanden wissen wollte“ (ebd., S. 324). Daraus folgert Schnell: „Da Karl der Große schon lange vor seiner Kanonisation in Legenden als heilig galt und überdies die Ansicht von der Spätdatierung des Rolandslieds sich durchzusetzen scheint (also nach 1168), somit alle Voraussetzungen auch zu einer betonteren Heiligkeit Karls im Rolandslied gegeben waren, verdient dieser Unterschied der beiden Werke in der Heiligkeitsauffassung unsere Beachtung“ (ebd., S. 325). Schnell baut seine Argumentation von K 100 auf der Lesart des heiligen man nach Bartsch auf, wohingegen Singer für diesen Vers des sæligen man bietet. Die Handschriften bieten die folgenden Lesarten von K 100: des heiligen man (ANYZ); des vil heyligen man (GU); des sæligen man (CDFP); der gute man (OR). Die Handschriften sind beschrieben in der Edition von Singer, S. XV–XXV. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu entscheiden, wie Seligkeit und Heiligkeit zueinander stehen bzw. ob eine kanonisierte Heiligkeit Karls dominiert. M. E. umschreiben beide Lesarten – sælig und heilig – einen Umschlagspunkt zwischen einer sælde zu Lebzeiten Karls und seiner Heiligkeit nach bzw. mit dem Tode – Heiligkeit wäre damit eine ex post in kanonisierte Form gegossene sælde, deren ganzheitliche Erfüllung sich erst mit dem Tod des Herrschers eindeutig beurteilen lässt. Die Diskussion um Karls Selig- oder Heiligkeit im Prolog ist zu entschärfen, da der Stricker Karl im Abschluss seiner Dichtung als sande Karl anspricht und damit schließlich unstrittig als kanonisierten Heiligen versteht. Vgl. zu Karls Heiligkeit und Strickers „Absicht, Karl als Heiligen darzustellen“, auch Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 319 f. (mit weiteren Literaturhinweisen). 54 Vgl. zur Datierung des Karl bereits Kapitel II.1.2. 55 Singer, Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 99.

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begründete Karlskult gemeint sei.56 Ohne sich auf Aachen oder Zürich festlegen zu müssen, erscheint eine Einbindung des Textes in einen kommunikativen Kontext der Karlsverehrung plausibel.57 Brandt schlägt, da eine Entscheidung über den genauen Entstehungsort nicht zu treffen sei, einen anderen Bezug der in K 102 betonten ‚Karlszeit‘ vor. Eine andauernde Auseinandersetzung mit Karl belege seine Präsenz, denn „man kann keine Lücken ausmachen, keine Perioden, in denen es um das Thema still wird“.58 Deshalb sei es nicht ein spezifisches historisches Ereignis, auf das der Stricker mit K 102 anspielt, sondern es würden „allgemeine Erwartungen“ des Publikums aufgegriffen,59 sodass die Rezipienten die Leerstelle der Referenz durch den ihnen jeweils präsenten Karlsbezug selbst füllen könnten. Damit würde Strickers Karl geographisch entgrenzt und breit rezipierbar gehalten.60 Zugleich – so möchte ich hinzufügen – könnte das Erzählen von Karl auf diese Weise eigens Geltung beanspruchen, ohne auf eine liturgische Rahmung zwingend angewiesen zu sein. Dann wird der Erzähler konkreter, was den Nutzen Karls anbelangt, indem er Karls Mittlerfunktion zwischen Erde und Himmel benennt: swer im getrůwet so wol, / daz er in sendet ze gote, / dem ist er ein gewisser bote (K 104–106). Karl erfüllt eine Rolle als Mittler und Fürsprecher der Menschen vor Gott und überbrückt so gleich einem Heiligen die Kluft zwischen Transzendenz und Immanenz.61 Die Wirksamkeit Karls illustriert der Erzähler an seinem vergangenen Handeln und der Stricker greift dabei abermals auf die Reliefierung der Tempora Präsens und Präteritum zurück: di in nihtes enbaten unde vil unrehte taten, an di begonde er vehten und twanch si zů dem rehten, daz in di sele sint genesen. (K 107–111)

Karl half sogar ungebeten jenen, die sündigten, und ‚zwang sie auf den rechten Weg‘,62 sodass ihre Seelen gerettet wurden (im Mittelhochdeutschen: Präteritum). Der Erzähler leitet daraus für sein Publikum ab (im Mittelhochdeutschen: Präsens): da von sult ir gewis wesen: / swes man in sere bæte, / daz erz benamen tæte (K 112–114). Aus dem Umstand, dass Karl sogar ungebeten zum Seelenheil verhalf, sollen die Rezipien-

56 Vgl. Geith, Carolus Magnus, S. 192. 57 Vgl. zum „Heiligengedenken“ und der Verbindung des Textes zum Heiligenkult auch Hammer, Erinnerung und memoria, S. 245. 58 Brandt, erniuwet, S. 192. 59 Ebd., S. 196 (Hervorhebung übernommen). 60 Vgl. ebd., S. 195 f. 61 „Karl rückt damit in die Nähe von Heiligen, um deren Fürbitte bei Gott die Dichter von Heiligenviten in ihren Prologen demütig bitten“ (Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 323). 62 Mit dem Verbum twingen (twanch; K 110) wird der gewalttätige Aspekt der Heidenmission aufgerufen, die zuvor im Prolog noch nicht explizit als Herrscherhandlung profiliert wurde.

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ten die Gewissheit erlangen, dass Karl, wenn er inständig gebeten wird, wahrlich hilft.63 Schließlich setzt die ‚Erzählerfigur‘ zum dritten Mal an, um sich in Form einer Autorsignatur in den Text einzuschreiben:64 Diz ist ein altez mære. nů hat ez der Strickære geniwet durch der werden gunst, di noch minnent h=fesliche chunst. (K 115–118)

Der Stricker bespricht den vorliegenden Stoff als alte Erzählung (altez mære; K 115), gemeint ist wohl das Rolandslied des Pfaffen Konrad als seine Hauptvorlage,65 die er geniwet hat: niwen meint seine Bearbeitungstechnik, die eine Anpassung der Vorlage nach sprachlichen, metrischen, reimtechnischen Gesichtspunkten ebenso umfasst wie eine inhaltliche Auswahl, Variation, Straffung oder Erweiterung.66 Man beachte den Paarreim [...] altez mære / [...] der Strickære (K 115 f.), der die Substitution des namentlich nicht genannten Prätextes durch den Autornamen vorführt; der Stricker nimmt damit als Endreimwort im Vers die korrespondierende, aktualisierende Position zur ‚alten Erzählung‘ ein. Hier steht nun nicht mehr wie zuvor die über „geistlich“-spirituelle Gründe hergeleitete Relevanz des Karlsstoffs im Vordergrund (Karl als Heilsvermittler), sondern die literarische Technik, für die der Stricker verantwortlich zeichnet; die „weltlich“-künstlerischen Formaspekte des literarischen Werkes werden damit rein immanent bewältigt. Der Stricker passt den Stoff höfi-

63 Die Inserierung des helfaere-/bote-Motivs zählt Singer ebenfalls zur rhetorischen Grundintention des Prologs, nämlich zur Herstellung von attentio (vgl. ders., Der Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 101). 64 Singer erkennt in den Versen K 1–114 „[d]ie Konstitution des kommunikativen Rahmens“ (ebd., S. 101) und sieht mit K 114 den „Aufbau der Erzählerfigur abgeschlossen“, sodass sich nun der Stricker „in einer unwiederholbaren Erzählsituation an ein bestimmtes Publikum wendet (116–123), bevor sie, nun wiederum als Erzählerfigur, in die narratio überleitet“ (ebd., S. 96). 65 Darin sieht Singer nicht zwingend den Bezug zu einer Vorlage und erkennt im Ausdruck mære eine Bezeichnung des Stoffs gegenüber der Darstellung (Rede) (vgl. ebd., S. 106.). Vgl. dazu auch Schmitt, Inszenierungen von Glaubwürdigkeit, S. 7, die auf das Alter des mære als Autorität verbürgendes Merkmal hinweist. 66 Zum niuwen siehe Ragotzky, Gattungserneuerung, S. 14 (vgl. zum „Programm des erniuwens“ in Strickers Frauenehre ebd., S. 10–19). Siehe zum niuwen bei anderen Dichtern auch Esther Laufer: Das Kleid der triuwe und das Kleid der Dichtung. mære erniuwen als Verfahren stilistischer Erneuerung bei Konrad von Würzburg. In: Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf. Hrsg. von Elizabeth Andersen u. a. Berlin 2015, S. 157– 175, zum Karl S. 160 f. Die nun erst recht wirksame Macht Karls, die auf ihrem Zenit steht, könnte auch mit einem Überbietungsgestus auf literarischem Terrain in Verbindung stehen: Das alte mære (Rolandslied) wird geniuwet, damit Karls neuer Strahlkraft, die zu Zeiten des Pfaffen Konrad noch nicht voll entfaltet war, literarisch Rechnung getragen wird.

1 Textanfänge: Erzählen von Karl als Heilsvermittlung

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schem Geschmack an und baut auf die Gunst der Liebhaber höfischer Kunst(fertigkeit) – den sol hie mit gedienet sin (K 119). Auslöser und treibende Kraft für die Bearbeitung des Karlsstoffs ist das Herz als Ratgeber des Dichters, wodurch der Prolog über die Herzthematik gerahmt wird, denn war zunächst vom Herzen des Adressaten im Zuge der Literaturrezeption die Rede, wird nun das Herz des Dichters mit der Literaturproduktion in Verbindung gebracht: ez ist ein rat des hercen min, daz ich nach ir gFnste in dirre selben chFnste unze an min ende schine. (K 120–123)

Die Verknüpfung von Prolog und Narration wird schließlich über die Paarreimbindung, welche die Fuge zwischen beiden Textteilen überspielt, hergestellt: unze an min ende schine / dem kunege Pipine (K 123 f.). Das ‚Ende‘ des Lebens des Dichters geht über in den Anfang der Erzählung, die rezeptionssteuernde Prologrede weicht der Erzählung vergangener Herrscher- und Heilstaten.

1.3 Zwischenergebnis Die Entfaltung des Karlsstoffs verfolgt gemäß dem Prolog des Rolandslieds kein unterhaltendes und formal-ästhetisch ambitioniertes Anliegen, sondern zielt primär auf die ‚wahre‘ Darstellung der Heils- und Herrschaftsmethodik Karls des Großen, welche dazu führte, dass er daz gotes rîche gewan (RL 10). Es geht um die Effekte und den Nutzen dieser Methodik bezogen auf das Seelenheil des Herrschers, seines Kollektivs sowie der durch ihn zu missionierenden Heiden. Die Freiheit der Darstellung von Lüge und die wahrheitsstiftende Vermittlung durch göttliche Inspiration sind zentral für das Erzählen von Karl, wie es der Prolog des Rolandslieds entwirft. Karl wird nach dem Schephaere aller dinge (RL 1), der am Textanfang thront, als Vermittler an der Schwelle von Transzendenz und Immanenz imaginiert sowie – bereits zu Lebzeiten – in göttliche Nähe und Sphären des Kontakts mit Heiligem gerückt. Die Frage, ob Karl hier als kanonisierter, laikaler oder literarischer Heiliger charakterisiert wird, ist nicht genau zu beantworten. Doch werden die Koordinaten eines Erzählens von Karl, das auf eine Inszenierung von Herrschersakralität abzielt, programmatisch abgesteckt. Im Besonderen modelliert der Prolog des Rolandslieds das Verhältnis zwischen Dichter und Stoff, ein Nutzen der Rezeption der Karlserzählung wird nicht explizit benannt, scheint jedoch über eine Funktionalisierung Karls als Exemplum des Typus ‚tugendhafter Mann‘ (tiurlîche[r] man; RL 9) angelegt zu sein. Der Stricker folgt im Prolog seines Karl den grundsätzlichen Aussagen des Prologs des Rolandslieds: Karls göttliche Nähe wird inszeniert, ein Wahrheit-Lüge-Dis-

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III Literarische Herrschersakralität

kurs mit Blick auf das Herz der Rezipienten aufgerufen und ein Konzept von Herrschersakralität – die nach Karls Tod zu Herrscherheiligkeit wird – umrissen, das Heils- und Herrschaftsmethodik eng verknüpft, jedoch unter Verzicht auf den Aspekt der Heidenmission als Eroberung von vil manige heideniske lant (RL 14), der für den Prolog des Rolandslieds zentral ist. Über das Rolandslied hinausgehend wird zum einen die Figur Karls des Großen als Quell von sælde vorgestellt, zu verstehen als eine gnadenhafte Idealität im irdischen Handeln, die zudem in der Garantie des Seelenheils mündet und die Himmelsaufnahme bedeutet.67 Und zum anderen wird die Narration als Dokumentation der Wirksamkeit von Karls sælde für die Rezipienten attraktiv gemacht: So herrsche ‚gerade im Besonderen‘ (nů aller erst; K 102) eine ‚Karlszeit‘, da Karl wirkmächtig als Helfer, Bote und Vermittler für die Menschen vor Gott eintrete und damit noch mächtiger als zu Lebzeiten Menschen zur sælde führen könne.68 Gemäß dem Prolog wird die folgende Erzählung, ähnlich wie im Rolandslied, dem es um die Frage nach dem Modus des Erwerbs des Gottesreiches geht, von Karls sælde künden, indem auch von seiner Wirkmacht zu Lebzeiten, Seelen auf den rechten Weg zu Gott zu führen, berichtet wird. Zunächst verknüpft der Prolog Karls historisch garantierte Wirkmacht mit seiner aktuellen Zuverlässigkeit und virtus als Vermittler für die Anliegen der Menschen vor Gott über wiederkehrende Tempusreliefierung von Präsens (Rezipientenbezug) und Präteritum/ Perfekt (historisches Wirken Karls). Karl wird dabei recht persönlich, als nahbar und direkt für die Rezipienten adressierbar inszeniert. Er erscheint weniger – was vermutlich mit dieser Inszenierung korreliert – in herrscherlicher Funktion und als sakraler Kaiser, wie ihn der Prolog des Rolandslieds vorstellt, sondern eher als Herrscherheiliger, dem ein persönliches, vom Amt losgelöstes Charisma zukommt. Dazu passt die Funktion der Erzählung, die dazu dienen soll, Karl den Großen ‚besser kennenzulernen‘: daz er [der Rezipient; F. B.] bechenne deste baz / den vil sæligen man (K 60 f.). Eine ‚bessere Kenntnis‘ Karls, der vor Gott für die Menschen eintreten und sie zum Seelenheil zu leiten vermag, verhilft womöglich zur gezielteren Ansprache und Verehrung des vil sæligen bzw. heiligen man (K 61). Der Stricker markiert auf diese Weise eine Heilsrelevanz seines literarischen Werkes, das als Beitrag zu einem gelingenden Leben im Diesseits und zu einer Sicherung der Seele im Jenseits ausgegeben wird, indem es von Karl als Bringer der sælecheite (K 82) erzählt. Diese Aufwertung des Geltungsan-

67 Den Gegensatz zwischen Rolandslied und Karl, der sich bereits im Prolog manifestiert, fasst Brandt so: „Für Konrad hat sich Karl also das ewige Leben durch den Kreuzzug erworben. Stricker dagegen geht augenscheinlich davon aus, daß Karl sich insgesamt durch ein vorbildliches Leben des göttlichen Lohnes als würdig erwiesen hat, und als Beispiel führt er den Kreuzzug an, ergänzt aber durch Hinweise auf andere Lebensabschnitte“ (ders., erniuwet, S. 191 [Hervorhebung nicht übernommen]). Was die Karlsfigur beider Texte trotz unterschiedlicher Darstellung eint, ist ihre grundlegende Funktion bzw. Befähigung, Seelen zu Gott zu führen. 68 Vgl. K 84–86. Ukena-Best deutet den Karl insgesamt als Teil einer „göttlichen Heilspädagogik“ (dies., Providentia Dei, S. 362).

2 Genealogische Prädestination und gottgewollte Herrschaft

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spruchs trägt zu einem handfesten Nutzen des Textes (prodesse) bei, dessen artifizielle Durchformung nach höfischem Geschmack im Dienste der Unterhaltung (delectare) als Vehikel zur Vermittlung des genannten heilsrelevanten Inhalts erscheint.69 Um die damit verbundenen differenten Ansprüche des Publikums, der literarischen Kommunikation, des Stoffs und des künstlerischen Könnens zu bedienen, zieht der Prologsprecher verschiedene Register des ‚Über-sich-Sprechens‘: Das Ich (K 1), das den Rezipientenbezug sucht und den Text eröffnet, das Ich als tumbe[r] man (K 88), der auf Gottes Hilfe angewiesen ist, um den Karlsstoff bewältigen zu können, und schließlich der Strickære (K 116), der für die höfische Bearbeitung seiner Vorlage, des alte[n] mære (K 115), verantwortlich zeichnet. Anders als der Prolog des Rolandslieds fokussiert der Prolog des Karl explizit den ‚Nutzen‘ der Erzählung und knüpft unter anderem über die Themen ‚Herz‘ und ‚sælde‘ ein kommunikatives Band zwischen Sprecher/Erzähler und Rezipienten, das die Figur Karls des Großen zentriert. Übernimmt der Herrscher als Vermittler und Bote zwischen Gott und Mensch strukturell Aufgaben eines Heiligen, wird er im Prolog in einigen zugrunde liegenden Handschriften auch als ‚heiliger Mann‘ angesprochen.70 Der Epilog schließlich präzisiert nach der Erzählung von Karls herrscherlichem Wirken im Dienste Gottes seine herrscherliche Sakralität als ‚Sanktität‘ und damit als kanonisierte Heiligkeit – der vil sælige[] bzw. heilige man (K 100) des Prologs beschließt den Text knapp 12000 Verse später als sande Karle (K 12058).

2 Genealogische Prädestination und gottgewollte Herrschaft Das vorliegende Kapitel blickt nun jenseits der Prologe auf die Anfänge der Erzählungen und untersucht, wie Karl über die Konstruktion einer Genealogie und Prädestination als sakraler Herrscher legitimiert wird. Dabei wird er auch persönlich ausgezeichnet, mithin als Heiliger inszeniert. Benötigt Herrschaft in traditionaler Prägung eine legitimierende Herkunft, die syntagmatisch als Modell der Verstetigung entfaltet werden kann, ist persönliche Heiligkeit und im Besonderen die Setzung ihres Anfangs syntagmatisch schwierig abzubilden.71 Wie bearbeiten die Texte also diese widerstrebenden diskursiven Anforderungen? Werden Herrschafts- und Heiligkeitsanforderungen an Karl in der literarischen Inszenierung harmonisiert? Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht ein erstes Teilkapitel die herrscherliche Genealogie und ihre Verbindung zu transzendent begründeter Vorbestimmung,

69 Tatsächlich wurde Strickers Karl dereinst als „problemlose Unterhaltungsliteratur“ begriffen und dem Rolandslied als „Problemdichtung“ gegenübergestellt (Haacke, Konrads Rolandslied und Strickers Karl der Große, S. 292). Brandt (erniuwet, S. 28–31) setzt sich kritisch mit dieser Position auseinander. 70 Vgl. K 100. 71 Vgl. hierzu grundlegend Kapitel II.2.3.

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während ein zweites Teilkapitel Karls göttliche Beauftragung zu Herrschaft und Heidenmission sowie seine Umsetzung des Auftrags bis zur Vorbereitung des Spanienfeldzugs im immanenten figuralen Handeln fokussiert.

2.1 Genealogie – Karls Geburt und Herrschaftsnachfolge Genealogische Informationen sind in der mittelalterlichen erzählenden Literatur prominent in der Regel am Textanfang bzw. in Verbindung mit der Vorstellung der Figuren anzutreffen.72 Als ordnende, an Welt und Geschichte anknüpfende Elemente können genealogische Auskünfte signifikant für die literarische Figurenzeichnung sein, indem beispielsweise die Dignität der Figur über eine prestigeträchtige Ahnenreihe konstruiert wird.73 Genealogische Informationen sind im Besonderen mit Herrschaft verknüpft, sodass die Berufung auf eine Tradition mächtiger herrschender Vorfahren und Vorgänger zum Argument für eine legitime traditionale Herrschaft im Sinne Webers werden kann. Eine abgesicherte Genealogie dient damit als Legitimationsressource von Herrschaftsansprüchen.74 Dagegen kann nicht geklärte oder zweifelhafte Abstammung destabilisierend auf Herrschaftsaspirationen wirken, sodass

72 Einschlägig für das Thema ‚Genealogie‘ in der germanistischen Mediävistik ist Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004. Aufschlussreich sind die „Situierung des Themas und Forschungsstand: Genealogie und Anthropologie“ (S. 68–92; zur Germanistik: S. 78–83) sowie die folgende Definition von ‚Genealogien‘: „Ausgehend und in Weiterentwicklung von Bloch lassen sich Genealogien als historisch gebundene kulturelle Konstruktionen verstehen, als Selbstbeschreibungsmodelle, die in den verschiedenen mittelalterlichen epistemischen Ordnungen einer traditional organisierten Gesellschaft verankert sind, in Wissensformen also, in denen ‚Wahrheit‘, ‚Wert‘ und ‚Legitimität‘ durch Kontinuität, lange Dauer, Alter und schließlich die Orientierung auf den Ursprung hin verbürgt werden“ (ebd., S. 92). Grundlegend und perspektivenreich ist in diesem Zusammenhang auch Udo Friedrich, Bruno Quast (Hrsg.): Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2004 (TMP. 2); vgl. auch für einen interdisziplinären Überblick Cristina Andenna, Gert Melville (Hrsg.): Idoneität – Genealogie – Legitimation. Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter. Köln u. a. 2015 (Norm und Struktur. 43). Vgl. zu Karls Herrscherkörper und genealogischen Aspekten auch Bea Lundt: Kaiser Karls dritter Körper. Präsenz und Dominanz des Herrschers im Spiegel der Vita Einhards und im sogenannten Volksbuch. In: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages. Hrsg. von Bea Lundt, Helma Reimöller. Köln u. a. 1992, S. 131–154. 73 Kellner weist auf den Status literarischer Texte als „von einer unmittelbaren Wirklichkeitsreferenz entlastet“ (dies., Ursprung und Kontinuität, S. 480) hin und versammelt Spezifika literarischer „Figurationen von Familie und Verwandtschaft“ (ebd., S. 481 f.). 74 Dieser Aspekt ist verdichtet im Diktum „Herrschaft braucht Herkunft“ (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitäten in frühen Hochkulturen. 6. Aufl. München 2007 [zuerst 1992], S. 71).

2 Genealogische Prädestination und gottgewollte Herrschaft

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dunkle Herkunft ein sandiges Herrschaftsfundament bedeutet.75 Wird weniger auf eine genealogisch fundierte Herrschaftslegitimation gesetzt – und damit der Typus der traditionalen Herrschaft zurückgestellt –, kann jener von Weber als charismatisch bezeichnete Herrschaftstypus vorliegen:76 Auf Grundlage persönlicher Bewährung und Eignung oder göttlicher Erwählung kann eine Figur zur Herrschaft prädestiniert und als Herrscher legitimiert werden. Welche Strategien im Umgang mit genealogischen Informationen, persönlicher Auszeichnung und göttlicher Prädestination entwickeln nun die Texte des vorliegenden Corpus bezüglich der Karlsfigur? 2.1.1 Kollektives Gedächtnis statt karolingischer Genealogie (Chanson de Roland) Die Chanson de Roland bietet zur Abstammung Karls des Großen keine Information, ebenso wenig zu Kindheit, Jugend und Herrschaftsantritt. Karl tritt, wie bereits erwähnt, in medias res als König und Kaiser im Spanienfeldzug auf.77 Das Erzählen von Karl konzentriert sich hier somit auf eine Episode, biographische Vor- oder Rückgriffe und genealogische Argumentationslinien fehlen. Es ist wahrscheinlich,

75 Vgl. dafür stellvertretend den Alexanderroman: Hier wird die Problematisierung der Genealogie Alexanders in den Prolog inseriert und erscheint als eine causa scribendi, aus der sich die anschließende Erzählung von Alexanders Herkunft und Biographie ergibt. So behaupten ‚Lügner‘, Alexander sei Sohn eines Zauberers (vgl. Vorauer Alexander, V. 71 f.); dagegen setzt der Sprecher sein genealogisches Wissen über die glänzende Herkunft des Protagonisten: Er was rehter cheiser slahte. / Nimer geloube ez nehein frum man. / Sînen vater ich wol genennen kan: / Sîn geslahte, daz was hêrlîch [...] (Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. u. komm. von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007 [RUB. 18508], hier Vorauer Alexander V. 76–79). 76 Kellner erkennt dagegen in Auseinandersetzung mit Weber eine Verbindung von traditionaler und charismatischer Herrschaft über Genealogie: Es „zeigt sich, daß Genealogien Züge der traditionalen und charismatischen Legitimierung von Herrschaft eignen, denn: Einerseits handelt es sich um Ordnungen, welche ihren Inszenierungen nach auf die Legitimierung von Dauer und Stabilität, auf ihre Geltung seit jeher, setzen und andererseits kommt über die außerordentlichen Gründerfiguren ein Moment des Charismatischen ins Spiel. Gerade indem die Nachfahren über die Vorstellung und das Konstrukt einer Blutslinie auf das Charisma der Gründergestalten bezogen bleiben, ja im somatischen Sinne davon zehren, läßt sich die charismatische Herrschaftslegitimierung, der im Sinne Max Webers eine Tendenz zur Flüchtigkeit innewohnt, auf Dauer stellen, läßt sich sozusagen mit der traditionalen Legitimierung verknüpfen. Eben darin, so könnte man folgern, liegt ein besonderes Potential des Genealogischen im Hinblick auf die Begründungen von Macht und Herrschaft“ (dies., Ursprung und Kontinuität, S. 113). Kellners Überlegungen sind grundsätzlich überzeugend, im vorliegenden Fall von Karl dem Großen hat die Genealogie jedoch vornehmlich traditionale Prägung, denn erst er selbst wird zum charismatischen Begründer einer genealogischen Reihe bzw. zum Spitzenahn, auf den es sich zu berufen gilt, sodass fast ein jedes Geschlecht im Spätmittelalter sich „der Verwandtschaft mit Karl dem Großen rühmte“ (ebd., S. 109). 77 Vgl. ChdR 1–3. Die Erzählung „beginnt voraussetzungslos an irgendeinem Punkt der Geschichte. [...] Zwischen dem, was vergangen ist, und dem, was jetzt gilt, wird nicht unterschieden: Charles war und ist ‚unser Kaiser‘“ (Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 323). „Es wird von keiner Zeit ‚vorher‘ erzählt, von der die Epenhandlung ihren Ausgang nimmt. Der Krieg spielt in einem unvordenklichem ‚Damals‘“ (ebd.).

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dass der Verzicht auf eine förmliche Vorstellung der Figur mit den kulturellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, dem soziokulturellen Ort der Chanson de Roland zusammenhängt. So mag es genügen, auf ‚Karl, unseren großen Kaiser‘ (Charles li reis, nostre emper[er]e magnes; ChdR 1) hinzuweisen, um das Verständnis der folgenden Erzählung zu sichern.78 Indem kollektiv geteiltes Welt- und ‚Karlswissen‘ vom Text vorausgesetzt und vom Rezipienten inferiert wird, können genealogische und kontextuelle Informationen geschnitten werden. Das ‚uns‘ (nostre) fasst ein Kollektiv zusammen und aktualisiert – was selbstredend auch Produkt literarischer Fiktion der Gattung ‚(semi-)oralen heldenepischen Erzählens‘ sein kann – einen geteilten Erfahrungsraum, eine Geschichte, in der ‚unser Kaiser Karl‘ seinen festen Platz hat.79 An diese bedeutende Herrschergestalt lagern sich Bündel von Erzählungen an, die episodisch funktionieren und durch die soziokulturelle Funktion Karls und seine Position im ‚kollektiven Gedächtnis‘ ihren Bezugspunkt und somit Sinn finden.80 Durch das Fehlen einer genealogischen Tradition, seine weißhaarige und -bärtige Erscheinung und sein hohes, geradezu biblisches Alter von zweihundert Jahren wird der Kaiser als exzeptionelle Figur ausgezeichnet. Zudem wird sein herrscherliches Handeln in seinen Grundstrukturen – hier jenseits immanenter Beratungen mit den Baronen oder diplomatischen Verhandlungen mit den Heiden – durch göttlichen Eingriff gesteuert und autorisiert. Diese göttliche Lenkung offenbaren die abschließenden Verse der Chanson,81 in denen Karl von Gott mit einer Engelsbotschaft bedacht wird, die ihn als instrumentum Dei nach dem durchstandenen Spanienfeldzug erneut charismatisiert, aber gegen seinen Willen zur Heidenmission aufbrechen lässt.82

78 „Es spricht die anonyme Stimme der Tradition, die weiß, was ‚uns‘ angeht und die mit dem anhebt, was ‚wir‘ immer schon wissen, mit Feldzügen ‚unseres‘ Kaisers, der Eroberung Spaniens und dem Unglück, das ihn ereilt [...]. Erzählinstanz ist eine Tradition, die einfach ‚da‘ ist“ (ebd., S. 114). 79 Dafür kann auch der französische Karlskult ein Milieu bieten (vgl. dazu mit weiterer Literatur Wolf Steinsieck: Anmerkungen. In: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übers. u. komm. von dems. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 2015 [RUB. 2746], S. 317 f.). 80 Vgl. zum Konzept des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 34–48. Die Chanson de Roland und ihr Erzählgestus können dem ‚kulturellen Gedächtnis‘ zugeordnet werden (vgl. zu den Begrifflichkeiten ebd., S. 48–66; vgl. auch Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 114). Karl der Große bedarf keiner förmlichen Vorstellung, es wird keine umfängliche Kontextualisierung der in medias res einsetzenden Handlung vorgenommen und über das ‚wir‘ bzw. ‚unser‘ (nostre) auf eine kollektive Dimension verwiesen, die den Rahmen für die Erzählung bilden soll. Vgl. zur Einbindung der Chanson de Roland in den französischen Karlszyklus Bastert, Helden als Heilige, S. 175–177. 81 Vgl. ChdR 3991–4002. Eine solche Engelsbotschaft, die einen göttlichen Auftrag an Karl übermittelt, findet sich im Rolandslied und in den ihm folgenden oberdeutschen Bearbeitungen stets am Anfang bzw. vor der Heidenmission in Spanien, nie jedoch am Schluss der Erzählungen. 82 Vgl. hierzu und zur paradigmatischen Anlage der Chanson de Roland auch Kapitel III.7.

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2.1.2 Pippins Sohn und seine göttliche Prädestination im Mutterleib (Rolandslied) Der Pfaffe Konrad flicht gegenüber seiner ‚Vorlage‘, der Chanson de Roland, eine biographische Information ein, indem er Karls Vater erwähnt: Karl der was Pipines sun (RL 17). Bezüglich der Abstammungsverhältnisse ist dies jedoch die einzige Information, sodass diese traditionale ‚genealogische Abbreviatur‘ im Vergleich zur Herrschaftsautorisierung und -legitimierung durch göttliche Erwählung und Einflussnahme marginal erscheint. Zudem setzt das Rolandslied gegenüber der Chanson eine biographische Skizze an, die Karls Lebensweg zu einem ‚Tugendweg‘ (vita perfecta) verdichtet.83 Das Leben der Herrscherfigur wird grob in Abschnitte gegliedert (kintheit, jugent, alter), wobei dieses Grundgerüst auf füllende Details verzichtet – der Stricker wird aus diesem Kern (Pippins Vaterschaft und biographische Skizze) eine Erzählung formen. Göttliche Einflussnahme auf das Schicksal des Herrschers demonstriert die folgende Passage. Als Karl Gott um die Verlängerung des Tageslichts bittet, um die fliehenden Heiden töten und so Rolands Tod rächen zu können, antwortet ein Engel auf seine Bitte. Der himmlische Bote spendet Trost, mahnt zu tapferem Gottesdienst und enthüllt Karls göttliche Prädestination:84 Der engel von himele gestarkt in dô. er sprach: ‚niene clage du sô, ez ist wider dînem schephære. dô du in dîner muoter beslozzen wære, dô erwelt er dich im ze ainem cnechte. dîn baitent alle rechte dâ ze dem oberesten trône. diene dû nach dînem lône. [...] dir nemac nicht gewerren. volrîte dîne raise, nefürchte nechaine fraise. nim du volleclîchen gerich. dîne vîente wirf ich unter dich dir ze ainem fuozscâmel.‘ (RL 7000–7016)

Der einleitende Satz zur Engelsrede ruft die Szene des im Garten Gethsemane betenden Jesus auf, dem zum Trost ein Engel erscheint: apparuit autem illi angelus de caelo confortans eum (Lc 22,43).85 Konrad überträgt den Satz und damit die im biblischen Prätext verbürgte Handlung wortgetreu ins Mittelhochdeutsche und von

83 Vgl. RL 24–27. 84 Diese Engelsrede und den Gedanken der pränatalen Prädestination Karls bietet die Chanson de Roland nicht (vgl. ChdR 2447–2459). 85 Die Vulgata wird hier und im Folgenden zitiert nach: Biblia sacra. Iuxta Vulgatam versionem. Hrsg. von Robert Weber, Roger Gryson. 5., verb. Aufl. Stuttgart 2007. Vgl. Kartschoke, Kommentar,

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Christus auf Karl: Der engel von himele gestarkt in dô.86 So ist es nicht Erzählerrede, die der pränatalen Erwählung Karls Ausdruck verleiht, sondern Engelsrede. Die Delegierung an eine überzeitliche transzendente Instanz, die in Gottesnähe, in der Sphäre des Heiligen, angesiedelt ist, sichert die folgenden Informationen autorisierend ab. Noch bevor Karl das Licht der Welt erblickt, ‚erwählt‘ ihn Gott im Mutterleib zu seinem ‚Knecht‘, zum Diener und Kämpfer. Wie der einleitende Satz (RL 7000) verweist auch die Erwählung im Mutterleib (RL 7003 f.) auf den biblischen Text, nämlich auf die alttestamentliche Prophetenberufung nach Jesaja: dominus ab utero vocavit me, de ventre matris meae recordatus est nominis meis (Is 49,1) und formans me ex utero servum sibi (Is 49,5).87 Die Analogisierung der Erwählung Karls zum Gottesdiener mit derjenigen Jesajas zum Propheten greift auf das Autorisierungspotential des biblischen Prätextes zurück und wird von Konrad als Strategie zur Sakralisierung der Karlsfigur eingesetzt. Diese Vorbestimmung und Erwählung zum frühestmöglichen Zeitpunkt entspricht strukturell der Anlage eines Heiligenlebens88 und leistet ein Doppeltes: Zum einen wird Karls Nahverhältnis zu Gott, zur Transzendenz, an den Anfang seines Lebens gesetzt. Damit ist ein Grundstein für Karls persönliche Heiligkeit gelegt, der irdischem Handeln und irdischer Herrschaft vorausgeht und sich einer immanenten diskursiven Zergliederung entzieht. Zum anderen wird durch diese pränatale Prädestination das genealogische Prinzip traditionaler Prägung, das über die Vaterschaft Pippins verlaufen könnte, ausgehebelt oder zumindest transzendiert: Der Engel erinnert Karl schließlich daran, dass Gott sein ‚wahrer‘ Schöpfer sei.89 Vor dem Hintergrund fehlender weiterführender genealogischer Informationen erhält Karls Prädestination ihre besondere Bedeutung: Nicht irdische Familie, nicht traditional begründete Herrschaft und Lebenspraxis, sondern Gottesnähe und himmlische Dienerschaft werden Karl zuteil. Bewährung und persönliche Auszeichnung Karls zu Lebzeiten werden im Lichte der gnadenhaften Erwählung zur Artikulation göttlicher Erwählung und sind nicht etwa ihre Ursache. Gottes Begnadung und die Begründung von Karls Charisma als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz sind damit

S. 728 f. Auch Karl betet, bevor der Engel erscheint, wodurch die vorliegende Figuration der neutestamentlichen noch ähnlicher wird. 86 Diese biblisch autorisierte Einleitung eines Engelsbesuchs, von denen es mehrere gibt, übernimmt der Pfaffe Konrad im Übrigen einzig an dieser Stelle, sie ist insofern nicht als Formel oder Floskel zu verstehen, sondern sinntragend. 87 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: tu autem propugnator meus ex utero (Ps 21,10); priusquam te formarem in utero novi te et antequam exires de vulva sanctificavi te prophetam gentibus dedi te (Ier 1,5); cum autem placuit ei qui me segregavit de utero matris meae et vocavit per gratiam suam ut revelaret Filium suum in me ut evangelizarem illum in gentibus (Gal 1,15 f.). 88 „Der Heilige ist immer schon, was er erst sein wird“ (Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 5), denn „Heiligkeit resultiert – und daran müssen sich Legendentexte immer wieder abarbeiten – dennoch gerade nicht aus der Summe von Wundern und Tugenden, sondern ist von Anfang an begründet“ (ebd.). 89 Vgl. RL 7002.

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vor jeder irdisch-genealogischen Bindung inauguriert. Durch diesen Gottesbezug sind Karls Herrschaft und sein Handeln als gelingend determiniert, im Himmel sei alles für ihn vorbereitet, Privilegien warteten auf ihn,90 sodass sein Leben mit (heilsgeschichtlicher) Notwendigkeit in Gottes Reich mündet – narratologisch bedeutet das eine finale Motivation des Erzählens. Indem der Engel Karl die Erfüllung seines Lebens vor Augen stellt, spornt er ihn an, sich diesen Lohn dienend zu sichern.91 Niemand könne sich Karl entgegenstellen, ihm schaden oder ihn aufhalten, Gott werde ihm seine Feinde zu Füßen werfen.92 Auch dieses Bild ist biblisch verbürgt: sede a dextris meis, donec ponam inimicos tuos scabillum pedum tuorum (Ps 109,1).93 Sowohl das Aufrufen biblischer Muster der Berufung bzw. Erwählung von Propheten (u. a. Jesaja) und Aposteln (Paulus) als auch Bezüge zur Engelserscheinung Jesu im Garten Gethsemane nach Lc 22,43 tragen zur „formalen“ Heiligung Karls bei, der in Analogie – bisweilen auch in ein typologisches Verhältnis – zu biblischem Personal gesetzt wird. Konrad arbeitet mit dem Anschluss an den biblischen Prätext auch an der Autorisierung seines Erzählens und des Erzählten. Mit rhetorischem Ornat ist die gesamte Ansprache des Engels (RL 7000–7016) durchformt, denn über die anaphorische Stellung der mit d anlautenden Wörter, die auch im Versinneren aufgenommen werden, entsteht ein stabendes Klangbild. Im Besonderen werden Formen des Personalpronomens der zweiten Person Singular (du) verwendet und über diese Deiktika wird Karl explizit angesprochen und seine Sendung nachdrücklich und unmissverständlich formuliert. Unmittelbar auf die Engelsrede folgt ihre performative Bestätigung, denn Gott gewährt Karl das erbetene Sonnenlicht. Dieser Akt ist als michele gnâde (RL 7017) Ausdruck der göttlichen Gnade, die den Herrscher in Roncesvalles nicht verlässt und – wie die Rezipienten soeben erfahren haben – ihm bereits im Mutterleib zukam. 2.1.3 Genealogie, ‚göttliche Adoption‘ und ritterliche Bewährung (Strickers Karl) Der Stricker adressiert Karl im Prolog als Pippines chint (K 75). Damit ist die genealogische Information des Rolandslieds abgebildet. Doch geht der Text deutlich darüber hinaus und produziert einen Überschuss an genealogisch-biographischer Information mittels einer Familiengeschichte, die Eltern und Geschwister vorstellt und in eine Kindheits- und Jugendgeschichte Karls übergeht.94 Die Karlsfigur rückt über

90 Vgl. RL 7005 f. 91 Vgl. diene dû nach dînem lône (RL 7007). 92 Vgl. diesen Gedanken bereits in RL 5813. 93 Die Hinweise auf diese und weitere Belegstellen im Alten und Neuen Testament finden sich bei Backes, Bibel und Ars praedicandi, S. 181; der Psalm wird im Neuen Testament zitiert in Mt 22,44; Act 2,34 f.; Hbr 1,13. 94 Vgl. zur Jugendgeschichte und ihren Quellen bzw. Parallelen in der Überlieferung u. a. von der Burg, Strickers Karl der Große, S. 162–170; Geith, Carolus Magnus, S. 171–176; Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 325–328; Brandt, erniuwet, S. 58–64.

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diese ausführliche genealogisch-biographische Rahmung in den Fokus und gewinnt gegenüber dem zentralen (historischen) Ereignis, dem Spanienfeldzug, und seiner Darstellung an Bedeutung und Profil. Zu fragen ist, welchen Einfluss diese kontextualisierende Einbettung auf die narrative Konstruktion einer göttlichen Prädestination und Erwählung Karls hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Herrschaft(slegitimation) ergeben. Was bedeutet die biographische Vorgeschichte also für Karls Herrschersakralität? Der Stricker setzt bei Karls Eltern an, nämlich beim kunege Pipine (K 124), dem eine Frau versprochen war.95 So fügt es sich nach einer Verwechslung schließlich, daz er sin elich wip vant; / diu was frou Berhte genant (K 129 f.).96 Der Erzähler kürzt sein Material auf das für die auf Karl zulaufende Vorgeschichte Wesentliche: des wære ze sagene ze lanch, / wie daz dinch allez ergie (K 132 f.).97 Pippin gibt die ‚falsche‘ erste Frau auf und ehelicht Berhte, wobei der Erzähler die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens betont: daz was reht (K 135). Nach Zeugung zweier Kinder – kneht und diern (K 136 f.) – stirbt Pippin und lässt Berhte zurück: Neben der Tochter Gerdrůt (K 140) tritt Sohn Karl in die Erzählwelt ein. Sein künftiger Ruhm wird bereits vorweggenommen: der wart sît witen erchant (K 142). Die Zeugung der Kinder erfolgt ‚für Gott‘ ([Dativ] gote; K 136), sodass sich Pippins Leben in der Hervorbringung zweier ‚Gotteskinder‘ erschöpft. Form und Regeln der Weitergabe von traditionaler Herrschaft nach Pippins Tod werden nicht explizit angesprochen, doch der Konflikt um die Nachfolge wird im Folgenden thematisch. Dass der vaterlose Karl dabei sein Leben nicht verliert, daz quam von gotes rate (K 145), denn Karl steht als Kind unter Gottes Schutz und wird den Mordversuch seiner beiden Halbbrüder überleben.98 Die ritter (K 148) Wineman und Rapot, Söhne Pippins aus einer früheren Verbindung (vaterhalbe; K 46), trachten Karl nämlich nach dem Leben, da er mit ihnen um die Herrschaftsnachfolge konkurriert. Die beiden ‚Toren‘, sie waren tump (K 160), verbinden sich mit zwölf Fürsten und schwören, Karl zu töten.99 Ihnen gegenüber steht Karls dritter älterer Halbbruder Leo, der – wie Karl und Gertrud – ein gotes chint (K 149) ist:100 Er handelt weise, richtet sein Leben auf himelisschen gewin (K 152) aus, ist

95 Vgl. K 125. 96 Pippins rechtmäßige Frau, die Mutter Karls, heißt Berhte, sie findet in der Chanson de Roland und im Rolandslied keine Erwähnung, im Buch vom heiligen Karl schenkt ihr der Erzähler größere Aufmerksamkeit. 97 Materialauswahl und Kürze der Darstellung verspricht bereits der Prolog (vgl. K 52–62), der Erzähler hält also Wort. 98 „Der literarische Topos wird auf die alttestamentliche Adoption Salomos durch Gott (gem. II Reg 7,14 f.) zurückgeführt“ und damit wird ein typologisches Verhältnis angelegt (Ukena-Best, Providentia Dei, S. 333, Anm. 24). 99 Vgl. K 166 f. 100 Wineman und Rapot sind aus dem Rolandslied als Träger von Durndart und Olifant nach Rolands Tod bekannt (vgl. RL 7765–7778) und aus dieser ehrenvollen Aufgabe schließt Schnell (Strickers ‚Karl der Große‘, S. 325, Anm. 46): „Folglich müssen diese beiden Helden Karl besonders

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schriftgelehrt und von seiner sælde profitieren viele Menschen.101 Der Text unterscheidet auf diese Weise ‚Gotteskinder‘ (Karl, Gertrud und Leo) und ‚Ritter‘ (Wineman und Rapot), die sich als Toren am Gotteskind Karl vergehen. Dieser steht vermittelnd zwischen den Lebensmodellen, zwischen vita activa (Ritter) und vita contemplativa (Leo als Geistlicher und späterer Papst), und integriert, das wird die Erzählung noch vorführen, beide als sakraler Herrscher und miles Christianus. Als ein Getreuer Karls, Graf Diepolt von Troys,102 von den Plänen zur Ermordung seines Herrn erfährt, bringt er das Kind außer Landes – Karl muss sich dann in der Fremde bewähren. Obgleich die Bindung Diepolts an Karl zwar genealogisch-traditional begründet zu sein scheint, wird sie auf Freiwilligkeit basierend in einer affektiven Qualität gezeigt: der was im [Karl; F. B.] willech unde holt (K 178), dem [Karl; F. B.] tet er gůten willen schin (K 176). Diese Form der Bindung wird sich als charakteristisch für Karls Nahbeziehungen, die er mit seiner Gefolgschaft, insbesondere mit den Zwölf Paladinen, unterhält, und damit als konstitutiv für seine Herrschaft erweisen.103 In Spanien, beim heidnischen König Marsilie, kommen Karl und Diepolt unter falschem Namen unter, was einen Apostasie-Verdacht erregen könnte, weshalb der Erzähler betont: si geloubten christenliche (K 205). Der Aufenthalt in der Fremde nimmt sich als Zeit religiöser Versuchung und Bewährung aus, die Karl und sein Vertrauter bewältigen. So ist der erste Abschnitt des Exils Reflex der frühen Befähigung Karls zur Etablierung von Bindungen (Diepolt) und damit seiner Eignung zur Herrschaft sowie seiner Standhaftigkeit im christlichen Glauben. Der mittlerweile achtzehnjährige Karl wird dann adressiert als der sælden riche (K 206) und als der sælige man (K 208). Damit wird die für Karl charakteristische sælde in seine Kindheits- und Jugendgeschichte aufgenommen, wodurch Prolog und Erzählung in Einklang gebracht werden. Der sælden-Träger ist in kriegerischen Auseinandersetzungen stets ausgezeichnet, so daz er Fber al daz lant / zem besten ritter wart bechant (K 211 f.). Schließlich ist Karl im Dienst des Heidenkönigs Marsilie zum vollständig ausgebildeten Ritter herangewachsen und nun den zwene ritter[n] (K 148), seinen Halbbrüdern Wineman und Rapot, äquivalent.

nahestehen. Stricker knüpft daraus verwandtschaftliche Bande.“ Die genauen Verwandtschaftsverhältnisse Karls und seiner (Halb-)Brüder legt der Stricker nicht dar, doch das Buch vom heiligen Karl klärt auf: Wineman und Rapot sind Söhne aus der Ehe mit Pippins erster Frau, Leo geht aus der Ehe mit einer Jungfrau aus dem Gefolge Berhtes hervor, Karl und Gertrud sind schließlich Kinder Pippins und Berhtes (vgl. hierzu BhK 15–18). Gertrud ist als Karls Schwester im König Rother überliefert (vgl. V. 3478) und könnte als berühmte Heilige – mag sie auch nicht explizit als sancta bezeichnet werden – „ein noch helleres Licht auf die Karlsgestalt werfen“ (Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 326); ‚helleres Licht‘ bedeutet hier freilich ‚heiligeres‘ Licht und verweist damit auf eine Sakralisierungsstrategie des Strickers. 101 Vgl. K 156. 102 Vgl. K 177. Die Figur wird im Rolandslied an zwei Stellen erwähnt als Diepolt der marcgrâve (RL 846; vgl. auch RL 7616). 103 Vgl. hierzu Kapitel III.3.1.

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Der Stricker leitet mit dem Temporaladverb Nů (K 213) einen neuen Handlungsabschnitt ein: Nů was Marssilies swester da (K 213). Diese stellt für Karl eine sexuelle und zugleich religiöse Versuchung dar, denn sie bittet ihn um Konversion: unde bat in daz er gehorsam / ir goten wFrde unde ir ê. / done wolde er da niht wesen me (K 220–222). Das Schema des ritterlichen Aufstiegs zu Ehe und Herrschaft wird an dieser Stelle gebrochen, denn der ‚beste Ritter‘ wird sich nicht in Minne mit der ‚schönsten Frau‘ verbinden:104 „Karls Verhalten entspricht hier dem aus Beschreibungen der Jugend eines Heiligen bekannten Muster eines puer senex, der allen erotischen Versuchungen widersteht.“105 Die Glaubensversuchung motiviert auf syntagmatischer Ebene Karls Aufbruch aus dem Exil (‚exile‘) und seine Rückkehr (‚return‘) in die Herrschaftsschicht des Frankenreiches.106 Er teilt Diepolt seine Sorgen mit, der ihn ze Kærlingen (K 229) schickt, denn er wolde in Kareln bringen, / der ir erbe herre solde sin, / daz si dem ir triwe tæten schin (K 230–232). Damit wird ein traditionales Herrschaftsmodell aufgerufen, nämlich das einer Grundherrschaft (erbe herre), dessen (legitimer) Herrscher auf die Treuebindung (triwe) seiner Beherrschten, hier der Kærlinger, angewiesen ist. Diepolt stellt ihnen Karl vor, der als Wunder vollbringender Ritter den Christen vom Hörensagen bekannt ist:

104 Vgl. K 212 u. 214–216. Der Stricker arbeitet die Jugendgeschichte also um, indem er Karl fliehen lässt; sonst kennt die Erzähltradition nämlich immer „eine Liebesaffäre mit der Tochter des Sarazenenkönigs“ (Bastert, Helden als Heilige, S. 291) – hier ist es dessen Schwester und Karl widersteht der Versuchung. Das ist für ein mittelalterliches Karlsbild, das diesen auch als sexuell übergriffigen Herrscher zeichnet, eine bemerkenswerte Variation (vgl. auch Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 326– 328). Klein erklärt, dass der Stricker nicht nur im Prolog, sondern auch über den gesamten Text verteilt Referenzen auf Wolframs Willehalm einfügt, um darüber „seine Abweichung und Abgrenzung von dem von Wolfram vorgegebenen Verständnishorizont zu formulieren“ (dies., Strickers ‚Karl der Große‘, S. 311). So grenze sich der Stricker von Wolframs Liebeskonzeption ab, indem die Liebe zu einer Frau (Willehalm und Gîburc) nicht in das Konzept eines Glaubenskämpfers integriert wird: „So ist es gewiß kein Zufall, daß Strickers Karl das erotische Angebot der Heidenprinzessin Galie mit Entschiedenheit ablehnt. Es handelt sich hier um eines der zentralen Motive der Jugendgeschichte, die der Stricker der Schilderung des Spanienzuges voranstellt“ (ebd.). Damit bricht der Stricker mit Wolfram und hebt Analogien zwischen Karl und Willehalm auf: „Für die Kämpfer Karl und Roland zählt allein der amor spiritualis. Sie befolgen das Gebot Christi, alle irdischen Bindungen preiszugeben, die Liebe zur Frau eingeschlossen“ (ebd., S. 312). Es finden sich auch Analogien zum Parzival, die wie jene zum Willehalm mit der gleichen Pointe aufgehoben werden: Auch Gahmuret reift im Dienste eines heidnischen Herrschers (Baruch von Bagdad) zur ritterlichen Vortrefflichkeit heran. Der Ritter geht schließlich ein Minneverhältnis mit der heidnischen Königin Belakane ein; der Stricker sieht für Karl dagegen – wie gezeigt – einen anderen Weg vor. 105 Bastert, Helden als Heilige, S. 291. 106 Vgl. zum Exile and Return-Schema mit Bezug auf die Karlsepik Hartmut Beckers: Der Aachener ‚Karl und Galie‘-Roman. Ein Beispiel für die Sonderstellung der rheinischen Karlepik des 13. und 14. Jahrhunderts. In: Chansons de geste in Deutschland. Schweinfurter Kolloquium 1988. Hrsg. von Joachim Heinzle. Berlin 1989 (Wolfram-Studien. XI), S. 128–146, hier S. 131–133.

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und enbot in ouch daz mære, daz Karl der ritter wære, der in Marssilies gewalt diu wunder hete gestalt. in was von siner manheit so vil wunders ê geseit, daz den ungenanten alle christen bechanten unde entsazzen sines libes chraft noch mer danne alle heidenschaft. (K 235–244)

Es greift hier ein Herrschaftsmodell, das auf Ritterlichkeit, auf Männlichkeit und Tapferkeit (manheit; K 239) sowie körperliche Kraft abstellt. Karl eilt die Fama des Wunder vollbringenden Ritters voraus und affiziert die Christen affektiv-emotional, denn sie fürchten seine ‚Leibeskraft‘ (libes chraft; K 243). Für die ‚Kærlinger‘ ist es schließlich eine Wohltat, den totgeglaubten Karl wiederzusehen, und man bereitet dem Rückkehrer einen würdigen Empfang, der ihn als König und Nachfolger Pippins bestätigt: di herren gegen im riten und enpfiengen in also wol, so man vil werden kFnech sol, dem man grozzer eren gan. (K 250–253)

Als erste Amtshandlung begnadigt Karl Wineman und Rapot, die Vergebung bei ihm suchten: daz dienten si willechliche (K 258). Die Reintegration der Verräter in den Herrschaftsverband gelingt, denn die Halbbrüder bereuen ihre Taten und dienen fortan Karl und Gott.107 Karls Herrschaft ist neben einer traditional begründeten Legitimitätsgeltung,108 die auf einen Legitimitätsglauben bei den Beherrschten trifft, wodurch ein Legitimitätseinverständnis hergestellt wird, auch durch seine persönliche Eignung (Ritterlichkeit, Standhaftigkeit, Festigkeit im Glauben) und seine ‚Führungskompetenzen‘ in ihrem Bestand gesichert. Damit erreicht der Erzäh-

107 Vgl. K 260–264. Schnell sieht in Karls Versöhnung mit den Halbbrüdern, die ihm nach dem Leben trachteten, einen Zug, der zur Heiligkeit der Karlsfigur beitragen soll: „Durch diese Darstellung wird Karl einem Legendentypus angenähert, der im 10. und 11. Jahrhundert im Zuge der cluniazensischen Reform wirksam wurde und dessen sanctitas darin bestand, für Recht und Ordnung zu kämpfen, auf Rache und Strafe zu verzichten und Witwen und Waisen zu schützen“ (ders., Strickers ‚Karl der Große‘, S. 328, Anm. 64). Zudem kann ein handlungslogischer Grund in der Aussöhnung mit Wineman und Rapot gesehen werden, denn diese treten – wie bereits gesagt – später als Träger von Rolands Schwert und Horn auf; damit stellt der Stricker eine Kohärenz in der Figurenkonzeption her: Die beiden Halbbrüder werden so von Sündern, die Karl töten wollten, zu ehrenvollen Reliquienträgern, die Rolands Ausrüstung transzendenten Ursprungs tragen. 108 Vgl. erbe herre (K 231).

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ler die letzte Etappe der Geschichte von Karls Geburt bis zur Herrschaftsübernahme in Kærlingen und fasst die Idealherrschaft wie folgt zusammen: Nů er Kærlingen gewan, do tet er als ein wise man: er begunde rihten unde gebn und also herlichen leben, daz diu werlt begonde jehen, ein bezzer kFnech wart ni gesehen danne der von Kærlingen; er tůt an allen dingen daz beste zallen ziten. sus lobte man in witen. (K 265–274)

Karl handelt gemäß der herrscherlichen Zentraltugend der Weisheit, spricht Recht und verteilt freigebig Lehen.109 Er gewinnt auf diese Weise den Ruf, der beste König zu sein und stets richtig zu handeln. Und da sein Lob weite Verbreitung findet, ist von einer sicheren Geltung seiner idealen Herrschaft auszugehen. Die konfliktschürende Nachfolgefrage, die sich mit Pippins Tod gestellt hat, ist geklärt und die Handlung kommt mit Karls Herrschaftsübernahme in Kærlingen zur Ruhe. Doch wird er durch unablässiges Bitten und Beten versuchen, Gott für die Bekehrung der spanischen Heiden zu gewinnen, wodurch ein neuer Erzählstrang eröffnet wird, der den Anfang der Erzählung im Rolandslied bildet. Bevor dieser Missionswunsch und seine Folgen in Teilkapitel III.2.2 untersucht werden, gilt die Aufmerksamkeit nun Karls Vorgeschichte als Erzählung von genealogischer Prädestination im Buch vom heiligen Karl. 2.1.4 Chronikalische Vita und genealogische Prädestination (Buch vom heiligen Karl) Das Buch vom heiligen Karl setzt chronikalisch mit einer historischen Verortung Karls ein und erzählt von der Großelterngeneration – sogar die Urgroßeltern werden kurz erwähnt – auf den Protagonisten zu: In dem zit bi seben hundert jaren nach der geburt unsers herren, do ist gesin in der grossen Hispania land ein heidescher küng, der was geheisen Fenix und was der cristenheit so gehas [...] (BhK 3,1–4). Heilsgeschichtlicher Orientierungspunkt ist Christi Geburt, wodurch im Unterschied zu Chanson, Rolandslied und Strickers Karl eine absolute Chronologie der Vita Karls angelegt wird, die fest in der Geschichte verankert ist. Der Erzähler ruft mit diesem Einstieg, der Nennung Spaniens und des Heidenkönigs Fenix, die Geschichte von Flore und Blanscheflur auf, die um 1220 in der Bearbeitung Konrad Flecks im

109 Vgl. für eine Skizze mittelalterlicher Herrscherpflichten Kapitel II.2.1.3.

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deutschsprachigen Raum Verbreitung findet.110 Der Bearbeiter des Buchs vom heiligen Karl fügt Zusätze gegenüber dem hier als Vorlage dienenden Fleckschen Text ein, die dazu führen, dass alle Geschehnisse und genealogischen Prozesse einer Kontingenz entbunden werden und unter göttlicher Vorsehung auf Karl zulaufen, dessen Geburt so zu einer heilsgeschichtlichen Notwendigkeit wird: Der Zufall wird ex post suspendiert und in göttlich determiniertes Schicksal transformiert, das auch das Schicksal aller mit Karl in Verbindung stehenden Figuren sowie ihr Handeln betrifft. Diese Inszenierung soll im Folgenden vorgestellt werden. Als Blanscheflur sich den Zorn des Königs Fenix zuzieht, der annimmt, dass sie seinen Sohn Flore verczuoberet (BhK 6,15) und so aller Freuden beraubt hat, interveniert seine Gattin und setzt sich für die Christin Blanscheflur ein: Do daz aber die küngin vernam, do gieng sy aber für den küng und batt für sy; wan es was nit der will gocz, daz sy getöt wurd. Wan er hat in siner ewikeit fürsechen, daz noch von ir sölt komen, daz der helgen cristenheit nücz und guot sölt sin, als ir hienach werdent hörent. (BhK 6,17–21)

Der Erzähler erklärt die Handlung der heidnischen Königin aus der Annahme des Wirkens eines christlichen Gottes, dem das Treiben auf Erden unterstellt ist, sodass jedes Handeln im abgesteckten Rahmen göttlichen Willens erfolgt. Der Grund für die Verschonung Blanscheflurs liegt darin, dass sie dazu bestimmt ist, eine heilsgeschichtlich wirksame ‚Reproduktionsfunktion‘ zu übernehmen: Gemäß Gottes Vorsehung (er hat [...] fürsechen; BhK 6,19f.) wird durch sie etwas hervorgebracht bzw. geboren werden, das der heiligen Christenheit von Nutzen sein wird. Hierbei handelt es sich um Berchta, die jenen gebiert, der im Verlauf der Narration ebenfalls oftmals als der helgen cristenheit nücz oder in ähnlichen Periphrasen beschrieben wird, nämlich Karl den Großen. Der Erzähler greift kommentierend in die Erzählung ein, installiert die genealogische Determination von der Großmutter bis zu Karl unter Einbeziehung der Figurenhandlung auf Ebene der Urgroßeltern (König Fenix und seine [namenlose] Gattin) und verspricht, später von jenem ‚Nutzen für die Christenheit‘ zu erzählen: als ir hienach werdent hörent (BhK 6,21). Die Erzählung modelliert an dieser Stelle eine an der mütterlichen Linie orientierte Herrschergenealogie, denn anders als im Rolandslied und in Strickers Karl wird zunächst nicht Pippin (gemäß einer Patrilinearität), sondern Berchta fokussiert. Gegenüber der Erzählung von Konrad Fleck fügt der Bearbeiter des Buchs vom heiligen Karl zudem eine Passage ein, in der ein nächtliches Gebet Blanscheflurs erhört und von einer Stimme beantwortet wird; diese Stimme vernimmt auch ihre Turmgenossin Clarit: sagent mir den trowm; won ich hort ein stim mit üch reden und sach ein liecht ob üch, ich verstuond aber der worten nit (BhK 10,21–23). Blanscheflur sieht dies als Bestätigung der ‚Wahrheit‘ bzw. ‚Wahrhaftigkeit‘ der Stimme an und

110 Vgl. zu Flore und Blanscheflur grundlegend Putzo, Konrad Fleck.

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referiert daraufhin, dass Gott sie erhört habe:111 Sie werde nicht die Frau des Amirals, sondern bald mit Flore vereint sein, der sich zum Christentum bekehren werde. Zudem garantiert die Stimme Folgendes: Und werdent lang leben mit ein andern in gocz willen und git üch got ze kind ein tochter. Von der tochter wirt ein sun geborn, der wirt der cristenheit als nücz, daz vil landen durch in bekert werdent. Aber ir müessent noch vil liden, e daz geschicht. (BhK 10,29–33)

Gott strukturiert die Beziehung und das Leben Blanscheflurs und Flores, er ist es, der ihnen eine Tochter schenkt, die einen Sohn (Karl) der cristenheit als nücz gebären wird. Der Nutzen für die Christenheit besteht in der Missionierung von Ländern und in der christlichen Mission gehen Herrschaftspraxis und Heilsmethodik zusammen: Rettung heidnischer, verlorener Seelen und ihre Zuwendung zum christlichen Gott sowie die Verbreitung der christlichen Religion bei gleichzeitiger Landnahme. Karls Funktion als nücz der Christenheit ist prädestiniert und mit dieser göttlichen Vorbestimmung werden seine Vorfahren und ihre (literarischen) Leben in den Dienst der Erfüllung von Heilsgeschichte gestellt. Ihnen steht jedoch bis zu Karls Geburt (als freudigem Ereignis) noch viel ‚Leid‘ bevor (ir müessent noch vil liden; BhK 10,32 f.), womit gewissermaßen auch Karls späteres ‚Leid‘ in Roncesvalles, das in allen oberdeutschen Bearbeitungen und der Chanson de Roland erzählt wird, bereits genealogisch fundiert wird.112 Den Abschluss der Flore und Blanscheflur-Vorgeschichte, die sukzessiv die Prädestination der Figuren inszeniert, bildet Karls (heils)notwendige Geburt: Und do sy [Florus und Blanscheflur; F. B.] xxx jar alt wurdent, do gab got inen ein tochter, die wart genant Berchta. Und do sy xv jar altt was, do wartt sy gemechlet eim küng in Franckrich ze Kerlingen, und der was genant Pipinus. Und ward sant küng Karlus von inen geborn, als ir her nach werdent hören. Und wart Pantschiflur und Florus hundert jar alt. Und sturbent in warem cristen glouben uff ein tag, als sy ouch uff ein tag geborn wurdent. (BhK 15,24–30)

Karl wird hier explizit als kanonisierter heiliger Herrscher (sant küng Karlus; BhK 15,27) bezeichnet. Der Erzähler nimmt dann die weit verbreitete Erzählung – als man an etlichen buochen gschriben fint (BhK 15,32f.) –113 von der Geburt Karls in den Blick. Auf diese Geschichte von Pippin, Berchta und der ‚falschen‘ Ehefrau hatte der Stricker kurz verwiesen,114 hier wird sie entfaltet und auserzählt. Im Folgenden werden jene

111 Vgl. BhK 10,23 f. Vgl. zum Traum bzw. zur Erscheinung Blanscheflurs, die so selbst „als Präfiguration Karls“ aufscheint, wodurch Kohärenz zwischen den disparaten Teilen des Buchs vom heiligen Karl gestiftet wird, Dietl, Kohärenzstiftung ‚von oben‘, S. 291 f. 112 Vgl. zur passio cordis Kapitel III.6. 113 Bastert erkennt in diesem Verweis auf andere Texte „eine typische zyklische Markierung ‚entre les textes‘“, (ders., Helden als Heilige, S. 225 [Hervorhebung übernommen]). Damit verortet sich das Buch vom heiligen Karl in einem intertextuell getragenen Karlszyklus. 114 Vgl. K 124–135.

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Aspekte hervorgehoben, die für die Einschätzung einer Herrschersakralität bzw. kanonisierten Heiligkeit von sant küng Karlus relevant erscheinen. Dabei soll auch die Erzählfreude des Textes vermittelt werden, die sich vom Ton im Rolandslied und Strickers Karl deutlich unterscheidet. Denn statt ‚heiligem Ernst‘ ist im Buch vom heiligen Karl bisweilen ‚heiliger Humor‘ am Werk.115 Pippin soll eigentlich Berchta, die Tochter von Flore und Blanscheflur heiraten. Diese erschrickt jedoch beim Anblick Pippins, der groß, lang und grülich (BhK 16,8 f.) erscheint, und schickt eine ihrer Jungfrauen vor, die den Herrscher an ihrer statt heiraten soll, denn sy wölt gern jungfrow sin (BhK 16,11). Das Bedürfnis Jungfrau zu bleiben und damit die Thematik der Jungfräulichkeit spielt, bedenkt man auch die göttlich prädestinierte Geburt Karls durch Berchta, auf marianische Virginität an. Berchta findet bei einem Müller Unterschlupf und so kommt es, dass Pippin nach einem Ausritt in der Nähe der Mühle auf einem Feld übernachtet. Seine Sterndeuter betrachten den Himmel und künden dann von Zukünftigem:116 Herr, werent ir hinacht bi üwer eliche frouwen, ir machtent ein sun, von dem die cristenheit groß nucz enpfachen wurd und von dem man wurd singen und sagen, die wil die welt stüend (BhK 16,21–24).117 Wieder wird Karl als Spender ‚großen Nutzens‘ für die Christenheit umschrieben, womit das Konzept der genealogischen Prädestination fortgeführt wird: Die Prophezeiung der Sterndeuter wird sich bewahrheiten, das legen die vorangegangenen Erzählerkommentare und Vorausdeutungen in der Flore und Blanscheflur-Geschichte nahe, und nach dem Willen Gottes (Und als gott woltt; BhK 16,27) werden Pippin und Berchta zusammengeführt. Pippin hofft auf Gottes Hilfe und versucht, mit einer beliebigen anderen Jungfrau den ‚Nutzen der Christenheit‘ zu zeugen: Die Töchter des Müllers müssen sich ihm zeigen und höfisch die Aufwartung machen, doch allein Berchta, die als letzte hinzugerufen wird, beherrscht die höfischen Verhaltensformen, sodass sie Pippin gefällt und sie recht unvermittelt, in Umkehrung der zuvor gepflegten höfischen Verhaltensformen, auf einem Karren

115 Vgl. dazu Ohlys Feststellung: „Das Scherzen mit dem Heiligen gerät heiter nur bei Frommen und ist ihr Vorrecht“ (Friedrich Ohly: Zum Dichtungsschluß Tu autem, domine, miserere nobis. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg, Dietmar Peil. Stuttgart/Leipzig 1995, S. 21). In diesem Sinne ist Karl als kanonisierter Heiliger dem Bearbeiter des Zürcher Buchs so heilig, dass ein heiteres Erzählen der Heiligkeit des Herrschers nicht abträglich erscheint. 116 Erhält Berchta einen marianischen Zug, wird Karls Geburt wie die Geburt Jesu von einer Himmelserscheinung angekündigt (Stern von Bethlehem, Sterndeuter als Zeugen der Geburt; vgl. Mt 2,1–12). Ist die Szene um Pippin im Buch vom heiligen Karl gegenüber der neutestamentlichen Darstellung auch humorvoll eingefärbt (man denke nur an die folgende Zeugung Karls auf einem Karren), liegt dennoch zugleich über die Bezüge zum biblischen Prätext eine Sakralisierungsstrategie vor. 117 Mit dem Verweis der Sterndeuter darauf, dass man bis zum Ende der Welt von Karl singen und sagen wird (BhK 16,24), ist eine Art fama perennis angelegt, an der das Buch vom heiligen Karl mitarbeitet, indem es sich gemäß der eigenen Geschichtskonstruktion selbst als Dokument dieser bereits seit einigen hundert Jahren andauernden Fama Karls ausgibt.

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koitieren.118 Berchta offenbart Pippin später ihre Identität, woraufhin dieser die ‚falsche‘ Ehefrau entschädigt und Berchta heiratet. Er freut sich, daz er uff die nacht gmachet ein kind, von dem der cristenheit vil guocz beschechen sölt (BhK 17,18 f.), und wenn sich die Prophezeiung der Sterndeuter bewahrheiten sollte, dann ist es der wil gocz (BhK 17,21). Schließlich gebar si ein schönen sun. Den hies der küng Pupinus, ssin vatter, nemnen Karlus, won er in uff eynem karren gmacht hat (BhK 17,32–34).119 Ein Jahr später gebiert Berchta die Tochter Gertrut. Bis zu seinem Tod bald nach der Geburt der Tochter richtet Pippin sein Handeln am Willen Gottes aus und zielt darauf ab, einen Beitrag zu Ehren der Christenheit zu leisten.120 Nach Erfüllung dieser Aufgabe ist seine heilsgeschichtliche Funktion in Bezug auf die Zeugung Karls erschöpft und er scheidet (wie in Strickers Karl) aus dem Leben und der Erzählung. Berchta findet ebenfalls keine Erwähnung mehr. Indem die Geschichte von Karls Urgroßeltern bis zu seiner Zeugung als Erfüllung göttlicher Vorsehung inszeniert wird, soll sie fest in die Heilsgeschichte eingeschrieben werden. Karls Funktion, als instrumentum Dei zum ‚Nutzen der Christenheit‘ Mission zu betreiben, steht seit Anbeginn fest, sodass sich sein Herrscherleben im Dienste Gottes und der Christenheit entfalten wird. Die zunächst an der mütterlichen Linie orientierte Erzählung wird mit dem Auftreten Pippins – dessen Herkunft nicht genauer beleuchtet wird – erweitert, sodass die Genealogie kognatisch-bilateral konzeptualisiert ist. Karl ist Sohn einer spanischen Königin und eines fränkischen Königs. In herrschaftspolitischer Dimension, die sich an traditionalen Wertmaßstäben orientiert, bedeutet dies eine prestigeträchtige Abkunft, die vom Erzähler bzw. durch die Akzentuierung der Erzählung jedoch weniger stark gemacht wird als die providentielle Durchformung der Familiengeschichte und ihre Erfüllung in der Geburt Karls. Wie im Rolandslied, das von Karls göttlicher Erwählung in utero berichtet, wird die Heiligkeit des Herrschers vor seiner Geburt begründet, da die Genealogie nach göttlicher Vorsehung in Karls Dienst für die Christenheit mündet. Die anschließende Kindheits- und Jugendgeschichte vom Mordanschlag der Halbbrüder, dem Exil in Spanien und seiner Rückkehr nach Franckrich (BhK 19,3) ähnelt der des Strickerschen Karl. Sie ist um einige Details und Ausführungen erweitert, signifikante Sinnveränderungen liegen jedoch nicht vor.121 Das Buch vom heiligen Karl kombiniert damit unter Rückgriff auf den Flore und Blanscheflur-Stoff die Konzepte ‚Genealogie‘

118 Vgl. BhK 16,27–17,10. 119 Die Etymologie des Namens ist eigenwillig und in ihrer Situationsbezogenheit, ‚Karl‘ als Ableitung von ‚Karren‘, nicht ohne Witz. Tatsächlich geht ‚Karl‘ wohl auf altnordisch und althochdeutsch karl (‚Mann‘, ‚Ehemann‘) zurück (vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Aufl. Berlin/Boston 2012, s. v.). 120 Vgl. BhK 17,35 f. 121 So werden nach Karls Heimkehr explizit die Königskrönung (und krontend in ze küng; BhK 19,7 und Do nun Karlus ze küng gekrönet was; BhK 19,11) und Karls Lebensalter angegeben (Und do was er XXV jar alt; BhK 19,10 f.).

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(Strickers Karl), ‚göttliche Prädestination‘ (Rolandslied) und ‚persönliche Bewährung‘ (Strickers Karl) in ingeniöser Weise. 2.1.5 Zwischenergebnis Die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen bieten genealogische Informationen zu Karl und inszenieren Formen seiner göttlichen Prädestination, die unterschiedlich komplex und umfänglich ausgearbeitet sind. Die Chanson verzichtet auf die förmliche Vorstellung Karls des Großen und bietet keine Geschichte seiner Abkunft. Vielmehr wird ‚unser‘ Kaiser Karl ohne Umschweife als Protagonist eingeführt und scheint im ‚kollektiven Gedächtnis‘ der Rezeptionsgemeinschaft – auch über die Einschreibung in einen Karlszyklus – seinen festen Sitz zu haben. Als instrumentum Dei wird Karl nach dem Spanienfeldzug vom Erzengel Gabriel der Auftrag zur Verteidigung der Christen gegen angreifende Heiden erteilt. Diese transzendente Lenkung seines immanenten Handelns trägt zu einer herrscherlichen Sakralität bei, die das mühevolle Leben (vie penuse)122 des zweihundert Jahre alten, weißhaarigen und -bärtigen Karl in den Dienst Gottes und der Christenheit stellt. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad bietet als Zusatz gegenüber der Chanson die genealogische patrilineare Minimalinformation, dass Karl der Sohn Pippins ist. Zudem wird Karls Leben von der Kindheit bis zum Alter als auf einem Tugendweg verlaufende vita perfecta umrissen. Genauer hat die Analyse die göttliche Prädestination im Mutterleib als Modell aufgeschlüsselt, das zur pränatalen Begründung einer Gottesnähe und herrscherlichen Legitimation jenseits traditionaler Herrschaft oder persönlicher Lebenspraxis gereicht. Karl erscheint als von Gott auserwählter Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz, dessen Leben nach göttlichem Plan und mit heilsgeschichtlicher Notwendigkeit im Himmel mündet. Die göttliche Prädestination steht nicht in Konkurrenz zu einer Genealogie oder Biographie des Herrschers, sondern grundiert diese vielmehr. Als Strategie der literarischen Inszenierung herrscherlicher Sakralität nimmt sie in hoher Frequenz Bezug auf den biblischen Prätext, indem Karl in Analogie zum von Gott berufenen Propheten Jesaja, zum Evangelium verkündenden Paulus und zum im Garten Gethsemane betenden Jesus gesetzt wird. Der Stricker baut die Pippin-Erwähnung (‚genealogische Abbreviatur‘) im Rolandslied zu einer Eltern-, Kindheits- und Jugendgeschichte aus, wodurch Karl eine Genealogie und in Teilen eine Biographie erhält. Denn Karl tritt nicht wie zu Beginn des Rolandslieds als erwachsener sakraler Herrscher, als König und Kaiser, in die Textwelt ein, sondern erfährt eine ‚Entwicklung‘ im Sinne einer sukzessiven narrativen Konstruktion seines sakralen bzw. heiligen Herrscherlebens: Gottes Schutz seit frühester Kindheit, Auszeichnung in der Ritterschaft und Bewährung in der Fremde

122 Vgl. ChdR 4000.

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durch Standhaftigkeit im Glauben und Widerstehen erotischer Versuchung bestimmen Karls Weg bis zur Übernahme der Königsherrschaft in Kærlingen, die zugleich über traditionale Elemente (erbe herre; K 232) und Karls persönliche Eignung legitimiert wird. Die Begnadigung seiner reumütigen Halbbrüder, die ihm einst nach dem Leben trachteten, und die vorbildliche Ausführung herrscherlicher Aufgaben weisen Karl als idealen Herrscher aus – so gilt er als ‚bester König‘ und genießt in aller Welt höchste Anerkennung. Die genealogische Prädestination im Mutterleib, die das Rolandslied modelliert, findet sich in Strickers Karl zwar nicht, doch der Erzähler macht nach Pippins Tod deutlich, „dass Gott noch Großes mit dem Kind vorhat“123 und Karls folgende Bewährung im Glauben, im Kampf und als Herrscher von Gott schützend begleitet wird. Das Buch vom heiligen Karl entwirft eine bei der Urgroßelterngeneration ansetzende Geschichte, die Konrad Flecks Flore und Blanscheflur bearbeitet und Karls Geburt göttlich prädestiniert, indem diese seinen Vorfahren bereits seit Generationen vorausgesagt wird und als ‚Reproduktionsziel‘ auch das Handeln und Schicksal ihrer (literarischen) Leben determiniert. Damit wird die Erwählung Karls zu Gottes ‚Dienstmann‘ im Mutterleib aus dem Rolandslied aufgegriffen – freilich nicht als direkte Übernahme, sondern als äquivalentes Konzept –, mit der Eltern-, Kindheitsund Jugendgeschichte des Strickerschen Karl verbunden und durch den Rückgriff auf die Urgroßelterngeneration überboten. Genealogische Kontingenz wird auf diese Weise ex post gebannt und Karls Geburt zum heilsgeschichtlich notwendigen Ereignis in einer durch göttliche Vorausschau (providentia Dei) gelenkten Welt. Der Herrscher wird seinen Vorfahren nicht namentlich, sondern in Periphrase als ‚Nutzen der Christenheit‘ angekündigt, womit seine Funktion, als instrumentum Dei im Dienste Gottes für die Christen auf Erden einzustehen, vorgezeichnet ist. Es ergibt sich somit folgendes Bearbeitungsprofil: Das Buch vom heiligen Karl kombiniert und erweitert die herrschaftslegitimierenden Konzepte ‚(traditionale) Genealogie‘ (Strickers Karl und Konrad Flecks Flore und Blanscheflur), ‚göttliche (pränatale) Prädestination‘ (Rolandslied) und ‚persönliche Bewährung‘ (Strickers Karl), implementiert sie chronikalisch in die Heilsgeschichte und liefert auf diese Weise zentrale erzählerische Bausteine für die Vita des heiligen Herrschers sant küng Karlus (BhK 15,27).

2.2 Karls Auftrag – Herrschaft, Heidenmission und Gewinn des ewigen Lebens Das vorliegende Teilkapitel untersucht die Motivierung und Kontextualisierung des Spanienfeldzugs, mit dem die Chanson de Roland unmittelbar einsetzt. Am Anfang steht in den oberdeutschen Bearbeitungen Karls Missionswunsch, auf den eine En-

123 Bastert, Helden als Heilige, S. 290. Vgl. K 143–145.

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gelsbotschaft folgt, die ihm entweder die Mission unmittelbar gewährt (Rolandslied) oder ein Panorama zukünftigen Handelns entwirft, das auf den Erwerb der ‚deutschen‘ Königs- und ‚römisch-deutschen‘ Kaiserherrschaft abzielt und erst dann die Mission in Spanien ansetzt (Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl). Der Spanienfeldzug erhält in allen Texten eine besondere Bedeutung für den Herrscher, denn er dient dem Gewinn des ewigen Lebens. Doch arbeiten Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl mit einer gegenüber dem Rolandslied deutlich umfänglicher ausgestalteten Engelsbotschaft und integrieren dadurch den Spanienfeldzug in die Biographie des Herrschers. Zwar finden sich wesentliche Übereinstimmungen und feste Darstellungsmuster, doch inszenieren die Texte Karls Missionswunsch sowie die Engelsbotschaft und ihre Umsetzung durch den Herrscher mit eigenen Akzentuierungen, die auf das jeweils verfolgte Konzept von Herrschersakralität bzw. -heiligkeit sowie die generische Zugehörigkeit der Texte verweisen. Die „Steigerung der Konzentration auf Karl“,124 die der Stricker gegenüber dem Pfaffen Konrad vornimmt, soll im Folgenden nachgezeichnet und durch den Blick auf das Buch vom heiligen Karl in ihrer diachronen Entwicklung erweitert und bewertet werden. 2.2.1 Herrscherlicher Missionswunsch als göttlicher Auftrag (Rolandslied) Nicht nur der bereits in Kapitel III.1 untersuchte Prolog, sondern auch die nun folgende Vorgeschichte findet sich in der Chanson de Roland, d. h. im Oxforder Roland, nicht. Gerade in diesen beiden Textbereichen prägt das Rolandslied eine Herrschafts- und Sakralitätsstruktur aus, die den Status der Karlsfigur grundlegend betrifft. Der Prolog schließt präsentisch mit einer Aussage zu Karls ewigem Verbleib: dâ [in Gottes Himmelreich; F. B.] wont er iemer êwichliche (RL 30). Die Referenz auf Karl wird in den ersten erzählenden Abschnitt übernommen und das Geschehen nun im Präteritum zur Entfaltung gebracht: Dô der gotes dienestman von Yspaniâ vernam, wie unkiusclîchen si lebeten, die apgot an beteten, daz si got niene vorchten, harte sich verworchten, daz clagete der keiser hêre. (RL 31–37)

Die erste Handlung des Herrschers ist eine affektive Reaktion auf aus christlicher Sicht religiös frevelhaftes Leben. Karl reagiert als ‚Dienstmann Gottes‘ (gotes dienestman; RL 31)125 auf das sündige, der Idolatrie hingegebene Treiben der spanischen Heiden mit einer Klage. Er bittet Gott um die Errettung der Heiden – daz er 124 Brandt, erniuwet, S. 221. 125 Vgl. zu den biblischen Implikationen der Gottesdienerschaft Kartschoke, Kommentar, S. 631.

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getrœste / die manicvaldigen haidenscaft (RL 42 f.) –, welche fern vom Licht der Wahrheit diu nebelvinstere nacht (RL 44) der Sünde und des Verderbens einhüllt. Als gotes dienestman verfolgt der Kaiser hier kein machtpolitisches Interesse, das auf die Vergrößerung des Herrschaftsgebietes abzielen würde, sondern orientiert sich persönlich affiziert am missionarischen Gebot der Seelenrettung. Der erste erzählte Kontakt zwischen Karl und Gott wird also über die Klage des Herrschers hergestellt, wobei der Eingriff transzendenter, göttlicher Allmacht in den immanenten, menschlichen Handlungsraum von Karl dringlich erbeten wird: er mante got (RL 38). Auf diese Weise wird ein zentraler Dualismus etabliert, der Religion, Ethik, Wahrheit und Recht verhandelt und exklusiv aufteilt: Auf der einen Seite stehen Gott und die Christen, sie beanspruchen Wahrheit; auf der anderen Seite stehen Teufel/Abgötter und die Heiden, sie sind der Lüge teilhaftig.126 Dadurch wird eine Grundspannung in der erzählten Welt aufgebaut, die eine Lichtmetaphorik visualisiert:127 Auf Christen-/ Gottesseite herrscht Licht (daz wâre liecht; RL 21), auf Heiden-/Teufelsseite hingegen, wie bereits herausgestellt, Dunkelheit (nebelvinstere nacht; RL 44; scate; RL 45). Diese dualistische Scheidung der Welt in hell und dunkel, wahr und falsch durchzieht die Erzählung fortan axiomatisch und operiert mit „asymmetrische[n] Gegenbegriffe[n]“.128 Noch scheint die Frontstellung nicht notwendig konfliktgeladen zu sein, denn die Heiden stellen keine militärischen Gegner, sondern zu rettende Seelen dar – das wird sich später ändern, wenn Karl in einer zweiten Klage Gewalttaten der Heiden gegen Christen anführt.129 Der anschließende Erzählabschnitt bietet eine plastische Szene, die den Herrscher in wiederholtem Gebet präsentiert: Karl bette dicke (RL 47). Aus ‚tiefstem Herzen blickend‘130 richtet er sich an Gott, während alle Menschen schlafen, das Irdische ruht. Allein der Kaiser wacht in der Dunkelheit betend und mit trânenden ougen (RL 51) – eine Allusion des Gebets Jesu in Gethsemane und damit Reflex einer Sakralisierungsstrategie.131 Die exklusive Kommunikationssituation lässt als Boten der Vermittlung von Transzendenz und Immanenz einen Engel erscheinen,

126 In diesen Wahrheitsdiskurs schreibt sich der Verfasser bereits im Prolog ein (vgl. RL 7 f.). 127 Vgl. zur Bedeutung des Lichts bei Johannes auch Kartschoke, Kommentar, S. 630 (mit weiterer Literatur). 128 Vgl. zu asymmetrischen Gegenbegriffen grundlegend Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989 (stw. 757), S. 211–259 und für das Rolandslied Seidl, Narrative Ungleichheiten. 129 Vgl. dazu Kapitel III.3.1. 130 Vgl. RL 48. 131 So erkennt Kartschoke „[s]tarke Anklänge an Christus in Gethsemane (Mt. 26,36 ff.; Mk. 14,32 ff.; Lk. 22,39 ff.): Schlaf der Jünger – Christus allein wacht – Trauer erfüllt ihn (Gebet unter Tränen vgl. Hebr. 5,7) – ein Engel erscheint ihm. Solche imitatio Christi gehört zum Wesen und Begriff des Heiligen und wird auch im RL mehrfach thematisiert“ (ders., Kommentar, S. 632). Vgl. zu den biblischen Implikationen auch Richter, Kommentar, S. 30 f.

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den Karl mit flaisclîchen ougen (RL 52) gewärtigt.132 Dieser weist den küninge (RL 54), den er als gotes dienestman (RL 55) adressiert und der Erhörung seines Gebetes versichert (got hât dich erhœret; RL 57), zur Mission an: île in Yspaniam! (RL 56) Der göttliche Imperativ bringt das Sujet an die Textoberfläche: Die Mission gebietet eine Ortsveränderung (Überschreitung der Pyrenäen als Grenze) und motiviert Karlshandlung, denn kam die Kunde zunächst von Yspaniâ (RL 32) und wurde von Karl vernommen und beklagt, erfolgt nun auf Geheiß des Engels die Bewegung Karls in Yspaniam (RL 56). Der Text präsentiert hier nicht die Erwählung eines Unwissenden oder Unvorbereiteten, der den göttlichen Willen auf Erden ins Werk setzen soll, sondern die gnadenhafte Gewährung eines zuvor in der Klage artikulierten Missionswunsches (er mante got; RL 38): Göttliches Gnadengeschenk (Heidenmission und Erwerb des ewigen Lebens) und herrscherliche Gottgefälligkeit – als besonders intensive Form des Interesses am Gehorchenwollen – sind aufeinander bezogen und konstituieren Karls Herrschersakralität als „Einheit von religiöser und politischer Identität“.133 Seine Gottesunmittelbarkeit und die göttliche Weisung zur Mission bilden die charismatische Legitimationsgrundlage für Karls zukünftiges Herrscherhandeln. Abschließend erklärt der Engel den guten Ausgang der Spanienfahrt: Die Bekehrung der Heiden werde erfolgreich sein, alle Unwilligen aber würden von Gottes Zorn getroffen und als Kinder des Teufels auf ewig in die Hölle eingehen.134 2.2.2 Kaiserherrschaft und Heidenmission von Gottes Gnaden (Strickers Karl) Die zehn Verse umfassende Engelsbotschaft im Rolandslied ist auf die Mission in Spanien gerichtet und findet zu einem beliebigen Zeitpunkt in Karls Leben statt, zu dem er König und Kaiser ist. Der Stricker fügt Karls Missionswunsch und die Engelsbotschaft, die er auf etwa 120 Verse erweitert, zu einem Zeitpunkt ein, zu dem Karl zwar König von Kærlingen, aber noch nicht ‚deutscher‘ König und ‚römisch-deutscher‘ Kaiser ist. Mit der Übernahme der Herrschaft in Kærlingen und seinem Preis als Idealkönig ist beim Stricker die Erzählung von Karls Kindheit und Jugend abgeschlossen, sodass die Handlung einen Ruhepunkt erreicht hat. Die Erzählung wird daraufhin erneut angestoßen (ab K 275), da Karl ebenso wie im Rolandslied die Idolatrie der Heiden sorgt und er bei Gott in unablässigem Gebet um ihre Erlösung bit-

132 Es handelt sich hier um eine Vision, die von den sich später ereignenden Träumen abgegrenzt ist; vgl. dazu Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 72–75 (mit weiterer Literatur). Siehe zur gesamten Engelsbotschaft und ihren biblischen Bezügen Richter, Kommentar, S. 32–35. 133 So deutet Mertens Karls „unmittelbare Kommunikation mit dem Numinosen“ (ders., Religiöse Identität in der mittelhochdeutschen Kreuzzugsepik, S. 78 f.). 134 Vgl. RL 58–64. „Was hier als Kreuzzugsideologie erscheint, ist nichts anderes als Herrscherideologie; als Idee vom gottunmittelbaren Kaisertum legitimiert sie auch den Anspruch auf Heilsgewißheit für das geplante Unternehmen, dessen Scheitern so unwahrscheinlich wird“ (Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 79 f.).

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tet. Er verbindet damit auch hier keine Herrschaftshoffnungen oder eine Machtvergrößerung, sondern richtet seinen Wunsch als Gottesdienst auf die Mehrung der Schar erlöster Seelen und auf das ewige Leben. Die Heidenbekehrung ist Karls zentrales Desiderat (sin grozzester wærre; K 283), von dem nun erzählt wird: Nů gedahte der gewære an di endelosen swære, diu den heiden solde geschehen, wand er wol hete gesehen, daz si betten an diu apgot unt durch des tiufels gebot di sele verworhten unde got nine vorhten. daz was sin grozzester wærre. (K 275–283)

Anders als im Rolandslied wird Karl die Idolatrie der Heiden nicht zugetragen, sondern seine Klage gründet auf Autopsie,135 hat er doch bis zum achtzehnten Lebensjahr in Spanien beim heidnischen König Marsilie gelebt. Der Stricker motiviert Karls Sorge um die Heiden damit biographisch und plausibilisiert auf diese Weise seinen Missionswunsch. Wie im Rolandslied mahnt Karl Gott zur Bekehrung der Heiden und bittet nochmals, daz er [Gott; F. B.] im di heiden / von der helle hFlfe scheiden (K 295 f.).136 In der Seelenrettung, dem Führen der Seelen zu Gott und zur sælde, erkennt bereits der Prolog Karls größtes und für sein Handeln charakteristisches Verdienst.137 Der Herrscher hält am Bitten und Flehen vor Gott beharrlich fest: daz gebet begab er nie. swa er reit oder gie, swa er stunt, saz oder lach, ez wære naht oder tach, so lange pflach er der bet, daz got sinen willen tet. (K 297–302)

Der Stricker verstärkt gegenüber dem Rolandslied die Gebetsbemühungen in ihrer Intensität und in ihrer den Herrscher in Beschlag nehmenden Wirkung. Karl betet solange, bis got sinen willen tet (K 302). Die Referenz von sinen ist ambig, da got zum einen Karls Willen nachkommen, zum anderen seinen göttlichen Willen umsetzen könnte. Es scheint, als seien Karls und Gottes Wille synchronisiert, was der sprachlich-grammatische Ausdruck spiegelt. Karl ersucht den Grund seines Herzens in der

135 Vgl. RL 32 mit K 278. 136 Vgl. K 284–290. 137 Vgl. dazu Kapitel III.1.2.

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Weise, wie es auch die sæligen ‚noch heute tun‘.138 So wird eine Brücke der religiösen Praxis ‚seliger‘ Menschen von Karl, der bereits im Prolog als sæliger man vorgestellt wird, zur Gegenwart der Rezipienten geschlagen. Die Erforschung des Herzens im Gebet, wie sie Karl praktiziert, wird zum imitabile nicht nur für Herrscher, sondern für alle Menschen; auch diesen Gedanken vermittelt bereits der Prolog. Karl setzt sein Gebet kniend fort, seine Bewacher schlafen ein (zehant entslieffen si gar; K 314) und in taghellem Licht erscheint ein Engel als Bote von dem oberstem gote (K 320). Hier wird wie im Rolandslied eine Gottesunmittelbarkeit inszeniert, denn es bedarf keiner immanenten geistlichen Instanzen oder Interpreten, sondern einzig eines Gottesboten als Verbindung zur Transzendenz. Der Engel spricht ausführlich zu Karl und entwirft ein zukünftiges Herrschaftsprogramm, das auch Karls Verhältnis zu Gott charakterisiert und seine herrscherliche Legitimation betrifft.139 Gleich zu Beginn versichert der Engel Karl, dass Gott ihn vernommen habe und ihm alles, was er verlangt, auch erfüllen werde, sodass wie im Rolandslied herrscherlicher Herzenswunsch und göttlicher Heilsplan kongruieren. Gott werde zudem Karls Herrschaftsgebiet erweitern: er git dir noch vil manech lant (K 331), was darauf hinweist, dass seine Herrschaft von Gott geschaffen und gebilligt ist. Das folgende Herrschaftsprogramm wird Karl von Gott aufgetragen: Zunächst soll er sich um das Römische Reich bemühen, es kontrollieren und Frieden stiften.140 Dann soll er Apulien, Böhmen, Polen, Ungarn, Griechenland, Russland, Armenien, Serbien, die Walachei, Dänemark, Schottland, Irland, England und Arles akquirieren. Damit ist ein gesamteuropäisches Herrschaftsprojekt umrissen, denn auch alle zwischen diesen Ländern liegenden Gebiete werden an Karl gehen: diz wirt dir in churcer vrist / und allez daz da enzwisschen ist (K 353 f.). Die Beauftragung mit den Eroberungen wird dominiert von der direkten Anrede Karls mit du unter gehäuftem Rückgriff auf Wendungen des lexikalischen Feldes ‚beherrschen/erobern‘.141 Die verschiedenen Ausdrucksformen der Herrschaftsappropriation verleihen dem göttlichen Auftrag seinen zwingenden direktiven Charakter, der Karl zur Herrschaft verpflichtet und seine Eroberungen legitimiert. Karls Herrschaft ist damit als gottgewollt bzw. -bestimmt ausgegeben und „die Welteroberung als göttliches Geschenk“ ausgewiesen.142 Mit Ohly nimmt Schnell an, dass Karls Eroberungen im Rolandslied des Pfaffen Konrad stets auf Bekehrung abzielen und keine davon losgelösten politisch-imperialen Absichten verfolgen. Im hier vorliegenden Katalog der zu erobernden Länder wird nicht von

138 Vgl. K 308–311. 139 Vgl. zur Engelsbotschaft u. a. Brandt, erniuwet, S. 197–230; Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 329–336; Ukena-Best, Providentia Dei, bes. S. 346–349. 140 Vgl. K 332–336. 141 Die Wendungen sind werben (K 332), in gewalt gewinnen (vgl. K 335), twingen (K 337), undertan werden (vgl. K 340), din werden (K 341), herre sin (K 342), in dine hant chumen (vgl. K 343), dir werden (vgl. K 344 u. 346; 347 u. 351; vgl. 353), sich dir ergeben (vgl. K 345), herre genant werden (vgl. K 349). 142 Schnell, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 330.

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‚Bekehrung‘ gesprochen, woraus Schnell schließt: „[B]eim Stricker ist eben diese Trennung von Welteroberung und Bekehrung des heidnischen Spanien vollzogen. Erst nach der Unterwerfung aller genannten Länder bereitet sich Karl auf den Kreuzzug vor.“143 Dieser Sonderstellung entsprechend wird Spanien in einem neuen Abschnitt als Destination angegeben und explizit mit dem Gedanken der Mission verbunden: dů solt ouch ze Spanie varn: / got wil dich da mit eren. / dů solt daz liut becheren (K 356–358); Widerstand gegen Karl würde von Gott an Leib und Seele der Gegner gerächt.144 Da Karl sich in Spanien um die ewige[] chrone (K 386) verdient machen soll, erhält die Mission ihre besondere heilsrelevante Bedeutung. Diesen Ausblick auf himmlischen Lohn gewährt Gott mit dem Ziel, dass Karl umso mutiger sein Leben wagen und bereitwillig leiden möge.145 Aus dem Gesagten könnte geschlossen werden, dass Karl als Märtyrer in Spanien sein Leben lassen wird, doch gewinnt er die ‚ewige Krone‘, ohne im Gottesdienst zu sterben: dir enmach dehein tot / ze disen ziten niht geschaden (K 392 f.), verspricht der Engel. Für Karls Heil ist nicht sein Sterben, sondern sein Leiden im Glaubenskrieg bestimmend, das durch den Verlust der ihm von Gott Anvertrauten und im Besondern durch den Tod Rolands gesteigert wird. An die Stelle des Märtyrertodes tritt als Äquivalent eine in das Herrscherleben integrierte Herzenspassion.146 Nach dieser Vorschau auf Karls Zukunft, den Aufbau eines großen Reiches und den Spanienfeldzug als heilsrelevanten Abschnitt seines herrscherlichen Lebens werden konkrete Handlungsanweisungen zur Strukturierung unmittelbar bevorstehender Ereignisse formuliert: morgen (K 394) soll Karl seine liebesten (K 395), gemeint sind die Zwölf Paladine, laden und sie zur Rede des Engels Stellung nehmen lassen. Dann soll er den Rhein überschreiten und die ‚deutsche‘ Königsherrschaft ‚erstreiten‘: da můstu tiuschiu lant / elliu samt erstriten (K 402 f.). Nachdem er dort die Herrschaft übernommen hat – als dů gewaltech werdest da (K 405) –, werde er die römische Kaiserwürde erlangen, sein Bruder Leo werde als Papst die Weihe vollziehen.147 Daraufhin soll Karl ein Heer aufstellen, das ihn bei seinen Eroberungen unterstützen wird. Wieder wird ihm garantiert, dass sich ihm niemand entgegenstellen könne, da er unter Gottes Schutz stehe: swer sich dir sezet ze wer, / dem chan niemen gewegen. / got wil diner verte pflegen (K 424–426). Zwar wird Karl die Kriege

143 Ebd. „Die Weltherrschaft wird so religiös legitimiert, wenn auch nicht vom Kreuzzugsgedanken her“ (ebd.). 144 Vgl. K 359–363. Gewalt gegen Heiden wird damit göttlich gerechtfertigt; es entstehen Spannungen in der Herrscherfigur über die gegensätzlichen Anforderungen von Herrschaft, Kampf und christlichen Friedens- und Heiligkeitskonzepten. Vgl. dazu das Modell des friedfertigen, demütigen und gewaltablehnenden Königs (roi souffrant), das Bastert auch der Strickerschen Karlsfigur untergelegt sieht (ders., Helden als Heilige, S. 291 f.). 145 Vgl. K 388–391. 146 Vgl. dazu ausführlich Kapitel III.6. 147 Vgl. K 406–413.

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unversehrt überstehen, doch wird ihm die Sorge um Roland ans Herz gelegt. Denn von diesem hängt sein militärischer und herrschaftlicher Erfolg ab: swaz ich dir lande han genant, / diu gewinnet dir elliu Růlant (K 427 f.) und an im stet elliu din ere (K 433). Gott liebt Roland so sehr,148 dass Karls Wille erfüllt wird, solange Roland lebt – je stärker Karl Roland liebt, desto mehr wird er erreichen: deste baz soltů in minnen; / so mahtů me gewinnen (K 439 f.). Die Bindung zwischen Karl und Roland wird damit über eine verwandtschaftliche oder lehnsrechtliche Dimension hinaus über eine Innerlichkeit bestimmt. Indem der Stricker dieses affektiv-emotionale Verhältnis zwischen Karl und Roland bereits in der Engelsbotschaft göttlich begründet, werden die später inszenierte Trauer um Rolands Tod und die damit verbundene Herzenspassion Karls vorbereitet.149 Aus dieser Perspektive wird auch verständlich, weshalb Karl den Verlust Rolands als Auslöser einer politischen Destabilisierung, geradezu seiner Entmachtung deuten wird.150 Der Stricker kontextualisiert über den gezielten Ausbau der Engelsbotschaft gegenüber dem Rolandslied spätere Erzählstränge und arbeitet so an der Plausibilisierung des Figurenhandelns. Daraufhin wird die präskriptive Botschaft des göttlichen Boten in eine Erzählung überführt und von dieser gewissermaßen eingeholt: Hie hůp sich ein mære, / daz lanch ze sagen wære. / nů wil ichez chFrcen swa ich chan (K 447–449). Wie im Prolog angekündigt, bemüht sich der Erzähler ob der Länge des mære um Kürzung und Straffung.151 Dadurch wird die Rezeption auf die wesentlichen Handlungen und herrscherlichen Stationen gelenkt: Karl erobert zunächst das R=mische riche (K 450) sowie alle anderen zuvor genannten Länder und bedankt sich bei den tiuschen liuten (K 453), die ihn bei allen Eroberungen unterstützt haben. Zum Lohn installiert Karl für die ‚Deutschen‘ das Privileg, daz si Romische chrone / dem immer geben solten, / den si ze herren wolten (K 458–460),152 was schriftlich garantiert wird: daz wart gevestent mit der schrift (K 461). Indem Karl dieses verbindliche Son-

148 Vgl. K 434. 149 „Die Einmaligkeit dieser menschlichen Bindung [von Karl und Roland; F. B.] liegt also in ihrem göttlichen Ursprung; sie verankert das Heil des einen in der Existenz des anderen und erhebt ihre Gemeinschaft hoch über alle sonstigen menschlichen Beziehungen hinaus“ (Ukena-Best, Providentia Dei, S. 348). Und „[d]a diese Gemeinschaft von Gott gestiftet wurde, ist ihre Dauer nicht menschlichem Ermessen, sondern göttlichem Ratschluß anheimgestellt“ (ebd.). Indem das Schicksal der Figuren göttlich vorbestimmt und durch ihr eigenes Handeln und Empfinden nicht abwendoder veränderbar ist, wie Karl in einem schmerzvollen, bis zur Verzweiflung reichenden Prozess der Klage und Passion anlässlich des Todes Rolands erkennen muss, geraten menschliches Streben und Empfinden in Spannung zur göttlichen Vorsehung. Vgl. dazu Kapitel III.6. 150 Vgl. u. a. K 8201–8212. 151 Vgl. K 52–62. 152 In der Freiheit zur Bestimmung darüber, wen si ze herren wolten (K 460), schwingt die Vorstellung mit, dass Herrschaft auf freiwilligem Gehorsam und einem Interesse am Gehorchenwollen und damit am Beherrschtwerden basiert; nach Weber handelt es sich um ein Merkmal, das jeder ‚echten‘ Herrschaft eignet.

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derrecht der Königswahl und Designation des Kaisers zugeschrieben wird, erscheint er den Rezipienten des Strickerschen Textes als Begründer des (kurfürstlichen) zeitgenössischen Königs- und Kaiserwahlrechts „und das ist offenbar der erste literarische Beleg für diesen Zusammenhang“.153 Mit der Absicht, dass die Deutschen dieses Privileg bzw. daz reht für immer behalten, richtet Karl einen Ort für die Krönung und Wahl des deutschen Königs (und zukünftigen Kaisers) ein und bestimmt dafür einen Sakralraum, nämlich die Marienkirche in Aachen: daz si da immer mere / ir kFnege chroneten und chFrn / unt daz reht nimmer verlFrn (K 464–466). Geistliche und weltliche Sphären werden nicht scharf unterschieden, denn Karl greift mit universalen Kompetenzen in die Regelung politischer, rechtlicher und religiöser Strukturen ein. Dazu passt auch das Verhältnis von Kaiser Karl und Papst Leo, das zur Vorbereitung der Spanienmission sichtbar wird – do daht er wider an sine vart, / diu im von got enboten wart (K 469 f.). Karl wendet sich – wie der Engel ihm geheißen hatte – an den Papst und referiert ihm diz mære (K 472), also die Engelsbotschaft bzw. den göttlichen Auftrag zur Mission.154 Dieser zeigt sich erfreut und möchte zur Sammlung eines Kreuzzugsheeres unterstützend Boten senden.155 Indem Papst Leo als Halbbruder zur Familie des Kaisers gehört, sind das geistliche und das weltliche Oberhaupt genealogisch verbunden und beide hat der Erzähler bereits in der Vorgeschichte als ‚Gotteskinder‘ vorgestellt. Der realhistorischen Praxis entsprechend wird dem Papst das Privileg zuteil, zum Kreuzzug aufzurufen, allerdings geht die Motivation zur Kreuznahme vom Kaiser aus: Karls ausdrücklicher Missionswunsch, der Empfang der göttlichen Botschaft und ihre Kommunikation an den höchsten geistlichen Vertreter der Christenheit legen einen Primat der Gottesunmittelbarkeit Kaiser Karls vor dem Papst nahe, obgleich sich daraus freilich kein direktes Verhältnis einer Domination oder Subordination zwischen Papst und Kaiser ergibt. Leo gilt Gott, das zeigt die englische Botschaft, als helfendes Instrument für die Umsetzung des prädestinierten Herrschaftshandelns, sodass ein harmonisches Verhältnis der Kooperation zwischen Papst und Kaiser inszeniert wird.156 Nun lädt Karl in einem weiteren Schritt die Zwölf Paladine, um über den Kreuzzug zu beraten. Bevor das nächste Kapitel die

153 Brandt, erniuwet, S. 226. 154 Gegenüber Strickers Karl ‚fehlt‘ der Papst im Rolandslied, doch „[b]ei sorgfältigem Abwägen des Für und Wider werden wir das Fehlen des Papstes nicht tendenziöser Absicht Konrads zuschreiben. Für einen ebenbürtigen Partner des Kaisers bietet die Ökonomie des Epos keinen Raum“ (Nellmann, Die Reichsidee, S. 178). Vgl. zum Papst in Strickers Karl u. a. Brandt, erniuwet, S. 197–230. 155 Vgl. K 473–478. 156 Brandt stellt die Bedeutung des Papstes für Karl und seine Herrschaft heraus: „Denn hier kommt deutlich zum Ausdruck, daß Stricker die staatsrechtliche Funktion des Papstes offen zum Ausdruck bringt, die Funktion, an der für den, der Kaiser werden will, kein Weg vorbeiführt [...]. Und erst nach dem Zeitpunkt, an dem vom Erzählgang her diese Weihe vollzogen ist, gebraucht Stricker für Karl den Titel ‚keiser‘ (K 505); noch nicht einmal in der Einleitung und im Vorbericht findet der Titel vorher Verwendung!“ (ders., erniuwet, S. 223) Brandt resümiert, dass der Stricker „das Bild einer idealen Übereinstimmung zwischen Kaiser und Papst“ zeichnet (ebd., S. 228).

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damit verbundenen Beziehungsdynamiken zwischen Karl und seiner Gefolgschaft unter dem Aspekt von Einmütigkeit untersucht, sollen die Bearbeitung der Engelsbotschaft und der Bericht von Karls herrscherlicher Bewährung im Dienst der Christenheit im Buch vom heiligen Karl in den Blick genommen und als Ausdruck einer zunehmenden Konzentration des Erzählens auf die Karlsfigur gedeutet werden. 2.2.3 Karls Leben zum ‚Nutzen der Christenheit‘: Heilsgeschichte als Reichsgeschichte (Buch vom heiligen Karl) Die vorgeschaltete Familiengeschichte determiniert mittels göttlicher Vorausschau Karls Geburt und seine Rolle als ‚Nutzen der Christenheit‘, womit ein Zielpunkt für seine Kindheit und Jugend formuliert ist.157 Das Buch vom heiligen Karl erzählt daraufhin ähnlich wie der Stricker von Karls idealer Königsherrschaft und seiner Sorge um das Seelenheil der Heiden.158 Noch bevor der Engel erscheint, ist die Rede von politischen und militärischen Handlungen des Frankenkönigs: Und inn dem zit, do er was ze Franckrich, do bezwang er so vil lütten und landen und tet so vil stricz, daz da von ein groß buoch gmacht ist [...] (BhK 19,16–18). Von diesen Kämpfen berichtet der Stricker nicht und konzentriert sich stattdessen auf Karls unbedingtes Bedürfnis nach Heidenmission. Im Buch vom heiligen Karl unterwirft der Herrscher die Völker und Länder allerdings nicht ohne Anlass, won die küng und herren in den selben landen begiengent ze vil übernücz und besch*tent nüt witwan und weissen noch die kilchen noch goczhüsser, sunder ssi verdarptant sy (BhK 19,21–23). Da die Herrscher nicht nur ihren Pflichten, nämlich dem Schutz von Volk und Kirche, nicht nachkommen, sondern sogar ihren Anvertrauten schaden, wird Karls Sturz der unfähigen Herrscher zur gerechtfertigten Erlösungstat: Er hebt ungerechte und schädliche Herrschaft auf und richtet (im Umkehrschluss) ordentliche, dem Schutz von Bevölkerung und Religion dienliche Herrschaft ein. Diese Schutzpflicht erscheint als Herrschaftsmaxime und ihre Verletzung sowie die Verwerflichkeit anderer Herrscher, die Karl weichen müssen, werden bei seinem späteren Herrschaftsantritt als ‚deutscher‘ König und ‚römischer‘ Kaiser erneut als Legitimationsargumente eingebracht. Das Buch vom heiligen Karl installiert auf diese Weise feste Idealvorstellungen von Herrschaft, an denen das Handeln der Herrscherfiguren gemessen werden kann und an die ihre persönliche Eignung sowie Herrschaftslegitimation geknüpft sind. In diesem Zusammenhang führt der Text mit dem Bericht von der Unterwerfung der Langobarden (Lamparten) unter ihrem König Desiderius zum einen Karls militärischen Einsatz für die Christenheit und zum anderen sein Verhältnis zum Papst vor Augen: Karl tritt als küng ze Franckrich (BhK 19,27) auf und Papst Adria-

157 Vgl. Kapitel III.2.1.4. 158 Vgl. BhK 19,11–16 mit K 265–283. Der Erzähler im Buch vom heiligen Karl schmückt Karls Sorge zwar weniger aus als der Stricker, aber der Verweis auf die Autopsie der heidnischen Idolatrie wird ebenfalls gegeben.

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nus bittet ihn deshalb um Hilfe, won er [Karl; F. B.] do ze mal der mechtigist was in der welt (BhK 19,28). Karl, der also als ‚mächtigster Herrscher der Welt‘ gilt, ist dem bapst gehorsam (BhK 19,30), vertreibt die Langobarden, gibt dem Papst und der Kirche das ihnen zustehende Land zurück und bestimmt, dass der Kaiser fortan über die Herrschaft in der Lombardei verfügen soll.159 Das Buch vom heiligen Karl problematisiert das Verhältnis zwischen Karl – der zu diesem Zeitpunkt Frankenkönig ist – und dem Papst nicht, sondern stellt Karl als Verteidiger der Kirche und Helfer des Papstes dar, ohne dass der Papst schwach oder Karl erniedrigt gezeichnet werden würde. Diese ‚ehrbaren Unternehmungen‘ zeugen von Karls herrscherlichem Potential und verschaffen ihm die Gunst der politisch einflussreichen Gruppen: Von semlichen erlichen sachen ward Karlus gar gefellig den curfürsten und allen herren, geistlichen und weltlichen. Do nun Karlus in ganczem gunst der herren was, do wurdent sy ze rât, daz guot wer, daz Karlus keysser wer. (BhK 19,36–20,3)

Die Zustimmung klerikaler und laikaler Würdenträger wird später nochmals betont und flankiert die göttliche Prädestination der Herrschaft Karls: Transzendente Vorbestimmung und immanente Bewährung des Herrschers greifen ineinander und führen zu einer umfassenden Stützung, Förderung und Legitimation seiner Herrschaft. Diesen Einblick in die Prozesse, die zu Karls Königs- und Kaiserherrschaft führen, bieten die Chanson de Roland und das Rolandslied nicht. Der Stricker beleuchtet diese Prozesse zwar, gestaltet sie aber nicht so ausführlich aus. Auch die Erwünschtheit von Karls Herrschaft als Ausdruck des nach Weber für ‚echte‘ Herrschaft konstitutiven freiwilligen Interesses am Gehorchenwollen der Beherrschten, die sich aus freien Stücken Karl als Kaiser wünschen, entfaltet in dieser Deutlichkeit einzig das Buch vom heiligen Karl. Dann kehrt der Erzähler zu Karls Missionswunsch zurück: Nun was do Karlus LVIII jar alt und was alweg andenck des grossen irtummes, den er gesechen hat, do er in der heidenschafft was, und bad got dag und nacht, das ir in etlichen weg zerkennen geb, wie er es sölt anvachen, daz die heiden bekert wurdent. (BhK 20,4–7)

Neben dem biographischen Detail, dass Karl nun 58 Jahre alt ist, erklärt der Erzähler Karls Missionswunsch wie der Stricker als Resultat der Autopsie. Das wiederholte nächtliche Gebet und die schlussendliche Erhörung durch Gott werden etwas knapper, aber in der Aussage dem Strickerschen Karl gleichend inszeniert.160 Die Engelsbotschaft entwirft ein Herrschafts- und Expansionsprogramm für Karls Zukunft und markiert den Spanienfeldzug als heilsentscheidende Episode im Leben des Herrschers:161 far ân sorg in die land umm und umb und erwirb daz ewig leben,

159 Vgl. BhK 19,32–36. 160 Vgl. BhK 20,7–14 mit K 275–322. 161 Vgl. BhK 20,14–21,22 mit K 323–446.

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won daz will dir got geben (BhK 20,30–32). Der Engel nimmt Bezug auf die Gunst der Kurfürsten und Herren, die Karl unter anderem durch seinen Einsatz für den Papst und gegen die Langobarden unter Desiderius gewonnen hat: So sind iecz die kurfürsten und die andern fürsten und herren ze rât worden, daz du römscher keyser sollist werden (BhK 21,7 f.). Karls Wahl zum römischen Kaiser ist göttlich vorgesehen und wird als Verfahren historisch vorweggenommen, denn den Kurfürsten kommt das Recht zur Wahl des deutschen Königs und damit des römischen Kaisers erst im Hochmittelalter zu und wird schließlich in der Goldenen Bulle von 1356 präzise festgelegt.162 Karls Herrschaftsübernahme wird so anachronistisch über ein Verfahren legitimiert, das als konsensfähig gilt und mit einem hohen Grad an Legitimationseinverständnis rechnen kann. Nach der Wahl durch die Kurfürsten wird Papst Leo seinen Bruder Karl confirmieren und salben (BhK 21,9) und damit zum Kaiser machen. Wie im Strickerschen Karl offenbart das Buch vom heiligen Karl über die Rede des Engels wesentliche zukünftige Ereignisse im Leben des Herrschers, Leitlinien der Figurenhandlung und eine Skizze des weiteren Handlungsverlaufs. Determiniert wird auch Rolands Status, der als Eroberer sämtlicher Länder und Kämpfer auf der Heerfahrt wie beim Stricker die wichtigste Bezugsfigur für Karl und seine Herrschaft darstellt: Und alle die wil er lebet, so gat alles din ding für sich (BhK 21,16f.).163 Der Erzähler resümiert die bindende Kraft und Unumstößlichkeit der Engelsbotschaft: Als nun der engel gseit hât, also ergienge us alle ding (BhK 21,20). Nun entfaltet das Buch vom heiligen Karl ausgewählte Aspekte der Engelsbotschaft und erzählt zunächst von den politischen Prozessen, die zu Karls Kaiserkrönung führen, sowie von Karls herrscherlicher Eignung, da er sich im Dienste der Christenheit bewährt. Dieses Darstellungsverfahren harmonisiert transzendente Vorsehung und immanente (potentiell kontingente) Geschehnisse und überführt sie in notwendige Heilsgeschichte. Zu Karls Kaiserkrönung und der damit verbundenen Translatio Imperii vom griechischen Osten auf den lateinischen Westen führen zwei Umstände:164 Zum einen sehen die Römer und der Papst, dass das byzantinische

162 Vgl. Armin Wolf: Art. Kurfürsten. In: 2HRG 3 (2016), Sp. 329 (für weiterführende Literaturhinweise vgl. ebd., Sp. 341 f.). „Die K[urfürsten] gab es noch nicht in den ersten Jahrhunderten des ostfränk[ischen] Reiches, dann d[eu]t[schen] Reiches. Damals wurden die Könige von einem zahlreicheren Kreis, v. a. Fürsten und Großen erhoben“ (ebd., Sp. 329). 163 Vgl. die Ausführungen zu Karl und Roland im Strickerschen Karl in Kapitel III.2.2.2, die auf das Buch vom heiligen Karl übertragen werden können. 164 Das Buch vom heiligen Karl inszeniert hier eine Translatio Imperii vom Osten auf den Westen des Römischen Reiches anlässlich von Karls Kaiserkrönung, obgleich diese realhistorisch „zunächst nicht im Sinne einer T[ranslatio] I[mperii] gedeutet“ wurde (Heinz Thomas: Art. Translatio Imperii. In: LexMA 8 [1997], Sp. 944–946, hier Sp. 944); auch „[d]ie Deutung von Karls K[ai]s[ertu]m als des von den Römern durch Wahl auf die Franken übertragenen Imperium Romanum ist zunächst kaum rezipiert worden“ (ebd.). In den folgenden Jahrhunderten werden systematisch kaiserliche und kuriale Herrschaftsansprüche mit Rückgriff auf das biblisch fundierte Konzept der Translatio Imperii ausgehandelt. Entscheidende Referenzstellen sind: Dn 2,21: et ipse [Deus; F. B.] mutat tempora et

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Kaisertum, under dem daz römsch rich was gewesen IIII hundert jar (BhK 21,22), bröckelt und seinen Pflichten nicht nachkommt, da der Kaiser keynen ernst noch sorg hatt, den cristenen glouben ze beschirmen, noch witwen noch weysen, als eim keyser czuo gehörtt (BhK 21,23f.). Der Text formuliert hier nochmals die oben bereits genannten verbindlichen Aufgaben, an deren Erfüllung sich Herrscher messen lassen müssen.165 Zusätzlich nehmen die Römer und der Papst Anstoß daran, dass das Byzantinische Reich von einer Frau, der Kaiserin Irene, regiert wird, daz doch nit recht und billich ist (BhK 21,25 f.). So zeichnet der Text ein defizientes byzantinisches Kaisertum, das als deviant erscheinen soll, da es jenseits der Regeln einer patriarchalen Herrschaftsordnung steht. Zum anderen wird im Lichte des Aufstiegs und der herrscherlichen Bewährung Karls des Großen die Notwendigkeit einer Ablösung der Vorherrschaft des Byzantinischen Reiches umso dringlicher. So sagen die Römer und der Papst, daz Karlus so grossen nucz schaffet der kristenheit, won die heyden an mengen enden hatt vertriben, und daz er den bapst und die Römer von der Lamperter küng erlidgot hät und daz er witwen und weisen und allen betrüepten menschen halff, daz inen ir recht und ir notturfft widerfüer [...]. (BhK 21,26–31)

Karl erfüllt die seit Generationen angekündigte Aufgabe, zum ‚Nutzen der Christenheit‘ zu handeln und macht sich durch Heidenkampf und -mission um die Kirche und die Ausbreitung der christlichen Religion verdient – ganz anders als die byzantinische(n) Kaiser(in). Er unterstützt den Papst und die Römer militärisch und schützt bedrängte Menschen, indem er ihnen zu ihrem Recht verhilft. Aufgrund dieser und anderer guter Taten machen die Römer Karls Bruder Leo zum Papst und in ze keyser, als er begert und es der wil gocz was (BhK 21,32 f.). Dass Karl so ein keyser und ein merer des richs (BhK 21,34 f.) wird, ist gestützt auf die freiwillige Zustimmung der Römer und des Papstes, die – ebenso wie die Kurfürsten, die Karl zum deutschen König und damit zum designierten Kaiser gekürt und gekrönt haben – seine Kaiserherrschaft erwünschen. Darin konvergieren auch Karls Begehren, Kaiser zu werden, und der Wille Gottes:166 Die Harmonisierung göttlicher Vorsehung, menschlichen Strebens (Karl) und einstimmiger Befürwortung geistlicher (Papst/ Kirche) und weltlicher Würdenträger (Kurfürsten, Römer) sowie eine herrscherliche Bewährung konstruieren eine umfänglich legitimierte, praxisbewährte, göttlich begnadete wie irdisch geforderte und gewollte Herrschaft Karls des Großen. Und mit

aetates transfert regna et constituit und Sir 10,8: regnum a gente in gentem transfertur propter iniustitias et iniurias et contumelias et diversos dolos. 165 Die Vergehen der byzantinischen Kaiser gelten dem Erzähler als Verletzungen der Herrscherpflichten und können damit in Einklang mit Sir 10,8 als ‚Rechtsverletzungen‘, ‚Unrecht‘ und ‚Schändlichkeit‘ eine Translatio Imperii auf den lateinischen Westen, hier auf Karl den Großen, begründen. 166 Vgl. BhK 21,32 f.

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Karls Kaiserkrönung erfolgt zugleich aus Sicht des lateinischen Westens die Translatio Imperii: Und do kam daz rich uß der Kriechen hand an eynen küng cze Franckrich (BhK 21,35 f.).167 Karl leitet nach dieser Vorstellung eine neue Phase der Machtverteilung und -ansprüche ein, die für die folgenden Jahrhunderte das herrscherliche Selbstverständnis im römisch-deutschen Kaiserreich prägen wird. In der Karlsgeschichte verbinden sich damit Reichs- und Heilsgeschichte. Nach der Erzählung von Karls Kaiserkrönung berichtet das Buch vom heiligen Karl nun verschiedene Quellen kompilierend von seinen Stiftungen und Taten zum ‚Nutzen der Christenheit‘ und bietet damit einen deutlichen Überschuss an Informationen gegenüber Strickers Karl – die Karlsfigur bindet förmlich Erzählmaterial und emanzipiert sich gegenüber einem auf den Spanienfeldzug fokussierten Erzählen. Karls erste Tat betrifft den Bau der Aachener Marienkirche unter großem materiellem Aufwand, er scheut weder kost noch arbeit (BhK 22,7).168 Zur Kirchweihe erscheinen die höchsten Würdenträger, der Papst samt 365 Bischöfen und dazu die weltliche Obrigkeit, fürsten und herren von allen landen (BhK 22,9 f.). Einstimmig wird daraufhin beschlossen, daz das selb münster cze Ach solt sin die houptkilch in tütschen landen unt ein statt, da ein keyser enpfachen sol sin erst kronen (BhK 22,11 f.). Auf diese Weise wird die Vorrangstellung des Aachener Münsters in kirchenpolitischer Dimension begründet und der sakrale Raum als Krönungsort festgelegt. Diese Vorgänge sollen Karls Einsatz für den christlichen Glauben ins Bild setzen und den Ursprung bis in die Gegenwart der Rezipienten reichender politisch-rechtlicher Regeln bestimmen. Karl erscheint auf diese Weise als (charismatische) Gründerfigur und seine Herrschaft als Zeit der Harmonisierung kaiserlicher und päpstlicher Aspirationen. Darauf folgt ein Exkurs mit einer Beschreibung der drei Kronen,169 die ein Kaiser zu empfangen habe. Er ist im vorangehenden Abschnitt mit der Erwähnung der erst kronen (BhK 22,12) anaphorisch vorbereitet worden. Nun ist cze wissen, daz ein keyser muos tryg kronen enpfachen (BhK 22,13 f.). Provenienz, Funktion und allegorische Bedeutung der Kronen werden schematisch aufgeführt: Die Eisen-Krone betüttet, daz ein keyser starck und mechtig sol sin (BhK 22,14 f.) – Karl empfängt sie vom Kölner Bischof im Aachener Münster. Die Silber-Krone bedeutet, er sol sin luter und grecht (BhK 22,17) – Karl empfängt sie vom Mailänder Bischof in der Kirche von Mundancia (Monza). Die Gold-Krone schließlich bedüt, daz ein keyser an adel und an grechtikeit und allen tugenden alle herren übertreffen sol (BhK 22,19 f.) – sie artikuliert die absolute Vorrangstellung des Kaisers in relationaler Beziehung als Übertreffen aller anderen Herrscher an ‚Adel‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Tugendhaftigkeit‘.

167 Die Griechen bzw. die Byzantiner erkennen die Translatio im Übrigen nicht an, machent si doch iren küng keyser, aber sin gwalt ist klein (BhK 22,1 f.). 168 Karl zwingt sogar den Teufel, Marmorsäulen aus Rom nach Ravenna zu tragen (vgl. BhK 22,3–6). 169 Dieser Kronen-Exkurs wird in der Chanson de Roland, im Rolandslied und in Strickers Karl nicht geboten.

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Karl empfängt die Gold-Krone vom Papst in Rom mit semlicher andacht und demüetikeit, daz davon vil cze sagen wer (BhK 22,23 f.). Mit diesem Hinweis macht der Erzähler auf die Fülle an Karlsstoff aufmerksam und beweist, dass er den Rezipienten gezielt durch das Material zu führen versteht. Das Buch vom heiligen Karl kombiniert augenscheinlich verschiedene Prinzipien zur Strukturierung seiner Darstellung, denn zum einen werden chronologische Verläufe als grundsätzliches und entscheidendes Gliederungsprinzip angelegt, zum anderen wird das Material auf dieser Grundlage thematisch gebündelt und bisweilen in Exkursen versammelt. Insgesamt verortet sich das Buch vom heiligen Karl selbst in einem Karls-Diskurs, indem es zwar unspezifisch, aber recht häufig auf andere Texte und Überlieferungen verweist, zu denen sich der Erzähler verhält und bisweilen klar Stellung bezieht.170 Nach dem Kronen-Exkurs folgt das Erzählen wieder dem chronologischen Grundgerüst und schreibt das Geschehen mit einem kataphorischen Verweis fort, indem ein neues Thema, genauer ein Konflikt, ins Auge gefasst wird: Do nun daz münster cze Ach keyser Karlus gebuwen hatt, als vor gseit ist, do hettent die heyden daz heilig land und daz heilig grab bekümbret [...] (BhK 22,24–26). Die Bedrohung der Christenheit bzw. ihrer heiligen Stätten durch die Heiden vergrößert den Handlungsraum Karls, der zunächst Eroberungen, Missionierungen und Herrschaftsanstrengungen in ‚Europa‘ unternommen hat. Auf der Grundlage einer stabilisierten Herrschaft, die politisch und religiös geeint erscheint, können bzw. – in der Inszenierung des Textes – müssen nun über die Grenzen des Reiches hinaus militärische und religionspolitische Exkursionen unternommen werden. Heidenkampf und -mission werden mit dem Schutz christlicher Herrscher und Herrschaftsgebiete verbunden. Der byzantinische Kaiser und der Patriarch von Jerusalem bitten Karl um Hilfe, dieser erbarmt sich, zieht mit einem Heer aus und erobert das Heilige Land zurück.171 Für diese Befreiungstat bietet der byzantinische Kaiser als Belohnung Gold an, das Karl jedoch zurückweist und stattdessen Reliquien einfordert: Do gab in der keyser von Constantinobel ein teil von der türninen kronen unsers lieben herren, nagel und ein stuck des helgen crücz und unser frowen hempt und vil anders grossen heltdems (BhK 22,32–35). Karl übergibt diese besonders wertvollen Christus- und Marienreliquien dem Aachener Münster. Auch diese Episode illustriert wieder seine Bewährung im Dienst der Christenheit und die Erfüllung kardinaler Herrscherpflichten, die der Text selbst zuvor verbindlich gemacht hat. Weitere ‚wissenswerte‘ Taten werden vom Erzähler referiert: Und ist ze wissen, daz küng Karlus hatt gebuwen XXIIII kilchen (BhK 22,36–23,1). Neben dem Kirchenbau fördert Karl großzügig vier Bistümer (Trier, Mainz, Köln und Salzburg) und errichtet eine Rheinbrücke bei Mainz, die jedoch einem Feuer zum Opfer fällt.172 Doch von all seinen Bauten und Stiftungen ‚liebt‘ Karl 170 Vgl. stellvertretend die Behandlung der Frage, ob Karl einen toten oder noch lebenden Roland antrifft (vgl. BhK 67,6–10). 171 Vgl. BhK 22,27–30. 172 Vgl. BhK 23,3–7.

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nichts so sehr wie Aachen und woher so viel liebi (BhK 23,8) kommt, daz werdent ir hie hören nach dem, als etliche buoch sagent (BhK 23,8 f.). Mit dem Verweis auf eine Vielzahl an Quellen versucht der Erzähler,173 seine Darstellung abzusichern und leitet zum nächsten Erzählabschnitt über, der Karls Sünden verhandelt und dabei auch seine Liebe zu Aachen erklärt.174 Nach der Ausbreitung von Karls Sünden widmet sich die Darstellung dann (ab BhK 27,15) den Kreuzzugsvorbereitungen und dem Aufbruch nach Spanien. 2.2.4 Zwischenergebnis Das Rolandslied legt fest, dass der Spanienfeldzug jene Episode darstellt, mit der Karl daz gotes rîche gewan (RL 10).175 Damit wird die Bedeutung der Erzählung mit Blick auf die Karlsfigur und ihr Schicksal offengelegt. Karls Missionswunsch wirkt handlungsauslösend und auch der Stricker und das Buch vom heiligen Karl machen die Sorge des Herrschers um das Seelenheil der spanischen Heiden zum handlungsmotivierenden Moment, das die mit der in Kærlingen etablierten Idealherrschaft zur Ruhe gekommene Erzählung anstößt. In beiden letztgenannten Texten erhält der Missionswunsch einen Platz im Leben des Herrschers, denn er ergibt sich bereits aus seiner Kindheits- und Jugendgeschichte. Karl wird nicht wie im Rolandslied die Idolatrie von Yspaniâ (RL 32) zugetragen, sondern er hat sie in Spanien autoptisch bezeugen können.176 Die Motivation der Handlung wird auf diese Weise enger an die Karlsfigur und ihr Leben geknüpft. Karls Klage und ihre Gestaltung als imitatio Christi tragen ebenso zu seiner Sakralisierung bei wie die direkte Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz durch das Erscheinen des Engels. Die anschließende Gewährung des Missionswunsches als Reflex einer Entsprechung von Karls gottgefälligem Streben und göttlicher Vorsehung sowie die Form der transzendenten Weisung zur Mission als Ausdruck seiner Gottesunmittelbarkeit und schließlich die Aussicht, in Spanien das ewige Leben als göttliches Gnadengeschenk zu gewinnen, sakralisieren die Karlsfigur (persönliches Charisma) und legitimieren ihr zukünftiges herrscherliches Handeln (herrscherlich-amtliches Charisma). Über die detaillierte und gegenüber dem Rolandslied deutlich ausgebaute Engelsbotschaft lassen der Stricker und das Buch vom heiligen Karl Karls zukünftiges herrscherliches Handeln über den Spanienfeldzug hinaus als vorstrukturiert und Erfüllung eines

173 Nach Bastert zeichnet sich durch solche Verweise eine Einschreibung in einen Karlszyklus ab (ders., Helden als Heilige, S. 225 f.). 174 Vgl. dazu Kapitel III.5. 175 Der Spanienfeldzug markiert auch in Strickers Karl und im Buch vom heiligen Karl die heilsentscheidende Episode im Leben des Herrschers (vgl. RL 12–16; K 386; BhK 20,30–32). 176 Vgl. K 278 u. BhK 20,4–7. Das Buch vom heiligen Karl gibt auch mit 58 Jahren das Lebensalter Karls an (vgl. BhK 20,4), wodurch die Biographie des Herrschers als Strukturprinzip aufscheint.

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göttlichen Plans erscheinen.177 Das bedeutet eine zunehmende erzählerische Fokussierung der Karlsfigur und eine noch stärkere Durchdringung ihres Schicksals durch göttliche Vorbestimmung als Korrelation von Biographisierung und Hagiographisierung. So wird Karl durch den göttlichen Befehl zur ‚römisch-deutschen‘ Königs- und Kaiserherrschaft sowie zum Aufbau eines großen Reiches verpflichtet und auf diese Weise als Herrscher von Gottes Gnaden legitimiert. Für den Gewinn der ‚ewigen Krone‘ wird nicht Karls Sterben, sondern sein Leiden entscheidend, das als Herzenspassion dem Herrscherleben eingeschrieben wird. Die Passion ergibt sich aus dem Verhältnis zu Roland, das als affektiv-emotionales der Liebe im diachronen Verlauf der Bearbeitungen zusehends intensiviert wird. Damit werden interfigurale Beziehungen über die Engelsbotschaft grundgelegt und die Kohärenz des Figurenhandelns verstärkt. Der Stricker und das Buch vom heiligen Karl präsentieren Karl in der anschließenden Auserzählung der Engelsbotschaft als charismatischen Begründer gesatzter Ordnung (u. a. Königswahlrecht) und weisen seine Herrschaft als Zeit der Eintracht zwischen einem gottesunmittelbaren Kaiser (regnum) und einem diesen unterstützenden Papst (sacerdotium) aus. Zwar greifen hier in beiden Texten ähnliche Darstellungsformen, doch fügt das Buch vom heiligen Karl sowohl vor als auch nach Karls Missionswunsch Passagen ein, die weder das Rolandslied noch Strickers Karl aufweisen: So erzählt es zunächst von Karls Taten als König von Franckrich und entwickelt in diesem Zuge Anforderungen an rechtmäßige Herrschaft, die Karl als Schützer von Witwen und Waisen und Verteidiger der Kirche (defensor ecclesiae) mustergültig erfüllt. Karls herrscherliche Bewährung im Dienst an der Christenheit und die freiwillige Unterstützung seiner Herrschaft durch den Papst, die Kirche sowie weltliche Würdenträger (u. a. Kurfürsten) legitimieren den heiligen Karl als Herrscher. Nach der Kaiserkrönung berichtet das Buch vom heiligen Karl nun aus verschiedenen Quellen schöpfend von seinen Stiftungen und Taten zum ‚Nutzen der Christenheit‘ und bietet damit einen deutlichen Überschuss an Informationen gegenüber Strickers Karl – die Karlsfigur bindet förmlich Erzählmaterial: Karls bauliche Tätigkeiten, seine Kirchengründungen und Bistumsförderungen, die Verteidigung der Christen im Heiligen Land, die Beschaffung von Reliquien und nicht zuletzt die Translatio Imperii vom Osten (Byzanz) auf den Westen (Rom) weisen Karl als idealen christlichen Herrscher aus und profilieren ihn als Begründer politisch-rechtlicher Praktiken und Erschaffer von Bauten, die bis in die gegenwärtige Lebenswelt der Rezipienten überdauern und Geltung beanspruchen. Folglich arbeiten sowohl Strickers Karl als auch das Buch vom

177 Klein bilanziert die Bedeutung der Engelsbotschaft wie folgt: „Die Prophezeiung umfaßt [in Strickers Karl; F. B.] damit anders als im ‚Rolandslied‘ das gesamte Leben des Kaisers. Nicht nur der Spanienzug, sondern sein Lebenswerk überhaupt stellt sich als Erfüllung eines göttlichen Auftrags, der Kaiser selbst als Werkzeug Gottes dar“ (dies., Strickers ‚Karl der Große‘, S. 316). Zwar ist Karl ‚Werkzeug Gottes‘, doch die Prophezeiung umfasst nicht das ganze Leben Karls, sondern nur sein Leben bis zum Abschluss des Spanienfeldzugs – über sein weiteres Leben, seine Taten oder seinen Tod wird dagegen nichts ausgesagt.

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heiligen Karl mit der umfänglich ausgestalteten Engelsbotschaft und der sich daraus ergebenden Narration an einer biographischen Kontextualisierung des Spanienfeldzugs. Der Stricker konstruiert eine Vita Karls im Umfeld des Spanienfeldzugs, das Buch vom heiligen Karl erweitert diesen Ansatz zur auf das Werkganze gesehen vollgültigen Vita und füllt im Stile eines Handbuchs die Erzählung mit Karlswissen paradigmatisch auf. Damit wird mit Blick auf das gesamte Textcorpus die diachrone Tendenz einer Verschiebung des Erzählens vom Ereignis (Schlacht in Roncesvalles) zum Erzählen von der Figur (Karl der Große) auch in diesem Handlungsabschnitt der untersuchten Werke deutlich – die Karlsfigur emanzipiert sich gegenüber einem linearen am Spanienfeldzug orientierten Erzählen und gewinnt als ordnungsstiftende Instanz an Dominanz.

3 Über Stiftung und Gefährdung von Gemeinschaft: Beziehungsdynamiken zwischen Herrscher und Kollektiv Das zurückliegende Kapitel fokussierte die Genealogie und göttliche Prädestination Karls, im Besonderen sein Verhältnis zur Transzendenz sowie die Begründung und Legitimation seiner Herrschaft. Der göttliche Auftrag zur Mission (Rolandslied) und (universaler) Herrschaft (Strickers Karl und Buch vom heiligen Karl), der über die Engelsbotschaft für Karls Zukunft verbindlich gemacht wird, legt das Zustandekommen und den Ausgang des Spanienfeldzugs fest und benennt seine Bedeutung für das Schicksal Karls und Rolands. Das geschieht in groben Zügen und nicht in detaillierter Betrachtung, denn wie der Kreuzzug praktische Umsetzung erfährt und wie dabei Karls Herrscherhandeln inszeniert wird, offenbart erst die auf die Engelsbotschaft folgende Erzählung.178 Auf diese Weise wird die Kommunikation zwischen Transzendenz (Gott/Engel) und Immanenz (Karl) übersetzt in immanente Kommunikation zwischen Herrscher und Beherrschten. Das vorliegende Kapitel blickt auf diesen Übersetzungsprozess der göttlich prädestinierten Makro- in immanente Mikrostrukturen und damit auf die Nahbeziehungen in Karls Herrschaftsverband. Zunächst soll untersucht werden, wie Karls Herrschaft aufgebaut wird, indem ihre interne Konstitution über eine Analyse der Bindungen zwischen Karl und seinen Gefolgsleuten durchleuchtet wird (Kapitel III.3.1). Diese funktioniert wider Erwarten nicht primär über die Unterscheidung von Herrscher und Beherrschten, sondern über eine (egalisierende) Verbindung beider Seiten. In einem zweiten Schritt soll die Be-

178 Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl zeigen immanentes Herrscherhandeln und die Konstitution von Herrschaft bereits in der Kindheits- und Jugendgeschichte; im Anschluss an die Engelsbotschaft zeichnen sie Karls Weg zur Königs- und Kaiserherrschaft nach. Damit sind aber eher ‚externe‘ Einflüsse auf die grundsätzliche Ermöglichung von Karls Herrschaft angesprochen, ein ‚interner‘ Blick auf die Bindungen und die Interaktionen zwischen Herrscher und Beherrschten steht für alle Texte des Corpus noch aus.

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ratung über das Unterwerfungsangebot der Heiden sowie die Entsendung eines Boten mit Blick auf das Handeln des Herrschers und seiner Berater als Probe ihres Zusammenhalts betrachtet werden (Kapitel III.3.2). Beide Teilkapitel verbindet die Frage nach der Kohäsion des Herrschaftsverbands, die am freien Willen und am Interesse am Gehorchenwollen ansetzt und als harmonisierte Einmütigkeit des Kollektivs bezeichnet, jedoch durch individuelles Streben, also Eigeninteressen des Herrschers und seiner Beherrschten, gelockert und bis hin zur Desintegration aufgelöst werden kann. Herrschaft zeigt sich in diesem Zugriff in ihrer performativen Dimension als im Wandel befindliches Produkt sozialer Interaktion, das mit den interfiguralen Beziehungsdynamiken aufs Engste verbunden ist: Harmonie und Spannung, Integration und Desintegration als soziale ‚Aggregatzustände‘ betreffen die Kohäsion des Personen- bzw. Herrschaftsverbands und fordern schließlich den Herrscher heraus. Karls herrscherliche Bewährung bezieht sich folglich nicht nur auf die Konfrontation mit äußeren Feinden, sondern auch und zuallererst auf die Interaktion im eigenen Herrschaftsverband, dessen Funktionieren Bedingung für das Gelingen aller nach außen gerichteten Herrschaftshandlungen ist.

3.1 Konstitution und Legitimation von Herrschaft durch ‚Einmütigkeit‘ Karl ist in den zurückliegenden Abschnitten der Erzählungen – im Prolog, in der Kindheits- und Jugendgeschichte, beim Empfang der Engelsbotschaft sowie auf dem Weg zur Königs- und Kaiserherrschaft – als ‚charismatisierte‘, unter göttlichem Schutz stehende und von Gottes Gnaden zur Herrschaft bestimmte sowie mit besonderer ritterlicher und herrscherlicher Kompetenz ausgestattete Figur inszeniert worden. Nun ist es zur Erfüllung des göttlichen Auftrags zur Heidenmission nötig, dass Karl bei seinen Beherrschten Gehör und Gefolgschaft findet.179 Dazu müssen nach dem Verständnis Max Webers aus herrschaftssoziologischer Perspektive ein Interesse am Gehorchenwollen sowie eine Übereinstimmung von Karls herrscherlichem Legitimitätsanspruch und dem ihm entgegengebrachten Legitimitätsglauben der zur Gefolgschaft Aufgerufenen gegeben sein.180 Im Folgenden soll das soziale Phänomen der Einmütigkeit als Grundlage und Ausdruck eines Legitimitätseinver-

179 Vgl. zum Eingebundensein Karls in ein Herrschaftsgefüge und zur Notwendigkeit, sich mit den Mitgliedern des Herrschaftsverbands zu koordinieren, auch Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 79–83. So richtet das Rolandslied sein „Hauptaugenmerk [...] auf das Funktionieren dieser Gemeinschaft [...], auf das System von Teilhabe und Berechtigung, von Rechten und Pflichten“ (ebd., S. 82). 180 Vgl. zu Karls charismatischem Status und der Gefolgschaftsbildung im Zuge des Kreuzzugsaufrufs im Strickerschen Karl auch die pointierte Analyse von Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 113–116, die Karls „Herrschaft in der Reihe ‚Chanson de Roland‘, ‚Rolandslied‘, ‚Karl‘ vom traditionalen Typus des Lehnsfeudalismus stärker in Richtung auf den charismatischen Typus nach Weber modelliert“ sieht (ebd., S. 115).

3 Über Stiftung und Gefährdung von Gemeinschaft

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ständnisses zwischen Herrscher und Beherrschten profiliert werden. ‚Einmütigkeit‘ meint hier eine Harmonisierung des individuellen und kollektiven Strebens auf Basis einer gemeinsam geteilten und verbindlichen Axiologie, welche die Texte über Erzähler- und Figurenrede (insbesondere Ansprachen Karls und geistlicher Figuren) installieren.181 Die besondere Herausforderung für Karls Herrschaft besteht darin, dass seine individuelle Sakralisierung durch den göttlichen Auftrag zur Mission auf einen Herrschaftsverband übergehen bzw. mit diesem synchronisiert werden muss. Die Pluralisierung seines herrscherlichen Charismas bedeutet die Chance auf Stabilisierung seiner Herrschaft, birgt jedoch auch die Gefahr ihrer Destabilisierung. Diesen störungsanfälligen Prozess der Charisma-Dispersion verhandeln die Texte und problematisieren die spezifische Bindungsform zwischen Karl und seinen Gefolgsleuten.182 Da die Positionierung des Kreuzzugsaufrufs im Handlungsverlauf konstant bleibt und seine Inszenierung recht ähnlich ausfällt, können die oberdeutschen Bearbeitungen zugleich untersucht werden.183

181 Vgl. grundlegend zu ‚Einmütigkeit‘ bzw. ‚unanimity‘ Ashcroft,,Si waren aines muotes‘: Zu verstehen ist „unanimity as an exemplary component of the relationship between king and nobles in the Christian res publica“ (ebd., S. 28). Genauer definiert Ashcroft mit Bezug auf die Bibel: „Unanimity in the New Testament, pre-eminently in the Pauline Epistles, expresses a fraternal solidarity and likedmindness, unanimes, una voce, of the early Christians (Romans 15:5–6, cf. I Corinthians 1:10, Galatians 3:26–28, Ephesians 4:4–6, Philippians 1:27, 2:1–4,1, I Peter 3:8)“ (ebd.). Prominent zitiert das Rolandslied den Psalm 132 (vgl. RL 3453–3458) als „typological prefiguration of the unanimity of crusading chivalry“ (ebd.). Der Pfaffe Konrad greife auf die Theologie Bernhards von Clairvaux zurück und führe dem Kreuzzugsaufruf Urbans II. entsprechende Gedanken und Formulierungen bezüglich einer Einmütigkeit der Kreuzfahrer an (vgl. ebd., S. 28–30). Er erweitere seinen Text gegenüber der Chanson de Roland um die konsequente Darstellung von Einmütigkeit (vgl. ebd., S. 30). Ashcroft macht für die Herstellung von Einmütigkeit bei der Bildung des Kreuzfahrerheeres um Karl drei Aspekte verbindlich: „[t]he theocratic role of Karl“ (ebd., S. 32), „feudal co-operation“ und „the crusading vow“ (ebd., S. 33). So ist Karl weniger der unmittelbare „focus“ als vielmehr der „filter“ von Treue und Gefolgschaft, die für alle Mitglieder seines Herrschaftsverbands gegenüber Gott bestehen (ebd.). Die Herstellung von Karls Autorität bzw. Geltung funktioniere sowohl über „theocratic sacrality“ als auch „the ‚willing‘ consent of vassals“ (ebd.). Ashcroft bezeichnet diesen Komplex treffend als „politico-religious-allegiances“ (ebd.), die durch die Ratsversammlung in Spanien erstmals herausgefordert würden (vgl. ebd.). Die Bedeutung der „Einmütigkeit der Fürstengemeinschaft“ sowie Karls Drängen auf Einmütigkeit betont auch Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft, S. 89 f. u. 96 f. Ich gehe im Folgenden von den Deutungen Ashcrofts aus, präzisiere sie allerdings durch eine detaillierte Analyse der Szenen, vergrößere die Materialbasis durch den Einbezug von Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl und erweitere damit den diachronen Horizont der Interpretation. 182 So werden sich auf feudal-vasallitischer Ebene in der Beratung der Christen und am prominentesten im Streit zwischen Genelun und Roland Friktionen im Herrschaftsapparat zeigen, die auf Sippenbindung, Herkunft, persönlicher Ehre, Machtstreben und Konkurrenz basieren (vgl. Kapitel III.3.2). 183 Amplifizierende Züge oder Vereindeutigungen, die der Stricker und das Buch vom heiligen Karl vornehmen, werden fortlaufend und zur besseren Lesbarkeit bisweilen in den Anmerkungen kommentiert. Zur Untersuchung des Verhältnisses von Rolandslied und Karl in diesem Textabschnitt vgl. u. a. Brandt, erniuwet, S. 32–73, der auch die (ältere) Forschung diskutiert. Eine Übersicht über

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Nach Erhalt der Erlaubnis, die spanischen Heiden missionieren zu dürfen, verharrt Karl die Nacht über in ebenjener Gebetshaltung, in welcher ihm der Engel erschienen ist: Karl an sîneme gebete lac / unz an den morgenlîchen tac (RL 65 f.). Die empfangene transzendente Sendung wird dann vom inspirierten Herrscher an seinen innersten Zirkel loyaler Gefolgsleute transferiert, wodurch die Struktur seiner Herrschaft offengelegt wird – Karl wechselt aus der Gebetshaltung in einen Modus immanenter, politischer Kommunikation.184 Er versammelt im Rolandslied also unmittelbar seine zwölf besten hêrren, / die die wîsesten wâren (RL 67 f.) und als Heerführer fungieren.185 Systematisch und vollständig stellt der Stricker die Zwölf vor und spricht die Rezipienten direkt an: ich sage iu wie sie hiezzen (K 486).186 Die Aufzählung ist hierarchisch organisiert in Orientierung an der (verwandtschaftlichen und affektiv-emotionalen) Nähe der Figuren zur zentralen Herrscherfigur Karl sowie an ihrer Bedeutung für die Handlung – die ersten und wichtigsten drei sind die folgenden:187 siner swester sůn Růlant was zů dem besten bechant, unde Olivyer der geselle sin, unt der erzpischof TFrpyn (K 487–490).

Im Buch vom heiligen Karl wird die affektiv-emotionale Intensität der Bindung zwischen Karl und Roland – die bereits in der Engelsbotschaft göttlich verfügt wird – gegenüber dem Strickerschen Text gesteigert, denn Roland ist [d]er erst und der

den Ablauf des Kreuzzugsaufrufs und der Beratung bietet Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft, S. 81 f. Für ausgewählte Literatur zu den Beratungen siehe den Forschungsüberblick in Kapitel II.1.1. Vgl. zu den folgenden Beratungsszenen auch Müller, Ratgeber und Wissende, S. 127 f. u. 133–138 sowie Schütte, Sitzen – Stehen – Schweigen – Sprechen (mit weiterer Literatur). 184 Die Kommunikation ist freilich weiterhin eine gemischte, denn ein politischer Diskurs ist in den Texten nicht vom alles durchdringenden religiösen Diskurs zu trennen, womit dennoch nicht eine Spannungsfreiheit zwischen beiden behauptet werden soll. 185 Beim Stricker und auch im Buch vom heiligen Karl ruft Karl seine Getreuen nicht unmittelbar nach dem nächtlichen Gebet zu sich, denn die Engelsbotschaft, deren Ordnung die Erzählung folgt, schaltet vor die Spanienmission den Erwerb der Königs- und Kaiserherrschaft (vgl. Kapitel III.2.2). Das Buch vom heiligen Karl ist um eine geraffte Darstellung der Kreuzzugsvorbereitungen bemüht, arbeitet mit anaphorischen Verweisen, um Kohärenz herzustellen und Dubletten in der Erzählung zu vermeiden, denn die Engelsbotschaft habe den Verlauf der Handlungen bereits vorgezeichnet: Als nun vorgseit ist [...] als da vor geschriben stât [...] (BhK 27,15 u. 18 f.). 186 Das Rolandslied schiebt die namentliche Vorstellung der Zwölf Paladine an späterer Stelle ein (vgl. RL 107–132). Dabei findet Turpin keine Erwähnung und insgesamt werden nur neun Paladine genannt (vgl. dazu auch Kartschoke, Kommentar, S. 636). Das Buch vom heiligen Karl gibt an, dass die Helden deshalb namentlich vorgestellt werden, weil sie Gegenstand der späteren Erzählung sind: Nun wirt man hernach ouch von ynen sagen. Und darumb wil ich sy nemen (BhK 27,21 f.). 187 Nach Ukena-Best liegt hier „eine klare, himmlisch verbürgte Reihenfolge“ von Roland, Olivier und Turpin vor, dagegen handle es sich in der Chanson de Roland und im Rolandslied um eine „nebenordnende Konstellation der ebenbürtigen Helden“ (dies., Providentia Dei, S. 355).

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aller liepst (BhK 27,22).188 Die Aufzählung in Strickers Karl wird beschlossen mit der Versicherung der Loyalität der Zwölf dem Kaiser gegenüber: di zwelf helde gůte / geswichen dem keyser nie, / swi grozziu not in ane gie (K 504–506).189 Für eine gelingende Herrschaftspraxis und Handlungsfähigkeit Karls ist die Integrität der zwölf Helden entscheidend und alle Texte nehmen eine Qualifizierung dieses innersten Zirkels vor.190 Die Zwölf bilden den Schutz des Kaisers: si wâren helde vil guot. / der keiser was mit in wol behuot (RL 75f.); und der Stricker fügt gegenüber dem Rolandslied ihre wichtige beratende Funktion hinzu, denn Karl unternimmt nichts, ohne die Zwölf zuvor um Rat gefragt zu haben.191 Damit ist die Schutzmannschaft zugleich ein Beraterstab für Karl: ze hůte unt ze ratgeben (K 515). Die Harmonisierung der Gesinnung Karls (sinen můt; K 513) und seiner Zwölf, die von Gott mit allen Tugenden ausgestattet sind, garantiert das Gelingen von Beratungen.192 Neben Mut, Tapferkeit und Loyalität gegenüber Karl verbindet des keiseres vorvechten (RL 73) der Wunsch, als Märtyrer für Gott zu sterben und so das Himmelreich zu gewinnen: sine gerten nichtes mêre / wan durh got ersterben, / daz himelrîche mit der martire erwerben (RL 80–82). Sie riskieren bereitwillig Leib und Leben für Gott, sollte diese arbeit (K 520) auch not (K 524) bedeuten, und diese Bereitschaft teilen sie in dem Maße, dass ratfragen (K 518), das auf ihre Teilnahme an Unternehmungen im Dienste Gottes abzielt, obsolet wird. Damit wird eine christliche Axiologie in besonderer Orientierung an einer Kreuzzugs- und Märtyrerideologie befestigt, die Karl und seine Zwölf Paladine in Einmütigkeit verbindet. Karl unterbreitet dann im Rolandslied – und ähnlich beim Stricker –193 sein Vorhaben unmissverständlich und gibt es dezidiert als seinen ‚Willen‘ aus: Der keiser in dô sagete, daz er willen habete, die haidenscaft zestœren, die cristenhait gemêren. (RL 83–86)194

188 Vgl. zur göttlich vorbestimmten Bindung zwischen Karl und Roland ebd., S. 348. 189 Diesen Gedanken unerschütterlicher triuwe formuliert bereits das Rolandslied: daz wâren die ûzerwelten zwelfe, / die dem keisere nie geswichen ze neheiner nôt. / si dienten im alle unz an den tôt (RL 130–132). 190 Vgl. K 507–524. 191 Vgl. K 509. Die Zwölf Paladine übernehmen auch im Buch vom heiligen Karl eine schützende und beratende Funktion für Karl und weichen nie von seiner Seite (vgl. BhK 27,20). 192 Dadurch mag es im späteren Verlauf der Erzählung umso bemerkenswerter erscheinen – weil aus dem bisher Gesagten nicht ableitbar –, dass die Beratung über das Angebot Marsilies und die Entsendung eines Boten nicht funktioniert. Die Routinen im Herrschaftsapparat greifen nicht und die besondere Herausforderung Karls wird durch das Auseinandertreten von Ideal und praktischer Umsetzung markiert. 193 Do sagte in Karl zehant, / daz er di heiden und ir lant / ze gote wolde cheren (K 525–527). 194 Der Binarismus, der im Zuge von Karls Klage um die Idolatrie der Heiden entwickelt wurde (vgl. Kapitel III.2.2), wird hier im Parallelismus antithetisch verdichtet, wobei eine gewaltsame Missionierung (zestœren) mit dem Schwert zusehends Gestalt annimmt.

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Im Buch vom heiligen Karl erklärt Karl – anders als im Rolandslied und beim Stricker –, dass es nicht sein, sondern ‚Gottes Wille‘ ist, der den Paladinen aufträgt, mit Karl die Heidenmission durchzuführen: und daz gocz wil wer, daz sy daz mit im sölttent thuon (BhK 27,35 f.). Damit werden im Zürcher Buch Karl und seine Paladine gleichermaßen koordiniert und unterstehen gemeinsam dem Willen Gottes, wodurch weniger eine immanente Hierarchie zwischen Herrscher und Beherrschten, sondern vielmehr eine Unterscheidung entlang der kategorialen Trennung von Transzendenz und Immanenz vorgenommen wird: Gott als Auftraggeber auf der einen und die beauftragten Menschen, Karl und seine Paladine, auf der anderen Seite. Durch diese Wendung bezieht Karl im Rahmen einer christlichen Axiologie aus der Auftraggeberschaft Gottes für die Mission legitimierendes Potential. Eine weitere Modifikation zwischen den Bearbeitungen liegt in der Bezeichnung des Unternehmens: Der Stricker ersetzt das zestœren der ‚Heidenschaft‘ im Rolandslied durch cheren (K 527) und auch das Buch vom heiligen Karl spricht von bkeren (BhK 27,35). Damit wird der gewalttätige Aspekt der Mission deutlich zurückgenommen und verklärend in geradezu konfliktfreie Bekehrung transformiert. Karl deutet mit der darauffolgenden Ansprache der Zwölf als mîne vil lieben (RL 87) auf ihre intime wie affektive Bindung und zieht dabei Register geistlicher Rede.195 Er adressiert sie als seine Brüder und zielt besonders auf ihre freiwillige Gefolgschaft,196 ihr Interesse am Gehorchenwollen im Lichte göttlicher Prädestination: Nun sind willig mit dem, daz gott mit üch gdacht hatt und von üch begert (BhK 28,4 f.). Die Konstitution dieser Gemeinschaft wird auch darin fassbar, dass sich Karl mit den Angesprochenen im Gottesdienst verbunden sieht: nû scul wir gote dienen (RL 88). Darin liegt ein – mag er auch nur rhetorisch sein – egalisierender Zug (wir), der streng hierarchischer traditionaler Herrschaft zuwiderläuft und Unterwerfung unter Gottes Willen ausdrückt.197 Es scheint damit ein ganzheitliches Modell der Gefolgschaftsbindung auf, das inneres und äußeres Interesse am Gehorchenwollen einschließt, und weniger auf die Führerschaft Karls als auf die Unterwerfung unter Gottes Willen auf Anraten Karls ausgerichtet ist. Folgerichtig legt Karl dar, dass das Leben der zwölf Getreuen eine Gabe Gottes sei, die dieser nun einfordere. Die Mission sei eine Ehre und Grund zur Freude und der Lohn für die Hingabe des Lebens in Gottes Dienst eine küninclîche crône / in der marterære chôre

195 vil lieben: „Die Anrede ist typischer Predigteingang (carissimi), die ihr Vorbild in den apostolischen Apostrophen ha[t] (1. Petr. 2,11 u. ö. [...])“ (Kartschoke, Kommentar, S. 634). Karls Ansprache hat „alle Kennzeichen zeitgenössischer Kreuzzugspredigten“ (Bastert, Helden als Heilige, S. 270 [mit weiterführender Literatur]). Vgl. für die biblischen Bezüge, die auch Karls Rede und die Szene insgesamt durchziehen, hier und im Folgenden u. a. Richter, Kommentar, S. 36–105 und Backes, Bibel und Ars praedicandi, S. 31–38 u. 45–56. 196 Vgl. K 530; BhK 27,36–28,1. 197 Vgl. dazu sowie zur theologisch und politisch virulenten Diskussion der Legitimation bewaffneter Mission Mertens, Religiöse Identität, S. 77–86.

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(RL 103 f.).198 Die Logik des Martyriums von Gabe (Leben) und Gegengabe (ewiges Leben im Himmelreich) stellt das motivationale Handlungsprinzip der christlichen Kämpfer dar und Karl versteht die Heidenmission somit als Gnadengeschenk für die Zwölf.199 Im Strickerschen Text erklärt Karl den Zwölf ihre Rolle im göttlichen Heilsplan und legt ähnlich wie im Rolandslied dar, dass sie zur Bekehrung der Heiden prädestiniert sind: ‚[...] ir sFlt daz liut becheren, got wil iuch da mit erwerben. nů enlat ez niht verderben, des got mit iu gedaht hat. daz ist min bete unde min rat.‘ (K 546–550)

Die Gefolgschaft der Zwölf hängt schließlich von ihrer Gottgefälligkeit ab – Karl zu folgen, heißt Gottes Plan zu erfüllen. Über diese Verschränkung und dadurch, dass Karl den göttlichen Auftrag als Gnadengeschenk, als ‚Charisma‘ im Wortsinn, an seine Paladine weitergibt, erscheint er als Heilsvermittler bzw. -ermöglicher für seinen Herrschaftsapparat.200 Es besteht für Karl auch kein Beratungsbedarf und die Zwillingsformel daz ist min bete unde min rat (K 550) unterstreicht die Dringlichkeit seines Anliegens. In diesem Sinne berät Karl die Zwölf in Gottes Namen zu ihrem Heil; er gibt damit Rat und holt ihn nicht ein.201 Zur Authentifizierung seiner Forderung – diese Handlung findet sich nicht im Rolandslied – präsentiert Karl den Zwölf die göttlichen Instrumente, Horn und Schwert, die der Engel ihm mit der Bestim-

198 Vgl. zur „Krone des ewigen Lebens“ Kartschoke, Kommentar, S. 635 (mit weiterführenden Literaturhinweisen). 199 Vgl. RL 87–106. Vgl. zur Perspektive von Gabe, Gewalt und Heil bzw. einem Gaben- und Opferdiskurs im Rolandslied auch Oswald, Gabe und Gewalt, S. 251–316; bes. S. 263–299. 200 Vgl. K 542–545. 201 Klein leitet daraus ab, dass dem Stricker – anders als Konrad – nicht an „einer weiteren Diskussion des Verhältnisses von Zentralmacht und Partikulargewalten [...] gelegen“ ist (dies., Strickers ‚Karl der Große‘, S. 301). Konrads Karl holt den Rat und das Einverständnis der Zwölf Paladine und ihrer Vasallen für den Kreuzzug ein, anders Strickers Karl: „Nichts von solchem feudalrechtlichen Procedere beim Stricker. Kein Kaiser ersucht hier seine Fürsten förmlich um Rat. Die als Beweismittel vorgelegten Kampfrequisiten, Schwert und Horn, genügen, um spontane Zustimmung auszulösen [...]“ (ebd., S. 302). Kleins Deutung des Strickerschen Karl greift in diesem Punkt aber zu kurz, denn sie übersieht, dass sich dem Zeigen der Requisiten das förmliche Abfragen der Zustimmung der Zwölf Paladine und ihrer Vasallen in Verbindung mit der Beteuerung, dass alle Gefragten ‚freiwillig‘ und ‚gern‘ dem Kreuzzugsaufruf folgen, anschließt. Und dadurch, dass feudalrechtliche Formalitäten – in Ergänzung des Requisiten-Zeigens – eingehalten und mit ‚Zwanglosigkeit‘ wie Freiwilligkeit durchdrungen sind, gewinnt das Unternehmen Karls an kollektiver Stabilität und Legitimität. Vgl. zur Kritik an der Position von Klein auch Wolf, ‚Sante Karle‘, S. 109.

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mung übermittelt hat, beide zu zeigen, um Gefolgschaft herstellen zu können.202 Der Engel unterrichtet Karl über die Provenienz und die Bestimmung der Dinge.203 Gott selbst habe das Schwert DFrndart (K 368) und das Horn Olivant (K 372) getauft: di namen gab er in beiden (K 373). Beide Dinge werden Karl nicht ungerichtet übermittelt, denn Roland soll sie für seinen (Martyriums-)Kampf in Spanien erhalten.204 Die Übermittlungskette ist vertikal geschichtet, denn die heiligen Dinge werden stufenweise aus der Transzendenz in die Immanenz überführt und verfügbar gemacht. Durch ihren Empfang wird Karl als Anführer des religiös fundierten Sozialverbands sakral legitimiert. Neben Schwert und Horn übermittelt der Engel Karl auch einen Handschuh: nim ouch disen hantschůch (K 382).205 Wie die beiden anderen Gegenstände soll auch er einem göttlich determinierten Zweck dienen, denn Karl soll ihn (erst) dann anziehen, wenn er in daz lant (K 384), dem Kontext nach ist Spanien gemeint, aufbricht. Alle drei Objekte sind mit der Spanienmission verknüpft, die als besondere ‚Heilszeit‘ markiert wird – Roland erwirbt dort als Märtyrer mithilfe Durndarts und Olifants das ewige Leben und Karl bemüht sich dort um den Erwerb der ewigen chrone (K 386), die er dann als Lohn im Himmelreich tragen wird. Karl wird im Namen Gottes mit irdischer Herrschaft belehnt und er handelt als Stellvertreter Gottes im Zuge der Spanienmission.206 Nun gelingt es ihm zur Erfüllung dieses göttlichen Auftrags, wie vom Engel angekündigt, mit dem Zeigen der Dinge Gefolgschaft herzustellen, denn den Objekten eignen eine beglaubigende Evidenz

202 Die Chanson de Roland und das Rolandslied bieten weder die ausführliche Engelsbotschaft noch die Übermittlung von Schwert, Horn und Handschuh durch den Engel. Das Buch vom heiligen Karl übernimmt die Passage aus Strickers Karl ohne wesentliche Modifizierungen und stellt die Dinge so vor: Und ich bring dir hie ein schwert und ein horn, daz solt du dinem nefen Ruolanden geben, der sol daz ewig leben verdienen und wirt vil der hyeden ertöden mit disem schwert, daz da heist Durndatt, und daz hât dir gott gsant und dis horn heist Elifant. Und die namen hat in got geben. Und wer von disem schwert wund wirt, der muos sterben. Wen daz Ruolant dis horn wird blassen, so verlierent di * ir sinn. Und nim ouch disen hentschuoch und stos in an din hand und far ân sorg in die land umm und umb und erwirb daz ewig leben, won daz will dir got geben (BhK 20,23–32). 203 Vgl. K 364–386. 204 Der Einsatz Durndarts und Olifants wird in der späteren Narration genauso erfolgen, wie der Engel es ankündigte. Vgl. zum Schwert Durndart und zum Horn Olifant im Rolandslied auch Fridtjof Bigalke: Der Klang der Dinge. Über heldische Exorbitanz im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr u. a. Unter Mitarbeit von Ulrich Hoffmann. Berlin/Boston 2016 (LTG. 9), S. 185–207, hier S. 194–197 (mit weiterer Literatur). 205 Vgl. Louis Carlen: Art. Handschuh. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1909 f. Zur Übergabe von Handschuhen im Rolandslied insgesamt Karl-Ernst Geith: Der lîp wandelt sich nach dem muot. Zur nonverbalen Kommunikation im Rolandslied. In: Sprachkontakt, Sprachvergleich, Sprachvariation. Festschrift für Gottfried Kolde zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Kirsten Adamzik, Helen Christen. Tübingen 2001, S. 171–183, hier S. 181 f.; Zatloukal, Zwischen Kaiser und Fürst, S. 725–730; Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 198 f. 206 Vgl. Hammer, Erinnerung und memoria, S. 246.

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und ein persuasives Potential, unmittelbar die Bereitschaft der Zwölf auszulösen und Karl somit bei seiner Aufgabe zu unterstützen: unde hulfen im sin arbeit / vil gerne vol bringen (K 556 f.). Im Buch vom heiligen Karl heißt es etwas ausführlicher und expliziter noch als beim Stricker: Und do sy sachend daz wortzeichen an dem schwert und an dem horn, do glopten sy, im gehorsam und willig czsin in allen synen sachen und nöttent und arbeiten. Und do Karlus ir willikeit sach, do was er fro. (BhK 28,7–10)

Karl wird über die Acheiropoieta als göttlich begnadeter und damit charismatisierter Führer ausgewiesen; die Objekte gelten als Nachweis bzw. Manifestation geglückter Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz. Die Zwölf können diese kommunikative Bedeutung der Objekte entziffern – sie sind ‚Wortzeichen‘, d. h. Zeichen, die anstelle von Worten stehen – und sind daraufhin zu Karls Freude gehorsam und willig. Beim Stricker helfen die Zwölf ‚sehr gern‘ (K 557) und artikulieren damit ein affektiv verstärktes Interesse am Gehorchenwollen.207 Der Stricker begründet die Motivation zur Gefolgschaft zweifach:208 si tatenz beidiu durch got / und durch der liebe gebot, / die si ze dem kFnege haten (K 559– 561).209 Also um Gottes Willen und aufgrund der (Nächsten-)Liebe, die sie mit Karl verbindet, folgen die Zwölf Karl. Auch im Rolandslied sind sie bereit, ihr Leben als

207 Als Bedeutungen für mhd. gern(e) finden sich ‚dem Wunsche gemäß‘, ‚bereitwillig‘, ‚mit Vergnügen‘ (BMZ s. v.). 208 Vgl. K 558. 209 „Gottesliebe und Liebe zum König setzen feudalrechtliche Praxis außer Kraft; förmlicher Versicherungen der Gefolgschaft bedarf es unter diesen Umständen nicht mehr. Homogenität der ‚mentalen Infrastruktur‘ ist vielmehr allgemeines Kennzeichen der Hofgesellschaft“, so Klein (Strickers ‚Karl der Große‘, S. 302). Zwar erscheint Strickers Karl mit seinen Zwölf Paladinen über eine homogene ‚mentale Infrastruktur‘ verbunden und harmonisiert, doch wird die Gefolgschaft wie im Rolandslied durchaus förmlich versichert, wie ein Vergleich beider Texte zeigt (s. o.). Zudem ist Karl zwar mit den Zwölf Paladinen und ihren Gefolgsleuten verbunden, doch garantiert dies keine Spannungsfreiheit im Herrschaftsverband wie die anschließenden Konflikte in der Beratung über das Unterwerfungsangebot Marsilies zeigen werden (vgl. Kapitel III.3.2). Klein nimmt weiterhin an, dass sich die Gefolgsamkeit der Beherrschten in Strickers Karl nicht wie im Rolandslied aus dem „demütigen Gehorsam gegen Gott“ ergibt, worin „das alte heroische Element der Gefolgschaft und das alttestamentlich-christliche Gebot des Gottesgehorsams zusammen[fallen]. Der Stricker ersetzt den Gehorsam durch die Gottesliebe“ (ebd., S. 308). So ist die Verbindung zu Gott damit „Minne“ und „der Gehorsam wird allein in bezug auf die weltliche Autorität explizit gemacht“ (ebd., S. 308, Anm. 30). Die Verse K 559–561 (s. o.) stützen diese Deutung nicht, denn hier scheint die Bindung an Karl auf liebe zu beruhen und von fehlendem Gehorsam gegenüber Gott ist keine Spur (vgl. K 663 f.). So heißt es von den Kreuzfahrern, daz si got gehorsam / alle waren dirre verte (K 606f.). Die Gefolgschaft ist auf Gott und Karl zugleich bezogen und auch Gehorsam und Minne richten sich auf beide – Gottesund Karlsdienst sind verschränkt (vgl. zur doppelten Motivierung auch Hammer, Erinnerung und memoria, S. 246 f.). Wenn man schließlich die Weisungsverhältnisse sub specie aeternitatis pointiert, dann gilt „Gott als eigentlicher Führer der Christen“ (von der Burg, Strickers Karl der Große, S. 297).

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Märtyrer für Gott ebenso zu lassen wie als loyale Kämpfer für Kaiser Karl.210 Die Verschränkung von Gehorsamspflicht dem Kaiser und Gott gegenüber bedeutet eine Deckung von Karls- und Gottesdienst – Herrschafts- und Sakralitätsstruktur korrelieren.211 Die Bindung zwischen Herrscher und Gefolgsleuten bzw. zwischen Karl und den Zwölf basiert hier damit nicht auf traditionalen Legitimationsgründen, etwa auf einer Machtfülle des Herrschers, auf einem Vasallitätsverhältnis oder auf einer Abwägung zwischen Belohnung und Strafe angesichts der Aufgabe, sondern zum einen auf kollektiver unbedingter Unterwerfung unter Gottes Gebot und zum anderen auf einer affektiv-emotionalen Beziehung zu Karl, der als Herrscher eine charismatische Gemeinde zusammenhält: Martyriumsbereitschaft, Streben nach Mission, Tugendhaftigkeit und Loyalität einen die Gemeinschaft, die hierarchisch wenig profiliert ist. Karl erscheint als primus inter pares, als Interpret göttlicher Weisungen und Empfänger göttlicher Instrumente zur Umsetzung göttlichen Willens auf Erden. Die Dispersion seines herrscherlichen Charismas, das auf besonderer Nähe zur Transzendenz gründet, verläuft über die Zwölf und schlägt sich im Folgenden in Durchdringung der hierarchisch organisierten lehnsrechtlichen Bindungsstruktur nieder. So beschließt Karl im Rolandslied, das Horn und Schwert an dieser Stelle nicht kennt, seine Ansprache mit der Bitte um die Meinung der Zwölf: iuweren willen west ich gerne (RL 106).212 Die Frage nach dem ‚Willen‘ der Zwölf deckt Karls herrscherliche Praxis bzw. die weiteren Bindungsstrukturen in seinem Herrschaftsapparat auf. Auch im Strickerschen Karl wird trotz der Evidenz- und Gefolgschaftsstiftung durch die göttlichen Acheiropoieta eine Beratung mit den Vasallen angestoßen.213 Insofern ist die Einfügung von Horn und Schwert als persuasive Mittel keine Alternative zur Gefolgschaftsabfrage auf den verschiedenen vasallitischen Ebenen, sondern eine Ergänzung, die Karls göttlichen Auftrag, seine Gottgesandtschaft, sein Charisma noch deutlicher hervortreten lässt. Auf diese Weise wird abermals die auf Freiwilligkeit und Konsens jenseits von Zwang basierende Unterwerfung der Beherrschten unter Karls göttlich fundierte, sakrale Herrschaft demonstriert. Denn ein jeder der Zwölf befragt seine (Lehns-)Männer auf ihre Gefolgsbereitschaft: die hêrren sprâchen ir man (RL 134). Dabei wird durchaus ein Versagen des Gehorsams zugestanden,214 sodass die vasallitische Bindung, die als Herrschaftsverhältnis grundsätz-

210 Vgl. auch RL 80–82 u. 130–132. 211 So fließt die „Treuepflicht gegenüber dem König mit dem Glaubensgehorsam gegenüber Gott“ zusammen und „jeder Verstoß gegen die Untertanenpflichten muß daher umgekehrt eine infidelitas bedeuten“ (Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 108). 212 An der Zustimmung zur Heidenmission kann eigentlich nicht gezweifelt werden, da der Erzähler bereits von der unbedingten Loyalität und Martyriumsbereitschaft der Paladine berichtet hat (vgl. RL 76–82). 213 Vgl. K 562–568. 214 Vgl. RL 138 f.

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lich Momente von Pflicht und Zwang aufweist, hier als auf freiwilliger Zustimmung basierende Verbindung imaginiert wird.215 Das Buch vom heiligen Karl macht die intendierte ‚Zwanglosigkeit‘ deutlich, wan sy welttent nieman zwingen (BhK 28,15).216 Die Einmütigkeit und kollektive Kohäsion des Herrschaftsapparats zeigt die Antwort der Befragten in allen Bearbeitungen eindrücklich: si redeten alle gemeinlîchen, / si ne wolten in niemer geswîchen (RL 141 f.).217 Beim Stricker heißt es: Do sprachen di helde gůte / mit einem gemeinem můte (K 569 f.). Und daran orientiert formuliert das Buch vom heiligen Karl: Do antwurt in manig tussig, alle uss einem mund: ‚Wir wellend williklich wagen den lib [...]‘ (BhK 28,17–19). Ein gemeinsamer můt (K 570) verbindet die Gefolgsleute: Familie und Besitz wollen sie zurücklassen und ihr Leben aufs Spiel setzen. Und das tun sie aus eigenem Antrieb, freiwillig (willechliche; K 574) aus dem Streben nach ‚ewigem Ruhm‘ unter Absehung von irdischen Gütern.218 Es ist wie bei den Zwölf eine kollektiv geteilte und damit verbindlich gemachte christliche Axiologie und Ethik, die zur freiwilligen Gefolgschaft motiviert. Das Interesse am Gehorchenwollen wird so intrinsisch begründet, frei von Zwang und Sanktionen. Die Gemeinschaft um Karl ist beseelt von einem Geist und ihre Ausrichtung auf Transzendentes ist dabei Kennzeichen ihrer Charismatisierung.219 Schließlich wird die Bereitschaft zur Teilnahme an Karls Mission per Eid förmlich verbindlich gemacht: daz lobeten si mit ûfferhabener hant (RL 145).220 Nach diesem Schwur und dem Bekenntnis der kollektiven Einmütigkeit schärft Roland den Männern nochmals ein, sich der hervart (RL 148) aus eigenem Willen, freiwillig (williclîche; RL 149), anzuschließen. Er demonstriert die Notwendigkeit der Fahrt: ir mFzet alle entsamt dar (K 592), wobei eine Differenzierung der Motivationen gezeigt wird: Wer willichlich[] (K 583) fährt, der steht unter Gottes Schutz und ist mit sælde (K 584) begabt; wer nicht aus eigenem bedingungslosem Willen fährt, der soll materiell beschenkt werden, damit er vil willechliche / mit den andern

215 Es handelt sich um die realhistorisch verbürgte Praxis, das Lehnsverhältnis aufkündigen zu dürfen (vgl. Brandt, erniuwet, S. 105 f.), die hier vom Text aufgegriffen und in die Herrschaftsinszenierung eingefügt wird. 216 Die Passage ist im Buch vom heiligen Karl vom ‚Willen‘ dominiert und fokussiert dadurch das Interesse am Gehorchenwollen in besonderem Maße: Und sunderlich die XII besantten die, die under inen warend, und sprachent ze inen: wel durch gocz willen mit inen wellend faren, die söllen inen daz sagen, wele aber daz nit wellent thuon, die sottent es ouch sagen, wan sy welttent nieman zwingen, won es treff allein die er gocz an und den glouben cze beschirmen. Und wer ouch der sold nit zitlich guot, sunder daz ewig leben (BhK 28,11–17). 217 Vgl. zu den Versen RL 141 f. auch Richter, Kommentar, S. 59. 218 Vgl. BhK 28,18. 219 Es „sind, da der Herrscher als Hauptperson figuriert, auch alle anderen Personen – unabhängig von ihren sonstigen Beziehungen – dem Herrscher und dem gottbefohlenen Werk zugeordnet“, folgert Ukena-Best mit Blick auf die Engelsbotschaft samt Herrschaftsauftrag und die vorliegende Gemeinschaftskonstitution (dies., Providentia Dei, S. 353). 220 Vgl. auch K 580 f.

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III Literarische Herrschersakralität

var (K 590 f.).221 Die zweite Option, das Reisen aus Gründen der materiellen Bereicherung, wird im Dienste einer rhetorischen Strategie angeführt, um den religiösen Eifer der Kreuzfahrer jenseits irdischer Güter zu betonen und die geltende Axiologie zu profilieren.222 In einem gemeinschaftlichen, egalisierenden Sprechakt – Do sprachen si alle geliche, / beide arme unde riche (K 595 f.) – verkünden die Gefolgsleute ihre Motivation: Sie fühlten sich nämlich ihren Lehnsherren so verbunden (si wæren in selben so holt; K 597), dass sie ihnen folgen und zudem jede Strapaze auf sich nehmen wollen, um das ewige Leben zu gewinnen.223 Loyalität, affektive Bindung und Streben nach dem Seelenheil sind so die treibenden Kräfte für die Gefolgsleute, am Kreuzzug teilzunehmen – das gesamte Kollektiv erscheint im Besonderen in seiner Ausrichtung auf den Erwerb des ewigen Lebens durch Gottesdienst geeint. Nachdem sich Karl der freiwilligen Gefolgschaft seiner Vasallen sicher ist, werden Boten zur Verkündung der starke[n] niumære (RL 161) entsandt. Die Nachricht vom Kreuzzug stößt auf Zustimmung und wird ausnahmslos begrüßt:224 frî oder eigen / si kêrten ûf die heiden. / si zeichenôten sich mit criuzen (RL 165–167).225 Karls Missionsauftrag führt zur Entvölkerung der Länder: diu lant bestuonten aller maist lære (RL 162). Die rasche Handlungsabfolge mündet nach der Versammlung derer, die durh got ûz komen wâren (RL 177), in einer szenisch eindrücklichen Konfiguration: der keiser ûf eine hœhe trat, / er sprach [...] (RL 180 f.) – der Kaiser spricht von einer Anhöhe zum Kreuzfahrerheer und die Anklänge an das Neue Testament als imitatio der Bergpredigt Jesu nach Mt 5,1 sind nicht zu überhören. Im Buch vom heiligen Karl befindet sich der Herrscher als primus inter pares im Zentrum der Gemeinschaft: do stuond Karle an ein höhe enmitten under sy und sprach (BhK 28,37 f.). Wer seinen Besitz, seine Familie und sein Leben für Gott hingibt, der gewinnt zum Lohn das Himmelreich, predigt Karl in Anlehnung an Mt 19,29: nû scul wir frœlîche / im opheren den lîb (RL 190 f.). Der Kaiser begründet und beschwört die soeben zusammengekommene (Schicksals- und Interessen-)Gemeinschaft, formuliert ihre Grundsätze und Ideale und insistiert schließlich auf einem kollektiv-egalisierenden ‚Wir‘, das in jedem der folgenden Verse präsent ist:

221 Im Buch vom heiligen Karl adressiert Karl die Gefolgsleute als ‚Brüder‘ und erklärt – wie Konrad und der Stricker –, dass jene, die wiliklich unnd luterlich (BhK 28,22 f.) mitfahren, wenn sie sterben, mit dem ewigen Leben und wenn sie überleben, mit ‚weltlichem‘ Lohn bedacht werden. 222 Vgl. zum Verzicht auf irdischen Lohn und zur Einmütigkeit der Christen im Rahmen der Heerfahrt auch Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 305. 223 Wie das Rolandslied und Strickers Karl inszeniert auch das Buch vom heiligen Karl den unbedingten Willen der Kreuzfahrer: Do antwurt im rich unnd arm, edel und unedel, sy woltend umb keinen zitlichen sold ir leben wagen, aber umb das ewig leben woltend sy sich wagen und ir aller bests tuon (BhK 28,28–30). 224 Vgl. RL 163 f. 225 Vgl. auch K 612–620.

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daz er unsich entphâhe, nû scul wir heim gâhen an unser alt erben. daz wir hie erwerven, daz wir daz himelrîche bûwen, des scul wir gote wol getrûwen. (RL 193–198)

Damit erfolgt hier die Konstitution von Herrschaft und Gefolgschaft paradoxerweise durch Verzicht auf die Unterscheidung von Herr und Beherrschten, um Zusammenhalt herstellen, das Eigene formulieren und Einigkeit im Vertrauen auf Gott suchen zu können. Es gilt, gemeinsam das Himmelreich zu errichten und hie, im Diesseits, wird der Grundstein dafür im Kampf für Gott und die Christenheit gelegt. Es geht in Karls Rede offensichtlich nicht um Taktisches, sondern um die konsolidierende Formung des Herrschaftsverbands zu einer einmütigen Gemeinschaft.226 Der Stricker betont die Brüderlichkeit der Gemeinschaft stärker als das Rolandslied.227 Auch im Buch vom heiligen Karl begrüßt Karl die Kreuzfahrer als Brüder: „Ir aller liebsten brüeder, ir sond got und mir wilkomen sin, alle die, die das crücz an sich genomen hand und har komen sind in brüederlicher andacht [...]“ (BhK 28,38–29,2). Karl besetzt gemeinsam mit Gott die Position des Willkommenheißenden, wodurch der Dienst der Kreuzfahrer abermals zugleich als Karls- und Gottesdienst erscheint. Karl empfiehlt dem Heer, sich willenklich in gocz gewalt (BhK 29,7 f.) zu begeben und seinem Willen zu folgen. Dann klagt er die Heiden wegen der Angriffe auf die Christenheit an und ruft zum Einschreiten gegen diese Vergehen auf: Nû wil ich iu clagen, / die heiden tuont uns grôzen scaden (RL 199 f.). Auslöser seines Missionswunsches war zuvor das frevelhafte Leben der Heiden in Spanien;228 insofern erschien sein Wunsch, Gott möge die Seelen der Heiden retten, als frommer Wunsch der Barmherzigkeit. Die hier vorliegende zweite Klage vor dem Kreuzzugsheer differiert von jener ersten Klage vor Gott recht stark: An die Stelle der Sorge um die Seelen verirrter Heiden tritt ein rechtliches Argument für ein christliches bellum iustum. Die Heiden seien Aggresso-

226 Karls Rede hat der Forschung bisweilen Schwierigkeiten bereitet. So nimmt Tomasek Anstoß daran, dass es sich nicht um eine militärisch-taktische Feldherrnansprache, sondern um eine Predigt handelt (vgl. ders., Ambivalenz eines Kaisers, S. 151 f.). Es scheint der Darstellung an dieser Stelle jedoch gerade nicht daran gelegen zu sein, Karl als Feldherrn zu zeigen, der militärisch-taktische Instruktionen anführt, sondern vielmehr die Gemeinschaftskonstitution und damit Wirksamkeitsbedingungen von Karls Herrschaft ins Bild zu setzen. Zum Kreuzzugsaufruf und zu Karls Rede, die in höchstem Maße an der Predigt orientiert ist, siehe Richter, Kommentar, S. 65–86. Kompakt verhandelt den Einfluss der Predigten Bernhards von Clairvaux und Urbans II. auf die Darstellung im Rolandslied Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Studien zu ihrer Geschichtlichkeit und dichterischen Wirklichkeit. Berlin 1960, S. 79–98. 227 Vgl. K 628 u. 630. 228 Vgl. RL 31–37.

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ren, welche die christliche Gemeinschaft (uns; RL 200) auf vielfältige Weise brutal angriffen: Sie rauben, brandschatzen, zerstören Gotteshäuser, entführen und foltern Menschen, opfern sie schließlich ihren Götzen: daz ist des tiuveles spot (RL 206), klagt Karl an.229 Er imaginiert plastisch ein akutes Bedrohungsszenario, das die Gemeinschaft der Christen zusammen- und durch die Differenz nach außen abschließt – sie werden hier als „Abwehrgemeinschaft“ aktiviert.230 Karl zieht alle Register, damit an der Schuld der Heiden ebenso kein Zweifel bestehen kann wie an der Notwendigkeit, den Mitchristen zu Hilfe kommen zu müssen, und arbeitet auf diese Weise an einer belastbaren causa bellandi.231 Abermals wird der freie Wille, der freiwillige innere Entschluss der Kreuzfahrer zur Gefolgschaft von Karl, angesprochen: ich bit iuch alle durch got, / daz irz williclîchen tuot (RL 212 f.).232 Karl gibt den Kreuzfahrern Instruktionen in Form eines Tugendkatalogs, der bei Beachtung zum erwünschten Ziel führen wird: welt ir alsô vol komen, / sô vindet ir dar ze himele daz lôn / der êwigen genâden (RL 219–221). Seine Rede bzw. Predigt wird wiederum mit einem gemeinschaftlichen Sprechakt goutiert: si sprâchen alle: ‚âmen‘ (RL 222). Karls herrscherliches Handeln schafft die sozialen und kommunikativen Rahmenbedingungen für das Auftreten einzelner Figuren. So ergreift Bischof Turpin – einen neuen Erzählabschnitt einleitend – als geistlicher Experte das Wort und lässt dem ausziehenden Kreuzfahrerheer seinen Segen zuteilwerden: Vf stuont der erzebiscof. / er zierte wol des keiseres hof (RL 223 f.). Turpin adressiert die Kreuzfahrer als heilige[] pilgerîme (RL 245) und fordert zur rechten christlichen Haltung auf, die dem angehefteten Kreuzzeichen entspricht. Explizit ermuntert der Bischof zur imitatio Christi: die sîne vil süeze lêre hât er uns vor getragen. wir sculn ime allez nâch varen, lernen den selben ganc. (RL 254–257)

Turpin beschließt das Prozedere von Eucharistie, Lobgesängen und der Beschwörung christlicher Tugenden:233 welt ir mit guoten werken nâch gên, / sô stê über iuch

229 Vgl. zur Klage Karls über die ‚autotelische‘ Gewaltanwendung der Heiden mit weiterer Literatur zur Stelle Spreckelmeier, Geronnenes Erzählen. 230 Quast, Bedrohte Christenheit, S. 31. 231 Nellmann ermittelt insgesamt drei Motivationen für den Kreuzzug: „1. Gottes Auftrag zur Heidenbekehrung bzw. -bekämpfung, 2. Sehnsucht nach dem Gottesreich, 3. Schutz der christenheit. All diese Themen werden bis zum Schluß durchgehalten“ (ders., Die Reichsidee, S. 174). 232 Vgl. zur Bedeutung von willeclîche im spirituellen Sinne von bona voluntas Richter, Kommentar, S. 78 f. 233 Vgl. RL 258–269.

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der gotes segen (RL 271 f.).234 Nach dieser spirituellen Einschwörung, die an der Stabilisierung der jüngst konstituierten charismatischen Gemeinschaft der Christen weiterarbeitet, setzt sich das Kreuzfahrerheer in Bewegung: Daz her sich dô braite. / die cristen sich bereiten, / si sigen vaste in diu lant (RL 273–275).235 Der darauffolgende Kampf um Tortolose endet wie folgt: die heiden sich dô ergâben / in des keiseres genâde. / dô toufte si der biscof (RL 349–351) – Tod oder Taufe, das sind die Optionen der Heiden. Ablauf und Konturen der Eroberung von Tortolose stehen exemplarisch für das Vorgehen Karls in Spanien insgesamt: Alsô wonete dô dâ der keiser in Yspaniâ vil harte gwaldeclîche in allem dem rîche. (RL 361–364)236

Damit zeigt sich die Kampf- und Glaubensgemeinschaft um Karl bzw. das Kreuzfahrerheer unter der Führung Karls als funktionsfähiges Gebilde, das militärisch erfolgreich ist. Darin liegt zugleich der Beweis für Karls erfolgreiche Herrschaft und seine Befähigung zur Formung und Kontrolle eines Herrschaftsverbands, der durch Einmütigkeit zusammengehalten wird und über diese Harmonisierung moralisch und spirituell, auf Brüderlichkeit wie Freiwilligkeit abhebend und auf Transzendenz bezogen als charismatische Gemeinde angesprochen werden kann. Charismatische Herrschaft ist oben (Kapitel II.2.1) eingeführt worden als jener Typ, dessen Legitimitätsgeltung „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“237 ruht. Hier offenbart Karl mit Unterstützung von Roland und insbesondere Turpin göttliche Ordnung, die zum einen die Beherrschten (und den Herrscher) verbindet und zum anderen über die Heidenmission als außeralltägliche Handlung, die außeralltäglicher Hingabe bedarf, hergestellt werden soll. Überdies ist Karl den Rezipienten zuvor als von Gott begnadete und zur Herrschaft

234 Wie im Rolandslied spricht Turpin auch in Strickers Karl und im Buch vom heiligen Karl als geistlicher Experte zum Kreuzfahrerheer, preist das Kreuz Christi, ruft zu Christusnachfolge und wechselseitiger Gottesminne auf (vgl. K 671–726). Und do nun bischof Turpin dis red hat gethan, do antwurtend sy alle, sy werind bereit ze leben oder ze sterben; was gott wölt, das wöltend ouch sy (BhK 29,35–37). 235 Vgl. K 727–729. 236 Vgl. K 875–877 u. BhK 31,19 f. Was in den sechs Jahren in Spanien geschah, wird das Buch vom heiligen Karl zwar nicht darstellen, doch es finden sich später Berichte anderer Taten Karls – der Text reflektiert die Auswahl des Gebotenen, weiß um Lücken und mögliche Desiderate der Rezipienten: Und was stritten und wunders er in den VI jaren tett, die stand hye nut geschriben. Man fint villicht hernach geschriben etliche strit und wunder, den Karlus by sim leben gethan hat (BhK 31,28–30). 237 MWG I/23, S. 453. Vgl. auch WuG5, S. 124.

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berufene Figur vorgestellt worden, weshalb er als charismatischer Herrscher erscheint, der durch Gottesnähe (Engelsbotschaft, Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz), ‚Heldenkraft‘ (Vorgeschichte in Strickers Karl und im Buch vom heiligen Karl) sowie ‚Vorbildlichkeit‘ (ideale Herrschaft und herrscherliche Tugenden sowie religiöse Vortrefflichkeit) ausgezeichnet ist. Schließlich steht noch allein Saragossa: im chunde niemen wider stan, / unze er chom ze Sarragoz (K 906 f.).238 Diese letzte Hürde ist auch topographisch markiert, wodurch der Dualismus zwischen Christen und Heiden im Handlungsraum fortgeschrieben wird: Ein Gebirge – auf dessen anderer Seite ein küninc vil vermezzen, / geheizen Marsilie (RL 380 f.), herrscht –, daz sûmte die cristen (RL 384). Damit wird nach Abschluss der Vorgeschichte jene Konfliktsituation geschaffen, welche den Ausgangspunkt und den medias in res-Textbeginn der Chanson de Roland bildet. Die finale Auseinandersetzung ist angelegt und die Boten Marsilies werden Karl mit dem Unterwerfungsangebot aufsuchen, über das die in Einmütigkeit harmonisiert scheinende Gemeinschaft und ihr Herrscher in Konflikt geraten werden. Der Kreuzzug in Spanien verläuft demnach entlang von zwei Konfliktlinien:239 einer äußeren auf den Feind, die Heiden, bezogenen und einer inneren unter den Mitgliedern des Herrschaftsverbands Karls. So wird die charismatisch durchformte Herrschaft in Yspania (RL 362) auf die Probe gestellt. Ihre Gefährdung erfordert herrscherliche Bewährung und diese ist im Weberschen Modell Bedingung für die Aufrechterhaltung des Charismas. Das Funktionieren von Karls Herrschaft(sapparat) nach mehrjährigem Krieg wird im Rat und besonders durch den Konflikt zwischen Roland und Genelun einer schweren Prüfung unterzogen, wie im Folgenden zu zeigen ist.

238 Vgl. BhK 31,30 f. 239 Ukena-Best gliedert den Strickerschen Karl insgesamt nach einer ‚Konflikthandlung‘, die drei Stadien durchläuft und sich primär am religionspolitischen Verhältnis zwischen Christen- und Heidentum orientiert. Das erste Stadium der ‚Scheinharmonie‘ meint ein religiöses ‚Nebeneinander‘ der Konfliktparteien: „Das Christentum existiert neben dem Heidentum. Diesen Zustand repräsentiert die Jugendgeschichte Karls“ (dies., Providentia Dei, S. 339 [Hervorhebung übernommen]). Im folgenden Stadium der ‚Disharmonie‘ besteht ein ‚Gegeneinander‘ in der Form von „Christentum gegen Heidentum“ (ebd. [Hervorhebung übernommen]). Dieses Stadium ist gegliedert in zwei Konflikte, nämlich in die Schlacht zwischen Christen und Heiden und in den Verrat Geneluns. Das dritte und letzte Stadium besteht schließlich in einer ‚Harmonie‘, in der das „Christentum ohne Heidentum“ existiert (ebd., S. 340 [Hervorhebung übernommen]) und der Verrat an Genelun gerächt ist. Von dieser ‚Konflikthandlung‘ sind die in der vorliegenden Arbeit zur Rede stehenden sozialen Prozesse innerhalb von Karls Herrschaftsverband freilich betroffen, denn sie bilden ihr Umfeld, obgleich sie durchaus mit eigenen Verläufen und Stadien profiliert sind.

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3.2 Charismatische Herrschaft als konsensuale Herrschaft? Kollektive Einmütigkeit durch individuelle Desintegration Das vorangehende Kapitel hat die Konstruktion des Herrschaftsapparats sowie die Bildung der Gefolgschaft und charismatischen Gemeinschaft um Karl behandelt und unter den Begriff der Einmütigkeit gestellt. Damit sind die Harmonisierung des Strebens der Christen, ihre Ausrichtung auf das Seelenheil und damit die Transzendenz, ihre Lösung von der Immanenz, ihr freiwilliges Interesse am Gehorchenwollen gegenüber Gott und Karl, ihre Loyalität gegenüber Karl und die Zwanglosigkeit seiner Herrschaft auf Basis einer christlichen Axiologie eingefasst worden. Die Gesandtschaft der Heiden unter Führung des Blanscandiz, welche den Willen zur Unterwerfung unter Karl und die Bereitschaft zur Taufe vorgibt, führt nun zur politischen Aktivierung des Herrschaftsapparats, indem Karl zur Beratung lädt.240 Die scheinbar unerschütterlich in Einmütigkeit verbundene charismatische Gemeinschaft offenbart in der politisch-diplomatischen Verhandlung ihre fragile Struktur, die durch eine der egalisierenden Einmütigkeit widerstrebende agonale Aushandlung von Meinungsverschiedenheiten im Spiegel von Rang- und Ehransprüchen sichtbar wird – ein Spannungsfeld von ‚Konsens und Konkurrenz‘ also.241 Eine Untersuchung der Ratsversammlung kann offenlegen, wie die Texte Karls Herrscherhandeln inszenieren, seine herrscherlichen Kompetenzen performativ ausloten und schließlich seine herrscherliche Geltung auch über figurale Rede bestimmen.242 Be240 Die sog. Hoflager- oder Heerlagerszene, in der Karl die Botschaft des Marsilie empfängt, wird an späterer Stelle, in Kapitel III.4.2, behandelt. 241 Damit bewegen sich die Ratsversammlung und der Konflikt zwischen Roland und Genelun in jenem Spannungsfeld von individuellem Ehrstreben, das Althoff für die realhistorische Praxis ausmacht: „Die Gefolgs- und Lehnsleute waren nämlich zwar alle an den König gebunden, untereinander konkurrierten sie dagegen häufig. Zu Recht ist daher in der neuesten Forschung betont worden, dass in den Herrschaftsverbänden Konflikt und Konkurrenz zumindest so charakteristisch seien wie Eintracht und Konsens. Nicht gegenseitige Unterstützung war nämlich das oberste Prinzip der Lehns- und Gefolgsleute eines Herrschers, sondern eher der eifersüchtige Kampf um die größte Huld dieses Herrschers, von der Einfluss und Aufstieg weitgehend abhingen. Und diese Auseinandersetzung wurde nicht als Kampf von Einzelpersonen geführt, sondern brachte häufig die gesamten Netzwerke gegeneinander in Stellung. Nicht umsonst hatte im späteren Mittelalter die Wertung Konjunktur: Bei Hof, bei Höll“ (Gerd Althoff: Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Darmstadt 2016, S. 320 f.). Althoff bezieht sich hier auf Patzold, Konsens und Konkurrenz, bes. S. 102 f. 242 Das vorliegende Kapitel greift nur einige ausgewählte Aspekte der Ratsversammlung auf und beleuchtet die Darstellung Karls (auch in Figurenrede), die (drohende) konfliktgeladene Fragmentierung des Kollektivs und Karls Drängen auf Einmütigkeit. So wird ein herrschafts- und religionssoziologischer Fokus auf die Nahbeziehungen und die Kommunikation im Herrschaftsverband gelegt. Es liegt eine Vielzahl an detaillierten und die Ratsversammlung in ihren historisch-politischen und rechtlichen Bezügen eingehend aufarbeitenden Studien vor: Vgl. zum Rat als Herrschaftsinstrument die auch für die folgenden Überlegungen grundlegende Studie von Althoff, Kontrolle der Macht, für einen interdisziplinär anschlussfähigen Problemaufriss siehe die Einlei-

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sonders in Konflikten zeigt sich, wie der Herrscher seinen Herrschaftsapparat kontrolliert und Strategien zum Schutz oder zur Wiederherstellung seiner Kohäsion verfolgt. Und gerade die Beratung ist dafür prädestiniert als Ort, „an dem immer wieder die Alternative von Konsens oder Konflikt zur Debatte stand“.243 Damit sind ebenso das gemeinschaftliche wie das herrscherliche Charisma zur Bewährung aufgerufen. Die Analyse geht im Folgenden vom Rolandslied aus und führt signifikante Abweichungen oder Erweiterungen des Strickerschen Karl und des Buchs vom heiligen Karl in der Inszenierung der Ratsversammlung gegenüber dem Text des Pfaffen Konrad auf. Wichtige und neue Akte des herrscherlichen Handelns setzen – wie auch in der Chanson de Roland und bereits bei Karls erster Beratung244 – mit dem Beginn eines neuen Tages, am frühen Morgen, ein: Aines morgenes vruo / der keiser vorderôte dar zuo / biscove unde herzogen (RL 891–893).245 Karl ruft seinen Rat zu sich an den Hof und seine herrscherliche Kardinaltugend der Weisheit scheint auf, wenn er in sînen wizzen (RL 895) die Fürsten vor sich Platz nehmen lässt. Damit wird eine weitere szenisch eindrückliche Konfiguration dargeboten, die herrscherliches Handeln in exemplarischen Situationen vorführt – man denke an Karls Gebet und die Engelserscheinung, an seine Ansprache an das Kreuzfahrerheer von einer Anhöhe aus sowie an seine Erscheinung in der Hoflagerszene. Karl kommen bei der Beratung der Vorsitz, das Recht der Bestimmung des Verhandlungsgegenstandes – „[w]as beraten wurde, bestimmte der König oder Herr“246 –, das grundsätzliche Rederecht

tung ebd., S. 11–33; zum Rolandslied u. a. Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 108–210; Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 172–210; vgl. für die Chanson de Roland u. a. Erich Köhler: „Conseil des barons“ und „jugement des barons“. Epische Fatalität und Feudalrecht im altfranzösischen Rolandslied. Heidelberg 1968 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. 4). Köhlers Deutung der Ratsszene mit Blick auf Karl und Genelun im Vergleich zwischen der Chanson de Roland und dem Rolandslied des Pfaffen Konrad diskutiert Karl Stackmann: Karl und Genelun. Das Thema des Verrats im Rolandslied des Pfaffen Konrad und seinen Bearbeitungen. In: Poetica 8 (1976) S. 258–263). Weitere ausgewählte Literatur ist bereits im Forschungsüberblick in Kapitel II.1.1 aufgeführt. 243 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 16. Althoff erwägt, „inwieweit die Konsensherstellung nicht auch oder sogar vorrangig eine Möglichkeit der Herrschaftsintensivierung durch Beteiligung wichtiger Kräfte aus Adel und Kirche schuf. Zugespitzt kann man fragen, ob nicht eine Herrschaft, die auf Rat und Hilfe (consilium et auxilium) aufruht, derjenigen überlegen ist, die sich hauptsächlich auf Befehl und Gehorsam verlässt. Erstere hat sicher komplexere Entscheidungswege zu bewältigen; erreicht aber durch angemessene Partizipation auch ein höheres Maß an Engagement“ (ebd., S. 31). Dieser Aspekt ist auch mit der Herrschaftslegitimation verknüpft, denn ‚Engagement‘ korrespondiert mit Legitimitätseinverständnis und dieses diskutieren die literarischen Texte auch anhand der Ratsversammlung um Karl. 244 Vgl. ChdR 163 sowie RL 65 f. 245 Eine Übersicht über die Struktur der Beratungsszenen bietet Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft, S. 81–86. 246 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 18.

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und die Moderation zu. Er fasst zunächst die inhaltlichen Kernpunkte der Botschaft Marsilies zusammen und nimmt im nächsten Schritt seine Ratgeber in den Blick: der heilige geist gebe iu den muot, / daz ir daz beste dar ane getuot (RL 899 f.). Die Chanson de Roland bietet diesen Wunsch des Herrschers nach einer inspirierenden Steuerung der Beratung durch den Eingriff der Transzendenz in die Herzen der Beratenden nicht; das Rolandslied führt damit das Thema der auch in ihrem Transzendenzbezug harmonisierten Einmütigkeit des Herrschaftsapparats fort. Auf diese Weise wird politisches Herrscherhandeln wie die Einberufung und Durchführung einer Ratsversammlung spirituell durchdrungen. Karl wird gegenüber dem versammelten Rat nochmals deutlich: nû râtet, waz wir dar umbe tuon. nû râtet gotes êre. jâ ne suoche ich nicht mêre, wan daz wir sô gedingen, daz wir gotes hulde gewinnen. (RL 906–910)247

Die Anapher nû râtet unterstreicht die Dringlichkeit des guten Rates der Fürsten und nimmt sie in die Verantwortung. Zugleich werden die von Karl festgelegten Beratungsmaximen deutlich: Zur ‚Ehre Gottes‘ und um ‚Gottes Gnade‘ zu gewinnen, möge geraten und gehandelt werden. Karl bindet sich zugleich an den Rat der Fürsten, indem er sich und die ihm gegenübersitzende Gruppe der Berater im wir als Handlungsgemeinschaft zusammenschließt – nû râtet, waz wir dar umbe tuon (RL 906). Ebenso wie in der ersten Beratung über die Vorbereitung der Spanienmission und im Zuge der Konstitution der charismatischen Gemeinschaft spielt Einmütigkeit – als Ideal im Rahmen einer Beratung: Einstimmigkeit – eine zentrale Rolle im herrscherlichen Handeln.248 Karl scheint also sein Schicksal in die Hände der Ratgeber zu legen und auf persönliche Machtausübung entgegen einem Konsens zu verzichten.249 Mit der Ausrichtung der Ratsversammlung auf Konsens fügt sich die literarische Darstellung in das Bild, das die mediävistische Geschichtswissenschaft von dieser Praxis

247 Vgl. K 1522–1526. Im Buch vom heiligen Karl fügt der Herrscher ganz im Sinne der christlichen Axiologie hinzu, dass er es – anders als Genelun und die Heiden – nicht auf irdische Güter abgesehen habe: „Nun rattend mir: was ist mir ze thuon, das wir göcz er damitt bejagend? Ich beger keines zitlichen guocz“ (BhK 36,3–5). Vgl. zu Karls Desinteresse an Irdisch-Materiellem und dem schwierigen Umgang mit Marsilies Gaben auch Oswald, Gabe und Gewalt, S. 258–275. 248 Vgl. dazu Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft, S. 89–91 u. 96 f.; vgl. Ashcroft, ‚Si waren aines muotes‘, S. 34 f. Das Ideal der Einmütigkeit ist jedoch nicht auf Dauer zu stellen, denn „Genelun’s treachery has to happen, for the story (and ultimately the divine purpose) requires it“ (ebd., S. 35). 249 Vgl. Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft, S. 91. Dennoch wird Karl, wie der Fortgang der Handlung zeigen wird, durchaus eigene Interessen in die Versammlung einbringen und in ihren Ablauf steuernd eingreifen.

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zeichnet: „Konsensherstellung durch Beratung ist als Schlüsselbegriff für das Verständnis mittelalterlicher Königsherrschaft inzwischen anerkannt, was mit der Formel von der ‚konsensualen Herrschaft‘ auf den Begriff gebracht worden ist.“250 Der Herrscher wird dadurch der alleinigen Verantwortung für etwaige Konsequenzen dieser Beratungen entbunden. Dagegen wird der Rat als elementares Funktionsgebilde in seinem Herrschaftsapparat besonders in die Pflicht genommen und die Beratung vor Karl zugleich eine Beratung vor Gott.251 Die profane Praxis wird so – davon zeugen RL 899 f. und RL 906–910 – von Karl expressis verbis in einen transzendenten Kontext und damit in ein höheres Bezugssystem überführt. Das Entscheiden wird in seiner Bedeutung aufgeladen, inspiriert durch den Heiligen Geist und gemessen an göttlicher Richtschnur.252 Auf Karls Eröffnung folgen die Beiträge der Ratgeber, deren Abfolge nach der (emotionalen) Nähe zum Kaiser, ihrem Rang und ihrer Bedeutung für die weitere Handlung, also ihre künftigen Verdienste in der Schlacht, gegliedert ist.253 Als erster Redner springt – das geschieht mehrfach im Zuge der Beratungen – Roland auf, vermutet eine List Marsilies und betont seine Kampf- und Opferbereitschaft.254 Als zweiter Redner tritt sein Gefährte Olivier vor Karl. Er gebärdet sich weniger aufbrausend als sein Vorredner und seine höfliche Anrede gibt einen ersten Aufschluss über die figurale Sicht auf Karls herrscherliche Geltung: er sprach ‚getorste ich nu wole, hêrre, sô riete ich dir dîn êre. dû hâst gote wole gedienet –

250 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 25. Althoff bezieht sich auf den einschlägigen Beitrag: Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. 251 Durch die Einfügung der gesonderten Beratung gegenüber der Chanson de Roland distanziert Konrad nach Ashcroft Kaiser Karl von der Entscheidung, die in einer Kette von Ereignissen in der „tragedy of Roncevaux“ mündet (ders., ‚Si waren aines muotes‘, S. 37). Tomasek hingegen liest die Ratsversammlung als Dokumentation Karls herrscherlichen Scheiterns (vgl. ders., Ambivalenz eines Kaisers, S. 162–166): „Beschrieben wird so eine innenpolitische Friktion, die eine politisch schwache Kaiserfigur nicht verhindert und vielleicht auch nicht erkennt“ (ebd., S. 166). 252 Die Platzierung der Ratsversammlung in einem transzendenten Bedeutungshorizont weist die Chanson de Roland nicht auf. Das Drängen Karls auf Einmütigkeit bietet sie: Par cels de France voelt il del tut errer (ChdR 167), wenn auch nicht so eindrücklich wie das Rolandslied. 253 Die Abfolge der Redner ist anders als in der Chanson de Roland arrangiert (Roland, Ganelon, Naimes): Im Rolandslied sprechen zuerst die drei Karl am nächsten stehenden und in der Schlacht in der Ebene von Roncesvalles loyal bis zum Tod zusammenhaltenden Paladine Roland, Olivier und Turpin. Die auf Einmütigkeit basierende Struktur des Herrschaftsverbands Karls wird darüber offengelegt und der innere Zirkel der Zwölf nochmal in einen innersten Kreis um Karl gegliedert. Auf diese Weise nimmt das Rolandslied eine Unterordnung oder Rangordnung vor; Ukena-Best erkennt dagegen eine Nebenordnung der Helden (dies., Providentia Dei, S. 355). 254 Vgl. RL 930–936.

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diu cristenheit ist mit dir gezieret – sam daz durchsotene golt [...].‘ (RL 939–943)255

Ebenso wie im Prolog wird nun auch in der Narration Karls Gottesdienst bzw. Dienst an der Christenheit erkannt und lobend hervorgehoben, hier in figuraler Rede. Dadurch werden identische Zuschreibungen auf verschiedenen Ebenen des Textes und aus verschiedenen Perspektiven vorgenommen, die durch wechselseitige Bestätigung ein Herrscherporträt Karls über die Situativität einzelner Szenen hinaus zeichnen. Die Integrität des Kaisers und seine im Inneren wie im Äußeren in Einklang stehende Idealität werden über die Goldmetaphorik artikuliert.256 Karls Ehre ist anvisiert und wird in allen Beratungsszenen, sowohl auf Christen- als auch auf Heidenseite, angesprochen – Ratgeben erscheint so auch als Arbeit an der Ehre des Herrschers. Der Stricker erweitert die oben zitierte Rede Oliviers um den Aspekt der Christusminne, die Karl zuteilwird. Denn iuch hat geminnet sere / unser herre der heilige Christ (K 1576 f.), wodurch eine intimisierte Beziehung zwischen Transzendenz und Immanenz imaginiert wird; Karls Gottesnähe zeichnet ihn religiös aus und führt zur Sakralisierung seiner Herrschaft. Im Fortgang seiner Rede bezeichnet Olivier ihn als rœmische[n] voget (RL 960) und beschwört den entstehenden guten Ruf, die Fama Karls und der Christen, wenn sie nun erbarmungslos, mutig und erfolgreich gegen die Heiden vorgehen werden.257 Ebenso wie Roland argumentiert auch Olivier mehrfach über die zentrale Bezugsgröße cristenheit und den Erhalt ihrer êre (RL 965). Dann erhebt sich der Erzbischof Turpin und ergreift das Wort.258 Sein Redegestus verbindet ihn mit Karl, da er die ersten Worte zunächst an Gott richtet – wie Karl dies beispielsweise in der Interaktion mit den Boten Marsilies tut –259 und dann den höchstrangigen Anwesenden, Karl, adressiert:260 ôwol du voget von Rôme, /

255 Olivier adressiert den Kaiser beim Stricker ähnlich wie im Rolandslied (K 1574 f.). Im Unterschied zum Rolandslied, wo Olivier Karl duzt, ihrzt er ihn, wodurch die hierarchische Grundierung der Kommunikationssituation abgebildet wird. 256 Diese Metaphorik findet im Rolandslied Verwendung, wenn es um den wahrhaftigen inneren Wert gegenüber falschem äußeren Schein geht. Besonders prominent ist die Charakterisierung Geneluns, wenn es heißt: ‚under scœnem schade liuzet, / ez en ist nicht allez golt, daz dâ glîzet‘ (RL 1958 f.); vgl. hierzu Klein, Die Farben der Herrschaft, S. 70–76; vgl. für die biblischen Referenzstellen zum Sinnbild des Menschen als geläutertes Gold Kartschoke, Kommentar, S. 662. 257 Zur Bedeutung von ‚Vogt von Rom‘ vgl. Nellmann, Die Reichsidee, S. 176: Der genaue Bedeutungsumfang der Bezeichnung sei zwar nicht zu klären, doch erkennt Nellmann darin die Aufgabe Karls als defensor ecclesiae (vgl. ebd.); vgl. zur Bezeichnung ‚Vogt von Rom‘ und seinen politischen Implikationen auch Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 121–130. 258 Vgl. summarisch zur „Rolle der geistlichen Berater“ im Zuge mittelalterlicher Beratungspraxis Althoff, Kontrolle der Macht, S. 311–319. 259 Vgl. RL 775–782 sowie Kapitel III.4.1. 260 Vgl. RL 970–972.

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jâ nîgent dîner crône / alle cristen künige (RL 973–975). Zum zweiten Mal wird Karl als ‚Vogt von Rom‘ angesprochen, wobei eine geistliche Instanz, der Papst, als Oberhaupt im Text ausgeblendet wird, und Karls Herrschaft im christlichen Raum damit absolut und konkurrenzlos gesetzt wird: Es handelt sich um eine umfassende Domination, denn Karl unterstehen alle christlichen Könige und er selbst befindet sich in keinem irdischen Subordinationsverhältnis.261 Turpin ermutigt dann die Fürsten – ir wâre gotes helede (RL 980) –, einigt und spiritualisiert die ratgebende Versammlung, indem er – ebenso wie Karl – die Einmütigkeit beschwörend ein gemeinsames von Gott gestecktes, in der Transzendenz liegendes Ziel formuliert: daz ist daz hîmelrîche. deist uns allen gemeinlîche ûf gestecket ze eineme zile. dar loufet, swer der wile. (RL 987–990).

Der Bischof streicht die Nähe des christlichen Kollektivs zum Gottesreich heraus, uns nâhet daz gotes rîche (RL 994), mahnt aus diesem Grund eindringlich zur raschen, das Heil betreffenden und damit profane Diplomatie transzendierenden Entscheidung, nû bedenket iuch in zît (RL 1008), und lehnt schließlich das Angebot Marsilies ab. In Strickers Karl adressiert Turpin den Herrscher wie im Rolandslied als vogt von Rome (K 1611) und modifiziert die Aussage, dass sich alle christlichen Könige Karls Krone unterwerfen, wie folgt: ‚ir mFgt wol immer wesen vro, daz iu got der eren gan, daz er iuch fFr alle man geziert hat so schone, daz iu und iwerre chrone alle christen kFnege nigent unt dehein iwer lop verswigent, weder spâte noch frů, unde iu gerne dienent dar zů [...].‘ (K 1612–1620)

Turpin betont die besondere göttliche Gnade, die Karl zuteilgeworden sei und die ihm die Ehre verschaffe, vor allen Menschen so schone (K 1615) ausgezeichnet zu sein, dass er als mächtiger Herrscher gilt. Karls Herrschaft wird damit als Gnadengeschenk Gottes ausgewiesen – das macht das Rolandslied an dieser Stelle nicht explizit – und die Unterwerfung aller christlichen Könige ist eine zweifach bezogene, denn sie unterwerfen sich zum einen Karl (iu [K 1616]), also seiner Person, und zum

261 Vgl. zu Karls universalem Herrschaftsanspruch Nellmann, Die Reichsidee, S. 176.

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anderen seiner Krone (iwerre chrone [K 1616]), also seinem Amt. Dadurch wird ausgedrückt, dass Karls herrscherliche Würde nicht allein in der Krone bzw. Krönung begründet ist, sondern sich ebenso der Vortrefflichkeit seiner Person verdankt, deren Vortrefflichkeit wiederum der Gnade Gottes entspringt: Karls Herrschaft, die in der Immanenz, auf Erden, differenziert ist in einen – mit Kantorowicz gesprochen – persönlichen, sterblichen Körper und einen überpersönlichen, unsterblichen Amtskörper, findet ihren nicht-differenzierten, harmonischen Ursprung in Gottes Gnade, in der Transzendenz.262 Als erweiternde Akzentuierung fügt der Stricker die Lobpreisung Karls durch die christlichen Könige (dehein iwer lop verswigent; K 1618) sowie ihre umfassende Dienstbereitschaft hinzu: Die christlichen Könige dienen[] Karl nämlich gerne (K 1620). Das Interesse am Gehorchenwollen und die freiwillige Unterwerfung unter die Herrschaft Karls nehmen hier die bei der Konstitution der charismatischen Gemeinde in Einmütigkeit bemühte Formel des ‚gern‘ oder ‚(bereit)willigen‘ Dienens wieder auf; sie stehen in Kongruenz zu Webers Bestimmung ‚echter‘ Herrschaft. Karls Herrschaft wird als eine zwang- und reibungslose vorgestellt, sodass auch die ihm unterworfenen Christenherrscher Tag und Nacht seines Lobes voll sind, so die panegyrische Imagination der Strickerschen Turpin-Figur. Das Buch vom heiligen Karl bietet eine andere Turpin-Rede: „Edler vogt von Rom, gott hatt vil seld und erennen an üch geleitt, und darumb stuond üch wirsser, den ein andren, wo ir todtind, das wider gott und üwer er wer [...]“ (BhK 36,35–37,2). Der Text setzt hier gegenüber den Prätexten ganz eigene Akzente, allein die Anrede als ‚Vogt von Rom‘ ist geblieben; die preisenden Worte sind fort, Karls Herrschaft und ihre Reichweite werden nicht benannt. Zwar wird Karls besondere Gottesnähe, die sich in göttlich zugeteilter sælde und ‚Ehre‘ niederschlägt, erwähnt, jedoch als Anlass zur Mahnung zu besonderer Mäßigung und Einhaltung des Fünften Gebotes genommen. Die Verpflichtung, die sich aus dem Tötungsverbot ergibt, aus dem Munde

262 Vgl. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs; siehe exemplarisch für Kantorowicz’ Argumentation ebd., S. 44–46 u. 208 f. sowie das „Geleitwort“ von Josef Fleckenstein ebd., S. 9–18. Zur Rezeption von Kantorowicz’ Ansatz vgl. Karina Kellermann: ‚Die zwei Körper des Königs‘. Zu Bedeutung und Funktion der leiblichen Herrscherrepräsentanz in Geschichte, Kunst und Literatur des Mittelalters. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses. Bd. 5. Hrsg. von Peter Wiesinger u. a. Bern u. a. 2002, bes. S. 65–67. Kellermann spricht von einem „physisch-historischen“ und einem „politisch-symbolischen“ Körper (ebd., S. 65), der in Verbindung zur Christologie (una persona, duae naturae) steht, und führt den Einfluss dieser Zwei-Körper-Theorie auf Kunst, Geschichte und Literatur im Mittelalter vor. Vgl. zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Kantorowicz und der Anwendung des Zwei-Körper-Modells auch dies.: Die körperliche Inszenierung des Königs. Ein mittelalterliches Kulturmuster. In: KulturPoetik 11 (2001), S. 159–181 sowie dies.: Königliche Hoheit. Leibliche Herrscherrepräsentanz in der deutschen Literatur des Mittelalters aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Mediävistik als Kulturwissenschaft? Hrsg. von Hans-Werner Goetz. Berlin 2000 (Das Mittelalter. 5,1), S. 123–139.

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eines Geistlichen läuft den Anforderungen an einen auch im Kampf tatkräftigen und damit tötenden Herrscher zuwider.263 An die Stelle eines Karlspreises, wie ihn das Rolandslied und Strickers Karl bieten, tritt damit im Buch vom heiligen Karl eine zwar auszeichnende, aber vor allem mahnende Karlsansprache durch Turpin.264 Eine Gefolgschaftsversicherung, die auf die Kohäsion des Herrschaftsverbands zielt und die Geltung der zugrunde liegenden christlichen Axiologie bestätigt, spricht anschließend Naimes von Baiern aus: verhenget es uns mîn trechtîn, sô schult ir vile gewis sîn, daz wir iu niemer geswîchen, noch ze neheiner nôte entwîchen. (RL 1025–1028)

Er lehnt Marsilies Angebot ab, mahnt zu einer Offensive gegen die Heiden, verweist auf Gottes Entscheidungsgewalt und seine fromme Diensthaltung:265 sîn gebot ervülle ich iemer gerne (RL 1046). Der Herzog und sein Gefolge sind zum einen als gottesfürchtige Kämpfer ausgewiesen, die martyriumsbereit dem Plan Gottes folgen und zum anderen als dienstbereit gegenüber Karl. Ihre Bereitschaft, dem Herrscher in jeder Not zu folgen, machen sie abhängig von Gottes Gebot. Damit ist, bevor Genelun das Wort ergreifen und die Beratung ins Stocken geraten wird, ein weiterer Baustein zur grundsätzlich einmütigen Verfassung des Herrschaftsverbands beigetragen. Der Erzähler legt daraufhin die ahnungsvolle Reaktion des Kaisers offen: Der keiser geswîgete vile stille. er marcte ir iegelîhes willen. getruobet was sîn gemüete, iedoch vertruogenz sîne michele güete, daz er sich es nicht erzeigete. daz houbet er nider neigete, daz sîn nieman innen wart. (RL 1047–1053)

263 Das von Bastert für die Karlsfigur angebrachte Modell der Kombination zweier verschiedener Königstypen kann hier erklärend angeführt und übertragen werden. So gibt der Bearbeiter des Zürcher Buchs – zumindest an dieser Stelle – dem Typus des friedfertigen, von Gewalt abstehenden roi souffrant den Vorzug gegenüber einem kämpfenden und tötenden athleta Christi (vgl. Bastert, Helden als Heilige, S. 278). 264 Ganz klar ist die Funktion dieser Änderung nicht, möglicherweise ist sie ein Reflex der Sünden Karls. Denn er tötet nach der Darstellung des Zürcher Buchs seinen Sohn ohne Prozess und verstößt damit gegen das genannte Gebot – die Sündenepisode würde so in der anschließenden Spanienmission nachhallen. Vgl. zur Tötung des Sohnes BhK 26,11–27,5 und zu Karls Sünden Kapitel III.5. 265 Vgl. RL 1042.

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Karl bewertet und kommentiert die Redebeiträge der Ratgeber nicht, sondern hüllt sich in Schweigen.266 Aufmerksam lauscht er den einzelnen Willensbekundungen und nimmt sich diese zu Herzen, sodass sein ‚Gemüt getrübt‘, in Trauer versetzt wird. Aus ‚großer Güte‘ offenbart er sich seinen Ratgebern jedoch nicht und hält sein Haupt, das die inneren Zustände des Kaisers äußerlich zu spiegeln vermag, gesenkt.267 Niemand außer Gott und der Erzähler (und damit die Rezipienten) erhält Einblick in die Verfassung des Herrschers, der sich in den Verhandlungen nach gesprächstaktischem Kalkül verhält. Das Gemüt des Herrschers fungiert als Seismograph für Spannungen und Konflikte in seinem Herrschaftsapparat, im Fall der Ratssituation antizipiert es Dissens und ausbleibende Einmütigkeit wie Einstimmigkeit. Indem sich die drohende Fragmentierung des Kollektivs im Herzen, im innersten emotionalen, zur Kommunikation mit der Transzendenz befähigten und mit dem Heiligen Geist durchdrungenen Organ abzeichnet,268 erscheint das Herrscherherz als Zentrum der affektiven, auf Einmütigkeit basierenden Bindungen zwischen Karl und seinem Kollektiv. Dann bittet der Bischof St. Johannes demütig um Aufmerksamkeit: sîne venige er suochte / zuo des keiseres vüezen (RL 1070 f.). Er möchte die Heiden missionieren, denn diu toufe ist daz aller hêrest, / daz solte sîn daz aller êrest (RL 1085 f.). Die Taufe muss Johannes zufolge Grundstein – und nicht Ergebnis – einer Unterwerfung Marsilies sein, sie ist die Bedingung für alle weiteren Verhandlungen. Dieser Vorschlag zur Mission wird, sofern es dem Kaiser beliebe, von den zwölf Herren angenommen: dô sprâchen die zwelf hêrren, / wære ez in des kaiseres hulden, / des râtes wolten si gerne volgen (RL 1090–1092). Den Paladinen ist offensichtlich an einer Harmonisierung mit Karl gelegen, denn sie zielen auf ein gemeinsam entwickeltes Beratungsergebnis ab.269 Da kein Einwand des Kaisers erwähnt wird, scheint ein Konsens

266 Vgl. zum Schweigen Karls auch Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 110. Ein Blick auf Althoffs Analyse der realhistorischen Praxis kann auch die besondere Problematik der vorliegenden Beratung offenbaren: „Die Möglichkeiten des Herrschers zur Beeinflussung von Beratungen waren [...] schon deshalb groß, weil die Gewohnheiten nicht vorsahen, dass er mit Anliegen oder Bitten welcher Art auch immer überraschend konfrontiert werden konnte“ (ders., Kontrolle der Macht, S. 326). Die disparaten Beiträge und Selbstvorschläge der Berater laufen einem geradlinigen und spannungslosen Ablauf der Versammlung zuwider und fordern entgegen den ‚Gewohnheiten‘ als ‚überraschende‘ Konfrontationen Karl als Vorsitzenden heraus. 267 Auch im Gespräch mit Blanscandiz, als dieser im Hoflager das Unterwerfungsangebot Marsilies vorbringt, verbirgt Karl sein Gesicht (vgl. dazu Kapitel III.4.2). 268 Vgl. u. a. K 1258 f. 269 Die Redebeiträge des Herzogs Naimes (vgl. RL 1011–1046) und des Bischofs (vgl. RL 1054–1089) werden im Rolandslied ausführlich dargestellt, der Stricker unterdrückt diese Reden und fasst die umfängliche Zustimmung zu Turpins Ratschlag zusammen: ‚Der rat dunchet mich gewis‘, / sprach der herzoge Naymis / und ein bisschof, hiez Johan, / unt dar nach frîen unde man (K 1655–1658). Johannes kommt später nach der gesonderten Beratung ausführlich als Übermittler des gemeinsamen Ratschlusses vor Karl zu Wort (vgl. K 1827–1836).

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der beratenden Versammlung gesichert und ein kollektiv verbürgter Ratschluss nahe. So haben die ranghöchsten und besonders profilierten Berater des Kaisers gesprochen, was der außerliterarischen Praxis entspricht: [D]ie Reihenfolge, in der Rat gegeben wurde, orientierte sich am Rang der Personen, die an einer Beratung teilnahmen. Mit einiger Sicherheit folgte daraus, dass die ranghöchsten Ratgeber als erste Sprecher die Richtung bestimmten, in die die Entscheidungsvorschläge und damit die Meinungsbildung gingen. Die Fälle, in denen kontroverse Äußerungen dazu führten, dass die allgemeine Beratung unterbrochen und in ‚kleinerem Kreis‘ fortgesetzt wurde, machen zudem deutlich, dass man den Austrag von Meinungsverschiedenheiten so weit wie möglich zu vermeiden suchte. Polemische, ironische oder gar höhnische Einlassungen waren schnell konfliktauslösend, auch wenn sie hin und wieder vorkamen.270

Die Texte reflektieren diesen „‚kompetitiven Unterbau‘ der Konsensherstellung“, die „wohl ein durchaus umkämpfter Vorgang [war], bei dem mit allen erlaubten und auch unerlaubten Mitteln agiert wurde“.271 Denn nun – und damit erfüllt sich die dunkle Vorahnung in Karls getrübtem Herzen – schaltet sich Genelun ein, der (wie Roland) aufspringt und zu einer Scheltrede ansetzt: wie man die tumbesten vernimt! / die sint nû ze hove râtgeben. / die wîsen læt man alle underwegen (RL 1096– 1098).272 Dieser scharfe Angriff, den auch die Chanson de Roland bietet,273 richtet sich an seine Vorredner und vor allem an die Gruppe der Zwölf Paladine, die die Versammlung dominieren.274 Dadurch stellt er die Ratgeber, die Versammlung und damit Karls Herrschaftsapparat insgesamt in Frage. Mittelbar ist dies zugleich ein Angriff auf die Autorität und Befähigung des Herrschers, der sich töricht auf diesen vermeintlich unfähigen Rat verlässt. Damit verletze Karl die „Verpflichtung des Herrn zur Gerechtigkeit“.275 Aber Genelun geht einen Schritt weiter und diskredi-

270 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 302. 271 Ebd., S. 25. Althoff bezieht sich hinsichtlich des ‚kompetitiven Unterbaus‘ auf Patzold, Konsens und Konkurrenz, S. 102. Vgl. zur Agonalität und ihrer Verschleierung die Skizze bei Althoff, Kontrolle der Macht, S. 25 f. 272 Auch in Strickers Karl widerspricht Genelun dem Rat, tadelt Karls Ratgeber (vgl. K 1664–1671), den Herrscher selbst (war hat min herre getan / sine manechvalte wisheit? [K 1672 f.]) und greift schließlich Roland an. Ebenso wie im Rolandslied entbrennt der Konflikt zwischen beiden, Karl erzürnt und weist sie scharf zurecht (vgl. K 1705–1715). 273 Mult fierement cumencet sa raisun (ChdR 219); Laissun les fols, as sages nus tenuns (ChdR 229). 274 In dieser Untergliederung, im „gleichzeitige[n] Vorhandensein zweier Beratungsgremien [...]: die engere Gruppe der Zwölf Paladine und die größere Gemeinschaft der Fürsten“, erkennt Hellmann (Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft, S. 93) ein Konfliktpotential, das sich an „der persönlichen Nähe zum Herrscher“ und damit an der Chance auf größere Einflussnahme entzünden kann. Zudem versucht Genelun (erfolglos), „die verschiedenen Volks- oder Stammeszugehörigkeiten der Fürsten für seine Absichten auszunutzen“ (ebd., S. 94). 275 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 311. Vgl. zu Geneluns Vorwurf auch Tomasek, Ambivalenz eines Kaisers, S. 163 f.

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tiert explizit Karl vor der Ratsversammlung – diese Attacke auf den Herrscher fehlt in der Chanson de Roland und im Buch vom heiligen Karl:276 war ist nû komen diu manecvaltiu wîsheit? dînen fürsten ist ez allen leit, daz dû in dînen grôzen wizzen uns alle læst sizzen ez gêt uns an die êre. (RL 1102–1107)

Die Weisheit Karls, die auch der Erzähler zu Beginn der Versammlung erwähnt und die Karl allenthalben auszeichnet, wird von Genelun angefochten. Er unterstellt Karl, seine Fürsten verärgert zu haben und im Rat ungebührlich zu behandeln, sodass ihre persönliche ‚Ehre‘ auf dem Spiel steht. Eine solche Rüge ist vor dem Hintergrund des bisher im Text entfalteten Karlsbildes recht harsch und überraschend; sie sagt vermutlich mehr über den rügenden Genelun als über den Gerügten aus. Auch der Angriff auf Roland erscheint zum jetzigen Zeitpunkt der Handlung unbegründet und diffamierend, „quite implausibly“:277 nu ne zimt nicht, lieber hêrre, / dîn neve Ruolant / überruofet uns alle samt (RL 1108–1110). Auch diese Facette der Ratsversammlung findet Anknüpfungspunkte in der realhistorischen Praxis, wenn man den Schlussfolgerungen Althoffs folgt: Der übermächtige einzelne Ratgeber, der alle anderen vom Zugang zum Ohr des Herrschers abhält, steht dabei immer als Symbol für die Unzugänglichkeit des Herrschers, der nicht mehr den Anliegen aller Getreuen sein Ohr leiht, sondern nur noch einer Person, einem Netzwerk zur Verfügung steht.278

Genelun verunglimpft Roland als allzu dominanten Berater und ‚Günstling‘ Karls und unterstellt ihm vor allem Neid, Missgunst und Herrschsucht als treibende Kräfte für sein Handeln. Er positioniert sich „heidenfreundlich“ und „paladinfeindlich“:279 ‚[...] die [Heiden; F. B.] ne wil ich niemer geleidigen, wande si an got jehent

276 Anders als im Rolandslied und in Strickers Karl bleibt im Buch vom heiligen Karl der direkt ausgesprochene Karlstadel aus, denn Genelun bezieht sich allein auf die Berater, nicht auf Karl, der seine Weisheit verloren hätte (vgl. BhK 37,23–30). 277 Ashcroft, ‚Si waren aines muotes‘, S. 35. 278 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 311. Vgl. insgesamt zur „Beratung im Spannungsfeld von Gewohnheit und Willkür“ ebd., S. 301–311. 279 Vgl. zur Einschätzung Geneluns in der Beratung sowie seines Verrats u. a. Stackmann, Karl und Genelun. Stackmann betont die Isolation Geneluns, seinen Status als „Außenseiter“ (ebd., S. 263); vgl. außerdem Oswald, Gabe und Gewalt, S. 275–286 sowie zuletzt Hoffmann, Verräter in der Literatur des Mittelalters, S. 70–76 (mit weiterer Literatur).

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und der touphe vlîzeclîche gerent unde der cristenheite gehôrsam sint. ze gîsel bietent si ir kint. Ruolant zestœret dir alle dîn êre. die zwelve râtent dir vil übele, hêrre.‘ (RL 1133–1139)

Genelun schenkt dem Angebot Marsilies offensichtlich Glauben und warnt Karl vor dem üblen Rat der Zwölf und im Besonderen vor Roland, der als ‚Zerstörer‘ des herrscherlichen Ruhms bezeichnet wird. Der auf Sipp- und Verwandtschaft sowie auf Rang und Ehre basierende Konflikt zwischen Genelun und Roland im Verbund mit Geneluns ‚Heidenaffinität‘ unterminiert ein Funktionieren der Ratsversammlung und zersetzt die christliche Gemeinschaft von innen. Die Diskreditierung der wortführenden Ratgeber, in Verbindung mit einer Infragestellung Karls, bringt damit die Einmütigkeit ins Wanken, rückt eine harmonische Einigung in weite Ferne und trübt Karls herrscherliche Idealität, die in figuraler Rede angegriffen wird. Genelun führt hierbei einen Ehrbegriff ins Feld, der nicht auf die bisher im Rolandslied entwickelte kollektive christliche Axiologie abzielt, die auf irdische Ehre kaum Wert legt und auf den Erwerb ewigen, himmlischen Ruhms alles setzt: ez gêt uns [gemeint sind Genelun und die Fürsten; F. B.] an die êre (RL 1107). Der Bruch in der Gemeinschaft ist damit offen vollzogen, die Gegenspieler sind markiert und Agonalität im Zeichen persönlicher Geltung und Ehrgefühle mischt sich in die Beratung. Dies zeigt sich auch im Zürcher Buch: Also ward einn groß mißheling under den heren, won Gegennelun hett als gern gesechen, das hein werend gezogen. Das wolt nun Ruolland unnd sin einlif gesellon nüt, won sy bekantand von der gnad des heiligen geistes, das Marsilius, der heidensch kung, mit betrogenheitt umb gieng. (BhK 38,4–9)

Statt Einmütigkeit oder Einhelligkeit herrscht ‚Misshelligkeit‘ im Rat. Doch wird der Position Geneluns, der den Heiden vertraut und einen Abzug aus Spanien wünscht, die Position Rolands und seiner elf Gefährten entgegengesetzt, denn sie sind dem Erzähler zufolge durch die Gnade des Heiligen Geistes in die Lage versetzt, die Täuschung der Heiden und das geheuchelte Unterwerfungsangebot Marsilies zu durchschauen. Die Rezipienten wissen von der Täuschungsabsicht der Heiden und die Zwölf Paladine erhalten mit göttlicher Hilfe ebenfalls diese exklusive Information. Karl forderte zu Beginn der Versammlung, dass der Heilige Geist den Ratgebern die rechte Entscheidung eingeben möge, und nun wirkt der Heilige Geist – und das ist gegenüber dem Rolandslied und Strickers Karl eine Ergänzung – tatsächlich auf die Zwölf Paladine ein.280 Diese partielle Einwirkung auf die Berater zeichnet den innersten Zirkel aus und exkludiert im Umkehrschluss Genelun, der offensichtlich die

280 Vgl. BhK 38,7 f.

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Gegenposition zu jener vom Heiligen Geist inspirierten vertritt; ex analogia müsste seine Position, wenn sie entgegen göttlicher Eingabe steht, eine Einflüsterung des Teufels sein.281 Sogleich reagiert Roland auf Geneluns Schmährede, springt ungestüm auf, verzichtet auf förmliche Rede und lehnt den Rat des Stiefvaters entschieden ab. Nun bricht Karl angesichts dieser Eskalation der Beratung sein Schweigen und mahnt zornig zu Einmütigkeit bzw. zum Konsens: Der keiser zurnte harte. mit gestreichtem barte, mit ûf gewunden granen hiez er die phacht vüre tragen. ‚ir stêt mit unzüchten. daz wil ich‘, sprach er, ‚richten, wirdet ez iuweht mêre. tuot ez durch gotes êre unde gesamnet iuch einer rede, die uns der heilige geist gebe, daz wir des besten râmen.‘ si sprâchen alle: ‚âmen.‘ (RL 1154–1165)

Die äußerliche Ruhe und Beherrschung Karls, die seine innere Erregung, sein getrübtes Gemüt einhüllten, werden nun aufgegeben und in energische Körpersprache umgesetzt:282 Der Kaiser erzürnt heftig, lässt sich den Bart streichend und zwirbelnd das Gesetz bringen. Als Wahrer der Gerechtigkeit und Garant der Geltung gesatzter Regeln manifestiert sich in der Präsentation und Verwaltung des Gesetzes, der phacht,283 die herrscherliche Autorität Karls; herausgefordert mittels der Diskreditierung durch Genelun und dessen Konflikt mit Roland lässt der Herrscher die Regeln und Machtstrukturen in der beratenden Versammlung offen zutage treten, so zeigt sich hier auch eine rechtsgestützte traditionale Grundierung. Das ungebührliche Betragen und die Regelverletzungen Geneluns und Rolands rügt Karl, verwarnt sie scharf und droht, mit dem Gesetz zur Hand weiteres Fehlverhalten zu bestrafen (richten). Es handelt sich um eine eindrückliche Herrscher-, um eine „Richter- bzw. Rechtswahrerpose“,284 die in dieser szenischen Konfiguration plastisch eingefangen wird: Der herrscherliche „Zorn sorgt als für alle sichtbare Verkörperung für (stabile) Machtverhältnisse“.285 Die Rivalitäten im Inneren zwischen einzelnen

281 Und Genelun richtet dem Teufel tatsächlich sein Herz als Wohnstatt ein, wie es beispielsweise beim Stricker heißt: er het den tivel tougen / gesetzet in sines hercen grunt (K 3326 f.). 282 Vgl. zu Karls Zorn Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 108–114 (mit weiterer Literatur zur Szene). 283 Vgl. zur phacht Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 163–171. 284 Ebd., S. 164. 285 Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 108. Sie bezieht Karls Zorn darauf, „dass sich das rîche in den Ratsszenen und in der Gerichtsszene als Entität des Herrscherzorns erweist“ (ebd.,

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Reichsmitgliedern und Gruppierungen einzudämmen, bedarf, wie gezeigt, des Rückgriffs auf Sanktionsandrohung und stellt Karls Herrschaft und das Machtgefüge auf die Probe. Damit droht der zu Beginn des Kreuzzugs inaugurierten charismatischen Gemeinde ihre Fragmentierung. Insofern sind die traditionalen Sanktionsandrohungen Karls nötig, weil die charismatische Überformung der einmütigen Gemeinschaft nicht trägt; der Registerwechsel des Herrschers ist bedingt durch die Verletzung der Regeln des Verbands. Karl mahnt daraufhin, wie zu Beginn der Versammlung, zur konsensuellen wie einmütigen Beratung (gesamnet iuch einer rede; RL 1162),286 macht den Heiligen Geist zur entscheidenden Instanz für den bestmöglichen Rat bzw. die beste Entscheidung und schließt sich und die Versammelten in einer Schicksalsgemeinschaft zusammen (daz wir des besten râmen; RL 1164). Diese Ermahnung und Beziehung des Rates auf göttliche Eingebung transzendiert die Animositäten zwischen Roland und Genelun, indem die eine gemeinsam getragene, vom Heiligen Geist eingegebene ‚beste‘ Entscheidung fokussiert wird.287 Der Rat quittiert diese Rede des Herrschers kollektiv mit âmen (RL 1165). Karls Sprechen hebt sich damit wieder von gewöhnlicher Fürstenrede ab und erscheint als sakralisierendes sprachliches Handeln: Die Fürstenberatung ist zunächst profan und gehorcht weltlichen Spielregeln der Politik und Herrschaft, sie wird jedoch von Karl über die Verpflichtung auf Einmütigkeit, seine wiederholte Bitte um den inspirierenden Eingriff des Heiligen Geistes und die Erklärung, dass es sich um eine Beratung vor Gott handelt, sakral aufgeladen und perspektiviert. Mit der religiösen Durchdringung und Kontextualisierung der Beratung und des Herrschaftshandelns insgesamt werden profane Praktiken in einen axiologischen Rahmen gespannt, der höchst verbindliche Wertmaßstäbe und ein Sakralisierungspotential aufweist – letzteres bezieht sich prominent auf Karl und in seiner Zurückweisung bzw. Nicht-Realisierung auf Genelun. Bruchlinien im Herrschaftsapparat, wie jene zwischen Roland und Genelun, sind ganz gleich in welchem Rahmen – profan oder sakral – für Karl eine Herausforderung als Erschütterung von Herz und Herrschaft; der Zwang zur Einigung der Versammlung legt davon Zeugnis ab. Dass sich die Fürsten nun zur Beratung in Abwesenheit Karls zusammenfinden, bedeutet, dass Karls Befehl zur Einigung des Rates Gehör und er somit bei einer ‚angebbaren Gruppe‘ Gehorsam findet. Damit erfüllt sich ein Merkmal ‚echter‘ Herrschaft nach Webers Definition. Dennoch drängt Karl zornig zur ‚gemeinsamen

S. 109). Zum Referat einschlägiger Deutungen von rîche im Rolandslied vgl. ebd., S. 108, Anm. 104. Vgl. zum Zorn an dieser Stelle auch Heisler, Christusähnlicher Karl, S. 76–78. 286 unde vindet balde den rat, / daz ir niht wan eine rede hat / alle samt gemeinlîche (K 1717–1719). Im Buch vom heiligen Karl heißt es ähnlich: Nun warend sy als uneinhellig, das Karlus zornig war und sprach: „Werdent einheilig und enberend semlicher unzucht for mir, anders ich will selb richten“ (BhK 38,11–14). 287 Vgl. auch Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 178.

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Rede‘288 und dieser Zwang zur Einstimmigkeit des Rates wirft einen Schatten auf Karls Herrschaft, die bisher als frei von Zwang inszeniert wurde:289 Karls unbedingtes Streben nach harmonischem Konsens soll die Gemeinschaft durch den herrscherlichen Imperativ zu einer dem Ideal nach von Zwang befreiten Einstimmigkeit führen. Und darin liegt die Problematik der Ratsversammlung und des Herrschaftsverbands um Karl: Einstimmigkeit ist harmonisch nur durch Einmütigkeit herzustellen – das führte der Ablauf des Kreuzzugsaufrufs und der Versammlung des Heeres sowie die Charakterisierung der Gefolgsleute und insbesondere der Zwölf Paladine vor. Doch eine Differenz im christlichen axiologischen Streben und der moralischen Disposition bei wenigen, wie die Texte zeigen, sogar bei einem einzigen Mitglied des Verbands, irritiert die kollektive Einmütigkeit, torpediert das Funktionieren der Konsensherstellung und gefährdet gelingendes Herrscherhandeln. Der Verlauf der Ratsversammlung spitzt sich somit dramatisch zu und muss notwendigerweise in der Ausgrenzung Geneluns münden, seine Desintegration bedeutet die Herstellung von Einmütigkeit und die Kohäsion des Herrschaftsverbands. In der Beratung in Abwesenheit Karls setzt sich Turpin gegen Genelun durch – dem gefiel der ratt nütt (BhK 39,4 f.) – und fordert, dass ein erfahrener Mann prüft, ob Marsilie tatsächlich zu konvertieren beabsichtigt. Das wird quittiert: alle, die die rede vernâmen, / herzogen und grâven, / si sprâchen, ez wære daz aller beste (RL 1238–1240). Mit diesem gemeinschaftlich getragenen ‚allerbesten‘ Ratschluss kehrt die Versammlung an den Thron des Kaisers zurück,290 doch in unheildrohender Vorausschau wird die Konsequenz der Zurückweisung des unbequemen Vorschlags Geneluns vorweggenommen: si geleiten nidere / den rât Genelûnes. / dannen bekorten si sît alle des tôdes (RL 1243–1245). Die auf Karls unbedingtes Drängen hergestellte Einmütigkeit und Einigkeit als Inklusionsbewegung bedeutet die verhängnisvolle Exklusion Geneluns.291 Johannes – der im Buch vom heiligen Karl nun erstmals prominent auftritt –292 wird 288 Vgl. RL 1162. 289 Vgl. Kapitel III.3.1. 290 Vgl. RL 1242. 291 Althoff erklärt als „dauerhaftes Kennzeichen des Rates, dass er, einmal gegeben, sich nicht leicht gänzlich ignorieren lässt. Er entfaltet vielmehr eine Eigenwirkung, die nicht an bestehende Macht- und Kräfteverhältnisse gekettet ist, sondern diese auch irritieren und zersetzen kann“ (ders., Kontrolle der Macht, S. 336). So ist Geneluns von der herrschenden Meinung abweichender Rat ausgesprochen und damit im Diskurs, wenn auch als deviante Position – seine Zurückweisung wird als ‚Eigenwirkung‘ die Verschwörung gegen Roland (und Karl) zur Folge haben, eine coniuratio. Damit wird der Rat Geneluns „zur Hypothek für den, der ihn missachtet hat“ (ebd.). 292 Das Rolandslied und Strickers Karl führen Johannes schon zuvor ein, der jenen Ratschlag gibt, den der Bearbeiter des Buchs vom heiligen Karl Turpin in den Mund gelegt und dabei den Bischof Johannes getilgt hat (vgl. RL 1054–1092, K 1657) – das Rolandslied räumt Johannes noch mehr Raum ein, der Stricker profiliert hingegen Turpin stärker und nimmt Johannes zurück. Naimes von Baiern kommt mit seinem Redebeitrag im Buch vom heiligen Karl nicht mehr vor, er ist getilgt im ersten Teil der Beratung – im Rolandslied wird ihm noch viel Raum gegeben, im Strickerschen Karl begegnet er nur noch affirmierend (vgl. K 1656). Die Darstellung konzentriert sich von Bearbeitung zu Bearbeitung

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gemeinschaftlich als Sprecher, als vorredenære (RL 1249), des Rates nominiert, denn die Fürsten wissen von Karls Sympathie für den Bischof,293 der den Herrscher demütig anspricht: er sprach: ‚gruntveste der cristenheit, houbet unser arbeit, bluot des heiligen glouben, nu scolt du mir erlouben in dîner michelen süeze, daz ich reden müeze, daz mir dîne fürsten geboten hânt, alsô si hie vor dir stânt.‘ (RL 1254–1261)294

Diese preisende Anrede des Geistlichen arbeitet auf figuraler Ebene an der Geltung eines idealen und sakralen Status Karls, der durch Geneluns Angriff auf die Autorität des Herrschers und sein Kollektiv sowie (möglicherweise) durch Karls unbedingtes Drängen auf Einstimmigkeit und Einmütigkeit in Frage gestellt ist. Karl gilt als Fundament und Stütze der Christenheit, als Anführer der Anstrengungen der Christen, als ‚Blüte des heiligen Glaubens‘. Nellmann erkennt einen Bezug von RL 1254 zu Mt 16,18 als Parallelisierung von Petrus und Karl.295 Also verweist die Anrede auf einen sakralen Status des Herrschers und die Attribuierung einer ‚großen Süße‘ (michelen süeze; RL 1258) zeichnet Karl mit einer Teilhabe an göttlicher ‚Süße‘, d. h. Heiligkeit, aus.296 Der kaiser in sînen wizzen (RL 1262), in seiner Weisheit, bittet die Fürsten sich zu setzen, wodurch strukturgleich zur ersten eine neue Phase der Beratung einge-

zusehends auf einige wesentliche Figuren und gewinnt dadurch an Eindrücklichkeit und Tiefe – es sind klar konturierte Gegner und Fronten, auch innerhalb der christlichen Gemeinschaft. 293 Vgl. RL 1250 f. Die Wahl des Sprechers nach dem Grad der Sympathien, die der Herrscher für ihn hegt, zeigt, dass die Fürsten mit Karls affektiv-emotionaler Empfänglichkeit, mit seinem Herrscherherz, kalkulieren. Vgl. zu Karls Gunst gegenüber Johannes auch Schütte, Sitzen – Stehen – Schweigen – Sprechen, S. 134. 294 Der Stricker übernimmt diesen Baustein nahezu unverändert aus dem Rolandslied, wodurch eine intertextuell konstante Beschreibung des besonderen sakralen Status Karls erfolgt: gruntveste der christenheit (K 1829), houbt unserr arbeit (K 1830), blůme des gelouben (K 1831), tugende sFzze (K 1833). Vgl. die Stelle ähnlich im BhK 39,12–15. 295 „fundamentum ecclesiae, firmamentum ecclesiae und ähnliche Bezeichnungen begegnen seit der Patristik häufig für den Apostel Petrus. Sie veranschaulichen die Bedeutung, die der Matthäusstelle zugemessen wird. Entsprechend heißt Petrus auch in der Kaiserchronik: gruntveste der christenhait (2465). An der Parallele Karl: Petrus im Rolandslied kann also kaum ein Zweifel bestehen“ (Nellmann, Die Reichsidee, S. 177). Siehe zur Anrede ‚Grundfeste der Christenheit‘ als Inbezugsetzung von Karl und Petrus auch Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 100–106. 296 Vgl. zur süeze im Sinne von Heiligkeit im Rolandslied auch Bigalke, Der Klang der Dinge, S. 199, Anm. 57 (mit weiterer Literatur).

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leitet wird.297 Johannes referiert das Beratungsergebnis und erklärt, der zu Marsilie zu schickende Mann bedarf grôzer wîsheit (RL 1292); Weisheit wird damit für den Herrscher selbst, für seine Ratgeber und seine Boten, die ihn in der Fremde repräsentieren, als zentrale Fähigkeit und Tugend verbindlich gemacht. Der Bischof adressiert Karl durch zweifachen Ausdruck deutlich als seinen Herrn, mîn hêrre (RL 1294 u. 1296), wodurch eine höfliche Einhaltung der kommunikativen Regeln und der Respekt vor den herrschaftlichen Bindungen zur Geltung kommen.298 Im Buch vom heiligen Karl bemerkt Johannes nach der Anrede des Kaisers, dass er geeignet sei, um etwas vorzutragen, das ze gocz ere unnd lob gehört und ze nucz der cristenheitt (BhK 39,20 f.). Damit ist das vorgegebene Ziel der Beratung angesprochen und die Maxime, zum ‚Nutzen der Christenheit‘ beizutragen.299 Und nachdem Johannes den Plan zur Entsendung eines Boten vorgetragen hat, kommt Karl ebenfalls auf den ‚Nutzen der Christenheit‘ zu sprechen: „Der ratt gefalt mir woll. Wellern will aber under üch die sachen werben nach dem besten, gott ze einem ewigen lob und der cristenheitt ze nucz?“ (BhK 39,31–34) Dadurch wird eine Konvergenz im Streben des Vertreters der Frankenberatung und des Kaisers angezeigt, die auf eine zwar durch die Dissonanzen in der Ratsversammlung gestörte, aber als Ideal erhalten bleibende Einmütigkeit deutet. Zudem wird der Bote – und das ist später Genelun – daran gebunden, zum ‚ewigen Lobe Gottes‘ und zum ‚Nutzen der Christenheit‘ auszuziehen. An das Referat des Johannes schließt sich nahtlos die Verhandlung der Nominierung des Boten an. Roland und Olivier, die beide aufspringen und sich recht stürmisch als Boten anbieten,300 werden von Karl zurückgewiesen – der erste sei zu zornig, der zweite unbesonnen.301 Turpin, der sich daraufhin anbietet, wird von Karl recht schroff auf seinen Platz verwiesen und als ‚Nicht-Karlinger‘ von der Diskussion ausgeschlossen.302 Der Stricker macht Karls Anliegen, das im Rolandslied 297 Vgl. bereits RL 895 f. 298 Vgl. zur vorsichtigen Wortwahl und einem höflichen Redegestus, „eine Rang und Ehre des Gegenübers achtende Sprache“ bei offiziellen Beratungen Althoff, Kontrolle der Macht, S. 29. „Gerade gegenüber dem König hat dies dazu geführt, dass die licentia loquendi oder gar lamentandi nötig war, um überhaupt das Wort ergreifen zu können. Überdies erforderte die Ehre des Königs und die anderer ranghoher Beteiligter, dass Form und Inhalt der Äußerungen die Ehre des Gegenübers achteten. Das bedeutet, dass Forderungen nur als Bitten vorgetragen werden konnten oder Kritik als Mahnung“ (ebd., S. 303; mit weiterführenden Literaturhinweisen ebd., Anm. 831). 299 Karl ist selbst – nach göttlicher Vorsehung – zum ‚Nutzen der Christenheit‘ geboren, wie das Buch vom heiligen Karl betont (vgl. Kapitel III.2.1). 300 Vgl. RL 1298 u. 1310. 301 Vgl. RL 1326–1331. 302 Vgl. RL 1332–1363. In der Chanson weist Karl das Angebot von Naimes, Roland und Olivier schroff zurück und gebietet ihnen zu schweigen; die Franken schweigen (eingeschüchtert): Franceis se taisent: as les vus aquisez (ChdR 263). Karl scheint die Botenbestimmung persönlich zu berühren, was durch seine enge (affektive) Bindung an die Zwölf Pairs begründet sein mag. Auch auf Turpins Angebot reagiert er erregt: Li empereres respunt par maltalant (ChdR 271). Beim Stricker

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lediglich implizit vermittelt wird, keinen seiner Schutzmannschaft, das heißt seiner Zwölf Paladine als Boten zu entsenden und damit seinen innersten Zirkel zu destabilisieren, explizit: ine wil iwer deheinen von mir lan, / die min hFtent naht und tach, / wande ich iwer enbern nine mach (K 1930–1932).303 Das Buch vom heiligen Karl wird noch deutlicher als Strickers Karl, indem ausdrücklich von ‚den Zwölf‘ die Rede ist: „Ich will enkeinen, die minn pflegend, der XII von mir lan, won ir sönd minn wartten tag und nacht“ (BhK 40,10–12). Der Herrscher verknappt mit diesem Verlangen die Ressourcen der Entscheidungsfindung dergestalt, dass zwölf für einen Botengang prädestinierte Mitglieder des Herrschaftsapparats unabkömmlich gemacht werden. Karl steuert durch diese Restriktion nach persönlichem Wunsch die Beratung, sodass individuelles Streben auf Seiten des Herrschers einer jegliches hierarchisches Gefälle einebnenden Harmonie entgegensteht.304 Gegenüber den Prätexten fügt das Buch vom heiligen Karl, das sich um Sinnsicherung und Verständlichkeit bemüht, zudem eine Explikation der daraus resultierenden Abläufe ein: Do nun die andern heren und fürsten hortend, das Karlus sins heimlichens racz keinn von im wolt lan, do hattend sy ein rad, wen sy ze botten woltind nemmen (BhK 40,12–14). Die Zwölf Paladine bilden, und das ist geteiltes Figurenwissen, den ‚Geheimrat‘ des Herrschers, was sich plausibel in die tragende Funktion der Zwölf Paladine für Karls Herrschaft einpasst.305 Roland, der abermals aufspringt, schlägt seinen Stiefvater Genelun vor, da er weise, tapfer, wortgewandt und ein begabter Kämpfer sei.306 Die Fürsten stimmen Rolands Vorschlag zu und versichern die Eignung Geneluns: ez ne mächte nieman

schlagen sich Roland und Olivier jeweils selbst als Boten vor, ersteren lehnt Karl ab (vgl. K 1885– 1888), anders als im Rolandslied entgegnet er letzterem jedoch nichts. Auf Turpins Selbstvorschlag antwortet Karl höflich, Turpin möge die ‚Kerlinger‘ ihre Sache allein behandeln lassen und (ein Zusatz gegenüber dem Rolandslied) zu seinem Schutz zurückbleiben (vgl. K 1919–1932). Wie im Rolandslied und in Strickers Karl weist der Herrscher auch im Buch vom heiligen Karl Rolands und Oliviers Angebot ab, gebietet jenem zu schweigen und diesem sich zurückzuhalten. Karl begründet dies mit einem Hinweis auf ihre mangelnde ‚Weisheit‘: Land es an die alten, die der wißheitt konnent walten (BhK 40,6 f.). 303 Anders als in der Chanson de Roland (vgl. ChdR 259–262) erklärt Karl im Rolandslied nicht, dass er keinen der Zwölf Paladine schicken möchte, die ja seinen innersten Zirkel, seine huote darstellen. 304 Karl ist gezwungen, Roland vom Botenamt fernzuhalten, denn eine Gefährdung seines Neffen ist nicht mit dessen überragender Bedeutung für Karl zu vereinbaren. Nach göttlicher Vorsehung, der die Botschaft des Engels Ausdruck verlieh, ist Karls Herrschaft an Rolands Leben gebunden – stirbt Roland, wankt Karls Herrschaft. Neben der emotionalen Bindung ist Karl somit aus rationalen, herrschaftsstrategischen Gründen berufen, Roland – und auch keinen anderen der Zwölf als wichtigste herrschaftsstützende Gruppe – als Boten zu entsenden. 305 ‚Geheimrat‘ ist hier im Sinne von ‚vertraulicher Rat‘ bzw. als Beraterkreis aus Vertrauten des Herrschers zu verstehen und wohl nicht als Institution des Geheimrats, der sich im 15./16. Jahrhundert ausbildet (vgl. dazu Uwe Schirmer: Art. Geheimer Rat. In: 2HRG 1 [2008], Sp. 2002–2004). 306 Vgl. RL 1364–1376.

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sô wole sîn, / er gezæme wole deme rœmischeme vogete, / sware er in sende wolde (RL 1379–1381). Im Buch vom heiligen Karl findet Rolands Rat auf allen Ebenen Zustimmung: Diser ratt gefiell innen allen woll und duocht sy alle das best und den keisser selber (BhK 40,20 f.) – alle Mitglieder des Rates und der keisser selber finden somit einstimmig und scheinbar einmütig zusammen. Genelun dagegen erbleicht und unterstellt Roland herrschaftliche und materielle Interessen als Beweggrund, ihn als Boten vorzuschlagen. Doch das Buch vom heiligen Karl macht – als einziger Text im Corpus – expressis verbis deutlich, dass Genelun Rolands Motive falsch deutet: Das was aber nüt: Ruoland hatt es im von frünschaff gethan (BhK 40,24 f.). Genelun sorgt sich demnach unberechtigter Weise, dass Roland ihm Frau und Familie nehme wolle, wip und chint, / di mir lieber danne min sele sint (K 2015 f.). Diese Haltung bedeutet einen Verstoß gegen die christliche Axiologie, die beim Aufbruch nach Spanien von allen Christen versichernd beschworen wurde, nämlich alles Irdische und Materielle, Familie und Besitz, zurücklassen zu wollen.307 Genelun hatte sich der freiwilligen Gefolgschaft dereinst nicht widersetzt. Damit bedeutet nun die fehlende Teilhabe an dieser kollektiv verbindlichen Axiologie und Maxime eine empfindliche Verletzung der Gemeinschafts- und Gefolgschaftsbindung und damit die Exklusion Geneluns: Nicht nur das Funktionieren des Rates, sondern des Herrschaftsverbands um Karl insgesamt scheint einzig über den Ausschluss Geneluns möglich. Die fälschliche Verdächtigung Rolands ist Reflex seines Argwohns, der der Einmütigkeit im Herrschaftsverband ebenfalls abträglich ist. Karls folgende Versuche, Genelun in das Kollektiv zu reintegrieren, laufen ins Leere:308 Er mäßigt Genelun, ruft ihn zu sich und reicht ihm als Zeichen der Beauftragung einen Handschuh.309 Doch Genelun klagt Roland und die Zwölf an,310 wird von Karl abermals ermahnt und lässt zum zweiten Mal den gereichten Handschuh fallen.311 Karl beteuert, dass Genelun nicht auf Rolands Geheiß, sondern in seinem kaiserlichen Auftrag die Gesandtschaft antrete: durch Ruolanden enverest du nie, / diu botescapht ist mîn (RL 1427 f.). Daraufhin flammt der Streit zwischen Genelun und Roland erneut auf, obgleich Karl sie bereits zuvor ermahnt und Strafe auf Grundlage des Gesetzes angedroht hatte. Der Herrscher greift ein:312

307 Vgl. Kapitel III.3.1. 308 Ott-Meimberg (Staatsroman, S. 194) spricht von „Geneluns Verrat als Weg exemplarischer Desintegration“. Vgl. zur Analyse der Desintegration Geneluns und der Verratshandlung ebd., S. 194–210. 309 Vgl. zur Bedeutung des Handschuhs bereits Kapitel III.3.1. 310 Vgl. RL 1420–1423. 311 Die schlechten Vorzeichen bei der Übergabe des Handschuhs an Genelun (vgl. K 1986–2004) stehen im Kontrast zu Rolands späterem Umgang mit dem kaiserlichen Auftrag. Der Paladin erklärt: der van ne scol mir nicht sô lîchte enphallen / sô der hantscuoch Genelûne (RL 3212 f.; vgl. K 3922 f.). Damit wird auf die sich abzeichnende Unzuverlässigkeit Geneluns als Stellvertreter Karls angespielt. 312 Da es bei der Ratsversammlung um Entscheidungen geht, die „Konsequenzen für das Ranggefüge“ haben, die Ehre der Beteiligten betreffen und somit „existentielle Bedeutung“ aufweisen, wird nach Althoff klar, „[d]ass die Beratung solcher Fragen höchste Anforderungen an die Selbstbe-

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Karl, der rîche, sprach gezogenlîche: ‚ir irret ez allen disen tac, daz ich vore unzüchte ne mac des rîches êre ze vrümene [...].‘ (RL 1486–1490)

Karl ist genötigt, die beiden Streitenden erneut zur Ordnung zu rufen und verweist dabei auf die ‚Ehre des Reiches‘, deren Mehrung sie hemmten; die Referenz auf die ‚Ehre des Reiches‘ erfolgt im Folgenden noch zwei weitere Male, wodurch der honor imperii als bedeutender Bezugspunkt für das Handeln des Herrschers ausgemacht werden kann.313 Damit rückt das gemeinsame höhere Ziel ins Zentrum, vor dem die Rang-Streitigkeiten – Nellmann spricht von einer „Privatfehde“314 – zwischen Geneherrschung stellt und die Gefahr von Eklat und Tumult erzeugte“ (ders., Kontrolle der Macht, S. 25). Das Aufspringen Rolands und Geneluns, ihre stürmischen Reden und die heftige Konfliktführung reflektieren diese besondere Herausforderung der ‚Selbstbeherrschung‘ und zwingen Karl zur Moderation. 313 Vgl. RL 1495 u. 1516. Vgl. zur Bedeutung des Reiches und seiner Ehre grundlegend Knorr, Das deutsche „Rolandslied“; ders., Vom Reichsgedanken des deutschen Rolandsliedes; Ohly, Zum Reichsgedanken des deutschen „Rolandsliedes“; Nellmann, Karl der Große und König David im Epilog des deutschen Rolandsliedes; Nellmann, Die Reichsidee; Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 271–275. Ashcroft deutet Karls Zorn in Anlehnung an Althoff als Reaktion auf die Verletzung der Regeln eines colloquium publicum, das Konsens und somit Einmütigkeit zu zeigen habe, gegenüber einem colloquium secretum, das als informelle Absprache jenseits der herrscherlichen Repräsentation von Kontrolle und Einmütigkeit durchaus kontrovers ablaufen könne (vgl. Ashcroft, ‚Si waren aines muotes‘, S. 37). 314 Nellmann, Die Reichsidee, S. 174. Es handelt sich um mehr als eine „Privatfehde“, da der Konflikt im Rahmen der Ratsversammlung ausgetragen wird. Nach Klein hat die Auseinandersetzung zwischen Roland und Genelun im Strickerschen Karl durch die Isolation des Letzteren seine „politische Sprengkraft“ im Herrschaftsverband Karls verloren (dies., Strickers ‚Karl der Große‘, S. 302). Es ist zu präzisieren, dass Genelun den Herrschaftsverband zwar nicht sprengt, ihn aber doch auf eine empfindliche Zerreißprobe stellt, die seine Konstitution problematisiert. Vgl. zur Kritik an Kleins Deutung Wolf (ders., ‚Sante Karle‘, S. 108), der wie im Rolandslied auch im Strickerschen Karl eine „Widerspiegelung des Konflikts zwischen Zentral- und Partikulargewalt“ erkennt (ebd., S. 113). Es handelt sich um einen öffentlichen Konflikt zwischen einzelnen Trägern der Partikulargewalt, der sich auf den gesamten Herrschaftsverband auswirkt und somit auch das Verhältnis von Zentral- und Partikulargewalt betrifft, die nur schwierig präzise zu differenzieren sind. Ott-Meimberg resümiert treffend – und auf die anderen oberdeutschen Bearbeitungen übertragbar – das Folgende: „Es kann, so gesehen, überhaupt keinen rein persönlichen Konflikt geben (auch die Frage nach seinen Ursachen wird damit für den Kontext des ‚Rolandsliedes‘ überflüssig); ein Zerwürfnis zwischen zwei Gliedern der Gemeinschaft muß bei deren Struktur notwendig Kreise ziehen, die es – vor allem in einer Krisensituation wie der äußeren Bedrohung durch die Heiden hier – zur Katastrophe für den ganzen ‚Staat‘ werden lassen“ (dies., Staatsroman, S. 153). Abgesehen von der Terminologie (Stichwort „Staat“) ist Ott-Meimberg zuzustimmen, obgleich m. E. neben der politischen Problematik und Geneluns Feindseligkeit im Besonderen die spirituelle Seite der charismatischen Gemeinschaft um Karl angesprochen wird.

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lun und Roland zurückstehen müssen. Auch im Buch vom heiligen Karl klärt der Herrscher die Weisungsverhältnisse auf: ‚Gegenelun, hab kein ungemach. Du farst nütt dur Ruolancz wilen, du farst dur gotes und des glouben willen. Die bottschafft ist min und macht sy also werben. Du und als din geschlecht ist sin uff komen. Do von byß fro und laß din zornnes.‘ (BhK 40,34–41,2)

Eine Erweiterung gegenüber dem Rolandslied ist die Aussage Karls, dass Genelun für Gott und den christlichen Glauben als Bote ausfährt, denn im Rolandslied geht es nur um die Ehre des Reiches.315 Der Stricker kombiniert die Ehre des Reiches mit der Gnade Gottes, die Genelun durch die getreue Ausführung des Botendienstes erwerbe.316 Das Buch vom heiligen Karl fokussiert schließlich einzig Gott und den Glauben in Verbindung mit Karl als Auftraggeber. Karl unterweist Genelun und hält fest: zorn ist nehein guot. / nim widere mannes muot (RL 1498 f.); er hält ein zorniges Gemüt – welches Roland von der Botensendung disqualifizierte – nicht für die angemessene ‚männliche Haltung‘.317 Genelun soll als kaiserlicher Repräsentant, als zunge unde mîn munt (RL 1512), mit den Heiden verhandeln, eine Segensformel und ein Kuss beschließen die Beauftragung. Geneluns Gefolge, das sich zu seiner Begleitung bereitmacht, wirkt beeindruckend und wird Karls würdig gepriesen.318 Weiterhin stellt Karl Genelun das ausgezeichnete Pferd Tachebrun zur Verfügung, worauf es heißt: Karl was aller tugende vater (RL 1635). Auch beim Stricker wird Genelun von Karl ganzheitlich ausgestattet und als kaiserlicher Gesandter markiert, doch diese Machtvisualisierung ist nur dem Anschein nach eine Kontrolle über den Boten,319 der gegenüber Karl seine Loyalität beteuert und seine Drohung gegenüber Roland erneuert – mînem hêrren lieben / wil ich gerne dienen. / er getet mir nie nehein leit (RL 1638–1640).320 Genelun gebärdet sich zur Verabschiedung gemäß höfischem Comment: Genelûn neic dem kaisere schône (RL 1668). Das Buch vom heiligen 315 Vgl. RL 1414 f. 316 Vgl. K 2071 u. 2080. 317 Vgl. dazu Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 114 mit Anm. 113. 318 Genelun selbst macht als Stellvertreter Karls einen besonderen Eindruck auf die Heiden: dô sprâchen die heiden, / sine sæhen in dirre werelte / neheinen sô starken lebenten. / sîn antlizze was hêrsam. / sîn varwe, diu bran / sam die liechten viures flammen (RL 1655–1660). Diese Lichtwirkung Geneluns kann dem ähnlich inszenierten herrscherlichen Glanz Karls in der Hoflagerszene (vgl. dazu Kapitel III.4) gegenübergestellt werden als Diskussion der schwierigen Perzeption und Kategorisierung von ‚Schein‘ und ‚Sein‘ – das strahlende Äußere erweist sich nicht als verlässlicher Spiegel innerer Integrität, es bedarf genauerer Prüfung. Vgl. zur Ambiguisierung von Farben, (Gold-)Glanz, Prachtentfaltung und der Problematik von ‚Schein‘ und ‚Sein‘ im Rolandslied Klein, Die Farben der Herrschaft, S. 40–87 sowie die Übersicht auf S. 128. Vgl. dazu auch Gerok-Reiter, Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers, S. 84–87. 319 Es wird eine Substitution erfolgen, indem die auf Karl zurückgehende Ausstattung Geneluns vollständig ersetzt wird durch eine Ausstattung von Marsilie. Vgl. zu den Gaben, die Genelun erhält, auch Oswald, Gabe und Gewalt, S. 280–284. 320 Vgl. K 2131–2135.

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Karl deckt, anders als der Pfaffe Konrad und der Stricker, Geneluns Verstellung auf: Gegenelun gebaret sich gar trüklich, anders denn im an dem herczen wer (BhK 41,12 f.) – die Hypokrisie des Verräters macht auch vor dem Herrscher nicht halt.321 Damit bricht er nicht direkt mit Karl, doch der Bruch mit Roland und die Verstellung implizieren eine Frontstellung, denn Karls Herrschaft basiert wesentlich auf Harmonisierung, Einmütigkeit und einem Kollektiv, das eine Axiologie teilt, die eine Fragmentierung und Individualisierung nicht zulässt. Die schwierige, konfliktreiche Ratsversammlung, im Besonderen der Konflikt zwischen Roland und Genelun und das zweimalige Eingreifen Karls, um zunächst auf Einmütigkeit zu drängen und schließlich deutlich zu machen, dass Geneluns Botensendung auf seinen herrschaftlichen Befehl hin geschehe, stellen das Bild eines harmonisierten, in einheitlichem Streben, in Transzendenzbezug und freiwilliger Fügung unter Karls Herrschaft stehenden Kollektivs in Frage. Die charismatisierte Gemeinschaft um den charismatischen Herrscher wird also in der Ratsversammlung seziert und in einer individuellen, den Mitgliedern eigene Züge verleihenden Darstellung mit dem Ideal einer spannungslosen Harmonie konfrontiert. Die Agonalität einer auf hierarchischer Organisation basierenden Sozialstruktur scheint auf und wird als Sinnbild der Zersetzung einer (egalisierenden) Einmütigkeit gegenübergestellt. Nur unter Androhung von Strafe und scharfen Ermahnungen gelingt es Karl, Konflikte einzudämmen und die Versammlung zu leiten, der Bruch mit Genelun und seine Desintegration sind irreversibel und aus handlungslogischen wie -motivierenden Gründen der Erzählung von Verrat, Kampf und Rache notwendig eingeschrieben. Neben diesen Karls idealer Herrschaft zuwiderlaufenden Szenen werden Aussagen auf figuraler Ebene inseriert, die auf Karls ideale Führerschaft und christliche Leitung verweisen und ihre Geltung befestigen. Mit Geneluns Aufbruch ist die Ratsversammlung aufgelöst, seine Schmähungen hallen nach und wenige Verse nach seinem Abschied beschließt er mit den Heiden Rolands Tod, der zugleich einen empfindlichen Angriff auf Karl, auf das Herrscherherz, bedeutet: der keiser en mac sich niemer erhalen. / er erstirbet vor laide (RL 2474 f.). Genelun wird von seiner Mission zurückkehren, die Ratsversammlung mit einer List gegen Karls Willen untergraben und Roland so erfolgreich als Statthalter in Spanien einsetzen lassen. Erst dann erkennt Karl, dass Genelun unumkehrbar aus der christlichen Axiologie und seinem Herrschaftsverband ausgeschieden ist, und fragt: jâ dû vâlantes man, / warumbe hâst du so getân? (RL 3101 f.)

321 Die Heiden können im Übrigen Geneluns Scheinheiligkeit dechiffrieren und seine Bestechlichkeit erkennen, wan sy kanttend an im, das er durch guocz willen ted, was man wolt, und sprachent ze dem keisser, er kond kein andern dar han gesant, der innen lieber wer (BhK 41,24–27).

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3.3 Zwischenergebnis Als Herrscher bildet Karl das Zentrum seines Herrschaftsverbands und stellt eine Verbindung zur Transzendenz als höchstem autoritativen und legitimatorischen Bezugssystem her. Die Bezugnahme ist zirkulär: Gott und sein Reich sind Ausgangspunkt der Legitimation und Weisungen Karls sowie ultimativer Bezugs- und Zielpunkt allen christlichen Handelns und Strebens in der Immanenz. Die Charismatisierung des Herrschers und seines Kollektivs verläuft in allen oberdeutschen Bearbeitungen in einer vertikal organisierten (Himmel – Erde; Gott – Engel – Karl) und pluralisierenden Bewegung (Karl – Zwölf Paladine – Vasallen – Kreuzzugsheer). Die Dispersion des Charismas – im religiösen Sinne verstanden als göttliche Sendung und Heilsaufgabe – korreliert mit der Notwendigkeit einer Konsolidierung des Herrschaftsverbands, dessen Funktionieren für Karls Handlungsfähigkeit essentiell ist. Deshalb verwenden die Texte Sorgfalt darauf, die Disposition der Beherrschten, die Qualität ihrer Bindung an Karl sowie ihr Verhältnis zu einer dominanten christlichen Axiologie auszuleuchten, die immanentes Handeln stringent auf transzendente Konsequenzen abbildet. Indem Karl den Zwölf Paladinen das Unternehmen der Spanienmission als Auftrag Gottes vorlegt, wird die Verhandlung religiös aufgeladen und als bereits entschieden ausgegeben: Die Zwölf werden Karl folgen, es gibt keine Offenheit der Kommunikation bzw. der Entscheidung. Vor diesem Hintergrund können die Modalitäten, die zur Gefolgschaft führen, umso deutlicher hervorgehoben werden. Es liegt eine charismatische Qualität der Herrschaftsbeziehungen und -legitimation vor, wenn man Charisma – nun im soziologischen Sinne – als Einschluss „alle[r] Formen von Autorität, Führung oder Herrschaft, die auf emotionalen Bindungen zwischen einem Einzelnen und einer unterstützenden Gruppe beruhen“, versteht.322 Zum einen zeichnen die Zwölf als nächstes Umfeld des Kaisers ihre Loyalität gegenüber Karl, ihre Gottgefälligkeit sowie ihre Beratungs- und Kampffähigkeiten aus. Zum anderen ist ihre Bindung an Karl affektiver Natur und ihr Interesse am Gehorchenwollen dem Herrscher gegenüber erscheint frei von Zwang. Im diachronen Durchgang vom Rolandslied zum Buch vom heiligen Karl zeigt sich in diesem Zusammenhang eine Steigerung der emotionalen Beziehung zwischen Karl und seinem Neffen, der auch den ersten Rang im Herrschaftsverband einnimmt: Roland ist [d]er erst und der aller liepst (BhK 27,22). Die Verhandlung um den Kreuzzugsaufruf Karls offenbart schrittweise, dass alle Mitglieder des Herrschaftsverbands eine kollektiv geteilte und damit verbindlich gemachte christliche Axiologie und Ethik einen, die zur freiwilligen Gefolgschaft motivieren. Diese Einmütigkeit erweist sich als zentrales Element der Herrschaftskonstitution, das die soziale Interaktion von der Engelsbotschaft bis zum Aufbruch des Kreuzfahrerheers durchformt – und auch in der späteren Ratsversammlung Geltung beansprucht. Das Interesse am Gehorchenwollen wird also in-

322 Hartmann, Selbststigmatisierung, S. 20.

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trinsisch begründet, frei von Zwang und Sanktionen. Gegenüber dem Rolandslied inszenieren der Stricker und das Buch vom heiligen Karl eine besonders harmonische Verknüpfung transzendenter Kommunikation zwischen Gott und Herrscher sowie immanenter Kommunikation zwischen Herrscher und Beherrschten durch die Einfügung Durndarts und Olifants als persuasive Acheiropoieta. Das Zeigen beider Objekte weist Karl als charismatisierten Führer aus, führt zur unmittelbaren Unterstützung bei der Heidenmission und lässt die Beherrschten ein affektiv verstärktes Interesse am Gehorchenwollen artikulieren.323 In allen oberdeutschen Bearbeitungen ergibt sich also eine Übereinstimmung des Legitimitätsanspruchs Karls und des Legitimitätsglaubens der Gefolgschaft und somit eine Konvergenz der Sozial-, Herrschaftsund Sakralitätsstruktur. Denn die „offenbarte[] oder geschaffene[] Ordnung[]“,324 für die Karl stellvertretend steht, ist eine göttliche, wodurch Gehorsam gegenüber Karl Gehorsam gegenüber Gott impliziert und andersherum. Diese literarische Inszenierung von Karls Herrschaft lässt sich auch mit den Parametern nach Erkens als Modell von Herrschersakralität beschreiben. Karl ist zum einen Herrscher von Gottes Gnaden und zum anderen handelt er als Stellvertreter Gottes auf Erden:325 Die besondere Nähe Karls zu Gott wird unter anderem kommunikativ hergestellt (Gebet, Engel) und in vasallitisch-feudaler Terminologie in der Rolle Karls als gotes dienestman ausgedrückt. Anders als das Rolandslied und Strickers Karl erklärt der Herrscher im Buch vom heiligen Karl, dass es nicht sein, sondern ‚Gottes Wille‘ ist, der den Paladinen aufträgt, die Heidenmission zu unterstützen.326 Dadurch unterstehen der Herrscher und sein Gefolge gleichermaßen dem Willen Gottes und Karl bezieht im Rahmen einer christlichen Axiologie aus der Auftraggeberschaft Gottes für die Mission und damit für sein Herrschaftshandeln legitimierendes Potential. Er handelt auf Geheiß und von Gnaden Gottes, um göttliche Ordnung auf Erden – nun in Spanien – herzustellen. Karl obliegt schließlich eine „priesterähnliche Verantwortung für die ihm anvertraute Gemeinschaft vor Gott“,327 was sich in seinen Ansprachen an die Zwölf sowie an das gesamte Kreuzfahrerheer niederschlägt, die durch ihre predigthaften Züge ‚priesterähnlich‘ ausfallen. Karl verhilft den Christen überdies zum ewigen Leben, denn er eröffnet mit dem Kreuzzug über das Martyrium einen Weg zu Gott für alle Christen:328 Karls heilsindividuelle Tat – er gewinnt gemäß der Engelsbotschaft

323 Vgl. K 556 f. u. BhK 28,7–10. 324 MWG I/23, S. 453. Vgl. auch WuG5, S. 124. 325 Vgl. Erkens, Herrschersakralität, S. 29. 326 Vgl. BhK 27,35 f. 327 Erkens, Herrschersakralität, S. 29. 328 Dabei zeigt sich im Vergleich der oberdeutschen Bearbeitungen eine Abschwächung des gewalttätigen Aspekts des Kreuzzugs, der zu einer nahezu konfliktfreien Mission verklärt wird: Der Stricker ersetzt das zestœren (RL 85) der ‚Heidenschaft‘ im Rolandslied durch cheren (K 527) und das Buch vom heiligen Karl spricht nachfolgend von bkeren (BhK 27,35). Karl erscheint so zunehmend als friedfertiger Herrscher (rex pacificus).

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das ewige Leben in Spanien – wird heilskollektiv geöffnet und ist zuträglich für das Bezugssystem der Christen, sodass der sakrale Herrscher für seine Beherrschten als Katalysator und Ermöglicher von Heil figuriert. Dagegen steht die Ratsversammlung in Spanien unter anderen Vorzeichen: Sie ist stärker politisch aufgeladen und findet nicht in Stufen vom innersten Zirkel der Zwölf Paladine bis hin zum gesamten Kreuzzugsheer statt (vertikale Struktur und pluralisierende Bewegung), sondern in einer großen Versammlung. Das Ergebnis und der Verlauf der Verhandlungen sind ungewiss, ein vorbestimmender göttlicher Ratschluss fehlt und Karl bindet sich an den Ratschluss der Anwesenden. Also entfällt eine verbindliche transzendente und legitimierende Einfassung der Versammlung und nach sechs Jahren Krieg erscheint Einmütigkeit als kohäsives und Herrschaftshandeln ermöglichendes Element strapaziert. Ratsversammlungen sind im Besonderen geeignet, um eine Überprüfung der Stabilität der Einmütigkeit eines Herrschaftsverbands zu inszenieren, denn auch in der realhistorischen Praxis ist die Beratung ein Ort, „an dem immer wieder die Alternative von Konsens oder Konflikt zur Debatte stand“.329 Auch das Beratungsziel einer möglichst konfliktfreien Konsensherstellung verbindet die Inszenierung der Versammlung in den oberdeutschen Bearbeitungen mit historisch verbürgter Beratungspraxis.330 Zwar überlagert die Charismatisierung Karls und seiner Beherrschten im Verbund mit einer Einmütigkeit eine agonale Struktur im Herrschaftsapparat. Doch treten genealogische Faktoren wie ‚Sippe‘ und ‚Herkunft‘ gekoppelt mit sozialen wie ‚Ehre‘ und ‚Rang‘ nun in scharfen Gegensatz zur kollektiven Harmonie, wie der Konflikt zwischen Genelun und Roland anschaulich macht. Diese öffentliche Konfrontation zwischen einzelnen Trägern der Partikulargewalt wirkt sich auf den gesamten Herrschaftsverband aus und betrifft somit auch die herrscherliche Zentralgewalt. Diese Destabilisierung fordert Karls Herrschaft zur Bewährung heraus. Und der Herrscher reagiert auf diesen Umstand mit drei Strategien: Er zielt erstens auf einen transzendenten, d. h. religiös und damit axiologisch verbindlichen Rahmen für die Versammlung – der Heilige Geist soll die beste Entscheidung herbeiführen und der Rat soll zu Gottes und der Christen Ehre entscheiden. Zweitens versucht er, seinen innersten Zirkel der Zwölf Paladine schadlos zu halten, also nicht von sich trennen zu lassen, und ist somit auf die Stabilität, das Fundament seiner Herrschaft und ihren Erhalt bedacht. Der Stricker betont die Unabkömmlichkeit der Zwölf als Karls Schutz- und Ratsmannschaft; darin folgt ihm das Buch vom heiligen Karl, das die Zwölf als ‚Geheimrat‘ bezeichnet. Der Herrscher verknappt somit nach eigener Maßgabe die Ressourcen der Entscheidungsfindung und greift steuernd in den Beratungsprozess ein. Drittens versucht Karl die gefährdete Kohäsion in der Versammlung zu schützen. Dabei reagiert das Herrscherherz auf fehlende Einmütigkeit und ausbleibenden Konsens und erscheint

329 Althoff, Kontrolle der Macht, S. 16. 330 Vgl. ebd., S. 25.

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so als Zentrum der affektiven, auf Einmütigkeit basierenden Bindungen zwischen Karl und seinem Kollektiv, deren drohende Fragmentierung das Innerste des Herrschers trifft.331 In der Folge zwingt Karl unter Androhung von Strafe zur Konsensherstellung und demonstriert seine herrscherliche Macht. Auf diese Weise treten auf Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit basierende Herrschaft und die individuelle Durchsetzung von Interessen, also ‚Macht‘ im Sinne Webers, temporär auseinander.332 Das Buch vom heiligen Karl macht die darauffolgende Konsensherstellung, die alle Mitglieder der Beratung und auch den keisser selber (BhK 40,21) einschließt, besonders explizit und erklärt als einziger Text im Corpus, dass Genelun Rolands Motive falsch deutet, denn er hatt es im von frünschaff gethan (BhK 40,25). Alle oberdeutschen Bearbeitungen machen deutlich, dass Konsens nur auf Grundlage einer von allen Mitgliedern des Herrschaftsverbands geteilten christlichen Axiologie hergestellt werden kann. Einstimmigkeit braucht Einmütigkeit. Geneluns Verletzung der christlichen Axiologie – sein Streben nach irdischen Gütern und Geltung –, seine offenen heftigen Angriffe auf Roland, die Ratgeber und den Kaiser selbst machen kollektive Einmütigkeit unmöglich, verhindern eine Konsensherstellung frei von Zwang und gefährden schließlich Karls Herrschaft. Zum Preis der unumkehrbaren Desintegration des späteren Verräters gelingt es Karl, einer größeren Fragmentierung seines Herrschaftsverbands Einhalt zu gebieten und die christliche Axiologie schadlos zu halten. Aufs Ganze gesehen führen die Konflikte in der Ratsversammlung die Risiken einer nicht autokratisch, sondern unter breiter Beteiligung konsensuell hergestellten Entscheidung vor und charakterisieren damit Karls Herrschaftshandeln, das auf die einmütige Mitwirkung seines Verbands gestützt ist. Blendet man die Gemeinschaftsstiftung im Kreuzzugsaufruf und die Gemeinschaftsgefährdung in der Ratsversammlung als exemplarische Szenen übereinander, dann lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Herrschaft erscheint dann stabil, wenn sie nicht explizit gemacht wird. Herrschaftsstrukturen werden vor allem dann sichtbar, wenn Routinen gestört werden und ihre Legitimation in Frage steht. Wenn Karl nicht explizit als Herrscher oder in einer herrschenden Funktion profiliert wird, dann können sogar Hierarchien bewusst abgetragen werden (Brüderlichkeitsethik; ‚Wir‘) und eine Orientierung des Kollektivs inklusive des Herrschers an überindividuellen Bezügen kann den Zusammenhalt des Herrschaftsverbands steigern (Transzendenzbezug; christliche Axiologie). Wird Karls Herrschaft implizit oder explizit in Frage gestellt – wie es in der Ratsversammlung durch Genelun geschieht –, dann bedarf es der Versicherung ihrer Geltung, wie die legitimierenden Lobpreisun-

331 Und genau auf das Herrscherherz werden sich die Angriffsversuche der Heiden und Geneluns richten, um Karls Herrschaft zu schwächen, ihn herrscherlich zu lähmen (vgl. dazu Kapitel III.6). 332 Weber definiert ‚Macht‘ – wie bereits in Kapitel II.2 herausgestellt – in Abgrenzung von ‚Herrschaft‘: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (MWG I/23, S. 210 [Hervorhebung übernommen]; vgl. auch WuG5, S. 28).

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gen Karls aus dem Munde seiner Ratsmitglieder beweisen. So preist Turpin Karls Herrschaft von Gottes Gnaden und der Stricker steigert gegenüber dem Rolandslied die frei- und bereitwillige Gefolgschaft, denn die Karl unterstehenden Könige loben ihn stets und dienen ihm gern.333 Karls Herrschaft wird in Kongruenz zu Webers Definition ‚echter‘ Herrschaft als eine ‚zwanglose‘ vorgestellt. Beim Stricker unterwerfen sich die Könige zudem zum einen Karl (iu [K 1616]), also seinem persönlichen, sterblichen Körper und zum anderen seiner Krone (iwerre chrone [K 1616]), also seinem überpersönlichen, unsterblichen Amtskörper. Damit scheint eine Konzeptualisierung der Herrschaft auf, die den Herrscherkörper in der Immanenz differenziert in Person und Amt und beides wiederum in ihrem Ursprung, der Transzendenz, nichtdifferenziert zusammenführt. Das Buch vom heiligen Karl akzentuiert die Turpin-Rede anders als das Rolandslied und der Stricker, denn anstelle von Panegyrik steht die Mahnung zur Einhaltung des Fünften Gebots, womit der Bearbeiter abermals einem friedfertigen, auf Gewalt verzichtenden Herrscherideal (rex pacificus bzw. roi souffrant) Ausdruck verleiht. Im Gegensatz zu Lobpreisungen durch andere Figuren – wie sie das Rolandslied und der Stricker bieten – kann schließlich eine autoreferentielle Aussage Karls zu seinem herrscherlichen Status eine Infragestellung seiner Autorität indizieren, wie sein Abdankungsangebot im Genelun-Prozess eindrücklich beweist. Alsdann liegt es bei den Beherrschten, dem Erzähler oder bei Gott, die Geltung der herrscherlichen Autorität wiederherzustellen.

4 Karl ist der tiureste man: Herrscherliche Geltung in figuraler Wahrnehmung und Rede Genelun ist nach seiner Nominierung zum kaiserlichen Boten auf dem Weg zu Marsilie. Sein Begleiter, der Heide Blanscandiz, fragt ihn recht unvermittelt nach Karls Herrschaft und den Modalitäten, die dazu führen, dass er bei den Fürsten Gehorsam findet: weder daz den fFrsten sanfte tů / oder twinget si Karl dar zů, / durch got, daz lat mich verstan (K 2243–2245). Er zielt mit dieser Frage auf den zentralen Punkt von Herrschaft, nämlich auf die Gründe, die bei den Beherrschten zum Gehorsam führen: Liegt ein freiwilliges Interesse vor oder herrscht Zwang? Diese Frage ist für die Inszenierung von Herrschaft fundamental und findet bei Christen und Heiden unterschiedliche Beantwortung. Denn die Texte kontrastieren in einem jeweils differenten axiologischen Setting christliche Herrschaft auf Basis von Freiwilligkeit und heidnische Herrschaft, die bisweilen auf Zwang zurückgreift.334 Die zur Untersuchung stehenden Texte verhandeln Karls Herrschaft auf verschiedenen Ebenen und 333 Vgl. K 1618–1620. 334 Exemplarisch und eindrücklich zeigt das die Androhung des Todes bei Desertierungsversuch als Verpflichtung der Heiden zum Kampf (angedeutet in RL 4447 u. explizit in K 5386–5388). Marsilie verspricht per Eid, jeden zu töten, der zu fliehen versucht (vgl. RL 5437–5440 u. K 6459–6462)

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in unterschiedlichen Perspektiven. Im vorausgehenden Kapitel ist Karls herrscherliche Geltung in performativer Dimension anschaulich geworden, indem sein Handeln in Wort und Tat im Zuge des Kreuzzugsaufrufs und der Ratsversammlung in Spanien unter Einbeziehung der Interaktion innerhalb seines Herrschaftsapparats betrachtet worden ist. Auch dort werden figurale Aussagen zu Karls herrscherlichem Status getroffen, die jedoch in seinem Beisein und von Mitgliedern seines Herrschaftsapparats in direkter Rede an ihn gerichtet sind (vgl. u. a. Turpin und Johannes). Stand somit die interne christliche Kommunikation von Herrschaft im Mittelpunkt, soll nun auch eine Außen- bzw. Fremdwahrnehmung hinzutreten. Denn Karls herrscherlicher Status ist – wie das obige Zitat des Blanscandiz exemplarisch zeigt – auch für die Heiden ein relevanter Gesprächsgegenstand. So sollen in Ergänzung der Erzählerrede figurale Aussagen auf intra- wie interreligiöse Konstanten und Differenzen untersucht und als Beiträge zu einem ‚Diskurs‘ über Karls Geltung als (sakraler) Herrscher ausgewertet werden.335 Dazu sollen zunächst in Kürze die grundlegenden Aussagen des ‚innerheidnischen‘, also des intrareligiösen Karlsdiskurses der Heiden vor Entsendung der Boten zur Unterbreitung des (vermeintlichen) Unterwerfungsgesuchs Marsilies zusammengetragen werden (Kapitel III.4.1). In einem zweiten Schritt soll die Hoflagerszene als Wahrnehmung Karls über die Augen und Ohren der heidnischen Boten betrachtet werden, um seine unmittelbare Wirkung auf Figuren außerhalb seines christlichen Kollektivs zu bestimmen (Kapitel III.4.2). Damit wird zum einen die zuvor im innerheidnischen Diskurs profilierte Episteme in Bezug auf Karl nun in Interaktion mit dem Herrscher in performativer Dimension anschaulich gemacht. Zum anderen findet das sakrale Herrscherporträt Betrachtung, das Karl epiphan zeichnet und mit einem Set an Attributen versieht, das ihn typologisch an die alttestamentlichen Könige David und Salomo sowie an Christus selbst zurückbindet. Das literarische Porträt bildet den Kern der Hoflagerszene und gilt der Forschung seit jeher als bedeutende, wenn nicht sogar bedeu-

und gegenüber Paligan schwören die Kämpfer, jeden Fahnenflüchtigen zu töten (vgl. RL 8118–8122 u. K 9473–9480). 335 Grundsätzlich bezeichnet ‚Diskurs‘ „einen durch Äußerungen produzierten sozialen Sinn- oder Kommunikationszusammenhang“ (Johannes Angermuller: Art. Diskurs. In: DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Hrsg. von Daniel Wrana u. a. Berlin 2014 [stw. 2097], S. 75–78, hier S. 75). Ich möchte unter ‚Diskurs‘ im Folgenden in den Texten aufzufindende Aussagen zu einem bestimmten Gegenstand, zu einem „thematisch-semantische[n] Feld“ (ebd., S. 76), begreifen. Im vorliegenden Fall werden Aussagen in wörtlicher Figurenrede und in Erzählerrede vorgebracht, die Karl und seine Herrschaft betreffen und ihre Geltung und Anerkennung verhandeln. Die Gruppenzugehörigkeit wird in den Texten von der Religionszugehörigkeit abhängig gemacht, sodass sich religionsspezifische, jeweils von Christen und Heiden getragene Diskurse finden. Diese intrareligiösen ‚Karlsdiskurse‘ stehen nicht spannungslos nebeneinander, denn sie werden in einem interreligiösen Diskurs miteinander konfrontiert. Vgl. zur Figurenrede u. a. Martin H. Jones, Zum Gebrauch der Figurenrede (mit weiterer Literatur zum Thema); Strauss, Redegattungen und Redearten; Brinker-von der Heyde, Redeschlachten – Schlachtreden.

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tendste Stelle zur Interpretation der Karlsfigur im Rolandslied. Diese Bedeutung ist mit Blick auf die späteren oberdeutschen Bearbeitungen, Strickers Karl und das Buch vom heiligen Karl, zu diskutieren. In einem dritten Schritt soll die interreligiöse dialogische Behandlung von Karls Herrschaft, die Genelun mit Blanscandiz und Marsilie unternimmt, analysiert werden (Kapitel III.4.3). Dabei wird sich eine Hierarchisierung der in den Texten angelegten Diskurse über Karl zeigen, die eine Dominanz des christlichen gegenüber dem heidnischen Diskurs vorsieht. Schließlich sollen die Aussagen der Königin Brechmunda (Juliane) behandelt werden, die nämlich sowohl als Heidin als auch nach ihrer Konversion zum Christentum als Juliane am Karlsdiskurs partizipiert und damit religionsspezifische Perspektiven auf seine Herrschaft und ihre Legitimation offenbart.

4.1 Der Christenherrscher im ‚innerheidnischen‘ Diskurs Karl hält bedingungslos an der Belagerung Saragossas fest, der letzten Stadt, die den Heiden geblieben ist: er wolde sin arbeit enden, es enlezt in der tot; anders dehein not chunde in der von gescheiden. (K 914–917)336

Beim Stricker werden die Heiden von dieser Überzeugung Karls unterrichtet, woraufhin sich Todesangst unter den Belagerten breitmacht.337 Auch im Rolandslied löst die Nähe des Kaisers Schrecken aus: die heiden entsâzen in daz, / daz in der keiser sô nâhe was (RL 389 f.). In dieser bedrohlichen Lage schließen sie auf Karls militärische Übermacht sowie auf die Unmöglichkeit, gegen ihn im Kampf bestehen zu können: sichn dorft gein Karls her / niemen ze deheiner wer / nimmer erbîeten (K 923–925). Die anschließende Beratung darüber, wie mit Karl zu verfahren ist, manifestiert wiederholt den Aspekt der Unbesiegbarkeit und Erbarmungslosigkeit des Kaisers.338 Im Rolandslied berät einzig Blanscandiz den König Marsilie, beim Stricker wägen die Heiden vor dem Rat des Blanscandiz drei verschiedene Möglichkeiten ab: Wollen sie am Leben bleiben, müssen sie entweder die Taufe empfangen und können in ihrem Land bleiben oder sie müssen, wenn sie nicht konvertieren,

336 Vgl. auch RL 385–389. 337 Vgl. K 918–921. 338 Zwar wird auch in der Chanson de Roland Karls militärische Dominanz angesprochen und einem zahlen- wie kräftemäßig unterlegenen Heer unter Führung Marsilies gegenübergestellt (vgl. ChdR 16–19); doch wird Karls Macht nur kurz benannt und nicht eingehend verhandelt wie im Rolandslied und den nachfolgenden oberdeutschen Bearbeitungen.

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ihr Land verlassen. Die dritte und letzte Option reflektiert Karls militärische Macht und beweist, dass Widerstand gegen die Christen zwecklos ist: wolden si sich aber wern, sone chunde si niemen genern; si mFsen benamen tot ligen: Karlen moht niemen an gesigen. (K 937–940)

Karl gilt den Heiden in Übereinstimmung mit der Engelsbotschaft als unbesiegbar, doch nicht aufgrund göttlicher Gnade, sondern aufgrund seines unbedingten Eroberungswillens sowie seiner militärischen Ressourcen. Marsilie fürchtet zudem Karls Temperament, seinen ‚grimmen Mut‘,339 und konstatiert: er chumt mit so grozzer chraft, / het ich alle heidenschaft, / ich endorfte in doch niht bestan (K 991–993).340 Blanscandiz bestätigt seinem Herrn die Durchschlagskraft Karls: ‚Karl vert mit gewalte. welle wir im wider stan, so mFze wir verlorn han beide gůt und leben [...].‘ (K 1088–1091)341

Dass Karl in Spanien ‚mit Gewalt‘ vorgeht, entspricht der Bilanz, die der Erzähler zuvor von Karls Vorgehen als vil harte gwaldeclîche (RL 363)342 zieht – gemeint ist der Umgang mit den Heiden gemäß der Losung ‚Tod oder Taufe‘. Alle drei oberdeutschen Bearbeitungen inszenieren die figurale Wahrnehmung und Rede der Heiden in gleicher Weise, die sich pointiert so ausdrückt: Gegen Karl ist militärischer Widerstand zwecklos, [w]on Karlus mag nieman widerstan (BhK 32,3 f.). So wird ein stabiler Diskursbaustein zu Karls Herrschaft über die Textreihe tradiert, der wie gezeigt in Passung zur Erzählerrede steht. Der Stricker fügt gegenüber dem Rolandslied einzig die drei Optionen der Heiden ein und formuliert in allen Punkten etwas ausführlicher; das Buch vom heiligen Karl übernimmt die drei Optionen vom Stricker und reduziert die Ausführlichkeit des Prätextes, indem zentrale Aussagen zu Karl als Summe gebündelt werden. Karl schöpft also in allen Bearbeitungen im innerheidnischen Diskurs seine Stärke nicht aus einer transzendenten Quelle, er ist weder mit einer außeralltäglichen Eigenschaft begabt noch göttlich begnadet. Bei der Kategorisierung der phänomenalen Seite seines herrscherlichen Wirkens wird eine transzendente Sinn-

339 Vgl. K 1071. Vgl. auch BhK 33,6 f. 340 Vgl. auch RL 410–416 u. 510 f. Das Buch vom heiligen Karl betont ebenfalls die überwältigende ‚Kraft‘ des Kaisers: won er kumpt mit sölicher kraft und macht, das ym nieman mag widerstan (BhK 32,13 f.). 341 Vgl. auch RL 528 f. und im Anschluss an den Stricker BhK 33,11–13. 342 Vgl. K 876 u. BhK 31,20.

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ebene in der Episteme der Heiden vollständig ausgeblendet: Alle außerordentlichen Phänomene wurzeln in der Immanenz. Die oberdeutschen Bearbeitungen inszenieren auch die Religion der Heiden bekanntlich als polytheistische ohne Transzendenzbezug, denn die Götter treten als materialisierte Götzenfiguren auf und ein Streben nach ewigem Leben oder Seelenheil fehlt. Es geht den Heiden in dieser Darstellung um ihre Ehre sowie um ‚Gut und Leben‘.343 Das Fehlen einer Einbettung des herrscherlichen Handelns Karls in einen transzendenten Horizont auf Seiten der Heiden ist somit nur konsequent: Transzendenz bleibt in der Inszenierung der zu untersuchenden Texte exklusiv den Christen vorbehalten. Wenn Karl als Herrscher auf diese Weise des Transzendenzbezugs entkleidet wird, erscheint er nach irdischer Maßgabe der Heiden als exorbitant, da er in der militärischen Auseinandersetzung nicht zu bezwingen ist.344 Die fehlende Bezugnahme auf eine externe Legitimations- und Sinnstiftungsquelle erzeugt ein Karlsbild, das einen selbstmächtigen und selbstherrlichen gewalttätigen Feldherrn ‚grimmen Mutes‘ porträtiert, der autoreferentiell Geltung herstellt und unersättlich nach Eroberungen strebt. Diese in die Außenperspektive der Heiden ausgelagerten militärischen und gewalttätigen Aspekte des herrscherlichen Handelns werden im innerchristlichen Diskurs ausgespart. Zudem wird damit die Aufmerksamkeit auf den Sinn und die Legitimität von Karls herrscherlichem Handeln gerichtet. Die Aussage der Heiden, dass niemand Karl widerstehen kann, liegt, wie die Rezipienten und die christlichen Figuren wissen, nicht in erster Linie an seinem Heer, sondern ist bedingt und vorgegeben durch göttliche Gnade. Also handelt es sich bei der militärischen Übermacht um eine Folge der primären persönlichen Begnadung durch Gott. Weiterhin ist Karl – wie die Engelsbotschaft offenlegt – für die Zeit der Spanienmission nach Gottes Willen unsterblich und folglich nicht aufgrund seiner militärischen Ressourcen und kämpferischen Vorzüglichkeit unüberwindbar. Insofern sind der Blick auf Karl und die diskursive Verhandlung seiner Herrschaft zwischen Christen und Heiden kategorial verschieden und doch eng aufeinander bezogen. Die Texte werfen Fragen zu Karls Herrschaft auf, die durch vorläufige heidnische Erklärungsmodelle beantwortet werden, die wiederum durch eine christliche Vereindeutigung korrigiert werden. Das Ringen um die Diskurshoheit bietet Raum zur Inszenierung von Karls herrscherlicher Geltung und der Sieg der christlichen Deutung installiert in einem Zug die Fama von Karls Herrschersakralität und die Herrschaft im interreligiösen Diskurs. Nun bleibt den Heiden einzig eine Möglichkeit, um die Eroberung Saragossas und ihren Tod abzuwenden, nämlich die Anwendung einer List. Die Suche nach Karls Schwachstellen führt sie zum Herzen des Herrschers und damit zu seinen emotionalen Bindungen, im Besonderen zu Roland und den Paladinen. Im Rolandslied 343 Vgl. K 1091. 344 Freilich schwingen in den späteren Ausführungen und Erklärungen Geneluns zu Karls Auftrag gerade im Rolandslied zeitgenössische Rechtfertigungsdiskurse der Gewaltmission mit (vgl. Mertens, Religiöse Identität in der mittelhochdeutschen Kreuzzugsepik).

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ist das Wissen um Karls Bindung an die Zwölf Paladine an dieser Stelle nur angedeutet,345 der Stricker lässt Blanscandiz dagegen explizit davon sprechen, wie ‚lieb‘ Karl seine Anführer sind,346 und im Buch vom heiligen Karl sind die Anführer dem Herrscher sogar aller liepst (BhK 33,20). Die genauere Beschaffenheit dieses Angriffspunkts kennt schließlich ein Eingeweihter, nämlich Genelun. Er wird dafür sorgen, das Herrscherherz zu verwunden und Roland von Karl zu separieren, wodurch ein doppeltes Ziel in Aussicht steht:347 Genelun könnte seine Fehde beschließen und an Roland Rache nehmen und die Heiden könnten nach ihrem Wunsch Karl besiegen. In diesem Zusammenhang kann die oben besprochene Gewalterfahrung in der äußeren Auseinandersetzung mit Karl plausibel machen, dass Blanscandiz Genelun später nach den Erfahrungen von Karls Herrschaft im Inneren, also für die Christen, fragt, um so strategisch zum einen eine Distanzierung Geneluns von Karl voranzutreiben und zum anderen detailliertere Informationen zum Funktionieren von Karls Herrschaft zu erhalten. Der Akt des Schließens von phänomenalen Oberflächenstrukturen – einem Schein – auf die tatsächliche und ursächliche Beschaffenheit – das Sein – von Karls Herrschaft wird auch in der folgenden Hoflagerszene zur Anwendung und Diskussion kommen sowie von den Texten um eine zweite Perspektive ergänzt: Auf der einen Seite werden die Wahrnehmung Karls durch die Heiden und ihre daraus abgeleiteten Folgerungen präsentiert und auf der anderen Seite werden die Phänomene in ihrem Transzendenzbezug spezifisch christlich gedeutet und semantisiert. Dadurch wird der profanen Erfahrung der Heiden, dem innerheidnischen Diskurs, eine Karl sakralisierende Bedeutungsdimension hinzugefügt und die Immanenz seiner Herrschaft in christlicher Transzendenz geborgen, d. h. in christlicher Diskursherrschaft aufgehoben.

4.2 Kaiserliche Epiphanie und heidnische Hypokrisie Als Beitrag zur Herrschersakralität der Karlsfigur reiht sich das Hoflager in die Gruppe szenischer Konfigurationen ein, die eindrücklich Haltungen und Handlungen des Herrschers porträtieren: Karls Gebet und der Engelsbesuch, seine Klage und Ansprache auf der Anhöhe und nun der Herrscher im Zentrum eines Hoflagers beim Schachspiel. Die Erscheinung Karls und seine descriptio im Hoflager gelten als Schlüssel zur Inszenierung seiner Herrschaft und Sakralität und auf diesem

345 Vgl. RL 563 f. 346 Vgl. K 1135–1139. 347 Der Stricker elaboriert diesen Angriff und seine Folgen auf emotionaler Ebene persönlicher Bindungen, d. h. auf Ebene charismatisch begründeter Herrschaft, als passio cordis des Herrschers (vgl. Kapitel III.6).

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‚Herrscherbild‘348 gründet bisweilen die Gesamteinschätzung der Figur.349 Ott bilanziert die Anlage der Szene, die im Kern auf die Ausgestaltung des herrscherlichen splendor abziele, wie folgt: Der Autor des ‚Rolandslieds‘, der Pfaffe Konrad, entnimmt sein Herrscherbild ohne irgendwelche Abweichungen einem tradierten Fundus festgefügter ikonographischer Formeln: dem ‚David rex et propheta‘-Modell, das, verschränkt mit der Glanz- und Lichtmetaphorik historiographischer und panegyrischer literarischer Quellen, zum verbindlichen Bildmuster der Herrscherdarstellung geworden war. Literarisch inszeniert Konrad dieses Bild nach der gleichen, sukzessiven Aneignungsstruktur, nach der sich dem vollziehenden zeitgenössischen Betrachter ein ikonisches Objekt erschloß.350

Daraus leitet Ott seine Gesamtdeutung der Karlsfigur im Rolandslied ab, Karl ist in der Handlung nicht präsent, sondern [d]er Kaiser als ‚Hort der Macht und Gerechtigkeit‘ ist vielmehr ins Überzeitliche und Ewige entrückt, schwebt wie ein statisches Repräsentationsbild über dem ganzen Text – wie die jederzeit abrufbare, dem Werk und seinem Stoff ihre Wahrheit und Gültigkeit vermittelnde David-rex-Bildformel des thronenden Herrschers.351

348 Vgl. zur Bildlichkeit der Hoflagerszene Ott, Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften, bes. S. 87 f. So handle es sich bei der Hoflagerszene um „ein Bild: keine gemalte Illustration, sondern die literarische ‚Inszenierung‘ einer ikonographischen Formel“, um eine „‚erzählte Miniatur‘“ (ebd., S. 87). 349 Vgl. für die übergreifende Bedeutung der Passage beispielsweise Richter: „Daß es sich bei dieser Hoflager-Darstellung um Kernszenen für das Kaiserbild im deutschen Rolandslied handelt, ist bei den anzuführenden Parallelen deutlich. Sie faßt die Angaben, die der Autor bis dahin fast durchweg selbständig gegenüber seiner Vorlage zum Kaiser und seinen Aktionen machte, in einem erhabenen Porträt zusammen, das verbindlich bleibt während des weiteren Verlaufs der Dichtung“ (ders., Das Hoflager Kaiser Karls, S. 96). 350 Ott, Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften, S. 87 f. Ähnlich hält Klein fest: „Insgesamt wird Karls splendor kreiert, der umfassend den vollkommenen Herrscher anzeigt in seiner Gotterwähltheit, politischen Potenz und in seinen vorbildlichen herrscherlichen Tugenden“ (dies., Farben der Herrschaft, S. 56 f.). Vgl. auch die Deutung von Haupt: „Karls splendor verbürgt bildlich-vorbildlich adeliges Heil, das sich verwirklicht in adeliger Schutzgewalt und rechtlicher Friedensordnung. Im Heil des vorbildlichen Herrschers ist der ordo regni garantiert, bildhaft erfahrbarer ordo im ‚Spiegel‘ der Hoflagerszene, die gleichzeitig Fürstenspiegel ist: In der epischen Darstellung des Friedens vor der Folie einer kriegerischen expeditio wird die Aufgabe des Fürsten zur Friedenswahrung formuliert“ (dies., Das Fest in der Dichtung, S. 49). Vgl. zum ‚David rex et propheta-Modell‘ Hugo Steger: David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts. Nürnberg 1961 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft. 6), S. 125–138 (zu Karl dem Großen) sowie Walter Dietrich, Hubert Herkommer (Hrsg.): König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Freiburg (Schweiz) 2003. 351 Ott, Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften, S. 89.

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III Literarische Herrschersakralität

Aufgrund der Inszenierung in der Hoflagerszene auf ein ‚statisches Repräsentationsbild‘ für den gesamten Text zu schließen, strapaziert jedoch die Bedeutung der Szene über. Descriptiones wie die vorliegende haben naturgemäß einen nicht-erzählenden, wenig dramatischen und damit stillstellenden Charakter, doch dürfen sie nicht zu einer Fixierung der literarischen Figur in Gänze führen bzw. als Ausweis ihrer Passivität herangezogen werden. Die Deutung von Ott zeigt, dass die Darstellung Karls in der Hoflagerszene ohne Zweifel aufschlussreich für die Konzeption seiner Herrschaft und Sakralität ist. Allerdings soll die spezifische Szene im Folgenden nicht als der Generalschlüssel, sondern als ein wichtiger Baustein zur Anlage der Karlsfigur verstanden werden. Es wird hierbei keine grundlegende Neudeutung der für das Rolandslied gut erforschten Szene versucht,352 sondern ein Vergleich der Inszenierung des Rolandslieds mit den Bearbeitungen des Strickers und des Buchs vom heiligen Karl angestellt, um das Verhältnis der Aussagen des diachron auf intertextueller Ebene geführten Karlsdiskurses nachzuzeichnen. Da der Stricker die Hoflagerszene des Rolandslieds kürzt, ihre Struktur vereinfacht und sie in eine Heerlagerszene transformiert und das Buch vom heiligen Karl die Szene schließlich auf wenige Aussagen zusammenstreicht, ist zu fragen, welche Eingriffe im Einzelnen erfolgen und wie sie die Anlage der Karlsfigur beeinflussen. Dem Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit folgend heißt das: Wie modifizieren die oberdeutschen Bearbeitungen durch Bearbeitung der Hof- bzw. Heerlagerszene die Modellierung von Karls Herrschersakralität? Die Deutung der Szene ist im Folgenden an ihrer Gliederung in Teilabschnitte orientiert und schreitet diese linear ab, um ihre Struktur für den intertextuellen Vergleich präsent zu halten.

352 Ott-Meimberg spricht bereits 1980 vom Hoflager als „so oft interpretierte[r] Szene“ (dies., Staatsroman, S. 89), sodass hier nur Leitlinien der Deutung und aktuelle Beiträge erwähnt werden sollen. Grundsätzlich können zwei Strömungen von Deutungen unterschieden werden. Zum einen Ansätze, die im Besonderen die geistlich-typologische Durchformung der Szene und der Karlsfigur herausstellen (u. a. Richter, Das Hoflager Kaiser Karls; Geppert, Christus und Kaiser Karl), zum anderen – und von ersteren abgesetzt – solche Ansätze, die stärker politisch-rechtliche und historische Bezüge betonen (u. a. Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 86–108; Haupt, Das Fest in der Dichtung, S. 36–68). Grundlegend für die Hoflagerszene und ihren Aufbau im Vergleich mit der Chanson de Roland ist bis heute Richter (Das Hoflager Kaiser Karls), dessen Interpretation die jüngere Forschung fortschreibt, erweitert oder ihr widerspricht. Das Verhältnis von Herrscher- und Adelsideal sowie das Kräfteverhältnis der beiden zueinander untersucht u. a. Ott-Meimberg (Staatsroman), im Anschluss daran deutet Gerok-Reiter (Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers) das Hoflager als „Projektionsfläche“ der metaphysisch legitimierten Herrschaft, als Verbindung von „Hof- und Herrscherreputation“ (ebd., S. 84). Vgl. auch Ashcroft,,Si waren aines muotes‘, S. 34–37. Gerok-Reiter resümiert die Forschung bis 2001: „Karl wird als der ideale Herrscher vorgestellt, dem als solchem notwendig eine ‚metaphysische Verankerung‘ zukommt, in doppelter Hinsicht: der ihn umgebende splendor Imperii verbürgt metaphysische Erwählung und verspricht metaphysisches Heil“ (dies., Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers, S. 81). Vgl. zuletzt zur Hoflagerszene Klein, Die Farben der Herrschaft, S. 40–87 (mit weiteren Literaturhinweisen); Wagner, Erzählen im Raum, S. 114–119; Tomasek, Ambivalenz eines Kaisers, S. 142f., 147, 162–166.

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Dass Konrad die literarische Szene nach einer „sukzessiven Aneignungsstruktur“ in Anlehnung an die Erschließung eines ikonischen Objekts gestaltet, wie Ott konstatiert, ist Konsens in der Forschung. Die schrittweise Annäherung der heidnischen Boten und ihre Wahrnehmung des Hoflagers eröffnen eine fokalisierte Außenperspektive auf die christliche Gemeinschaft und auf ihren Herrscher Karl.353 Diese Perspektive verhält sich zum einen komplementär und gerät zum anderen in Spannung zur Innenperspektive auf Karl und seinen Herrschaftsapparat,354 wie im Folgenden noch zu zeigen ist. Nach Überwindung des Gebirges als natürliche und zugleich raumsemantische Grenze zwischen Heiden und Christen funktioniert die Annäherung der heidnischen Boten aus der Peripherie zum Zentrum des Lagers über den Fernsinn des Sehens.355 Die visuellen Eindrücke von Farben, Flächen und Glanz werden in einer Scheinbarkeit beschrieben, denn es geht nicht primär um faktische Zustände, sondern um heidnische Perzeption christlicher Prachtentfaltung. Für die Problematik von ‚Pracht‘ und die damit verbundene gefährliche Differenz von innen und außen sensibilisiert der Erzähler im Buch vom heiligen Karl gleich zu Beginn der Szene, denn die heidnischen Boten warend alle wol bekleit und wol gecziert. Sy fuortend aber ein falsche botschaft (BhK 33,32 f.) – Pracht dient hier als Mittel der Hypokrisie.356 Die Boten schließen vom Gesehenen auf die Herrlichkeit und Herrschaft des Kaisers, die jene sichtbare Pracht noch weit überschreite:357 wider sîner herscephte / ne dörfte sich nieman behefte (RL 639 f.). Mit dieser Fremd353 Die Chanson de Roland zeigt Karl gut gelaunt in einem großen Garten mit seinen Getreuen; sie sitzen auf Seidendecken beim Brettspiel, Karl spielt jedoch kein Schach. Er sitzt auf einem goldenen Thronsessel, sein weißer Bart und sein weißes Haupt sowie sein schöner Körper und eine stolze Haltung werden beschrieben. Das Setting und die Karlsfigur werden knapp in Erzählerrede verhandelt (vgl. ChdR 96–121), eine fokalisierende Perspektive der Heiden fehlt, sie nähern sich nicht schrittweise an, sondern erscheinen unmittelbar vor Karl: E li message descendirent a pied, / Sil saluerent par amur e par bien (ChdR 120 f.). Die Ausschmückung der Szene und im Besonderen die sukzessive Annäherung der Heiden durch das Lager zum kaiserlichen Thron sind Zugaben des Pfaffen Konrad. Vgl. zu den Unterschieden zwischen Chanson und Rolandslied u. a. Richter, Das Hoflager Kaiser Karls. Bastert bilanziert für Konrads Bearbeitung: „Die Hoflagerszene gibt damit erste Hinweise darauf, dass zur Modellierung der zentralen Figur des Rolandslieds, und damit des Textes insgesamt, unabhängig von der französischen Vorlage auf unterschiedliche Diskurse zurückgegriffen wird“ (ders., Helden als Heilige, S. 271 f.). 354 Vgl. zu den Spannungen zwischen dem Eindringen der heidnischen Boten in das Lager Karls und der christlichen Gemeinschaft um den Herrscher Richter, Das Hoflager Kaiser Karls, S. 95 f.; Haupt, Das Fest in der Dichtung, S. 66–69; Wagner, Erzählen im Raum, S. 115–119. 355 Vgl. RL 630 u. 634. 356 Die Problematik des falschen Scheins ist im Umgang mit den Heiden in allen Bearbeitungen des Stoffs – von der Chanson de Roland bis zum Buch vom heiligen Karl – virulent: In Bezug auf die Christen und besonders auf Karl sind die Texte stets bemüht, die Übereinstimmung von Innerem und Äußerem zu profilieren. Bei den Heiden und beim Grenzgänger Genelun verdeckt dagegen ein glänzendes Äußeres ein verdorbenes Inneres – so auch bei den heidnischen Boten. Vgl. dazu auch Klein, Die Farben der Herrschaft, u. a. S. 77–87. 357 Vgl. RL 637 f.

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III Literarische Herrschersakralität

zuschreibung wird Karls überragende Machtposition befestigt und die Geltungsbehauptung seiner militärischen Unbesiegbarkeit aus dem innerheidnischen Diskurs konkretisierend, mit Bezug auf ihre optische Wirkung, wiederholt – Pracht figuriert hier als indexikalisches Zeichen für herrscherliche Macht. Mit diesem Schluss haben die Heiden gemessen am christlichen Karlsdiskurs recht, ohne die dahinterliegende Transzendenz zu begreifen. Die Boten schauen sich im Hoflager um,358 das im Rolandslied in einen Baumgarten untergliedert ist, der Raum für Tier- und Ritterkämpfe, Spiel und Musik, Vogeljagd und -abrichtung sowie die Rechtsvermittlung an junge Adlige bietet.359 All dies sehen die Boten nicht nur, sondern hören es auch, sodass sich die herrscherlich-höfische Pracht in Karls Lager ganzheitlich als Schau- und Klangraum entfaltet.360 Die Beherrschung der Natur sowie die Ausprägung adlig-ritterlicher Kultur, die in Form eines Katalogs aufgefächert wird, verdichten sich zu einem Ort der ‚Weltfreude‘: aller werlt wunne was dâ vil (RL 666).361 Im Baumgarten entfaltet sich in nuce ein Bildungs- und Kulturprogramm, sodass der Garten gleich einem höfischen Paradies auch als Chiffre für ideale Herrschaft verstanden werden kann. Dazu treten fein ausgestattete höfische Edelfrauen und das Heerlager erscheint Bastert als Hoflager „etwas deplatziert inmitten jener militärisch-asketischen Kreuzzugs- und Märtyrerideologie“.362 Diese Zurschaustellung höfischer Kultur kann als übermäßige Prachtentfaltung auch inkriminierender Ausdruck einer Weltverfallenheit und Genusssucht des christlichen Herrschers sein. Doch spannt der Erzähler die prächtige profane Szenerie in einen Bezugsrahmen, der sie in Übereinstimmung mit der christlichen Axiologie bringt und den Herrscher salviert:

358 Vgl. RL 641. 359 Vgl. zum Baumgarten als „Rahmen für ein glücklich-harmonisches Sozialgefüge“ (Haupt, Das Fest in der Dichtung, S. 52) und zur „Rechtslehre an die Jugend“ (ebd., S. 59). „So verdichtet sich im literarischen Text die Vorstellung von einer zivilisierten Gesellschaft, die ihr anarchisches Gewaltpotential in Freiheit zu beherrschen und zu kultivieren versteht“ (ebd., S. 61). 360 Vgl. Wagner, Virtuelle Räume, S. 117–119. 361 Vgl. zur werltwunne sowie ihrer Verwendung bei den Heiden Richter, Kommentar, S. 140 u. ders., Das Hoflager Kaiser Karls, S. 82 f. 362 Vgl. RL 667–670. Bastert, Helden als Heilige, S. 270. Für Gerok-Reiter ist die Inszenierung plausibel: „Im Zentrum der Szene steht [...] die Darstellung idealer Herrschaft“ (dies., Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers, S. 82), dazu gehört um 1170 „nicht nur der Nachweis der metaphysischen Verankerung des Herrschers sowie der Nachweis seiner heroisch-kämpferischen Kompetenz im Dienst Gottes, sondern zugleich auch die ausdifferenzierte weltliche Repräsentation von Herrschaft in einem kultivierten Hofambiente. Es scheint die kulturhistorische Relevanz der Kombination beider Glanzmomente, des religiös-transzendenten sowie des profan-höfischen, d. h. die aktuelle Faszination an der Allianz geistlicher und weltlicher Herrlichkeit gewesen zu sein, aufgrund der der Erzähler die eigentümliche Extravaganz dieser Passage im Erzählverlauf in Kauf genommen hat“ (ebd., S. 82 [Hervorhebungen übernommen]).

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sît Salomon erstarp, sô ne wart sô grôz hêrschapht noch newirdet niemer mêre. Karl was aller tugende ein hêrre. (RL 671–674)363

Auf diese Weise wird der semantische Code profaner Herrschaftsentfaltung überlagert durch einen christlich-geistlichen, der eine Deutungshoheit über die Phänomene und damit eine Diskursherrschaft beansprucht: Denn „[d]er Salomon-Vergleich ist ein Topos des Herrscherlobs“ und „legitimiert Karls Macht- und Prachtentfaltung.“364 Als gesalbter und gottesunmittelbar eingesetzter Herrscher gilt Salomo im Mittelalter neben seinem Vater David als idealer Herrscher.365 Folglich wird Karl über die Bezugnahme auf Salomo und die Einfügung in eine heilsgeschichtliche Herrschertradition als Herrscher von Gottes Gnaden gezeigt. Seine Herrschaft sei seit Salomo die prächtigste und bleibe in Zukunft unübertroffen. Als Idealherrscher in biblischer Tradition sakralisiert Karl wiederum das seiner feudaladlig-ritterlichen Artikulation nach zwar ideale, aber profane Hoflager.366 Denn obgleich bei der vorausgehenden Beschreibung des Baumgartens nicht die Rede von Karl war, wird das gesamte Lager sowohl von den Boten als auch vom Erzähler auf Karl bezogen als Quelle der Macht, aus der Höfischheit und Herrlichkeit emanieren: Karl was aller tugende ein hêrre (RL 674). ‚Tugend‘ meint nach Richter „nicht seine charakterlichen Vorzüge, sondern, wie der vorhergehende Text erweist, seine herrscherliche Macht“.367 Es muss jedoch nicht einzig Karls ‚herrscherliche Macht‘ mit ‚Tugend‘ bezeichnet sein, denn der bereits in Kapitel III.1 untersuchte Prolog des Rolandslieds verhandelt Karls Tugendhaftigkeit in einer persönlichen Dimension. So verlief Karls Leben bis zu seinem Tod ze tugente (RL 25), ‚auf Tugend zu‘. Die vorliegende Stelle (RL 674) könnte beide Perspektiven zusammenbringen, indem die ‚äußere‘ Tugend als herrscherliche Macht in der Pracht sichtbar wird und Spiegelbild der ‚inneren‘ Tugend, der moralischen Integrität, ist – Kartschoke übersetzt tugent an beiden Stellen (RL 25 u. 674) passend mit „Vollkommenheit“. Die problematische Bestimmung einer Kongruenz oder Inkongruenz innerer und äußerer Vollkommenheit, also die Differenzierung von ‚Schein‘ und ‚Sein‘, die das Rolandslied nicht nur in Bezug auf Genelun, sondern auch in Bezug auf die heidnische Perzeption und Kategorisierung christlicher Erscheinungen diskutiert,

363 Vgl. zur Herrschaft und Prachtentfaltung Salomos Richter, Kommentar, S. 140–143. 364 Kartschoke, Kommentar, S. 653 mit Bezug zu Richter, Kommentar, S. 83 f. 365 Vgl. ebd., S. 142. Vgl. zu Salomo auch ders., Das Hoflager Kaiser Karls, S. 83–85: Mit dem Salomovergleich wird Karl als von Gott eingesetzter ‚Weltenherrscher‘ legitimiert, was mit der Wahrnehmung der Heiden übereinstimmt, denen Karl als größter Herrscher der Welt erscheint (vgl. RL 637–640). 366 Vgl. u. a. die Argumentation von Gerok-Reiter, Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers. 367 Richter, Kommentar, S. 143. So ist ‚hêrre aller tugende‘ das Äquivalent zum lateinischen dominus virtutum, dem alttestamentlichen Namen Gottes (vgl. ebd.).

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wird hier exponiert.368 Der innerheidnische Karlsdiskurs bereitet die Modellierung christlicher Herrschersakralität vor und bildet die Bezugs- wie Abriebfolie christlicher Diskursherrschaft: Karls Herrschaft scheint ihrer Form nach profan und irdisch, ist (aber) ihrem Wesen nach sakral und salomonisch. Doch die geistliche Deutung der höfischen Pracht im Rolandslied überzeugt nicht vollends, so sorgen das Auftreten der Frauen und die unvermittelte Prachtentfaltung im Hoflager inmitten der militärischen Situation nicht nur bei modernen Interpreten für Irritationen, sondern bei mittelalterlichen Autoren auch für Bearbeitungsbedarf.369 Denn anders als der Pfaffe Konrad bietet der Stricker keine detaillierte höfische Inszenierung des Lagers vor Chorters. Die Boten Marsilies steigen das Gebirge hinab und sehen Karls chraft / unt die aller besten ritterschaft (K 1203 f.). Sie überblicken die Ebene, entdecken grozze schonheit (K 1208) in Gestalt von Rittern, grünen, roten und weißen Fahnen; die Ebene glänzt golden und dieser visuelle Eindruck der ‚großen Schönheit‘ lässt sie wie im Rolandslied auf Karls Macht schließen: ez gap von golde den schin, daz si jahen in der vientschaft, si sæhen wol Karls chraft, dern m=hte niemen wider stan: er solde ein herre ane wan Fber allez ertriche sin, daz wære an sinen tugenden schin. (K 1214–1220)

Die Rede ist zweimal von Karls chraft (K 1203 u. 1216), seiner ‚Macht‘ oder ‚Gewalt‘,370 die sich optisch offenbart und die Heiden trotz ihrer Feindschaft feststellen

368 Vgl. zur Deckung von Innen und Außen mit Bezug auf höfische Prachtentfaltung auch Klein, Farben der Herrschaft, S. 33–87. Das Beispiel Geneluns, der sich mit dem Teufel einlässt, „impliziert die Warnung, sich nicht vom Gold – das auch im Kontext höfischer Repräsentation höfische Pracht und Herrschaft symbolisiert – blenden zu lassen, das allein noch keine Idealität zu verbürgen vermag, sondern der religiösen Legitimierung, die sich bezogen auf die Figuren in christlicher Gesinnung konkretisiert, bedarf“ (ebd., S. 75). Gerok-Reiter deutet den Salomovergleich nicht als Mittel zur „religiösen Legitimation von Herrschaft“, sondern zur „Legitimation profaner Prachtentfaltung“ (dies., Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers, S. 83 [Hervorhebungen übernommen]). Damit wird die Verbindung von Tugendhaftigkeit und Vorbildlichkeit mit profaner Prachtentfaltung diskutiert: „Ethisch-christliche Integrität legitimiert nicht nur profane Prachtentfaltung, sondern fordert sie als Beweis ihrer selbst geradezu ein“ (ebd., S. 83 f.). Doch kann der Salomovergleich m. E. zugleich sowohl Herrschaft als auch profane Prachtentfaltung des Herrschers religiös legitimieren. 369 Vgl. Kartschoke, Kommentar, S. 653. „Wäre die ganze Passage (645–670) nicht so gut überliefert, würde man allen Grund haben, zumindest in Teilen an ihrer Authentizität zu zweifeln“ (ebd.). Die kürzende Umarbeitung des Strickers erscheint Kartschoke „passender“ und „logischer, als was im RL steht“ (ebd.). 370 Vgl. BMZ s. v. kraft.

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lässt, dass Karl als Weltenherrscher prädestiniert ist. Darauf weisen seine Tugenden hin, die in der Doppelbedeutung von innerer und äußerer Vollkommenheit, die auch im Rolandslied aufschien, begriffen werden können. Karl kann zudem jede Form von Zeitvertreib aufbieten, worin er jeden König übertreffe außer Salomo, dem sul wir al gemeine / der grozesten herschefte jehen, / diu ie bi kFnege wart gesehen (K 1228–1230). Wie im Rolandslied wird ein Salomovergleich angebracht, doch anders als dort wird die höfische Pracht, die im Tanzen, Jagen, Schießen und auch in der Anwesenheit von Damen zelebriert wird, ausgeblendet. Der Salomovergleich wird nicht einer zuvor entfalteten Szenerie des weltlichen Wunschlebens in Karls Baumgarten gegenübergestellt bzw. dient ihrer christlichen Deutung, sondern steht für sich genommen und dadurch spannungsfrei als religiöse Herrschaftslegitimierung.371 Der Verzicht auf die Kulisse höfischen Treibens und eine Vielzahl von Figuren konzentriert gegenüber der Inszenierung der Hoflagerszene im Rolandslied die Darstellung auf Karl. Also erblicken die heidnischen Boten eine Streitmacht und ausgezeichnete Ritter, nicht eine höfische werltwunne: „Karls Hofhaltung ist damit aller höfischen Pracht und aller höfischen Elemente entkleidet und auf ein reines Heerlager reduziert; es bleibt bei einem Vergleich mit der Pracht am Hofe Salomos“.372 Klein begründet dies aus der Anlage der religiösen Frontstellung, „dem geistlichen Programm des ‚Karl‘, das auf dem Dualismus von Christen und Heiden, von christlicher Weltverneinung und heidnischer Verfallenheit an Welt und superbia, von Gott und Teufel gründet“.373 Die religiöse Gegnerschaft zwischen Christen und Heiden ist im Rolandslied ebenso deutlich, insofern ist ihr Vorhandensein allein keine Erklärung für den Unterschied der Bearbeitungen. Der Stricker scheint diesen Dualismus jedoch konsequenter in seiner Inszenierung umzusetzen und dabei auch Karls Herrschersakralität deutlicher herauszustellen. Darin folgt ihm das Buch vom heiligen Karl: Die heidnischen Boten erblicken das Gebirge hinabsteigend Karl, seine Ritter, ihre Banner und Rüstungen in schönem gold schein (BhK 33,35 f.) und sie schließen wie in den Prätexten auf Karls Unüberwindbarkeit: won wir sechent wol, daß im nieman mag widerstan (BhK 34,1 f.). Damit wiederholen sie fast wörtlich die Geltung Karls als unbesiegbarer Feldherr, wie sie bereits vor der Entsendung der Boten im innerheidnischen Diskurs etabliert wurde: [w]on Karlus mag nieman widerstan (BhK 32,3 f.). Doch das Zürcher Buch kürzt im Folgenden noch rigoroser als der Stricker: Das Hoflager wird nicht beschrieben, es gibt keine höfischen oder ritterlichen Betätigungen, keine Damen und keine feingliedrige sukzessive Annäherung an den Herrscher. Auch der Salomover-

371 Damit greift das am Rolandslied entwickelte Argument von Gerok-Reiter (Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers, S. 83 f.), dass der Salomovergleich nicht die Herrschaft, sondern profane Prachtentfaltung religiös legitimiert, für den Strickerschen Karl nicht. 372 Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 306, Anm. 26. 373 Ebd.

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gleich ist getilgt; er ist vermutlich obsolet, weil Karl keine zur Deutung bzw. Rechtfertigung herausfordernde Pracht entfaltet. Diese Pracht ist bereits beim Stricker zurückgenommen und die Erwähnung Salomos würde im Buch vom heiligen Karl einen Bedeutungsüberschuss produzieren, der ins Leere läuft, da es keine Verbindung von Pracht und Weisheit nach dem Vorbild des alttestamentlichen Herrschers in Karls Heerlager gibt. Höfisches wird mit Blick auf die Textreihe zusehends abgetragen und dagegen Heiligkeit stärker betont, die für das Buch vom heiligen Karl gegenüber dem Rolandslied institutionell u. a. durch den Karlskult in Zürich abgesichert ist. Der Text muss Karls kanonisierte Heiligkeit nicht in kontroversem Milieu beweisen oder verteidigen, sondern kann sie als akzeptiert voraussetzen. Damit wird hier auf Ebene einer einzelnen Szene die in der diachronen Betrachtung der oberdeutschen Bearbeitungsreihe zunehmende Profilierung einer sakral ausgezeichneten Herrscherfigur offenkundig. Auch zeigt sich damit deutlich die korrelierende Verteilung von irdischer Pracht als Selbstzweck ohne Transzendenzbezug bei den Heiden gegenüber ihrer Einfassung als profane Artikulation transzendent begründeter Herrschaft (oder ihrer vollständigen Tilgung) bei den Christen. Im Rolandslied werfen sich die kostbar gewandeten Boten auf dem Weg zu Karl nieder und imitieren für ihre diplomatischen Zwecke die Symbolsprache der Christen, indem sie Palmzweige mit sich führen. Die Annäherung an den Kaiser spornt zu einer Intensivierung der Ehrerbietungen an: ie mêre unde mêre / vielen si zuo der erde (RL 679 f.). Es scheint, als näherten sie sich einem Heiligen, zumindest wird über diese ehrfurchtsvolle, ritualisierte Unterwerfungsgeste – mag sie auch geheuchelt sein – Karls herrscherliche Aura konstruiert.374 Schließlich erblicken die Boten den Kaiser am Schachbrett sitzend.375 Es folgt die descriptio Karls, die die Wahrnehmung der Heiden und die Auswirkung der Schau des Christenherrschers verhandelt und mit biblisch verbürgten Sinnbildern und Anspielungen sakral überformt. Dadurch verläuft die Porträtierung des Herrschers auf zwei Ebenen: einer profanen und einer sakralen, die den Herrscher zwar gleichermaßen, doch in unterschiedlichen Herrschafts- und Legitimationsdiskursen als exorbitant auszeichnen. Die Auszeichnung Karls als sakrale Herrscherfigur verdankt sich der Produktion eines semantischen Überschusses durch den Schönheits- und Tugendpreis. Dieser fokussiert die Herrschergestalt nicht in Gänze (wie in der Chanson de Roland), sondern ihr Haupt, dessen Betrachtung die Boten strapaziert: sîn antlizze was wunnesam. / die boten harte gezam, / daz si in muosen schouwen (RL 683–685). Karls Augen leuchten sam der morgensterne (RL 687).376 Mit dem Morgenstern-Vergleich

374 Richter erkennt nach der „heuchlerischen Demut“, die die Heiden beim Anblick des Herrschers an den Tag legen, einen „Umschlag in den echten Demuts- und Ehrfurchtserweis, wie es die Ch[anson de Roland] 120/21 berichtet“ (ders., Kommentar, S. 143). 375 Vgl. RL 681 f. Auch beim Stricker nähern sich die Boten Karl demütig an und erblicken ihn beim Schachspiel (vgl. K 1231–1248). Vgl. zum Schachspiel Kartschoke, Kommentar, S. 654. 376 Vgl. zu den biblischen Implikationen des Morgensterns Richter, Kommentar, S. 146–150.

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findet sich ein Verweis auf die Offenbarung des Johannes (Apc 22,16), denn der Morgenstern figuriert als Zeichen Christi.377 Richter schlussfolgert mit Bezug auf die alttestamentlichen Figuren Joseph und David: „Sind Joseph und David wegen der Schönheit ihres Antlitzes Präfigurationen Christi, so weist der ihnen darin nachgebildete Kaiser Karl entsprechend als Antitypus auf Christus zurück“.378 Dass Karl durch typologische oder imitierende Inbezugsetzung zu biblischen Figuren als Herrscher sakralisiert wird, ist offenkundig und von der Forschung eingehend besprochen worden. So ist für Ott-Meimberg Karls Augenglanz „Ausdruck des Gottesgnadentums seiner Herrschaft“.379 Es geht an dieser Stelle auch im Literalsinn, diesseits einer typologischen Lesart, um eine Distinktion Karls im Sinne einer phänomenalen Unterscheidung vom Gewöhnlichen, Alltäglichen. Sehgewohnheiten werden durch seine Schau irritiert und seine Aura gebietet Scheu, die sowohl den Umgang mit Herrschern als auch mit Heiligem – als religiöse Scheu – charakterisiert. Das Erblicken Karls affiziert auch beim Stricker die heidnischen Gesandten, da sie ‚erschrecken‘, ‚erzittern‘, ‚sich fürchten‘: daz si den keyser sahen, / do erschrachten si sere da von (K 1250 f.). In der Terminologie des religionsphänomenologischen Ansatzes von Rudolf Otto gleicht diese Reaktion auf die Erscheinung des Herrschers derjenigen, die bei der erfahrenden Schau des Heiligen auftritt als mysterium fascinosum et tremendum.380 Karl offenbart sich den Heiden als interreligiös Heiliges, das eine Aura und Herrschaftlichkeit ausstrahlt, die als berückend erfahren wird. Diese Wirkung wird durch Rückgriff auf biblische Anspielungen, Explikationen und Vorstellungen von Herrschaft und Heiligkeit christlich semantisiert und typologisch gerahmt. Eindeutig ist Karl von seinem Kollektiv abgesetzt und über sein exzeptionelles Aussehen schon aus der Ferne als Herrscher zu identifizieren, denn er ist ‚unvergleichlich‘: man erkante in vile verre. nieman ne dorfte vrâge, wer der keiser wære. nieman was ime gelîch. (RL 688–691)

Das herrscherliche Haupt ist schön, zierlîch (RL 692), und ein direktes Betrachten ist den Heiden nicht möglich, denn sie werden geblendet, da Karl nicht nur als Morgenstern, sondern sogar als gleißend helle Mittagssonne erstrahlt:381

377 Vgl. auch Apc 2,28 zum Morgenstern, den Christus demjenigen als Zeichen der Herrschaft schenkt, der am göttlichen Gebot festhält. Richter deutet mit Blick auf Karls Heidenmission: „Kaiser Karl bildet also Christus ab, er erfüllt Christi Forderungen und lebt somit in der Nachfolge Christi. Zum Zeichen dessen leuchtet sein Antlitz wie der Morgenstern“ (ders., Das Hoflager Kaiser Karls, S. 87). 378 Ebd., S. 89. 379 Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 98. 380 Vgl. Otto, Das Heilige, bes. S. 13–22 u. 42–52. 381 Vgl. Quast, Bedrohte Christenheit, S. 32 f.

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III Literarische Herrschersakralität

mit volleclîchen ougen ne mochten si in nicht gescouwen. diu liuchte gab in den widerslac sam der sunne umbe mitten tac. (RL 693–696)382

Die beiden wesentlichen Funktionen dieser Stelle fasst Klein zusammen: „Der Effekt des Geblendet-Seins dient hier sowohl der Überhöhung des Kaisers, dessen exorbitante Stellung eigens herausgestrichen wird, als zugleich auch der Degradierung der Heiden.“383 Die Bezüge zwischen Karl und Christus sind deutlich und sakralisieren gemäß einer christlichen Axiologie den Herrscher als göttlich legitimierten Weltenherrscher. Das Sonnengleichnis bildet dabei das tertium comparationis zwischen Karl und Christus, als dessen Postfiguration der Herrscher erscheint.384 Und genau wie Christus löst Karl bei den heidnischen Betrachtern Schrecken aus: et cum vidissem eum cecidi ad pedes eius tamquam mortuus (Apc 1,17); die ‚Degradierung der Heiden‘ nach Klein ist als religiöse Herabsetzung der Nicht-Christen hiermit in Einklang zu bringen.385 Deutet man den Sonnenvergleich mit Bezug zum Prolog, ergibt sich zudem eine Fortführung der dort etablierten dualistischen Scheidung zwischen Christen und Heiden auf Grundlage der metaphorischen Dichotomie von Licht und Dunkelheit.386 Karl gilt als Erleuchter der Heiden, denn er überbringt ihnen daz wâre liecht (RL 21) des christlichen Glaubens im Namen Gottes. Für die heidnischen Boten ist die unmittelbare Schau der religiösen Wahrheit, die Karl in der vorliegenden Szene personifiziert, kaum zu ertragen. Als Überbringer einer falschen Konversionsabsicht sind sie nicht für das ‚wahre Licht‘ empfänglich.387 Später erklärt Genelun Blanscandiz auf dem Weg zu Marsilie, dass er erst als Christ die ‚Wahrheit‘ begreifen werde, d. h. die christliche Religion und die Heilsbotschaft: ungewizzen ist ez dir nû. /

382 Vgl. ähnlich beim Stricker K 1252–1257. 383 Klein, Farben der Herrschaft, S. 57. Vgl. zur Sonne und ihrer Verbindung zum Morgenstern Richter, Das Hoflager Kaiser Karls, S. 87–89. 384 Vgl. Richter, Kommentar, S. 149 f. (mit dem Nachweis der entsprechenden Bibelstellen). So heißt es in der Offenbarung des Johannes: et facies eius sicut sol lucet in virtute sua (Apc 1,16). 385 Wagner erkennt im Glanz Karls „die Funktion, die Heiden kommunikativ auszuschließen“ (ders., Erzählen im Raum, S. 116, Anm. 158) – „[n]eben der verbalen Kommunikation scheitert also auch die visuelle“ (ebd., S. 116). Karls Strahlkraft weist als Blendung der Boten einen aggressiven Zug auf, der die heidnische Erfahrung der expansiven Mission unter der Leitung Karls assoziiert. 386 Vgl. zur Lichtmetaphorik im Prolog des Rolandslieds bereits Kapitel III.1.1. 387 Richter zeigt, dass sich die gesamte Hoflagerszene von der Wahrnehmung der Heiden zur Enthüllung des wahren Wesens Karls in Erzählerrede bewegt (vgl. ders., Das Hoflager Kaiser Karls, S. 95 f.). „Gerade die Stellen, die typologische Aussagen enthalten, sind nicht mehr aus der Perspektive der Heiden gesprochen oder gesehen. Der Autor macht nun selbst faktisch klingende Angaben über das Aussehen des Kaisers. [...] Je mehr Konrad hier vom Wesen Karls enthüllt, desto weniger läßt er die Heiden sehen“ (ebd., S. 96). Ott-Meimberg konstatiert, dass der Erzähler mit RL 674 für die Heiden Karls überragende Tugendhaftigkeit zusammenfasst (vgl. dies., Staatsroman, S. 95).

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der wârheit wirdest du wole innen, / wilt du die kristenheit minnen (RL 1803–1805).388 Nach dieser christlichen Vorstellung befinden sich die Heiden damit notwendigerweise in ‚Unwahrheit‘, wodurch eine epistemologische Grenze zwischen den Religionen und ihren Diskursen gezogen wird, nach der die Heiden der Erkenntnis der wahren Beschaffenheit der Welt nicht fähig sind. Sie sind damit – und das ist für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend – auch der Erkenntnis des wahren Wesens des Herrschers nicht fähig, wobei bereits die phänomenale Erfassung Karls zur Herausforderung wird; über Karl aus der Ferne zu sprechen (innerheidnischer Diskurs), ist etwas Anderes, als ihn aus der Nähe zu schauen, so die Stoßrichtung der Szene. Der Prolog konstatiert, dass sich die Heiden nicht freiwillig aus intrinsischem Interesse am Gehorchenwollen der christlichen Religion zuwenden werden, sondern Karl sie schließlich dazu zwingt.389 So hat er – wie der Prolog dem Ergebnis der Narration vorausgreift – nach Abschluss der Spanienmission die grimmigen heiden betwungen, / daz si erkanten daz wâre liecht (RL 20 f.). Licht ist somit nicht bloßes Naturphänomen, wie es sich den Heiden in profaner Deutung bietet, sondern religiöses Erkenntnis- und Wirkprinzip sowie Metapher für den ‚wahren‘ christlichen Glauben. Karl ist in der vorliegenden Szene als Quell der religiösen Wahrheit übervoll und der Lichtüberfluss artikuliert seine besondere sakrale Auszeichnung, die ihn als Gesandten Gottes ausweist. Die scheue Annäherung an Karl und die Unmöglichkeit einer unumwundenen, unmittelbaren Schau verleihen dem Herrscher epiphane Züge.390 Das Rolandslied inszeniert auf diese Weise eine Herrschersakralität, zu der wesentlich die von der Forschung eingehend untersuchten biblischen Analogien und Anspielungen auf Salomo, David und Christus beitragen; doch auch auf intratextueller Ebene setzt das Rolandslied wie gerade gezeigt spezifische Techniken ein, um verschiedene Textteile wie Prolog und Narration mit Blick auf die Sakralisierung der Herrscherfigur zusammenzubringen. Diese Sakralisierungstechniken bearbeitet der Stricker, er tilgt den Morgenstern-Vergleich und modifiziert die Charakterisierung Karls gegenüber dem Rolandslied in zwar wenigen, aber sinntragenden Versen. Karls Wirkung auf die Boten wird ebenfalls als eine dem Sonnenlicht gleichende Blendung beschrieben. Eine Erklärung für diese Außenwirkung bietet der Stricker nun über eine den Heiden verwehrt bleibende Introspektion der Karlsfigur. Der kommunikative Ausschluss der Heiden und damit die Preisgabe „exklusiven Karlswissens“ werden gegenüber dem Rolandslied noch deutlicher gemacht, wenn es um die Schau von Karls Heiligkeit geht:

388 Vgl. auch Fürbeth, ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, S. 242 f. 389 Vgl. RL 20–23. 390 Freienhofer (Verkörperungen von Herrschaft, S. 108, Anm. 103) erkennt in Karls Aura und ihrer Wirkung auf die Heiden einen Hinweis auf seine charismatische Herrschaft.

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im was besezzen sin můt mit des heiligen geistes chraft. got hete sine meisterschaft an Karls libe schin getan; er ist ouch heilich ane wan. (K 1258–1262)

Der Erzähler beschreibt nach dem Äußeren den Kern der vom Heiligen durchdrungenen Karlsfigur, deren Zentrum mit dem Heiligen Geist erfüllt ist. Das Herrscherherz bildet, in der räumlichen Dimension des Heerlagers veranschaulicht, den spirituellen Mittelpunkt der ausgerückten Christenheit. Erinnert sei an die Explikation von můt durch den Prologsprecher: ‚Mut‘ ist das, was sich im Herzen befindet und sich äußerlich in den Handlungen des Menschen niederschlägt.391 In diesem Sinne ist Karls můt eine Erklärung für sein strahlendes, die Heiden blendendes Äußeres. Die Erwähnung, dass Karls Körper von Gott meisterlich gestaltet worden ist, markiert eine ganzheitliche persönliche Heiligkeit. An dieser Heiligung des Herrschers, die ihn vollkommen erfasst und erfüllt, Inneres und Äußeres harmonisiert, lässt der Erzähler keinen Zweifel, denn er konstatiert: er ist ouch heilich ane wan (K 1262). Mit der Feststellung von Karls persönlicher ‚Heiligkeit‘, die das Rolandslied im Übrigen nicht erwähnt, pointiert der Text eindrücklich Herrscherheiligkeit als Spezifizierung von Herrschersakralität. Die Zusätze des Strickers gegenüber dem Rolandslied beziehen sich einzig auf Karls sakralen Status, andere Merkmale werden nicht signifikant ausgebaut. Demnach lässt sich in dieser Passage im close reading der oberdeutschen Bearbeitungen eine diachron zunehmende Sakralisierung in Form persönlicher Heiligung der Karlsfigur beobachten, die Karl von typologischen Bezugnahmen zusehends befreit und als unmittelbar vom Heiligen Geist erfüllt und von Gott begnadet darstellt – Karl emanzipiert sich als Heiliger. Die Heiligsprechung Karls könnte auf diese Weise bis in die Inszenierung einzelner Szenen und Details ausstrahlen, indem sie andere Rahmen- und Geltungsbedingungen für einen Diskurs über den kanonisierten Heiligen, sande Karle (K 12058), schafft. Insofern werden hier literarische Darstellungstechniken von Herrschersakralität in Mikroperspektive beobacht- und beschreibbar, die im Durchgang der Textreihe eine Bestätigung der hagiographisierenden Bearbeitungstendenz bedeuten. Anschließend listet der Erzähler stichomythisch die Eigenschaften und Merkmale Karls auf: den vîanden was er gremelîch. den armen was er heimelîch. in volcwîge was er sigesælic. wider übel was er gnædic. ze gote was er gewære.

391 Vgl. K 1–8 sowie bereits Kapitel III.1.2.

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er was recht richtære. er lêrte uns die phachte, der engel si imo vore tichte. er konde elliu recht. zuo deme swerte was er ein guot knecht. aller tugende was er ûzerkorn. milter hêrre en wart in die werlt nie geborn. (RL 697–708)

Der Tugendkatalog bietet die herrscherliche Idealität Karls eindrücklich dar, in den Bereichen ‚Krieg‘, ‚Frieden‘, ‚Religion‘ und ‚Recht‘ – also in allen herrscherlichen Domänen – ist er ausgezeichnet, Inbegriff aller tugende (RL 707) und freigebigster Herr der Welt. Karl zeigt hier eine Verbindung „vom Typus des rex iustus et pacificus mit dem Typus des rex bellipotens“.392 Die Betonung der Eignung als Richter, ausgewiesener Rechtskenner, Gesetzeslehrer und -begründer sticht im Katalog besonders hervor. Darin wird Karl als Gründerfigur und Kulturbringer greifbar, der den Rezipienten, der Gesellschaft um den Pfaffen Konrad, das durch einen Engel übermittelte Recht brachte: er lêrte uns die phachte (RL 703).393 Karl ist damit Vermittler göttlichen Rechts. Diese Beschreibung von Karls Vermächtnis, das bis in die Gegenwart der Texte wirken soll, schließt die Adressaten und die Karlsfigur im Rezeptionsakt kurz. Aufs Ganze gesehen wirkt die Beschreibung Karls weniger wie eine Charakterisierung auf Handlungsebene, also in der Situation der Ankunft der Boten stattfindend, als vielmehr als ex post formuliertes Tableau der Preisung des verstorbenen idealen Herrschers. So wird ein ähnlicher Katalog auch in der Kaiserchronik an das Ende der Erzählung über Karl gesetzt und nicht innerhalb der Narration platziert.394 Alle Elemente des Katalogs bilden den Kern potentieller Erzählungen über Karl, die konkrete Eigenschaften oder abstrahierte Aussagen inszenieren. Dieses „schlummernde“ Erzählpotential, das Zeit und Raum zur Entfaltung beansprucht, reflektiert auch die Einleitung des Tugendkatalogs in der Kaiserchronik:395

392 Haupt, Das Fest in der Dichtung, S. 40. 393 Vgl. dazu auch Kartschoke, Kommentar, S. 655; Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 69. Vgl. zur göttlichen Ordnung in Karls Hoflager auch Haupt, Das Fest in der Dichtung, S. 36–49. 394 Vgl. zum Tugendkatalog in der Kaiserchronik auch Richter, Kommentar, S. 151–153. So heißt es am Ende des Karlskapitels in der Kaiserchronik mit der eindrücklichen Anapher ‚Karl‘: Karl was ain wârer gotes wîgant, / die haiden er ze der cristenhaite getwanc. / Karl was chuone, / Karl was scône, / Karl was genædic, / Karl was sælic, / Karl was teumuote, / Karl was stæte, / unt hête iedoch die guote. / Karl was lobelîch, / Karl was vorhtlîch, / Karlen lobete man pillîche / in Rômiscen rîchen / vor allen werltkunigen: / er habete di aller maisten tugende (Kchr 15073–150787). Vgl. zum Karlsbild in der Kaiserchronik auch Otto Neudeck: Karl der Große – der beste aller werltkunige. Zur Verbindung von exegetischen Deutungsmustern und heldenepischem Erzählen in der Kaiserchronik. In: GRM 53 (2003), S. 273–294 (zum vorliegenden Tugendkatalog: ebd., S. 279–282). 395 Vgl. zur Komprimierung von Erzählungen zu Listen auch Kapitel III.5.6.

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Solten wir sîniu wunder elliu sagen sô muosen wir die wîle haben: des zîtes ist nû niet. Karl hât ouch enderiu liet. (Kchr 15069–15072)

Die in ihren Elementen sehr ähnlich gestalteten Tugendkataloge des Rolandslieds und der Kaiserchronik – als Prätext des Rolandslieds – bilden Bausteine eines sich diachron verfestigenden Karlsdiskurses.396 Die Form des Katalogs bietet eine Aussagenformatierung, die in ihrer Kürze, Festigkeit und im Fehlen narrativer Elemente stabil, wenig veränderlich, aber zugleich als offene Liste fortschreibbar eine Bauform zur Konservierung von Geltungsbehauptungen in einem Karlsdiskurs darstellt, der seine Herrschaft und Sakralität verhandelt. Der Stricker übernimmt die Aussagen des Rolandslieds und fixiert damit den Tugendkatalog als diskursives Standardwissen über Karl.397 In Übereinstimmung mit dem Rolandslied schließt auch der Stricker den Katalog mit einem Superlativ zu Karls Freigebigkeit und Tugendhaftigkeit ab: ein milterr kFnech wart nie geborn: / er was aller tugende ůz erchorn (K 1275 f.). Im Übrigen werden hiermit die vorausgehenden Besprechungen der Heiden, die den Umgang mit Karl betreffen, und Marsilies Annahme, Karl sei bestechlich und verfolge materielle Interessen, als unzutreffend markiert. Die gesamte Szene der Annäherung der Boten, die Inszenierung des Herrschers und den Tugendkatalog reduziert das Buch vom heiligen Karl zu einem knappen, die wesentlichen Aussagen der Prätexte versammelnden Bericht, der sich ungekürzt wie folgt ausnimmt: Do sy nun ze dem her kament und darnach ze Karlus, do fiellend sy im ze fuoß und gebarattend sich gar demüetklich und erschrakend doch ab sinor angesicht, won sy sin gelich nie mer hattend gesechen, keinen man, der so schon und so wunnenklich geschaffen wer, als Karlus was, won sin hercz was besessen mit des heilgen geistes kraft, wan er was milt und erbarmherczig und ein gerechter richter vol gocz vorcht. (BhK 34,3–9)

Auffällig ist die kausale Verknüpfung von Handlung und Beschreibung: Die Boten geben sich demütig und erschrecken vor Karl, weil sie seinesgleichen noch nie gesehen haben. Und Karl ist deshalb der schönste Mensch, den sie je gesehen haben, weil sein Herz vom Heiligen Geist erfüllt ist. Die vom Erzähler konstatierte Erfüllung wird sichtbar, weil er freigebig, barmherzig und ein gerechter, gottesfürchtiger Richter ist. Karls Äußeres (Figurensicht) spiegelt somit seine innere Vorzüglichkeit (Erzählerbeschreibung), seine herrscherlichen Tugenden und die Heiligung durch den Heiligen Geist wider. Besonderes Gewicht liegt auf der vom Stricker gegenüber dem Rolandslied hinzugefügten Aussage, dass Karls Herz mit der Kraft des Heiligen

396 Vgl. zum Kontext und den Vorlagen der Tugendkataloge bzw. Fürstenspiegel Richter, Kommentar, S. 150–161. 397 Vgl. K 1263–1276.

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Geistes begabt ist. Denn diese Inspiration bildet den Angelpunkt zwischen äußerer Schönheit und innerer Vorzüglichkeit des Herrschers. Pointierungen sowie kausale Verknüpfungen von Aussagen und Charakterisierungen in der eben zitierten Form, die das Rolandslied und Strickers Karl parataktisch nebeneinanderstellen, sind kennzeichnend für die Darstellungsweise des Buchs vom heiligen Karl. Das Zürcher Buch folgt also der sakralisierenden Tendenz des Strickers und perspektiviert Karl im stark gekürzten Tugendkatalog nicht als kriegsführenden Herrscher, denn Heidenkampf und -mission sind ausgespart, sondern als friedlichen, defensiv wirkenden Idealherrscher. Damit setzt das Buch vom heiligen Karl gegenüber seinen Prätexten andere, vor allem friedfertige und einen sakralen Herrscher-Richter darstellende Akzente.398 Die diachrone Tendenz einer Sakralisierung in Form persönlicher, sogar kanonisiert abgesicherter Heiligung der Figur Karls des Großen in Verbindung mit einer Tilgung profaner, höfischer Prachtentfaltung wird somit fassbar – das Hoflager wird zum Feldlager des heiligen Herrschers. Das Buch vom heiligen Karl kürzt rigoros auf Wesentliches – was hinsichtlich der Sakralisierungstendenz zunächst verwundern mag – und streicht dabei den Salomovergleich, den Morgenstern- sowie den Sonnenbezug, jene drei Elemente, die für eine Deutung der Karlsfigur im Rolandslied und für das Verständnis der gesamten Hoflagerszene zentral sind. Doch auch bzw. gerade ohne diese typologische Anknüpfung an den biblischen Text und sein autorisierendes Potential gilt Karl dem Bearbeiter unstrittig als heilig. Karl ist als kanonisierter und im Kult verehrter Heiliger in Zürich, dem Entstehungs- und primären Rezeptionsraum des Buchs, präsent. Dieses Umfeld sichert den Text und seinen literarischen Karlsdiskurs ab, sodass Argumente und Belege, also erzählerischer Aufwand zur Darstellung von Karls Heiligkeit zurückgenommen werden kann.399 Da der Fokus des Buchs vom heiligen Karl zudem auf dem Herrscher liegt und nicht wie beim Rolandslied des Pfaffen Konrad ein fürstliches Interesse an der Darstellung der politischen Bedeutung der Großen des Reiches im Verhältnis zum Kaiser profiliert wird, verein-

398 Man denke auch an Turpins Mahnung gegenüber dem Kaiser, das Fünfte Gebot, das Verbot zu töten, einzuhalten (vgl. Kapitel III.3.2). 399 Richter gilt auch der Karl des Rolandslieds als Heiliger: „Wenn Kaiser Karl aber trotz der vorausgehenden Kanonisierung an keiner Stelle der Dichtung als sante bezeichnet wird, dann hat das nicht viel zu besagen. Konrad mochte die verschiedensten Gründe dafür haben. Daß er jedenfalls als heiliger Kaiser von Konrad gemeint ist, daran ist nach den Parallelen, die sich zur Darstellung kanonisierter Heilige ergaben, nicht zu zweifeln“ (ders., Das Hoflager Kaiser Karls, S. 99). Damit ist die Frage nach den Möglichkeiten der narrativen Repräsentation von (kanonisierter) Heiligkeit berührt. Die Anzeichen für eine Heiligkeit Karls sind in der Hoflagerszene deutlich, ob Karl als kanonisierter Heiliger gilt, ist auf Grundlage des Textes nicht festzustellen. Richter entwickelt einzig auf Grundlage der Hoflagerszene schließlich eine Gesamtdeutung: Das Rolandslied ist „eine Reichsdichtung, deren religiöse und zugleich politische Substanz sich verkörpert im Gott abbildenden und stellvertretenden heiligen Kaiser Karl“ (ebd., S. 100 f. [Hervorhebung übernommen]). Inwiefern das Rolandslied „Reichsdichtung“ ist, wäre zu diskutieren, doch die zentrale Bedeutung Karls und seine Gottesstellvertreterschaft leuchten ein.

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facht sich die Sinnrichtung und die komplexe Verbindung von höfischem Lager samt Adelskultur und Damen in Verbindung mit dem sakralen Herrscher, von dem Salomo gleichend die Weisheit und die Legitimation der Prachtentfaltung ausgeht. Die Szene wird dadurch eindeutig und zeigt spannungsfrei Karl als heiligen Herrscher bar jeder höfisch-profanen Pracht. Beim Kaiser angekommen, eröffnet der Wortführer der Gesandtschaft, Blanscandiz, das Gespräch mit Karl. Im Folgenden sollen Merkmale dieser interreligiösen Unterredung besprochen werden, die Karls herrscherliche Geltung in Fremdwahrnehmung und -rede sowie sein eigenes Gesprächsverhalten betreffen. Blanscandiz adressiert Karl höflich mit heil sîst du, keiser hêre (RL 711);400 auch beim Stricker grüßt der Bote ehrerbietig: ‚heiliger keyser here, minne, sælde und ere diu sin iu immer undertan. die mFzet ir von gote han [...].‘ (K 1281–1284)

Die Anrede ‚heiliger Kaiser‘ erscheint im Nachhallen der descriptio und Sakralisierung Karls treffend. Auch die Identifikation von ‚Minne‘, ‚Saelde‘ und ‚Ehre‘ als Gaben Gottes ist im Sinne des christlichen Karlsdiskurses, denn sowohl Karls Tugend als auch seine Herrschaft verdanken sich seiner Gottesnähe bzw. der Gnade Gottes. Im Buch vom heiligen Karl nennt Blanscandiz Karl nicht nur helger keyser, sondern auch merer des richß (BhK 34,13); letzterer Titel ist als Übertragung des lateinischen Augustus-Titels dem Kaiser zugeschrieben und findet sich nicht im Rolandslied und beim Stricker.401 Blanscandiz zieht in seiner Rede die Register eines christlichen Diskurses, da er sowohl die religiösen Informationen als auch die christliche Axiologie sowie die Formen im Umgang mit dem Kaiser gekonnt abruft.402 Er spricht – mag es auch geheuchelt sein – Zutreffendes, d. h. ‚Wahres‘ aus Sicht des dominanten christlichen Karlsdiskurses, den alle Texte normativ als 400 Ähnliche Adressierungen finden sich auch in RL 733: ô wol dû keiser edele; RL 755: ôwol dû keiser hêre. 401 Der „Zusammenhang mit dem lat. Verb augere (mehren, vermehren, erhöhen, vergrößern etc.), das auch auf die Aura des Göttlichen und in sakrale Sphären verweist, ist unsicher. Von Octavians Adoptivsohn und Nachfolger Tiberius an führten alle Röm[ischen] Kaiser bis ins 7. Jh. den Augustus-Titel als grundlegenden Bestandteil ihres Kaisernamens, seit der Wende vom 3. zum 4. Jh. in der Form semper Augustus: ‚allzeit M[ehrer]‘. Diese Form hat sich bis zu Beginn des 19. Jh. – im Deutschen sprachl[ich] bisweilen variierend: zu allen Ziten merer des richs – im Anschluss an den Herrschernamen und den Ausdruck des Gottesgnadentums zum zuerst genannten Element der Kaisertitulatur verfestigt“ (Helmut Neuhaus: Art. Mehrer des Reiches. In: 2HRG 3 [2016], Sp. 1405 f., hier Sp. 1405). 402 Ott-Meimberg sieht in der Adressierung Karls durch die Boten „eine Anerkennung der Stellung des christlichen Kaisers samt deren ideologischer Fundierung und Legitimation“ und in den weiteren Ausführungen des Blanscandiz eine „genaue Kenntnis des Amtsverständnisses, das den christ-

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‚Wahrheit‘ voraussetzen. Karl reagiert auf diese Rede mit Schweigen: Der keiser allez swîcte (RL 731).403 Damit zwingt er den Boten fortzufahren, soll das Gespräch nicht zum Erliegen kommen. Dieser erklärt die Tauf- und Dienstbereitschaft Marsilies und die Absicht, Unmengen an kostbaren Gaben zu senden, und betont abschließend nochmals die Unterwerfungspläne seines Herrn. Doch auch diese zweite Rede beantwortet Karl nicht prompt: Der keiser sich allez enthielt, / alsô ime sîn wîstuom riet, / unze er die rede getichte (RL 771–773).404 Schweigen und Unterdrückung von offenen Hinweisen auf das Gedachte charakterisieren hier und auch in der Beratung der Christen über Marsilies Botschaft Karls herrscherliches Handeln in schwierigen Verhandlungssituationen.405 Weisheit ist jene zentrale Herrschertugend, die auch Salomo par excellence auszeichnet, zu dem Karl im Rolandslied und beim Stricker, wie soeben gezeigt, in typologische Beziehung gesetzt wird.406 Karls in Weisheit strukturierte Rede richtet sich zunächst nicht an den heidnischen Boten, sondern an Christus.407 Karl bittet Christus um die Errettung der Heiden aus ihren Sünden und stellt so sein Ansinnen sowie die Entscheidungsinstanz aus; nicht bei ihm liegen die Befugnis und die Macht, die Heiden zu retten und damit Marsilies Angebot anzunehmen, sondern bei Gott. Erst dann – und die Reihenfolge der Adressierung spiegelt eine axiologisch begründete Hierarchie – spricht Karl direkt zu Blanscandiz und der wâre gotes dienestman (RL 801) versichert dem Boten, die Seelen der Heiden zu retten. Der Tugendkatalog hat Karl bereits als unbestechlich charakterisiert, der Stricker lässt ihn zudem ausdrücklich erklären: ich chom her niht durh iwer gůt (K 1389). Diese Aussage findet sich nicht im Rolandslied, sie verstärkt die Zeichnung Karls und der Christen als irdisches Material ablehnende Gemeinschaft, wodurch der Gegensatz zu den diesseitiger Pracht ohne Transzendenzbezug verpflichteten Heiden verdeutlicht wird. Damit wird auch die Option einer Bestechung Karls, über die die Heiden zuvor im intrareligiösen Diskurs nachgedacht haben, obsolet und der Diskurs entsprechend korrekturbedürftig. Das Buch vom heiligen Karl folgt dem Stricker in der Betonung des asketischen Zugs Karls, der den Hei-

lichen Herrscher sein König- bzw. Kaisertum im Gottesgnadentum begründen lässt“ (dies., Staatsroman, S. 118). 403 Vgl. die ähnliche Reaktion in K 1353–1357 u. BhK 34,25. Wagner erkennt darin einen kommunikativen Sieg Karls über die Heiden: „Karl verweigert solange die verbale Kommunikation mit den Heiden, solange nicht die komplette Unterwerfung angeboten wird“ (ders., Erzählen im Raum, S. 116). 404 Vgl. ähnlich K 1353–1355 u. BhK 35,8–10. 405 Vgl. dazu bereits Kapitel III.3.2. 406 Vgl. zu Karls Weisheit in biblischer Perspektive Richter, Kommentar, S. 167–170. „[D]iese wahre von Gott kommende Weisheit, die ein Ausdruck seiner Humilitas ist, [...] macht ihn als Herrscher zum Abbild des a[l]t[testamentlichen] Königs Salomon und zum Typos Christi, denn wie Salomon in seiner Weisheit und Macht Christus präfigurierte, so postfiguriert ihn darin Kaiser Karl [...]“ (ebd., S. 170). 407 Vgl. zu diesem Gebet als „Prothema“ Backes, Bibel und Ars praedicandi, S. 40.

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den genauer darlegt, worauf sich sein Streben richtet: ich bin nüt har komen durch uwers guocz willen, den darumb, das ich uwer selen got kouffe und üch löß von denen valschen abgötten Machmet und Therwigant (BhK 35,22–24). Nicht Gaben, sondern dem Seelenheil, nicht der Immanenz, sondern der Transzendenz fühlt sich der Herrscher gemäß der christlichen Axiologie verpflichtet. Seinen Zorn über die Enthauptung zweier christlicher Boten durch Marsilie lässt Karl fahren und verzichtet auf Gegengewalt408 – die Boten sollen in ihren Unterkünften auf seine Entscheidung warten. Die von den Boten mitgeführten Palmzweige besänftigen Karl durch ihre heilsgeschichtliche Bedeutung und Beziehung zum Wirken Jesu.409 Der Herrscher deutet in der Bearbeitung des Strickers die Palmzweige in wörtlicher Rede gegenüber den Heiden und erklärt: daz selbe zeichen [...] můz min herce weichen (K 1417 f.). Im Rolandslied und im Buch vom heiligen Karl wird sein Herz nicht eigens besprochen, sondern einzig der Effekt, dass sein Zorn weicht. Der Stricker fokussiert also das Herrscherherz als Zentrum der affektiv-emotionalen Gefolgschaftsbindung und Kern der charismatisch begründeten Herrschaft Karls.410 Die Heiden und Genelun werden ihren Angriff auf Karls Herz richten, wie das folgende Kapitel III.4.3 genauer zeigen wird. Karls Güte im Umgang mit den Boten erweist sich als problematisch, denn kaum ist die Unterredung beendet, machen die in der Stadt eingeschlossenen Heiden einen Ausfall: Unze diu rede was getan, do sahen si riten und gan di heidenschaft alle ůz der stat mit schalle, dar umbe si da lâgen. (K 1429–1433)

Zwar werden die diplomatischen Verhandlungen von diesem Angriff nicht unmittelbar gestört,411 denn Blanscandiz und seine Gefährten werden am nächsten Tag über die Entscheidung des Kaisers und seines Rates informiert. Doch Karls Affektregulation und seine milde Konfliktlösungsbereitschaft werden durch die diplomatische Unzuverlässigkeit und die auf Heuchelei fußende Botensendung konterkariert. Anders als im Rolandslied und in Strickers Karl brechen die Heiden im Buch vom heili-

408 Vgl. zur Funktion der Erzählung von den enthaupteten Boten im Gewaltdiskurs des Rolandslieds Spreckelmeier, Geronnenes Erzählen, S. 58–61. 409 Vgl. RL 815–838 u. BhK 35,26–32. Zu den biblischen Belegen, den Beziehungen zum Palmsonntag sowie zur imitatio Christi Karls vgl. Kartschoke, Kommentar, S. 658 und ausführlich Richter, Kommentar, S. 179–189. 410 Vgl. hierzu bereits Kapitel III.3 und ausführlich Kapitel III.6. 411 Siehe zur „schlecht integrierten Kampfepisode“ Kartschoke, Kommentar, S. 659 f. In der Chanson de Roland wird die Eroberung der Stadt Cortes erwähnt, aber der Konflikt nicht breiter erzählt. Die Stadt ist bereits eingenommen und wird nicht wie im Rolandslied und im Karl belagert (vgl. ChdR 96–102).

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gen Karl nicht aus der belagerten Stadt aus. Dennoch inszenieren alle oberdeutschen Bearbeitungen die Hof- bzw. Heerlagerszene als Gegensatz zwischen der lichten Erscheinung und dem aufrichtigen Handeln Karls gegenüber der prächtigen Erscheinung und dem hypokritischen Vorgehen der Heiden mit ihrer falsche[n] botschaft (BhK 33,33).412 Dieser Gegensatz versinnbildlicht schließlich die Differenz zwischen den religionsspezifischen Karlsdiskursen, zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, denn die Heiden werden als konversions- und ihr Karlsdiskurs als korrekturbedürftig ausgewiesen.

4.3 Christliche Deutungshoheit im interreligiösen Karlsdiskurs Die Hof- bzw. Heerlagerszene mündet in die Beratung über das Unterwerfungsangebot Marsilies,413 die darin resultiert, dass Genelun gegen seinen Willen und im offenen Konflikt mit Roland als Bote zu den Heiden entsandt wird.414 Auf dem Weg dorthin spricht er intensiv mit Blanscandiz und dort angekommen mit König Marsilie über Karl und seine Herrschaft. Diese Kommunikation trägt Aussagen zum interreligiösen Karlsdiskurs bei, die die Geltung und Legitimation seines herrscherlichen Status betreffen. Sie sind aufschlussreich, weil Genelun den in den vorangegangenen Teilkapiteln profilierten innerheidnischen Diskurs über Karl mit einer christlichen Perspektive konfrontiert. Als Grenzgänger vermittelt er zwischen christlicher Axiologie und christlichem Herrschaftsverständnis auf der einen Seite und heidnischer Axiologie und heidnischem Herrschaftsverständnis auf der anderen Seite. Letztere ist wie gezeigt irdisch gebunden, auf Material und Militär bezogen und entbehrt auch zur herrscherlichen Legitimation eines Transzendenzbezugs. Geneluns Stimme ist als die eines Verräters kritisch zu betrachten, doch da sie Karl preist, erhält dieses Lob besonderes Gewicht. Wenn sogar der Schlechteste der Christen Karl nur enkomiastisch huldigen kann, wie sollten erst die treuen Gefolgsleute den Herrscher preisend besprechen?415

412 So erkennt Haupt in der Hoflagerszene die Problematik der „Integration von Herrschaft und Gemeinschaft“ (dies., Das Fest in der Dichtung, S. 67) durch Bedrohung von außen (Heiden) und die besondere Gefahr, wenn sie auf das Innere ausgreift (Geneluns Verrat). 413 Vgl. dazu bereits Kapitel III.3.2. 414 Genelun ist für die Heiden manipulierbar, in diesem Wissen (vgl. BhK 41,24 f.) raten sie ihm, seine 600 Mann starke Begleitmannschaft zurückzulassen: [u]nd do folgt er den heyden (BhK 41,32). 415 Zu Geneluns preisender Rede, womit er in der Chanson de Roland an der gültigen Wahrheit teilhat, die die Erzählung bzw. der Erzähler vermittelt, vgl. Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 215–220 („Der Verräter als Sprachrohr der Wahrheit“) sowie ebd., S. 359 f. Nach Müller hat im Rolandslied gegenüber der Chanson eine Veränderung statt: Denn hier dürfe nicht jeder die Wahrheit verkünden, sodass die Heiden und der Verräter Genelun von der Wahrheit verbürgenden Erzählerrede ausgeschlossen seien (vgl. ebd., S. 218 f.). „Genelun stimmt also [mit seinen Aussagen über Karl; F. B.] in heilsgeschichtlicher Perspektive mit dem Erzähler und dem, was wirklich der Fall ist, überein,

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Nach Behandlung dieser Kommunikation sollen aus den Erwähnungen Karls vor und während der Schlacht in Roncesvalles die Aussagen der heidnischen Königin Brechmunda (Juliane), der Gattin Marsilies, ausgewählt und untersucht werden. In diachroner Betrachtung des Textcorpus wird die Figur der Brechmunda (Juliane) stärker profiliert und als Akteurin aufgewertet, da sie sich – gewissermaßen in einer kompensatorischen Gegenbewegung zum Verräter Genelun – Karl und der Christenheit zuwendet. Nicht zuletzt befreit sie nach ihrer Konversion den Herrscher mit tiefen religiösen Einsichten aus seiner herrschaftsgefährdenden Lethargie nach Rolands Tod. Brechmunda (Juliane) ist zudem eine besondere Diskursteilnehmerin, denn sie ist die einzige Figur, die am heidnischen und christlichen Karlsdiskurs als vollgültiges Mitglied der jeweiligen Religions- und Diskursgemeinschaft partizipiert.416 In allen genannten Reden oder Dialogen wird neben Karls herrscherlicher Geltung auch seine Beziehung zu Roland verhandelt, denn dieser ist für ihn die wichtigste Bezugsfigur und Stütze seiner Herrschaft, wie die Engelsbotschaft offenlegt: an im stet elliu din ere (K 433) und Karls Handeln gelingt, unze Růlant sin lebn hat (K 436). Das interreligiöse Sprechen über Karl ist als ‚diskursiver Glaubenskampf‘ eine Auseinandersetzung um die Wahrheit über das Wesen des Herrschers – der Sieg auf dem Schlachtfeld korreliert in diesem Zusammenhang mit der Etablierung einer Diskursherrschaft, d. h. einer dominanten und Wahrheit beanspruchenden Stellung im Diskurs.417 Den interreligiösen Botendialog zwischen Genelun und Blanscandiz referiert der Pfaffe Konrad nicht in Erzählerrede, sondern lässt die Figuren in direkter Rede zu Wort kommen, wodurch dem Karlsbild figural perspektivierte Bausteine hinzu-

doch sucht er in diesem unbestrittenen Rahmen seine eigennützige Intrige gegen Roland zu verfolgen. [...] Insofern gibt es im ‚Rolandslied‘ die eine gültige Wahrheit, von der die verblendete Sicht der Heiden und des Verräters abweichen kann. Doch legt der Erzähler den Verblendeten nicht diese Wahrheit in den Mund, indem sich z. B. Genelun selbst als Verräter bezeichnet. Erzähler- und Figurenrede sind geschieden, aber die eine ist falsch und allen als falsch erkennbar“ (ebd.). Geneluns Rede ist also nicht immer falsch und er spricht durchaus ‚Wahres‘ in christlichem Sinne: Bezieht man lediglich seine Aussagen über Karl in die Betrachtung ein und blendet potentielle Selbstaussagen aus, dann äußert sich Genelun in Entsprechung zur Erzählerrede und in Passung zur „einzig wahre[n] christliche[n] Perspektive“ (ebd., S. 218); auch bzw. gerade über diese Inszenierung erhält der interreligiöse Karlsdiskurs seine Geltung und Stabilität. 416 Anders als Genelun wird Brechmunda (Juliane) nicht zwischen den Religionen und Gemeinschaften ‚zerrissen‘. Sie gelangt mit ihrer Konversion auf wunderbare Weise zu tiefen Einsichten in die christliche Religion, ermahnt den Kaiser zu rechtem herrscherlichen Handeln und dient bis zu ihrem Lebensende zu Ehren Gottes in einem von Karl in Roncesvalles am Grab der gefallenen christlichen Märtyrer erbauten Spital: da erwarp diu reine kFnegin, / daz ir daz ewige leben / nach disem libe wart gegebn (K 10816–10818; vgl. auch die Stelle im BhK 84,5–7). Das Rolandslied informiert dagegen nicht über das weitere Schicksal der Juliane (Brechmunda). 417 Mit Brinker-von der Heyde lässt sich mit der verbalen Kriegsführung auf dem Schlachtfeld in Roncesvalles auch das Ringen um die religionsspezifische Geltung im Karlsdiskurs analogisieren (vgl. dies., Redeschlachten – Schlachtreden, bes., S. 5–7).

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gefügt werden. Blanscandiz zählt Karls Eroberungen auf und fragt, wann sein expansives Streben ein Ende habe: wenne er sich es welle glouben? nû ist er dicke verhouwen unt ist komen an sîn alter. nû mächte er sich noch behalten unde scônte sîner wizze unde lieze iuch dâ heime sizze, ob ez der fürsten wille wære. (RL 1780–1786)

Weshalb kämpft Karl noch und wann wird er aufhören zu kämpfen, fragt er Genelun. Da Karl oft verletzt worden und nun ein alter Mann sei, sollte er seiner Weisheit folgen und vom Kampf abstehen, also die Fürsten ‚zuhause‘ lassen, wenn sie es doch wollten. Der Stricker streicht gegenüber dem Rolandslied den Hinweis auf Karls Verwundungen, sein Alter und darauf, dass er besser zu Hause im Reich bleiben und nicht in den Krieg ausziehen möge. Er bietet damit einen ungetrübten Blick auf Karl, der körperliche Defekte und natürliche Alterungsprozesse ausblendet. Der Diskurs wird an dieser Stelle von Aussagen gereinigt, die Karls Vitalität und Idealität diskreditieren könnten. Das Buch vom heiligen Karl tilgt diese Passage vollständig gemäß seinem charakteristischen Bearbeitungsprinzip der kürzenden und straffenden Darstellung und folgt der Tendenz einer Bereinigung des Karlsbildes. Blanscandiz zielt jedoch in allen Bearbeitungen auf Karls Motivation zur Eroberung sowie auf sein Verhältnis zum Herrschaftsapparat, im Besonderen zu den Fürsten und auf ihr Interesse am Gehorchenwollen. Im Rolandslied fragt er mit Blick auf Genelun und freilich nicht ohne das Ansinnen, ihn für die heidnische Intrige gegen Karl zu gewinnen: war zuo lîdest dû die ummâzen arbeit? (RL 1769) Der Stricker fügt gegenüber dem Rolandslied die eingangs des Kapitels bereits zitierte Frage nach der Herrschaftsausübung Karls und damit nach der Form und Legitimation seiner Herrschaft ein: weder daz den fFrsten sanfte tů / oder twinget si Karl dar zů, / durch got, daz lat mich verstan (K 2243–2245). Die oberdeutschen Bearbeitungen exponieren mit diesen unterschiedlich perspektivierten Fragen Karls Herrschaft und die Motivation der Beherrschten zur Gefolgschaft.418 Als Antwort auf Blanscandiz’ Fragen lässt der Erzähler im Rolandslied und beim Stricker (ausgerechnet) Genelun die Grundsätze der freiwilligen Gefolgschaft erklären:419 ‚ez enist mir nicht ungemach. ez ist ein vröude der heiligen kristenheit unde ist ein süeze arbeit. ez ist ein trôst der sêle,

418 Ebendiese Frage bietet im Anschluss an den Stricker auch das Buch vom heiligen Karl (42,6–8). 419 Vgl. zu Geneluns Rede über Karl auch Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 195–208.

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diu ne komt niemer mêre zuo neheinem hellewîze, swer ime dienet mit flîze [...].‘ (RL 1789–1795)420

Geneluns Ausführungen sind für eine Figur auf dem Weg zum Verrat bemerkenswert, da sie nach außen in Übereinstimmung mit der christlichen Axiologie stehen, die für Karls Herrschaftsverband und seine Kohäsion konstitutiv ist.421 Der Dienst unter Karl bedeutet keine unliebsame Aufgabe, sondern ‚Freude für die heilige Christenheit‘ und ist als ‚süße Mühe‘ zu verstehen. Genelun greift hier das Lexem arbeit auf, das Blanscandiz zuvor benutzte,422 und deutet es christlich aus.423 Mit ‚Freude‘, der Bezeichnung des Kollektivs um Karl als ‚heilig‘ und der Anstrengungen der Christen als ‚süß‘ wird auf den sakralen Status des Herrschaftsverbands, auf das Streben nach ewigem Leben und auf Erlösungsfreude verwiesen. Genelun etabliert damit einen Transzendenzbezug, referiert auf Karl und seinen Herrschaftsverband in religiöser Perspektive als ‚Christenheit‘ und fasst sie so als Heilsgemeinschaft zusammen. Das Interesse am Gehorchenwollen speist sich nach seiner Darstellung aus innerer Überzeugung der Beherrschten und stellt im Umkehrschluss Karls Herrschaft eine Zwanglosigkeit aus. Zudem werde die Seele vor Höllenstrafen bewahrt, wenn man sich geflissentlich in den Dienst Karls stellt. Also ist Karlsdienst Arbeit am Seelenheil und damit heilsindividuell relevant und mit den Anforderungen christlicher Moral harmonisiert. Darin spiegelt sich eine priesterähnliche Verantwortung Karls als Merkmal seiner sakralen Herrschaft wider, denn er verschreibt sich nicht bloß dem Schutz des Lebens der ihm von Gott Anvertrauten, sondern dem Schutz ihres Seelenheils. In diesem Sinne ist er als ‚Heilskatalysator‘ auf sein Kollektiv bezogen und ermöglicht mit der Spanienmission den Erwerb des ewigen Lebens qua Martyrium. Der Stricker ändert den oben zitierten Rolandslied-Vers swer ime [Karl; F. B.] dienet mit flîze (RL 1795) in swer gote hie dienet mit vlîzze (K 2258). Es handelt sich somit um Dienst an gote und nicht (primär) an Karl, sodass die Herrscherfigur für das Wirken Gottes und die Ausrichtung der Beherrschten auf Gott unmittelbar transparent gemacht wird. Daraus folgt freilich, dass Gehorsam gegenüber Karl in Übereinstimmung mit göttlichem Willen erfolgt und der Herrscher auf diese Weise sakral legitimiert wird. 420 Vgl. ähnlich K 2249–2276. 421 Genelun bekennt sich zu Karl und „zum Selbstverständnis der christlichen Staats-Gemeinschaft“, auch den „Missionsauftrag und die aus ihm abgeleitete Heilsgewißheit“ gibt er wieder (Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 196). 422 Vgl. RL 1769. 423 Die preisende Erklärung entspricht beim Stricker bis auf wenige Variationen der des Rolandslieds. Anders gegenüber dem Rolandslied ist, dass es keine ‚süße Arbeit‘ (vgl. RL 1791), sondern eine ‚selige Arbeit‘ (vgl. K 2255) ist, Gott und Karl zu dienen. Diese Änderung entspricht den axiologischen Modellen beider Texte: süeze im Rolandslied wird in Strickers Karl mehrheitlich zu sælde transformiert (vgl. zur sælde auch Kapitel III.1.2).

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Genelun, der sich mit diesen Aussagen in Übereinstimmung mit dem Karlsdiskurs befindet, der vom Erzähler und den christlichen Figuren, besonders den Geistlichen aus Karls Herrschaftsverband, getragen wird, fährt mit seiner Erklärung der Motivation zur Gefolgschaft und zur Begründung von Karls Herrschaft fort: wænest dû, daz ez der kaiser tuo? got vordert ez ime zuo. sînen boten von himele sendet er zuo deme künige, der gebiutet ime die herevart. (RL 1796–1800)

Mit seiner rhetorischen Frage danach, ob Blanscandiz Karl als Urheber des Spanienfeldzugs erkennt, nimmt Genelun eine zentrale Aussage im innerheidnischen Karlsdiskurs auf und weist sie als irrige Annahme aus: Die Heiden sind der Auffassung, dass Karl aus eigenem Entschluss und in autokratischem Streben Expansionskriege führt.424 Diese Position suspendiert transzendente Legitimationsquellen und einen Sinnhorizont jenseits des Schlachtensiegs auf Erden. Nun modifiziert Genelun die Aussage für den interreligiösen – dominant christlich geprägten – Diskurs durch die Korrektur, dass nicht Karl Urheber der Expansionen und des Spanienfeldzugs ist, sondern Gott, der dem Herrscher Aufträge erteilt und mit ihm über einen Engel kommuniziert. Karl ist selbst Gesandter Gottes, der in der Immanenz die Ratschlüsse der Transzendenz umsetzt. Seine Handlungsmotivation besteht demnach nicht in eigener Sache, sie speist sich nicht aus profaner Quelle, sondern aus göttlicher Weisung. Karls Herrschaft wird durch den Transzendenzbezug heteroreferentiell legitimiert und in Übereinstimmung mit der Erzählerrede als Herrschaft von Gottes Gnaden charakterisiert. Karl befindet sich folglich in keinem irdischen, sondern einzig in einem transzendenten Subordinationsverhältnis. Die Unterwerfung unter Gottes Herrschaft ist darüber hinaus eine freiwillige, wie der Prolog des Rolandslieds und die Vorgeschichten in den anderen oberdeutschen Bearbeitungen herausstellen: Karl erbittet die Mission der spanischen Heiden von Gott und sein Streben steht mit Gottes Weisung in einmütiger Harmonie.425 Indem der Kaiser göttliche Ordnung ins Werk setzt, bedeutet Karlsdienst stets auch Gottesdienst.426 Und schließlich ergibt sich aus der gemeinsamen Axiologie, die der Herrschaftsverband mit Karl teilt und die im Besonderen die Unterwer424 Vgl. Kapitel III.4.1. 425 In der Chanson de Roland ist dieses Weisungsverhältnis anders gestaltet, denn dort verpflichtet Gott Karl gegen dessen Willen, für die Christenheit in den Krieg zu ziehen (vgl. ChdR 3991–4002). Es liegt eine andere Form der Karlspassion vor, gewissermaßen eine auf Dauer gestellte passio perennis des Herrschers (vgl. dazu auch Kapitel III.7.1). 426 Wie im Prolog des Rolandslieds zeigt sich auch hier eine besondere Sensibilität für die herrscherlichen Bezeichnungen und die damit verbundene Relationierung hierarchischer Positionen: In RL 1796 ist Karl der kaiser, doch drei Verse später, in der Kommunikation mit dem Gottesboten, ist die Rede von deme künige (RL 1799); das impliziert eine Unterwerfung unter den keiser aller küninge (RL 2), also unter Gott.

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fung unter Gottes Gebot vorsieht, die Notwendigkeit, den Herrscher bei der Spanienmission zu unterstützen: sô ne ist des nehein rât, / wir enhelfen ime dâ zuo (RL 1801f.). Karlsdienst ist frei von Zwang, denn er resultiert aus der bereit- und freiwilligen Unterwerfung unter göttlichen Befehl, der keine Alternative offeriert und Beratung obsolet macht. Das Rolandslied fügt als einzige der oberdeutschen Bearbeitungen eine Begründung Geneluns dafür ein, dass Blanscandiz die christliche Axiologie, das gemeinschaftliche Streben und somit das Funktionieren von Karls Herrschaft nicht vollends verstehen kann: ungewizzen ist ez dir nû. / der wârheit wirdest du wole innen, / wilt du die kristenheit minnen (RL 1803–1805). Damit wird – wie bereits in der Hoflagerszene – eine epistemologische Grenze zwischen heidnischem und christlichem Karlsdiskurs gezogen. Diese Operation bedeutet zugleich Einschluss in bzw. Ausschluss aus Diskursgemeinschaften über die Verteilung von Wahrheit. Der christliche Diskurs beansprucht Wahrheit und weist im Gegenzug den heidnischen Karlsdiskurs als defizient und vorläufig aus. Damit werden eine Hierarchisierung der Diskurse und eine christliche Deutungshoheit im interreligiösen Karlsdiskurs behauptet. Diskursteilnehmer müssen eine Befähigung zur Erkenntnis der Wahrheit aufweisen, die sich auf die christliche Religion und Axiologie bezieht und auch das tiefgründige Verständnis von Karls Herrschaft einschließt. Für Externe bleibt der christliche Diskurs enigmatisch, dechiffriert werden kann er nur durch Getaufte bzw. wahrhaftig Glaubende, so die Argumentation im Rolandslied. Dann holt Genelun in allen Bearbeitungen zu einem Herrscherlob Karls aus: ‚[....] ich wil dir wærlîchen sage, deme kaiser ne mac nieman geschaden. got ist selbe mit ime. er gît ime crapht unde sin unde sterket in dâzuo beidiu spâte unde vruo. Karl ist der tiureste man, dann abe ich ie gehôrte sagen. scaz ist ime ummære, er versmæhet lügenære. er hazzet alle bôsheit. er schaphet der sêle gewareheit. den lîb vüert er veile uns allen ze heile. behalten wir die sêle, er en gert alles mêre.‘ (RL 1806–1821)427

427 Vgl. K 2267–2276 u. BhK 42,12–17. Kartschokes Einschätzung der Rede Geneluns ist knapp und wird ihrer Bedeutung im intratextuellen Karlsdiskurs nicht gänzlich gerecht, wenn er bemerkt: „Das Herrscherlob ist hier auf den Heidenbekehrer und Märtyrer Karl abgestimmt. Die ganze Rede Geneluns hat die Funktion, seine Loyalität dem Kaiser gegenüber zu behaupten“ (ders., Kommentar, S. 678). Doch neben der Erfüllung dieser pragmatischen Funktion ist die Rede Teil des differenziert geführten Karlsdiskurses.

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Der erste Aspekt des Herrscherlobs ist den Heiden bereits bekannt, denn sie wissen, dass Karl ‚unüberwindbar‘, ‚unverletzlich‘ ist, wie es das Buch vom heiligen Karl pointiert im innerheidnischen Diskurs festhält: Karlus mag nieman widerstan (BhK 32,3 f.). So erklärt Genelun, dass niemand Karl Schaden zufügen könne und fügt mit der Erklärung für diese Unüberwindbarkeit dem interreligiösen Karlsdiskurs eine – den innerheidnischen Diskurs ergänzende – Information hinzu, denn die Quelle bzw. Begründung für Karls besonderen Status liegt außerhalb des Herrschers. Gott gibt ihm permanent, von ‚spät bis früh‘, Kraft und Verstand ein. Auf diese Weise wird ein phänomenaler Aspekt Karls, seine Unüberwindbarkeit, die sich den Heiden militärisch gezeigt hat und die sie über ein diesseitiges Erklärungsmodell zu bewältigen suchen, durch den im Text dominanten christlichen Diskurs „richtiggestellt“, indem Gründe für diese Oberflächenstruktur angeführt werden, die nicht immanenten und autoreferentiellen, sondern transzendenten und heteroreferentiellen Ursprungs sind: Genelun spricht gemäß der Wahrheit, wærlîche[] (RL 1806). Er leitet mit dem Signalwort tiureste (RL 1812) einen Tugendkatalog ein, der sich mit dem Tugendkatalog bzw. Fürstenspiegel deckt, der in Erzählerrede in der Hof- bzw. Heerlagerszene formuliert wird. Über die Entsprechung der figuralen und der Erzählerstimme wird die Geltung der katalogisch angeordneten Aussagen befördert. Auch die Aussage, dass Karl materielle Kostbarkeiten verachtet, stützt seine Selbstaussage in der Unterredung mit den heidnischen Boten im Hof-bzw. Heerlager.428 Auch die weiteren Bestimmungen dieses Enkomions stützen das im Prolog, in der Vorgeschichte und in der Hof- bzw. Heerlagerszene vor allem vom Erzähler konstruierte Idealbild des Herrschers: Karl ist unverwund- und unbesiegbar, denn ‚Gott selbst‘ ist mit ihm – RL 1809 korrespondiert mit RL 13 (want er mit gote überwant). Diese bereits im Prolog postulierte Gottesnähe illustriert die Narration in verschiedenen Settings auf deskriptiver und performativer Ebene. Karls Streben im Diesseits ist am Jenseits orientiert, sein Einsatz ist selbstlos, da er sein Leben für das Wohl der ihm Anvertrauten hingibt. Allein am Seelenheil seiner Anvertrauten ist ihm gelegen, darüber hinaus begehrt er nichts: er en gert alles mêre (RL 1821). Diese Sorge des Herrschers um die Sicherung des Seelenheils seiner Beherrschten drückt abermals seine ‚priesterähnliche Verantwortung‘ als Merkmal von Herrschersakralität nach Erkens aus. Genelun sieht sich in diese Gemeinschaft einbezogen, wenn er sagt, dass Karl uns allen ze heile (RL 1819) handelt.429 Nicht die Beherrschten opfern sich im Kampf für ihn

428 Vgl. K 1389 u. BhK 35,22–24. Aus dem Munde Geneluns ist dieses Lob der Materialverachtung paradox, denn er wird sich judasgleich als käuflich erweisen, und Karl verachtet Lüge und Bosheit, wie Genelun preist (vgl. RL 1815 f.). 429 Ott-Meimberg erkennt wie Kartschoke in der Lobrede einen „[d]eutliche[n] Beweis für seine ‚subjektive‘ Loyalität gegenüber Karl“ (dies., Staatsroman, S. 200). „Nicht als Heuchelei also, sondern als Zeichen mangelnder Einsicht in das zu diesem Zeitpunkt ja de facto schon gestörte Verhältnis zu Karl müssen hier seine Worte ausgelegt werden“ (ebd.). Der Text gibt auch hier keinen Anlass, an der Aufrichtigkeit der Rede Geneluns zu zweifeln, auch eine Ironisierung liegt m. E.

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auf, sondern er selbst wagt sein Leben für die Gemeinschaft. Damit wird Blanscandiz’ Annahme, dass sich Karls Gefolgschaft für ihn kämpfend aufreibt, widerlegt und ins Gegenteil verkehrt: Karl opfert sein Leben für seine Anvertrauten. Genelun schreibt Karl eine christomorphe Erlöserfunktion zu, profiliert den Herrscher als ‚Heilskatalysator‘ für sein Kollektiv und repräsentiert mit seiner Rede eindrücklich die gemeinschaftsstiftende und heilsnotwendige christliche Axiologie. Im Buch vom heiligen Karl schließlich kombiniert Geneluns Antwort auf Blanscandiz’ Frage verschiedene Aussagen, die in den anderen Bearbeitungen auf mehrere Redepartien verteilt sind. Die Antwort soll ungekürzt zitiert werden, um zu zeigen, wie der Bearbeiter das Material seiner Prätexte pointiert verdichtet: Ir sond wüssen: was Karlus tuott, das hatt gott in geheisen und ist der wil gocz; won gott sant sin engel, der hatt in geheissen die heiden bekeren, und wel sich nit wellent tuoffen, daz er die tod. O, Karlus ist gar einn selig mann: got redet selber mit im unnd gyd im kraft, das im an sinen lib nüt geschechen mag. Er yst der best mann, der ie geboren ward. Er hasset alle ungerechtigkeitt unnd tuott kein unczimlich ding dur gocz willen und hulf allen menschen gern, das sy die sell behieltind. (BhK 42,9–17)

Eine eingehende Kommentierung des Zitats ist obsolet, denn es bietet ein komprimiertes Gesamtbild von Herrschersakralität: Karl handelt von Gottes Gnaden als Stellvertreter auf Erden und in Übereinstimmung mit göttlichem Willen (Herrscher dei gratia und vicarius dei). Er ist ein ‚seliger Mann‘, durch die Kommunikation mit Gott und durch seinen dauerhaften Schutz ausgezeichnet (persönliche Charismatisierung). Er verteidigt die Gerechtigkeit und schützt Menschen, damit sie ihr Seelenheil bewahren (priesterähnliche Verantwortung). Auf diese Weise werden Aussagen in diachroner Durchsicht der oberdeutschen Bearbeitungen als Katalog diskursiven Standardwissens zum sakralen und im Zürcher Buch kanonisierten heiligen Herrscher Karl formiert. Auch Blanscandiz preist nun Karl, doch aus gesprächstaktischen Gründen (vil listeclîchen; RL 1823) und weniger in aufrichtiger Absicht:430 wie gerne ich in noch gesæhe! er hât manige tugent guote. er hât hêrlich gemuote. er hât ein küninclîch leben. er hât wîse râtgeben. (RL 1831–1835)

nicht vor. Zudem stimmen Geneluns Aussagen mit der Erzählerrede überein und diese ist in Bezug auf Karl nicht uneigentlich. 430 Das Buch vom heiligen Karl wird wie so oft konkret, wenn es um Anspielungen oder Andeutungen der Prätexte geht: Blanscandiz gibt vor, an der Rede Geneluns Gefallen zu finden – er heuchelt also und versucht, Genelun strategisch für sich zu gewinnen: Pantschadies ted gen der red, als ob si im wol gefiely [...] (BhK 42,17).

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Tugend, herrscherliches Gemüt und einen königlichen Lebensstil sowie weise Ratgeber weiß Blanscandiz zu loben, die rhetorische Durchformung des vierfachen anaphorischen Auftakts er hât verleiht dem Herrscherlob besondere Eindringlichkeit.431 Blanscandiz’ Preis stimmt mit der christlichen Erzähler- und Figurenrede über Karl überein. Die heidnische Figur spricht entsprechend den Regeln des dominanten christlichen Karlsdiskurses und stabilisiert diesen auf interreligiöser Ebene. Dann verlegt sich Blanscandiz gänzlich auf die Diffamierung Rolands, um Genelun geschickt für sich zu gewinnen.432 Genelun stimmt beim Stricker in diesen Karlspreis ein und benennt Roland als Rädelsführer gegen die Heiden. Von dieser Aggression ist Karl jedoch ausgenommen: Karl der vil reîne, dern gesůchet iuch nimmer mê. im tůt diu arbeit so we, der er hie sehs jar hat getan, daz er iuch fride liezze han. (K 2354–2358)

Dass Karl, den Genelun wie der Prologsprecher bei der Erstnennung als reîn bezeichnet,433 des Kampfes müde ist, ist ein Zusatz des Strickers gegenüber dem Rolandslied. Auf diese Weise wird Roland als Kriegstreiber dargestellt und der Herrscher entlastet. Genelun – und das ist ebenfalls eine Erweiterung gegenüber dem Rolandslied – beteuert dann seinen besonderen Einfluss auf Karl, den er nach Belieben lenken könne: sines dinges stet an mir so vil, / daz er můz volgen des ich wil, / da ez ze volgen stat (K 2389–2391). Diesen Einfluss verspricht er zur Manipulation Karls und zur Isolation Rolands geltend zu machen: ich geschaffe daz Karl heim vert / und Růlant hie eine bestat (K 2406 f.).434 Genelun missbraucht seinen Einfluss, berechnet gegenüber Blanscandiz seine Machtressourcen und versteht sich dennoch als treuer Bote des Kaisers:435 ich pin dem keyser so holt, / daz ich niht næme ein grozzez golt, / ichn spræche rehte, als er mich hiez (K 2483–2485). Seine Botschaft richtet er tatsächlich korrekt

431 Beim Stricker ist diese Rede (vgl. K 2285–2291) bis auf kleine Variationen deckungsgleich mit der im Rolandslied. Einzig die Vorstellung, dass es Blanscandiz zur sælde verhelfe, den Kaiser zu sehen, ist im Karl gemäß dem den Text über präsent gehaltenen sælde-Modell hinzugetreten: mFse ich den keyser diche sehen, / des wold ich mir ze sælden jehen (K 2285 f.). 432 Da Blanscandiz zuvor Genelun als den ‚weisesten‘ und besten Ratgeber Karl bezeichnet hat (vgl. RL 1762–1768), ist bereits dieser Ratgeber-Preis nicht ohne Schmeichelei. 433 Vgl. K 63. 434 Das Buch vom heiligen Karl spitzt die Aussage im Anschluss an den Stricker noch etwas zu: Ich schaf üch Ruoland ze töden und das Karlus enweg zücht (BhK 43,12 f.). 435 Genelun verweist darauf, dass er schließlich nicht Karl, sondern Roland die Fehde angesagt habe, Karls Schwester seine Frau (Karl also sein Schwager) sei und er eine entsprechend starke Sippe habe, die sein Leben – im Falle eines Konflikts – verteidigen würde (vgl. K 2394–2399). Genelun berechnet somit seine Ressourcen kühl und kalkuliert das Risiko eines Verrats und damit eines

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aus, bindet sie jedoch strategisch in seinen Plan zur Rache an Roland ein, womit er Karls Herrschaft empfindlich angreift und zum Verräter an der Christenheit wird.436 Am Hof Marsilies angekommen, entspinnt sich in der Folge ein Gespräch zwischen Genelun und dem heidnischen König, das den interreligiösen Karlsdiskurs nach dem bekannten Frage-Antwort-Schema fortschreibt. Genelun nimmt im Zuge dieser ‚Karlslehre‘ als Christ und Antwortender bzw. Unterweisender eine gegenüber dem heidnischen Herrscher als Fragendem und Belehrtem dominante Rolle ein. Darin spiegelt sich förmlich die Deutungshoheit der Christen im interreligiösen Karlsdiskurs. Wer hat Karl die Herrschergewalt über den heidnischen König gegeben? Die Frage nach der Autorisierung und Sendung Karls beschäftigt nach Blanscandiz nun auch den Herrscher selbst: wer hât Karle den gwalt über mich gegeben, daz er sô gewalteclîche verbiutet mir mîn rîche unde sich underwindet, daz er die werlt alle twinget, daz siu ime werde undertân? (RL 2228–2233)437

Marsilie deutet Karls Vorgehen als twingen und bietet damit eine Außenperspektive auf die christliche militärische Mission.438 Ebenso wie Blanscandiz führt Marsilie Karls hohes Alter ins Feld: er ist ein alt hêrre (RL 2235) und sollte von Eroberungen und Mühen abstehen. Der Stricker und in seiner Nachfolge das Buch vom heiligen Karl tilgen ebenfalls an dieser Stelle die Bemerkung zu Karls Alter entsprechend einer Idealisierung des Herrscherbildes. Die Fragen der Heiden eröffnen auch hier die Möglichkeit, Karls Herrschaft und ihre Legitimation in Szene zu setzen, was über die Stimme des Verräters besonders überzeugend geschehen kann. Da sich die

In-Ungnade-Fallens bei Karl. Vgl. zu Geneluns Selbstverständnis, seiner Fehleinschätzung der Fehde mit Roland und seines Verhältnisses zu Karl auch Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 198–210. 436 Auch im Gespräch mit Marsilie beteuert Genelun, aufrichtig zu sein: Vor Marsilie nennt Genelun Karl keiser von Rôme (RL 2025), unterbreitet seine Botschaft und endet mit: daz hiez mich dir mîn hêrre, der keiser, sagen (RL 2051). Der Heide Blanscandiz spricht gegenüber Marsilie von Karl als rœmische[m] voget (RL 2010). Die Bezeichnungen ‚Römischer Kaiser‘ und ‚Vogt von Rom‘ werden sowohl von den christlichen als auch von den heidnischen Figuren zur Anrede Karls verwendet und das auch im heidnischen Herrschaftsbereich. Auf diese Weise wird Karls herrscherliche Geltung im interreligiösen Diskurs stabilisiert. 437 Vgl. ähnlich K 2726–2739 sowie die pointierte Wendung im Buch vom heiligen Karl: wer hatt Karlus gewalt gen über mich und die ganczen welt? (BhK 45,27 f.) 438 Im Inneren funktioniert Karls Herrschaft nämlich gerade ohne ‚Zwang‘ und ‚Gewalt‘; es gibt höchstens eine Verpflichtung zur Einmütigkeit, die jedoch primär religiös fundiert wird. Karl zwingt demgegenüber die Heiden zur ‚Wahrheit‘, d. h. zur Taufe, wie es der Prolog des Rolandslieds vorwegnimmt. So hat Karl die grimmigen heiden betwungen (RL 20). Die Erfahrung Marsilies von Karls Mission als ‚Zwang‘ findet somit ihre Entsprechung in der Erzählerrede.

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Fragen Blanscandiz’ und Marsilies ähneln, gibt Genelun auch in ähnlicher Weise Antwort, indem er Karls Idealität preist und seine Autorisierung erklärt: ‚[...] Karl hât tugende vil. er ist tiure unde mære. alle wîse scrîbære mächten niemer volscrîbe die manigen tugent von sînem lîbe. er ist der aller sælegeste hêrre. durch got stürbe er gerne. er en hât sîn neheinen rât, wan ime ez got selbe geboten hât, daz er die heiden bekêre. wir helfen ime dar zuo gerne.‘ (RL 2244–2254)

Durch Wiederholung und Reformulierung des Tugendkatalogs bzw. Fürstenspiegels – insbesondere im Rolandslied und in Strickers Karl – werden zentrale Aussagen zur Charakterisierung des Herrschers präsent gehalten und dem jeweiligen intratextuellen Karlsdiskurs fest eingeschrieben. Karl ist der Tugend so voll, dass es sogar allen erfahrenen Schreibern nicht möglich ist, seine Vorzüglichkeit umfänglich zu beschreiben. Diese Hyperbolik übernehmen alle oberdeutschen Bearbeitungen.439 Sie passt im Besonderen zur Angabe des Prologsprechers im Strickerschen Karl, dass eine vollständige Dokumentation der Taten des ausgezeichneten Mannes in einem halben Jahr kaum zu leisten ist und folglich nur Ausgewähltes, Charakteristisches erzählt werden kann.440 In Geneluns Redeeinleitung steckt damit ein Stück Autorreflexion und vor allem bedeutet sie Arbeit an Karls Idealität und Exzeptionalität. Karl gilt Genelun als der ‚allerseligste‘, als gesegneter Herrscher, der bereit ist, für Gott ‚gern‘ sein Leben zu lassen.441 Diese Martyriumsbereitschaft, die in dieser Passage einzig das Rolandslied bietet, stimmt mit der im Text ausgeprägten christlichen Axiologie – samt Martyriumsideologie – überein und verbindet Karl mit seinem Herrschaftsverband und im Besonderen mit den Zwölf Paladinen. Diese Form ultimativen Gottesgehorsams basiert bei Karl auf einem Interesse am Gehorchen-

439 Ir sond wüssen, daz Karlus ist also ein gerechter man, das alle schriber kum geschriben konnent sin tugend und wirgkeitt (BhK 45,32–34). 440 Vgl. K 52–62 und Kapitel III.1.2. 441 Vgl. für Karls ‚Tugend‘ und seinen Status als aller sælegeste hêrre Hall, The Saelde-Group, S. 351. Der Stricker entfernt an dieser Stelle die Aussage des Rolandslieds, dass Karl der aller sælegeste hêrre sei (vgl. dazu ebd.); diese Modifikation des Strickers ist mit Bezug zu seinem sælde-Modell nicht genau nachzuvollziehen. Auch dass Karl für Gott zu sterben bereit ist, findet sich an dieser Stelle nicht im Karl. Dagegen ist die folgende superlativische Formulierung von Karls exzeptioneller Tugendhaftigkeit neu gegenüber dem Rolandslied: nîe wart noch nimmer werden sol / ein man so reiner tůgende vol (K 2749 f.).

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wollen, denn er stirbt ‚gern‘, d. h. bereitwillig, mit Vergnügen, für Gott. Zudem hat Karl, wie Genelun angibt, keine andere Wahl, als zur Heidenmission auszuziehen, da Gott ihm den Auftrag dazu gegeben hat. Damit beantwortet er Marsilies Frage nach Karls Expansionsstreben: Es ist kein selbstgewisses Streben nach Macht und Geltung, sondern die geflissentliche Ausführung eines unumstößlichen Befehls Gottes. Das ist den Rezipienten bereits bekannt und auch im Gespräch zwischen Genelun und Blanscandiz zur Sprache gekommen. Die Wiederholung der Aussagen als Technik der Karlsinszenierung markiert ihre Geltung und schreibt sie dem Diskurs umso tiefer ein. Diese Verpflichtung zu spezifischen Handlungen durch transzendente Weisung kann nun beim Befehlsempfänger als Zwang empfunden oder zur freiwilligen Selbstverpflichtung transformiert werden. Letztere verändert im vorliegenden Fall die Modalitäten der Unterwerfung unter Gottes Herrschaft und profiliert Karls Gottgefälligkeit und persönliche Charismatisierung: Karl ist gemäß der Vorgeschichte darauf bedacht, die Seelen der Heiden zu retten und fordert selbst die Mission als Herzenswunsch von Gott. Der letzte Satz der erklärenden Antwort Geneluns fokussiert die affektive Gefolgschaftsbindung der Christen an Karl, da sie ihm ‚gern‘, also bereitwillig und mit Vergnügen bei der göttlich befohlenen Aufgabe der Heidenmission helfen.442 Karl folgt Gott ‚gern‘ und die Beherrschten folgen ebenso ‚gern‘ Karl. Diese Aussagenfolge passt in das bisher entworfene Bild von Karls Herrschaft, die auf freiwilliger Gefolgschaft, größtmöglichem Verzicht auf Zwang sowie auf seiner göttlich autorisierten Herrscherposition und der gemeinsam geteilten Axiologie die – der Transzendenz verpflichtet – das Seelenheil und die Hinwendung zu Gott als Bezugspunkte aufweist, basiert.443 Dieser für das Rolandslied wichtige Aspekt der bereitwilligen Hilfe und Unterstützung (consilium et auxilium) und der Teilhabe des Herrschaftsverbands an Karls Heidenmission fehlt hier im Strickerschen Karl und im Buch vom heiligen Karl. Der Stricker formt daraus ein antithetisches Reimpaar, das konzentriert Karls von Gott aufgegebenes Herrschaftsprogramm zusammenfasst: wan daz ez im got geboten hat, / daz er di heiden bechêre / unt di kristenheit gemêre (K 2752–2754). Das Buch vom heiligen Karl folgt dem Stricker: und hat im got selb gebotten, das er die heiden beker unnd die Kristenheit meri (BhK 45,34 f.). Der Fokus liegt in beiden Bearbeitungen auf der Klarstellung, dass Gott Karl die Mission befohlen hat, und antwortet bündiger auf Marsilies Frage als die Rede Geneluns im Rolandslied. Also profiliert das Rolandslied Karls Martyriumsbereitschaft, seine bereitwillige Unterwerfung unter Gottes Herrschaft sowie die bereitwillige Gefolgschaft der Beherrschten unter

442 Genelun ist übrigens im wir (RL 2254) eingeschlossen und begreift sich gegenüber Marsilie als Mitglied des christlichen Verbands. 443 Die bereits in Kapitel III.3.2 besprochene Ratsversammlung mit einer Gefährdung der Einmütigkeit und dem Zwang zur Einstimmigkeit steht zum oben besprochenen Zeitpunkt der Handlung noch bevor.

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Karls Herrschaft an dieser Stelle besonders stark; der Aspekt der ausgezeichneten Tugendhaftigkeit Karls findet sich in allen Bearbeitungen gleichermaßen. Marsilie gibt daraufhin an, dass er keinen Anstoß an Karl und seinem Gottesgehorsam nehme,444 sondern sich daran störe, dass er ihm sein Reich nehmen und es Roland geben möchte. Beim Stricker macht Genelun Rolands Einfluss auf Karl im Vergleich der Bearbeitungen besonders deutlich: des sagent si Karln so vil, / daz er in immer volgen wil (K 2771 f.).445 Aus diesem Grund wünscht der Heidenkönig den Tod der Zwölf Paladine und schließlich besonders sehnlich den des Herrschers als Quelle aller Bedrohung: ‚[...] der mir den keiser slüege, sô wæne ich überwürde aller mîner sorgen, die mir noch dâ vore sint verborgen.‘ (RL 2281–2284)

Karl soll nach Marsilies Wunsch getötet werden, doch Genelun entdeckt diesen Wunsch als unerfüllbaren, denn den keiser Karlen en mac / nieman erslahen. / got wil in selbe bewaren (RL 2286–2288). Dass Karl durch Gottes Schutz unbesiegbar ist, erklärte Genelun bereits Blanscandiz.446 Auf diese Weise wird die Unüberwindbarkeit Karls, die den Heiden auf militärischer Ebene vor Augen steht, durch mehrfache Wiederholung der christlichen Erklärung zu einer transzendenten Perspektive „korrigiert“. Diese Technik des Korrigierens erscheint so als Instrument der christlichen Diskursherrschaft. Genelun geht im nächsten Schritt auf die immanente, herrschaftspraktische Artikulation der göttlich verfügten Unüberwindbarkeit Karls ein. Der Kaiser genießt Tag und Nacht militärischen Schutz, sodass jeder, der sich ihm in feindlicher Absicht nähert, an diesem scheitern und sterben wird: wande si durch neheine werltlîche nôt / deme keiser entwîchent (RL 2304 f.).447 Dieser unüberwindbare Schutz durch loyale, kampfbereite Gefolgsleute ist die praktische Ausprägung göttlich legitimierter und begnadeter Herrschaft. Doch Marsilie scheint die Bedeutung göttlicher Begnadung nicht einzuleuchten, denn er zielt mit seiner Nachfrage auf einen Sieg über Karl im Kampf: mag ich mit Karle vechte? / vil michel ist mîn gwalt. / mîn hêrschapht ist manecvalt (RL 2318– 2320).448 Marsilie betont seine herrscherliche ‚Gewalt‘ und eine Fülle an Ressour-

444 Vgl. RL 2256–2259. 445 Es liegt hier wohl weniger in Geneluns Interesse, Karl als manipulierbaren und schwachen Herrscher darzustellen, als vielmehr die Gefährlichkeit des Einflüsterers Roland zu betonen. 446 Vgl. RL 1806 f. 447 Mit diesen Worten bestätigt Genelun die Charakterisierung der Zwölf und ihre Loyalität, die zuvor in Erzählerrede konstatiert worden ist (vgl. Kapitel III.3.1). 448 Auch im Buch vom heiligen Karl fragt Marsilie: trüwend wir Karlus mitt strit bestan? (BhK 46,7 f.)

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cen, die ihm in einer militärischen Konfrontation mit Karl zu Gebote stehen. Genelun antwortet abermals auf Marsilies Renitenz, nun etwas gespannt. Auf diese Weise wird durch das perpetuierte Frage-Antwort-Schema an der Etablierung der christlichen Deutungsperspektive im Diskurs über Karls herrscherliche Legitimation gearbeitet – die enervierende Wiederholung figuriert als Mittel der ‚Diskurseinübung‘:449 ‚lâ dîne tumplîche rede. ob sich an ein velt gesamnôte elliu dise werlt, sine mächten nicht erherten vor den guoten swerten, dei in des keiseres hove sint. si zevüerten si sam der wint an der dürre tuot den stoup. ir vechten daz entouc. sich en darf nieman mit in beheften, dâ vichtet selbe mîn trechtîn. deme keiser en mag nicht gewerren, die wîle er got wil vlêhen. wir schulen ez anders teilen. mächten wir si gescheiden, Ruolanten unde die sîne! [...]‘ (RL 2340–2355)

Der ‚Wahrheit‘ des christlichen Diskurses steht die tumplîche rede des heidnischen gegenüber.450 An eine Feldschlacht mit dem Kaiser ist nicht zu denken, denn sollten sich alle Kämpfer dieser Welt auf einem Schlachtfeld versammeln, könnten sie nicht vor den Schwertern der Kämpfer Karls bestehen – wie der Wind in der Dürre den Staub zerstreut, so wenig hilft das Kämpfen.451 Die Konkretion der Schwerter, die nicht zu überwinden sind, bedeutet eine immanente Erklärung, die auf den heidnischen Sinnhorizont abzielt. Auch das Kämpfen Gottes im übertragenen Sinne lässt sich immanent über die Vorstellung eines Gottes, der selbst tatkräftig das Schwert führt, mit der heidnischen Episteme, wie sie die Texte entwerfen, harmonisieren. Genelun hält fest, dass Karl solange unüberwindbar ist, wie er Gott auf sei-

449 Genelun spricht die folgenden Worte als der ungetriuwe râtgebe (RL 2339), als Untreuer macht er sich gegenüber Karl und dessen Vasallen Roland schuldig. Doch die Darstellung von Karl und seiner Gottesbeziehung ist getreulich und stimmt mit der Erzählerrede überein – im Karlsdiskurs spricht der Verräter folglich die Wahrheit. 450 Die Heiden, hier ihr König Marsilie, zeigen sich gemäß der vorliegenden Darstellung als unbelehrbar und unverständig in Bezug auf das nach christlicher Auffassung wahre Wesen Karls, sodass bei fehlender Einsicht der Tod oder der Zwang zur Taufe als Optionen nahegelegt werden – einzig Brechmunda (Juliane) bildet eine Ausnahme (siehe hierzu noch unten). 451 Kartschoke, Kommentar, S. 682.

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ner Seite hat.452 Das Schlachtenglück des Herrschers ist damit aufs Engste an sein Gottesverhältnis geknüpft – ein Bruch mit Gott bedeutet das Ende des herrscherlichen Erfolgs. Deutlicher kann eine sakrale Herrscherlegitimation kaum ausgedrückt werden. Genelun zufolge scheint es aussichtslos, zu versuchen, Karl aus der Gnade Gottes zu drängen, seine Beziehung zur Transzendenz zu stören. Um ihn zu besiegen, ist es erfolgversprechender, auf seinen Herrschaftsverband zu zielen und eine Fragmentierung desselben herbeizuführen. Aus der Unüberwindbarkeit Karls in offener Schlacht und seinem unerschütterlichen Gottesverhältnis leitet Genelun so eine für seine Belange willkommene Folgerung ab, nämlich die Exklusion Rolands und der Zwölf aus Karls Herrschaftsverband.453 Beim Stricker sind Geneluns Antwort und Argumentation im Kern gebaut wie jene im Rolandslied, jedoch werden der Gottesbezug und Karls Angewiesensein auf göttliche Gunst nicht erwähnt. Stattdessen fokussiert der Text Karls sælde: er ist ein so sælich man, / ir wFrdet des todes gewert (K 2792 f.).454 Die Verse RL 2350–2352, die für die Inszenierung von Karls Herrschersakralität im Rolandslied an dieser Stelle leitend sind, sind somit beim Stricker getilgt, obgleich an Karls Unbesiegbarkeit durch Gottes Gnade – in Strickers Konzept durch Karls sælde ausgedrückt – festgehalten wird. Das Buch vom heiligen Karl folgt den Bearbeitungsschritten des Strickers: Und hettind ir alle heiden, wen ir in bestritten wöltind, ir möchtind im nütt widerstan, wan er ist gar ein selig man. Und darzuo hand sy die allerbesten schwert (BhK 46,10–12). In beiden Texten zeigt Genelun dann ein Schwert zur Probe – im Rolandslied werden die ausgezeichneten Schwerter der Christen bloß erwähnt –455 und beweist durch die Spaltung eines Helms handfest die immanente Seite der Unüberwindbarkeit des Kaisers.456 Karl kann militärisch nicht geschlagen werden, er kann nicht sterben aufgrund der göttlichen Vorsehung und Gnade. Somit kann er einzig über eine List angegriffen werden, die sich auf das Herrscherherz richtet – darin stimmen alle oberdeutschen Bearbeitungen überein. Im Rolandslied attestiert Genelun den Zwölf Paladinen – in Entsprechung zur Erzählerrede – loyale Geschlossenheit und ‚Einmütigkeit‘: si habent alle ain muot (RL 2447). Zudem schützen sie sich gegenseitig und verstehen sich folglich als Hilfs- und Schutzgemeinschaft, die

452 Richter (Kommentar, S. 298) weist den Bezug zu Moses und seinem Schlachtenglück nach. 453 Roland ist erstgenannt und als Anführer der Zwölf primäres Ziel Geneluns (vgl. RL 2355). 454 In der sælde ist eine funktionierende Gottesbeziehung eingeschlossen, der selige Mensch – hier Karl – ist aufgehoben in Gottes Gnade. Vgl. dazu Kapitel III.1.2. 455 Vgl. RL 2343–2347. 456 Vgl. K 2803–2806. Ähnlich wie den Christen beim Stricker und im Buch vom heiligen Karl Olifant und Durndart zur Bezeugung von Karls göttlichem Auftrag gezeigt werden, sind die Schwerter und ihre Härte nun für die Heiden ein Beweis der Unbesiegbarkeit Karls. Dabei ist es auffällig, dass zur Persuasion und Evidenzstiftung Dinge von grundsätzlich unterschiedlicher Qualität bemüht werden: für die Christen göttliche Acheiropoieta (Transzendenz) und für die Heiden irdische Artefakte (Immanenz). Darin spiegelt sich der literarische Entwurf einer kategorialen Scheidung der religionsgemeinschaftlichen Axiologien.

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nicht nur auf Karl, sondern auch unter ihren Mitgliedern loyal aufeinander bezogen ist: swer ir eineme icht getuot, / der hât si alle bestanden (RL 2448 f.).457 Die Gemeinschaft der Zwölf, die mit Karl auch affektiv eng verbunden ist,458 zu eliminieren, ist der Schlüssel, um Karl emotional zu verletzen und in der Folge aus Spanien zu vertreiben: ‚[...] werdent die denne erslagen, der keiser en mac sich niemer erhalen. er erstirbet vor laide. sô ne gesuochet er dich niemer mêre haime.‘ (RL 2473–2476)

Hierin spiegelt sich die charismatische Anlage von Karls Herrschaft wider, die integral auf persönlichen affektiven Bindungen basiert. Auch im Buch vom heiligen Karl gilt der Angriff dem Herrscherherz, doch wie beim Stricker wird der Fokus von der Gemeinschaft der Zwölf auf Roland verschoben, dessen Tod Karl ‚Leid‘ bereiten und ‚Freude‘ nehmen wird:459 Wen den Karlus vernimpt, daz Ruoland töd ist, so wirt im so we von leid, daz er niemer mer zuo üch har kumpt; won er wirt niemer mer fro, wenn er weis, daz Ruoland töd ist (BhK 47,2–4). Damit ist der verräterische Plan geschmiedet und Karls Tod vor laide (RL 2475) wird später beinahe eintreten, bewahrten ihn nicht Gott bzw. die konvertierte Brechmunda (Juliane) vor ihm.460 Hierin zeigt sich die Kompensationsbewegung zwischen Genelun, der als Verräter von Karl und den Christen abfällt, und Brechmunda (Juliane), die als Konvertitin von den heidnischen Göttern Abstand nimmt und sich dem Christentum und Karl zuwendet. Die Absicht, Karl durch Ausschaltung seiner Paladine und insbesondere Rolands zu erschüttern und zu besiegen, ist seit Geneluns Unterredung mit Blanscandiz und Marsilie für die Heiden leitend. Also spornt Marsilie beim Auftakt der Schlacht an: gelæge Ruolant dâ nidere, / umbe Karlen würde sîn guot rât (RL 3718 f.). Aus weiteren Karls-Erwähnungen ergibt sich folgendes Bild:461 Karl wird von den 457 Daraus ergibt sich folgende Kette der Verknüpfung: Da Genelun um die Funktion der Gemeinschaft der Zwölf weiß, müsste er wissen, dass er niemals Roland allein die Fehde ansagen kann, sondern alle Zwölf zugleich herausfordert. Da die Zwölf wiederum nicht nur untereinander, sondern auch mit Karl verbunden sind, ist eine Fehdeansage an einen der Zwölf eine Fehdeansage an den Herrscher. 458 Vgl. Kapitel III.3.1. 459 Vgl. die Stelle beim Stricker, der gegenüber dem Rolandslied noch ausdrücklich Roland hervorhebt (K 2931–2937). 460 Vgl. zur herrscherlichen passio cordis Kapitel III.6, das zudem Geneluns Rückkehr und seine Bestrebungen, Roland von Karl zu isolieren, behandelt. 461 Vgl. zur Rückbeziehung der Schlachthandlung in Roncesvalles auf Karl auch Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 217–223. Zu den Erwähnungen Karls im Zuge der Schlacht von Roncesvalles im Rolandslied siehe Ashcroft, ‚Si waren aines muotes‘, S. 41: Karl wird zehnmal namentlich genannt, davon neunmal von den Heiden und er wird sechsmal als ‚Kaiser‘ bezeichnet, davon viermal von

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christlichen Figuren als ihr ‚Herr‘, als ‚Schützer der Christenheit‘ bezeichnet und sein Erfolg im Kampf gegen die Heiden wird in Gottes Hände gelegt. Die heidni-

den Heiden. Damit verliere er gegenüber Roland, der sich als ‚Vogt‘ mit sakralem Status emanzipiere (vgl. ebd.). Im Folgenden sind einzig die Stellenangaben im Rolandslied aufgeführt, sie finden sich – wenn nicht anders kommentiert – ebenso in den anderen oberdeutschen Bearbeitungen. Karl ist das Ziel der heidnischen Drohungen, so heißt es exemplarisch: die küninge kômen al zesamene. / die drôten alle Karle (RL 7361 f.). Die Absicht, Karls Herrschaft zu beenden, wird mehrfach artikuliert, so erklärt beispielsweise Paligan: die christen ich vertrîbe. / Kârl, der ne rîchsenet nicht mêre (RL 7398 f.) und zuvor rufen die Heiden geschlossen: Karl enrîchsenet hie niht mêre (RL 5308). Einschlägig sind auch die Einschwörungen gegen Karl und Loyalitätsbekundungen der kampfbereiten Heiden gegenüber Marsilie (vgl. z. B. RL 3746, 3753, 3781, 3785, 3800). Paligan spricht über Karl bzw. führt Klage: ‚Karl hât mir in mînem rîche / gemachet ain michelen werren. / daz clage ich allen disen hêrren (RL 7196–7198), Karl hête in harte betwungen (RL 7210). Auch in der Schlacht wird Karl als Herrscher und Verantwortlicher für Rolands Statthalterschaft in Spanien angesprochen. So tadelt ein Heide den Kaiser gegenüber Roland: tump was der kaiser, dîn œhaim, / sîn wîstuom übel dar an scain, / daz er dich hinter im verliez (RL 4033–4035). Indem Roland den scheltenden Gegner tötet, restauriert er Karls angefochtene Integrität und herrscherliche Entscheidung und spricht: Karl was wîse unt biderbe, / der mich hie liez (RL 4074 f.). Roland bezeichnet Karl gegenüber Marsilie als seinen Herrn: dune girrest Karlen, mînen hêrren, / niemer in sînem rîche (RL 6289 f.); Karl, mîn hêrre (RL 6364). Auch in den „Todesgebeten“ Turpins und Oliviers ist Karl als Herr, dessen sich Gott annehmen soll, präsent (vgl. Olivier: RL 6501–6506, K 7429–7432 u. 7482–7487, BhK 64,33– 65,1; Turpin: RL 6633–6636, K 7654–7657, im Buch vom heiligen Karl fehlt eine Turpin-Rede; Roland: RL 6825–6914, K 8020–8072, im Buch vom heiligen Karl fehlt eine Rede Rolands, denn Karl trifft ihn noch lebend an). Der Stricker fügt gegenüber dem Rolandslied eine Rede des heidnischen Kaisers Ammoch zur Motivation der Kämpfer ein, in der er Karl als nachzueiferndes und damit interreligiös ideales Vorbild benennt: ir sult tůn, als Karl tůt: / der ist der vordeste an der not, / ern fFrhtet marter noch den tot / noch deheiner slahte pin; / also tůnt ouch alle die sin. / da von gesigent sie alle zit (K 9902–9907). Zudem ist Karl trotz körperlicher Abwesenheit auch in der Schlacht akustisch präsent durch den kaiserlichen Schlachtruf ‚Monjoie‘. ‚Monjoie‘ – Steinsieck übersetzt dies mit ‚Berg der Freude‘ (vgl. ChdR 1181) – wird als akustisches Zeichen Karls, l’enseigne Carlun (ChdR 1234; ‚Monsoy! Monsoy!‘ daz was des kaiseres zaichen; RL 4068 f.), in der Chanson de Roland und im Rolandslied angesprochen (vgl. für die Bedeutung von enseigne Steinsieck, Anmerkungen, S. 344 und für die Beziehung des Schlachtrufs zu Karls mit einer Christusreliquie versehenem Schwert Joyeuse ChdR 2500–2511 bzw. Steinsieck, Anmerkungen, S. 358 f; vgl. zu ‚Monsoy‘ in der Chanson de Roland ausführlich Gustav Adolf Beckmann: Onomastik des Rolandsliedes. Namen als Schlüssel zu Strukturen, Welthaltigkeit und Vorgeschichte des Liedes. Berlin/Boston 2017 [Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. 411], S. 552–589; siehe für das Rolandslied Kartschoke, Nachwort, S. 660 sowie Wagner, Virtueller Raum, S. 122 f.). Der Ruf ertönt im Besonderen zur Ermunterung der Mitstreiter (vgl. RL 4275, 4330, 4572, 6226; vgl. K 7376) und wird nach Tötung eines Gegners von einzelnen Kämpfern, aber auch vom Kollektiv ausgerufen (vgl. ChdR 1260, 1350, 1378, 1973f.; vgl. RL 4420, 4916, 5322, 6411; vgl. K 4962–4965, 5346, 5437, 5558, 5837, 5894, 6043, 6313, 6833). Schließlich rufen die Christen nach Erhalt eines Stärkungswunder als trôst von himele (RL 4462) ‚Monjoie‘ – damit ist auch der Transzendenzbezug des Rufes deutlich, der die kriegerischen Handlungen auf diese Weise absichert. Das gemeinsame Rufen des ‚Zeichens‘ markiert zum einen kollektive Einmütigkeit und hält zum anderen den abwesenden Karl als Herrn der kämpfenden Christen in der Schlacht akustisch präsent. Anders als die Prätexte verzeichnet das Buch vom heiligen Karl keinen Schlachtruf der Christen.

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schen Figuren erkennen in Karl den Urheber der Spanienmission, den Auftraggeber der christlichen Kämpfer und den mächtigen Herrscher, auf den die Konfrontation mittelbar bezogen ist. Die Schlacht in Roncesvalles wird darüber an Karl und seine herrscherliche Geltung zurückgebunden, seine Macht steht in der Auseinandersetzung zwischen den Kämpfern zur Disposition. Wie wird nun die besondere Figur der Brechmunda (Juliane) im innerheidnischen Karlsdiskurs positioniert? Die Boten Paligans ermutigen Marsilie, der verwundet aus der Schlacht nach Saragossa geflohen ist und von dort aus Paligan um Unterstützung gebeten hat: Karl, der nist nie sô rîche, / er ne müeze im [Paligan; F. B.] entwîchen / oder entrinnen (RL 7309–7311). Marsilie hat sich nicht als Karl ebenbürtig erwiesen; nach Hoffnung der Heiden tritt mit seinem Herrn Paligan ein Karl überlegener Kämpfer an. Damit steht gemäß der inszenierten Textwelt der mächtigste heidnische dem mächtigsten christlichen Herrscher gegenüber. Nun macht Brechmunda (Juliane) als Reaktion auf die ermutigende Botenrede deutlich, dass Karl ein unbeugsamer Gegner sei, der weder ‚entweichen‘ noch ‚entrinnen‘ werde. Damit besetzt die Königin strukturell die Position des (überlegen) Antwortenden und Erklärenden, die sonst Genelun in den Gesprächen mit den Fragenden Blanscandiz und Marsilie innehatte: ‚Karl, der ne fürchtet niemen. erne spulget nit ze fliehen. jâ vindet er in selben an dem aller næhesten velde. alle die küninge, die in der werlte sind, die acht er sam ein niubornez westerkint. gewinnet er dâ zim dechein êre, Paligân, derne überwindet ez niemer mêre. daz nerede ich umbe daz niet, mînes hêrren êre sint mir sô liep, daz ich ir nieman sô wol negan. Karles site sint sô getân, si suochent selbe den tôt, ê er durch decheiner slachte nôt ain fuoz iemer entwîche. daz waiz ich wol wærlîchen.‘ (RL 7313–7328)

Brechmunda (Juliane), die im Rolandslied – die anderen oberdeutschen Bearbeitungen tilgen diese Zuwendung – einst Genelun geküsst und beschenkt hat sowie beteuerte, Karl eigenhändig töten zu wollen,462 äußert sich nun 5000 Verse später

Vgl. zur rezeptionssteuernden Funktion des Schlachtrufs Kai Christian Ghattas: Rhythmus der Bilder. Narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. bis 13. Jahrhunderts. Köln u. a. 2009 (Pictura et Poesis. 26), S. 91–94. 462 Vgl. RL 2569–2584.

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anders – bzw. in den anderen oberdeutschen Bearbeitungen erstmals – über Karl. Sie partizipiert als Heidin am immanenten Erklärungsmodell und formuliert ihre Aussagen über den Christenherrscher ohne Transzendenzbezug. Gerade weil sie die Gattin Marsilies ist und versichert, ihren Herrn Paligan überaus zu schätzen und seine Ehre hoch zu halten, ist ihre Perspektive auf Karl für den Diskurs über seine herrscherliche Geltung einschlägig: Karl fürchte keinen Menschen, fliehe nicht, habe keine Angst oder Achtung vor allen Königen dieser Welt und würde eher sterben, als sich einem Konflikt zu entziehen. Damit stimmt Brechmunda (Juliane) in den christlichen Karlspreis ein, der die Auratisierung und Sakralisierung des Herrschers befördert. Die ‚wahre‘ christliche Erzähler- und Figurenrede wird auf diese Weise um heidnische Rede ergänzt. Brechmunda (Juliane) sichert ihre Rede dadurch ab, dass ihr Wissen über Karl der ‚Wahrheit‘ entspricht (daz waiz ich wol wærlîchen; RL 7328). Sie trägt auf diese Weise ‚Wahrheit‘ in den innerheidnischen Diskurs; ihre Konversion scheint sich über solche Zeichen anzubahnen. Der Stricker fügt gegenüber dem Rolandslied Informationen hinzu, die eine Öffnung des heidnischen Karlsdiskurses indizieren. Brechmunda (Juliane) erklärt den Boten nämlich, dass Karl Unterstützung hat: ‚[...] Dem keyser hilfet ein man, dem niemen an gesigen chan. daz ist sin herre Jesus Christ. ir ervart wol ob ez war ist.‘ (K 8629–8632)

Die Einfügung des Gottessohnes Jesus Christus imprägniert die heidnische Auffassung von Karls Handeln christlich. ‚Wahrheit‘ wird auch hier verhandelt, denn die Heiden können selbst erfahren oder prüfen, vermutlich autoptisch im Kampf, ob Jesus Christus an Karls Seite ist. Brechmunda (Juliane) reagiert damit auf die Boten, die zuvor angegeben haben, dass selbst Jesus Christus, wenn er mit seinem Gefolge käme, Paligan unterliegen würde.463 Das Buch vom heiligen Karl folgt darin dem Stricker und fügt – wie an weiteren Stellen – neben Jesus Christus auch Petrus, Peter von Rom (BhK 72,14), als Unterstützer Karls ein.464 Brechmunda (Juliane) begegnet den Boten mit einer Anspielung auf ‚einen Mann‘, der von den christlichen Rezipienten leicht als Jesus Christus identifiziert werden kann: ‚Üch dunckt Karlus nie so unmechtig, er git umb alle heyden nüt. Er lit nun uf dem nechsten feld da by dem wasser Saybra mit grosser kraft. Und dar zuo hilfet im ein man, dem nieman angesigen kann; daz hand sy kürczlich wol bewist.‘ (BhK 72,16–20)

463 Vgl. K 8604–8606. 464 Vgl. BhK 72,13–16.

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Als Reaktion auf die Niederlage gegen das Christenheer unter Führung Rolands sind in Saragossa zuvor Götzenbilder zerstört worden. Im Rolandslied erscheint diese Zerstörung zunächst als kollektive Angelegenheit ohne Profilierung einzelner Akteure.465 Doch später wird klar, dass Marsilie selbst (nicht etwa Brechmunda [Juliane]) den Befehl zur Zerstörung gab, wenn er gegenüber den Boten Paligans sagt: ich hiez sie werfen unter die swîn. / ir hûs hiez ich nider brechen (RL 7278f.) und folgert: sie sint alle trügenære (RL 7290). Der Stricker baut die Szene gegenüber dem Rolandslied deutlich aus und stellt Brechmunda (Juliane) ins Zentrum.466 Sie befiehlt im Zorn die Zerstörung der Götzen und legt selbst Hand an: dar zů warf sie diu apgote / under hunde und under swin (K 8418 f.). Schließlich bricht sie mit den Götzen: [...] di wile ich lebnde bin, / so werdet ir nimmer geeret (K 8436 f.) und ‚widersagt‘ ihnen.467 Der Stricker arrangiert auf diese Weise den Abfall von den heidnischen Göttern als Glaubenskrise der Brechmunda (Juliane), die über diese – in christlicher Perspektive – ‚Reinigung‘ für den Empfang des Evangeliums vorbereitet wird. Daraus ergibt sich das Referat der Boten gegenüber Paligan über Brechmundas (Julianes) zornige Götterzerstörung: noch wære da gr=zzer ungehabe: / diu kFneginne het durch den zorn / ir gote allensamt verchorn (K 8640–8642)468. Diese Information mit Bezug auf die Königin gibt das Rolandslied nicht, beim Stricker und im Buch vom heiligen Karl deutet sich damit die Konversion Brechmundas durch die Zerstörung der ‚Götzenbilder‘ an. Auf diese Weise korrelieren der Streit über die Geltung Karls und der Streit über die Geltung der Religionen und Götter. Die Korrelation wird an der Figur Brechmundas (Julianes) exemplifiziert, die durch die Bearbeitung des Strickers gegenüber dem Rolandslied ein geschärftes und handlungstragendes Profil erhält.469 Indem sie sich zusehends dem christlichen Karlsdiskurs und der christlichen Religion öffnet, wird deutlich, dass eine Einsicht in die ‚Wahrheit‘ über den Herrscher Karl verbunden ist mit einem kategorialen Wechsel der Axiologien.470 Und dieser Wechsel vollzieht sich als Konversionsbewegung über die Taufe Brechmundas (Julianes), sodass (ausgerechnet) Geneluns epistemologische Erklärung, dass erst

465 Vgl. RL 7135–7147. 466 Vgl. K 8410–8442. Die Szene findet sich ähnlich, aber etwas kürzer als beim Stricker, auch im Buch vom heiligen Karl (BhK 70,32–71,5). 467 Vgl. K 8442. 468 Vgl. BhK 72,24 f. 469 Ihrer Bedeutung und Autorität trägt auch der Illustrator des Strickerschen Karl im Textzeugen St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde, VadSlg Ms. 302, fol. II 55r (um 1300) Rechnung. Hier wird gleich zwei Mal dargestellt, wie die Königin den Götzensturz und ihre Zerstörung befiehlt [https://www.e-codices.unifr.ch/en/vad/0302/II_55r, Zugriff: 13.12.2020]. 470 Dagegen steht das negative Exempel der Uneinsichtigkeit Marsilies, ihres Gatten, der in der Schlacht verwundet wird und schließlich resigniert stirbt.

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ein Christ bzw. eine Christin die ‚Wahrheit‘ über Karl begreifen werde, sich an Juliane (Brechmunda) bewahrheitet.471

4.4 Zwischenergebnis Alle oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen inszenieren religionsspezifische, auf Christen und Heiden verteilte Diskurse, die Karls herrscherliche Eignung und Legitimation sowie das Funktionieren seines Herrschaftsverbands verhandeln. Ein intrareligiöser, innerheidnischer Diskurs bietet vor der Botensendung eine Außenperspektive auf Karls Herrschaft und ist zentral geprägt durch die Fama seiner Unbesiegbarkeit: Karlus mag nieman widerstan (BhK 32,3 f.). Diese Aussage im Karlsdiskurs ist über die Textreihe diachron stabil. Sie deckt sich mit der (christlichen) Erzählerrede, zeugt von geglückter herrscherlicher Bewährung in außenpolitischer und militärischer Form und ist indexikalisches Zeichen eines Legitimitätseinverständnisses zwischen Herrscher und Beherrschten. Seine Unbesiegbarkeit im Kampf und die unaufhaltsame Expansion werden im innerheidnischen Diskurs als Exorbitanz des Herrschers über ein immanentes Erklärungsmodell bewältigt und herrscherliche Legitimation wird als autoreferentiell hergestellt begriffen. Diese Inszenierung der heidnischen Episteme, die an Immanenz gebunden ist, provoziert eine christliche, „korrigierende“ Auseinandersetzung mit dem „wahren“ Wesen von Karls Herrschaft, das der Transzendenz verpflichtet ist. Demnach ist Karl durch Gottes Gnade für die Zeit der Spanienmission tatsächlich unsterblich. Handlungspraktisch führt seine diskursiv thematisierte und ‚mechanisch‘ im Kampf manifestierte Unüberwindbarkeit unter Vermittlung Geneluns zum Angriff auf das Herrscherherz, d. h. auf die affektiven herrschaftsstützenden Bindungen zwischen Karl und seinem Kollektiv. Die Auseinandersetzung um Karls Status auf Diskursebene spiegelt sich damit auch in der militärischen Auseinandersetzung zwischen den Religionsgemeinschaften wider – der Karlsdiskurs wird mit Zunge und Schwert geführt. Zum Auftakt der Hof- bzw. Heerlagerszene schließen die Heiden in allen oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen gemäß der immanenzbasierten Episteme vom optischen Eindruck des Lagers auf Karls Befähigung zur Weltherrschaft. Unter diesen Vorzeichen zeigte der Textvergleich, dass sich Karls Herrschaft im Rolandslied höfisch und prachtvoll entfaltet und sich die sakrale Legitimation grundsätzlich auf seine Herrschaft und im Besonderen auf ihre Prachtentfaltung bezieht. Entscheidend sind die drei Elemente Salomo-, Morgenstern- und Sonnenvergleich, die Karls Herrschaft durch geistlich-typologische Bezüge an den biblischen Prätext anbinden und sein legitimierendes und zugleich sakralisierendes Potential erschließen, sodass Karl als Idealherrscher und Postfiguration Salomos, Davids und Christi erscheint. Der Stricker reduziert gegenüber dem Rolandslied die höfische Aufma-

471 Auf Brechmunda (Juliane) und ihren Einfluss auf Karl geht auch Kapitel III.6 ein.

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chung des Hoflagers und formt daraus ein Heerlager. Da die Komponente der profan-höfischen Prachtentfaltung aufgegeben ist, zeichnen der Salomo- und Sonnenvergleich – der Morgensternvergleich ist getilgt – Karl mit besonderem Nachdruck als heilig aus und legitimieren seine Herrschaft. Hinzu tritt gegenüber dem Rolandslied die Introspektion, die das Innere des Herrschers für die Rezipienten in Erzählerrede beleuchtet. Der Heilige Geist erfüllt das Herrscherherz und sein Körper ist von Gott meisterlich geschaffen, Inneres und Äußeres sind harmonisiert und Karl ist ouch heilich ane wan (K 1262). Durch Zusätze auf der einen und Streichungen auf der anderen Seite verstärkt der Stricker Karls persönliche Heiligkeit und reduziert seine höfische Herrschaftsrepräsentation. Dieser Bearbeitungstendenz folgend kürzt das Buch vom heiligen Karl die Szene stark, bleibt einem Heerlager verpflichtet und streicht die für das Rolandslied zentralen Elemente, nämlich den Salomo-, Morgenstern- und Sonnenvergleich. Doch trägt die Tilgung der typologischen Autorisierung Karls Heiligkeit nicht ab, vielmehr emanzipiert sich der Herrscher als um seiner selbst willen akzeptierter Heiliger. Das Buch vom heiligen Karl findet in Zürich einen außertextuellen Kontext, in dem Karl als kanonisierter Heiliger gilt, sodass kein sonderlicher Darstellungsaufwand zur Begründung von Karls Heiligkeit betrieben werden muss. Die Annäherung der heidnischen Boten an Karl verläuft in allen Bearbeitungen demütig und in Imitation der christlichen Symbolsprache (Palmzweige). Ihr ehrfürchtiges Schauen des Herrschers konstruiert eine (interreligiöse) Aura des Heiligen. Zudem bezeugen die Zuschreibungen und Adressierungen seitens der Boten Karls Akzeptanz als ‚heiliger Kaiser‘ und ‚Mehrer des Reiches‘. Karls herrscherliche Geltung wird damit über die religionsspezifischen Diskursgrenzen hinweg bestätigt. Karl demonstriert den Boten gegenüber durch Schweigen seine herrscherliche Dominanz und seine Ablehnung gegenüber den offerierten Gaben wird vom Stricker und vom Buch vom heiligen Karl verstärkt, womit eine im Rolandslied noch anzutreffende höfische Prachtentfaltung kaum vereinbar und folglich suspendiert wird. Karl spricht über die besänftigende Wirkung der Palmzweige und erwähnt im Strickerschen Karl sein weiches Herz, das als zentrales Organ der Herrschaftspraxis zum Einfallstor für die Listen und Angriffe der Heiden wird. Alle oberdeutschen Bearbeitungen inszenieren den Gegensatz zwischen der lichten Erscheinung des aufrichtig handelnden und kommunizierenden Karl gegenüber der prächtigen Erscheinung und dem hypokritischen Vorgehen der Heiden, die ein falsche botschaft (BhK 33,33) übermitteln. Dieser Gegensatz versinnbildlicht schließlich die Differenz zwischen den religionsspezifischen Karlsdiskursen, zwischen Christen und Heiden, ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘. Das Rolandslied wiederholt die Ziehung einer epistemologischen Grenze zwischen den Diskursen, indem den Heiden vorläufige Erklärungen über Karl und fehlende Erkenntnis seines wahren Wesens unterstellt werden, den Christen dagegen Wahrheit zugeschrieben wird. Der im Prolog etablierte Wahrheitsdiskurs, der an eine Lichtmetaphorik geknüpft ist – Karl ist des Lichtes voll und bringt den Heiden das ‚wahre Licht‘ des christlichen Glaubens –, wird fortgeschrieben und für den Karlsdiskurs produktiv gemacht. Das Ro-

4 Karl ist der tiureste man: Herrscherliche Geltung

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landslied führt an späterer Stelle als einzige der oberdeutschen Bearbeitungen auch durch Genelun den fehlenden christlichen Glauben als Begründung für das Unverständnis des Funktionierens von Karls Herrschaft und der christlichen Axiologie an. Die vom Erzähler präsentierten Tugendkataloge, die Karl preisen und seine Idealität rühmen, sind in ihren Elementen im Rolandslied, der Kaiserchronik – als Prätext des Rolandslieds – und beim Stricker sehr ähnlich gestaltet und bilden Bausteine eines sich diachron verfestigenden Karlsdiskurses. So wird diskursives Standardwissen über Karls Herrschersakralität bzw. -heiligkeit transportiert. Im Buch vom heiligen Karl ist der Tugendkatalog kondensiert und auf wesentliche Elemente reduziert, aber er steht in der Grundaussage in Übereinstimmung mit den Prätexten. Die auf die Hoflagerszene folgenden interreligiösen Aushandlungen über Karls Herrschaft zeigen ein intensives auf variierende Wiederholung angelegtes FrageAntwort-Schema im Stil einer ‚Karlslehre‘, die sich freilich nicht nur an die Heiden, sondern an die Rezipienten wendet als Mittel der ‚Diskurseinübung‘. Blanscandiz und Marsilie befragen Genelun, der sie über das ‚wahre‘ Wesen des Herrschers und seiner Gemeinschaft belehrt. Auf diese Weise wird der innerheidnische auf Immanenz beruhende Karlsdiskurs christlich korrigiert und im interreligiösen Diskurs eine christliche Deutungshoheit installiert. Geneluns Aussagen stehen in Übereinstimmung zur normativen Erzählerrede, sodass der Verräter über Karl ‚Wahres‘ spricht: Karl kommt eine priesterähnliche Verantwortung für sein Kollektiv zu, da er das Leben und besonders das Seelenheil der ihm von Gott Anvertrauten schützt. Als ‚Heilskatalysator‘ mit christomorpher Erlöserfunktion ermöglicht er über die Spanienmission den Erwerb des ewigen Lebens qua Martyrium. Karlsdienst und Gottesdienst werden in ein Verhältnis der Entsprechung gebracht und der Karlsdienst wird durch das Heilsinteresse der Beherrschten bereitwillig aufgenommen. Als Dienstmann Gottes handelt Karl entgegen der Annahme im innerheidnischen Diskurs nicht autokratisch, sondern führt Aufträge Gottes aus. Diese göttliche heteroreferentielle Legitimationsquelle weist gemäß der christlichen Axiologie das höchste herrschaftslegitimatorische Potential auf. Das Rolandslied betont im Besonderen, dass Karl selbst nach Seelenrettung strebt und Gottes Befehle nicht – wie in der Chanson de Roland (vgl. hier die Schlusspassage) – bloß ausführt, sondern die Aufträge sogar einfordert. Sodann liegt der Grund für Karls Unsterblichkeit und Unüberwindbarkeit in der Begnadung durch Gott, der sein Leben schützt: Das Schlachtenglück des Herrschers ist aufs Engste an sein Gottesverhältnis geknüpft. Damit wird das immanente auf Militär und Herrschaftsressourcen bezogene Erklärungsmodell der Heiden als vorläufig und falsch aus dem interreligiösen Diskurs gelöscht, obgleich sich durchaus herrschaftspraktische Artikulationen der göttlichen Begnadung Karls finden lassen wie die exorbitante Härte der Schwerter der Christen und ein unüberwindbarer Schutz durch loyale, kampfbereite Gefolgsleute. Darüber wird deutlich, dass einzig ein Angriff auf das Herrscherherz und die affektiven Bindungen als Basis seiner charismatischen Herrschaft Karl zusetzen können. Im Buch vom heiligen Karl findet sich eine Verdichtung der zentralen Aussagen des dominan-

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ten christlichen Karlsdiskurses der Textreihe: Karl wird als Herrscher dei gratia und vicarius dei bezeichnet, als ‚seliger Mann‘ durch die Kommunikation mit Gott und dessen Schutz persönlich charismatisiert und schließlich als Verteidiger der Gerechtigkeit und des Seelenheils aller Menschen angesprochen. So wird diachron ein Wissenskatalog zum sakralen Herrscher Karl und seinem Gottesgnadentum generiert. Schließlich tragen die Aussagen der heidnischen Königin Brechmunda (Juliane) zum Karlsdiskurs bei. Sie gibt ihr Wissen über Karl als ‚Wahrheit‘ aus, die so in den innerheidnischen Diskurs getragen wird: Ihr gilt Karl als furchtloser und unüberwindbarer Herrscher, der mit Gott im Bunde kämpft. Der Stricker arbeitet entscheidend an ihrem Profil und formt sie im Vergleich zu ihrem Entwurf im Rolandslied zu einer tieferen und sinnhaltigen Figur. Er fügt in die Rede Brechmundas (Julianes) nicht nur Jesus Christus als weiteren Anspielungshorizont der zukünftigen Konversion ein, sondern lässt sie und nicht wie im Rolandslied Marsilie nach verlorener Schlacht im Zorn die Götzenbilder zerstören. Der Abfall von den heidnischen Göttern als Glaubenskrise öffnet als ‚Reinigung‘ in christlicher Perspektive die heidnische Königin für den Empfang des Evangeliums. Die Akzeptanz der Geltung Karls korreliert mit einer Akzeptanz der christlichen Religion und somit mit einem kategorialen Wechsel der Axiologien – von der heidnischen, materialen zur christlichen, transzendenten. Marsilie, der versehrt stirbt, zeigt als Exemplum die fatalen Folgen einer Uneinsichtigkeit in die (der Inszenierung der Texte nach) Wahrheit der christlichen Religion, deren Geltungsanspruch durch Karl ins Werk gesetzt wird. Die konvertierte Juliane (Brechmunda) erscheint als Gegenfigur zu ihrem Mann und zu Genelun, der sich von der Christenheit abwendet und den Tod findet. Sie hingegen erwirbt das ewige Leben über den Dienst in einem von Karl gegründeten Spital in Roncesvalles. Die Korrelation von Schlachtensieg, der Geltung der christlichen Religion und der Geltung Karls wird über diese Figurenschicksale veranschaulicht.

5 Karls unsägliche Sünde im Spannungsfeld von Stigma und Charisma Das vorausgehende Kapitel bietet mit der Hof- bzw. Heerlagerszene und dem interreligiösen Karlsdiskurs eine Inszenierung des Herrschers, die ihn sakral legitimiert und tugendhaft als tiureste[n] man erscheinen lässt. Doch Karl der Große war dem Mittelalter auch als Sünder bekannt und die zur Untersuchung stehenden Texte präsentieren keine makellose oder unfehlbare Karlsfigur.472 Eine der Sünden, die Karl im literarischen Diskurs zugeschrieben wird, erscheint so groß und belastend, dass sie in der Volkssprache in der Chanson de Roland, der Kaiserchronik, im Ro-

472 Konflikte und „Schwächen“ Karls besprechen u. a. Heisler, Christusähnlicher Karl; UkenaBest, Providentia Dei, S. 350–352; Wolf, ‚Sante Karle‘; Tomasek, Ambivalenz eines Kaisers.

5 Karls unsägliche Sünde im Spannungsfeld von Stigma und Charisma

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landslied und in Strickers Karl ausgespart wird – es finden sich höchstens diskrete Anspielungen.473 Karls Sünde ist in diesen Werken unaussprechlich. Die Differenzierung von volkssprachlichen und lateinischen Texten ist wichtig, denn in lateinischer Literatur ist von Karls Sünden, besonders von etwaigen sexuellen Vergehen, bereits früh die Rede: Ob in den Miracula Sancti Goaris (um 819), der Visio Rotcharii Monachi (1. Hälfte 9. Jhr.), der Visio Pauperculae (9. Jhr.) oder der Visio Wettini (vor 824), in jedem dieser Texte wird Karl entweder im Fegefeuer erblickt oder es wird von seinen Verfehlungen gesprochen.474

Im Gegensatz zu den anderen volkssprachlichen Bearbeitungen des Karlsstoffs ist das Buch vom heiligen Karl überaus auskunftsfreudig. Es ist jedoch nicht mehr die Rede von der einen unaussprechlich schweren Sünde, sondern gleich von mehreren Todsünden, die allesamt auf Familienangehörige bezogen sind: Nekrophilie mit seiner Ehefrau, Tötung des Sohnes, Inzest mit der Schwester. Ob nun offen ausgesprochen oder diskret angedeutet, Sünde bedeutet unlauteren Lebenswandel, Gefährdung des Seelenheils und scheint mit einem kanonisierten Heiligen oder dem ethisch vorbildlichen Leben eines sakralen Herrschers schwerlich vereinbar. Um die Sündhaftigkeit Karls zu bewältigen, greift in den Bearbeitungen nicht das klassische Schema von Reue, Beichte, Buße und Läuterung, sondern eine andere Kompensationsform, nämlich, so die These, der Umschlag von Stigma in Charisma. Damit ist ein spiegelbildlicher Mechanismus gemeint: Je schwerer die Sünde, desto größer das daraus erwachsende Charismatisierungspotential – oder kurz: Je sündiger, desto heiliger. Die Texte umkreisen zudem die Frage nach dem Wissen um die Sünde, das üblicherweise eine Notwendigkeit für wahrhaftige Reue darstellt, und diskutieren Unterschiede zwischen einem tatsächlichen, faktischen Verlassen der göttlichen Ordnung 473 Vgl. Marcus Castelberg: Untersuchungen zur spätmittelalterlichen ‚Süddeutschen Tafelsammlung‘ (Washington, D. C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. No. 4.). Berlin/ Boston 2013 (Scrinium Friburgense. 35), S. 231 f. „Vor allem die romanistische Forschung hat sich dabei besonders für die Art von Karls ungenannter Schuld interessiert, hinter der manchmal eine in späteren Quellen behauptete inzestuöse Verbindung zwischen dem König und seiner Schwester Gisela vermutet wird, der Roland entsprungen sein soll“ (Geith, Carolus Magnus, S. 280). Weiterhin ist die lateinische Ägidiuslegende (Vita sancti Egidii) relevant, die im 9./10. Jahrhundert in Südfrankreich entsteht und ab dem 12. Jahrhundert in deutscher Sprache auftritt (Trierer Ägidius). Vgl. zu den Sünden exemplarisch die Visio Wettini (Heitonis Visio Wettini. Hrsg. von Ernst Dümmler. In: MGH. Poetarum Latinorum Medii Aevi. Bd. 2. Berlin 1894, S. 267–275, hier V. 446–465). Siehe zu Karls Sünden in der Forschung u. a. Erhard Dorn: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters. München 1967 (Medium Aevum. 10), S. 75–80 u. 121–130; Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 66–76; Bastert, Helden als Heilige, S. 285, Anm. 42 (mit weiterer Literatur). Auch in der bildenden Kunst werden Karls Sünden spezifisch aufgearbeitet und seine Verbindung zum heiligen Ägidius inszeniert, so im Karlsfenster in Chartres und im Aachener Karlsschrein (vgl. mit weiterer Literatur Saurma-Jeltsch, Karl der Große als vielberufener Vorfahr, S. 15–17). 474 Geith, Carolus Magnus, S. 77.

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durch eine Sünde und einem Sich-außerhalb-der-göttlichen-Ordnung-Wähnen aufgrund einer (angenommenen) Sünde – letzteres ist ein Modell der Selbststigmatisierung. Da Karl als Herrscher über seine Sünden nicht nur heilsindividuell seine Beziehung zu Gott gefährdet, sondern für die ihm anvertrauten Beherrschten und ihr Seelenheil verantwortlich ist, erhalten die Sünden des Herrschers eine soziale und kollektive Dimension. Damit steht die Legitimation des Herrschers auf dem Spiel und die Verhandlung von Karls Sündhaftigkeit trifft zentral die Konzeption seiner Herrschersakralität. Zunächst sollen in Kürze die Begrifflichkeiten und das Konzept von Stigmatisierung und Charismatisierung vorgestellt werden, um dann die literarische Inszenierung der Sünden Karls vergleichend zu beschreiben. Dabei wird neben den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen auch die Kaiserchronik einbezogen.

5.1 Sünde, Stigma und Charisma Die bekanntesten Stigmata (altgriech. στíγμα ‚Stich, Mal‘) sind jene des gekreuzigten Jesus an Füßen, Händen und der rechten Seite.475 Sie erscheinen als Spuren der Marter, als Zeichen des Opfertodes und der Erlösung zugleich. Ihnen kommt eine besondere religiöse Bedeutung als Verletzungen des heiligsten Körpers zu und sie avancieren zu Formen ausgezeichneter Nachfolge, also zur imitatio Christi in körperlicher Dimension. Der Brief des Paulus an die Galater verbürgt die treue Gefolgschaftsbindung an Jesus über die Imitation der heiligen Körperzeichen; dort werden sie von Paulus zur Markierung einer autorisierten Sprecherposition angeführt: De cetero, nemo mihi molestus sit: ego enim stigmata Domini Jesu in corpore meo porto (Gal 6,17). Religiöse Virtuosen des Mittelalters wie Franz von Assisi (1181/82–1226) und Mystikerinnen der Neuzeit wie Anna Katharina Emmerick (1774–1824) tragen über ‚Stigmatisation‘ die Wundmale Christi auf ihren Körpern, die darüber als heiligmäßig ausgewiesen werden:476 Stigmata bedeuten demnach epochen- und geschlechterübergreifend die Charismatisierung der Betroffenen bzw. Auserwählten als Manifestation einer nicht bloß spirituellen Frömmigkeit, sondern einer Medialisierung des Körpers als Erfahrungs- und Präsentationsfläche von Heiligkeit. ‚Charisma‘ (altgriech. χάρισμα ‚göttliche [Gnaden-]Gabe‘) meint die Semantisierung des Wundmals (Stigma) im Sinne einer göttlichen Gnadengabe und wird zum Ausweis von Heiligkeit.477

475 Vgl. Ludwig Mödl: Art. Stigma. In: 4RGG (http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_SIM_ 124976), Zugriff am: 13.12.2020; Andreas-Pazifikus Alkofer: Art. Stigma. In: 3LThK 9 (2000), Sp. 1004 f.; Klaus Scholtissek: Art. Wundmale Christi. I. Neues Testament. In: 3LThK 10 (2001), Sp. 1320 f. 476 Vgl. Mödl, Art. Stigma; Alkofer: Art. Stigma; Andreas-Pazifikus Alkofer: Art. Wundmale Christi. IV. Spirituell. In: 3LThK 10 (2001), Sp. 1322 f. 477 Vgl. Michael N. Ebertz, Markus Mühling-Schlapkohl: Art. Charisma. In: 4RGG (http://dx.doi. org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_02853), Zugriff am: 13.12.2020.

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Jenseits der Stigmatisation heiliger Männer und Frauen meint ‚Stigmatisierung‘ in der Soziologie ein soziales Grenzverhalten – freilich liegt es nicht fern, mystisch Begnadete in diesem Sinne als Grenzgänger zu bezeichnen. Stigma und Charisma sind hier Zuschreibungen und können ineinander umschlagen, indem deviantes Verhalten (Stigma), das negativ bewertet wird, umgedeutet wird in besonderes, ausgezeichnetes Verhalten, das seinen Träger charismatisiert.478 Und so bezeichnet Lipp den „Held[en] als Typus par excellence, der Stigma und Charisma verbindet“:479 „Helden sind es, wie schon der Mythos es ausgesprochen hat, die zwischen ‚Finsternis‘ und ‚Licht‘, ‚Schuld‘ und heiliger ‚Reinheit‘, ‚Martyrium‘ und ‚Erlösung‘ eine Brücke schlagen; Helden sind es, die stigmatisiertes Dasein zu charismatischem erhöhen.“480 Der Umschlagmechanismus wird als Regel formuliert, denn „Charisma setzt Stigmatisierung voraus [...]“.481 Lipp nimmt eine Kategorisierung der Typen von Stigmata vor und verzeichnet unter anderem einen Typus der „kulpativen Stigmata“, also Stigmata der Schuld und Sünde.482 ‚Sünde‘ ist dem Ursprung nach ein germanisches Rechtswort für „Schuld an einer Tat“ und das Abstraktum zu germanisch sund (‚wahr, seiend‘ als Partizip zu ‚sein‘); damit meint es denjenigen, „der es (gewesen) ist“ und das Abstraktum bedeutet „das Gewesensein“:483 Es geht also um Verantwortlichkeit für eine Handlung, für eine Tat. Bestimmte Taten sind kulturell tabuisiert bzw. ihre Ausführung wird sanktioniert durch soziale Ächtung, durch Ausschluss aus dem zugehörigen Kollektiv oder durch Strafe verschiedener Härte in Abhängigkeit vom Tatbestand. So erhält ‚Sünde‘ einen moralisch-normativen Charakter und wird in christlich-biblischer Semantik als Verstoß gegen göttliches Gebot aufgefasst, wodurch der Sünder (temporär oder dauerhaft) aus der göttlichen Gesetzesordnung herausfällt: „Sünde ist der Bruch des Gottesverhältnisses durch den Menschen“.484 Damit handelt es sich bei der Sünde um eine Zuschreibung, die Fehlverhalten bezeichnet, das gegen verbindliche Normen verstößt – der Sünder hält sich auf diese Weise außerhalb der Normen, der Gesellschaft und der Heilsgemeinschaft auf. Er ist in Gottes Ungnade

478 Eine Diskussion des Verhältnisses von Charisma und Stigmatisierung mit einem Überblick über die Forschung bietet u. a. Hartmann, Selbststigmatisierung, S. 22–28. Vgl. zu Stigma und Charisma auch Hammer (Erzählen vom Heiligen, S. 242–269 u. 447 f.), der auf Lipp zurückgreift und am Beispiel des Passional Stigmatisierer untersucht. 479 Wolfgang Lipp: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten. 2. Aufl. Würzburg 2010 (Religion in der Gesellschaft. 26), S. 10. 480 Ebd., S. 10. 481 Ebd., S. 66. Besonders Formen der Selbststigmatisierung deutet Lipp als Kern der Charismatisierung (vgl. ebd., S. XV). 482 Ebd., S. 82 f. Mit Blick auf die christliche Religion bedeutet dies: „S[ünde] ist Schuld, da der Mensch im Mißbrauch seiner Freiheit und in eigener Verantwortlichkeit dem Willen Gottes zuwider handelt“ (Wolf Krötke: Art. Sünde. I. Begrifflichkeit. In: 4RGG [http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_ rgg4_COM_025015], Zugriff am: 13.12.2020). 483 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, s. v. Sünde. 484 Krötke, Art. Sünde. Vgl. auch Edda Neubacher u. a.: Art. Sünde. In: 3LThK 9 (2000), Sp. 1117–1132.

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gefallen und scheint als Sünder stigmatisiert vom Charisma der göttlichen Gnade weit entfernt. Doch es liegt bei Gott, den Sünder wieder in seine Gemeinschaft, die christliche communio oder ecclesia, aufzunehmen und ihn auf diese Weise zu erhöhen, zu charismatisieren.485 Die Gnade der Wiederaufnahme wird umso unwahrscheinlicher und damit das Charisma umso größer, je schwerer die Sünde ist, die zum Ausschluss aus der Gemeinschaft und Gottes Huld geführt hat. Da die Chanson de Roland keine Sünde nennt und Karl sich dort – anders als im Rolandslied und den davon abhängigen Texten – keiner Sündhaftigkeit bewusst ist, fällt sie als Prätext für die Inszenierung eines sündigen Karl in den oberdeutschen Bearbeitungen aus. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt liegt in der literarischen Formung des Sündenmotivs der Kaiserchronik, denn „[d]ieses Motiv erscheint hier zum ersten Mal in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters“.486 Die Kaiserchronik bildet deshalb als Quelle des Pfaffen Konrad den Anfang der folgenden Analyse.487

5.2 Die unsägliche Sünde und ihre himmlische Vergebung in der Kaiserchronik Die frühmittelhochdeutsche Kaiserchronik (um 1150), die sich selbst als crônicâ (Kchr 17) bezeichnet, versammelt in über 17000 Versen Lebensbeschreibungen bedeutender Könige und Kaiser von Caesar bis zu Konrad III. (gest. 1152).488 Es werden

485 Ein prominentes Beispiel für diesen Vorgang aus dem Bereich der Literatur des Mittelalters ist freilich der Sünder Gregorius in Hartmanns von Aue gleichnamigem Werk. Nach zweifachem Inzest und exorbitanter Buße wird Gregorius vom Sünder zum Papst und Heiligen. Vgl. u. a. Dorn, Der sündige Heilige, bes. S. 86–89. In der Gregorius-Forschung ist die Diskussion von Schuld und Buße das Kernthema. Die Forschung überblicken u. a. Elisabeth Gössmann: Typus der Heilsgeschichte oder Opfer morbider Gesellschaftsordnung? Ein Forschungsbericht zum Schuldproblem in Hartmanns Gregorius (1950–1971). In: Euphorion 68 (1974), S. 42–80; Friedrich Ohly: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld. Opladen 1976 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge, G 207); Tomas Tomasek: Verantwortlichkeit und Schuld des Gregorius. Ein motiv- und strukturorientierter Beitrag zur Klärung eines alten Forschungsproblems im Gregorius Hartmanns von Aue. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), S. 33–47. 486 Geith, Carolus Magnus, S. 77; vgl. auch Mathias Herweg: Stellenkommentar. In: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übers., komm. u. mit einem Nachwort vers. von dems. Stuttgart 2014 (RUB. 19270), S. 454 f. 487 Vgl. zur Kaiserchronik als Quelle des Rolandslieds, der Weltchronik des Jans von Wien und (vielleicht) des Strickerschen Karl Eberhard Nellmann: Art. Kaiserchronik. In: 2VL 4 (1983), Sp. 949–964, hier Sp. 961. 488 Vgl. grundlegend zur Kaiserchronik u. a. Nellmann, Art. Kaiserchronik; Geith, Carolus Magnus, S. 48–83; Bastert, Helden als Heilige, S. 275–277 (mit weiterer Literatur). Siehe zur Sündenepisode: Folz, Le Souvenir, S. 167 f.; Geith, Carolus Magnus, S. 77–79; Frank Fürbeth: Carolus Magus. Zur dunklen Seite des Karlsbildes im Mittelalter. In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2001, S. 314–325, hier S. 319–323; Neudeck, Karl der Große, S. 291 f.; Gesine Mierke: Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien. Berlin 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen. 18), S. 147–155.

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gute und schlechte Herrscher vorgestellt, ihre Tugenden und Laster, um den Rezipienten ein Panorama ethischer exempla zu präsentieren. Die ausführlichste Beschreibung ist Karl dem Großen gewidmet, sie umfasst knapp 800 Verse (Kchr 14308–15094). Karl gelingt es in dieser Darstellung schließlich, mit göttlicher Hilfe die Heiden zu besiegen und aus Spanien in sein Reich zurückzukehren. Doch er wähnt sich in Sünde und übernimmt in Trauer die Verantwortung für den Tod der vielen Mitchristen: vil haize wainende claget er sîne sunde, er sprach: ‚wol dû got hêre! nu genâde mir an der armen sêle! den lîp scaide von der werlte, daz mîn daz liut iht engelte. ja newird ich niemer mêre frô.‘ (Kchr 14923–14929)

Karl übernimmt als Herrscher die Verantwortung für Leiden und Sterben der Christen im Heidenkrieg und bittet um Gottes Gnade; eher wolle er sterben, als dass das Volk, die ihm von Gott Anvertrauten an seiner Stelle büßten bzw. durch ihn Schaden erlitten.489 Ohne dass der Erzähler Anklage erhebt oder eine Anschuldigung auf figuraler Ebene vorliegt, stigmatisiert sich Karl selbst als schuldig, signalisiert Bußbereitschaft, sorgt sich um sein Seelenheil sowie um das Wohl seines Volkes, das er mit seiner Sünde in Mitleidenschaft zu ziehen fürchtet. Diese Form der Selbststigmatisierung wird im Rolandslied und in Strickers Karl als zentraler Punkt der herrscherlichen Sündhaftigkeit ausgebaut. In der Kaiserchronik schließt sich nun die Sündenepisode an, ohne kausal oder motivisch mit der zitierten Beklagung der eigenen Sündhaftigkeit verbunden zu sein.490

489 Herweg übersetzt Kchr 14928 mit „damit das Volk nicht an mir Rache nehme“. Diese Übersetzung deutet Karls Herrschaftsverständnis so, dass Karl sich nicht um sein Volk sorgt und es schützen möchte, sondern dass er einzig auf seinen eigenen Schutz vor dem Volk bedacht ist. Doch findet sich für die vorliegende Konstruktion en(t)gelten + (Objekt-)Genitiv auch die Übersetzung „einen Schaden/Nachteil haben von jmd./etw.“. Vgl. BMZ s. v. engilte. Eine einschlägige Belegstelle im Erec (V. 5498) sowie der Vergleich mit dem Kchr 14928 entsprechenden Vers im Rolandslied (RL 3053) in Verbindung mit der Übersetzung von Kartschoke sprechen dafür, dass Karl sich im Besonderen darum sorgt, dass das Volk seinetwegen leiden müsse. 490 Es „wird an verschiedenen Stellen von Karls Sündenbewußtsein gesprochen, ohne daß dabei eine Beziehung zur Aegidius-Legende hergestellt wird“ (Geith, Carolus Magnus, S. 104). Einmal wendet sich Karl an Gott, als er auf dem Weg nach Rom ist: ze gote kêrt er allen sînen muot, / mit nazzen sînen ougen / flêget er got tougen, / daz in der tievel niene bekorte. / wie wol in got sît bewarte! (Kchr 14341–14345, hier zitiert nach der MGH-Edition von Schröder) und bittet Gott in Rom nochmals um die Errettung seiner Seele (vgl. Kchr 14365 f.) – beide Stellen können auf ein Bewusstsein der eigenen Sünde anspielen, sind aber nicht explizit. Schließlich erwägt Karl im Gebet die Möglichkeit, ein Sünder zu sein: doch ich sî ain suntære (Kchr 14695).

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Die Sündenepisode, die auf die Ägidius-Legende zurückgreift,491 wird als eigener Erzählabschnitt – und somit als abgeschlossener, intertextuell tradierbarer Baustein des Erzählens von Karl – programmatisch eingeleitet mit der Feststellung des Erzählers: Karl hête ain sunde getân (Kchr 15015). Karl ist sich dieser Sünde bewusst und ihre Schwere wird daran deutlich, dass er sie keinem Menschen verraten möchte, eher wolle er sterben.492 Die Last der unaussprechlich schweren Sünde vermag der Herrscher nicht mehr zu tragen und wird als sündiger Grenzgänger stigmatisiert. Doch Karls Furcht vor der Verwirkung seines Seelenheils zwingt ihn (twanc; Kchr 15020) zur Beichte (bîhte; Kchr 15024). Der sündige Herrscher sucht sich dafür jedoch keinen ‚gewöhnlichen‘ Geistlichen, für seine außergewöhnlich schwere Sünde bedarf es eines besonders wirkmächtigen heiligen Vertrauten, der als Vermittler vor Gott einstehen kann, und sanct Egîdîus wâre ain hailiger man (Kchr 15022). Da er seine Sünde keinem werltlîche[n] man [...] an der erde (Kchr 15016 f.) verraten möchte, wird sie als Konsequenz der ‚weltlich-profanen‘ Kommunikation entzogen. Der sündige Herrscher wechselt mit der Hinwendung zum heiligen Ägidius in den kommunikativen Bereich des ‚Geistlich-Sakralen‘, sodass der Abstand zwischen Himmel und Erde abgebaut und der Einbruch von Transzendenz in Immanenz wahrscheinlicher gemacht wird. Doch obgleich sich Karl einem hailige[n] man (Kchr 15022) anvertraut, wird auch diesem gegenüber die Sünde nicht benannt. Karl beichtet Ägidius alle seine Sünden und kleineren Vergehen: do der kaiser aldaz gesagete, / daz er anders gefrumet habete (Kchr 15025 f.). Damit werden der Kern seines Anliegens und der eigentliche Grund seines Besuchs, nämlich die Bewältigung der kapitalen, unaussprechlichen Sünde, ausgespart und zugleich exponiert: er sprach: ‚Egîdî, guot man, ienoch habe ich aine sunde getân, diu ist verholn lange – mit angesten ist mîn herze bevangen –, di nemac ich dir niemer geoffen. nû rât mir ze mînen sachen.‘ (Kchr 15027–15032)

491 Es geht in der lateinischen Ägidius-Legende nicht um Karl, „sondern um die Hervorhebung der Macht eines Heiligen, die Vergebung großer Sünden zu erlangen. Das in den genannten Quellen bereits angelegte Motiv von der großen Sünde des fränkischen Königs konnte als besonders eindrucksvolles Beispiel für die helfende Kraft des hl. Aegidius dienen“ (Geith, Carolus Magnus, S. 78). Geith profiliert die Unterschiede zwischen der Ägidius-Legende und der Kaiserchronik bezüglich der Verhandlung von Karls Sünden genauer (vgl. ebd., S. 78 f.). 492 Vgl. Kchr 15016–15018. Vgl. zum Sünden- und Herzensgeheimnis (mit weiterführender Literatur) Peter von Moos: „Herzensgeheimnisse“ (occulta cordis). Selbstbewahrung und Selbstentblößung im Mittelalter. In: Schleier und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann in Verbindung mit Alois Hahn und Hans-Jürgen Lüsebrink. München 1997 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 5), S. 89–109.

5 Karls unsägliche Sünde im Spannungsfeld von Stigma und Charisma

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Eine (schwere) Sünde sei noch verborgen, sein Herz sei in Angst versetzt und selbst dem heiligen Ägidius könne Karl die Sünde nicht eröffnen: Die Sünde, die seit langem im Dunkeln liegt, kann somit auch im sakralen Raum nicht gebeichtet werden. Ihre Größe und Schwere wachsen und fordern als diskursive Leerstelle die Neugier des Rezipienten heraus. Dazu kommt beichttheologisch, dass eine Sünde, die nicht besprochen wird, auch nicht vergeben werden kann. Damit haben Karl und sein Beichtvater einen aporetischen Punkt erreicht: Wie soll der heilige Ägidius Absolution für eine unausgesprochene Sünde erwirken? Das Skript der Sündenbewältigung (bestehend aus der Abfolge: Reue, Beichte, Buße und Läuterung) ist damit ins Stocken geraten. Über diese Irritation gerät der Heilige in Sorge: Sancte Egîdîus kom in grôze sorgen, / er gefrist unz an den anderen morgen (Kchr 15033 f.). Er benötigt Bedenkzeit, aber versichert Karl Gottes Beistands: iedoch trôst er in wol ze gote (Kchr 15035). Karl bleibt die Nacht hindurch bei Ägidius. Schlaflos und verbunden als liebe[] hergesellen (Kchr 15038) halten der Kaiser und der Heilige gemeinsam Nachtwache. Karl verweilt somit im sakralen Raum und hält sich in der Nähe des Heiligen auf. Sogleich am nächsten Morgen (Sâ; Kchr 15041) bittet er Ägidius, den wâren gotes holden (Kchr 15043) – ‚den wahren Gottesfreund‘ –, um eine heilige Messe zu seiner Erlösung, er könne darauf nicht länger warten (getweln er langer dâ nemähte; Kchr 15046). Karl ergreift somit die Initiative im Prozess seiner Sündenbefreiung und drängt den Heiligen zur heilsspendenden Messe. Der heilige Ägidius reagiert, indem er zu Gott aus tiefstem Herzen betet, mit herzen unt mit muote (Kchr 15048). Er bittet darum, dass Gott ihm das Geheimnis der Sünde Karls enthüllt: er [Gott; F. B.] reoffente im disiu tougen (Kchr 15049). Diese Maßnahme zur Erlangung transzendenten Beistands erscheint als ultima ratio, denn Karl selbst, dessen Sünde verholn (‚verdeckt, verborgen‘) ist, vermag sie Ägidius als ineffabile nicht zu eröffnen – einzig Gott, dem alle Herzen offenstehen, kann die Sünde des Herrschers ‚entdecken‘. Nach der Bitte inseriert der Erzähler eine allgemeingültige Lehre: Wer auf Gott vertraut, der findet Gottes Gnade.493 Ägidius beendet formell die exklusiv für Karls Sünde abgehaltene Messe und spricht den Segen. Daraufhin ereignet sich das Wunder: ain brief er gesach / gescriben âne mennisken hant: / von himel was er her nidere gesant (Kchr 15054–15056). Ein nicht von Menschenhand geschriebener Himmelsbrief erscheint als Acheiropoieton und manifestiert den erbetenen transzendenten Beistand zur Bewältigung der großen Sünde des Herrschers.494 Ägidius zeigt Karl den Brief und strukturiert als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz den Umgang mit der Himmelsgabe: Er sagt, dass es keinen so

493 Vgl. Kchr 15050 f. 494 Vgl. zum Phänomen der Himmelsbriefe Bernhard Schnell: Art. Himmelsbrief. In: 2VL 3 (1983), Sp. 28–33; Sabine Schmolinsky: Art. Himmelsbrief. In: LexMA 5 (1991), Sp. 26 f. – Aufgerufen wird als heiliger Prätext Ex 32,15 f.: Et reversus est Moyses de monte, portans duas tabulas testimonii in manu sua, scriptas ex utraque parte, et factas opere Dei: scriptura quoque Dei erat sculpta in tabulis; es klingt auch II Cor 3,3 an.

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großen Sünder auf Erden gibt, dass ihm nicht durch Gehorsam gegenüber Gott das Himmelreich dennoch offensteht.495 Das ist eine Didaxe, die wie die Sentenz des Erzählers nicht nur für die Handlung gilt,496 sondern auch für die christliche Lebenspraxis der Rezipienten Geltung beanspruchen kann. Für Karl bedeutet das, dass seine Sünde – auch die schwerste und unsägliche – kommensurabel ist und er so auf Vergebung hoffen kann, wenn er Gott vertraut. Der heilige Ägidius empfängt den göttlichen Brief, zeigt ihn Karl zunächst und übergibt ihn dann – ohne ihn selbst gelesen zu haben – dem Herrscher zur Lektüre. Es steht dort geschrieben: ‚dû hâst gotes hulde. swer iemer sîne sculde inneclîchen geriwet unt der gote dar zuo getrûwet, di gevordert im got niemer mêre.‘ (Kchr 15063–15067)

Karl wird direkt adressiert (dû) und Gottes Gnade versichert. Das entspricht der Ankündigung des Erzählers und dem Versprechen des Ägidius, dass Sünden durch Gottvertrauen zu bewältigen sind. Derjenige, der seine Schuld (sculde), was gleichbedeutend ist mit Sünde, wahrhaftig und aufrichtig im Herzen bereut (inneclîchen geriwet) und dann auf Gott vertraut, wird von Gott für seine Schuld nicht weiter zur Rechenschaft gezogen. Die sentenzhafte Anweisung, die der Erzähler ausgab und die Ägidius im Kommentar zum Erscheinen des Briefes wiederholte, wird auf diese Weise ein drittes Mal nun in höchster Instanz von Gott bestätigt: Aufrichtige Reue und wahres Gottvertrauen führen ins Himmelreich – trotz (oder wegen) größter Sünde. Karl erhält also die Vergebung der Sünde unmittelbar von Gott als Gnadengeschenk, als Charisma. Die Schwere der Sünde und ihre Unsagbarkeit verhindern eine irdisch-profane Kommunikation, wodurch Formen menschlicher Vermittlung weitestgehend ausgesetzt werden. Es bleibt die (recht) direkte Interaktion zwischen Karl und Gott unter Hilfestellung des heiligen Ägidius, der diesen sensiblen Prozess begleitet und rituell stabilisiert (Messe, Segen und Auslegung). Die Lektüre des Himmelsbriefes beschließt ein Hinweis auf die erfolgreiche Vermittlung des Heiligen, dessen Wirkmacht bekundet wird: daz erwarf sante Egîdîus der hailige hêrre (Kchr 15068). Karl gerät also über verschiedene Stufen oder Schwellen in Kontakt mit Heiligem: Er ist zunächst einsichtig und beichtwillig, findet mit dem heiligen Ägidius einen Beichtvater, hält sich über die Kommunikation und über Nacht im sakralen Raum auf und erbittet die Messe. Ägidius führt das Ritual für Karl durch und das Wunder des himmlischen Briefes schließlich dokumentiert zum einen

495 Vgl. Kchr 15058–15060. Vgl. für diese Lehre auch den Prolog des Gregorius Hartmanns von Aue. 496 Vgl. Kchr 15050 f.

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Karls Vertrauen auf Gott und zum anderen seine Position an der Schwelle von Transzendenz und Immanenz: Karls Sünde ist ohne weitere Prozeduren (Buße, Strafe, Läuterung usw.) mit dem Erhalt des Briefes bewältigt. Das Stigma der schweren, unsäglichen Sünde wird so transformiert in das Charisma, das göttliche Gnadengeschenk, der exzeptionellen Absolution und des Erhalts von gotes hulde (Kchr 15063). Die besondere Nähe zum Heiligen, zu Ägidius und zu Gott, zeichnet den Herrscher heilsindividuell aus, sodass sein durch die schwere Sünde in Frage gestelltes Gottesverhältnis nicht nur wiederhergestellt, sondern noch fester geknüpft zu sein scheint. Daraus erwächst nicht zuletzt legitimatorisches Potential für seine Herrschaft, die primär auf Gottes Gnade basiert. Karls Sünde bleibt unausgesprochen und als Leerstelle diskursiv auf irdisch-menschlicher Ebene nicht zu erfassen. Sie ist nur für Gott einsichtig und der Erzähler kategorisiert die erzählten Geschehnisse treffend als ‚Wunder‘.497 Damit bildet die Sündenepisode den narrativen Schlusspunkt des Karls-Abschnittes der Kaiserchronik. Ihr kommt durch diese Stellung besonderes Gewicht zu und sie entlässt den Herrscher sündenfrei und in Gottes Gnade aus dem Text. Da es zu viele ‚Wunder‘ über den Herrscher zu erzählen gebe, müsse sich der Erzähler kurzfassen,498 weshalb ein Porträt summarisch Karls Qualitäten als Idealherrscher auflistet. Es handelt sich um einen „Lobpreis auf den großen Kaiser, der nach Inhalt und Form in der K[aiser]chr[onik] einmalig ist.“499 Der Tugendkatalog spiegelt ein zugrunde liegendes Paradigma, aus dem zum Erzählen über Karl, also zur syntagmatischen Entfaltung seiner Tugenden und Handlungen, geschöpft werden kann.500 Insgesamt entwirft die Kaiserchronik ein Bild, das Karl „als von Gott erwählten Herrscher zeigt, der von Wundern umgeben ist und selbst Wunder bewirken kann.“501 Damit gilt Karl der Kaiserchronik, d. h. „vor der 1165 erfolgten Kanonisation“, „als ein Vermittler des göttlichen Heils auf Erden und somit als ein heiligmäßiger König“.502

497 Vgl. Kchr 15069. „Auch die Rolle des hl. Aegidius ist in der Kchr. viel weniger aktiv als in der lateinischen Vita. Während der Heilige dort als eine die Ereignisse durchaus bestimmende Figur erscheint, wird in der Kchr. durch die Konzentration der Erzählung auf die Sündenvergebung selbst das Geschehen viel stärker als besonderer Gnadenerweis Gottes für Karl dargestellt“ (Geith, Carolus Magnus, S. 79). Es ergibt sich folgendes Bild: „Die Vereinfachung auf die wesentlichen Elemente der Erzählung verdeutlicht, daß es dem Dichter nur auf die wunderbare Sündenvergebung ankam, der gegenüber alle anderen Einzelheiten des lateinischen Berichtes zurücktraten“ (ebd.). 498 Die Kaiserchronik verortet sich selbst in einem Netz von Erzählungen über Karl und beschränkt im Wissen um Prä- und Kontexte ihren erzählten Inhalt, denn Karl hât ouch enderiu liet (Kchr 15072). Vgl. für Deutungen dieses Verses ebd., S. 80 f. 499 Ebd., S. 79. 500 Vgl. zum Tugendkatalog bereits Kapitel III.4.2. 501 Geith, Carolus Magnus, S. 81. 502 Bastert, Helden als Heilige, S. 275.

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5.3 Herrscherliche Selbststigmatisierung I (Rolandslied) Vor dem Hintergrund der Kaiserchronik kann nun der Umgang mit den Sünden Karls in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen profiliert werden.503 Im Rolandslied ist das Sündenbekenntnis gegenüber der Kaiserchronik habitualisiert, sodass der selbststigmatisierende Zug des Herrschers verstärkt wird. Der Erzähler berichtet nämlich von einer Gewohnheit Karls, die als Fürstenspiegel en miniature beispielhaft für alle Herrscher gelten soll: iedoch hêt er ain site, / dâ warne wir die fürsten mite (RL 2994 f). Karl kniet nieder und ruft unter Tränen aus tiefstem Herzen Gott um seine Geheimnisse und Wunder an: nehain houpthafte sünde wolt er ûf ime nicht tragen. daz urkunde wir von sent Egidien haben, daz er unseren hêrren umbe in bat, daz er im aine sculde vergab. (RL 3003–3007)

Karl strebt reumütig nach Sündenfreiheit, keine houpthafte sünde, kein peccatum capitale, möchte er tragen.504 Das erinnert an die oben diskutierte Sündenerzählung aus der Kaiserchronik, doch die dort breit entfaltete Ägidius-Episode wird hier in Abbreviatur referiert.505 Der Verweis des Erzählers bestätigt die erfolgreiche Sündenbefreiung durch die Vermittlung des heiligen Ägidius, doch worauf sich die Schuld bzw. Sünde bezieht, bleibt unklar. Die Leerstelle der Sündenbenennung im Rolandslied wird auch mit dem Hinweis auf die Kaiserchronik oder eine Fassung der Ägidius-Legende nicht aufgefüllt. Allerdings führt die intertextuell gelegte Spur von der Erzählung der wunderbaren Absolution von größter Sünde zu einer Facette der charismatisierten Herrschergestalt, die in das Karlsbild des Rolandslieds einfließt. Karl reflektiert Endlichkeit und Eitelkeit des eigenen irdischen Daseins und der Erzähler mahnt die Fürsten nochmals zu dieser demütigen Praxis der wiederholten Vergegenwärtigung der eigenen Begrenztheit im Lichte göttlicher Ewigkeit:506 daz wizzen die hêrren, / die nâch werltlîchen êren / tagelîchen ringent (RL 3012–3014). Damit wird zur Nachahmung der Frömmigkeitspraxis Karls aufgerufen, wodurch das literarisch entfaltete Herrscherleben mit den adressierten Fürstenleben in Dia-

503 Geith hält fest, dass „alle wesentlichen Elemente der Herrscherdarstellung des RL im Kern schon in dem Karlsabschnitt der Kchr. vorhanden“ sind (ders., Carolus Magnus, S. 105). Ein detaillierter Abgleich mit der Chanson de Roland kann ausbleiben: „Die Stellen, an denen Karl von seinen Sünden spricht, sind im RL recht zahlreich. Sie fehlen ganz in der ChdR [...]“ (ebd., S. 104). Vgl. zu Karls Sünden im Rolandslied auch Oswald, Gabe und Gewalt, S. 295–299. 504 Vgl. Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 67. 505 Ägidius wird im Rolandslied nochmals erwähnt, als er die Geschehnisse in Roncesvalles im Auftrag des Kaisers aufschreiben lässt (vgl. RL 6646–6648). Vgl. dazu auch Kapitel III.6. 506 Vgl. RL 3008–3011.

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log gebracht wird – Karl erscheint als exemplum imitabile eines Herrschers, der demütig vor Gott nach Sündenfreiheit strebt. Dann folgt ein erster von zwei Träumen, aus dem der kaiser unsamfte erwachete (RL 3047).507 Denn die Träume imaginieren die Bedrohung seiner Herrschaft und künden von schwerem Unheil. Der Kaiser wird in der Folge zu einem reumütigen Sündenbekenntnis motiviert: Der kaiser viel zuo der erde. er sprach: ‚gnædeclîcher trechtîn, hêrre, ich hân garnet dînen zorn, ê müez er über mich komen, der mîner manigen sünden lâ daz liut nicht entgelten. richt über mich, hêrre, daz ist recht. ich bin dîn entrunnener knecht. dû erlôstest mich vil tiure, beschirme mich vor dem êwigen fiure. richt über den brœden lîchenâmen. lâ daz liut in dînen gnâden. lâ si des geniezen, daz si dîne boten alle hiezen, hêrre, dîn selbes kint, unt hie in dînem dieneste sint. swaz ich wider dir hân getân, diu râche scol billîchen über mich gân.‘ (RL 3048–3065)

Neben der Sorge um die eigene Seele, einem Sündenbekenntnis (ohne genaue Benennung der Sünden) und der Äußerung größter Demut liegt Karl das Volk, das ihm als Herrscher anvertraut ist, am Herzen. Dieser Zug ist bereits in der Kaiserchronik angelegt und wird hier im Rolandslied erweitert.508 Damit kommt Karl der priesterähnlichen Verantwortung nach, die mit Erkens als konstitutives Merkmal von Herrschersakralität anzusprechen ist. Er ist für das Seelenheil seiner Beherrschten verantwortlich und möchte dafür sorgen, dass jenen, die fromm im Dienste Gottes stehen, nicht seine Sünde angelastet wird. Die mit ihm und seinem Herrschaftskörper verbundenen Glieder sollen nicht mit seinem Sündenschmutz infiziert werden.

507 Nach dem zweiten Traum weist der Text eine Lücke auf, die sich über die entsprechende Passage in Strickers Karl sinngemäß auffüllen lässt. Die genaue Aufarbeitung der Träume kann hier ausbleiben mit dem Verweis auf die umfänglichen Deutungen bei van Well, Mir troumt hînaht ein troum, v. a. S. 104–129; Geith, Die Träume im Rolandslied; Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 66–74; Rolf Endres: Zum Wortinhalt von ‚angest‘ im ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad. In: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hrsg. von Jürgen Kühnel u. a. Göppingen 1985 (GAG. 431), S. 79–105, bes. S. 94–103. 508 Siehe oben und vgl. Kchr 14923–14930.

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Nach seiner Ankunft in Roncesvalles und unter dem Eindruck weiterer Träume interpretiert Karl die Traumgesichte als Vorschau seiner Sündenstrafen:509 ‚ez ist ienoch unnâch unser grôz ungemach laider gelendet. swiez got noch verendet, daz rechet mîne sünde – got refset mich darumbe – unt ander mîner vorderen. [...].‘ (RL 7451–7457)

Karl beschwört geradezu die eigene Sündhaftigkeit, versteht reumütig die Schreckensträume als Botschaft Gottes. Diese breiter ausgeführte, hier nur in Auswahl gebotene Sequenzialisierung von ‚Gebet – Traum – reumütiger Unterwerfung unter Gottes Urteil – Sündenbeschwörung‘ wird über Wiederholungen quasi-rituell befestigt: Karl erscheint als Selbststigmatisierer, der von der eigenen Sündhaftigkeit überzeugt ist, alle Zeichen und göttlichen Botschaften auf seine Sünde bezieht, im Gestus eines Sündenbockes sogar die Sünden seiner Vorfahren auf sich nimmt und sich zugleich dissoziativ inszeniert.510 Er sieht sich außerhalb der göttlichen Ordnung, möchte als sündiger Herrscher von seinen Beherrschten getrennt sein und er wähnt sich außerhalb göttlicher Gnade, sogar getroffen von göttlicher Rache. Hier hilft nicht der heilige Ägidius oder ein anderer autorisierter Vermittler, sondern Karl befindet sich in einer intimen Kommunikationspraxis mit Gott, sodass die Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz medial unvermittelt verläuft. Karls (angenommene) Sünden im Verbund mit Reue und Demut inszenieren ihn als gottgefälligen Herrscher. Mehr noch: Karl entdeckt am nächsten Morgen ein himmlisches Kreuz an sich:511

509 Vgl. RL 7070–7127. 510 Dass Karl die Sünden seiner Sippe und somit eine genealogisch vermittelte Sündenlast auf sich nimmt, verleiht ihm insofern christomimetische Züge, als er als Stellvertreter für andere büßt und sie erlöst. „Die Schilderung von Karls Demut und Sündenbewußtsein im RL hat keinen Bezug zur Ägidius-Legende, sondern ist durchaus als eigenständiges Element der Darstellung anzusehen“ (Geith, Carolus Magnus, S. 104). 511 Die gesamte Kreuzzeichenpassage (RL 7473–7484) hat keine Entsprechung in der französischen Überlieferung (vgl. Kartschoke, Kommentar, S. 732). Siehe zu Karls Kreuz im Rolandslied auch Quast, Bedrohte Christenheit, S. 34 u. 40 f. „In K[arl]m[einet] 456,53 ff. wird die Existenz einer solchen Reliquie als vabel ind sage bezeichnet, dennoch aber nicht rundweg abgelehnt. Das Kreuz, so heißt es, werde mit anderen ehrwürdigen Reliquien im Liebfrauenmünster aufbewahrt (Beslosseln vlysliche) und am Jüngsten Tag direkt an Gott zurückfallen. Damit wird offenbar erklärt, daß niemand das Kreuz gesehen habe. Was den Pfaffen Konrad zu seiner Mitteilung bewogen hat, ist nicht zu klären“ (Kartschoke, Kommentar, S. 733).

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ain criuze er an im vant âne menschen hant, daz im der engel von himel hête brâcht. got hête sîn wol dâ mit gedâcht. des erfröute sich der hêrre. daz fuort er iemer mêre, alsô lange sô er lebete, dâ er sich tagelîchen mite segenete, daz man hiute ze Ache vindet. mit im ist grôz heilictuom besigelet. (RL 7475–7484)

Wie zum Abschluss der Ägidius-Episode in der Kaiserchronik wird ein Acheiropoieton vom Himmel geschickt, das als Beglaubigung und Manifestation göttlicher Einflussnahme und geglückter Kommunikation zwischen Karl und Gott dient. Die (Selbst-) Stigmatisierung als Sünder mündet in der Ausstellung der besonderen Gottesnähe und Sakralität des Herrschers – das himmlische Kreuz bedeutet als Charisma, als Gnadengeschenk, dass Karl sich innerhalb der göttlichen Ordnung bewegt und er sogar besonders nah an der Grenze zwischen Himmel und Erde, zwischen Transzendenz und Immanenz rangiert. Das Kreuz verdinglicht und visualisiert damit die für seine Autorisierung und Legitimation notwendige Verbindung zur Transzendenz. Karl freut sich über die göttliche Gnadengabe und bezieht das Kreuz in seine tägliche ritualisierte Gebetspraxis ein. Um schließlich die mit dem Kreuz verbundenen Implikationen zu konservieren und um die Wahrheit der Erzählung zu garantieren, verweist der Erzähler darauf, dass das Kreuz heute in Aachen liege und kostbare Reliquien beinhalte. Die Karlsreliquie erhält also mit dem Rolandslied einen erzählten Provenienznachweis.

5.4 Herrscherliche Selbststigmatisierung II (Strickers Karl) Der Stricker hält sich bei der Inszenierung von Karls Sünden und ihrer Einbettung in die Erzählung eng an das Rolandslied, weshalb im Folgenden vor allem die abweichenden Akzentuierungen besprochen werden sollen.512 Karls Sünden kommen im Zuge nächtlicher Gebete zur Sprache und wie im Rolandslied empfiehlt der Erzähler diese Praxis als Fürstenspiegel den gegenwärtigen Herrschern an (dânnoch hêt er einen site, / da man ich alle herren mite; K 3479 f.):513

512 Vgl. zu Ägidius und zu Karls Sünde beim Stricker auch Johannes Singer: Kommentar. In: Strickers Karl der Große. Hrsg. von dems. Berlin/Boston 2016 (DTM. 96), S. 362 (mit weiterer Literatur). 513 Karl gedenkt wie im Rolandslied der eigenen Nichtigkeit auf Erden und der Erzähler ermahnt nochmals die herren, dieser demütigen Haltung eingedenk zu sein (vgl. K 3509–3516) – Karl ist auch hier ein exemplum imitabile.

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wir h=ren ouch von im sagen, er wolde niht ůf im trâgen deheîne houbthafte sFnde. des habe wir urchFnde an Sande Gîligen harte gůt. dem sagete Karl sînen můt, im wære ein sunde geschêhen, dern getorste er niemen verjehen. do bat der herre lobesam fFr Karln, unz eîn brief quam ůf den alter, da er sanch. des sagt er gote grozzen danch. den las der heîlige man. do stunt da geschrîben an, daz Karl der rihtǣre der sFnden ledech wǣre. (K 3487–3502)514

Der Stricker wird allerdings etwas ausführlicher als der Pfaffe Konrad und erwähnt explizit die Unsagbarkeit der Sünde, das aktive Drängen Karls auf Erlösung bei Ägidius sowie den Brief, der hier auf den Altar fällt – das ist auch eine Präzisierung des Sakralraumes gegenüber der unbestimmten Angabe in der Kaiserchronik. Anders als dort liest der heilige Ägidius beim Stricker den Brief, doch das Ergebnis bleibt identisch: Karl, der hier mit dem Epitheton ‚der Richter‘ bedacht wird, ist frei von Sünden, der sFnden ledech (K 3502). Die an den heiligen Ägidius geknüpfte urchFnde (K 3490) wird als Beweis für das Streben des Herrschers nach Sündenfreiheit angeführt. Damit wird die Ägidius autorisierende Heiligkeit in Verbindung mit dem Himmelsbrief zur Beglaubigung der Charakterisierung der Karlsfigur ausgeschöpft. Die Sünde des Herrschers wird wie in der Kaiserchronik und im Rolandslied auch im Strickerschen Karl nicht ausgesprochen und bleibt verborgen als Leerstelle der Kommunikation zwischen Gott, dem heiligen Ägidius und Karl vorbehalten.515

514 Der Ort Saint-Gilles im äußersten Westen der Provence verdankt seinen Namen dem heiligen Ägidius (frz. Saint Gilles), der sich hier um 700 als Einsiedler in einer ‚Höhle‘ aufgehalten haben soll. Vgl. Friedrich Wilhelm Bautz: Art. Ägidius (Heiliger). In: BBKL 1 (1990) [https://www.bbkl.de/ index.php/frontend/lexicon/A/Ae-Aj/aegidius-51548, Zugriff: 11.12.2020]. 515 Bastert erklärt die Bezugnahme auf Ägidius für das Rolandslied – und man darf in Analogie ebenso auf den Karl schließen – damit, dass „Heidenkampf und Sündennachlass [...] untrennbar zusammen [gehören]“ (ders., Helden als Heilige, S. 284): „Genau hier dürfte dann auch der Grund für die Inserierung des Motivs von der Ägidiusmesse in den Kontext des Rolandslieds zu suchen sein. Neben dem Bezug auf das Modell des leidenden und bußfertigen Königs wird dafür eben das Ineinanderspielen von Kreuzzug und Sündennachlass eine entscheidende Rolle gespielt haben. [...] Der gegen Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts absolut geläufige Konnex von Kreuzzug und Buße reicht völlig aus, um die Erwähnung von Karls Sündhaftigkeit im Rolandslied (etwas schwächer ausgeprägt ebenfalls in der Chanson de Roland) sowie die Integration der bekannten Ägidius-

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Karl wird des Nachts von ängstigenden Träumen heimgesucht und reagiert wie im Rolandslied mit einer Selbststigmatisierung, indem er die eigene Sündhaftigkeit für das drohende Unheil verantwortlich macht und das ihm anvertraute Volk vor göttlichem Zorn, der allein ihm zu gelten habe, schützen möchte: er sprach: ‚genâde, grozzer got! din genâde unt din gebot unt din vil heîliger segen, die mFzzen min vil armes pflegen. ich han din zorn vernomen. nů mFz er uber mich eînen chomen also, daz niemen me von mînen schûlden missege. rihte Fber mich, daz ist reht, ich pin din eîgener kneht. dů erlostes mich vil tîure. behFte mich vor dem helle fîure. rihte Fber mînen broden lîchenamen. alle di mit mir her quamen, di behFte, sie sint dîniu chint, wan si in dinem dîenste hîe sint. swaz ich wider dich han getan, di râche lâzze Fber mich eînen gan.‘ (K 3559–3576)

Karl interpretiert die Traumgesichte, die von künftigem Unheil künden, als Folge eines Vergehens an Gott, er wähnt sich in Sünde. Eindringlich fordert er das göttliche Gericht über sich und seinen (irdischen) Leib ein und betont nochmals, dass seine christlichen Mitstreiter von der Strafe auszunehmen sind, sie seien Gottes Kinder und nicht in Karls, sondern in Gottes Dienst nach Spanien gelangt. Es folgen die Träume und Reaktionen des Herrschers auf das Geschaute, die aufgrund einer Überlieferungslücke im Rolandslied fehlen. Karl sucht in diesem Zusammenhang die Nähe zu König David (Davîdes êre; K 3602), den er als Beispiel für die gnadenhafte Sündenvergebung bemüht und damit ein alttestamentliches Zeugnis für die Wahrhaftigkeit göttlicher Charismatisierung des durch Sünden Stigmatisierten anführt – dieser Bezug hat modellbildenden Charakter für den sündigen Karl:516

geschichte um eine nicht genannte Sünde Karls, die ihm ohne Beichte auf wunderbare Weise vergeben wurde, zu erklären“ (ebd., S. 284 f.). 516 Vgl. K 3595–3612. Schematisiert verlaufen die Sünde und ihre Sühnung bei David so (vgl. II Sam 11 f.): Davids Sünde – Gottes Zorn – Prophet Natan als Mittler zwischen Gott und David – Davids Einsicht in die Sünde – Vergebung und Sühnung der Sünde. Vor diesem Anspielungshorizont ist die Inszenierung der Sünden Karls zu begreifen.

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‚[...] nů wassche mich, herre, an dirre stunt und mâche mich wider nîwe, daz mich min sFnde rîwe, daz ich dar inne iht sterbe unt dîne genâde erwerbe.‘ (K 3616–3620)

Der Herrscher ist um die Sicherung seines Seelenheils bemüht, bittet um Reinwaschung und Erneuerung, um so die Sünde abstreifen und bereuen zu können, um nicht in bzw. an Sünde sterben zu müssen, sondern Gottes Gnade erlangen zu dürfen. Indem Karl sich in Sünde wähnt, stigmatisiert er sich und indem er sich in Analogie zu David setzt, wird die Sünde als Stigma zum tertium comparationis und bildet zugleich das Charismatisierungspotential.517 Nach einem dritten Traum fällt Karl in Kreuzform nieder und bittet nochmals um Gottes Gnade – damit endet die Traum- und Gebetssequenz, die Karl schmerzhaft berührt: Die troume taten im so we, daz er niht wold slâffen me und an sinem gebæte lach, unz in belûhte der tach. (K 3679–3682)

Später, nach seiner Rückkehr nach Roncesvalles, erfolgt eine weitere Traumsequenz: do lie der engel der sin pflach / Karln in dem troume sehen, / waz im noch solde geschehen (K 8352–8354). Der Herrscher deutet ahnungsvoll das bevorstehende Leid, das ihm und den Christen droht, und er erklärt diese „Passionszukunft“ mit seiner Sündhaftigkeit: ‚wir habn nie so groz leit. unser not unde unser arbeit, dine sint noch niht verendet: swederhalp ez got gewendet, an schaden oder an gewin, ez schinet wol, daz ich sundech bin. da von wil got niht enbern, ern welle mich chumbers gewern. [...]‘ (K 8759–8766)

517 Zum Vergleichspunkt zwischen Karl und David wird „das Bewußtsein der Sünde“ (Geith, Carolus Magnus, S. 102). Es wird mit K 3616 der Psalm 50,4 in Verbindung gebracht: „[V]or dem Hintergrund einer das ganze Mittelalter hindurch geltenden Beziehung zwischen Herrscherauffassung und Davidkönigtum“ erhält das Gebet seine Bedeutung für das Karlsbild (ebd.). Mit dem Aufruf Davids wird eine Analogie zu seiner sexuellen Sünde nahegelegt, obgleich weder das Rolandslied noch der Stricker explizit von einer sexuellen Verfehlung Karls sprechen.

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leit, unser not, unser arbeit: Das christliche Kollektiv wird gemeinschaftlich leiden müssen aufgrund individueller Verfehlung. Denn Karl nimmt, wie im Rolandslied, eine Selbststigmatisierung vor, indem er die Zukunft als (zwingende) Folge seiner Sündhaftigkeit deutet. Seine Sünde strahle auf die Beherrschten aus und verletze das Gebot der priesterähnlichen Verantwortung des Herrschers für die ihm von Gott Anvertrauten. Denn Karl sündigt als Herrscher zwar individuell, doch kollektiv wirksam: Fällt er in Ungnade bei Gott, fällt der gesamte Herrschaftskörper in Ungnade. So werde er mit ‚Kummer‘ leben müssen, da Gott in dieser Sache nicht nachsichtig sein wird, nimmt der Frankenherrscher an. Zwar schließt sich im Folgenden tatsächlich eine Leidens- und Kummerpassion an, die sich vor allem auf Roland bezieht – insofern wird sich Karls Ahnung einer Passionszukunft bewahrheiten.518 Doch Karls Annahme, ez schinet wol, daz ich sundech bin (K 8764), kalkuliert im ‚Schein‘ die Möglichkeit des Nicht-Sündigseins ein und dieser Spalt der Unwahrscheinlichkeit ist der Ansatzpunkt für die Transformation des Stigmas in Charisma. Denn alle in der Schlacht gefallenen und zukünftig fallenden Christen gelangen als Märtyrer in das Reich Gottes, wodurch Leid und Not zu notwendigen Phasen eines Heilswegs werden. Und ebendiesen Heilsweg hat Karl durch seinen Missionswunsch und die Umsetzung der Mission eröffnet. Er befindet sich also doch innerhalb der göttlichen Ordnung und kommt seiner priesterähnlichen Verantwortung gegenüber den Beherrschten nach. Zudem wird Karl selbst – davon künden die Träume – über eine Herzenspassion in Glauben und Herrschaft geprüft. Über Wege, die dem Herrscher in ihrer Bedeutung nicht klar sind und die er demütig über Selbststigmatisierung als Ausweis seiner Sündhaftigkeit begreift, beweist sich Gottes Gnade. Diese manifestiert sich im Abschluss der Traumsequenz darin, dass Karl wie im Rolandslied ein himmlisches Kreuz erhält.519 Der Stricker ersetzt König Ogier durch Karls Vertrauten, Herzog

518 Ich han in mime troume ersehen, / daz uns ze liden můz geschehen / vil schiere michel arbeit (K 8767–8769). Die bevorstehende Passion und die Beschwörung der Schuld Karls an dieser Mühsal werden insgesamt im Karl gegenüber dem Rolandslied intensiviert (vgl. RL 7451–7457). 519 Vgl. K 8783–8792b. Der Stricker konkretisiert die Szene, indem er Karl aus dem Bett aufstehen und seine Kleidung greifen und in diesem Moment das Kreuz erblicken lässt; die Routine des Aufstehens und Ankleidens wird durchbrochen durch den Einbruch der Transzendenz in den Rückzugsraum des Kaisers. Im Buch vom heiligen Karl werden die Exklusivität und Intimität des Kreuzempfangs weiter gesteigert, indem es heißt: Also giengent die sinen von im (BhK 74,3 f.). Der Bearbeiter tilgt den Bezug zum Aufbewahrungsort Aachen gegenüber den Prätexten (vgl. insges. BhK 74,4–8). „Nach von der Burg 1974, S. 271 bezieht sich die Passage auf das als Crux Caroli bezeichnete Kreuz, das auf dem Pilgerweg nach Compostela auf der alten Römerstraße östlich des Berges Altabiscar die Grenze zwischen den Bistümern Bayonne und Pamplona markierte. Diese zunächst hypothetische Verbindung zwischen Kreuzen, die mit Karls Namen verbunden sind, nutzt von der Burg weiter zur Stützung seiner These, dass Konrad und Stricker Kenntnisse Nordspanien einbrachten, die über das von der altfranzösischen Tradition Vermittelte hinausgingen“ (Singer, Kommentar, S. 381).

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Naimes von Baiern, und glättet die Abfolge des intimen Transzendenzkontakts im Schlafraum des Kaisers und eines anschließenden öffentlichen Herrscherhandelns. Karls Sünden sind in den bisher behandelten Texten als sensible Stelle in der Inszenierung der Figur angelegt, denn sie bieten eine Angriffsfläche für die Kritik an der Idealität und seit 1165 kanonisierten Heiligkeit des Herrschers. Doch wie gezeigt können die herrscherlichen Sünden als Stigmata zur charismatischen Auszeichnung transformiert werden: Je schwerer und unaussprechlicher die stigmatisierende Sünde, desto größer die charismatisierende Gnade Gottes, die Karl durch Absolution zuteilwerden kann. Die Sünden werden so zu einem Baustein von Karls spezifischer Herrschersakralität (Rolandslied) bzw. Herrscherheiligkeit (Strickers Karl), wobei im Rolandslied und beim Stricker im Besonderen der Modus der Selbststigmatisierung kennzeichnend für den Umgang mit der (angenommenen bzw. scheinbaren) eigenen Sündhaftigkeit ist.

5.5 Der Herrscher als heiliger Sünder im Buch vom heiligen Karl Abschließend ist auf den Umgang mit Karls Sünden im Buch vom heiligen Karl einzugehen.520 Als Prätext kommt neben der Ägidius-Legende, der Kaiserchronik, dem Rolandslied und Strickers Karl die Weltchronik des Jans Enikel von Wien aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Betracht. Die Weltchronik bietet vor allem Material zur ersten im Buch vom heiligen Karl erzählten Sünde. Anders als in Kaiserchronik, Rolandslied und Strickers Karl werden Karls Sünden im Buch vom heiligen Karl bereitwillig und in einem eigenen, dem Spanienfeldzug vorgeschalteten Abschnitt erzählt. Es gibt hier nicht mehr die eine schwere, unsagbare Sünde, sondern eine paradigmatische Reihung von drei kapitalen Sünden: Nekrophilie mit der Ehefrau, Tötung des Sohnes, Inzest mit der Schwester.521 Die Erzählung der Sünden hat skurrile Züge und entbehrt nicht einer gewissen Komik – damit sind die Erzählweise und der Erzählton grundlegend andere als im vergleichsweise ‚ernsten‘ Rolandslied und in Strickers Karl.522 Eine Verbindung von Paradigmatik, Skurrilität und Komik wird sich als signifikant für das Erzählen vom Heiligen im Buch vom heiligen Karl erweisen.

520 Vgl. zur Einschätzung der Sünden und ihres Verhältnisses zur Männlichkeit der Herrscherfigur im Buch vom heiligen Karl Lundt, Der Mythos vom Kaiser Karl; dies., Kaiser Karls dritter Körper. 521 Vgl. zu den einzelnen Sünden und ihren Quellen auch Folz, Le Souvenir, S. 478 f. 522 Einen ‚ernsten‘ Ton kennt das Buch vom heiligen Karl im großen Abschnitt des Spanienfeldzugs, der auf dem Rolandslied und Strickers Karl basiert. Karls Sünden werden dort grundlegend anders als in der vorliegenden dreiteiligen Sündenepisode behandelt, wie im Folgenden noch aufzuzeigen ist.

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Die erste Episode (BhK 23,10–26,11) widmet sich der Nekrophilie Karls, der seine verstorbene Frau mit Namen Fastrada beschläft.523 Sie nimmt ihren Ausgang in Zürich, wo eine Richtglocke steht – die sog. Glockensäule –, die Rechtsuchende läuten können, woraufhin Karl, der Richter, erscheint und ihnen rechtlichen Beistand leistet.524 So kommt es, dass ein grosser wurm (BhK 23,22), eine Schlange, läutet, zunächst nicht und dann beim dritten Läuten am Glockenseil hängend entdeckt wird. Karl übernimmt die Rechtssache und vertritt die Schlange im Prozess gegen eine Kröte, die unrechtmäßig das Schlangennest samt Eiern okkupiert hat. Die Schlange gewinnt den Prozess und die Kröte wird getötet. Aus Dankbarkeit für seine Hilfe überlässt die Schlange Karl einen Zauberstein, der ihn magisch anzieht, denn er will und muss immer dort sein, wo sich der Stein befindet. Aus dieser Bindung durch den Zauberstein wird sich Karls erste Sünde ergeben:525 Seine Frau fertigt sich eingedenk der Bindekraft einen Ring aus dem Zauberstein, wodurch Karl

523 Zur Provenienz der Episode und ihrer Überlieferung erklärt Geith: „Die Erzählung von der toten Frau ist ihrem Wesen nach eine Zaubergeschichte, wie sie in verwandter Form in zahlreichen Literaturen der Welt zu finden ist. Am nächsten kommt der bei Enikel belegten Fassung des Stoffes die Erzählung von Harald Schönhaar (861–931) in Snorri Sturlusons Heimskringla, einer isländischen Chronik aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (ca. 1225). [...] Die Vereinigung der beiden Erzählmotive kann leicht aus den seit dem 13. Jahrhundert immer wieder zu beobachtenden Versuchen erklärt werden, die in der Legende unspezifizierte Sünde Karls näher zu bezeichnen. [...] Auf jeden Fall steht fest, daß bis jetzt die bei Enikel überlieferte Form der Geschichte als die älteste gelten kann“ (ders., Carolus Magnus, S. 233 f.). Vgl. zu Nekrophilie und Sündenvergebung in der Weltchronik des Jans Enikel von Wien Fürbeth, Carolus Magus, S. 314–325; Bernd Bastert: Karolus der grosse, want er bilch der grosse heist ... – Karl der Große in den deutschen Weltchroniken des Mittelalters. In: Fuchs/Klein (Hrsg.), Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft, S. 115–137, hier S. 132–137 sowie Mierke, Riskante Ordnungen, S. 147–155. 524 Das Motiv und Erzählungen der Gerichtsglocke sind aus Exempelsammlungen bekannt und ihre Übertragung auf Karl „wird nahegelegt durch die gerade im 13. Jahrhundert besonders lebendige Vorstellung von Karl als dem Schöpfer und Bewahrer allen Rechtes, wie sie beispielsweise im Schwabenspiegel und anderen Werken häufig formuliert wird“ (Geith, Carolus Magnus, S. 235). „Bei Enikel liegt also wiederum die älteste und einfachste Version eines auf Karl d[en] Gr[oßen] übertragenen exempelhaften Erzählmotivs vor“ (ebd., S. 237). Zudem wird ein Bezug zur Zürcher Lokaltradition gesucht: „Das alles macht es sehr wahrscheinlich, daß hier, ähnlich wie bei der Sage von der toten Frau, eine nachträgliche Fixierung einer bereits zur Karlstradition gehörenden Erzählung an einen bestimmten Ort anzunehmen ist“ (ebd.). So steht an der Stelle der Gerichtsglocke heute die Wasserkirche – do nun di wasserkilch stâtt (BhK 23,10f.). Die eindrückliche Szene von der Schlange und der Gerichtsglocke geht auch als Miniatur illustrierend in die Überlieferung von Weltchroniken ein (vgl. dazu Ott, Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften, S. 106–108, mit einer Abbildung und weiteren Nachweisen). 525 In der Weltchronik des Jans Enikel von Wien ergibt sich ein solcher kausaler Zusammenhang nicht, denn zum einen ist die durch einen Zauberstein bedingte Nekrophilie Karls der Erzählung von der Gerichtsglocke samt Schlange und Kröte vorgeschaltet und zum anderen ist der Zauberstein nicht mit der Schlange verbunden, sondern ein Gegebenes des tiufels ordenunge (Jansen Enikels Werke. Weltchronik und Fürstenbuch. Hrsg. von Philipp Strauch. Hannover/Leipzig 1900 [MGH Deutsche Chroniken. 3]; hier V. 26278). Gegenüber der losen, episodischen Reihung in der

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stets ihre Nähe sucht – sie sind unzertrennlich. Als sie merkt, dass sie sterben wird, legt sie den Stein unter die Zunge. Nach ihrem Tod kann Karl aufgrund des Steins nicht von seiner Frau lassen, führt ihre Leiche mit sich und unfähig sie zu begraben, liebt er sie. Die (sündige) Nekrophilie, die beginnt, seine Diener zu verdriessen und unwillig (BhK 24,32) zu stimmen, wird aufgehoben, indem ein Ritter, informiert durch einen fahrenden Schüler, den Stein aus dem Mund der Frau entfernt und ihn mit sich führt. Daraufhin wird sie zur Freude der Dienerschaft ordentlich bestattet und Karl folgt nun dem Ritter auf Schritt und Tritt. Als diesem das Verhältnis zu eng wird, wirft er den Ring fort und Karl liebt das Moos, in das der Ring gefallen ist. Er liebt es so sehr, dass er dort ein Münster baut und damit Aachen gründet – en passant inseriert der Erzähler in die Sünder- eine Gründergeschichte. Nach dieser raschen Ereignisabfolge pausiert die Erzählung und Karl begreift, dass alle seine zurückliegenden Handlungen auf den Zauberstein zurückgehen: alle kam und was von dem stein (BhK 25,30 f.). Für Karl sind seine Vergehen durch die magische Wirkung des Steins aufgeklärt und entschuldigt: Und darumb, won er die liebi alle von dem stein hat, darumb wolt er es nit ffür ein groß sünd han, als es aber was, und wolt es nit bichten und büessen (BhK 25,31–33). Karl erkennt seine Sünden nicht als ‚groß‘ an und sieht keine Notwendigkeit zu Beichte oder Buße, doch dabei handelt es sich – wie der Erzähler richtigstellend einfügt – um eine Fehleinschätzung. Karl befindet sich in Sünde und gefährdet durch seine Uneinsichtigkeit sein Seelenheil. Aber Gott beschützt ihn: do wolt gott nit, [...] daz darumm sine guotte werck verlorn wurdent (BhK 25,34–26,2). Er setzt sich für Karl ein, der sust so vil guotter wercken tedt (BhK 25,34), und diese guten Taten sind, wie der Text stets angibt, der Christenheit zum Nutzen.526 Es scheint damit ein Nahverhältnis Karls zu Gott auf, der sich des Christenherrschers annimmt und sich für sein Seelenheil folgendermaßen einsetzt: Und darumb so tet es gott kunt dem heilgen Sant Egidio und Sant Theodolus, die sprachent sso vil meß und ruofftent got an über in, won sy bekanttent wol, daz er wider gott gethan hatt, daz gott über in erczürnet was. Sy wustend aber nit, waz die sünd warent. Und do Theodolus ob alter stuond, do kam ein engel und bracht im die sünd verschriben an eim briefli. Und do gieng er czuo Karlus und czögt im daz brieffli. Und bekant, daz es im sünd was, und bichtet und rüwet sy und enpfieng buoß. Und da erbattent die czwen helgen man got, daz er ims vergab und im sin schuld und sin gnad widergab. (BhK 26,2–11)

Der Ablauf der Sündenepisode ist im Buch vom heiligen Karl gegenüber den bisher untersuchten Darstellungen modifiziert:527 Hier ist es Gott, der die Sündenbewälti-

Weltchronik werden die kausale Verknüpfung und Verfugung der Erzählungen, die der Bearbeiter des Buchs vom heiligen Karl leistet, deutlich. 526 Vgl. u. a. BhK 6,20 f. u. 21,26 f. 527 Auch gegenüber der Sündenepisode in der Weltchronik des Jans Enikel von Wien ergeben sich wesentliche Veränderungen, die hier nicht im Einzelnen aufzuführen sind – so fehlen beispiels-

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gung einleitet und mit den Heiligen Kontakt aufnimmt. In der Kaiserchronik, im Rolandslied und im Karl ist es der Herrscher selbst, der seiner schweren, unaussprechlichen Sünde eingedenk den Weg zur Sündenbewältigung einschlägt. Hier ist Karl dagegen ahnungslos und hält sein Handeln, besonders das Verhältnis zu seiner toten Frau, für kein Vergehen, nit ffür ein groß sünd (BhK 25,32). Anders als in den vorgenannten Texten spricht der Erzähler von zwei Heiligen, Ägidius und Theodolus.528 Zumeist ist der heilige Ägidius für die Sünden Karls zuständig, Theodolus übernimmt diese Funktion seltener. Dass beide zugleich auftreten, ist ungewöhnlich und könnte als Resultat einer Quellenkompilation des Bearbeiters des Buchs vom heiligen Karl verstanden werden: Divergierende Erzähltraditionen werden zusammengefügt, wodurch solche doppelten Besetzungen paradigmatischer Funktionen wahrscheinlich werden. Das Abhalten einer Messe und die Anrufungen Gottes durch die Heiligen werden auch in der Kaiserchronik erzählt. Dort drängt jedoch Karl im Bewusstsein seiner Schuld zu gottesdienstlichen Handlungen, hier ist er exkludiert vom Sakralraum und den geistlichen Praktiken. Möglicherweise verbietet die fehlende Einsicht in seine Sünde und damit das Fehlen einer Bußbereitschaft einen Aufenthalt des Sünders im geweihten Bezirk Gottes. Die beiden Heiligen wissen, dass Karl gesündigt hat und dass Gott darüber erzürnt ist – vom Zorn Gottes gegenüber Karl ist im Übrigen in keinem anderen der untersuchten Texte die Rede –,529 doch der Gegenstand der Sünde bleibt ihnen unbekannt. Die Heiligen wissen nicht, worin Karls Sünde besteht. Dagegen sind die Rezipienten genau über die Sünde unterrichtet, wodurch sie einen Wissensvorsprung gegenüber den Geistlichen erlangen. In diesem Sinne werden die Sünden Karls ‚profani(si)ert‘: Wollte Karl seine Sünde in der Kaiserchronik höchstens einem Heiligen anvertrauen, wird im Buch vom heiligen Karl die Sündhaftigkeit des Herrschers öffentlich gemacht und der Exklusivität des Sakralraums entzogen. In die-

weise Ägidius und Theodolus, stattdessen übernimmt ein namenloser Bischof die Sündenbewältigung und entfernt zudem den Zauberstein aus dem Mund von Karls Frau; vgl. für die augenfälligen Unterschiede den entsprechenden Abschnitt in Strauch (Hrsg.), Jansen Enikels Werke. Weltchronik und Fürstenbuch, V. 26307–26382. 528 Es finden sich einige Namensvarianten des heiligen Theodor: „Theodolus, Theodulus, St. Joder, Jodern, frz. Théodule, rätoroman. Sogn Gioder“ (Kirsten Groß-Albenhausen: Art. Theodor, Bischof von Octodurus. In: BBKL 11 [1996] [https://www.bbkl.de/index.php/frontend/lexicon/T/Th/ theodor-theodolus-theodulus-st-joder-jodern-frz-theodule-raetoroman-sogn-gioder-bischof-von-oc todurus-71698, Zugriff: 11.12.2020]). Theodor war „wahrscheinlich der erste Bischof von Octodurus und nahm in dieser Eigenschaft 381 an der Synode von Aquileia teil, wahrscheinlich auch 389/90 an der von Mailand“ (ebd.). Von Sitten ausgehend verbreitet sich sein Kult und wird besonders im Wallis gepflegt. „Die Vita beati Theodori Sedunensis episcopi (12. Jahrhundert) versetzt ihn in die Zeit Karls des Großen (s.d.). Diese größtenteils legendarische Vita reicht nicht weiter als etwa zum Jahr 900 zurück“ (ebd.). 529 Karl nimmt Gottes Zorn im Rolandslied und im Karl nur an, er leitet ihn vor allem aus den schreckenden Traumgesichten ab; hier ist Gott nun tatsächlich zornig und Karl erkennt es nicht.

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ser hierarchischen und die Deutungshoheit spezifischer Domänen betreffenden Inversion liegt möglicherweise auch ein komisches Moment. Der Himmelsbrief als Dokumentation göttlichen Willens ist auch hier konstitutives Element der Sündenbewältigung, erhält jedoch eine andere Funktion:530 Theodolus empfängt den Brief und übergibt ihn Karl, der, anders als in den zuvor untersuchten Texten, nicht von einer großen Sünde (Nekrophilie) weiß. Hier informiert ihn der Brief darüber, dass er schwer gesündigt hat. Die vorausgehende Prozedur von Messe und Gottesanrufungen dient nicht dem Sündenerlass oder zur Auslösung des Mechanismus gleichzeitiger Läuterung und Buße (wie in den anderen Texten), sondern zur Stiftung von Karls Einsicht in die Sünde. Erst mit der nun erreichten Erkenntnis – dieser Status ist in den zuvor untersuchten Texten der Ausgangspunkt der Sündenepisode – setzt der formalisierte Prozess aus Beichte, Reue und Buße ein. Die beiden Heiligen werden dafür nochmals aktiviert und befördern über Gebete Karls Sündenbefreiung, sodass der Herrscher schließlich Gottes Gnade wiederfinden kann.531 So zeigt sich, dass mit den Erzählbausteinen um Karls Sünde sowie um Ägidius samt Brief und Ablass flexibel umgegangen werden kann. Die Bausteine können kombiniert und modifiziert werden, wodurch die Erzählungen neue Sinnzusammenhänge stiften und die Herrscherfigur spezifisch charakterisieren. Die Stigmatisierung und Charismatisierung des sündigen Herrschers wird im Buch vom heiligen Karl in eigener Weise arrangiert, denn im Unterschied zu allen vorherigen Bearbeitungen des Sündenkomplexes werden die Rezipienten in einer detaillierten Erzählung über die Sünde Karls informiert – Unsagbarkeit weicht der ausführlichen Besprechung. So werden sie vom Erzähler in die Lage versetzt, nachvollziehen zu können, welcher Natur und Schwere die Sünde Karls ist. Dass es sich um ein groß sünd (BhK 25,32) handelt, legt der Erzähler nahe und Gottes Zorn ihretwegen räumt jeden Zweifel daran aus. Ein weiterer zentraler Unterschied zu den anderen Bearbeitungen besteht darin, dass sich Karl nicht in Sünde wähnt und der dort charakteristische Modus der Selbststigmatisierung ausfällt. In der Folge wird ein Umschlag von Stigma in Charisma anders inszeniert, wie die Analyse der folgenden beiden Sünden genauer zeigen wird. Nun was die ander sünd, die Karlus wider gott gethan hat, daz was die (BhK 26,11–13):532 ‚Sünde‘, so legt der Text hier fest, bedeutet ‚ein Vergehen gegen Gott‘ und damit die Störung des herrscherlichen Gottesverhältnisses. Da die Nähe des Herrschers zu Gott konstitutiv für seine Legitimation und seine Sakralität ist, bedeutet

530 Der Altar als Markierung des Sakralraumes (den auch der Stricker kennt) ist ebenfalls anzutreffen. Hinzu kommt die Figur des Engels als Vermittler zwischen Himmel und den Heiligen auf Erden, wodurch der Transport des Briefes veranschaulicht und plausibilisiert wird. 531 Vgl. BhK 26,10 f. 532 Die zweite Sünde wird erzählt in BhK 26,11–27,5.

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der Zustand der Sünde eine Gefährdung der Herrschaft.533 Worin besteht also Karls zweite Sünde? Sein Sohn habe die Tochter einer Witwe verführt, diese klagt es Karl, der zunächst angibt, sich nicht um den Fall kümmern zu können: er kond ir iecz kein recht darumb gesprechen, er muost riten (BhK 26,17f.). Er verspricht, sich auf dem Rückweg um das Anliegen der Witwe zu kümmern. Eine Stute ermahnt er in einer liechvertikeit (BhK 26,18 f.), ihn daran zu erinnern. Als Karl zurückkehrt, erinnert ihn die Stute sehr eindrücklich an das Rechtsanliegen der Witwe, indem sie ihm ins Auge tritt, was Karl als göttliches Zeichen (miss)versteht: Und do duocht in, daz ez gocz wil wer, daz er daz an sim sun reche, daz im die witwe gklagt hatt. Und ruoft sim sun cze im und stach im den hals ab ân alles gricht (BhK 26,22–25). Karl wähnt im Huftritt der Stute die Artikulation göttlichen Willens bezüglich der Rechtssache und tötet seinen Sohn ohne Prozess, ân alles gricht (BhK 26,24f.). Bei der Nekrophilie war es die Dienerschaft, die Anstoß am sündigen Verhalten ihres Herrn nahm. Nun empören sich Landesherren und Ritter über Karl, dessen Vergehen somit kommuniziert werden und sich (temporär) destabilisierend auf seinen Herrschaftsapparat auswirken. Sie sind zornig, betrübt und der Meinung, dass er ihnen den Rechtsfall hätte überlassen sollen.534 Sie hätten die Frau entschädigt und den Sohn büßen, aber nicht hinrichten lassen. Karl wird damit in seiner herrscherlichen Zentralaufgabe, der Wahrung der Gerechtigkeit, diskreditiert: Der rex iustus wird zum rex iniustus – die Rechtsverletzung, die Tötung des Delinquenten, noch dazu des eigenen Sohnes, ohne Prozess bedeutet eine Verletzung göttlicher Ordnung und damit Sünde. Der Vorwurf der Landesherren und Ritter zwingt Karl zur Reflexion: Nun duocht aber Karlus, wen er nun in eyner liechvertikeit ze der studen het gesprochen, daz sy in mante, wen er wider kem, und die stud daz hett gethan, so wer es gocz wil, daz * es selber rech (BhK 26,30–33). Karl denkt an die liechvertikeit, also die ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Unbedachtheit‘, mit der er zur Stute gesprochen hat, sodass es für ihn plausibel ist, dass die Stute, wenn sie ihn unwahrscheinlicher Weise ermahnt, Gottes Willen offenbaren muss. Dass ein Tier ihn tatsächlich versteht und mit einem Huftritt Kontakt zu ihm aufnimmt, erscheint Karl einzig durch Einflussnahme Gottes möglich. Es mutet jedoch seltsam an, anzunehmen, dass der Huftritt eines Pferdes, der Rechtsfall und Gottes Wille zum einen zwingend kausal verknüpft sein müssen und dass zum anderen diese Koinzidenz zu allem Überfluss das genaue Urteil, nämlich die Todesstrafe, bedeuten soll. Karl sieht – anders als die Landesherren und Ritter – in seinem Handeln kein Unrecht (nüt unrecht; BhK 26,34) und führt seine Tat nochmals auf göttliches Wirken durch die Stute zurück, won wer es nit der wil gocz gsin, die stud hett in nit gmanet (BhK 26,35). Er erscheint unbeirrbar und wie bei der ersten Sünde der Nekrophilie sieht er sich nicht als Sünder, sondern sogar als Gottesdiener: und darumm

533 Vgl. dazu bereits oben Kapitel III.5.1. 534 Vgl. BhK 26,28. Vgl. zur Spannung zwischen Karl und den Herren auch Stackmann, Karl und Genelun, S. 277.

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wolt er es ouch nüt für sünd han und wolt er es nit rüwen noch bichten noch büessen, wan er meint, gott ein dienst han gethan (BhK 26,36–27,2). Reue, Beichte und Buße werden als Mechanismus der Sündenbewältigung ausgesetzt und von Karl als unnötig angesehen. Doch auch an dieser Stelle hält der Erzähler korrigierend fest, dass er sehr wohl eine Sünde begangen hat, denn Karl handelte in einer geche nach dem süntlichen fürschucz und beitet nit der bescheidenheit rat, won es spricht ein heydischer meister: „Wen der sinlich fürschucz ze bphend ist, da von kumpt vil übels“ (BhK 27,2–5). Karl hat vorschnell, im Affekt gehandelt und nicht auf den Rat des Verstandes gewartet – damit agiert er jenseits des Rechts und verletzt die herrscherliche Pflicht der Gerechtigkeitswahrung. Karls Reflexionen sind in diesem Licht sonderbar und sein Handeln für seine Umwelt (Landesherren und Ritter) unverständlich, für seine Familie sogar tödlich. Seine Herrscherlichkeit erscheint schwer erschüttert und mit der Anführung einer anonymen antiken Sentenz erhärtet der Erzähler die Anklage gegen den Herrscher. Schließlich verzichtet die Erzählung auf die Bewältigung der zweiten Sünde, denn sie bleibt, anders als die erste, unaufgeklärt und ungebeichtet. Durch die fehlende Auflösung wird der Rezipient eingeladen zur Reflexion über Sünde, Recht und Unrecht sowie über Herrscherlichkeit und Heiligkeit Karls. Die dritte Sünde wird knapp abgehandelt und beschließt die Erzählung von Karls Sünden. Sie stellt sich ungekürzt wie folgt dar: Die drit sünd, die Karlus sündet wider gott, daz was, daz er sin schwöster beschlieff unwüssend, daz er nit wüsset, daz es sin schwöster was. Und do er sin ynen ward, do meint er nit, daz es im sünder wer, den ein ander unkünsch werck, won er es nit vor gewüst hatt. Und bichtet es nit den ander unkünsch werck. Und von der sünden wegen was er in gocz zorn komen, daz er sy nit wolt gen gott erkennen nach der grossi, als sy warend. Aber do im der heilig Egidius und der heilig Theoderus kunt tattent, als vor stât, do tet er buoß und hat rüw und erwarb gocz huld wider. (BhK 27,6–14)

Die Sünde, die ein Vergehen gegen Gott (wider gott; BhK 27,6) bedeutet, wird erzählökonomisch behandelt und deshalb knapp umrissen, da sie in der grundsätzlichen Aussage von den anderen Sünden nicht unterschieden ist: Auch der Inzest mit der Schwester geschieht unwissend, Karl ist sich keiner Schuld bewusst. Er begreift sich nicht als Sünder und hält den Inzest aus Unwissenheit nicht für schlimmer als andere unkeusche Taten – eine gesonderte Beichte bleibt aus. Doch wie schon bei der ersten Sünde ist Gott darüber erzürnt, dass Karl seine Tat nicht als Sünde vor ihm bekennt und ihre Schwere nicht begreift: Karl befindet sich als Sünder in gocz zorn (BhK 27,11), das Verhältnis zu Gott ist temporär beschädigt. Zum dritten Mal ist der Herrscher seiner Sünden nicht eingedenk und es sind (wieder) die beiden Heiligen, Ägidius und Theoderus (Theodolus), die ihn über seine Sündhaftigkeit aufklären. Abermals greift der Mechanismus aus Messbesuch, Gebeten und Himmelsbrief, wie er schon zuvor griff, was der Erzähler im anaphorischen Verweis angibt: als vor stât (BhK 27,13 f.). Karl erkennt schließlich seine Sünden und das Verhältnis zu Gott wird wiederhergestellt: do tet er buoß und hat rüw und erwarb gocz huld wider (BhK 27,14).

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Welches Herrscherbild entwirft also das Buch vom heiligen Karl mit der dreiteiligen Sündenerzählung? Karl hat temporär Rechtsordnungen und kollektiv bindende Gepflogenheiten verletzt und stand gleich drei Mal außerhalb des Sittsamen, des Rechts und vor allem außerhalb von Gottes Huld: Karls Sünden irritieren damit stets auf zwei Ebenen zugleich, zum einen werden familiäre, soziale und politische Beziehungen gestört und zum anderen sein Verhältnis zu Gott. Die Aussage dieser dreigeteilten Sündenerzählung kann darin gesehen werden, eindrücklich darzulegen, dass Karl zum einen im Besonderen unter Gottes Schutz steht (Nahverhältnis) und zum anderen zwar temporär sündigen, d. h. sich gegen göttliche Ordnung verfehlen kann, jedoch nie – auch nicht bei drei begangenen und erzählten Todsünden – dauerhaft aus der Gnade Gottes und seiner Ordnung fallen kann. Karl wird über diese Erzählungen nicht schwer stigmatisiert und von einer Selbststigmatisierung ist er aufgrund der Uneinsichtigkeit in die eigene Sündhaftigkeit weit entfernt. Vielmehr wird die Unwahrscheinlichkeit vorgeführt, dass der Sünder-Herrscher in der göttlichen Ordnung bleibt. Es ist, so muss man schließen, gegen Gottes Willen, dass er sein Seelenheil verspielt. Die Vorgänge bei Ägidius und Theodolus gestalten sich als Offenbarungs- und Beichtroutine, ohne dass von reumütiger Erniedrigung oder schweren göttlichen Strafen die Rede wäre. Wie schwer Karl auch sündigen mag, er gewinnt doch immer gocz huld wider (BhK 27,14). Darin besteht sein Charisma im Wortsinn als göttliches Gnadengeschenk der besonderen Nähe zu Gott und Garantie des Seelenheils. Schließlich bildet dieses intakte Gottesverhältnis auch die höchste legitimative Grundlage von Karls Herrschaft. Um umfänglicher zu klären, welche Funktion die Sündenerzählung für das Erzählen von Karl dem Großen hat, sollen verschiedene Deutungsansätze zur Diskussion gestellt und mit der vorliegenden Analyse abgeglichen werden:535 „Wie ist diese Traditionsschiene von dem sündigen Karl innerhalb des Karlsmythos, die durchaus quer zur Darstellungslogik der Überhöhung des Helden und Heiligen zu verlaufen scheint, verstanden worden?“536 Ein erster Deutungsansatz erkennt in der Sündenepisode einen „klerikale[n] Protest gegen Karls Sexualleben“.537 Das erscheint für das Buch vom heiligen Karl wenig plausibel, da sich keine Anzeichen scharfer Verurteilung seitens des Erzählers finden, weder in der vorliegenden Episode noch andernorts. „Es wird nicht Anklage erhoben, sondern mit einer gewissen Distanz ruhig erzählt.“538 Ein zweiter Ansatz betont den „Unterhaltungswert der Schilderungen“ als Strategie der Popularisierung Karls.539 Ganz offensichtlich hat der Text ein unterhaltendes Anliegen, denn die Inszenierung des sündigenden

535 Lundt verzeichnet die überschaubare Forschung (dies., Der Mythos vom Kaiser Karl, S. 45, Anm. 36). 536 Ebd., S. 44 f. 537 Ebd., S. 45. 538 Ebd. 539 Ebd. Vgl. auch Graus, Lebendige Vergangenheit, S. 185.

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III Literarische Herrschersakralität

Herrschers zeugt von einer Erzählfreude, die Todsünden und Rechtsbrüche in drastische Bilder fasst und mit Komik unwahrscheinliche Begebenheiten präsentiert – man denke an den Huftritt des Pferdes und Karls Reflexionen. Der Text könnte so Neugier und Schaulust der Rezipienten wecken und durch schonungslose Aufdeckung der Sünden Karls des Großen befriedigen – die Rezeption der Sündenerzählung bedeutet dann im Sinne eines delectare einen Lustgewinn. Eine Popularisierung Karls als Ziel dieser unterhaltenden Darstellung ist als Anliegen des Buchs vom heiligen Karl plausibel. Der heilige Herrscher wird literarisch in die Lokaltradition und die Geschichte Zürichs eingeschrieben. Der dritte Deutungsansatz geht davon aus, dass Karls „leibliche[] Verstrickungen [...] so ausführlich gestaltet worden [sind], um seine Errettung zu überhöhen, ein hagiographischer Topos mit langer Tradition“.540 In diesem Sinne konstatiert Geith: „Wenn das Thema von Karls Sündhaftigkeit oder Sündenbewußtsein behandelt wird, dann in der Absicht, seine besondere Frömmigkeit zu demonstrieren oder auf die von Gott selbst ausgesprochene Sündenvergebung zu verweisen (Aedigius-Mirakel).“541 Dass die Errettung durch Gottes Gnade sowie die Intervention der Heiligen Ägidius und Theodolus dem Sünder einen besonderen Status zukommen lassen und damit ein ‚hagiographischer Topos‘ bedient wird, leuchtet ein. Doch Geiths Deutungsoption, dass Karls ‚besondere Frömmigkeit‘ gezeigt wird, trifft zwar auf die Sündeninszenierung im Rolandslied und beim Stricker zu, nicht aber auf die dreiteilige Sündenerzählung des Buchs vom heiligen Karl. Vielmehr wird die besondere göttliche Sündenvergebung fokussiert, denn es ist nicht Gottes Wille, Karl wegen seiner Sünden um sein Seelenheil zu bringen, hat der Herrscher doch viele gute Werke der Christenheit zum Nutzen getan. Dieser Auffassung widerspricht die Deutung, dass die Sündenerzählung Reflex einer Säkularisierung des Herrschers sei, die Heiligkeit und göttliche Gnade ausschließe.542 Eine Säkularisierung der Karlsfigur leistet die Sündenerzählung nur oberflächlich bzw. vorläufig durch groteske und komische Züge der Sünden und Karls bizarre Uneinsichtigkeit in seine Sündhaftigkeit. Diese Form der temporären ‚Profanierung‘ der heiligen Herrscherfigur wird durch Gottes Gnade, die Vermittlung der Heiligen und das unerschütterliche Nahverhältnis zwischen Karl und Gott jedoch aufgehoben und sub specie aeternitatis in heiligen Ernst transformiert. Lundt können „[a]lle diese Deutungen [...] nicht recht überzeugen“,543 sie folgert: „Eine unterhaltende Freude an der Vielfalt des menschlichen Lebens und seiner leiblichen Verstrickungen scheint vielmehr im Mittelpunkt zu stehen. In drei Generationen realisieren sich ganz unterschiedliche Lebenskonzepte.“544 Doch mit der „unterhaltende[n] Freude“ befindet sich Lundt in Übereinstimmung mit jener 540 Lundt, Der Mythos vom Kaiser Karl, S. 45. 541 Geith, Carolus Magnus, S. 265. 542 Vgl. Lundt, Der Myhos vom Kaiser Karl, S. 45. 543 Ebd. 544 Ebd.

5 Karls unsägliche Sünde im Spannungsfeld von Stigma und Charisma

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Deutung, die den „Unterhaltungswert“ der Sündenerzählung herausstellt. Die Komik der Episode und eine damit verbundene Unterhaltungsfunktion scheinen auch zur diskursiven Bewältigung des erdrückenden Gewichts der drei Todsünden des Herrschers beizutragen und sie zu depotenzieren.545 Indem die Karlsfigur allein durch göttliche Gnade erlöst wird, ist sie nach Lundt gegenüber anderen Figuren erhaben, woraus sich eine Ambiguisierung der Erzählung und der Figur ergibt, die dazu führt, dass „Karl auch nicht zum ‚Leitbild‘ werden“ muss.546 Lundt bezieht sich hier auf Neudecks Deutung der Karlsfigur in der Kaiserchronik und überträgt sie auf das Buch vom heiligen Karl. Es gehe darum, die „Exorbitanz eines Herrschers zu demonstrieren, der letztlich unvergleichbar ist“.547 Denn seine Einzigartigkeit und die besondere Gnade Gottes, die ihn als Charisma auszeichnet, verbieten eine ‚Wiederholbarkeit‘ seines Herrscherlebens. Doch als ‚Leitbild‘, also als Identifikationsfigur für europäische männliche Herrschergestalten, kann Karl dennoch wirksam werden, denn die partielle Aufhebung seiner Vorbildlichkeit muss die Leitbildfunktion nicht gänzlich aushöhlen. Entgegen Lundts Ablehnung möchte ich unter Berücksichtigung meiner Kommentierung die oben diskutierten Deutungsansätze nicht verwerfen, sondern für ihre Komplementarität – auch unter Einbezug der Deutung Lundts – plädieren. Plausibel ist eine Verbindung, ein Zugleich von hagiographischer Erhöhung und unterhaltend-popularisierender Darstellungsweise. Schließlich ist bezüglich der Bauform der Sündenerzählung aus narratologischer Perspektive zu beobachten, dass Karls Sünden nach dem syntagmatischen Schema von ‚Sünde – Unkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit – Aufklärung über die Sündhaftigkeit – Buße und Wiederherstellung des Verhältnisses zu Gott‘ beliebig repliziert werden können, indem paradigmatisch aus dem Katalog der Sünden ausgewählt und erzählt wird. Der Text deckt das ihm zugrunde liegende Erzählschema auf, verdeutlicht so die Möglichkeiten des Erzählens und reflektiert die eigene Verfasstheit: Die erste Sünde wird auf knapp drei Editionsseiten entfaltet,

545 In der Weltchronik Jans Enikel von Wien wird „die Nekrophilie bis ins Komische überzeichnet“ (Mierke, Riskante Ordnungen, S. 151) und „[d]as in vielen Quellen tradierte Bild des vorbildlichen Herrschers wird bis ins Groteske gesteigert“ (ebd., S. 152). Es gehe in den Episoden darum, „einen Kaiser zu zeichnen, der sich jenseits der Ordnung bewegt und in diese zurückkehrt. Er ist eine ‚hybride Figur‘, die sich dem vorgegebenen Schema des tugendhaften Herrschers nicht ohne Weiteres fügt. Gerade in der Weltchronik ist er kein makelloser Held“ (ebd., S. 154). Damit steht „in der Weltchronik das Umkippen des tradierten Bildes bis hin zur Komisierung der Figur (und zur Parodie der Erzählmuster des höfischen Romans) im Zentrum. Dieses Erzählprinzip bricht mit der Erwartung des Publikums, erfüllt sie aber schließlich durch den vorhersehbaren Ausgang und die Rehabilitierung des Helden. Der Erzähler riskiert die Ordnung, um sie schließlich wiederherzustellen“ (ebd., S. 154 f.). Diese Analyse von Komik als Ordnungsprinzip ist übertragbar auf die vorliegende Inszenierung der sündigen Ordnungsverletzung des Herrschers im Buch vom heiligen Karl. 546 Lundt, Der Mythos vom Kaiser Karl, S. 46. 547 Neudeck, Karl der Große, S. 292.

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detailliert und plastisch beschrieben; die zweite Sünde wird um zwei Drittel gekürzt und bildet ohne den Sündenaufklärungs- und -bewältigungsmechanismus das Mittelstück und die Verbindung zur dritten Sünde, die wiederum um zwei Drittel gegenüber der zweiten Sündenerzählung gekürzt ist. Am Ende dieser im Umfang abnehmenden Reihung würde die Narration der Sünden in eine auflistende Deskription überführt werden, womit die Erzählung verabschiedet und das Reservoir für die paradigmatische Auswahl der syntagmatisch zu erzählenden Sünden offengelegt wäre, nämlich der Sündenkatalog. Die Aussage dieses Arrangements ist klar: Ganz gleich wie schwer und wie oft Karl sündigt, er kann nicht aus Gottes Gnade fallen. Damit präsentiert die Sündenerzählung einen wesentlichen Aspekt von Karls persönlicher Heiligkeit, die mit seinem Gottesverhältnis zugleich die Legitimationsgrundlage seiner Herrschaft verhandelt. Die besprochene dreiteilige Sündenerzählung ist wie gezeigt eine Zugabe des Buchs vom heiligen Karl gegenüber den Prätexten. Die Sündenthematik ist damit jedoch nicht beschlossen, sondern wird im weiteren Textverlauf verschiedentlich verhandelt. Der Bearbeiter hält sich im unmittelbar darauffolgenden Spanienfeldzug an seine Vorlagen, indem er jene Elemente und Szenen im Umgang mit Karls Sünden bietet, die für das Rolandslied und Strickers Karl oben bereits besprochen worden sind. Es ist für die Deutung des Buchs vom heiligen Karl aufschlussreich, diese Inszenierung zu behandeln, da sie in einem spannungsreichen Verhältnis zur vorangehenden dreiteiligen Sündenerzählung steht und vor allem als Kontextualisierung ihre Deutung beeinflusst. Zunächst findet sich die Gewohnheit der nächtlichen Beichte, die sich kurz vor Karls Abzug aus Spanien und der Übergabe der spanischen Krone an Roland zuträgt:548 Nun hat er ein gewonheit, das er nüt nider an sin bet gieng, er tet vor sin bicht (BhK 50,8 f.). Anders als im Rolandslied und im Karl wird dieses Verhalten nicht explizit als vorbildliches imitabile bezeichnet, die Fürstenspiegel-Dimension fehlt also.549 Auch der Verweis auf den heiligen Ägidius im Zuge der Sündenbewältigung Karls ist getilgt bzw. in die vorgeschaltete dreiteilige Sündenerzählung ausgelagert worden.550 Der Bearbeiter scheint sorgsam vorzugehen und kompositorische Absichten mit den Prätexten auszuhandeln sowie die Struktur der eigenen Textkompilation entsprechend zu modifizieren. Weiterhin werden Karls selbststigmatisierende Sündenbekenntnisse im Zuge seiner nächtlichen Gebete und Reflexionen präsentiert, die von Träumen und deren reumütiger Deutung durchzogen werden. Karl erwacht nach dem ersten Traum, betet und bekennt seine Sünden,551 wobei der Zug der schützenden, priesterähnlichen Verantwortung für das Volk, die Annahme der eigenen Sündhaftigkeit und des Zornes Gottes wie im Rolandslied und

548 Vgl. BhK 50,8–15. 549 Vgl. RL 2994 f., 3012–3014 u. K 3479 f. 550 Vgl. RL 3005–3007 u. K 3487–3502. 551 Vgl. BhK 50,22–30.

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Karl erhalten bleiben.552 Nach Spanien zurückgekehrt, träumt Karl nochmals,553 erwacht und klagt seinen Leuten: Wir habend aber groß not und arbeit for uns. Und daz ist alß miner grossen sünden schuld; umb die verhengt got not und arbeit (BhK 73,31–33). Karl benennt seine Sünden wie im Rolandslied und beim Stricker öffentlich als Grund für die Beschwernisse des Spanienfeldzugs und erscheint so als eine grundlegend andere Figur als in der vorgeschalteten dreiteiligen Sündenerzählung. Während des Spanienfeldzugs ist Karl seiner Sünden eingedenk, bußfertig und demütig. Er nimmt seine herrscherliche Verantwortung für sein Volk wahr, zeigt sich umsichtig und gottesfürchtig. Es scheint, dass zwei unterschiedliche, sogar diametral entgegengesetzte Herrschermodelle inszeniert werden, die nicht in einer geschlossenen bzw. konsistenten Karlsfigur spannungsfrei zusammenfinden. Das reflektiert zum einen die situative Inszenierung von Herrschaft und Heiligkeit, die eher episodisch oder szenisch spezifische Karlsbilder profiliert und verschiedene Modi des Erzählens von Karl erprobt. Doch zum anderen ergeben sich bei der linearen Rezeption des Textes aus dem Kontrast zwischen der Karlsfigur im Spanienfeldzug, die dem in den Prätexten vorgebildeten Modell des demütigen und sündigen Herrschers folgt, und der Karlsfigur aus der vorgeschalteten dreiteiligen Sündenepisode ein sinnhafter Bezug und eine Deutungslinie. Denn Karls wiederholte Beichten, seine Reue und Sorge um Gottes Zorn und das Heil seiner Beherrschten werden im Buch vom heiligen Karl durch die vorgeschaltete Sündenepisode plausibel gemacht. Dieser ‚Sündenhorizont‘ fehlt dem Rolandslied und Strickers Karl, wodurch Karls Selbststigmatisierung und Beteuerung der eigenen Sündhaftigkeit intratextuell betrachtet weniger einsichtig sind. In der Komposition des Buchs vom heiligen Karl bilden die Sünden den abschließenden Abschnitt vor dem Spanienfeldzug, der als Kreuzzug Sündenfreiheit ermöglichen und über das Martyrium das ewige Leben verschaffen soll.554 Die

552 So bezeichnet sich der Herrscher in der Anrufung Gottes als armen sünder (BhK 50,24 f.), den Gott behüten möge und ist einsichtig, das ich din zorn verdient han (BhK 50,25). Karl allein habe gesündigt und kein anderer seiner ihm anvertrauten Christen: Richt, her, uber min lib und behalt die sel. Und behüet ouch Ruoland und alle, die in dinem namen strittend! (BhK 50,27–29) Die Sorge um das christliche Kollektiv und um Roland im Besonderen ist hier genau wie in den beiden Prätexten signifikant. Nach dem zweiten Traum spricht Karl unter Tränen und erinnert an Gottes Erbarmen mit dem sündigen David, den er als Exemplum für göttliche Gnade anführt. Vgl. die in Kapitel III.5.4 bereits beim Stricker erwähnte Karl-David-Typologie (mit Bezug auf II Sam 11 f.). Nochmals betont er seine Reue und bittet Gott, an ihm und nüt an mim folck Rache zu nehmen (BhK 51,8 f.). Auch nach dem dritten Traum erklärt Karl seine Leidensbereitschaft und Bereitwilligkeit, die Strafen für seine Sünden auf sich zu nehmen. So fällt er in Kreuzform zu Boden und erkennt durch seine Träume, daz in not und arbeit an wolt gan (BhK 51,24 f.). Und ein weiteres Mal artikuliert er: Und rich min sünd nun an mir und nüt * min folck! (BhK 51,28 f.) 553 Vgl. BhK 70,9–28. 554 Vgl. zum Zusammenhang von „Heidenkampf und Sündennachlass“ bzw. „Kreuzzug und Buße“ Bastert, Helden als Heilige, S. 284 f. sowie zu strukturellen Überlegungen von Sünde, Strafe

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Positionierung der Sündenepisode kann so als interpretatorischer Doppelpunkt für das Geschehen in Spanien gelesen werden, als Präludium und Begründung für Karls Passion und womöglich als zusätzliche kausale Motivation für das weitere Geschehen. Das Buch vom heiligen Karl bietet auf diese Weise multiple Sinnebenen und Leserichtungen, was für eine Komplexität und gewisse Artifizialität des Textes sprechen kann; mag hier Zufall am Werk sein, so bleibt das Sinnangebot des Textes dennoch unbestritten. Lundt versteht die dreiteilige Sündenerzählung ähnlich: „Während seine Großeltern kein ‚süntlich werck‘ begangen hatten, durchzieht nun die Frage nach den drei Sünden die Handlung als Substruktur bis zum Schluß.“555 Besonders die dritte Sünde, der Inzest mit der Schwester, strahlt auf den Spanienfeldzug aus, da die vorgeschaltete Sündenerzählung offen lässt, ob ein Kind aus der inzestuösen Verbindung hervorgegangen ist. Das Buch vom heiligen Karl inszeniert ein Zusammentreffen zwischen Karl und dem sterbenden bzw. tot geglaubten Roland und entdeckt ihr wahres Verhältnis. Sie sind nicht nur Onkel und Neffe, sondern auch Vater und Sohn. Damit wird die Klammer zwischen der vorgeschalteten Inzesterzählung und dem Spanienfeldzug geschlossen, denn es liegt nahe, dass Roland dem erzählten geschwisterlichen Inzest entsprungen ist.556 Insofern kann festgehalten werden, dass die vorangestellten scheinbar ‚seichten‘ Sündenepisoden nicht ohne Konsequenzen bleiben. Sie werden in den gesamten Erzählzusammenhang des Textes eingebettet und bilden die Grundlage, auf der sich der Ernst des Spanienfeldzugs, die wahrhaftige Reue und herrscherliche Sakralität Karls entfalten. Zudem bilden Karls Träume als Vorausschau seiner Passion, die der Herrscher als Folge seiner Sündhaftigkeit deutet, den weiteren Handlungsverlauf vor, denn Karl büßt mit seiner Passion – seinem Schmerz um die gefallenen Kämpfer und vor allem um Roland – in Spanien für seine Sünden. Doch seine Passion ist letztlich keine Strafe, sondern übernimmt in Christomimese eine Funktion zur Erfüllung herrscherlicher Heiligkeit. So formt sich aus Karls stigmatisierenden Sünden über mehrfache Inversionen sein Charisma, das sich beim Stricker und im Besonderen im Buch vom heiligen Karl als kanonisierte Heiligkeit manifestiert.

5.6 Zwischenergebnis Karls Sünden betreffen sein Gottesverhältnis, dessen Intaktheit für die Legitimation und den Erfolg seiner Herrschaft zentral ist. Ein sündiger Herrscher gefährdet nicht bloß das eigene Seelenheil und die Herrschaftsposition, sondern auch Leben und

und Buße bezüglich des Spanienfeldzugs ders., Karolus der grosse, S. 133–135 und Ohly, Die Legende von Karl und Roland, S. 71 f. 555 Lundt, Der Mythos vom Kaiser Karl, S. 43. 556 Vgl. für Karls Rede zu Roland über ihr Vater-Sohn-Verhältnis BhK 59,12–24. Vgl. dazu auch Lundt, Der Mythos vom Kaiser Karl, S. 43.

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Heil der ihm von Gott Anvertrauten. Aus diesem Grund betrifft die Inszenierung von Karls Sünden und ihrer Bewältigung das Thema ‚literarische Herrschersakralität‘ im Kern. Wie gezeigt kann Stigmatisierung zu einer Charismatisierung führen, indem der Herrscher – sich in Sünde wähnend – demütig und gottgefällig seinen dem Wohl der Beherrschten verschriebenen Herrschaftsauftrag ausführt. Diese Form der Selbststigmatisierung ist in der Kaiserchronik angelegt und wird im Rolandslied sowie beim Stricker zusehends verstärkt und zu einem charakteristischen Zug der Herrscherfigur, der auch in den Abschnitt des Spanienfeldzugs im Buch vom heiligen Karl übernommen wird. Es handelt sich um ein Modell, das einen Charismatisierungs- und Legitimationsschub durch temporäre (Selbst-)Stigmatisierung als Sünder inszeniert. Die Erzählungen fokussieren Karls Sündenbewusstsein und diskutieren die Frage, unter welchen Bedingungen Gott auch schwerste Sünden vergibt. Die Kaiserchronik zeigt Karl selbststigmatisierend, indem er die Schuld für den Tod seiner Beherrschten auf sich nimmt, Gottes Urteil über sich einfordert, das Volk aber schützen möchte. Bußfertig und reumütig strebt er nach Sündenfreiheit. Die Ägidius-Erzählung führt exemplarisch vor, dass festes Gottvertrauen zur Absolution von jeder noch so schweren Schuld führt, und macht diese Lehre auf verschiedenen Ebenen, durch den Erzähler, den heiligen Ägidius und den göttlichen Himmelsbrief, verbindlich. Entscheidend für das Erwirken der Sündenabsolution ist „echte, wahre Reue“ und wahrhaft reumütig ist Karl nicht nur in der Kaiserchronik, sondern auch im Rolandslied, in Strickers Karl und im entsprechenden Abschnitt des Buchs vom heiligen Karl. Neben dieser modellhaften Lehre wird Karls individuelle Begnadung, also Exzeptionelles inszeniert. Durch den Kontakt mit der Transzendenz, dem heiligen Ägidius und die wunderbare Absolution – und der Text spricht von einem „Wunder“ – der schweren, unsäglichen Sünde wird Karl charismatisiert. Sein unerschütterliches Gottvertrauen und seine Arbeit an der Sündenbewältigung scheinen in individueller Dimension mit der Sicherung des Seelenheils belohnt zu werden. Die Wiederherstellung bzw. Konsolidierung des Gottesverhältnisses trägt zudem zu einer Herrschaftsstabilisierung bei, indem die Legitimationsgrundlage des Gottesgnadentums abgesichert wird. Das Rolandslied und Strickers Karl verweisen auf Ägidius und die Sündenabsolution, ohne die Sünde namentlich zu benennen. Beide Texte steigern gegenüber der Kaiserchronik die Selbststigmatisierung des Herrschers, die sich als habitualisierte Gebets-, Beicht- und Rechtfertigungspraxis formiert und als Fürstenspiegel vom Erzähler zur Nachahmung empfohlen wird. Karl erscheint in dieser Hinsicht als exemplum imitabile. Indem er die Verantwortung für das Volk vor Gott übernimmt und bereit ist, für die eigenen und die Sünden seiner Vorfahren zu büßen, zeigt er sich besonders reumütig und erhält christomorphe Züge. Der Stricker intensiviert die Selbststigmatisierung Karls gegenüber dem Pfaffen Konrad und fügt hinzu, dass Karl sich in Analogie zu David setzt und aus diesem Entsprechungsverhältnis Gottes Gnade erbittet – diese Form der Typologisierung ist eine Sakralisie-

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rungstechnik. Karl deutet in allen oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen die unheilvollen Geschehnisse, das Sterben der Christen in Roncesvalles und das zu ertragende Leid als Strafe für seine Sünden, obgleich sich weder der Erzähler noch die Figuren kritisch zu Karl äußern, ihn als Herrscher diskreditieren oder als Sünder darstellen. Im Gegenteil ermöglicht der Herrscher den Christen das Martyrium, sodass ihr Sterben Erlösung bedeutet und seine angenommene mangelnde Herrscherverantwortung von priesterähnlicher Verantwortung umschlossen bleibt. Zwar legen die ängstigenden Träume das zukünftige Leiden als Sündenbestrafung des Herrschers nahe, doch wird – wie das folgende Kapitel zeigen wird – das Leiden umcodiert als Form der Passion, die ein Martyrium kompensiert und den Herrscher als Heiligen stilisiert. Aus dieser Perspektive ist Leiden ein Privileg und nicht etwa eine Bestrafung. Schließlich manifestiert der Erhalt des Kreuzes nach seiner Selbststigmatisierung und vor der Racheschlacht gegen die Heiden die stabile Gottesbeziehung. Karl wird in diesem Modell durch Selbststigmatisierung und ein im Gegensatz zur eigenen Annahme nicht nur ungestörtes, sondern sogar besonders intensives Gottesverhältnis charismatisiert, das sein Seelenheil sichert, ihm zur Heiligkeit verhilft und die Legitimationsgrundlage seiner Herrschaft darstellt. Das Buch vom heiligen Karl zeigt im Kontext des Spanienfeldzugs in Anlehnung an das Rolandslied und den Stricker einen reumütigen, für das Volk verantwortlichen, gottesfürchtigen und sich selbst als Sünder stigmatisierenden Herrscher. Die Exemplarität dieser Praxis ist gegenüber den Prätexten getilgt, denn es findet sich keine Fürstenspiegel-Dimension, sodass Karl nicht explizit als exemplum imitabile angesprochen wird. Dieser Herrscherdarstellung ist die eigens gestaltete dreiteilige Sündenerzählung vorgeschaltet. Anders als in der Kaiserchronik, im Rolandslied und beim Stricker werden Karls Sünden hier offen erzählt und ausgebreitet. Die Inszenierung des unreflektierten Herrschers, der gleich drei Mal schwer sündigt und dabei frei von Introspektion und Selbststigmatisierung ist, steht jener der Prätexte und des anschließenden Spanienfeldzugs diametral entgegen. Sie erscheint geradezu als Kontrafaktur zum Sündenbewusstsein der Karlsfigur im Rolandslied und beim Stricker. Der Erzähler erklärt auch drei Mal unmissverständlich, dass Karl schwer gesündigt und sich den Zorn Gottes zugezogen habe, der den Frankenherrscher jedoch aufgrund seiner guten Werke für die Christenheit schützen möchte. Das Buch vom heiligen Karl ist der einzige Text, in dem Gott Karl tatsächlich zürnt und der Zorn nicht nur als Element der Selbststigmatisierung vom Herrscher angenommen wird. Erstmals nehmen auch Figuren, die seiner Herrschaft unterworfen sind, Anstoß, denn die Dienerschaft empört sich über die Nekrophilie, Ritter und Landesherren sind verärgert über Karls Tötung des Sohnes ohne Gericht. Ihnen wird die Teilhabe an Herrschaft damit versagt. Dadurch wird eine Störung der Herrschaftsbeziehung indiziert und die kollektive Dimension der herrscherlichen Sünden dargeboten, sodass Karl als rex iniustus erscheint. Doch Gottes Wille und die Hilfe der Heiligen Ägidius und Theodolus salvieren den Herrscher: Karl kann nicht aus Gottes Gnade fallen, sein Charisma sind Gottesnähe, garantiertes Seelenheil

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und Stabilität der Herrschaftsposition. Diese Form der Einzigartigkeit und Exorbitanz Karls kann nicht modellbildend sein und die katalogische Bauform der Sündenerzählung unterstreicht die Aussage: Ganz gleich, welche Sünde Karl begeht und wie oft er sündigt, er wird immer gerettet. Die im Ton unterhaltende und Karl popularisierende Episode reflektiert die kanonisierte Heiligkeit des Herrschers, die im Zürich des ausgehenden 15. Jahrhunderts gilt und im Kult gefeiert wird. Das Erzählen vom sündigenden Herrscher nimmt in den Texten wie gezeigt verschiedene Formen und Medialisierungen an. So wird schließlich der Himmelsbrief, der Karls eine Sünde in der Kaiserchronik diskret vergibt, über einen Formwechsel im Buch vom heiligen Karl in die paradigmatische Wiederholungsstruktur transponiert. Dem diskreten göttlichen Brief steht die schonungslose und bisweilen komische Darstellung der drei Sünden gegenüber und reflektiert die gewandelten Lizenzen der Inszenierung des Herrscherheiligen.

6 Passio cordis: Karls heiligendes Leiden Der Prolog des Strickerschen Karl benennt die arbeite (K 81) des Herrschers, die für seinen Dienst an Gott und der Christenheit signifikant ist. Bastert erkennt in dieser arbeite als Leiden „die für jeden Heiligen unverzichtbare passio, die ihn als Nachfolger Christi erweist“ und beim Stricker „meist als die im Glaubenskampf erlittene Mühe und Not dargestellt ist.“557 Auch der Epilog betont, dass Karl mit also chreftiger not (K 12052), „aufgrund seiner erlittenen Leiden, seiner passio, in den Kreis der Heiligen aufgenommen worden“ ist.558 Genauer scheint es mir hierbei weniger der Glaubenskampf in einer körperlichen Dimension als vielmehr die Sorge um Roland und die Trauer über den Tod der Mitchristen sowie der Umgang des Herrschers mit seiner Verantwortung für die ihm von Gott Anvertrauten zu sein, die Karl – auch über den Spanienfeldzug hinaus – als Heiligen qualifizieren. Da Karl schließlich kein blutiges Martyrium als „größtmögliche Form der imitatio [Christi; F. B.]“ erfährt, „muss Heiligkeit auf andere Weise inszeniert werden“.559 So soll sein exorbitantes Leiden im Folgenden als eine innere, affektiv-emotionale ‚Herzenspassion‘ zur Inszenierung von Heiligkeit begriffen und nachgezeichnet werden:560

557 Bastert, Helden als Heilige, S. 291 f. 558 Ebd., S. 292. 559 Hammer, Heiligkeit als Ambiguitätskategorie, S. 177. 560 Die Wendung ‚affektiv-emotional‘ bringt beide Elemente, ‚Affekt‘ und ‚Emotion‘, zusammen, denn die Beziehung zwischen Karl und seinen Gefolgsleuten weist sowohl affektive als auch emotionale Züge auf. Ich halte mich begrifflich an Klinger: „Wenn ich im Folgenden ‚Affekt‘ und ‚Emotion‘ unterscheide, so beziehe ich mich mit dem Begriff des Affekts auf die situativ gebundene (meist unmittelbar körperlich artikulierte) Gemütsbewegung; ‚Emotion‘ verwende ich zum einen als Oberbegriff, zum anderen, um literarisch hergestellte Affektkomplexionen – die Verbindung un-

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Die passio cordis sakralisiert den Herrscher und fordert zugleich seine Herrschaft heraus, indem Spannungen zwischen Pflichten und affektiven Bindungen entstehen. In diesem Punkt der Erprobung der kollektiven Kohäsion ähneln sich im Übrigen die zuvor besprochenen Sünden des Herrschers und seine Herzenspassion. Auf diese Weise wird die spezifische charismatische Anlage der Karlsfigur und ihrer Herrschaftsbindungen in ihrem gemeinschaftsstiftenden Potential sowie in ihrer Fragilität und störungsanfälligen Beschaffenheit anschaulich. So wird Karl beispielsweise mehrfach zur Mäßigung seiner außerordentlichen und das Kollektiv destabilisierenden Trauer um Roland angehalten und zu aktivem herrscherlichen Handeln aufgerufen. Damit werden das Verhältnis zwischen Herrscher und Kollektiv sowie Formen der Vereinzelung und Vergemeinschaftung entlang der Passion Karls ausgelotet. Darüber hinaus lässt ein vermehrtes Aufkommen von Wundern auf die Bedeutung des herrscherlichen Leidens für sein Gottesverhältnis schließen und auf die Funktion der Passion als Bewährung charismatischer Herrschaft.561 Von hier aus erklärt sich auch, weshalb ausgerechnet das Herz des Herrschers von den Erzählungen fokussiert wird: Denn das herze ist das affektive und emotionale Zentrum der Karlsfigur und bildet den innersten Kern des Herrscherkörpers.562 Als Sitz des Heiligen Geistes, Raum des

terschiedlicher Affekte, Gemütszustände längerer Dauer oder deren Reflexion – zu charakterisieren“ (Judith Klinger: Ohn-Mächtiges Begehren: Zur emotionalen Dimension exzessiver manheit. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten. Berlin/New York 2010 [TMP. 24], S. 196). Vgl. auch Elke Koch: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/New York 2006 (TMP. 8), S. 1 f.; Manuel Braun: Trauer als Textphänomen? Zum Ebenenproblem der mediävistischen Emotionsforschung. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten. Berlin/New York 2010 (TMP. 24), S. 53–86; die jüngere Forschung überblickt Mareike Engel: Laudine trauert. Identitätskonstitution durch Trauerperformanz in Hartmanns von Aue „Iwein“. In: ZfdPh 137 (2018), S. 27–46. Vgl. zur „Sakralisierung der Karlstrauer zur Passion“ (Klinger, Ohn-Mächtiges Begehren, S. 199). Vgl. zum „‚heiligenden‘ Aspekt der compassio“ Karls im Rolandslied Koch, Trauer und Identität, S. 108. Vgl. zuletzt zur Klage Karls um den gefallenen Roland mit Blick auf ihre ‚Freundschaft‘ und zum heiligenden Potential dieses herrscherlichen Leidens im Strickerschen Karl Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 99–113 (mit weiterer Literatur zum Thema). 561 Die erzählten Wunder indizieren eine Permeabilität der Grenze von Transzendenz und Immanenz und stellen sie performativ her – als Prozesse der Sakralisierung rahmen und bewerten sie irdisches Figurenhandeln. Karls sakral legitimierte Herrschaft, die auch charismatisch fundiert ist und deren Geltung wie Stabilität damit auf ihrer Nahbeziehung zur Transzendenz beruht, benötigt die wiederholte persönliche Auszeichnung des Herrschers. Göttlich gewirkte Wunder machen die erfolgreiche Bewährung und Legitimation des Herrschers sichtbar und inszenieren Gottesgnade. Vgl. zur heiligenden Bedeutung von Wundern auch Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 167–180 (mit weiterer Literatur). 562 Vgl. zum Herzen in der Literatur des Mittelalters u. a. Xenja von Ertzdorff: Das Herz in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur. In: Dies.: Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Göppingen 1996 (GAG. 597), S. 21–69 (mit weiteren Literaturhinweisen). Einschlägig für Emotionen und ihre Verbindung zum Herzen sind Koch, Trauer und Identität, u. a. S. 110–116, und für das Rolandslied (im Ab-

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Fühlens und der (göttlichen) Intuition ist das Herz ein entscheidendes Element für die Inszenierung von Herrschersakralität. Das Herz macht Karl zum Charismatiker, denn hier laufen Herrschaft und Heiligkeit zusammen – freilich nicht spannungslos. Der Stricker inseriert seiner Bearbeitung mit dem Verrat Geneluns und der Nominierung Rolands als Statthalter in Spanien Karls bald latent, bald virulent verhandelte passio cordis. Sie resultiert aus seiner Sorge um Roland und den damit einhergehenden kummervollen Erfahrungen, die Karl emotional zusetzen, seine Herrschaft temporär destabilisieren und ihn existenziell bedrohen. Dabei ist die Herzenspassion des Herrschers derart ausgestaltet, dass den Rezipienten eindrückliche szenische Konfigurationen geboten werden, wie zum Beispiel das Wiegen des toten Roland in den Armen des wehklagenden Karl auf dem Schlachtfeld in Roncesvalles – eine Pietà-Darstellung avant la lettre –, die zu einem Nachvollzug der Schmerzen, der Passion, anregen können. So produziert die passio des Herrschers – die im Übrigen selbst eine compassio bezogen auf das Schicksal Rolands und der anderen Märtyrer ist – eine compassio der Rezipienten.563 Da der Stricker die passio cordis gegenüber dem Rolandslied im Wort- und Szenenbestand ausbaut, geht die Analyse in diesem Kapitel von seinem Karl aus und wird flankiert von einem Abgleich mit dem Rolandslied und dem Buch vom heiligen Karl. Die Herzenspassion soll systematisch nachgezeichnet werden, um ihre Bedingungen, Entwicklung und Wendepunkte sowie ihre Einbettung in einen narrativen Kontext der Konfrontation von Herrschaftsgrundlagen und religiösen Anforderungen offenzulegen.564 In die Auseinandersetzung mit Karls Herzenspassion fügt sich auch die Betrachtung des

gleich mit der Chanson de Roland) Heisler, Christusähnlicher Karl; Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft, S. 61–122 sowie Endres, ‚angest‘. 563 Vgl. für die Begrifflichkeiten von ‚Leid/Leiden‘ sowie ‚passio‘ und ‚compassio‘ Katharina Mertens Fleury: Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Berlin/New York 2006 (Scrinium Friburgense. 21), S. 1–47. Mertens-Fleury unterscheidet zwei Typen von compassio: „Praktisch-ethische compassio besteht in einer Analogiesetzung der Passion Christi mit dem eigenen Leiden. Die menschlichen Leiden bedeuten die Bewährung im Kampf gegen die Laster, Askese und Abwendung von der Welt und sind in Geduld zu ertragen. Ausgangs- und Orientierungspunkt von compassio soll Christus sein. Affektive compassio vollzieht sich im Inneren, ist eine erinnernde Betrachtung und Versenkung in Christi Leiden und findet ihren äußeren Ausdruck in Klagen und Tränen. Grundlage für diese Form der Leidenspartizipation und Leidensangleichung ist die Erfahrung eigenen Leidens, das zur Erkenntnis des Leidens anderer, des Nächsten und Christi, erst fähig macht“ (ebd., S. 46). Der Bezug der compassio auf den leidenden Nächsten macht das Konzept übertragbar, so auch auf Karls Beziehung zu Roland sowie die Beziehung der Rezipienten auf die in den Texten dargestellten Formen von passio und compassio. Vgl. auch Ulrich Barton: eleos und compassio. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater. Paderborn 2016, S. 86–112. 564 So verweist auch Koch exemplarisch für die Einfügung „explizite[r] Normkonflikte [...] in Trauerdarstellungen in der Literatur um 1200“ auf das Rolandslied mit der Spannung „zwischen der Trauer um Verwandte und der Herrscherpflicht oder der Jenseitshoffnung“ (dies., Trauer und Identität, S. 136).

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Baligan-Kampfes als körperliche Form der Passion, in der sich der Herrscher aktiv als miles Christi bewährt.565 Karls anschließender Umgang mit den im Kampf gefallenen Christen wird als Prozess der Institutionalisierung von Heiligkeit zur Memoria der Märtyrer und zum Nutzen der religiösen Gemeinschaft beschrieben. Schließlich ist zu zeigen, wie sich Karls Passion beim Stricker und im Buch vom heiligen Karl nicht wie jene der Märtyrer temporär vollzieht, sondern sich jenseits des Spanienfeldzugs bis zum Lebensende perpetuiert. Bei einem konstanten Kern an Darstellungselementen, die über die Textreihe tradiert werden, offenbaren sich in dieser Perspektive in jedem Werk spezifische Modellierungen von Karls herrscherlicher Sakralität bzw. kanonisierter Heiligkeit.

6.1 Grundlagen der Passion: Das Herz des Charismatikers Es geht in diesem Teilkapitel um die Profilierung des kaiserlichen Herzens als Zentrum der affektiv-emotionalen Bindungen an Roland und die Zwölf Paladine. Auf diesen verlässlichen persönlichen Nahbeziehungen gründen Karls Herrschaft und ihre charismatische Qualität. Der Herrscher erweist sich als emotional sensibel und empfänglich für das Schicksal der ihm Anvertrauten – ihr Leiden lässt ihn ‚compassional‘ leiden. Hierin liegt zum einen die besondere Stärke der Herrschaftsbindungen, aber zum anderen auch ein empfindlicher Angriffspunkt, auf den Genelun und die Heiden zielen. Der sich später ereignende und im nächsten Teilkapitel verhandelte Verlust Rolands und der Paladine bedeutet aus diesem Grund einen tiefen Einschnitt für Karls Herrschaft und sein Leben, der als Verletzung seines Herzens imaginiert wird. Entscheidend für die Deutung ist, dass die besondere Bindung zwischen Karl und Roland, der Tod Rolands als Martyrium sowie das Leiden Karls als Herzenspassion göttlich verfügt sind.566 Auf diese Weise werden die immanenten Vorgänge transzendent gerahmt, religiös perspektiviert und als potentiell heilig semantisiert. Als militärische Schutzmannschaft und vertrauter Beraterstab sind die Zwölf Paladine für Karl unabkömmlich.567 Rolands Bedeutung wird mit der Weisung des Engels gesteigert: Gott liebt Roland und Karl soll ihn schützen und lieben, denn so-

565 Vgl. Bastert, Helden als Heilige, S. 291. 566 Vgl. Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 116. Die Verantwortlichkeit des schwer geprüften Herrschers beim Stricker betont Ukena-Best: „So stellt Gott den Herrscher mehrfach vor Prüfungen von besonderer Härte, indem er Unglück, Verrat, Leid und Tod geschehen läßt. Diese Situationen, die Karl wiederholt seine Selbstmächtigkeit verlieren und an den Rand des psychischen und physischen Zusammenbruchs geraten lassen, sind deshalb so brisant, weil ein Versagen des Herrschers Unheil über das ganze Volk bringen würde“ (dies., Providentia Dei, S. 350). 567 Vgl. für eine Analyse der Bindung der Zwölf an Karl unter dem Stichwort der ‚Einmütigkeit‘ bereits Kapitel III.3.

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lange Roland wohlauf ist, hat Karls Herrschaft Bestand: deste baz soltů in minnen; / so mahtů me gewinnen (K 439 f.). Ihre Verbindung wird als ‚Liebe‘ jenseits eines bloß instrumentellen oder – mit Weber gesprochen – zweckrationalen Verhältnisses emotional aufgeladen, sodass Herrscher und Paladin aufs Engste miteinander verbunden sind.568 Auch die affektiv-emotionale Verbundenheit zwischen Karl und der Gruppe der Zwölf wird ausgedrückt, wenn er seine liebesten alle (K 395) zur Beratung über den Zug nach Spanien lädt: di het er lange also bechant, / daz er niht liebers envant (K 483 f.). Karls emotionale Disposition wird in der Verhandlung mit den heidnischen Boten und in der Beratung der Christen deutlich, wenn er vorsätzlich seine Empfindungen verbirgt.569 Eine wesentliche Information zu Karls Herzen gibt der Erzähler in der Heerlagerszene, denn im was besezzen sin můt / mit des heiligen geistes chraft (K 1258 f.) – Karls Herz ist in der Hand des Heiligen Geistes und damit göttlich durchwirkt.570 Es ist Raum der Kommunikation von Transzendenz und Immanenz und von Gott einsehbares sakrales Zentrum der Herrscherfigur. Wenig später deutet Karl die Palmzweige, mit denen die Heiden sich zur Täuschung schmücken: daz selbe zeichen. / daz můz min herce weichen (K 1417 f.). Das weiche Herz ist das des integren und von christlicher Barmherzigkeit erfüllten Herrschers, der seiner Herzensregung in biblischer Referenz Ausdruck verleiht und den Boten Schutz gewährt –571 Karl weiß um sein Herz und sein Funktionieren. Der Stricker fokussiert das Herrscherherz als Zentrum der affektiv-emotionalen Gefolgschaftsbindung und damit Kern der charismatisch begründeten Herrschaft Karls. Irritationen des Herzens indizieren äußere Bedrohungen der Herrschaft oder interne Störungen des Herrschaftsgefüges. Die enge Beziehung zwischen Karl und den Paladinen wird von den Texten weiter thematisiert und wird zum Angelpunkt für die Handlungsmotivation. Als Roland sich als Bote für die Erkundungen am Hofe Marsilies anbietet, möchte Karl ihn nicht entsenden, ine wil dich dar niht senden (K 1888), auch Olivier und Turpin bie-

568 Vgl. K 426–441. Neben der Traditionslinie, die Karl und Roland als Onkel und Neffen kennt, findet sich auch eine Tradition, die Roland als inzestuös gezeugten Sohn Karls vorstellt. So wird sich der Herrscher im Buch vom heiligen Karl dem sterbenden Roland als Vater zu erkennen geben. Im Buch vom heiligen Karl wird durch das Vater-Sohn-Verhältnis (vgl. BhK 68,12–14) die stark affektiv-emotionale Bindungsqualität zwischen den beiden und damit die Intensität der Herzenspassion Karls um Rolands willen plausibilisiert. Federow erkennt hier weniger eine betonte Verwandtschaft als eine Freundschaft der beiden „als Vergemeinschaftung [...], die auf affektueller Zusammengehörigkeit basiert“ (dies., Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 101). Es sei eine „nach außen relativ stark geschlossen[e] [...] besondere[] sowohl vasallitische wie personale[] triuwe-Bindung“, wobei die wechselseitig aufeinander bezogene Handlungsorientierung auf Grundlage „affektueller Motive“ erfolge (ebd.). 569 Vgl. RL 1047–1053; K 1353–1355. 570 Im Buch vom heiligen Karl findet sich diese Angabe ebenfalls (vgl. BhK 34,7 f.). 571 Vgl. K 1420. Im Rolandslied und im Buch vom heiligen Karl wird Karls Herz nicht eigens besprochen, sondern einzig der Effekt, dass sein Zorn weicht.

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ten sich an, letzterem erklärt Karl die Unabkömmlichkeit der Zwölf Paladine: ine wil iwer deheinen von mir lan, / die min hFtent naht unt tach, / wande ich iwer enbern nine mach (K 1930–1932). Genelun wird die Heiden über die Sorge Karls um seine Paladine und insbesondere um Roland unterrichten und den Kaiser darüber anzugreifen versuchen.572 Die Zwölf von Karl zu trennen und sie zu töten, ist der Schlüssel, um den Herrscher emotional zu entkräften und militärisch aus Spanien zu vertreiben. Das Rolandslied bringt die verheerende Wirkung des Verlustes Rolands und der Paladine pointiert zum Ausdruck: ‚[...] werdent die denne erslagen, der keiser en mac sich niemer erhalen. er erstirbet vor laide. sô ne gesuochet er dich niemer mêre haime.‘ (RL 2473–2476)

Beim Stricker legt Genelun den Fokus auf die Bedeutung Rolands, dessen Tod den Kaiser außer Gefecht setzen wird: ‚[...] ich weiz wol, wirt er [Roland; F. B.] erslagen, Karl mag in niht verchlagen. im wirt vor leîde so we, ern gesuchet iuch heime nimmer me. da von t=tet in zehant: so rîtet Karl in sin lant und wirt dar nach nimmer vro. dar ůf enâhte ich niht ein stro, wirt ez im ze schanden, daz er an Růlanden ergouchet ist so sêre, daz uns der immer mêre leiten sol ůf unsern tot. [...]‘ (K 2931–2943)

Rolands Tod wird Karl Schmerzen zufügen, die er nicht verkraften wird, es führt nach Geneluns Plan zu seinem Untergang, dass er derart in Roland ‚vernarrt‘ (ergouchet) ist. Das Ziel für den Angriff der Heiden auf Karl und sein Gefolge ist damit festgelegt: Die charismatischen Bindungen sollen zerstört und der Herrscher damit affektiv-emotional verwundet werden.

572 Vgl. K 2406–2410. Im Buch vom heiligen Karl spricht Genelun ähnlich: Ich schaf üch Ruoland ze töden und das Karlus enweg zücht (BhK 43,12 f.). Vgl. zu Geneluns Plan, diese intensiven Nahbeziehungen anzugreifen, bereits Kapitel III.4.3.

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Nach seiner Rückkehr von Marsilie gelingt es Genelun, die Beratung über das weitere Vorgehen in Spanien so zu steuern, dass Roland in Roncesvalles zurückbleibt: Dô erfulte Genelûn sînen rât, / der unter dem pinboume gefrumt wart (RL 2917 f.). Das Herz des Verräters wird vom Erzähler als Ort angesprochen, an dem die Bosheit ihren Sitz hat und der für die Christen verborgen ist: er het den tivel tougen / gesetzet in sines hercen grunt. / das was in leîder vil unchunt (K 3326–3328).573 An dieser Stelle implementiert das Buch vom heiligen Karl gegenüber dem Rolandslied und Strickers Karl einen Zusatz, der das Herz des Kaisers in einer epistemisch privilegierten Position zeigt. Geneluns Verrat ist für die Augen nicht sichtbar, [d]och seit es dem keyser sin hercz, won im was gar schwer ze muot (BhK 49,2 f.). Das Herz des Kaisers als Sitz des Heiligen Geistes gewährt Einsichten in für das menschliche Auge bzw. die Wahrnehmung der Figuren Verborgenes. Genelun unterbreitet das falsche Unterwerfungsangebot Marsilies und Karl reagiert im Buch vom heiligen Karl wieder mit einer Herzensregung, die den schwärenden Verdacht erhärtet: Nach der red sach Karlus ze himel und was im schwer ze dem herczen und tedt sin gebet ze got (BhK 49,12 f.). Karls Blick zum Himmel verweist auf seine Verbindung zur Transzendenz, die ihm Einsicht in das Herz Geneluns gewährt. So wie Gott in die Herzen der Menschen schaut,574 wird Karl als präreflexive Eingebung ein kurzer Einblick in das Herz des Verräters geboten. Genelun mischt sich im Rolandslied ‚listig‘ (mit listen; RL 2929) und beim Stricker ‚unaufgefordert‘ in den Rat ein: Do chom Genilun vil drate / ungebeten zů dem rate (K 3395 f.). Er schlägt Roland als Statthalter vor und findet die Zustimmung der Fürsten: jâ sprâchen die fürsten alle, / er hæte wole gerâten (RL 2958 f.). Die Berater sehen nicht, was Karl mit seinem Herzen sehen kann, nämlich den Verrat Geneluns. Deshalb bitten sie den Kaiser geschlossen, Roland zu nominieren,575 doch dieser reagiert im Rolandslied wie folgt: Der kaiser harte erblaichte. daz houbet er nider naicte. daz gehœrde von ime flôch. daz gesiune im enzôch. vil trûrlîchen er saz. sich verwandelôte allez, daz an im was, trüebe wâren sîniu ougen. (RL 2965–2971)

573 Vgl. das Buch vom heiligen Karl: won der tiefel hat sin hercz bessessen mitt mortlichen sachen (BhK 48,36–49,1). Beim Stricker hat Genelun selbst den Teufel in sein Herz gesetzt, hier ist es der Teufel, der Geneluns Herz in Besitz genommen hat. 574 homo enim videt ea quae parent Dominus autem intuetur cor (I Sm 16,7). 575 Vgl. RL 2960 f.

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Bleich, gesenkten Hauptes, betäubt, besinnungslos, traurig und mit trüben Augen sitzt Karl verändert vor der Versammlung.576 Diese Beschreibung des Kaisers steht in starkem Kontrast zu seiner Erscheinung in Anwesenheit der Boten Marsilies, denn in der Hoflagerszene strahlt sein Haupt und seine Augen glänzen wie die Sonne.577 Nun erscheint Karl getroffen und in seinem herrscherlichen Wesen erschüttert. Geneluns Plan, dass Karl an Kummer über den Tod Rolands und der anderen Paladine vergehen würde, erfüllt sich hier in kleinem Maßstab bereits bei der Nominierung des geliebten Paladins.578 So wird Karls Passion in die Handlungsführung integriert und auch auf Ebene der figuralen Interaktion plausibilisiert. Diese desaströse psychosomatische Reaktion perspektiviert der Stricker über das Rolandslied hinausgehend auch auf das Herz des Kaisers: im wande sin herce brêchen (K 3453).579 Das vollständige Verwandeln seines Aussehens spiegelt den inneren Aufruhr und markiert einen Wendepunkt in der Handlung, der mit dem Gefühl des ‚Herzbrechens‘ die bevorstehende Trennung von Roland und Karls damit verbundene Herzenspassion einleitet. Karl tadelt Genelun für seinen Vorschlag, ahnt die böse Absicht (ez nist durch nehain guot getan; RL 2978), klagt sein Leid (ir ne getâtet mir nie sô laide; RL 2981) und stimmt gezwungenermaßen dem Ratsbeschluss zu: ‚[...] nâch der Franken urtaile / sô muoz er ez sîn. / nû beschirme in mîn trechtîn‘ (RL 2982–2984). Karl ist mit seiner Sorge um Roland allein, denn Roland verlangt es, in Spanien als Statthalter zurückzubleiben und die Berater begrüßen seine Nominierung. Damit wirkt der Angriff auf die charismatischen Bindungen – Geneluns Wunsch entsprechend – dissoziierend auf das einmütige Verhältnis zwischen Herrscher und Kollektiv.

576 Vgl. die ähnlich formulierte Stelle K 3447–3456. Küsters erkennt ein Versinken Karls „in eine düstere Melancholie“ (Urban Küsters: Klagefiguren: Vom höfischen Umgang mit der Trauer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung. Hrsg. von Gert Kaiser. München 1991 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 12], S. 26) und konstatiert im Rückbezug auf die Verse 47–51 im Rolandslied: „Von Beginn an trägt Karls Profil Züge des Kontemplativen und Melancholischen“ (ebd.). Bereits Endres diagnostiziert eine Melancholie bei Karl (vgl. ders., ‚angest‘, S. 91) und erkennt eine „eruptive und gelegentlich die ganze Person überschwemmende Emotionalität“ (ebd., S. 86): „Konrads Karl erscheint im Gegensatz zum Karl der Chanson schon zu Beginn als tränenselig, emotionsreich und bedrückt. Er betet und weint nächtelang [...]“ (ebd., S. 88). 577 Vgl. zum erlöschenden Augenglanz als Trübung des splendor imperii Klinger, Ohn-Mächtiges Begehren, S. 198. Vgl. zu Karls Reaktion auch Endres, ‚angest‘, S. 81. 578 Vgl. auch Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 103. 579 Das Buch vom heiligen Karl übernimmt den Herzensbezug vom Stricker und formuliert die Passage so: Do nun Karlus marckt, daz es nüt anders mocht sin, den das er Ruoland von im muost lan, do ward sin betruopt so groß, daz er in unmacht fiel, und ward herczklich weinnen und sprach ze Genelun: ‚Mir seit min hercz in mim lib, ich tüege enweg ziechen, daz mich weder gerüwen [...]‘ (BhK 49,34–50,3). Das Herz droht nicht zu brechen wie beim Stricker, doch wird es als ratgebendes und intuitives Organ des Herrschers profiliert.

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Die Sonne geht unter, ez wart ein vinsteriu naht (RL 2987) und Karl bleiben Trauer, Gebete und schreckende Träume, in denen die Sorge um Roland auch als Sorge um die eigene Herrschaft imaginiert wird.580 Unter Tränen schließt Karl Roland und alle Christen in sein Gebet ein und schläft schließlich erschöpft vom andauernden Beten und Weinen ein.581 Die drei Träume, von denen das Rolandslied aufgrund einer Text- bzw. Überlieferungslücke nur die ersten beiden bietet, präsentiert der Stricker vollständig. Karl deutet sie als göttliche Botschaften und bezieht sie auf seine Fehltritte und Sünden.582 Die Träume sind – möglicherweise als Ausdruck von Verlustängsten – zumeist symbolisch auf Roland und den Verräter Genelun bezogen.583 Jeder Traum wird mit einer Reaktion Karls auf das bedrohliche Geschaute abgeschlossen und die Wiederholung dieses Musters steigert die Intensität der marternden Schau. Nach dem dritten Traum begreift Karl die ins Werk gesetzte und zukünftig andauernde Passion als sein Schicksal: er weste wol da was niht wider, / er mFse chumber dûlden (K 3652 f.). Die troume taten im so we (K 3679), dass er vor Kummer nicht mehr schlafen kann und bis zum Morgengrauen betet.584 Die Folge der Träume und des nächtlichen Betens ist eine disparate Gefühlslage zwischen dem Kaiser und seinen ‚sehr fröhlichen‘ (vil vrolîche; K 3725) Fürsten. Karl ist emotional von seinem Kollektiv getrennt, isoliert in Trauer (im wâren diu ougen allez naz; K 3732) und Passionsahnung bei allgemeiner Freude: si waren freuden rîche / allensamt gemeîne, / ane Karl alterseîne (K 3726–3728). Die gegensätzliche Stimmung deutet auf eine Störung der Einmütigkeit und der Kohäsion seines Herrschaftsapparats hin und ergibt sich aus der Ahnung des Verrats und der Sorge um das zukünftige Leiden.585 Genelun versichert Karl, der besorgt ist, sicher nach Aachen zu gelangen, des schützenden Geleits und fordert ihn dazu auf, fröhlich zu sein: habt vil vr=lîchen můt (K 3772; und ir vr=lîche heîm vart; K 3786). Doch Karl entdeckt Genelun als Teufelsmann, als valandes man (K 3788), der ihn vorsätzlich des Schutzes durch die Paladine beraubt habe und damit auch das gesamte ‚Römische Reich‘ in Trauer stürzen werde.586 Jedoch muss Karl auf Drängen der Fürsten und Geneluns – ez ist unser aller rat, / daz ir Růlanden hîe lat (K 3783 f.) – Roland mit

580 Vgl. RL 3020–3080. 581 Vgl. K 3517–3532. 582 Vgl. zu den Träumen und ihrem Bezug zu Karls Sünden bereits Kapitel III.5. 583 Vgl. u. a. Endres, ‚angest‘, S. 94–101. 584 Vgl. K 3680–3682 u. BhK 51,31–33. 585 Lehmann salviert Karls Ängste mit Blick auf das Rolandslied: „Die Ängste des tatenlosen Repräsentanten finden ihre Berechtigung insofern, als die Sorge des Kaisers um seinen Heros, aber auch um die christliche Gemeinschaft als Zeichen seiner Verantwortlichkeit, seiner Hellsichtigkeit und seiner Weisheit gewertet werden“ (Angelika Lehmann: Angst, Gefahr und Angstbewältigung. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung. Hrsg. von Gert Kaiser. München 1991 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 12], S. 221). 586 Vgl. K 3792–3795.

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Spanien belehnen.587 Die Belehnung bereitet Karl Kummer und er erklärt seine existentielle Sorge: es get mir rehte an min leben, / daz ich von dir sol chêren (K 3830 f.). Zu Roland gewandt führt er aus: ‚[...] ine gevorht din nîe so sêre: uns nahent arbeîte. got si din geleîte, Růlant lieber neve min, ich wǣne wir gar gescheîden sin.‘ (K 3836–3840)

Roland geht von Karls Schutz in den Schutz Gottes über und ein darauffolgendes Wunder, das ‚Speerwunder‘, bestätigt als Kommunikation von Transzendenz und Immanenz die tatsächliche Wirkung der Gnade Gottes.588 Karl sieht in Roland die wichtigste Herrschaftsstütze und weiß um sein tödliches Schicksal, sodass er die Belehnung nicht billigt, doch wird sie durch das Wunder göttlich sanktioniert und als Teil eines Heilsplans ausgewiesen. Belehnt und gekrönt reitet Roland nämlich auf eine Anhöhe und stößt seinen Speer in einen Stein, der auf wunderbare Weise nachgibt, sodass der Speer anderthalb Fuß tief einsinkt. Er wiederholt unter den Augen Turpins und Oliviers die Handlung und wieder versinkt der Speer im Stein. Bevor Roland dann zum dritten Mal den Speer in den Stein stößt, ruft er Karl herbei: do besand er sinen =heîn; der quam kFrzlîche dar. nů sazt ern aber anderswar. do sanch er als in einen teîch. der keyser hince gote neich und sah wol, daz sin kraft mit gotes genaden was behaft, unde hîez sin nemen wol war. (K 3892–3899)

Die dreimalige erprobende Durchführung der Handlung an unterschiedlichen Stellen des Steins lässt natürlich-kausalen Erklärungen für das Speerversinken keinen Raum, sondern beweist, dass ein Wunder geschieht. Der Kaiser wendet sich unmittelbar an Gott und erkennt untrüglich, dass ‚Rolands Kraft von Gottes Gnaden‘ ist.

587 In allen Bearbeitungen belehnt Karl Roland zwar mit der Fahne, aber die Krönung des Neffen führen die Fürsten durch (vgl. RL 3147–3151; K 3841–3845; BhK 52,15–17). 588 Das ‚Speerwunder‘ findet sich nicht im Rolandslied und das Buch vom heiligen Karl übernimmt es nicht aus Strickers Karl. Doch wirkt Roland im Buch vom heiligen Karl später ein verwandtes Wunder, wenn er sein Schwert in einen Felsen stößt, aus dem eine Quelle entspringt, die noch bis heute dort zu finden sei (vgl. BhK 59,15–19).

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Roland wird sakralisiert und zugleich wird das irdische Handeln in Karls Herrschaftsverband an göttliche Vorbestimmung zurückgebunden.589 Die Trennung zwischen Karl und Roland ist alternativlos und Rolands Tod in Spanien unausweichlich. Ihre Beziehung wird über den durch das Wunder evidenten Transzendenzbezug trianguliert, sie sind mit Gott im Bunde, in dessen Obhut Karl nun seinen Neffen gibt. Auch das Wiedersehen der beiden nach der Schlacht gegen Marsilie in Roncesvalles wird von einem Wunder als göttlich gewirktem und auf ihre Beziehung bezogenem Zeichen begleitet sein. Als Roland den Kaiser nun auffordert, nach Aachen zurückzukehren, do weînte Karl sere (K 3928), küsst und umarmt Roland wiederholt.590 Unter großem Wehklagen trennen sie sich, es entsteht ein jamer starch und also groz, / daz man den chlagelîchen doz / Fber eine mîle vernam (K 3939–3941). Ihre kummervolle Trennung wird in einen kollektiven Zustand der Trauer eingebettet, sodass die Gemütslage aller Christen mit der des Herrschers an dieser Stelle wieder harmonisiert wird: man vernam so grôzze chlage nîe. / daz tet in allen grôzze not: / si sanden manegen in den tot (K 3946–3948).591 In düsterer heldenepischer Vorwegnahme wird den Rezipienten der Tod der in Spanien Zurückbleibenden angekündigt. Auch Karl wird Roland nicht mehr lebendig wiedersehen: das was daz jungeste mal, / daz in der keyser lebn sach (K 3952 f.). Im Buch vom heiligen Karl gibt das Herz dem Kaiser die Endgültigkeit der Trennung ein, sodass betont wird, dass auf Figurenebene einzig der Herrscher marterndes Zukunftswissen besitzt: Und seit im sin hercz, daz er in lebend nüt mer gesech (BhK 52,32 f.). Damit ist die Gemeinschaft zwischen Karl und seinen Zwölf Paladinen zwar räumlich aufgehoben, doch wird ihre Passion in Roncesvalles den Herrscher empfindlich beeinflussen und Rolands Hornstoß wird zur vollen Ausprägung von Karls Herzenspassion entscheidend beitragen.

6.2 Passionskommunikation: Inkorporation von Leid und kollektive compassio Etwa dreitausend Verse später befindet sich Karl auf dem Rückweg nach Aachen, während die Christen unter der Führung Rolands bis zum Tod kämpfen. Um den weit entfernten Kaiser und sein Heer zur Umkehr nach Roncesvalles zu bewegen, bläst Roland auf Anraten seiner Gefährten Olivier und Turpin sein Horn Olifant so exorbitant, daz im der hirn kopf zespielt / unt daz herce chume ganz behielt (K 6977 f.).

589 So versteht Ukena-Best Roland als „‚heilige[n] Herrscher‘“ (dies., Providentia Dei, S. 353). Ähnlich begreift Federow Roland als „überlegene religiöse Instanz“, als „religiöse[] Autorität“ (dies., Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 110). 590 Vgl. K 3929–3931. 591 Diese kollektive Dimension fehlt im Buch vom heiligen Karl, der Fokus liegt einzig auf der Beziehung zwischen Karl und Roland.

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Roland verausgabt sich und die Anstrengung lässt ihm beinahe das Herz zerspringen. Karl vernimmt den Schall, der ihm emotional schwer zusetzt: m=ht immer man vor leide mit gesundem libe ligen tot, daz wære Karl von der not, diu da mit an sin herce quam, do er Růlandes horn vernam. (K 6982–6986)

Auch das Rolandslied zeigt den Kaiser in einer Ausnahmesituation, doch erst der Stricker macht das Herz zum dominanten affektiv-emotionalen Zentrum der Herrscherfigur.592 Karl ist nicht körperlich angegriffen, sondern am Herzen getroffen – sein Körper ist ‚gesund‘. In dieser Hinsicht bilden die Strapazen, das Aufreiben und die (tödlichen) Verletzungen der Paladine in der Schlacht die leibliche, physische Entsprechung zu Karls innerer, primär psychischer passio bzw. compassio; es finden sich somit zwei unterschiedliche Passionsmodelle.593 Das Leid der Paladine dringt über den Schall von Rolands Horn in den Herrscherkörper und in Karls Herz ein, sodass die Passion über einen ‚Ohren-Herz-Kanal‘ inkorporiert wird. Das geschieht zunächst präreflexiv, denn die vollgültige Auslösung der Herzenspassion setzt eine dechiffrierende Semantisierung des Hornschalls voraus. Karl begreift, dass das Hornsignal von der aussichtslosen Lage der Christen in der Schlacht und von Rolands Tod kündet und fällt in so großes Wehklagen (so michel ungebærde; K 6988), dass es jeden Menschen erbarmen müsse, den richen zů den armen (K 6990).594 Das Erbarmen deutet auf compassionale Effekte der Karlspassion hin, die auch auf Rezipientenseite anvisiert werden.595 Die Textrezeption erhält auf diese Weise eine emotionale und religiös geformte aktivierende, appellative Dimension. Unter Tränen reißt Karl Barthaare aus, ein zwar topischer, aber nicht weniger eindrück-

592 Vgl. RL 6074–6078. Vgl. zu Karls Reaktion auch Klinger, Ohn-Mächtiges Begehren, S. 197–199. Die Chanson de Roland lässt Karl nicht mit Schmerz und Trauer, also passionsförmig, oder mit einer Klage samt Todeswunsch auf Rolands Hornblasen reagieren, sondern mit Grimm und heftigem Zorn (vgl. ChdR 1768–1850): par irur (ChdR 1812); ireement (ChdR 1834); Par grant irur (ChdR 1842). 593 Die Paladine werden von heidnischen Waffen durchbohrt (vgl. z. B. das Sterben Oliviers [K 7500 f.], Walthers [K 7606] und Turpins [K 7630–7634, 7710 f.]). Roland bleibt zwar von tödlichen Verletzungen ausgenommen, doch wird er durch das Blasen des Hornes körperlich versehrt. 594 Die Szene ist im Buch vom heiligen Karl insgesamt reduziert, Karls Reaktionen sind ähnlich wie in der Bearbeitung des Strickers: Do fiel Karlus in unmacht von leid (BhK 62,8 f.). Etwas später heißt es: Und daz hortt Karlus, daz im kraft gebrest. Und ward Karlus klag so groß, daz er erbarmet rich und arm (BhK 62,13–15). Der Herrscher klagt nicht so intensiv wie in Strickers Karl, sein Herz wird hier nicht explizit benannt. 595 Vgl. für das Ausgreifen literarisch inszenierter compassio auf die Rezipienten Mertens-Fleury, Leiden lesen, u. a. S. 157 (zum Parzival); Koch, Trauer und Identität, S. 92–102 (zum Willehalm).

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licher Gestus der schmerzhaften Autoaggression, der die Herzenspassion äußerlich lesbar macht, über Körperspuren visualisiert. Karl wiederholt unter Tränen: ‚owe Rulant, owe! hete mich der tot genomen ê, danne ih dinen tot gelebt han, so het er wol zů mir getan.‘ (K 6993–6996)

Karl beklagt Roland und wünscht den eigenen Tod, bevor er den seines Neffen erleben müsse, denn am nahenden Ende Rolands besteht für den Herrscher kein Zweifel. Diese Gewissheit verdankt sich göttlichem Ratschluss, denn der Engel eröffnete Karl vor dem Spanienfeldzug, dass Roland auf der Heerfahrt das ewige Leben erwerben wird: der sol daz ewige leben / verdienen an der hervart (K 366 f.). Dieses Wissen um das Martyrium, ohne Zeitpunkt und Umstände zu kennen und ohne Möglichkeit, eingreifen zu können, führt bei Karl zur göttlich verfügten Pein. Nicht zuletzt hängt das herrscherliche Schicksal vom Leben seines Neffen ab: an im stet elliu din ere (K 433), verrät der Engel.596 Genelun schilt Karl, denn sein Wehklagen zieme dem Reich nicht und sei ‚unherrscherlich‘ (unchunchliche; K 7002). Karl habe seinen Verstand verloren und solle sein ‚weibliches Klagen‘ unterlassen: tůt iwer wiplich chlagen hin (K 7010). Zwar ist der Versuch Geneluns, seinen Verrat zu verbergen, plump, doch seine Maßregelung berührt die im Folgenden immer wieder verhandelte Frage nach der Kompatibilität von Karls heftiger Trauer mit seinen rationalen Herrscherpflichten. Genelun wird anschließend als Verräter identifiziert und gebunden abgeführt. Dann wirbt Karl bei den Fürsten darum, ihn nach Roncesvalles zu begleiten. Sie stimmen alle bereitwillig zu und brechen rasch auf, denn ihr Gehorsam gegenüber Karl ist ungebrochen, sie folgen ihm gern und streben danach, Roland lebendig anzutreffen.597 Doch mit Rolands Hornstoß ist an freudige Heimkehr nicht mehr zu denken, jene kollektive Freude, die noch bei der Belehnung Rolands herrschte, sich dann aber im Zuge der Trennung trübte, ist nun in ihr Gegenteil, in ‚Unfreude‘, verkehrt: Alsus jamerliche wart ir freuden richiu heim vart an di widervart gecheret unde unfreude an in gemeret. in ersteinten diu hercen und geswullen von dem smercen,

596 Vgl. auch K 434–441. 597 Vgl. K 7049–7067. Im Rolandslied stimmen Karls Gefolgsleute seinem Aufruf zur Umkehr nach Roncesvalles einmütig zu: si sprâchen alle samt mit ainem munde (RL 6135). Eine kollektive Dimension fehlt im Buch vom heiligen Karl; fokussiert wird Karl, der nach Roncesvalles aufbricht, ohne zuvor um Unterstützung zu bitten.

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III Literarische Herrschersakralität

daz si durch den grozzen zorn di sinne heten nach verlorn. (K 7075–7082)

Die Herzen Karls und seiner Fürsten ‚versteinern‘ und ‚schwellen an vor Schmerz‘ und diese veränderten ‚Aggregatzustände‘ des affektiv-emotionalen Zentrums führen zu einer Gemütsveränderung, nämlich zum Ausbruch großen Zornes,598 der wiederum in seiner Heftigkeit beinahe zu einem Verlust der Sinne, des Verstandes führt. Affekte und Emotionen werden so in ihrem Entstehen und ihrem Zusammenhang organologisch bzw. kordiologisch erklärt und das Herz als Mittelpunkt ihrer Erfahrung und Ausdehnung ausgemacht. Karls Herzenspassion verläuft in dieser Phase in einem sozialen Kontext, der mit der Herrschertrauer emotional harmonisiert ist, denn die Christen sind kollektiv in Unfreude und Schmerz verbunden – es herrscht Einmütigkeit. Die von Genelun und den Heiden gewünschte Irritation und Zersetzung des Herrschaftsverbands um Karl durch Rolands (drohenden) Tod führt hier zum Gegenteil, nämlich zur Kohäsion des Kollektivs. Im Folgenden berichtet der Erzähler eindrücklich und bilderreich vom Kampf der Christen in Roncesvalles, vom Tod Oliviers und Walthers, von der tödlichen Verletzung Turpins und dem letzten Aufbäumen Rolands. Im Sterben spricht Turpin schließlich zu Roland: ‚geselle, ir sult gewis sin, daz uns der keyser nahet und also vaste gahet, daz im sin herce blůten mach. ern Fberwindet disen tach an sinen freuden nimmer me: swî ez im an dem libe erge, sin freude ist hienach immer tot. nů senftet im di grozzen not, di er fFr freude hat erchorn, und blaset dar umbe iwer horn, daz er h=re daz ir noch lebt. ich weiz wol, daz er fFr sich strebt und also grozze not hat, diu im an sin herce gat.‘ (K 7730–7744)

Diese Rede über das Herz, die große Drangsal und die für immer zerstörte Freude des Kaisers bedeutet eine Einsicht der Figuren in die Verfassung des Herrschers

598 Bereits im Rolandslied sind die Herzen schmerzerfüllt (vgl. RL 6146) und versteinern – sie schwellen jedoch nicht an vor Schmerz: ir herze wurden sô herte, / daz der grôze sin von in flôh (RL 6153 f). Der Stricker könnte von Wolframs Willehalm inspiriert sein, denn dort dehnt sich das Herz Willehalms, schwillt an und kracht (vgl. dazu Koch, Trauer und Identität, S. 110 f.).

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und sie beglaubigt und verdeutlicht seine Herzenspassion. Turpin ist sich sicher, dass Karl so schnell auf dem Weg nach Roncesvalles ist, dass ihm sein Herz blutet. Als Hysteron-Proteron ist der Schmerz antizipiert, den Karl empfinden wird, wenn er in Roncesvalles angekommen sein und die Christen tot antreffen wird. Turpins Worte werden sich erfüllen, wenn Karls Herz und seine Augen später Blutstränen hervorbringen, die eine psychisch-emotionale mit einer körperlichen Seite der Herzenspassion verbinden. Turpin bemerkt, dass Karl seine grozze[] not (K 7738) selbst gewählt habe, auf Freude verzichte und damit bewusst den Weg der Passion eingeschlagen habe. Die Vorstellung eines selbstbestimmten Passionsweges assoziiert, gerade aus dem Munde des Geistlichen Turpin, eine Christomimese des Herrschers. Um Karl aufzumuntern und von seinem Leben zu künden, bläst Roland das Horn zum zweiten Mal. Der Kaiser vernimmt den Schall und kann Rolands Qualen und seinen baldigen Tod förmlich hören, daz h=re ich an dem horne wol (K 7754).599 Der Hornschall aktualisiert das Martyrium der Paladine, auf das Karl und seine Fürsten entsprechend reagieren:600 Sie verausgaben sich auf dem Weg nach Roncesvalles durch schnelles Reiten und ihre Herzen leiden großen Kummer, grozze not (K 7756). Die Bedrängnis ihrer Herzen ist so groß, dass sie eine ‚Überlast‘ an Kummer schwer niederdrückt. Über diese Darstellung werden die Leiden der Kämpfer in Roncesvalles und der Reiter um Karl parallelisiert und sinnhaft aufeinander bezogen, indem Rolands Hornstöße aufgenommen und von Karl für die Christen gedeutet werden. Auf diese Weise wird eine ‚Passionskommunikation‘ unterhalten, die von Karl und Roland als zentralen Akteuren getragen sowie von ihrem jeweiligen Kollektiv nachvollzogen wird. Die Gemeinschaftsstiftung basiert bei Karl und seinem Gefolge primär auf compassionalem Nachvollzug, der sich in einem zweiten Schritt körperlich artikuliert. Der Erzähler kommentiert, dass allein der Kummer (ungemach; K 7761), den Genelun Karl und den Christen bereitet hat, ausreicht, um ihn ohne den mort (K 7762), den er an Roland und den Christen mit seinem Verrat begeht, zu verurteilen – die Hyperbel umreißt das Ausmaß der Passion. Als sich die Lage weiter zuspitzt und Roland sein Pferd verliert, bläst er das Horn ein drittes Mal: Nu nam aber an di hant sin horn der degn Růlant und blies. daz horte Karl wol. des leides wære ein lant vol, daz in sin eines hercen was. daz er so grozzer not genas, da mag man wunder abe sagn. daz in daz ros moht getragn

599 Rolands Hornstoß findet sich bereits im Rolandslied (vgl. RL 6685–6689) und wird auch ins Buch vom heiligen Karl aufgenommen (vgl. BhK 65,34–36). 600 Vgl. K 7755–7762.

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mit also grozzer swære, seht, daz was wůnderbære. (K 7827–7836)601

Karl vernimmt auch diesen Hornstoß und sein im Herzen eingeschlossenes Leid ist, wie der Erzähler herausstellt, so groß, dass es ein ganzes Land füllen könnte. Das Leid des Herrschers wird über die bei jedem Hornstoß wiederholte Beschreibung und die bildliche Veranschaulichung präsent gehalten und mit der Passion der Kämpfer um Roland als Form compassionalen Nachvollzugs verbunden. Dass Karl diese lebensbedrohliche Bedrängnis überlebt, grenzt an ein wunder (K 7833). Schmerzen und Trauer des Herrschers werden abgemessen und in Metaphern gefasst, die konkrete Gestalt finden: Karls grozze[] swære (K 7835) wirkt als Kummer und ‚Schwere‘, die als Gewicht auf sein Pferd drückt, sodass es ‚wunderbar‘ (wůnderbære; K 7836) ist, dass es ihn noch zu tragen vermag.602 Das Leiden der Figuren spiegelt sich im Leiden ihrer Pferde, zumeist nimmt das Schicksal des Pferds das Schicksal des Reiters vorweg: Rolands und Turpins Pferde werden getötet, bevor ihre Besitzer sterben, und die Christen um Karl reiten ihre Pferde bis zur völligen Erschöpfung von Reiter und Tier. Karl und seine Truppen kündigen ihr Kommen über das Blasen der Hörner an und die Heiden wissen: der keyser chumt, wir sin verlorn: / wir h=ren siniu her horn (K 7855 f.). Karls Unbesiegbarkeit ist für den innerheidnischen Diskurs eine weiterhin gültige und handlungsleitende Annahme.603 Die Heiden ziehen sich zurück und Roland spricht zum toten Olivier mit Bezug zum Herzen des Kaisers: als der keyser vindet dich, / so wirt sin herce leides vol (K 7900 f.).604 Karls emotionale Disposition wird an dieser Stelle von den Figuren treffend besprochen und sein später tatsächlich eintretendes Herzensleiden über den Tod der Paladine wird antizipiert. Schmerzenden Herzens bereitet sich Roland auf seinen Tod vor.605 Er strebt danach, den Kaiser noch einmal zu Gesicht zu bekommen und bewegt sich in Richtung des nahenden Heeres.606 Roland zählt in einer Rede Durndarts Verdienste auf und ver-

601 Diesen Hornstoß führt das Buch vom heiligen Karl ebenfalls (vgl. BhK 66,16–19); im Rolandslied fehlen dieser dritte Hornstoß und seine affektive Wirkung auf Karl. 602 Vgl. für dieses die Schmerzenslast konkretisierende Bild im Willehalm auch Koch, Trauer und Identität, S. 113. 603 Vgl. zum innerheidnischen Karlsdiskurs Kapitel III.4.1. 604 Diese auf Karls Passion abzielenden Reden fehlen im Buch vom heiligen Karl. 605 Vgl. K 7902–7907. 606 Vgl. K 7945–7952. Das Buch vom heiligen Karl geht einen anderen Weg als die Chanson de Roland und das Rolandslied und führt den Gedanken einer Begegnung Karls und Rolands, die der Stricker mit dem Schwertwunder andeutet, konsequent fort. So begehrt Roland, Karl noch einmal zu treffen, und zwar lebend, und das wird ihm gewährt – das Buch vom heiligen Karl weiß dabei, dass es auch Bearbeitungen des Stoffs gibt, die Roland sterben und Karl ihn nur noch tot antreffen lassen: Und begert von got, daz er in liesse leben, uncz daz Karlus kem, daz er in gesach vor sinem tod. Nun sagend etliche buoch, daz er tod were, daz Karlus ze im kam, und daz schwert und horn in den heiden het und Karlus sy also tod büt. Aber die andren buoch sagend, er fundy in noch dan lebendig,

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sucht das Schwert an einem Stein zu zerstören.607 Schließlich legt er sich zum Beten und Sterben auf diesen Stein: eime chriuze leit er sich gelich / nider ůf den selben stein (K 8060 f.).608 Gott nimmt den Handschuh und Rolands Seele entgegen.609 Der Stein erscheint so als Passions- und Opferstein, auf dem sich der Märty-

aber in sterbender not, alß ir hie werdent hören (BhK 67,4–10). Der Bearbeiter überblickt somit den Stoff und seine Quellen und entscheidet sich hier für eine bestimmte Traditionslinie. Vgl. zur Einschreibung des Buchs vom heiligen Karl in einen Karlszyklus Bastert, Helden als Heilige, S. 230. 607 Als einzige der hier untersuchten Bearbeitungen fügt das Buch vom heiligen Karl noch heute sichtbare Spuren Durndarts im Stein hinzu: Die streich man noch sicht (BhK 67,27). Dadurch wird an der Lesbarkeit der Vorgänge für die Nachwelt und an der Beglaubigung der Ereignisse gearbeitet. Mit der Rede über das Schwert wird seine Provenienz aufgedeckt und das Verhältnis zwischen Karl und Roland präzisiert. Vgl. zur Übermittlung Durndarts, den Bezügen zur „Zweischwerterlehre“ und den herrscherlichen Implikationen für das Verhältnis von Karl und Roland Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 78–94; siehe auch Zatloukal, Zwischen Kaiser und Fürst, S. 719–725; Oswald, Gabe und Gewalt, S. 270–272. Über Durndart sind Roland, Karl und Gott miteinander verbunden, wobei die genaue Beschaffenheit der Verbindung von den Texten des Corpus je spezifisch entworfen wird: Es ist immer ein Engel, der Karl das Schwert im Auftrag Gottes im Tal Moriana/Maurienne übergibt (vgl. ChdR 2318–2321; RL 6862–6869; K 364–386 [das Tal wird beim Stricker nicht erwähnt]; vgl. zum Tal Moriana Beckmann, Onomastik, S. 628 f.). In der Chanson de Roland erhält Karl Durendal mit der Anweisung, das Schwert einem ‚Grafen und Heerführer‘ zu übergeben. Damit obliegt dem Herrscher die Freiheit, den künftigen Schwertträger zu bestimmen, sodass die besonders enge Beziehung zwischen Karl und Roland als Resultat sozialer Interaktion und weniger als transzendente Determination erscheint. Im Rolandslied nennt der Engel Roland namentlich als Schwertträger und weist ihn an, sich Durndarts anzunehmen, um für Karl ‚Witwen und Waisen zu schützen‘ (vgl. Jeffrey R. Ashcroft: Miles Dei – gotes ritter: Konrad’s Rolandslied and the Evolution of the Concept of Christian Chivalry. In: Forum for Modern Language Studies 17 [1981], S. 146–166, hier S. 151 f.). Somit ist Rolands Funktion göttlich prädestiniert und er ist in erster Linie Gott und nicht Karl subordiniert. Ähnlich gelagert ist die Übermittlung beim Stricker, doch löst er die Problematik eines subordinierenden Nacheinanders in einem Zugleich auf: Do min got mit dir gedahte / unt dich der engel brahte / minem herren und mir [...] (K 8047–8049). Die grundsätzliche Hierarchie zwischen Karl und Roland bleibt mit der Erstnennung Karls (minem herren) und der Zweitnennung Rolands (und mir) aufrechterhalten. In der Chanson de Roland beschreibt Roland Reliquien, die in den Knauf des Schwertes eingebracht sind, ohne den Urheber dieser Einbringung zu benennen (vgl. ChdR 2346–2348). Im Rolandslied und in Strickers Karl zeichnet Karl für die Einbringung der Reliquien verantwortlich (vgl. RL 6878–6880 u. K 8050 f.). Die Modifikation des göttlichen Schwertes mit heiligen Hinterlassenschaften zeigt Karls sakrale Handlungskompetenzen. Das Buch vom heiligen Karl erzählt dagegen nicht genauer von Durndarts Provenienz, auch die Reliquien im Schwertknauf werden nicht erwähnt, da Rolands Todesrede in diesem Text fehlt. 608 Vgl. zum Sterben Rolands in Analogie zur Passion Christi auch Hammer, Erinnerung und memoria, S. 249 f.; Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 110 f. 609 Vgl. zum Handschuh bereits Kapitel III.3. Vgl. auch Mertens, Religiöse Identität in der mittelhochdeutschen Kreuzzugsepik, S. 80. Karl übergab Genelun den Handschuh, um ihn als Boten zu Marsilie zu entsenden und legte damit das Schicksal der Christen in die Hände des Verräters. Genelun muss, das wird aber in keinem der Texte explizit, den Handschuh nach seiner Rückkehr Karl wiedergegeben haben, denn Roland übergibt ebendiesen Handschuh im Sterben dem Engel und damit Gott. So zirkulierte der ‚heilige‘ Handschuh und ist schließlich wieder an seinem Ursprungs-

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rer Gott darbietet. Roland bittet schließlich Gott, Karl zu helfen, seine Gebote zu erfüllen, und im Kampf für den christlichen Glauben zu unterstützen.610 Auf seinen Tod folgen Wettererscheinungen, die den Zeichen nach Christi Tod und jenen in der Offenbarung des Johannes ähneln.611 Ihre Auswirkungen zeigen sich nicht nur lokal in Spanien, sondern greifen auch auf das Karolingerreich aus: Ein Erdbeben erschüttert die Häuser in Kærlingen und in Spanien lant (K 8121).612 Ins Bild gesetzt wird damit die Erschütterung von Karls Herrschaft durch Rolands Tod. Sein Martyrium beschließt vorerst das Kämpfen und Sterben der Christen in Roncesvalles: Do diu zeichen waren chomn und ende haten genomn, do quam der keyser geritten. swaz er noch het erlitten, daz was ein anegenge. er wart sit zů der lenge so groz und also swǣre, daz er vil ringe wǣre, wær er also bestanden. (K 8141–8149)

Mit dem Speerwunder, bei dem Roland einen Stein wie Wasser durchstach, ist Karlshandlung in Rolandshandlung überführt worden, die nun unter kosmologisch-meteorologischen Wundern wieder an die Herrscherfigur angebunden wird.613 Diese Gelenkstellen der Handlung sind also durch göttlichen Beistand stabilisiert und als notwendige Geschehenswendungen markiert. Dadurch wird im Strickerschen Text das Handlungsgerüst durch sakral aufgeladene Szenen zusammengehalten, die den Einbruch von Transzendenz in Immanenz bezeichnen und sich auf das Verhältnis

ort, in der Transzendenz: Den hantschůch zoher [Roland; F. B.] von der hant, / den got dem keyser hete gesant, / gegen dem himel er in bot (K 8073–8075). 610 Vgl. K 8062–8067. 611 Mt 27,51; Apc 8,7–13; Apc 16,18. Vgl. für Rolands Tod samt Wundern RL 6924–6949 u. BhK 68,30–69,20. 612 Im Buch vom heiligen Karl sind Yspania und Averna (BhK 69,1 f.) die Ortsbezeichnungen zur Ausbreitung der Lichtwunder und meteorologisch-kosmologischen Erscheinungen; vgl. für Averna, gemeint ist wohl die französische Auvergne, auch BhK 72,22; das Rolandslied spricht von ‚den beiden Reichen‘, in denen sich die Erscheinungen zeigen: in den zwain rîchen, / ze Karlingen unt ze Yspaniâ (RL 6929 f.). Zur Bedeutung von ‚Reich‘ bzw. den beiden ‚Reichen‘ siehe Nellmann, Die Reichsidee, S. 168 f. 613 Karl übernimmt nun gemäß dem Zwei-Helden-Modell die Handlung. Ukena-Best unterscheidet „Herrscherheld Karl als Hauptfigur und Ritterheld Roland als Helfer- und Zuordnungsfigur“ (dies., Providentia Dei, S. 329).

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zwischen Karl und Roland beziehen.614 Die nun wieder von Karl getragene Handlung bleibt in ihrem Sinn und in ihrer Motivation auf Roland bezogen, denn sein Märtyrertod eröffnet die heftigste Phase der herrscherlichen passio cordis. Doch noch ist Rolands Tod – anders als den wissenden Rezipienten – dem nahenden Herrscher unkund und Karl klammert sich tragischerweise an die Hoffnung eines Wiedersehens: er gedahte Růlanden / lebndech vinden dennoch, / des gedingen troste er sich doch (K 8150–8152).

6.3 Aushandlungen von Herzenspassion und Herrscherpflicht I: Exorbitante Trauer und kollektive Erlösung Karls Hoffnung, Roland noch lebend anzutreffen, wird jäh zerschlagen, denn den ersten den er tot vant, / daz was sin neve Růlant (K 8153 f.).615 Die Sorge um seinen Neffen wandelt sich in traurige Gewissheit, sodass die abstrakten Bedrohungsszenarien, wie sie Karl in seinen ängstigenden Träumen heimsuchten, als Wirklichkeit erfahren werden. Für Karl bedeutet Rolands Tod den Verlust jedes Trostes, seinem Herzen wird alle Hoffnung entrissen: done was des trostes niht me, / dar an sin herce haftete ê (K 8155 f.). Diese Hoffnungslosigkeit des Herrschers wird beim Anblick der gefallenen Christen in eine kollektiv geteilte psychische und körperliche Erschütterung eingefasst: des erschracten si so sere, daz si niht mohten mere ůf den rossen gesitzzen. si chomen von ir witzzen, do si daz jamerliche leit so rehte grimmechliche sneit, daz ir herce vor leide wielen. von den rossen si nider vielen und giengen ůf den toten hin. (K 8165–8173)616

614 Diese Klammer fehlt in der Chanson de Roland, im Rolandslied sowie im Buch vom heiligen Karl, da einzig der Strickersche Karl das Speerwunder führt. Doch die Kulisse der Wunderzeichen nach Rolands Tod bildet auch im Rolandslied den Hintergrund für den Auftritt Karls und das Auffinden des Neffen. 615 Einzig im Buch vom heiligen Karl trifft Karl Roland noch lebend an (vgl. dazu Kapitel III.6.4). 616 Das Rolandslied legt die exorbitante Trauer der Christen zugrunde und zielt auf eine compassionale Lesart der folgenden Klage- und Passionsszenen ab: ich wæne, ouch iemer mêre werde / clage alsô fraissam. / wer mächte sich des enthaben? (RL 6957–6959) Eine Unsagbarkeitsformel illustriert das Ausmaß der kollektiven Trauer: die nôt nemächte niemen gesrîben, / diu unter in wart (RL 6963 f.). Damit integriert der Pfaffe Konrad Karls Trauer um Roland in die kollektive Trauer um die gefallenen Christen, wodurch Herrscher und Gefolge affektiv-emotional harmonisiert werden.

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Die gemeinschaftliche Leiderfahrung lässt die Herzen aller Christen ‚zerrinnen‘. Der Aggregatzustand ihrer Herzen ändert sich von Versteinerung und Schwellung zu Verflüssigung,617 was metonymisch Tränenfluss aus Trauer über das geflossene Blut der Gefallenen assoziiert.618 Karl und seine Kämpfer stürzen von ihren Pferden und nähern sich den Toten, wodurch die Intensität der Trauer gesteigert wird: da wart ein not under in (K 8174). Den Kaiser, der in der kollektiven Bestürzung nun fokussiert wird, trifft der Anblick der Gefallenen im tiefsten Inneren: Des reinen keysers not, die begonde so swaren, reht als er sinen jaren ein ende mFse machen. im begonde daz herze krachen, im erlasch diu varwe unt diu chraft. in hete des todes meisterschaft vil nach gar Fber wunden. sin freude was verswunden von der grozzen verlust. er slůch sich diche an di brust mit beiden sinen handen. kůme erchande er Růlanden, den lieben neven sinen, unt den bisschoff TFrpinen. (K 8180–8194)619

Die Passion des ‚reinen‘ Kaisers wird an dieser Stelle noch einmal verschärft, denn sie bringt ihn in lebensgefährliche Zustände: Sein Herz bricht und die Verletzung seines affektiv-emotionalen Zentrums als Quell der Lebenskraft und der Herrschaftsbindungen zersetzt den Herrscherkörper von innen nach außen, d. h. die Zerstörung seines Inneren wird äußerlich lesbar. Wie der Erzähler und die christlichen Figuren prophezeit haben, löst sich wegen des Verlustes der Kämpfer seine Freude auf – sin freude was verswunden (K 8188). Mit Roland und Turpin entdeckt Karl die letzten in der Schlacht gestorbenen und die ihm am nächsten stehenden Paladine; auch ihre zehn Gefährten werden aufgefunden, alle übrigen Gefallenen können nicht identifiziert werden. Karl küsst die Zwölf Paladine, den innersten Zirkel seiner charismatisch basierten Herrschaft, und betrauert ihren Tod aus der diesseitigen Perspektive der ‚Reichsehre‘:

617 Vgl. zum ‚Versteinern‘ und ‚Schwellen‘ K 7079 f. 618 Das Buch vom heiligen Karl bietet diese kollektiven Trauer- und Klageszenen nicht – das Zerfließen, Versteinern und Anschwellen aller Herzen fehlt, im Zentrum steht Karls individuelle Trauer als Vater. 619 Diese Leiden des Herrschers stellt das Rolandslied nicht dar.

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‚we mir‘, sprach er, ‚dirre not! Růlant lieber neve min, daz ich nů můz enbern din. nů erbarmez got durch sine not, daz ich ie gelebete dinen tot. dů můst unt di gesellen din mir immer unersetzet sin, di hie mit dir gelegn sint. ir sit gewesen des riches kint. sin ere ist elliu von iu chomen, nů wirt si im ouch mit iu benomen.‘ (K 8202–8212)620

Karl adressiert primär Roland, beklagt seinen schmerzhaften Tod und den inkommensurablen (unersetzet; K 8208) Verlust aller Paladine. Er bedauert weniger das persönliche Schicksal der Gefallenen als vielmehr die Bedeutung ihres Fehlens für seine Herrschaft, wodurch das Leben und Sterben der Christen nicht als individuelle Angelegenheit, sondern in sozialer Dimension bezogen auf den Dienst am Kaiser und am Reich betrachtet wird. Damit ist Karl nicht nur emotional, sondern auch politisch schwer angeschlagen. In religiöser und heilsindividueller Perspektive ist der Märtyrertod jedoch als Eingang in das Reich Gottes eine Wendung zum ewigen Leben und gemäß der im Herrschaftsverband dominanten christlichen Axiologie erstrebenswert. Karls der Immanenz verpflichtete Klage deckt die Problematik der jenseitsorientieren Kreuzzugsideologie für eine stabile Herrschaft im Diesseits auf. Denn in irdisch-herrschaftspraktischer Perspektive – und das ist die Kehrseite des Martyriums – fehlen Karl seine wichtigsten Männer, das Geflecht der charismatisch gestützten Herrschaft scheint zerstört. Diesseitige und jenseitige individuelle und kollektive Funktions- und Werthierarchien werden auf diese Weise sichtbar und ihre bisweilen antinomische Struktur wird über die Inszenierung von Karls Klageverhalten exemplarisch verhandelt. Dass Karl trotz der Verluste Rolands und der anderen Paladine siegreich und damit herrscherlich erfolgreich sein wird,621 auch wenn er sich verloren glaubt, zeigt, dass Karls gnadenvolle Gottesbeziehung das Wichtigste für seine charismatische Herrschaft ist und irdische Verbindungen trotz aller Bedeutung und Intensität sekundär oder in heilsgeschichtlicher Hinsicht bloß instrumenteller Natur sind: Karls sakrale Herrschaft funktioniert ohne Roland, aber nicht ohne Gott. Ein Wunder, das die besondere über den Tod hinausgehende Beziehung zwischen Karl und Roland in Szene setzt, beschließt im Strickerschen Text die erste

620 Das Rolandslied kennt diese Klage auch, doch ist der Fokus auf Roland weniger stark, es geht wie schon zuvor um alle gefallenen Christen (vgl. RL 6972–6982). 621 Vgl. Endres, ‚angest‘, S. 102.

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Klage des Herrschers.622 Roland hält sein Schwert Durndart fest in der Rechten und lässt es sich von niemandem aus der Hand nehmen, außer von Karl: da wart in allen bi bechant, / daz got was mit in beiden, / swi er sie hete gescheiden (K 8220– 8222). Es wird für alle offenbar, dass ihre Verbindung göttlich begnadet und als außeralltägliche, sakrale Beziehung von zwei Gottesdienern zu verstehen ist. Angesichts dieses engen und affektiv aufgeladenen Verhältnisses werden Karls Klage um Roland und seine Herzenspassion plausibilisiert. Doch aus Karls scheinbar göttlich legitimierter und vom Kollektiv akzeptierter Trauer und Passion ergibt sich zunächst eine Gefährdung der Erfüllung seiner militärischen Herrscherpflichten, denn er ist nicht in der Lage, die Verfolgung der fliehenden Heiden aufzunehmen: Im was vor leide so we, daz er niht riten mohte noch ze strite niht entohte. er hete Fber maht geritten und so grozze not erlitten daz er vil nach fFr tot lach. (K 8230–8235)

Seine Trauer und die Verausgabung beim Reiten nach Roncesvalles lassen den Kaiser wie tot am Boden liegen,623 sodass eine kritische Phase erreicht ist, die das christliche Heer um Karl führerlos macht. Es entsteht ein Spannungsmoment, indem sich der Plan Geneluns und der Heiden, Karl durch die Ausschaltung Rolands und der Paladine zu besiegen, zu erfüllen scheint.624 In dieser prekären Lage lässt Gott Karl nicht im Stich und verleiht ihm neue Kraft: Nů quam der engel der sin pflach, / der gap im trost und rat (K 8236 f.). Doch ermahnt der Gottesbote den Kaiser auch scharf. Es sei ein missetat (K 8238), er handle mit der übermäßigen Klage über sein Leid gegen Gottes Gebot: ez ist benamen wider gote, / daz dů din leit so sere chlagest (K 8240 f.). Der Kaiser hat damit das rechte Maß im Umgang mit der persönlichen Trauer verloren und wird aus seiner Lethargie gerissen, denn Gott befiehlt ihm, die Heiden zu verfolgen.625 Persönliche Passion und herrscherliche Pflicht stehen gegeneinander: Auf der einen Seite muss ein Leiden, um als christliche Passion Heiligkeit konstituierend zu wirken, exorbitant sein. Dadurch müssen sich Dauer, Frequenz und Intensität signifi-

622 Der Stricker fügt es gegenüber der Chanson de Roland und dem Rolandslied hinzu; das Buch vom heiligen Karl lässt den Herrscher Roland lebend antreffen, weshalb die vorliegende Szene nicht geboten wird. 623 Das Buch vom heiligen Karl lässt Karl in direkter Rede seine Erschöpfung beteuern: Aber er mocht nüt ritten for leid und jamer und sprach: „Ich han gancz kein kraft me“ (BhK 69,7 f.). Das Rolandslied bietet diesen Einblick in Karls Leiden nicht. 624 Das Rolandslied bezieht Karls Leid auf den Tod aller Kämpfer um Roland: werdent die denne erslagen, / der keiser en mac sich niemer erhalen. / er erstirbet vor laide (RL 2473–2475); der Stricker bezieht Karls Leid dagegen primär auf Rolands Tod (vgl. K 2931–2937). 625 Vgl. zu Karls Lethargie auch Küsters, Klagefiguren, S. 27.

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kant von alltäglichen Schmerz- oder Leiderfahrungen unterscheiden, damit das Leiden jenseits eines gewöhnlichen Maßes und somit als Passion abläuft. Auf der anderen Seite ist die verantwortungsvolle und regulierte Ausübung von Herrschaft mit einer Passion nicht kompatibel, denn die geforderte geistige und körperliche Integrität schließt einen fortdauernden psychischen und körperlichen Ausnahmezustand aus. Aus dieser Antinomie ergibt sich ein Spannungsfeld, das für die Generierung von Herrscherheiligkeit signifikant ist. Wenn Karls Leiden so übermächtig wird, dass er seine herrscherlichen Pflichten, die Sorge für die ihm auf Erden von Gott Anvertrauten und damit seinen Gottesdienst vernachlässigt, verletzt er die göttliche Ordnung. Karl muss für die Heftigkeit seines Leidens getadelt werden, damit es als Passion identifiziert werden und gelten kann. Der Herrscher muss folglich die göttliche Ordnung partiell verletzen, um sich als heilig auszuzeichnen. Auf diese Weise entstehen bereits in der Konstitution von Heiligkeit Spannungen durch Zuwiderlaufen divergenter Ansprüche: Karl muss sich von Gott entfernen, um ihm nahezukommen. Dadurch dass Gott für den Tadel sorgt und Karl zur Erfüllung seiner Herrscherpflicht aufruft, wird die Zurechtweisung in ihrer Ehrverletzung oder Infragestellung des Herrschers depotenziert und vielmehr zum Ausweis einer gottesunmittelbaren Herrschaft – die Transzendenzbezogenheit bedeutet schließlich die Legitimation herrscherlichen Handelns in der Form eines Gottesgnadentums. Karl leistet dem göttlichen Gebot Folge und bittet nach Ermahnung des Engels umgehend darum, dass die Sonne nicht untergehe, ehe er seinen Kummer gerächt habe.626 Die Gewährung des Lichtwunders restituiert Karls Kräfte, seine Zuversicht und seine Beziehung zu Gott – die Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz funktioniert. Aus tiefstem Herzen dankt Karl Gott und die neu gewonnene Stärke und Zuversicht helfen, die fliehenden Heiden zu töten.627 Das gewährte Wunder führt zu einem Charismatisierungsschub des sakralen Herrschers, denn darin, dass Karl das Wunder explizit erbittet und Gott es ihm ‚gnadenhaft‘ gewährt, liegt eine Steigerung gegenüber spontan gewirkten Zeichen – Gott wirkt das Wunder um Karls willen: do tet got durch in / ein genædechlichez wůnder (K 8266 f.).628 Der Erzähler beglaubigt daraufhin die Unwahrscheinlichkeit der Veränderung des Sonnenlaufes durch den Bezug zur alttestamentlichen Josua-Erzählung (Ios 10,12–15): Also tet ouch unser herre got / hi vor in der alten ê (K 8276 f.). Karl wird in eine Reihe mit göttlich Begnadeten gestellt und durch den Rückgriff auf den heiligen Prätext sakral ausgezeichnet. Unter diesen Vorzeichen bahnen sich die Racheschlacht und der Entscheidungskampf zwischen Karl und Baligan an. Die herrscherliche Herzenspassion wird um militärische und körperliche Aspekte erweitert. Nach der Verfolgung der Heiden schlagen die Christen am Abend ihr Lager an der Seybra auf. Karl wird als 626 Vgl. K 8246–8248. 627 Vgl. K 8289–8292. 628 Gott wird später nochmals als Wunderwirker angesprochen: da lie got sin wunder chiesen (K 9658).

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kampfbereiter Herrscher gezeigt, er betet erstmals in Waffen umbe daz ewige heil (K 8349). Ein Engel offenbart ihm in Träumen, waz im noch solde geschehen (K 8354) und informiert Karl über seine ‚Passionszukunft‘. Der Erzähler blendet dann die Geschehnisse bei den Heiden ein:629 Baligan versammelt Könige und sie alle schwören sich mit Drohungen auf Karl ein.630 Die Formierung der Heiden findet synchron statt, nämlich während er in sime troume leit / so maneger slahte arbeit (K 8749 f.). Die Träume bilden keine affektfreie Simulation des Zukünftigen, sondern sind Medien der Passion, die Karl Strapazen durchleiden lassen und dabei von zukünftigen Strapazen künden. Am nächsten Morgen führt der Herrscher eine ‚große Klage‘ beide umbe Růlandes tot / und umbe di chunftigen not, / di er in dem troume sach (K 8755–8757). Die Verknüpfung von Rolands Tod mit dem Leiden der Christen in Gegenwart und Zukunft stiftet einen Sinnzusammenhang und eine Kontinuität im passionszentrierten Selbstverständnis der Karlsfigur. In diesem Sinne deutet der Herrscher die göttlich eingegebenen Träume für sein Gefolge: ‚wir habn nie so groz leit. / unser not unde unser arbeit, / dine sint noch niht verendet [...]‘ (K 8759–8761). Und er übernimmt die Verantwortung für die Passion, die auch sein Gefolge in Mitleidenschaft ziehen wird.631 Dann gibt Karls Herz, sin můt (K 8793), ihm ein,632 nach Roncesvalles zurückzureiten und Gott durch die Bestattung der Toten zu ehren. Karls Ratgeber unterstützen die Eingebung seines Herzens. Doch Karl gelangt nicht zurück nach Roncesvalles, denn er wird auf dem Weg von zwei Boten Baligans abgefangen, die ihn schroff zum Kampf mit ihrem Herrn auffordern. Karl reagiert zornig: do begunde der keyser den bart / harte zornliche streîchen (K 8832 f.). Sein Kampfgeist wird geweckt, er erklärt seinen herrscherlichen Rang und nimmt Baligans Kampfansage an.633 In einer ausführlichen Rede an seine Gefolgsleute ermuntert sie der werde gotes man (K 8872), Gott zu folgen und zu dienen. Der Herrscher übernimmt in der Rolle einer geistlichen Autorität die Auslegung des göttlichen Willens und bildet den Konflikt mit Baligan auf biblische Konstellationen ab.634 Seine Herzenspassion und das Leiden der Christen werden religiös abgesichert und die Passion wird als Prüfung verstanden. Karl und sein Heer werden dabei nicht als profaner Truppenverband, sondern als Gottes-

629 Diese Erzählerregie findet sich auch im Buch vom heiligen Karl: Nun lassend wir die red nun von Karlus und sagend, wie es dem küng Marsilyus ergieng (BhK 70,29 f.). 630 Vgl. K 8667–8671. 631 Vgl. zu Karls Sünden und seiner Selbststigmatisierung bereits Kapitel III.5. Vgl. für diese ähnlich angelegte Szene BhK 73,26–35. 632 Nur in Strickers Karl ist es das Herz, das diesen Entschluss eingibt. 633 Vgl. zu dieser in allen oberdeutschen Bearbeitungen konstant überlieferten Selbstaussage auch RL 7651–7676; K 8831–8864; BhK 74,24–34; sie fehlt in der Chanson de Roland (vgl. ChdR 2982– 2986). 634 Vgl. K 8873–8944.

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diener und pilgerine (K 8954) angesprochen.635 Über diese gemeinschaftsstiftenden Deutungen wird die Sorge vor den bevorstehenden Leiden in ‚Passionsfreude‘ verwandelt: si vreuten sich der arbeit (K 8949). Die ‚Freude an der Mühsal‘ schließt für Karl (immerwährenden) Schmerz über den Verlust Rolands ein. Und so erklärt er, als er Rapot und Wineman Horn und Schwert Rolands aushändigt:636 der jamer siner verlust můz immer bowen mine brust. ez tůt mir not, daz ich des gihe. daz ich sin hiute nine sihe, daz ist mir maneges leides wert. (K 8973–8977)

Karl spornt seine Truppenführer an und macht Rolands Tod zum motivationalen Aufhänger, die Heiden zu vernichten und somit das Werk des Paladins zu vollenden.637 Für Karl bedeutet die Erinnerung an Roland stets so großen ‚Jammer‘, daz er in nie genande / weder offenbar noch tougen, / ezen weinden siniu ougen (K 9064– 9066). Aus tiefstem Herzen betet er zu Gott, dem elliu herce sint erchant (K 9530), und reitet in die Schlacht. Der Kaiser führt dabei eine Fahne mit sich, die Christus und Petrus darstellt – die Oriflamme,638 für deren descriptio der Erzähler die Hand635 Zugleich ist Karl hier als Feldherr aktiv, stellt wie im Rolandslied (vgl. RL 7765–7870) das Heer auf und gibt taktische Anweisungen. 636 Das Buch vom heiligen Karl bezeichnet Wineman und Rapot kohärenterweise als seine zwen bruodern (BhK 75,17), die in Karls Kindheits- und Jugendgeschichte einen Mordanschlag planen, aber schließlich von ihm begnadigt werden (vgl. dazu Kapitel II.2.1). 637 Vgl. K 9005, 9014–9017, 9026, 9034–9037, 9046–9048, 9109 f. 638 Vgl. ChdR 3092–3095. Steinsieck erklärt zur Fahne in der Chanson de Roland das Folgende: „oriflambe zu ‚aurita flammula, bannière entaillée‘ (‚petite flamme oreillée‘), eingeschnittene kleine Fahne. Die Fahne war von roter (nicht goldener!) Farbe und hatte den Grafen von Vexin gehört, kam 1077 durch Philipp I. in die Hände der Äbte von St-Denis. [...] Papst Leo III. hatte Karl dem Großen in der Tat ein ‚vexillum‘, eine kleine grüne Fahne, zum Geschenk gemacht [...], aber über die Verleihung von heiligen Fahnen durch Päpste haben wir vor der Zeit Heinrichs III. keine Nachrichten [...]. Papst Alexander II. hatte dem Normannen Guillaume de Montreuil das ‚vexillum sancti Petri‘ verliehen [...]. Diese Petersfahne erhält im Rolandslied den Namen ‚Romaine‘. Sie erhält hier den Namen ‚Munjoie‘ [...], und dies belegt, daß die ‚enseigne‘ [...] sowohl das optische als auch das akustische Zeichen bezeichnet. Die ‚oriflambe‘ der Abtei St-Denis erlangt dadurch höchste Bedeutung“ (ders., Anmerkungen, S. 366; vgl. ebd. für weiterführende Literatur). Vgl. ausführlich zur oriflambe Beckmann, Onomastik, S. 548–552 u. 590. Zur Fahne Karls im Rolandslied des Pfaffen Konrad vgl. Quast, Bedrohte Christenheit, S. 35 f. u. 38. Siehe auch Kartschoke, Kommentar, S. 738 f. sowie Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 106–122. Canisius-Loppnow verfolgt die Frage nach dem Verhältnis von Kaiser und Kirche und hält in ihrer Analyse fest, „daß Karl der Große sich selbst als Eigentümer der Fahne betrachtet“ (ebd., S. 111) und als „Fahnenträger des Apostels Petrus“ (ebd., S. 115) und „Untervogt St. Peters“ gezeigt wird, der wiederum „Obervogt der römischen Kirche“ ist (ebd., S. 121). Karl tritt damit „zu gleicher Zeit als Mann des heiligen Petrus und als Vogtherr der römischen Kirche“ auf (ebd.) – die Fahne ist also nicht „Belehnungssymbol des Papstes“ (ebd., S. 122), sondern zeigt die kaiserliche Schutzherrschaft über die römische Kirche.

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lung unterbricht:639 Sie zeigt Christus richtend als Pantokrator bzw. Salvator Mundi und fasst das Zentrum mit einer Gloriole bzw. Mandorla ein.640 Das Bildprogramm formuliert Karls Anspruch, in Gottes Namen zu handeln und einen gerecht(fertigt)en Krieg zu führen. Die Verteilung von Recht und Unrecht, Leben und Tod ist damit symbolisch vorentschieden und Karl richtet analog zur Christusfigur über die Heiden. Zu Füßen Christi empfängt Petrus die Schlüssel und damit die Gewalt, zu binden und zu lösen.641 Als erster Bischof Roms bedeutet Petrus päpstliche Herrschaft, die Karl in der Vorstellung des Rolandslieds in seine Kaiserherrschaft integriert, sodass ihm die (höchste) Gewalt des Bindens und Lösens zukommt.642 Die Fahne autorisiert den Kaiser religiös und legitimiert seinen Krieg, sodass sakral fundierte Herrschaft öffentlich sicht- und lesbar gemacht wird. Im Rolandslied fallen der Kaiser und sein Gefolge zum Gebet unter der Fahne nieder: der kaiser viel sîne venie / mit aller menige / in allen vier ende der werlte (RL 7903–7905).643 Beim Stricker fällt der Kaiser allein nieder und betet stellvertetend fFr alle di kristenheit (K 9223);644 das Buch vom heiligen Karl übernimmt und verstärkt den Strickerschen Fokus auf Karl.645 In der Fahne des Kaisers in Verbindung mit der Gebetshandlung artikuliert sich ein geradezu universaler Geltungsanspruch als Rolands Tod rächender Richter über Leben und Tod der Heiden. Die folgenden Kampfhandlungen unter dem Zeichen der Fahne sind mit der Erinnerung an Roland und dem Schmerz Karls und der Christen aufgrund der Verluste imprägniert. Karl greift demnach einzig aus Gründen der Rache zum Schwert, er kämpft, weil Roland durch die List Geneluns und der Heiden gestorben ist. Während der Schlacht wird Karls göttliche Begnadung gezeigt und er wird vor allem körperlich gefordert – eine neue Facette seiner Passion und Prüfung als Herrscher. Karl erblickt Baligan und wendet sich an Gott.646 Der Kampf wird biblisch analogi-

639 Der Stricker übernimmt die Passage aus dem Rolandslied (RL 7895–7902) ohne größere Veränderungen (K 9167–9178); hinzugekommen ist die Bezeichnung der Fahne als des keysers zeichen (K 9168). Auch das Buch vom heiligen Karl hält sich an seine Prätexte (vgl. BhK 75,31–35); die Fahne wird hier als ‚Banner‘ (vgl. BhK 75,31) bezeichnet. 640 Vgl. als zugrunde liegende biblische Stelle Mt 25,31–46. „Die frz. Königsfahne, die Oriflamme, war wohl bildlos. Daß der Pfaffe Konrad sie mit dem Bild Christi in der Gloriole oder Mandorla [...] schmückte, ist vielleicht als Explikation des Namens orieflambe zu erklären: die Aureole, die sich der deutsche Autor vorgestellt haben wird, verlangt nach einem bedeutsamen Zentrum, von dem der Goldglanz strahlenförmig ausgeht“ (Kartschoke, Kommentar, S. 738). Vgl. auch Weber, Strickers Karl der Große, S. 611. 641 et tibi dabo claves regni caelorum et quodcumque ligaveris super terram erit ligatum et in caelis et quodcumque solveris super terram erit solutum in caelis (Mt 16,19). 642 Vgl. für das Verhältnis von Papst und Kaiser beim Stricker bereits Kapitel III.2 und Brandt, erniuwet, S. 197–230. 643 Vgl. hierzu Quast, Bedrohte Christenheit, S. 35 f. 644 Vgl. K 9179–9184. 645 Vgl. BhK 75,35–76,1. 646 Vgl. K 9937 f.

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siert als Auseinandersetzung zwischen David und Goliath, so trägt Baligan zwei Rüstungen (zwene halsperge; K 9999) und geriert sich als unbesiegbar. Nach Wortgefechten und intensivem Kampf ermüdet Karl, Baligan schlägt ihm den Helm ab und versehrt dabei sein Haar.647 Der Angriff auf den Herrscherkörper bildet den Höhepunkt des Konflikts und in diesem Moment höchster Bedrohung wird die Entscheidung über Leben und Tod in der Transzendenz, von Gott, getroffen: do gedahte ouch got ettwes (K 10121).648 Karl empfängt Unterstützung und Trost, denn er horte, daz got selbe sprach / von dem himel her nider (K 10126 f.). Dadurch liegt, das wird hier ganz deutlich, die Quelle von Karls besonderen Fähigkeiten, die ihn als Herrscher qualifizieren, nicht in persönlicher kämpferischer Stärke oder autonom geschöpfter Zuversicht, sondern – gegen den innerheidnischen Diskurs –649 in seinem Nahverhältnis zur Transzendenz. Seine Stärke ist, anders als die zwei Rüstungen des heidnischen Gegners, nicht von dieser Welt, sondern von Gottes Gnaden. Später wird Karl, wie der Erzähler angibt, berichten, dass er weder zuvor noch danach über eine solche ‚übermenschliche Kraft‘ verfügt habe wie in diesem Moment des Baligan-Kampfes.650 Damit werden die Exorbitanz und Exzeptionalität der herrscherlichen Kräfte von Karl reflektiert und über die Form des persönlichen Statements des Charismatikers biographisch angeeignet. Gott fordert Karl auf, růwe, sælde und chraft (K 10129) zu bewahren und um seiner Ehre willen die Heidenschaft zu vernichten.651 Über Baligan sei das urteil (K 10133) gesprochen, das Karl nun zu vollstrecken habe – der Sieg sei gewiss.652 Indem beim Stricker Gott selbst spricht, wird die besondere Gottesnähe des Herrschers über die Unmittelbarkeit der Kommunikation intensiviert.653 Imma-

647 Vgl. K 10114–10116. In der Chanson de Roland trennt Baligan Karl Teile der Kopfhaut ab und legt den Schädel bloß (vgl. ChdR 3603–3607); dagegen werden im Rolandslied und den darauffolgenden Bearbeitungen einzig die Haare abgeschnitten, sodass der Herrscherkörper an der Peripherie berührt, aber nicht ernsthaft verletzt wird. 648 Das Buch vom heiligen Karl zeigt den entscheidenden Eingriff in den Kampf nicht als spontane Handlung Gottes, sondern, anders als das Rolandslied und Strickers Karl (und die Chanson de Roland), als Folge von Karls Bitte: Do nun Karlus also in nötten was, do ruoft er got an, daz er im kraft und macht geb, won sin kraft wer nüt me und vermöcht an in nüd. Und do trost in got [...] (BhK 80,2–4). Damit fällt die Tröstung Karls wie auch das Sonnenwunder in die Kategorie der vom Herrscher erbetenen und von Gott gewährten Wunder, die den Herrscher im Besonderen charismatisieren. 649 Der Baligan-Kampf bedeutet eine Zuspitzung der Konfrontation der heidnischen und christlichen Axiologien und Diskurse, die Karl und seine herrscherliche Geltung betreffen. Vgl. zur religionsspezifischen diskursiven Geltung Karls bereits Kapitel III.4. 650 Vgl. K 10141 f. Diese Selbstaussage führen die anderen Texte des Corpus nicht. 651 Vgl. K 10128–10131. 652 Vgl. K 10132–10136. 653 In der Chanson de Roland spricht der Engel Gabriel den Herrscher an (vgl. ChdR 3610–3614; Quant Carles oït la seinte voiz de l’angle; ChdR 3612). Im Rolandslied spricht eine ‚Stimme‘ zu Karl, die angibt, dass Gott Karl helfe, was darauf schließen lässt, dass es sich um die Stimme eines Engels handelt, der im Auftrag Gottes erscheint (vgl. RL 8542–8550); im Buch vom heiligen Karl (vgl. BhK 80,2–10) wird die Stimme hingegen nicht näher qualifiziert.

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nenz und Transzendenz sind sich nah, „[i]rdische und himmlische Sphäre erscheinen gegeneinander durchlässig für den Erwählten.“654 Karl verneigt sich vor Gott und vollstreckt sein Urteil, indem er Baligan mit zwei Schwertstreichen tötet und damit die Schlacht entscheidet.655 Als Reaktion auf die herrscherliche Bewährung im Kampf für das Kollektiv sendet Gott ein Lichtwunder, um die Christen für die anschließende Verfolgung der fliehenden Heiden zu erfrischen: er gap in kraft und wizze (K 10154). Auf diese Weise, so lässt sich folgern, wird hier die Gottesgnade, die Karl im Kampf mit Baligan zuteilwurde, auf die Gemeinschaft übertragen und kollektive Heilspartizipation an gelingendes individuelles Herrscherhandeln geknüpft.

6.4 Aushandlungen von Herzenspassion und Herrscherpflicht II: Persönliche Heiligung durch herrscherliche Desintegration Nach dem Schlachtensieg, der eine kämpferische Bewährung des herrscherlichen Charismas bedeutet, bleibt Karls Herzenspassion im Fokus der Erzählung, wobei das Ausmaß des Leidens durch die Ermahnungen der konvertierten Königin Juliane (Brechmunda) reguliert wird. Diese Regulation indiziert die Exorbitanz der herrscherlichen Trauer und die Spannung zu den herrscherlichen Pflichten, da Karl temporär die Ordnung des Herrschaftsverbands verlässt. Höhepunkt der Passion ist die Pietàförmige Trauer um Roland und die Produktion von Blutstränen, die Karls Herzen entspringen und als Reliquien in Roncesvalles verbleiben. Unterdessen sind die Bergung und Bestattung der Toten sowie die Gründung eines Spitals und einer Kirche zum Gedenken der Märtyrer und insbesondere Rolands zentrale Anliegen des Herrschers, die die Handlung strukturieren. Brechmunda (Juliane) empfindet ‚tödlichen Herzschmerz‘ (toͤtlich herce sere; K 10196) darüber, dass ihr Mann, König Marsilie, mit dem Tod sein Seelenheil verspielt hat.656 Sie empfängt das Christenheer in Saragossa mit geöffneten Stadttoren

654 Gerok-Reiter, Figur und Figuration, S. 181. 655 Vgl. K 10143–10149. 656 Vgl. zu möglichen Quellen der Figurengestaltung der Brechmunda (Juliane) von der Burg, Strickers Karl der Große, S. 279 f. Vgl. zur Strickerschen Brechmunda auch Brandt, erniuwet, S. 113: „Die Alda/Alite- und die Brechmunda/Juliane-Passagen sind lediglich dazu da, das Verzichtideal bzw. das traditionelle Konzept von der besonderen Empfänglichkeit der Frau für religiöse Belehrungen zu bestätigen.“ Diese Einschätzung übersieht jedoch die Tiefe und narrative Funktion der beiden Frauenfiguren und insbesondere Brechmundas (Julianes), wie die Ausführungen im vorliegenden Kapitel und bereits in Kapitel III.4.3 aufzeigen. Vgl. zu Brechmunda (Juliane) und Alite in der Chanson de Roland, dem Rolandslied und Strickers Karl auch Matthias Meyer: Monologische und dialogische Männlichkeit in Rolandsliedversionen. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Baisch u. a. Göttingen 2003 (Aventiuren. 1), S. 25–50.

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und fällt vor Karl nieder in der Einsicht, dem Teufel gedient zu haben,657 nun aber bereit zur Konversion zu sein: ich geloube an iwer warheit / und bin des toufes bereit (K 10241 f.). Ihr Herz verlangt nach der christlichen Religion, ez ist ein girde des herce min (K 10248), und sie unterwirft sich Karl und Gott. Karl selbst tauft sie, er hůp di frowen (K 10265), und Juliane (Brechmunda) dient Gott, indem sie ein Bistum stiftet, dem sie ihren gesamten Besitz vermacht: als rehte vollechliche / quam ir der heilige geist zů (K 10278 f.). Auf diese Weise ist Juliane (Brechmunda) religiös ausgezeichnet und spirituell besonders begabt. Sie nimmt alles, was Karl von Gott spricht, mit dem Herzen auf und setzt es mit Werken um.658 Sie begleitet Karl auf das Feld der Baligan-Schlacht zur Bergung der Toten. Beim Anblick der gefallenen Christen setzen Karls Klagen wieder ein, sodass sich seine Herzenspassion Bahn bricht, die während des Kampfes mit Baligan hinter eine körperlich-kämpferische Passion als miles Christi zurücktrat: daz ir so maneger lag erslagen, / daz begonde Karl sere chlagen (K 10315 f.). Doch als Juliane (Brechmunda) auf die heftigen Klagen aufmerksam wird, ermahnt sie den Kaiser, bei Gott seine Klage zu unterlassen.659 Die Toten hätten den Segen Gottes erhalten und lebten ewig vor Gott, sodass ihr Tod nichts Schlechtes habe, sondern etwas Gutes, ‚sælde Bringendes‘: ir tot ist sældebære (K 10325). Sie ruft dazu auf, den Nutzen und die helfende Funktion der heiligen Märtyrer zu erkennen: got mFzze uns ir geniezzen lan, / sie sint alle heilich ane wan (K 10329 f.). Karls Trauer macht die irdische Unbegreiflichkeit der Heilswege Gottes anschaulich und verdankt sich dem schwerwiegenden Verlust jener Vertrauten, die für seine charismatische Herrschaft zentral waren.660 Dagegen offenbart Juliane (Brechmunda) im Sinne christlicher Axiologie und Martyriumsideologie die Bedeutung des Martyriums als lohnversprechende Form des Gottesdienstes. Die Rede der soeben konvertierten Königin ist ein ‚Wunder‘ und ihre Worte wirken auf Karl ebenso wie die Worte des Engels oder Gottes, was Juliane (Brechmunda) als Sprachrohr der Transzendenz ausweist:

657 Vgl. K 10238. 658 Vgl. K 10290–10293. Die Konversion wird im Buch vom heiligen Karl als Eingriff Gottes eingeleitet: do kam die götlich gnad in sy, daz sy begond denken, daz der Cristnen got ein gewarer got wer (BhK 80,27 f.). 659 Nach Ott-Meimberg belehrt Juliane (Brechmunda) Karl „auch zum Zeichen ihrer Integration in die christliche Rechtsordnung“ (dies., Staatsroman, S. 169). 660 Das Buch vom heiligen Karl greift auch auf die Nahbeziehungen bzw. die Familie Karls zurück, um seine Trauer auszulösen, denn unter den Gefallenen ist auch Karls (Halb-)Bruder Rapote – do gehuob er sich gar ubel, won sin bruoder Rapote was ouch erschlagen (BhK 81,20 f.). In den anderen zur Untersuchung stehenden Bearbeitungen sind keine in der Baligan-Schlacht gefallenen Christen erwähnt, die Karl besonders nahestanden, sodass der Bearbeiter des Zürcher Buchs das Trauer- und Passionsszenario Karls mit Blick auf seine verwandtschaftlichen Beziehungen vertieft. Rapote erhält im Übrigen auch eine besondere Behandlung, indem er in einem Marmorsarg neben andern edlen (BhK 81,31) beigesetzt und zur Kirche des heiligen Romanus verbracht wird.

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Nů nam den keyser wůnder unt die kristen al besunder, daz sie so wisliche sprach. er mazete sin ungemach und chlagete sie niht mere da nach so rehte sere, als er da vor tet. (K 10331–10337)

Den Kaiser und die Christen erstaunt die Weisheit der Königin und Karl mäßigt seine Trauer. Das Maßhalten korrigiert als Affektregulierung die außerordentliche, aber passionsnotwendige Trauer zu einer herrscherlichen Haltung. Die Anforderungen an Heiligkeit und Herrschaft zeigen – wie im Zuge der ersten Ermahnung Karls durch den Engel – ein spannungsvolles, antinomisches Verhältnis, das stets situativ neu auszuhandeln ist.661 Die Zurechtweisung durch Juliane (Brechmunda) diskreditiert den Herrscher nicht, denn als mit dem Heiligen Geist begabte und legitimierte religiöse Expertin kommt ihr eine Weisungsbefugnis zu.662 Dass Juliane (Brechmunda) gemäß der christlichen Axiologie und gottbegabt spricht, wird von den Figuren als ‚Wunder‘ begriffen und damit folgerichtig als Einbruch von Transzendenz in Immanenz Gott zugerechnet. Umgehend kommt Karl seinen Herrscherpflichten nach und koordiniert den Umgang mit den Folgen der Schlacht: Verletzte werden versorgt, die Toten bestattet und besonders herausragende Kämpfer in edlen Marmorsärgen beigesetzt, die – zur Kirche des heiligen Romanus nach Blaye geschickt – Krankenheilungen erwirken und zur Etablierung des am Jakobsweg gelegenen Pilgerortes beitragen.663 Diese miracula post mortem beglaubigen den heiligen Märtyrerstatus der gefallenen Kämpfer und beweisen die Erfüllung des Kreuzzugsversprechens, das ewige Leben im Gottesdienst zu verdienen. Die zurückliegende Auseinandersetzung mit Baligan hat Karl als körperliche Bedrängnis herausgefordert, die – obgleich beide Passionsformen auf Ausdrucksseite identisch als not (K 10359) bezeichnet werden – auf einer anderen Ebene rangiert als das innere affektiv-emotionale Leiden, das sich aus dem inkommensurablen Verlust Rolands ergibt. Doch Karls Herzenspassion wird über die mit dem Sieg über Baligan abgeschlossenen temporären kriegerischen Handlungen und das Ende der Spanienmission hinausgehend auf Dauer gestellt und begleitet den Herrscher als perpetuierte Pein. Roland und die Paladine werden im Rolandslied bereits vor der BaliganSchlacht bestattet. Indem der Stricker entgegen seinem Prätext ihre Bestattung durch die Inserierung der Baligan-Schlacht trennt – worin ihm das Buch vom heili-

661 Vgl. zu den Ermahnungen Karls, zu seinem Umgang mit seinem Leid und seiner Trauer aufgrund von Rolands Tod mit Blick auf die Spannung zwischen Heiligkeit und Freundschaft Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 112 f. 662 Vgl. K 10278 f. 663 Vgl. K 10345–10356.

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gen Karl folgt –, entsteht ein roter Faden der herrscherlichen Passion. Sie wird noch stärker als im Rolandslied durch zeitliche Ausdehnung, Wiederholung (Bestattung, Klage, Ermahnung, Mäßigung), variierende Vertiefung und Überblendungen individueller und kollektiver Trauer dynamisch gehalten und in ihrer Intensität mimetisch abgebildet. Der herrscherlichen passio cordis kommt dadurch auch eine handlungsstrukturierende Funktion zu. Als Karl nun den Schauplatz der Baligan-Schlacht verlässt und sich den Toten auf dem Schlachtfeld von Roncesvalles zuwendet, wird seine im Besonderen auf Roland bezogene Herzenspassion wieder virulent: Do dirre strit gestriten was, also daz Karl genas und er di not Fber want, do chert er wider al zehant, da er Růlanden weste. sin triwe was so veste, daz er sin selten vergaz. er gahte îe baz und baz. in betwanch sin grozziu triwe, daz im des hercen riwe beide růwe und ezzen benam, unz er ze Runzefale quam vil trurechliche hin wider. (K 10357–10369)

Rasch wendet sich Karl dorthin, wo er Roland weiß, denn die über den Tod hinausgehende triuwe-Bindung hält seinen Neffen präsent. Diese ‚große Treue‘ zwingt Karl auf dem Weg nach Roncesvalles zu einer Askese aus Herzenskummer.664 Der Herrscher martert also seinen Leib aufgrund seiner passio cordis und der Verzicht auf Schlaf und Speise markiert ihn als Pilger. Karl vollzieht über diese compassio, die sich sowohl geistig als auch körperlich artikuliert, Rolands Leidensweg nach.665 Damit nimmt er Anteil an Rolands Passion, die – man denke an die Sterbeszene – christomimetische Züge aufweist und den Paladin schließlich als heiligen Märtyrer gelten lässt: Karls compassio bedeutet in diesem Sinne Heilspartizipation666 und hat zugleich ‚selbstsakralisierende‘ Wirkung. Sofort eilt Karl zu jenem Marmorstein, der einem Opfertisch bzw. Altar gleicht, auf dem der Märtyrer Roland sich Gott anvertraut hat. Es folgt eine Choreographie der individuell profilierten Trauer und Passion des Herrschers vor dem Hintergrund kollektiver Klagen und emotionaler

664 Vgl. für eine ähnlich gelagerte Askese Willehalms um Gyburcs willen Bumke, Wolframs Willehalm, S. 108–110; Koch, Trauer und Identität, S. 123–128. 665 Durch seine Treue macht Karl sich das Leiden Rolands zu eigen: Diese Trauerperformanz stiftet Bindungen zwischen zwei Individuen (vgl. ebd., S. 157). 666 Vgl. Mertens-Fleury, Leiden lesen, S. 15.

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Ausnahmezustände.667 Diese Zustände, die an die von Émile Durkheim beschriebenen kollektiven Efferveszenzen erinnern,668 stellen die Verbindung zwischen Karl und seinem Kollektiv sowie zwischen der Affektgemeinschaft der lebenden und den für Gott gestorbenen Christen her.669 Also wird die um den Herrscher versammelte Gemeinschaft stabilisiert und das Band zwischen Transzendenz und Immanenz enger geknüpft, sodass ein religiös aufgeladenes Milieu entsteht, das den Umgang mit Heiligen kennzeichnet sowie Heiligungen wahrscheinlich macht:670 mit sin selbes handen hůb er in ůf in sine schoz. mit armen er in umbe sloz unt druchte in an sine brust. er wart vil diche gechust, des Karln vil lFzel verdroz. der regn von sinen ougen vloz, swi der wære wazzer var, er gie iedoch von hercen gar umbe sins lieben neven tot. (K 10374–10383) 667 „Stationenförmig – wie im Passionsdrama – wird [im Rolandslied; F. B.] eine Kette von Klagegebärden geknüpft, indem sich die Szenenregie wiederholt vom trauernden Kaiser auf sein klagendes Gefolge verlagert, um immer wieder zur zentralen, exponierten Figur (der kaiser nam sich zu in allen, 7486) zurückzukehren“ (Küsters, Klagefiguren, S. 28). Dagegen kürzt das Buch vom heiligen Karl die gegenüber dem Rolandslied noch ausführlichere auf Wiederholungen, Steigerungen und plastische Bilder setzende Darstellung des Strickers und reduziert Karls Passion auf einige markante Aussagen. Küsters folgert für das Rolandslied mit Blick auf die hierarchische Struktur des Herrschaftsverbands: „[D]ie Klagegemeinschaft [ist] im Rolandslied kein uniformes Kollektiv, sondern zeigt deutlich bestimmte Abfolgen und Abstufungen“ (ebd., S. 31). Karl steht „im Mittelpunkt der Klageszenarien“, gibt den „Klageimpuls“, „Initialzündungen für die allgemeine Klage“ (ebd.) und wird – so ist zu ergänzen – auch durch besonders tiefe Trauer und Vereinzelung ausgezeichnet. 668 Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a. M. 1981 (stw. 1125) [Frz. Orig.: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 1912]. Gemeint ist ein Zustand kollektiver Erregung, der die Individuen ganzheitlich affiziert und zu einer veränderten, vertieften Gruppenbindung führen kann. Vgl. dazu auch Sebastian Schüler: Religion, Kognition, Evolution. Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion. Stuttgart 2012 (Religionswissenschaft heute. 9), S. 17 f. 669 Dieser Effekt fügt sich in Kochs Bilanz der sozialen Funktion von Trauer: „In Trauer werden Zugehörigkeiten verhandelt, durch Inklusion und Exklusion Gemeinschaft konstituiert und Regeln sozialer Ordnung normativ festgelegt“ (dies., Trauer und Identität, S. 156 f.). 670 Das Buch vom heiligen Karl fokussiert im Folgenden – anders als der Stricker und das Rolandslied – die exklusive Passionssituation zwischen Karl und Roland und blendet kollektive Klage- und Trauerzustände aus. Der Erzähler zieht sich auf einen Unsagbarkeitstopos zurück: daz kan nun aber nieman geschriben noch gesagen die klag und jamer, den Karlus hat ob Ruoland (BhK 81,36–38). Doch gegenüber dem Stricker fügt er neben dem Pietà-Charakter der Szene (siehe unten) an Roland erscheinende Heiligkeitszeichen hinzu: Und gieng ein guoter geschmack von sim lib, daz wol ein zeichen was, daz sin sel vor got was, won er was lang da gelegen (BhK 82,1–3). Der Wohlgeruch identifiziert den Leib Rolands unstrittig als den eines Heiligen.

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Die beschriebene Szene ist auf eine ausdrucksstarke Figuration der Klage und Intimität angelegt und wird durch bildgesättigte Beschreibungen dramatisch aufgeladen: Karl hebt den toten Roland vom Stein, birgt ihn auf seinem Schoß, umarmt ihn, drückt ihn an seine Brust und wird nicht müde, ihn zu küssen. Eine intime Zärtlichkeit und Emotionalität kommen zur Anschauung und machen die Rezipienten zu Zeugen der Intensität der besonderen Verbindung zwischen Karl und Roland. Die aufgerufene Bildformel assoziiert eine Pietà-Figuration – wie gesagt: avant la lettre –,671 deren Funktionsstellen so besetzt werden, dass Karl als Substitut Marias, als pater dolorosus und Roland als Jesus Christus figuriert. Auch ohne Kenntnis des Bildtyps der Pietà können die oberdeutschen Bearbeitungen die passio- und

671 Koch spricht von „bildhaften Visualisierungen der Pietà-Haltung Karls“ (dies., Trauer und Identität, S. 107). Diese Szene bietet bereits das Rolandslied (vgl. RL 7503–7509 als Grundlage für K 10399–10403). Somit ist die literarische Darstellung älter als der Bildtyp der Pietà, der erst im 14. Jahrhundert in der bildenden Kunst aufkommt (vgl. Wilhelm Pinder: Die Pietà. Leipzig 1922 [Bibliothek der Kunstgeschichte. 29], S. 3). Mit Blick auf die Vorlagen des Bildtyps präzisiert Söding: „Nicht die v[on] Pinder angeführten Marienklagen bilden – neueren Forsch[ungen] zufolge – die ‚dichterische Wurzel‘ der P[ietà], sondern vielmehr ein Vers des Hoheliedes (1,12) u[nd] dessen exeget[ische] Trad[ition] mit dem Appell zu memoria, meditatio u[nd] imitatio“ (Beatrize Söding: Art. Pietà. In: 3LThK 8 [1999], Sp. 289 f., hier Sp. 289). Vgl. zur Pietà u. a. Martin Schawe: Art. Pietà. In: Marienlexikon. Bd. 5. Hrsg. von Remigius Bäumer, Leo Scheffczyk. St. Ottilien 1993, S. 218–222 (mit weiterer Literatur); Sigrid Weigel: Pietà und Mater dolorosa. Trauer, (Selbst-)Mitleid und die Universalisierung der Opfer. In: Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Hrsg. von ders. München 2007, S. 168–172; Bertau (Regina lactans. Versuch über den dichterischen Ursprung der Pietà bei Wolfram von Eschenbach. In: Ders.: Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München 1983, S. 259–285, bes S. 278–285) vermutet auf Grundlage der Untersuchung der Sigune-Passagen im Parzival, dass „die ‚weltliche‘ Pietà-Konstellation bei Wolfram zustande gekommen sein dürfte“ (ebd., S. 281). In der Chanson de Roland umfasst Karl Roland mit den Armen (vgl. ChdR 2879 f.), ansonsten ist die Szene nicht weiter ausgeführt, zwar weint Karl, aber ohne Blutstränen zu vergießen. Das Rolandslied ist von Wolframs Parzival und Willehalm selbstredend nicht beeinflusst, für die Darstellung der Szene und ihre Quellen beim Stricker resümiert Klein (Strickers ‚Karl der Große‘, S. 310, Anm. 38): „Ebenso hat man gelegentlich die Ritualgebärde, mit der Karl den toten Roland mit den Armen umfangend im Schoß hält (vgl. K 10522–10531, 10550–10553, 10718), im Zusammenhang mit Wh 61,29; 70,6 f. gesehen. Indes dürfte es sich eher um eine Verdeutlichung der entsprechenden Szene aus dem ‚Rolandslied‘ handeln, in der Karl den toten Roland mit seinen Armen umfängt und ihn hin und her wiegt (vgl. Rl 7487–7491, 7506–7509). Während Willehalm das Haupt des auf den Tod verwundeten Vivianz in seinen Schoß bettet, wird man die Angaben des Strickers so verstehen dürfen, daß Karl Rolands Leib mit beiden Armen, vermutlich von hinten unter den Achseln, umfaßt und ihn auf seinen Schoß zieht.“ Vgl. zu Karls Totenklage um Roland in der Chanson, im Rolandslied und beim Stricker auch die auf Rhetorik und Topik abzielenden Ausführungen von Hans-Wilhelm Klein: Motive der Totenklage Kaiser Karls um Roland in altfranzösischer und mittelhochdeutscher Epik. In: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. In Verbindung mit U. Fellmann hrsg. von Rudolf Schützeichel. Bonn 1979, S. 108–120. Siehe zur Klage Willehalms um den gefallenen Vivianz bei Wolfram auch Koch, Trauer und Identität, S. 106–110. Vgl. zu den Leiden Willehalms auch Bastert, Helden als Heilige, S. 293–299.

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III Literarische Herrschersakralität

compassio-Konstellation zwischen Jesus Christus und Maria aufgreifen und als Quelle für die sakralisierende Bedeutung der Trauer Karls um Roland ausschöpfen. „Der Gedanke der notwendigen Passion des Kindes und der notwendigen compassio Mariae findet seinen biblischen Ansatzpunkt in der Weissagung des Simeon (Luc. 2,35)“.672 So wie Maria anhand des (Leidens-)Schwertmotivs die Passion Christi angekündigt wird, wird auch Karl der Tod Rolands vom Engel vorausgesagt und über die schreckenden Träume in seiner verheerenden Wirkung visualisiert. Diese Analogisierung zu Christus und Maria ist zweifelsohne als Sakralisierungsstrategie anzusprechen und das Buch vom heiligen Karl zeigt dann im ausgehenden 15. Jahrhundert, also gewiss in Kenntnis des Bildtyps der Pietà, eine Mutter-Kind-Figuration: Er nam in uf sin schoß und kust in alß einn muotter ir kind und ubergos in mitt trechnen (BhK 81,38–82,1). Zuvor ist die Darstellung von Rolands Tod im Buch vom heiligen Karl noch stärker als in den Prätexten als bewusste Christomimese gekennzeichnet worden. Roland begehrt, wie Christus an Händen und Füßen gemartert zu werden. Christusgleich wird er von Karl aufgefunden: Und alß Cristus am crücz starb und im sin arm warend zerspent und sin fuoß uber einandern genaglet, also leitt sich Ruoland in czrücz wiß und begert, daz sin hend und fuoß genaglet wurdint. Und do er also lag, do kam Karlus. (BhK 67,31–35)

Dadurch wird Karl als pater dolorosus einmal mehr in Analogie zur mater dolorosa Maria gesetzt. Er spricht Roland als seinen Sohn an: O min aller liebster sun, den ich lieber han gehan den alle miny kind, du bist min eigen kind gesin und von minem herczen komen (BhK 68,12–14). Damit wird den Rezipienten erstmals im Text das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen beiden enthüllt und für Roland die drängende Frage beantwortet, wer min vatter wer (BhK 68,20 f.). So erklärt sich die besondere Nähe zwischen Karl und Roland neben der göttlichen Verfügung – wie sie unter anderem die Engelsbotschaft formuliert – auch auf genealogischem und emotionalem Wege, denn der Herrscher betrauert schließlich den Tod seines ‚herzensliebsten Kindes‘. Der Vergleichspunkt der Verwandtschaft wird sowohl durch ein Verhältnis von Onkel/Neffe (Rolandslied und Strickers Karl) als auch und im Besonderen von Vater/Sohn (Buch vom heiligen Karl) erfüllt,673 folglich wird Karls Trauer verwandt672 Bertau, Regina lactans, S. 283. Vgl. zur marianischen compassio-Frömmigkeit Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998, S. 93–142. 673 Vgl. zur Bedeutung von Verwandtschaft für die über Trauer konstituierte Identität Koch, Trauer und Identität, S. 79. Übertragbar auf die Konstellation von Karl und Roland ist das Ergebnis von Koch zum Willehalm: „Von Herzen kommende Trauer um einen anderen ‚zitiert‘ die Verkörperung von Verwandtschaft und beglaubigt so die Gültigkeit und Tragfähigkeit dieser Bindung. Dies gilt nicht nur für die verwandtschaftliche Solidarität, sondern auch für die Ehebindung und für die Beziehung Willehalms zu Rennewart“ (ebd., S. 116). Auch für die oberdeutschen Chanson de gesteBearbeitungen hat die familiale Zusammengehörigkeit wesentliche Bedeutung für die besondere Bindungsqualität und die Trauerartikulation.

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schaftlich basiert und über die Parallele zur Mutter-Sohn-Beziehung Mariens und Christi sakralisiert. Karl vergießt Tränenströme,674 die in ihrer Transparenz zwar Wasser gleichen, doch ihren Ursprung im Herzen haben.675 Die herrscherlichen Herzenstränen materialisieren die Passion des Herzens und machen sie nach außen hin sicht- und lesbar: Die Tränen werden zu Passionsspuren. Eingebettet wird diese Szene in die kummervolle Suche der Christen nach ihren Verwandten auf dem Schlachtfeld.676 Auch diese Beschreibung zielt auf die nachvollziehende compassionale Schau der Rezipienten: und litten solech ungemach, daz ez nieman gesach, ern mFse mit in weinen, do sie manegen helt reinen ůf hůben und klagten und manege so verzagten durch ir schædliche not, daz sie nider sigen fFr tot. (K 10391–10398)

Die Christen leiden kollektiv, viele verlieren vor Schmerz das Bewusstsein, liegen da wie tot.677 Die Bergung und Beweinung der Gefallenen bildet den Hintergrund, vor dem sich die Klage und Passion des Herrschers vollziehen. Diese zwischen dem Herrscher und seinem Kollektiv wechselnde Darstellung wird um eine den Rezipi-

674 Vgl. zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von Tränen Sigrid Weigel: Tränen im Gesicht. Zur Ikonologie der Tränen in einer vergleichenden Kulturgeschichte von Trauergebärden. In: Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen. Hrsg. von ders. München 2013 (Trajekte), S. 103–126. „Als Indikatoren psychischer Vorgänge werden sie [die Tränen; F. B.] in sozialen Zusammenhängen als Symptome gedeutet, in anthropologischem Sinne als Metapher der Menschlichkeit verstanden und in kultur- und kunstgeschichtlicher Perspektive zu Bildzeichen affektiver Zustände und Haltungen wie etwa Trauer oder Mitgefühl. In bild- und zeichentheoretischer Hinsicht sind Tränen indexikalische Zeichen, die am Leib, im Bild oder im Text auftreten können“ (ebd., S. 103). Vgl. zu Tränen bei Chrétien im Abgleich mit dem Rolandslied Brigitte Burrichter: Die Sprache der Tränen. Das narrative Potential des Weinens bei Chrétien de Troyes. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 230–245. 675 Im Buch vom heiligen Karl werden die Tränen nicht als Herzenstränen beschrieben, sie sind auch nicht blutig und werden demnach nicht als Reliquien einer Herzenspassion Karls inszeniert. 676 Auch für das Kollektiv wird die Verwandtschaftsdimension als Faktor für die Zusammengehörigkeit und der sich daraus ergebenden Trauer im Herrschaftsverband relevant gemacht: „Sowohl in der Suche nach den Toten als auch in den anschließenden Trauerbekundungen manifestieren sich die elementaren Sozialbindungen von Verwandtschaft und Gefolgschaft“ (Küsters, Klagefiguren, S. 20). 677 Die hier und an anderen Stellen beschriebene Ohnmacht Karls und der Christen lässt sich mit Koch – die sich auf Wolframs Willehalm bezieht – deuten als „eine physische Annäherung an den Toten“, „als mimetisches Moment“ (dies., Trauer und Identität, S. 107): „Die Ohnmacht drückt den Todeswunsch, der in der Klage verbal geäußert wird, auch körperlich aus“ (ebd.).

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enten einbeziehende dialogische Struktur ergänzt, indem der Erzähler zur compassio aufruft und damit die Mitleidensfähigkeit des Publikums abfragt:678 Wer enthabte sich dar under, der da sach diu grozen wunder, ezen mFse in wol erbarmen, do Karl zwischen sinen armen hete ligende Růlanden? (K 10399–10403)

Dadurch werden verschiedene Ebenen der individuellen und kollektiven Passion überblendet und es wird eine unmittelbare Wirkweise des Textes angelegt, die eine Versenkung der Rezipienten in die Herzenspassion ermöglicht und die compassio als imitatio Karoli ausweist. Nach dieser Einbettung wiegt Karl Roland in seinen Armen – er wand in mit sinen handen / vil diche hin und her (K 10404 f.) – und beklagt ihn. Karl wünscht, mit Roland gestorben zu sein, der seine Freude, sein Schutz vor Feinden, sein Berater und Quell des Glücks war: von dir quam al diu sælde min (K 10424). Als ‚auserwählter‘ Mensch wird der Märtyrer in sprachlicher Analogie zu Christus gepriesen: getriwez herce, reiner lip, / ezen getrůch nîe vrowe noch wip / so gar ein uzerweltez chint (K 10431–10433). Der Verlust Rolands erschüttert Karl, sodass er sich politisch, militärisch sowie emotional und persönlich aufgerieben sieht. Wenn es nicht gegen Gottes Gebot verstoßen würde, wollte er sterben.679 Daraufhin markiert eine Rötung der zuvor noch transparenten Tränen die Wahrhaftigkeit der Klage und der Herzenspassion: di træhene begonden roten, / die im vieln von den ougen (K 10460 f.).680 Karl setzt seine Klage um Roland fort und stellt die Bedeutung des Neffen für seine Herrschaft und sein Leben dar. Er bittet Gott um die Aufnahme und den Schutz Rolands sowie aller in der Schlacht gefallenen Christen: lazze in hiute haben dinen segen / und alle die hie sin gelegen / in christenlichem gelouben tot (K 10509–10511). Karls Bitte um das Seelengeleit für Roland und die anderen Gefallenen wird im Rolandslied kollektiv quittiert – si sprâchen alle: ‚amen‘ (RL 7558). Der Stricker lässt diese Reaktion auf Karls Rede aus und stellt – während das Kollektiv ausgeblendet wird – auf Karl und seine Trauer um Roland scharf: Exorbitanz in der Trauer und temporäre Vereinzelung sind für die sakrale Herzenspassion des Herrschers reserviert. Als Karl die Bitte um die Aufnahme der Märtyrer

678 Diese auf die Rezipienten ausgreifende compassio-Struktur analysiert Mertens-Fleury für den Wolframschen Parzival (dies., Leiden lesen, u. a. S. 157). Eine Involvierung der Rezipienten als Mitleidende findet sich auch im Willehalm (Koch, Trauer und Identität, S. 92–102). 679 Vgl. K 10440 f. 680 Die Blutstränen kennt als Baustein einer Herzenspassion Karls bereits der Pfaffe Konrad, doch sie sind nicht Produkt einer exklusiven Trauer um Roland (wie beim Stricker), sondern einer Trauer um alle gefallenen Toten (wenngleich Roland im Folgenden besonders angesprochen und beklagt wird): Der kaiser clagete sîne tôten. / die zahere begonden rôten, / die im ze tale vielen (RL 7531–7533).

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in den Himmel wiederholt, gerät er neuerlich in einen emotionalen und körperlichen Ausnahmezustand: des bat der keyser dristunt von rehtem herce grunde und treip ez an di stunde, daz daz plůt von den ougen vloz so vil, daz er den stein begoz, da der keyser ůf saz. der ist immer mere naz von dem selbem plůte. (K 10514–10521)681

Karl betet dreimal vom ‚Grunde seines Herzens‘ und über diese ritualisierte Prozedur wird über einen bereits zu Beginn der Klage um Roland etablierten ‚AugenHerz-Kanal‘ Blut zutage gefördert.682 Jene Tränen, die sich zuvor inchoativ zu röten begannen,683 ergießen sich nun als rote Blutstränen aus Karls Herzen auf den Stein, auf dem Roland gestorben ist: „Mit der Analogie zum blutigen Schweiß Christi in der Gethsemane-Szene (Lk 22,44) sowie der ikonographischen Nähe der Klageszene zur ‚Notgottes‘ (bzw. Gnadenstuhl) betreibt der Text eine Sakralisierung der Trauer.“684 Dies ist der Kulminationspunkt der Erzählung und dramatischen Ausstellung vom unermesslichen Herzensleid des Herrschers. Die Erzählung bietet zugleich eine authentifizierende Aitiologie, welche die Spuren auf dem Stein in Roncesvalles erklärt, der – wie der Erzähler bemerkt – noch immer nass ist. Die Herzbluttränenreliquien Karls als Folge seiner Herzenspassion werden als Memorialzeichen dem Erinnerungsort Roncesvalles auf einem Stein als ‚Herzensschrift‘ eingeschrieben und zugleich über die Erzählung für ein kollektives Gedächtnis aktualisiert.685 Karl baut später ein Gotteshaus Fber den stein da Růlant verschiet 681 Vgl. ebendiese Szene im Rolandslied (RL 7564–7567). 682 Nach mittelalterlicher Vorstellung entspringen Tränen dem Herzen als Quell der Emotionen (vgl. Burrichter, Die Sprache der Tränen, S. 239). 683 Vgl. K 10460 f. 684 Klinger, Ohn-Mächtiges Begehren, S. 200. Mögliche Bezüge für die blutigen Tränen stellt Küster her: „Die Blutstränen verweisen auf die Seelennot Christi am Ölberg, das Niederlassen auf einem Stein ist wohl Geste melancholischer Kontemplation (vgl. Walthers Reichsspruch) und könnte den Seelenzustand trauernder Erstarrung symbolisieren (wie im Niobe-Mythos)“ (ders., Klagefiguren, S. 28). Vgl. zu den Blutstränen Karls auch Silvia Reuvekamp: Hölzerne Bilder? Narratologie und Anthropologie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Figurendarstellung. Unveröffentlichte Habilitationsschrift. Düsseldorf 2015, S. 62–66. Reuvekamp geht im Besonderen den blutigen Tränen Kriemhilds im Nibelungenlied nach und bereitet für ihre Deutung die Herkunft, die diskursive Anbindung und den Bedeutungshorizont der blutigen Tränen auf (vgl. insges. ebd., S. 47–77). 685 Klinger (Ohn-Mächtiges Begehren, S. 200) bezeichnet den Stein treffend als „Leidensreliquie“ und Federow deutet ihn in diesem Sinne „als heiliges Memorialzeichen, als ‚Leidensreliquie‘, und damit als Zeichen der extern über Gott vermittelten Freundschaft“ (dies., Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 106). Nach Reuvekamp weisen die noch heute nassen Blutstränen einen Sonder-

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(K 10809), womit die Trauer samt Reliquien und Erzählung institutionell befestigt und die Memoria auf Dauer gestellt wird.686 Die individuelle Trauer- und Klagesituation zwischen Karl und Roland erscheint trotz ihrer Exklusivität und Heftigkeit unproblematisch. Doch dann kippt die Passion Karls in eine problematische herrschaftsgefährdende Dimension des Kollektiven, denn sein Schmerz, der sich in Worten, im Herzen sowie im körperlichen Ausdruck artikuliert,687 bewegt die Gefolgsleute so sehr, dass ‚viele wie tot zu Boden fallen‘: het er so grozze beswærde, / daz da genůge vielen fFr tot, / so nahe gie in sin not (K 10524– 10526).688 Der Kaiser ist außer sich vor Schmerz und lähmt seine Gefolgschaft, die seinen Schmerz compassional nachzuvollziehen versucht.689 Zwar ist Karl – wie gezeigt – an vielen Stellen der Trauer- und Klageszenen für das Kollektiv leitend und spiegelt gemeinschaftliche Zustände wider, doch ist er nun über seine exorbitante Trauer isoliert. Die individuelle charismatische Auszeichnung des Herrschers funktioniert durch Distinktion und temporäre Desintegration. Karl ist in diesen Phasen gerade kein „exemplarischer Zeichenträger“ mehr, seine Herzenspassion ist in ihrer Intensität nicht mehr nachzufühlen. Auf der einen Seite wird die Passion als heiligende Auszeichnung Karls anschaulich, auf der anderen Seite geschieht dies durch eine desintegrierende Wirkung, indem die individuelle in religiöse Bild- und Formensprache gefasste Erfahrung des Kaisers die gemeinschaftliche Einmütigkeit belastet. Mit Klinger – die sich auf das Rolandslied bezieht – lässt sich hier auch für den Strickerschen Karl folgern, dass [ü]berwältigende Emotion [...] eine kritische Entgrenzung des Herrscherleibs [provoziert], die mit der Sakralisierung der Karlstrauer jedoch zum Zeichen höchster Begnadung umgedeutet werden kann.690

status unter den Wunderzeichen auf, da sie, „anders als etwa die Naturerscheinungen, dieses Heilsversprechen in die Gegenwart des Erzählens verlängern. Als noch sicht- und begreifbare Zeugen eines sonst nur erinnerbaren Geschehens treten sie neben das zum Aachener Reliquienschatz gehörende, nicht von Menschenhand gemachte Kreuz, das Karl der Große am ersten Morgen nach seiner Rückkehr nach Ronceval an sich findet und das ihm von einem Engel zur Vergewisserung der göttlichen Gnade angeheftet worden war [...]“ (dies., Hölzerne Bilder?, S. 64, Anm. 132). 686 Das Zürcher Buch übernimmt die Stiftung: do Ruoland uf verschied, und versorgot daz ouch mit grosser gult und guot, daz man ewenklich gedecht sins nefen Ruolands (BhK 84,8–10). 687 Vgl. K 10521–10524. 688 Vgl. die Vorlage für diese Reaktion im Rolandslied (RL 7568–7570). 689 Zentral ist die Szene, weil „die Umstehenden beinah mehr den erbarmungswürdigen Kaiser kompathetisch beklagen als den toten Roland“ (Küsters, Klagefiguren, S. 28). Mit Blick auf die Blutstränen des Kaisers und die Reaktion des Herrschaftsverbands erklärt Reuvekamp: „Ganz anders als [bei Kriemhild; F. B.] im ‚Nibelungenlied‘ dissoziieren die blutigen Tränen Karl keinesfalls vom trauernden Kollektiv, sondern lassen ihn als wichtigsten Exponenten der Gemeinschaft gerade in seiner unermesslichen Trauer zum exemplarischen Zeichenträger kollektiver Befindlichkeit werden. In den Beschreibungen bleibt das Leid Karls entsprechend zu jeder Zeit zurückgebunden an die ebenso große Verzweiflung seiner Gefolgsleute [...]“ (dies., Hölzerne Bilder?, S. 63). 690 Klinger, Ohn-Mächtiges Begehren, S. 216.

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Karls exkludierender Ausnahmezustand gefährdet als kritische Phase temporär den Zusammenhalt und das Funktionieren des Herrschaftsapparats. Und so mahnt Juliane (Brechmunda) als religiöse Expertin und gotes undertane (K 10528) den Kaiser zum zweiten Mal zur Mäßigung seines unerhörten Herzensleides: diz ungefFge hercenleit / missezimt iwerre wisheit (K 10529 f.) – der Kontrollverlust über die eigenen Affekte zieme der Weisheit eines Kaisers nicht.691 Karl missachtet (abermals) den Umstand, dass die Christen heilige marterære sint (K 10532) und es das größte Privileg ist, wie sie in gotes riche (K 10533) eingehen zu dürfen. Über seine bisweilen selbst- und vor allem diesseitsbezogene Trauer rücken für Karl die axiologischen Leitlinien der christlichen Religion und die Bedeutung des Martyriums in den Hintergrund. Die Ansprachen der Juliane (Brechmunda) sind erforderlich, um Karl religiös und herrschaftlich auszubalancieren. Sie findet als Autorität Gehör und trägt den Fürsten auf, Karl zu beschwichtigen, denn wenn er vor Leid über den Tod der Zwölf sterbe, so wæren die schaden beide / grozzer danne der eine (K 10558 f.). Die Fürsten leisten ihren Anweisungen Folge und entfernen Karl vom Marmorstein, wodurch sie die Pietà-Figuration auflösen. Dann wirken sie auf Karl ein, do beswůren sie in und baten, / daz er so niht chlagte (K 10564 f.), dass sein ‚Volk‘ nicht verzagt, das durch seine ordnungsstörende Trauer außer sich ist.692 Karls exorbitante, sakralisierende Trauer wird in ihrem herrschaftsgefährdenden Potential eingehegt und von den Fürsten zur Herstellung herrscherlicher Integrität nochmals reduziert:693

691 Im Rolandslied ist Brechmunda (Juliane) noch nicht konvertiert, da die Paligan-Schlacht noch aussteht, sodass es die Fürsten selbst sind, die Karl vom Stein zu bewegen versuchen und ihn ermahnen, seine Klage zu mäßigen (vgl. RL 7571–7577) – später, nach der Paligan-Schlacht, wird sie die Christen, und den Kaiser im Speziellen, bei der Bestattung ermahnen, das Schicksal der Gefallenen und ihr eigenes nicht zu beklagen (vgl. RL 8641–8656). Vgl. für die biblischen Bezüge der herrscherlichen Ermahnungen durch den Engel und hier durch Juliane (Brechmunda) Ukena-Best, Providentia Dei, S. 351, Anm. 66 sowie Küsters, Klagefiguren, S. 29 (mit Verweis auf Davids Trauer um Absalom [II Sm 19,1–19]). Vgl. zu Karls Klage und der Rolle Julianes (Brechmundas) auch Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 312–314. 692 Vgl. K 10524–10526 u. 10566 f. Vgl. zu Karls Verhalten im Zuge der exorbitanten Klage um Roland Ukena-Best, Providentia Dei, S. 350–352. Sie erkennt eine „Hiobs-Problematik“ als Auflehnung gegen das Schicksal: „Ein Mangel an Demut gegenüber Gottes Willen bedeutet für den Herrscher die Gefahr, seine das gottgegebene Herrschertum tragende humilitas zu verlieren. Folglich zeichnen sich in der Eskalation der Affekte von Verzweiflung und haltloser Trauer tendenziell die der superbia folgenden Todsünden desperatio und tristitia ab. In dieser Situation ist nicht nur das Seelenheil des Kaisers, sondern das Schicksal der gesamten Christenheit gefährdet. [...] Karls zu höchster Affektivität gesteigertes Leid überträgt sich in zerstörerischer Weise auf die Gemeinschaft, indem es die von ebenso maßlosem Mitleid Ergriffenen an den Rand des Todes bringt“ (ebd., S. 350 f.). „Karls Fehlverhalten im Herrscheramt ist eklatant; sein übergroßer persönlicher Kummer läßt ihn die Regentschaftspflicht vernachlässigen“ (ebd., S. 351). 693 Nach Küsters zeigt sich wiederholt die „Gefahr einer melancholischen Selbstabschließung und Handlungshemmung des Herrschers“, dessen „kontemplative Anlage [...] einerseits aus der sorgenden, einsamen Herrscherverantwortung, andererseits aus der durchaus erkennbaren Neigung zu Empfindsamkeiten und Melancholie [erwächst]“ (ders., Klagefiguren, S. 29 f.).

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Obgleich es Karl danach verlangt, Roland weiterhin zu betrachten – swi gern er langer sæhe / sinen neven Růlanden (K 10568 f.) –, wird der Leichnam als präsentischer Auslöser der Herzenspassion aus Karls Blickfeld entfernt: si namenn im von den handen / und liezzen in niht me sehen (K 10570 f.).694 Auf diese Weise offenbart sich die Ambivalenz der charismatischen Herrscherfigur und der auf ihrer emotionalen Disposition basierenden Herrschaftsbeziehungen. Das empfindsame Herz des Herrschers ermöglicht erst die compassio mit den Märtyrern und insbesondere Rolands. Die Exorbitanz der Herzenspassion markiert Karls Heiligkeit, der wiederholt die göttliche Ordnung partiell verletzen oder temporär verlassen muss, um sich religiös auszuzeichnen.

6.5 Verstetigung und Regulation von Heiligkeit Mit der Einhegung der Klage des Kaisers wird der Blick wieder auf das Kollektiv gerichtet, die Bergung der Toten wird fortgesetzt und ihre Bestattung bewerkstelligt.695 Roland, Olivier und Turpin werden von dieser allgemeinen Prozedur ausgenommen, separat und aufwendig versorgt und von Karl intensiv betrauert:696 ezen geschach nîe manne leider, danne Karl geschach an in. man sah in nach in allen drin vil grozzen chumber liden. (K 10592–10595)

Entkleidet, in kostbares Tuch aus goldgefärbter almarischer Seide eingehüllt und mit duftenden Spezereien umgeben, werden sie in Hirschhäute eingenäht und ins Frankenreich verbracht, da man si geeren mohte, / als ez ir wirde tohte (K 10613 f.). Damit wird die Grundlage für die spätere Ausbildung eines Pilgerortes um die Gräber der drei Kämpfer gelegt. Vom Leiden und Weinen erschöpft, verlangt es die Christen nach Ruhe.697 Doch Karl gebietet eine Totenwache, da die nicht identifizierten gefallenen Christen von den Heiden unterschieden und nicht den Vögeln

694 Die Entfernung des Trauer, Ekstase oder Zustände des Selbst-Vergessens auslösenden Objektes (sei es figürlich oder materiell) erscheint im mittelalterlichen höfischen Erzählen als ultima ratio, um eine Reintegration der Figur in die Gesellschaft zu versuchen. So wird zum Beispiel in Wolframs Parzival Herzeloyde gewaltsam das blutgetränkte Hemd ihres toten Ehemanns Gahmuret genommen und von den Fürsten ordentlich bestattet; auch bedeckt Gawein die drei Blutstropfen im Schnee, die Parzival in Trance versetzen. Und in Heinrichs von Veldeke Eneasroman wird dem übermäßig trauernden Eneas der tote Pallas aus den Händen genommen. 695 Vgl. zu Karls Stiftungen in Roncesvalles und der Memoria der Märtyrer als Heiligengedenken auch Hammer, Erinnerung und memoria, S. 254–258. 696 Vgl. K 10587–10614. 697 Vgl. K 10615–10621.

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zum Opfer fallen sollen.698 Er bezeichnet die Toten als reine[] gotes chint (K 10625), als heilige marterære (K 10630) und erklärt, daz got ir sele gechronet hat (K 10633). So bittet Karl alle Überlebenden, mit ihm über Nacht zu wachen und Gott zu bitten, dass er die Christen von den Heiden zu unterscheiden helfe. Diese Sorge um die Toten kalkuliert den Nutzen für die Hinterbliebenen mit ein, denn Karl erklärt: ‚[...] wir geniezzen ir heilecheit unt der vil lieben arbeit, di sie got hant getan, daz sie dez leben hant verlan in so reinem gemFte unt ze vorderste gotes gFte, daz uns got dest ê vernimt [...].‘ (K 10647–10653)

Die Lebenden haben Nutzen von der heilecheit der Märtyrer, denn sie schlagen eine Brücke zu Gott, die eine Erhörung der Bitten wahrscheinlicher macht. Karl präsentiert sich mit diesen Erklärungen als Verwalter des Seelenheils der ihm Anvertrauten und er spricht auch hier gemäß der durch Juliane (Brechmunda) geforderten Axiologie. Er zeichnet als Herrscher verantwortlich für die Sicherung einer gelingenden Kommunikation zwischen Immanenz und Transzendenz. Welches Schicksal den Seelen der gefallenen Christen zuteilwurde, könne Gott an den Leichnamen auf Erden offenbaren, erklärt Karl.699 Dass Gott dazu in der Lage ist, habe er durch das zurückliegende ‚Tageslicht-/Sonnenwunder‘ gezeigt. Karl adressiert die Toten als reine[] pilgerinen (K 10665) und lieb[e] knehte[] sin[] (K 10666) und erbittet, dass Gott die Leichname zu seiner (Karls) Ehre und zur Freude der hinterbliebenen Christen identifizieren möge. Darauf beten die Christen kollektiv um die Scheidung der Leichname auf dem Schlachtfeld.700 Gott erfüllt das Erbetene nur zu gern und eilends (er zouwete; K 10694), steht es doch in Übereinstimmung mit seinem Wunsch: ein dinch daz got doch gerne tete, / wi moht er in versagen daz? (K 10692 f.) Die von allen gotes pilgerine[n] (K 10719) gehaltene Totenwache führt am nächsten Morgen zur Unterscheidung von Christen und Heiden: do was ein zeichen da geschehen (K 10700). Genauer haben sich an den Toten zwei ungelichiu wunder (K 10706) ereignet: Die Heiden liegen bäuchlings von Dornengestrüpp durchbohrt, die Christen rücklings mit Lilien geschmückt. Wie von Karl angekündigt, weisen diese Zeichen auf das Schicksal der Seele hin: Die zerstörten Heidenkörper deuten an, dass ihre

698 Die Totenwache und das darauffolgende Scheidungswunder von Christen und Heiden bietet auch das Buch vom heiligen Karl (BhK 83,1–28), im Rolandslied findet sich diese Passage nicht. 699 Vgl. K 10654–10656. 700 Vgl. K 10668–10684.

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Seelen verloren sind.701 Die ausgezeichneten Christenkörper künden vom Wirken göttlicher Gnade.702 In der Folge enden die Klagen der hinterbliebenen Christen und das Leid ob des Todes der Mitchristen wird konvertiert in Freude ob des an ihnen gewirkten göttlichen Wunders, das sie als heilige Märtyrer auszeichnet. Karl lässt daraufhin die anderen vorläufig bestatteten Christen exhumieren und gemeinsam mit jenen durch das ‚Scheidungswunder‘ identifizierten beisetzen. Dabei geschehen Heilungswunder: die da waren siech oder wůnt, / die wurden heil und wol gesunt (K 10765 f.). Diese miracula post mortem während der Bestattung beweisen nicht nur die Heiligkeit der Märtyrer, sondern befördern auch die Verkehrung der Leiden der Christen in vollständige, erlösende Freude: sus chonde in got ir ungehabe / ze vollen freuden cheren (K 10768 f.). Die kollektiv wirksamen Vorgänge beeinflussen auch Karls Leiden und transformieren die Bedeutung des Ortes, wie der reine keyser (K 10773) erklärt: ‚mir hat got min ungemach gesenftet ein vil chleine, daz er dise helde reine so grozlich hat geeret und sin selbes lop gemeret. hie lit so manech gotes chint zů den zeichen diu hie geschehen sint, daz disiu stat heilich ist. [...]‘ (K 10774–10781)

Die Akkumulation von Heiligkeit über die ‚Gotteskinder‘ und die begleitenden ‚Zeichen‘ (Scheidungswunder und Heilungswunder) strahlt auf den Ort aus und scheint hinreichend für seine Bestimmung als ‚heilig‘ zu sein. Auf diese Weise werden alle Handlungen, die dem Begräbnis vorausgehen, zu heilsbefördernden, sakralisierenden Prozessen und das Schicksal der christlichen Kämpfer im Rückblick als Heilsweg ausgewiesen. Karl, dem also die Deutung und Kategorisierung von Profanem und Heiligem obliegt, ist von der kollektiven Freude an der Wirksamkeit der Heiligen ausgenommen und aus der Affektgemeinschaft der vollen freuden (K 10769) ausgeschlossen. Zwar ist sein Leid ‚ein ganz wenig‘, ein vil chleine (K 10775), gelindert, aber seine auf Dauer gestellte Herzenspassion wird – anders als die temporären Trauer- und Klagezustände seines Kollektivs – nicht aufgehoben. Die passio cordis wird ihn auch jenseits der Spanienmission begleiten. Karls Bemühungen richten sich nun auf die Absicherung der Memoria der Heiligen und insbesondere Rolands. Er beschließt, an der heiligen Stätte zu Ehren Christi ein Spital zu errichten, damit man des lieben neven min / hie gedenche und

701 Vgl. K 10723–10726. 702 Vgl. K 10732 f.

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siner gesellen (K 10788 f.). Unter großem materiellen Aufwand stattet Karl das Spital aus und versieht es mit fFnf kunechriche[n] (K 10803) als Lehen: also rehte willechliche / stifte Karl ze Runzeval / sinem schepfære ein spital (K 10804–10806).703 Darüber hinaus stiftet der Kaiser eine Kirche für seinen Neffen, die sein Andenken garantieren soll: noch schůf er vor der heimvart, daz ein gotes hůs gemachet wart Fber den stein da Růlant verschiet. do er daz mit widemen wol beriet ze helfe sinem neven Růlande, do schiet er vome lande. (K 10807–10812)

Der Ort, an dem die Kirche errichtet wird, ist der mit religiöser Bedeutung aufgeladene Stein:704 Roland starb hier als Märtyrer und Gott nahm sich seiner Seele und des himmlischen Handschuhs an, den Karl Roland zur Belehnung mit Spanien übergeben hatte. Hier nahm Karl auf wunderbare Weise das himmlische Schwert Durndart aus der Hand des toten Roland entgegen, trauerte in der Pietà-Figuration um den Neffen bzw. Sohn und vergoss im Rolandslied und beim Stricker schließlich Blutstränen als Produkt seiner Herzenspassion. Auffällig ist die Synthese von Rolands Martyrium, das ein unblutiges ist, und Karls Herzenspassion, die mit den roten Tränen das herrscherliche Blut und einen Teil von Karls Innerstem hinzufügt: Das Blut für Rolands Martyrium liefert somit Karl, dessen Herzenspassion damit den Charakter eines Martyriums erhält. Es ist bemerkenswert, dass der BaliganKampf nicht der Höhepunkt einer Passion Karls im Glaubenskampf ist, sondern eine Vorstufe zur Trauer über den Verlust Rolands darstellt: Blut verliert Karl nicht im Kampf, nur sein Haar wird versehrt, sondern einzig in der exorbitanten Trauer um Roland. Damit erscheint auch im Glaubenskampf die Herzenspassion als dominante und heiligende Form der Bewährung des charismatischen Herrschers. Da der Stein nach Angabe des Erzählers noch immer nass ist,705 muss er sichtbar und folglich im Kirchenraum ausgestellt sein. Damit wird der Status der Tränen als ‚Herz-

703 Die Stiftungen des Spitals, der Kirche und des Klosters, von denen der Stricker im Folgenden erzählt, finden sich nicht im Rolandslied. 704 Vgl. zur Sakralität des Steins und seiner besonderen kultischen Bedeutung Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003, S. 158–164 („Jakob und das Steinheiligtum von Beth-El“). Auf diesen Jakob-Stein könnten die Erzählungen anspielen und damit weiteres Heiligkeitspotential für den „Roland-Stein“ erschließen – Karls Kirchengründung über dem besonderen Stein ergibt sich aus diesen biblisch verbürgten Implikationen folgerichtig. Die Errichtung einer Kirche über dem Stein erinnert an die Tradition der Kirchengründung über Märtyrergräbern; dem Stein kommt die Funktion eines Altares zu, auf dem sich Roland als Opfer für den Glauben darbrachte (vgl. ebd., S. 46 f.). 705 Vgl. K 10520.

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bluttränenreliquien‘ Karls des Großen förmlich abgesichert. Das Martyrium der Kämpfer in der Schlacht von Roncesvalles, Karls Wirken in Spanien und die Spuren der herrscherlichen Herzenspassion werden institutionell eingefasst und als erinnerungswürdig für die religiöse Praxis verfügbar gemacht. Im Spital wird Juliane (Brechmunda) als Mitglied einer Memorialgemeinschaft, Zeugin und an den Geschehnissen in Roncesvalles Beteiligte untergebracht. Sie wird schließlich als treue Gottesdienerin mit dem ewigen Leben belohnt.706 Möglicherweise profitiert auch der Text – Strickers Karl – von der dargestellten Heiligung und ihrer verbindlichen institutionellen Absicherung. Die Textautorisierung oder -heiligung funktioniert in diesem Sinne über die durch göttliche Einflussnahme und Zeichen abgesicherte Heiligkeit des Erzählgegenstands und seine außerliterarische Verankerung im Sakralraum der Kirche, im bis auf den heutigen Tag nassen Stein und in der Memorialpraxis als Heiligengedenken.707

706 Vgl. K 10812–10818. 707 Vgl. auch Strohschneider, Textheiligung. Eine weitere besonders beim Stricker profilierte Absicherung der Wahrheit des Erzählten, die einen legitimierenden bzw. heiligenden Effekt auf den Text selbst zeitigen könnte, ist die Frage nach der Überlieferung der Geschehnisse in Roncesvalles (vgl. für das Folgende insgesamt K 8091–8110). Ein direkter, die Wahrheit sicher verbürgender Bericht der Beteiligten darüber, swaz si begangen haten (K 8094), ist nicht möglich, denn si wurden allensamt erslagen (K 8096). Doch habe ein Engel dem heiligen Ägidius (Sande Gilie; K 8097), der in einer Höhle in der Provence lebte, die Erzählung der Geschehnisse in Roncesvalles, dise rede (K 8102), diktiert und der heilige Ägidius habe sie dann wahrheitsgemäß (fFr di warheit; K 8104) aufgeschrieben. Dieses Schriftstück habe er Karl gegeben und so sei das daz bůch (K 8106) bis auf die heutige Zeit ohne Verfälschung (ungevelschet; K 8107) überliefert. Der Grund für diese recht aufwändige Sicherung der Überlieferung liege darin, dass der Kampf in Roncesvalles Gott so liep was (K 8108), dass er uns die Wahrheit (di warheit; K 8110) wissen lassen möchte. Der Text stellt die ‚Wahrheit‘ besonders in den Fokus (vgl. K 8092, 8104, 8110) und lässt mit der heiligen Überlieferungskette von Gott, Engel und heiligem Ägidius die Geschehnisse in Roncesvalles wahrheitsgemäß fixieren und Karl anvertrauen. Die Wahrheit des Erzählten wird göttlich verbürgt. Es führt ein direkter Weg des bearbeiteten Materials über Karl den Großen zu den Geschehnissen in Roncesvalles sowie von der Erde zum Himmel. Damit sichert der Stricker seinen Text ab und bringt ihn in ein kontagiöses Verhältnis zu Karl, der als Akteur an der Überlieferung des Materials beteiligt war. Hammer erkennt hier eine klare „Abkehr von der oralen Tradition heldenepischer Erinnerungsformen“ und „eine regelrechte Sakralisierung von Schriftlichkeit“ (ders., Erinnerung und memoria, S. 254). Die referierte Passage findet sich angelegt in der Chanson de Roland, doch dort ist sie in den letzten Kampf Turpins eingefügt (vgl. ChdR 2095–2098). Steinsieck erklärt dazu: „St-Gilles (gest. um 720) gilt als Gründerabt des später nach ihm benannten Benediktinerklosters St-Gilles in der Nähe von Nîmes. St-Gilles wurde als Fürbitter Karls des Großen verehrt, und man nahm an, er habe im Geiste an der Schlacht teilgenommen“ (ders., Anmerkungen, S. 355; vgl. ebd. für weiterführende Literatur). Die Beteuerung der getreuen Überlieferung der Ereignisse auf dem Schlachtfeld ist hier allerdings einzig auf Turpins Kampfhandlungen bezogen, weniger ausführlich und weniger dringlich formuliert als beim Stricker. Der Pfaffe Konrad übernimmt die Positionierung des ÄgidiusZeugnisses im letzten Kampf Turpins, was bedeutet, dass der Stricker seine Ägidius-Erwähnung gegenüber seinen Prätexten anders positioniert und zwar sinnhaft an den Tod des letzten potentiell Berichtenden (an Roland) anschließend. Im Rolandslied heißt es nun: daz [Turpins Kampf; F. B.]

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Im Folgenden sollen abschließend Spuren von Karls auf Dauer gestellter Passion und die Verhandlung seiner herrscherlichen Geltung im weiteren Verlauf des Strickerschen Textes in den Blick genommen werden. Hierbei steht seine sælde als Indikator für ein gottgefälliges und wirksames Herrscherleben zur Disposition. Der Kaiser verlässt mit seinem Heereszug Roncesvalles und wird auf der heim vart (K 10819) abermals als Stifter aktiv: da sin erste herberge wart, da stifter willechliche ein kloster daz wart riche in sande Johannes ere, daz man Růlandes immer mere da gedæhte und siner geselleschaft. sin triwe hete grozze chraft, die er ze Růlande trůch; daz zeigte er diche genůch. (K 10820–10828)

Karl hält seinem Neffen die Treue und gründet in der Nähe seiner ersten Übernachtungsstätte ein Kloster. Er vergisst Roland nicht und sorgt für die Sicherung seines Gedächtnisses, indem er gleichsam einen ‚Rolandskult‘ in Spanien und im Frankenreich installiert.708 Das deutet darauf hin, dass er seinen Schmerz über den Verlust Rolands nicht aufgeben und seine Herzenspassion auch jenseits von Roncesvalles aufrechterhalten wird.709 Der kaiserliche Zug macht als nächstes bei Alite – Oliviers Schwester und Rolands Frau – Halt, um sie schonend über den Tod der beiden Paladine zu informieren. Karl geht deshalb strategisch mit seinem Kummer um. Die Boten sollen sine grozze not / unt der zwelf gesellen tot (K 10837 f.) zunächst verschweigen und er bittet, daz ir min herce leit verdagt / und niht wan gůtiu mære sagt (K 10865 f.). Doch als die Frage nach dem Verbleib der Paladine gestellt wird, brechen Karls Trauer und die latent gehaltene Passion hervor:

hiez sent Egidie scrîben, / ze Leûne in der stat, / alsô in der kaiser gebat (RL 6646–6648). Vgl. zu der Stelle auch Kartschoke, Kommentar, S. 724f. mit weiterer Literatur. Der Pfaffe Konrad bringt gegenüber der Chanson de Roland Karl mit in den Überlieferungsprozess ein und macht ihn zum Auftraggeber des Heiligen – der Stricker macht dagegen Gott zum Urheber des Auftrags zur Dokumentation der Ereignisse. Das Buch vom heiligen Karl wiederum gibt für die Geschehnisse bis zum Zusammentreffen von Karl und dem sterbenden Roland an, dass Gott Ägidius diese offenbart hat und auf Gottes Geheiß Karl den Bericht übergibt. Zudem habe Rolands Bruder Baldawinus dem Herrscher von den Ereignissen berichten können (vgl. BhK 67,35–68,7). 708 Vgl. Federow, Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 107. 709 Die genannten Stiftungen nimmt Karl auch im Buch vom heiligen Karl vor (vgl. BhK 83,34– 84,14); seine Zuneigung zu Roland wird in die Unsagbarkeit verlegt: Und kan nieman wolschriben noch wolsagen die grossen liebe, die Karlus ze Ruoland hat (BhK 84,14–16).

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Unz er daz wort vollen sprach, do wart des keysers ungemach von herzeleide so groz, daz im der ougen regen vloz nider Fber di wangen. (K 11023–11027)

Das in Karls Herz gesammelte Leid fließt in seiner Überfülle aus dem affektiv-emotionalen Zentrum über den ‚Augen-Herz-Kanal‘ und macht es äußerlich sicht- und lesbar – auf diese Weise brachte Karl schon zuvor in Roncesvalles Tränen über Rolands Tod hervor. Die verwitwete Alite stirbt ob der düsteren Botschaft an gebrochenem Herzen: unze ir daz grimme ungemach / ir jungez herce enzwei brach: / sie saz zů der erde tot var (K 11073–11075). Sie scheidet in Karls Händen aus dem Leben und löst in ihm neuerliche Trauer aus: do begonde er Růlanden / allererste chlagen und weinen (K 11082 f.). Alites Sterben aus Trauer über Rolands Tod wird von den Anwesenden als Wirken Gottes gedeutet und als Zeichen, daz man si fFr heilich solde han (K 11088). Das Heer beklagt kollektiv Alites Tod, dagegen ist Karls Klage weniger auf sie als vielmehr auf Roland und sein eigenes Schicksal bezogen, das durch Rolands Tod zum glück- und freudlosen Leidensfristen werde:710 Karl der vil reine der sprach: ‚ich pin nů sældelos. do ich Růlanden verlos, do starp min sælde und ere; die engwinne ich nimmer mere. ich můz in mime hercen tragen unfreude, weinen und chlagen, die wile diu sele bi mir ist. got herre himelisscher Krist, mFg ichs mit dinen hulden gern, sone la mich langer niht gewern. waz sol ich dir und mir, sit ich der sælden enbir? ich mach nů nieman gefrumn, sit dů mir sælde hast benumn.‘ (K 11116–11130)

Karl ist im Glauben, mit Rolands Tod seine sælde verloren zu haben. Doch was bedeutet das genau? Mit Bezug zum Prolog des Strickerschen Karl meint sælde eine

710 Diese Klage und perpetuierte Passion Karls fehlen im Buch vom heiligen Karl. Auch fehlt der Fokus auf Karls sælde, die im Epilog in Anlehnung an den Stricker aufgegriffen, aber nicht durchgängig in der Narration behandelt wird. Doch dass Karl ausgelöst durch Alites Tod klagt, weiß auch das Buch vom heiligen Karl: Wie groß nun erst Karlus jamer und leid wer, daz kan nieman geschriben noch gesagen (BhK 86,4–6). Die Unsagbarkeitsformel wird zumeist dort eingesetzt, wo Strickers Karl eine Fülle an Informationen und Bildern zur Passion Karls bietet.

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gelungene irdische Lebenspraxis, die dem Seelenheil zuträglich ist und das ewige Leben sichern kann – sælde verweist damit auf ein intaktes Gottesverhältnis.711 Im Prolog wird Karl die Fähigkeit zugeschrieben, andere Menschen zur sælde führen und somit das Leben der ihm von Gott auf Erden Anvertrauten schützen und ihr Seelenheil – in priesterähnlicher Verantwortung – sichern zu können. Neben dem Verlust der persönlichen sælde wendet Karl sein Selbstmitleid in ebendiese kollektive Dimension, indem er seinen Nutzen für andere für verloren erklärt: ich mach nů nieman gefrumn (K 11129). Damit steht auch seine Herrschaftsbefähigung zur Disposition und der Verlust der sælde führt zu einer Identitätskrise. Gemäß der Engelsbotschaft vor der Spanienmission hängt seine ‚ganze Ehre‘ von Roland ab: an im stet elliu din ere (K 433) und je mehr er Roland liebe, desto erfolgreicher werde er sein.712 Der Kaiser leitet daraus ab, dass sein Gottesverhältnis erschüttert sein muss, wenn Gott ihm nun seinen Neffen und seine sælde genommen hat. Karl prognostiziert daher eine aus Gottes Wirken resultierende lebenslange Herzenspassion: Sein Herz werde bis zu seinem Tod gefüllt sein mit unfreude, weinen und chlagen (K 11122). Anders als die Zwölf Paladine, die nach temporärem Leiden als Märtyrer ins Reich Gottes aufgenommen werden, müsste Karl dann eine chronische passio cordis bis ans Lebensende durchleiden. Diese Form der Heiligung kompensiert das fehlende Martyrium und ermöglicht – durch das Nichtsterben – eine fortdauernde Charismatisierung des Herrschers und somit Stabilisierung der religiösen Herrschaftslegitimation. Karl wähnt sich somit von Gott der sælde und Ehre beraubt und wünscht zu sterben.713 Diese Erschütterung, seit Karl Růlanden verlos (K 11295), zeigt sich in der Folge auch in überschießenden Reaktionen auf scheinbar illoyales Handeln der Gefolgsleute. So bezichtigt Karl den Markgrafen Otte, für Geneluns Flucht verantwortlich zu sein und sich der Untreue schuldig gemacht zu haben.714 Er habe Karls Schmerzen missachtet und seine Herzenspassion, sein herce leit (K 11275) bzw. seine hercen riwe (K 11285), erneuert.715 Mit diesem Vorwurf wird jedoch Karls herrscherliche Idealität zur Diskussion gestellt, denn der Markgraf handelte loyal und ohne Fehl. Der Kaiser entschuldigt sich, als er einsieht, daz ich dir unrehte han

711 Vgl. zu Karls sælde im Prolog bereits Kapitel III.1.2. 712 Vgl. K 439 f. 713 Vgl. K 11294–11306. 714 Die Episode der Flucht Geneluns findet sich nicht im Rolandslied. Vgl. zur Otte-Episode beim Stricker und in weiteren Karls-Bearbeitungen Stackmann, Karl und Genelun, S. 272–278. Wolf bettet die Otte-Episode in die Gattungsdiskussion ein, denn Karls „vorschnelles und ungerechtes Verhalten gegenüber Otto steht ganz und gar nicht im Einklang mit der Vita eines Heiligen. Hier treffen denn auch die Thesen von der Entpolitisierung des Werks und vom Versuch des Strickers, das Bild einer allgemeinen Harmonisierung zwischen Kaiser und Fürsten zu zeichnen, auf einen deutlichen Widerspruch, denn weder werden die politischen Konflikte aus dem Rolandslied ausgeblendet, noch die Konflikte zwischen Zentralmacht und Partikularmacht zum Verschwinden gebracht“ (ders., ‚Sante Karle‘, S. 109). 715 Vgl. K 11275 u. 11285.

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getan (K 11469), und es kommt zur Versöhnung. Die Auswirkungen von Rolands Tod und dem vermeintlichen Verlust seiner sælde führen somit zu Spannungen zwischen Karl und seinem Kollektiv, die primär auf einer Störung der auf Vertrauen basierenden Nahbeziehungen beruhen – Karls charismatische Bindungsqualität erscheint durch die traumatischen Ereignisse in Roncesvalles nachhaltig irritiert. Noch in der anschließenden Gerichtsverhandlung über Geneluns Verrat steht Karls herrscherliche Eignung auf dem Spiel, wenn er aufgrund fehlender Unterstützung im Herrschaftsverband mit seiner Abdikation droht: und wil ouch nimmer mer getragn / weder kFneges namen noch krone (K 11622 f.).716 Damit ist der Höhepunkt der Identitäts- und Geltungskrise erreicht, die erst durch eine Entsprechung von transzendenter und immanenter Struktur überwunden wird. Mit Dietrich findet sich ein Kämpfer, der Karls Sache und damit den Herrscher unterstützt, und mit seinem Sieg über Pinabel wird der Prozess in Karls Sinne entschieden. Indem der Zweikampf als Gottesurteil angelegt ist, findet das kaiserliche Anliegen seinen Rückhalt in der Transzendenz und das Gottesverhältnis ist für Karl wiederhergestellt – ebenso herrscht wieder ein einmütiges Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten. Der Erzähler resümiert die Bedeutung von Geneluns Tod mit einem in Orientierung am Römerbrief des Paulus geschöpften Sprichwort: ‚von eins menneschen unsælicheit / můz manech mennesch unsælich sin‘ (K 12028 f.).717 So habe Genelun mit seiner unsælicheit seine Verwandten entweder mit in den Tod gerissen oder, wenn sie noch leben, in ewige Schande gezogen. Darin zeigt sich die sozial wirksame Dimension der sælde bzw. unsælde des Einzelnen als kontagiöses Ausstrahlen auf den assoziierten Personenverband. Auch die Form des Sprichworts unterstellt der Aussage über Geneluns unsælde ihre Gültigkeit, denn der spezifische Einzelfall Geneluns geht ordnungsbestätigend im allgemeingültigen Prinzip der unsælde auf.718 Zugleich wird die Herstellung der gesellschaftlichen Ordnung – 716 Vgl. zum Genelun-Prozess u. a. Ott-Meimberg, Staatsroman, S. 239–260; Brandt, erniuwet, S. 138–150; Canisius-Loppnow, Recht und Religion, S. 211–265; Brigitte Janz: dune uerwindest niemir disin tác (6105). Rechts- und Zeitzeichen im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 7 (1994), S. 119–142; dies.: Genelun: „den armen Iudas er gebildot“. Verrat und Verräter im deutschsprachigen Rolandslied. In: Verführer, Schurken, Magier. Hrsg. von Ulrich Müller, Werner Wunderlich. St. Gallen 2001 (Mittelalter-Mythen. 3), S. 317–329; Stackmann, Karl und Genelun, S. 276–278; Monika Schulz: ‚was bedürfen wir nu rede mêre?‘ Bemerkungen zur Gerichtsszene im ‚Rolandslied‘. In: ABäG 50 (1998), S. 47–72; Werner Hoffmann: Genelun, der Verrâtaere. In: ZfdPh 120 (2001), S. 345–360. 717 Insgesamt scheint hier gedanklich Rm 5,12–21 und damit verbunden eine Antithese von Adam (Genelun) und Christus (Karl) zugrunde zu liegen, ohne dass diese Analogien vollständig aufgehen müssen. 718 Vgl. zum „auf Allgemeingültigkeit und Autoritätsstatus zielenden Redegestus“ des Sprichworts Silvia Reuvekamp: Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans. Berlin/New York 2007, S. 15, mit Bezug auf Manfred Eikelmann: Studien zum deutschen Sprichwort im Mittelalter. Gattungsbegriff, Überlieferungsformen und Funktionstypen. Habil. masch. Göttingen 1994, S. 85–100.

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durch Geneluns Hinrichtung – formal gespiegelt. Über die Gegenüberstellung von sælde und unsælde baut der Erzähler eine Antithese zwischen Genelun und Karl auf: Do bewærete aber Karl daz, daz ein sælich mennesch sælde birt, des manech mennesch sælich wirt. sin reiniu sælde was so groz, daz sin vil maneger genoz, den er mit der gotes kraft becherte von der heidenschaft, der anders verlorn wære. (K 12034–12041)719

Der Text schließt mit diesem Rückbezug auf Karls sælde und die Bekehrung der Heiden durch Gottes Hilfe an den Prolog an: Karls sælde, die er selbst infrage gestellt hat und die auf die Probe gestellt worden ist, ist intakt und durch Rolands Tod nicht verloren gegangen. Seine Gottesbeziehung ist ungetrübt und er figuriert als Herrscher weiterhin als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz. So bestätigt sich seine im Prolog postulierte Wirksamkeit, denn Karl führt mit seiner sælde andere Menschen zur sælde, er vermehrt Heil. In seiner sælden-Fülle zeigen sich endlich religiöse und herrscherliche Pflichten harmonisiert. Die zurückliegende Erzählung als eine Geschichte des Herzensleides und der Herzensverletzungen wird schließlich in die nächste Generation getragen – wie der Erzähler am Ende des Textes erklärt: Die Tötung Baligans durch Karl wird als daz alte herze ser (K 12049) zum Auslöser für neue Spannungen zwischen Christen und Heiden. Damit öffnet der Stricker seinen Text über genealogische Traditionslinien für ein Weitererzählen. Wolfram von Eschenbach erzählt den Konflikt zwischen Christen und Heiden in der nächsten Generation der Karolinger im Willehalm fort. Der Stricker kennt Wolframs Werk und reimt seinen Text, daz alte herze ser, auf Wolframs Text, nämlich auf Terramer (K 12050), den Neffen Baligans, der gegen Karls Sohn Ludwig kämpft.720 Schließlich stirbt Karl und verdient sich endgültig

719 Diese sælde- bzw. Seligkeitsbetrachtung übernimmt das Buch vom heiligen Karl (vgl. BhK 93, 25–33). Der Erzähler setzt davon ausgehend aber zu einer Explikation der Heiligkeit Karls an, die keine der anderen Bearbeitungen bietet, und adelt Karl superlativisch als ‚nützlichsten‘ Heiligen der Christenheit: Won man list von im, daz kein heilg der Cristnenheit als nücz sig gewessen alß er; won er hat an massen vil heiden bekert und vil landen erstritten, und hat im got vil grosser gnaden gethan, alß ir ein teyl gehört hand und hernach werdend hören, und alß ir da vor gehört hand, wie Karlus den obristen küng der heiden, der da genant was Paligan, erschluog und mit im ze acht malen hundert tusind heiden (BhK 93,33–94,1). Dazu wird das Buch vom heiligen Karl im Folgenden – nachdem das Ende der im Rolandslied erzählten Geschichte erreicht ist – noch etlich getet und leblich stritt und wunderwerck von dem wirdigen keyser Karlus (BhK 94,5 f.) aufbieten. 720 Vgl. zur gemeinsamen Überlieferung Kapitel III.7.3.

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das ewige Leben und einen Platz in Gottes Reich. Seine Passion dauert bis zum Ende seines Lebens an und erst der Tod sollte ihn von diesem Leiden erlösen: mit also chreftiger not was Karl, unz im der lip erstarp. da mit er vollechliche erwarp den stůl der ewigen jugent. (K 12052–12055)

Die lebenslange Passion, die neben seinem Körper vor allem sein Herz martert, bildet damit ein entscheidendes Element für Karls Heiligkeit. Der Herrscher gilt dem Text als kanonisierter Heiliger, wenn der Erzähler für die Rezipienten und sich bittet, dass Gott ihnen helfen möge, das Himmelreich zu erlangen, um schauen zu können, wie sande Karle ist geschehen (K 12058).

6.6 Zwischenergebnis Da Karl von Gott dazu bestimmt ist, während des Spanienfeldzugs unsterblich zu sein – was bereits eine gnadenhafte Gewährung und Sakralisierung darstellt –, müssen Alternativen zum Martyrium gefunden werden, wenn Karl als Heiliger dargestellt werden soll. Die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, insbesondere die Bearbeitung des Strickers, zeigen Karl als charismatischen Herrscher, dessen Legitimation auf seinem intakten Nahverhältnis zur Transzendenz gründet. Zudem stützt sich seine Herrschaft auf persönliche Nahbeziehungen zu den Zwölf Paladinen, besonders zu Turpin und Olivier und vor allen anderen zu Roland, seinem Neffen (Rolandslied, Strickers Karl) bzw. Sohn (Buch vom heiligen Karl). Kern der Herrschaftsbeziehungen ist das empfindsame Herz des Kaisers, das als affektivemotionales Zentrum vom Heiligen Geist erfüllt ist, Störungen innerhalb und außerhalb des Herrschaftsverbands registriert und Handlungsmotivationen eingibt. In Karls Herz laufen die Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz sowie alle persönlichen Beziehungen und herrschaftlichen Konflikte zusammen. Da charismatische Herrschaft der Bewährung bedarf, muss Karl seine Gottesnähe unter Beweis stellen, sich religiös und herrschaftspraktisch, individuell und für das Kollektiv verantwortlich auszeichnen. Der Wechsel zwischen Phasen der Vereinzelung und Phasen der Eingliederung in den Herrschaftsverband ist für Karls Bewährung signifikant. Auf Figurenebene und als Integration in die Handlungsführung wird Karls Herzenspassion von Genelun und den Heiden angestrebt, denn eingedenk seiner engen emotionalen Bindung an die Zwölf Paladine versuchen sie diese und insbesondere Roland auszuschalten – der emotionalen soll die militärische Vernichtung Karls folgen. Als intuitives Organ ‚erahnt‘ das Herrscherherz den Verrat Geneluns und die Nominierung Rolands als spanischer Statthalter lässt es beim Stricker beinahe brechen – Karl ist psychisch und physisch empfindlich getroffen. Neben diese Er-

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probung treten die ängstigenden Träume, die als Medien der Passion den bevorstehenden Verlust Rolands visualisieren und von zukünftiger Passion künden. Über die Herzensahnung und die Träume wird exklusives Wissen begründet, das durch die herrscherliche Verantwortung für die ihm von Gott Anvertrauten kummervoll auf Karl lastet. Der Herrscher wird darüber erprobt und von seinem Kollektiv, das in Freude zurück ins Reich ziehen möchte, emotional getrennt. Auf diese Phase der Desintegration folgt jedoch bei der Verabschiedung von Roland und seinem Gefolge eine Reintegration, denn alle Christen klagen gemeinsam mit Karl. Das Kollektiv ist mit seinem Herrscher wieder emotional synchronisiert. Diese Einmütigkeit läuft dem Plan Geneluns und der Heiden zuwider. Beim Stricker zeigt schließlich das Speerwunder die gottgewollte Trennung von Karl und Roland, stellt beide unter Gottes Schutz und sakralisiert die Handlungen um den Herrscher. Nach ihrer Trennung wird Karl über Rolands Hornstoß mit den Kämpfern in Roncesvalles verbunden. Er inkorporiert ihr körperliches Leiden über sein Herz und leidet auf psychisch-emotionaler Ebene, d. h. compassional, mit seinen Gefolgsleuten. Karls vehemente Klage über den drohenden Tod der Kämpfer um Roland, die auf compassionale Effekte auf Rezipientenseite zielt, stellt die drängende Frage nach der Vereinbarkeit von exorbitanter Trauer und rationaler Herrschaft. In dieser Phase ist das Kollektiv mit seinem Herrscher emotional harmonisiert: ‚Unfreude‘, versteinerte, vor Schmerz geschwollene Herzen vereinen die Gemeinschaft einmütig im Leid. Auf figuraler Ebene wird Karls verletzliches Herz von den Kämpfern in Roncesvalles besprochen und Turpin erkennt die Herzenspassion als frei gewählten Leidensweg Karls; darin liegt christomimetisches Potential. Über Rolands Hornstöße, die Karl deutet, wird eine Passionskommunikation installiert: Karls Gefolge vollzieht das Martyrium der Kämpfer in Roncesvalles compassional nach, wobei der herrscherliche Kummer stets besonders profiliert wird. Rolands Tod auf dem Stein in Roncesvalles als Christomimese erschüttert über ein Erdbeben symbolisch Karls Herrschaft und läutet die schwerste Phase seiner passio cordis ein. Im Folgenden werden herrscherliche Passion und Verantwortung entlang individueller Auszeichnung und Vergemeinschaftung ausgehandelt. Beim Anblick der Toten auf dem Schlachtfeld in Roncesvalles ‚weinen‘ die Herzen aller Christen und sie fallen in Ohnmacht von ihren Pferden. In dieser kollektiven Trauer wird Karls Trauer besonders fokussiert, denn sein Herz bricht und die Erschütterung wird äußerlich sichtbar gemacht über Körperzeichen und Klagegesten. Mit dem inkommensurablen Verlust der Zwölf Paladine geht für Karl eine Destabilisierung seiner Herrschaft einher. Die Texte zeigen damit die Kehrseite der Martyriumsideologie für funktionierende diesseitige Herrschaft, mag sie auch charismatisch begründet sein. Karl ist vor Leid erschöpft und handlungsunfähig. Es folgt die Aufforderung durch einen Engel, seine Trauer zu mäßigen und die fliehenden Heiden zu verfolgen. Herrschaft braucht Affektbeherrschung und Rationalität, doch Karl muss zugleich exorbitant leiden, um sich in einer Heiligkeit stiftenden christlichen Passion zu be-

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währen. Die Texte setzen hier die für Herrscherheiligkeit signifikante Spannung ins Bild: Karl muss getadelt werden, damit die Passion als Passion erkannt werden kann. Er muss göttliche Ordnung verletzen, um Gott nahe zu sein. So verleiht paradoxerweise eine Rüge – denn sie stammt von einem Engel – einen Schub an religiöser Herrschergeltung. Ein von Karl erbetenes und von Gott erfülltes Sonnenwunder trägt ebenso zur Herrschersakralisierung bei. Wieder werden Träume als Medien der Passion und zugleich Ankündigung zukünftiger Leiden inseriert. In voller Verantwortung für die bevorstehenden Strapazen seiner Gefolgsleute deutet Karl den Kampf mit Baligan biblisch aus, wobei gerade die Freude am kommenden Leid gemeinschaftsstiftend wirkt. Unter der kaiserlichen Fahne, die von universalem Geltungsanspruch und dem Recht, über Leben und Tod der Heiden zu richten, zeugt, ziehen die Christen in die Schlacht. Mit dem Sieg im Baligan-Kampf wird Karl als Kämpfer von Gottes Gnaden gezeigt, der ein Gottesurteil vollstreckt. Karl bewährt sich als charismatischer Herrscher und erlöst das Kollektiv, das von Gott mit einem Lichtwunder bedacht wird. Kollektive Heilspartizipation wird ermöglicht und zugleich bedingt durch Karls individuelle Bewährung und Gottesnähe. Mit der wunderbaren Konversion der Brechmunda (Juliane) wird Karl schließlich eine religiöse Expertin zur Seite gestellt, die seine Passion im Folgenden korrigierend begleitet und reguliert. Karl gerät bei der Betrachtung der Gefallenen auf dem Feld der Baligan-Schlacht vor Trauer außer sich: Abermals stehen die christliche Axiologie und Martyriumsideologie gegen Karls emotionale Disposition und seine herrschaftsbezogenen Klagen. Karl wendet sich in Askese wieder dem Schlachtfeld von Roncesvalles zu. Er martert seinen Leib aufgrund seiner passio cordis und vollzieht Rolands im Kampf durchlebte Leiden, die ihn in das Reich Gottes gelangen ließen, nach. Karls compassio bedeutet damit auch Heilspartizipation. Sie durchzieht als dynamisches Phänomen die Erzählung auch handlungsstrukturierend. So entfaltet sich eine Choreographie der Trauer bei Karl und seinem Gefolge, die durch kollektive Efferveszenzen eine Stabilisierung der Affektgemeinschaft der Christen befördert. Die von Genelun und den Heiden gewünschte Irritation und Zersetzung des Herrschaftsverbands durch die emotionalen Auswirkungen der Tötung Rolands und der anderen Paladine führt – aufs Ganze gesehen – zum Gegenteil, nämlich zur Kohäsion des Kollektivs. Gemeinsame passio und compassio sowie die Trauer um die Gefallenen – insbesondere um die eigenen Verwandten – stärken den Zusammenhalt des charismatischen Verbands, obgleich Phasen der Isolation Karls durch exorbitante Trauer die Gemeinschaft gefährdend erproben. Besonderer Fokus liegt auf der Pietà-Figuration avant la lettre zwischen Karl und Roland, die über die Bezüge zu Christus und Maria zu einer Sakralisierung beider Figuren und ihrer Beziehung beiträgt. Das Blut für Rolands unblutiges Martyrium liefert Karl im Rolandslied und beim Stricker mit seinen Blutstränen, wodurch seine Herzenspassion in die Nähe eines körperlichen Martyriums gerückt wird. Auf diese Weise werden die beiden unterschiedlichen Passionsmodelle von physischer Passion der Märtyrer und psychischer compassio des Kaisers und seines Gefolges einander angenähert. Der Erzähler bindet die Re-

6 Passio cordis: Karls heiligendes Leiden

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zipienten wieder durch Aufruf zur compassio ein. Doch die heiligende Passion und Auszeichnung Karls lähmt sein Kollektiv, Juliane (Brechmunda) ermahnt zur Achtung der christlichen Axiologie und herrscherlichen Verantwortung – mit Rolands Entfernung wird Karl wieder handlungsmächtig. So zeigte sich, auch im Nacheinander der Handlungen, dass nicht der Baligan-Kampf, sondern die exorbitante Trauer um Roland Höhepunkt des Glaubenskampfes und der Passion des Herrschers ist. Nicht im Kampf, sondern in der Trauer verliert Karl Blut, das seinem leidenden Herzen entspringt. Es folgt eine Phase der Heiligung und Begründung von Memoria, die nur der Stricker und das Buch vom heiligen Karl führen. Karl lässt eine Totenwache durchführen und über ein Scheidungswunder identifiziert Gott die gefallenen Christen. Der Herrscher bewegt sich in der christlichen Axiologie, nennt – wie Juliane (Brechmunda) – die Märtyrer ‚heilig‘ und erklärt ihren Nutzen. Die Zusammenführung der toten Christen und sich ereignende Heilungswunder als miracula post mortem zeugen von der Heiligkeit des Ortes. Die Christen sind allesamt fröhlich und Karl kategorisiert die Vorgänge als heilig, womit der Kampf in Roncesvalles und das Leiden und Sterben der Christen als Stationen eines Heilsweges ausgewiesen werden. Doch Karl ist von der kollektiven Freude ausgenommen, in Sorge und Trauer bleibt seine passio cordis auch jenseits des Glaubenskampfes virulent. Er stiftet ein Spital für Roland und eine Kirche über dem Passionsstein, auf dem Roland für Gott gestorben und Karl als Höhepunkt seiner passio cordis Blutstränen um Roland geweint hat. Der nach Auskunft des Erzählers noch heute nasse Stein in der Kirche autorisiert das Erzählte und strahlt legitimierend auf den von Heiligkeit erzählenden Text aus. Die Herzenspassion und die Folgen der Erschütterung der charismatischen Bindungen über die Verluste in Roncesvalles peinigen Karl beim Stricker und – in der Intensität etwas zurückgenommen – auch im Buch vom heiligen Karl über den Spanienfeldzug hinaus. Das zeigen auf dem Heimweg die weitere Begründung eines ‚Rolandkultes‘ durch Stiftung eines Klosters und Karls Trauer um Roland in der Alite-Episode. Im Fortgang der Erzählung steht die herrscherliche sælde zur Disposition als Indikator der gelingenden Lebensführung mit der Aussicht auf Aufnahme in Gottes Reich. Karl wähnt sich in anhaltender Passion, seit Rolands Tod der sælde sowie Gottes Gnade beraubt und als Herrscher nutzlos. Die Irritation der charismatischen Bindungen und des Vertrauens wirkt aus Roncesvalles nach (vgl. Otte-Episode) und findet – nun in allen drei oberdeutschen Bearbeitungen – ihren Höhepunkt im Genelun-Prozess. Über Dietrichs Sieg im Zweikampf wird schließlich eine Harmonisierung von Gott und Karl sowie von Herrscher und Gefolge abgebildet. Ein Sprichwort fasst diese Ordnungsherstellung ein und dient beim Stricker und im Anschluss im Buch vom heiligen Karl der Konsensstiftung: Anders als Geneluns unsælde garantiert Karls sælde ihm die Gnade Gottes und demonstriert seine Bestimmung als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz und seine Macht, andere Menschen zum Heil zu führen. Herrschaftliche und religiöse Anforderungen sind in der sælde harmonisiert.

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Mit Karls Leben endet schließlich auch seine Passion, die in Form seiner Herzenspassion als entscheidendes Element für die Heiligkeit von sande Karle erscheint. Damit liegt mit der fortdauernden Passion eine spezifische Form der Heiligung als Martyriumssubstitut vor, das von Gott verfügt ist und eine Charismatisierung und religiöse Herrschaftslegitimation bedeutet. Diese Passion scheint im Besonderen ein Phänomen charismatisch begründeter Herrschaft zu sein, die ebenso auf Außeralltäglichkeit, Exorbitanz und Bewährung abhebt: Passion ist primär religiöse Bewährung, doch bei Karl ist sie zugleich auch herrscherliche Prüfung. Da Karls Passion sein Herz und damit das zentrale Herrschaftsorgan betrifft, steht mit der Herzenspassion auch seine Herrschaft auf dem Spiel. Die engen Bindungen an die Zwölf Paladine und insbesondere an Roland bergen neben stabilisierender Kraft auch eine Herrschaftsgefährdung, wenn die Vertrauten ihr Leben verlieren. So setzen die Texte, allen voran der Strickersche Karl, das Wagnis charismatischer Herrschaft ins Bild und modellieren die spannungsvolle Verbindung von sakraler Herrschaft und persönlicher Heiligkeit. Wie gezeigt, muss sich Karl temporär in besonderer Trauer oder im Kampf auf Leben und Tod vereinzeln, um sich als Herrscher von Gottes Gnaden zu profilieren. Mit Blick auf diese Struktur funktioniert die Konstitution von Heiligkeit analog zur Herrschaftskonstitution über Unterscheidungen. Im diachronen Durchgang durch die hier untersuchten Werke nimmt der Fokus auf die Karlsfigur zu, ihre heiligende Desintegration wird verstärkt und sie entwickelt sich zusehends zum Erzählzentrum. Die vermehrte Ausblendung des Kollektivs in den Trauerszenen färbt besonders das Buch vom heiligen Karl biographisch ein und lässt die heldenepische Form zugunsten einer legendarischen Vita des heiligen Karl zurücktreten. So spiegelt sich die ‚große‘ Bearbeitungstendenz einer Hagiographisierung, die sich in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen abzeichnet, sowohl in den Mikrostrukturen als auch in der handlungsstrukturierenden Funktion der passio cordis wider.

7 Vom heiligen Krieg zur heiligen Vita: Erzählen von Karl zwischen Paradigma und Syntagma Das abschließende Kapitel betrachtet unter Rückgriff auf die Chanson de Roland vergleichend die Strukturen der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, indem ihre grundsätzliche Anlage und das erzählerische Anliegen, Erzählabschnitte sowie Handlungsmotivationen in den Blick genommen werden.721 Diese Perspektive um-

721 Es soll auch in diesem letzten Kapitel keine Teleologie als zielgerichtete ‚Entwicklung‘ der Texte und ihrer Darstellungsformen unterstellt werden. Der Kapitel- und Argumentationsaufbau unterliegt der chronologischen Reihenfolge der Texte und trägt ihrem Verhältnis als Bearbeitungsreihe Rechnung. Auch wenn die Bearbeitungstendenzen im Rückblick den Eindruck einer Notwendigkeit oder gar Alternativlosigkeit machen können, handelt es sich explizit nicht um eine notwendige Entfaltung nach einem spezifischen Schema.

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greift Anfang, Mitte und Ende der Texte, beschreibt die jeweilige Besetzung und Verknüpfung der Teile und forscht nach syntagmatischen und paradigmatischen Organisationsprinzipien. Dabei wird eine Kombination von Makroperspektive und Mikroanalysen vorgenommen, um insbesondere für das wenig erforschte Buch vom heiligen Karl zulässige Rückschlüsse auf die Gesamtkomposition ziehen zu können. Damit wird auch die narratologische Frage berührt, wie sich eher syntagmatisch abzubildende Herrschaft und eher paradigmatisch abzubildende Heiligkeit erzählen und miteinander koordinieren lassen.722 Aufgegriffen wird die mit Blick auf das zu untersuchende Textcorpus eingangs der Arbeit angeführte These der Transformation der heldenepischen Erzählung zur hagiographischen Vita. Damit wird ein auf den Spanienfeldzug konzentriertes Erzählen überführt in ein auf die Figur Karls des Großen konzentriertes Erzählen, sodass sich die Figur vom historischen Ereignis emanzipiert und selbst als strukturbildendes Erzählzentrum erscheint.723 Das vorliegende Kapitel blickt auch auf die zurückliegenden Kapitel III.1–6 zurück, die beweisen, dass Karl im diachronen Durchgang durch das Textcorpus zusehends zum heiligen Herrscher avanciert. Sein Leben bildet den Bezugsrahmen der Erzählungen und der Spanienfeldzug wird darin als zentrale Episode integriert und als vorzügliches Beispiel kämpferischen Gottesdienstes schließlich in der Heiligenvita geborgen. Als eine solche geht das Buch vom heiligen Karl in seiner Materialfülle über die anderen Bearbeitungen hinaus, besonders in seinem letzten Teil (BhK 94,7–114,14). Auf der Analyse dieses letzten Teils, der unter anderem von Kämpfen, Wundern, Visionen, dem Tod und der Kanonisierung des Herrschers berichtet, liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Kapitels. Indem die Quellen für die einzelnen Episoden einbezogen werden, soll das Profil der Bearbeitung geschärft werden. So wird sich zeigen, dass das Buch vom heiligen Karl ein Konversionsnarrativ einflicht, das die episodische Darstellung durchzieht: Schließlich legt Karl, der kämpfende Ritter, nach einem ‚Damaskuserlebnis‘ die Waffen nieder und wird geistlich ein rytter gocz (BhK 108,34). Im Folgenden soll es nicht um eine theoretische Diskussion der Konzepte ‚Syntagmatik‘ und ‚Paradigmatik‘ gehen – das ist ein eigenes Forschungsfeld –,724 son-

722 Vgl. zur Problematik des Erzählens von Heiligkeit bereits Kapitel II.2.3.2. 723 Vgl. zur Fokussierung des Heiligen anstelle eines Ereignisses im legendarischen Erzählen Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 16, der die grundlegenden Studien von Wolpers (Die englische Heiligenlegende) und Feistner (Historische Typologie) diskutiert. 724 Für eine linguistische Auseinandersetzung unter Rückgriff auf die zentralen Arbeiten von Roman Jakobson u. a. sowie die ältere Forschung siehe Heinz Happ: ‚paradigmatisch‘ – ‚syntagmatisch‘. Zur Bestimmung und Klärung zweier Grundbegriffe der Sprachwissenschaft. Heidelberg 1985 (Reihe Siegen. 55). Für eine literaturwissenschaftliche Diskussion von Syntagmatik und Paradigmatik mit Blick auf die Literatur des Mittelalters vgl. Julia Richter: Spiegelungen: Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ‚Parzival‘. Berlin/Boston 2015 (MTU. 144), S. 1–40; der Fokus liegt hier auf den grundlegenden Arbeiten von Lotman (besonders ders.: Die Struktur literarischer Texte. Übers.

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dern um ihre basale heuristische Funktion. Die Unterscheidung von Syntagmatik und Paradigmatik bedeutet zunächst die Vorstellung einer horizontalen und vertikalen Organisation von Sprache, von einzelnen sowie komplexen sprachlichen Äußerungen.725 Die Ebene der Syntagmatik meint die (regelhafte) Abfolge, die Kombination sprachlicher Elemente in einer linearen Organisation, also in ihrem Vor- und Nacheinander sowie ihrer wechselseitigen Bedingung. Je spezifische lineare Organisationsformen können als Syntagma bezeichnet werden. Die einzelnen sprachlichen Elemente, die in der linearen Ordnung, im bzw. als Syntagma, auftreten, bedeuten die paradigmatische Besetzung – jene Elemente, die dieselbe Position in einem Syntagma besetzen können, gehören zu einem Paradigma. Diese Elemente stehen in einem ausschließenden Verhältnis, wenn Element A oder Element B aus dem selben Paradigma die identische Position X im Syntagma besetzen können. Das Wählen, die Selektion im Paradigma bedeutet, Optionen auszuschließen und Setzungen vorzunehmen. Die paradigmatischen Elemente A und B können jedoch in einem Nacheinander auf der Position X und der äquivalenten Position Y in einem Syntagma kombiniert werden. Analog zu dieser linguistisch-formalistischen Struktur wählen literarische Texte auf einer paradigmatischen Ebene ‚Themen‘ aus dem gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungshorizont aus, bearbeiten diese syntagmatisch und bringen sie wieder in die Gesellschaft und ihre Kultur ein.726 Auf einer etwas niedrigeren Abstraktionsebene, die textuelle Makrostrukturen erfasst, meint Syntagma hier die gesamte linear organisierte Ausdehnung eines Textes, zumeist mit einer basalen Struktur von Anfang, Mitte und Ende.727 Die Syntagmen organisieren ihre paradigmati-

von Rolf-Dietrich Keil. 4., unveränd. Aufl. München 1993 [UTB. 103]) und den für paradigmatisches Erzählen einschlägigen Studien von Warning (besonders ders.: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 [2001], S. 176–209). Theoretisch-terminologische Diskussionen in Verbindung mit Fallstudien bieten Jan Mohr, Michael Waltenberger (Hrsg.): Das Syntagma des Pikaresken. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft. 58); besonders hinzuweisen ist auf die Beiträge von Caroline Emmelius: Das Ich und seine Geschichte(n). Paradigmatische und syntagmatische Erzählstrukturen in der Novellistik, der mittelalterlichen Ich-Erzählung und im deutschen Lazaril von Tormes (1614), S. 37–69; Johannes Klaus Kipf: Überlegungen zur Struktur der ältesten deutschen Schelmenromane und einiger Schwankromane, S. 71–101 sowie Udo Friedrich: Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Zur Paradigmatik und Syntagmatik des Glücks in Hieronymus Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks, S. 315–347. 725 Happ begreift Jakobsons ‚Zwei-Achsen-Lehre‘ als „die – mehr oder minder ausgestaltete und schematisierte – Lehre vom Zusammenwirken der (‚vertikalen‘) ‚paradigmatischen‘ Achse und der (‚horizontalen‘) ‚syntagmatischen‘ Achse“ (ders., ‚syntagmatisch‘ – ‚paradigmatisch‘, S. 11, Anm. 2). Siehe hierzu auch Friedrich, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, S. 316 f. 726 Vgl. Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S. 34, dessen Ansatz bereits Kapitel II.2.1.3 bespricht. ‚Thema‘ ist hier und im Folgenden nicht als theoretische Kategorie zu verstehen, sondern schlicht als ‚Gegenstand‘ der Erzählung und der literarischen Bearbeitung. 727 So spricht Richter von einem „[s]yntagmatischen Erzählen, also ein[em] Erzählen mit Anfang, Mitte und Ende“ (dies., Spiegelungen, S. 28 f.). Es ist klar, dass die Unterscheidung von Paradigma und Syntagma auf Ebene kultureller und textueller Makrostrukturen bis hin zur Ebene linguisti-

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schen Elemente z. B. in kausalen Bedingungs- und Ermöglichungsverhältnissen, sie können strukturiert sein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, natürlichbiologischen Abfolgen gehorchen oder nach anderen Prinzipien arrangiert sein.728 Paradigmatische Elemente können in Form von ‚Episoden‘729 vereinzelt, gehäuft oder auch in Reihen auftreten und mit den Strukturen des Syntagmas, „die eine lineare Erzählführung konstituieren“,730 in Konkurrenz treten, sie unterlaufen oder überlagern.731 Welche Syntagmen und Paradigmen lassen sich also mit Blick auf Karls Herrschersakralität für die Chanson de Roland und die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen ermitteln? Wie stehen diese syntagmatischen

scher Mikrostrukturen vorgenommen werden kann: Anfang, Mitte, Ende; Kapitel, Episode, Abschnitt, Absatz, Periode, Satz; Strophe, Vers; Wortgruppe, Wort, Morphem, Graphem/Phonem. Die Konstitution von paradigmatischer und syntagmatischer Achse unterliegt der jeweiligen Betrachtung und muss dem Untersuchungsinteresse angepasst werden, um „das Gegensatzpaar Syntagma – Paradigma auf unterschiedlichen argumentativen und analytischen Niveaus konzeptualisiert und ertragreich“ einzusetzen (Jan Mohr, Michael Waltenberger: Einleitung. In: Dies. [Hrsg.], Das Syntagma des Pikaresken, S. 10). 728 Man denke an die Unterscheidung der Darstellung zwischen ordo naturalis und ordo artificialis als ‚natürliche‘ und ‚künstliche‘ „Abfolge der Redeteile oder des erzählten Geschehens“ (Fritz Peter Knapp: Art. Ordo artificialis/Ordo naturalis. In: 3RLW 2 [2007], S. 766–768, hier S. 766). 729 Unter ‚Episode‘ versteht Martínez eine „[r]elativ selbständige, in einen größeren narrativen Zusammenhang gehörende Teil- oder Nebenhandlung“ (Matías Martínez: Art. Episode. In: 3RLW 1 [2007], S. 471–473, hier S. 471). Die instruktive und für die Analyse des Buchs vom heiligen Karl zugrunde gelegte Explikation lautet wie folgt: „Episode heißt ein in sich relativ geschlossener Abschnitt des dargestellten Geschehens (der histoire, im Unterschied zum discours) eines erzählenden oder dramatischen Textes, der der Ausdehnung nach zwischen der Gesamthandlung einerseits und kleineren Einheiten wie Ereignis, Szene oder Tableau andererseits liegt. Man bezeichnet damit entweder einen Teil der (aus mehreren Episoden zusammengesetzten) Haupthandlung oder aber eine Nebenhandlung, die für die Kontinuität der Haupthandlung nicht notwendig ist. Der Begriff enthält einen internen Aspekt, der sich auf die Struktur der Episode selbst bezieht, und einen kontextuellen (funktionalen) Aspekt, der sich auf die Position dieser Einheit in der narrativen Gesamtstruktur bezieht. Die interne Einheit der Episode wird durch die narrative Kohärenz der in ihr dargestellten Handlungssequenz hergestellt; ihre Anfangs- und Endpunkte fallen oft mit Ortswechseln, Zeitsprüngen oder Veränderungen in der Figurenkonstellation zusammen“ (ebd.). 730 Richter, Spiegelungen, S. 7. 731 Es können beispielsweise „episodische Mikrostrukturen und biographische[s] Makro-Sujet“ unterschieden werden (Mohr/Waltenberger, Einleitung, S. 10). So identifiziert Richter in Wolframs Parzival paradigmatische Strukturen, „die eng an die Syntagmen der Erzählungen von beiden Protagonisten geknüpft“ sind, und stellt „ein Oszillieren des Textes zwischen dominant syntagmatischen und dominant paradigmatischen Strukturen“ fest (dies., Spiegelungen, S. 38). Emmelius begreift „den Lebensweg des Protagonisten“ als syntagmatische und „die Serialität analoger Stationen auf diesem Weg“ als paradigmatische Erzählstrukturen im europäischen Schelmenroman (dies., Das Ich und seine Geschichte[n], S. 38). Friedrich veranschlagt für den Lazarillo de Tormes „ein komplexes biographisches Syntagma als Überlebenskampf eines verarmten jungen Mannes“ (ders., Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, S. 315). Vgl. zur Paradigmatisierung des Syntagmas ‚Lebenslauf‘ ebd., S. 324.

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und paradigmatischen Strukturen zueinander und welche diachronen Verschiebungen, Ergänzungen oder Tilgungen lassen sich ausmachen?

7.1 Paradigmatisches Erzählen von Karl (Chanson de Roland) Die heldenepische Chanson de Roland wählt paradigmatisch aus dem kulturellen Reservoir potentieller Themen und Erzählstoffe das Thema ‚Karls Spanienfeldzug‘. Diese Wahl ist dem Text freilich vorgängig, indem sie seinem Produktionsprozess als conditio sine qua non vorausliegt. Das gewählte Thema wird zunächst als kausal strukturiertes Syntagma entfaltet, das Handlungen oder „Handlungsketten“732 vorsieht, die aufeinander bezogen sind, sich bedingen und in ihrer zeitlichen Abfolge nach einem Schema von ‚Aktion – Reaktion‘ präsentiert werden. Für die Frage nach Karls Herrschersakralität genügt bereits eine recht basale Betrachtung der Textstruktur, um wesentliche Schlussfolgerungen zur syntagmatischen und paradigmatischen Anlage der Chanson de Roland ziehen zu können. Das Handlungsgerüst, das sich vornehmlich auf Anfang (Handlungsauslösung/Textbeginn),733 Mitte und Ende (Handlungsabschluss/Textschluss) bezieht, könnte demnach so abstrahiert werden:734 1.) 2.) 3.) 4.) 5.) 6.)

Konflikt: Diplomatische Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden, Aktion: Verrat Geneluns, Folge: Schlacht in Roncesvalles (Tod der Christen um Roland), Reaktion: Verhaftung Geneluns, Reaktion: Racheschlacht Karls und Kampf gegen Baligant (Sieg der Christen um Karl), Reaktion: Prozess und Hinrichtung Geneluns.

Das Ende der Erzählung von Karls Spanienfeldzug und den damit verbundenen Implikationen des Verrats und Prozesses Geneluns sowie der Taufe der Königin Brechmunda (Juliane) und damit die Schließung des primären Syntagmas (ChdR 1–3990) wird am Ende des Textes um den Anfang eines scheinbar analogen Syntagmas ergänzt. Das Ende des Textes gewährt also den Ausblick auf den Anfang einer neuen Geschichte: Passet li jurz, la nuit est aserie. Culcez s’est li reis en sa cambre voltice. Seint Gabriel de part Deu li vint dire:

732 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien 2008, S. 91. 733 Vgl. für das in medias res-Einsetzen der Chanson de Roland bereits Kapitel III.1. 734 Das Makrosyntagma kann freilich in Meso- und Mikrosyntagmen untergliedert werden, es finden sich Paraphrasen vergangener Ereignisse, Anspielungen und angedeutete Erzählstränge.

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‚Carles, sumun les oz de tun emperie! Par force iras en la tere de Bire, Reis Vivien si succuras en Imphe, A la citet que paien unt asise: Li chrestien te recleiment e crient.‘ Li emperere n’i volsist aler mie: ‚Deus!‘ dist li reis, ‚si penuse est ma vie!‘ Pluret des oilz, sa barbe blanche tiret. Ci falt la geste que Turoldus declinet. (ChdR 3991–4002)735

Der Erzengel Gabriel überbringt dem schlafenden Karl einen göttlichen Befehl zur Verteidigung der im ‚Land Bire‘ durch Angriffe von Heiden bedrohten Christen.736 Obgleich Karl diesen Auftrag nicht annehmen möchte,737 ist er gezwungen aufzubrechen und beklagt unter Tränen sein mühseliges Leben, seine vie penuse.738 Nachdem also das primäre Syntagma (ChdR 1–3990) auserzählt ist, sodass keine weitere Handlung kausal angestoßen wird, wird mit dem göttlichen Auftrag eine neue Handlung initiiert, die nicht mehr innerhalb der Textgrenzen auserzählt wird. Durch das Anstoßen eines zweiten Syntagmas weist die Chanson über eine geschlossene Form hinaus, wodurch auf syntagmatischer Ebene Konkurrenz entsteht und eine Paradigmatisierung der syntagmatischen Achse angedeutet wird. Das zurückliegende Syntagma des Spanienfeldzugs wird damit vom Text selbst zu einer Episode innerhalb des Paradigmas „Karls unabschließbarer Kampf gegen die Heiden“ transformiert. So können für „Heiden“ als paradigmatische Besetzung beispielsweise „Sarazenen“, „Sachsen“ oder „Langobarden“ und als Schauplatz beispielsweise „Roncesvalles“ oder „Bire“ eingesetzt werden. Durch die Einfügung des zweiten Syntagmas, das in nuce „funktionsgleich“ und „bedeutungsähnlich“ zum ersten Syntagma erscheint und die paradigmatischen Funktionsstellen gemäß dem Äquivalenzprinzip neu besetzt,739 wird zudem mimetisch das endlose Leiden Karls,

735 „Der Tag vergeht, die Nacht ist hereingebrochen. / Der König hat sich in seinem gewölbten Gemach niedergelegt. / Der heilige Gabriel kam zu ihm und sagte ihm im Namen Gottes: / ‚Karl, biete die Heere deines Reiches auf! / Mit Heeresmacht wirst du in das Land Bire ziehen / Und König Vivien in Imphe beistehen, / Der Stadt, die die Heiden belagert haben: / Die Christen rufen flehentlich nach dir.‘ / Der Kaiser hätte am liebsten dort nicht hingehen wollen. / ‚Gott‘, sagte der König, ‚wie mühselig ist mein Leben.‘ / Er vergießt Tränen, und er rauft seinen weißen Bart. / Hier endet die Geschichte, die Turoldus erzählt“ (Übersetzung nach der Ausgabe von Steinsieck). 736 Vgl. zum Land Bire auch Steinsieck, Anmerkungen, S. 380 und ausführlich zu Bire, Vivien und Imphe Beckmann, Onomastik, S. 592–620, der abschließend erklärt: „Vivïen ist der Vivien der Wilhelmsepik, Bire liegt bei Narbonne, (N)imphe ist Nîmes“ (ebd., S. 620). 737 Vgl. ChdR 3999. 738 Vgl. ChdR 4000. 739 Michael Titzmann: Art. Äquivalenz. In: 3RLW 1 (2007), S. 10 f., hier S. 10. Indem ein oder mehrere weitere Syntagmen auftreten, die ‚funktionsgleich‘ und ‚bedeutungsähnlich‘ sind, liegt eine

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sein ‚Passionsleben‘, abgebildet und reflektiert. Die Chanson de Roland zeigt also exemplarisch das Handeln des Herrschers im Dienste Gottes und trifft auch strukturell eine Aussage über den modus vivendi des Herrschers: Karls Leben vollzieht sich als ‚Passionsleben‘, als vie penuse,740 und unterliegt göttlicher Determination, wie die Botschaft des Engels am Textende als Schlussporträt vor Augen führt. Karls Leiden im Glaubenskampf scheint nicht auf ein konkretes Ziel zuzulaufen, sondern vielmehr einer Perpetuierung zu unterliegen, die dem Text als Wiederholungsstruktur eingeschrieben ist.741 Zu einer Wiederholung, die keine lineare Progression im Leben des Herrschers bedeutet, passt, dass Karl in der Chanson als weißhaariger und über zweihundert Jahre alter und damit geradezu mythisch-verklärter Herrscher auftritt und zudem keiner verständnissichernden Vorstellung oder Geschichte bedarf.742 Bastert betrachtet die Chanson de Roland intertextuell mit Blick auf ihre zyklischen Potentiale und den Anschluss an weitere von Karl erzählende Texte.743 In dieser Perspektive bedeutet der Verweis „auf zukünftige Kämpfe Karls im rätselhaften Land Bire“ am Ende der Chanson eine „epische Schnittstelle, die wie eine Überleitung zur nächsten Branche klingt“.744 Ebenso kann eine Schnittstelle am Anfang den Eindruck vermitteln, „dass dem Text eine Branche vorausgegangen sei, in der ein mehrjähriger Spanienfeldzug des Kaisers geschildert worden wäre“.745 Auch innerhalb der Narration sind Erzählstränge angelagert, die andernorts ausgebreitet

Substituierbarkeit vor. Die Syntagmen sind nicht in Bezug auf alle ihre Merkmale identisch und austauschbar, aber sind im Wesentlichen ‚funktionsgleich‘ und ‚bedeutungsähnlich‘. So ergeben sich Äquivalenzen bzw. Oppositionen „zwischen (sprachlich vermittelten) Größen der ‚dargestellten Welt‘ – z. B. Räumen, Ereignissen, Figuren, Ideologien“ (ebd., S. 11). 740 Vgl. ChdR 4000. 741 „Wie sich jene ‚Geschichte‘ fortsetzt, die hier beginnt, wird im Text des [altfranzösischen; F. B.] Rolandslieds nicht mehr explizit gestaltet. Aber es wird gesagt, daß sie sich fortsetzen wird, und was über die Fortsetzung gesagt wird, ist von einer hinlänglichen Allgemeinheit, um diese Geschichte als eine sich immer und immer, bis unmittelbar vor dem Ende der Zeiten wiederholende auffassen zu können“ (Joachim Küpper: Transzendenter Horizont und Epische Wirkung. Zu Ilias, Odyssee, Aeneis, Chanson de Roland, El Cantar de mio Cid und Nibelungenlied. In: Poetica 40 [2008], S. 228 f. [Hervorhebung übernommen]). 742 Vgl. für Karls weißes Haar auch ChdR 117 f. „Mit der Farbe Weiß und dem silberfarbigen Eindruck von Bart oder Haupthaar, die als Herrschaftszeichen gelten, werden Alter und Weisheit der betreffenden Figur markiert, worauf in der deutschen Version verzichtet wird“ (Klein, Farben der Herrschaft, S. 55 [mit weiterer Literatur]). 743 Vgl. zur Zyklizität der Chanson de Roland Bastert, Helden als Heilige, S. 162–180. 744 Ebd., S. 175. Ähnliches beobachtete schon Bender: „Die älteren Chansons de geste stellen in der Regel eine Reihung von Episoden dar, die zwar häufig untereinander auch ereignishaft verknüpft sind, deren Schlußepisode aber kein absolutes Ende setzt, sondern auf andere Kämpfe verweist, wodurch das einzelne Epos als Ausschnitt eines größeren Ganzen erscheint“ (Karl-Heinz Bender: König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des 12. Jahrhunderts. Heidelberg 1967 [Studia Romanica. 13], S. 182). 745 Bastert, Helden als Heilige, S. 176. Bastert benennt entsprechende Chansons, die von vorausgehenden Kämpfen Karls und Rolands erzählen. Vgl. zum Anfang der Chanson de Roland auch Kapitel III.1.

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werden, sodass Bastert die Chanson de Roland insgesamt in einem „noch extrem locker gefügten Proto-Zyklus“ verortet.746 So sind der Sinnhorizont und die paradigmatische Beziehung des Textes damit in Zyklen von Karlserzählungen zu suchen und er kann beispielsweise über ein „Heldengedenken“747 Funktionen der kollektiven Erinnerung und Identitätsversicherung im Rückgriff auf ‚unseren Kaiser‘ – nostre emper[er]e (ChdR 1) – übernehmen. Für die intratextuelle Dimension lässt sich abschließend Folgendes festhalten: Die Chanson de Roland artikuliert über ihre zugrunde liegende kompositionelle Struktur ihr Selbstverständnis, indem die Kombination von strukturgleichen Syntagmen auf ihren paradigmatischen Status hinweist, der auf inhaltlicher Ebene mit Aussagen zu Karls Herrschersakralität gekoppelt wird: Formale Serialität und angedeutete Unabschließbarkeit korrelieren mit Karls endloser Passion, seiner vie penuse.748

7.2 Syntagmatisches Erzählen von Karl (Rolandslied) Das Rolandslied greift für das Erzählen von Karl dem Großen auf die Chanson de Roland zurück. Der Pfaffe Konrad gibt im Prolog an, dass es Anliegen der Erzählung ist, zu zeigen, wie er [Karl; F. B.] daz gotes rîche gewan (RL 10).749 Damit will die Erzählung einen unikalen, nicht wiederholbaren und damit nicht-paradigmatischen Einzelfall im Leben Karls entfalten, der aufzeigt, wie der Herrscher in Gottes Reich gelangte.750 Dieser Einzelfall ist der Spanienfeldzug, der in der Chanson de Roland paradigmatisch Karls endlose Passion im Glaubenskampf vor Augen führt, und den das Rolandslied syntagmatisch fixiert, wodurch Exemplarität, Wiederholbarkeit und Unabschließbarkeit suspendiert werden. Da der Prolog versichert, dass sich Karl bereits im Reich Gottes befindet, werden der folgenden Narration, die den Weg dorthin bedeutet, eine Finalität und ein geschlossener Sinnhorizont unterlegt. Neben der Funktion der Erzählung wird auch der Zugang zu Karl vermittelt, indem der Herrscher im Prolog förmlich vorgestellt wird: Karl der was Pipines sun (RL 17). Zudem deutet sich eine rudimentäre biographische Struktur an, wenn es heißt, dass Karls Leben von seiner Kindheit an über seine Jugend bis in sein Alter als Aufstieg zur Tugend verläuft und als vita perfecta im himmlischen Reich Gottes mündet. Dort befindet sich Karl nun iemer êwichlîche (RL 30).751 Eine gravierende

746 Ebd. 747 Hammer, Erinnerung und memoria, S. 256. 748 Vgl. ChdR 4000. 749 Vgl. zum Prolog des Rolandslieds bereits Kapitel III.1. 750 Dass die Handlungen bzw. die spezifische Heilsmethodik, mit der Karl in der Erzählung das ewige Leben verdient, imitiert werden können und einzelne Elemente des ‚Einzelfalls‘ damit wiederholbar sind, liegt auf einer anderen Ebene. 751 Vgl. RL 24–27.

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Veränderung gegenüber der Chanson de Roland besteht in Karls Haltung zu seinem ‚Lebensschicksal‘, die sich in der hinzugefügten Vorgeschichte artikuliert. Davon sind auch die Handlungsauslösung und die Motivierung der syntagmatischen Entfaltung des Spanienfeldzugs betroffen: In der Chanson erscheint die Heidenmission als gottgegebene leidvolle Aufgabe,752 im Rolandslied erbittet Karl dagegen flehentlich von Gott, die spanischen Heiden missionieren zu dürfen – er mante got verre (RL 38).753 Die Handlungsauslösung geht somit auf einen Herzenswunsch Karls zurück und ist keine gegen seinen Willen von Gott befohlene Mission.754 Aus der Übereinstimmung seines Wunsches mit göttlichem Ratschluss schöpft der Herrscher sakrale Legitimation. Der Spanienfeldzug, der das primäre Syntagma der Chanson de Roland bildet und dort rückblickend mit dem neuen Missionsauftrag als paradigmatische Episode markiert wird, bildet auch im Rolandslied das Zentrum des Textes (RL 31–9016) und wird eingerahmt durch Prolog (RL 1–30) und Epilog (RL 9017–9094). Der Text schließt das Syntagma und seine Implikationen mit Geneluns Hinrichtung ab – die Konversion der Brechmunda (Juliane) ist gegenüber der Chanson de Roland vorgezogen – und es wird keine neue Handlungskette oder ein äquivalentes Syntagma eröffnet: sô wart diu untriuwe geschendet. / dâ mit sî daz liet verendet (RL 9015 f.). Damit wird „ein theoretisch mögliches Weiterspinnen der Erzählung [...] gegenüber dem französischen Pendant wesentlich erschwert.“755 Nach Bastert „kappte der deutsche Bearbeiter auch sämtliche Verweise der Oxforder Chanson de Roland auf Ereignisse, die der Handlung als vorausliegend gedacht sind“ und „tilgte damit vollständig das ‚epische Substrat‘, auf dem der französische Text basiert.“756 Damit ist das Rolandslied nicht wie die Chanson in einen Karlszyklus integriert und da ein erneuter Auftrag Gottes getilgt ist, wird die offene Struktur der Chanson geschlossen und das zentrale Syntagma im Rolandslied verbindlich und als Heilsmethodik alternativlos gemacht. Diese formale Änderung findet ihre inhaltliche Entsprechung darin, dass Karls unabgeschlossenes Passionsleben, die vie penuse der Chanson,757 bereits im Prolog des Rolandslieds in ewiger Gottesnähe seinen beruhigenden Abschluss gefunden hat. So wird der Spanienfeldzug in seiner Funktion für die Biographie Karls fruchtbar gemacht – das Ereignis wird biographisch imprägniert.

752 Vgl. ChdR 3991–4001. 753 Vgl. RL 31–46. 754 Dabei wird das Motiv des Angriffs der Heiden, das die Chanson de Roland am Ende mit der Bedrohung von Bire als Auftakt für eine neue Episode platziert, im Rolandslied als zusätzliches Argument zur Heidenmission am Anfang positioniert (vgl. Karls Klage vor den Christen über die Gewalt der Heiden gegen Christen; RL 199–221). 755 Bastert, Helden als Heilige, S. 178 f. 756 Ebd., S. 179. Dagegen inseriert der Pfaffe Konrad „Allusionen, die auf das literarische Vorverständnis deutscher Rezipienten gerichtet sind“ (ebd.). 757 Vgl. ChdR 4000.

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Der Epilog, der einzig in der Handschrift P (Cpg. 112) überliefert ist und auf die gegenüber der Chanson de Roland veränderten kulturellen Bedingungen reagiert, stiftet einen gemeinschaftlichen Rahmen für das liet (RL 9077).758 So beginnt der Epilog mit einem Segenswunsch für Herzog Heinrich und fordert dazu auf, ihm kollektiv Gottes Lohn zu wünschen: Nu wünschen wir alle gelîche [...] (RL 9017). Mit der abschließenden Bitte an die Rezipienten, ihn – Konrad –, aber auch Heinrich und alle Gläubigen im Gebet einzuschließen, stiftet er eine christliche Gemeinschaft, deren Einmütigkeit nach Ohly von der Erzählung auf das ‚Wir‘ der außerliterarischen Wirklichkeit ausstrahlt.759 Diese Einmütigkeit der literarischen Gemeinde spiegelt sich in der formalen Geschlossenheit des Textes wider, denn die syntagmatisch geschlossene Erzählung von Karls erfolgreichem Weg in Gottes Reich begründet und nährt eine gemeinschaftliche Hoffnung auf Gottes Gnade.

7.3 Die Herrschervita als Makrosyntagma (Strickers Karl) Das Erzählen von Karl dem Großen hat beim Stricker, wie er im Prolog herausstellt, die Funktion einer Heilsvermittlung:760 Es helfe den Rezipienten, den heiligen Karl kennenzulernen, der als wirkmächtiger Vermittler vor Gott und als ‚Heilskatalysator‘ inszeniert wird, da er zu Lebzeiten Menschen zu Gott geführt habe und sich auch nach seiner Aufnahme in Gottes Reich bereitwillig für die Belange der Gläubigen einsetze. Der Prolog demonstriert auf diese Weise die Relevanz der folgenden Erzählung als Beitrag zur Arbeit am Seelenheil der Rezipienten und wirbt um Aufmerksamkeit. Weiterhin wird erklärt, dass Charakteristisches und damit Exemplarisches von Karl geboten werden soll, sodass eine detaillierte, lückenlos geschlossene Darstellung des Lebens der Herrscherfigur nicht angestrebt ist.761 Durch diese Reflexion der Selektion und Reduktion des Materials lenkt der Text den Blick der Rezipienten auf seine Anlage: zum einen auf die Auswahl des zu Erzählenden, also auf die paradigmatische Besetzung der syntagmatischen Achse, und zum anderen auf die Konstitution der syntagmatischen Achse selbst. Letztere erweist sich, wie der makroskopische Blick auf die Textstruktur im Vergleich zur Chanson de Roland und zum Rolandslied zeigt, als eine zur Herrscherbiographie und Heiligenvita analoge

758 Vgl. den Forschungsüberblick in Kapitel II.1.1 für Literatur zum Epilog. Vgl. darüber hinaus auch Oswald, Gabe und Gewalt, S. 307–316; Urbanek, Lob- und Heilsrede, S. 224–229. 759 „Im Rolandslied schließt das Tu autem, domine, miserere nobis im letzten Vers die Hörer und den Dichter noch einmal im Gemeinde-Wir zusammen, das um dieses Werk aus seinem Geist sich bildet. [...] Der Geist der Einheit strahlt im Rolandslied aus seinem Kern nach außen“ (Ohly, Zum Dichtungsschluß Tu autem, domine, miserere nobis, S. 33). Folglich ordnet Ohly das Rolandslied generisch der Legende zu (vgl. ebd., S. 31 und ders., Die Legende von Karl und Roland). 760 Vgl. ausführlich zum Prolog des Strickerschen Karl bereits Kapitel III.1. 761 Vgl. K 52–62.

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Bauform.762 Auf diese Weise wird auch der Spanienfeldzug, Kern aller Texte des zu untersuchenden Corpus, als zwar primäres, aber disponibles – und damit potentiell paradigmatisches – Syntagma der Chanson und fixiertes – und damit nicht-paradigmatisches – Syntagma des Rolandslieds in ein verändertes strukturelles und semantisches Umfeld verlegt und damit anders perspektiviert.763 Denn nun bildet das Leben des heiligen Herrschers in der Textur des Strickerschen Karl sowohl paradigmatisch als auch syntagmatisch das zentrale Bezugs- und Strukturelement: Auf vertikaler Sinnebene nehmen die Aussagen und Bedeutungen des Textes Bezug auf Karls Leben, sie schöpfen aus ihm und verteilen sich prominent als paradigmatische Besetzungen auf der syntagmatischen Achse. Auf horizontaler, syntagmatischer Sinnebene organisiert sich die Linearität der Erzählung in chronologischer Orientierung am ordo naturalis des Herrscherlebens. Der Stricker bietet im Vergleich zum Rolandslied eine Fülle an genealogischbiographischen Informationen durch die Hinzufügung einer Eltern- sowie einer Kindheits- und Jugendgeschichte des Herrschers.764 Sein Vater Pippin stirbt nach der Zeugung, und dass der vaterlose Karl in der Folge sein Leben trotz schwerer Bedrohungen nicht verliert, daz quam von gotes rate (K 145). Gott nimmt sich des Kindes an und besetzt die Position des verstorbenen Vaters. Damit steht Karl seit frühester Kindheit unter Gottes Schutz und diese frühzeitige Setzung der besonderen Gottesnähe und -gnade integriert die Begründung von Karls Heiligkeit in das Syntagma einer Biographie. Es folgen eine Kindheit und Jugend der Bewährung nach einem Exile and Return-Schema: Karl entgeht einem Mordversuch, wächst im spanischen Exil auf und zum Idealritter heran, wird erotisch (und religiös) versucht und kehrt in das Stammreich zurück, um die Herrschaft als Nachfolger seines Vaters in ‚Kaerlingen‘ anzutreten. Die zurückliegende Ereigniskette ist in Karls Lebenslauf eingebunden, der über die Nennung verschiedener Altersstufen als syntagmatisches Strukturprinzip durchscheint: Karl ist kind[] (K 171), dann ahzehen jar (K 207) und

762 ‚Biographie‘ kann grundsätzlich verstanden werden als „[l]iterarische Darstellung eines Lebenslaufes“ (Helmut Scheuer: Art. Biographie [1]. In: 3RLW 1 [2007], S. 233–236, hier S. 233). Eine „Vita bezeichnet die narrative Darstellung eines Lebenslaufes“, die zwar „[v]on der Biographie [...] systematisch nicht zu unterscheiden“ ist, doch „insbesondere von Heiligen oder heiligmäßigen Personen“ erzählt (Konrad Kunze: Art. Vita. In: 3RLW 3 [2007], S. 786 –789, hier S. 786). „Im Rahmen der Hagiographie [...] wird die Vita durch ihren das ganze Leben umspannenden Inhalt von Berichten über Martyrium (‚passio‘), Reliquien-Übertragung (‚translatio‘) und postmortale Wunder (Mirakel) unterschieden, kann diese aber einschließen. Die Heiligen-Vita konstituiert sich v. a. durch erzählerische Umsetzung der vier Erbauungs-Ziele des Heiligenkultes: Präsentation des göttlichen Heilswirkens in der Welt, der Imitabilität menschlicher Heilsaneignung, der Kultwürdigkeit und der Hilfsfähigkeit der Heiligen“ (ebd., S. 786 f.). 763 So bildet die im Rolandslied erzählte Geschichte zwar das „Zentrum“ des Karl und ist das „Hauptereignis“, aber stellt – wie der Prolog deutlich macht – nur einen Bruchteil aus Karls Leben dar (Bastert, Helden als Heilige, S. 186). 764 Das Kapitel III.2 führt die Einzelheiten der Vorgeschichte aus.

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schließlich ein man (K 233). Mit der Ausübung der Königsherrschaft verbreitet sich die Fama idealer Herrschaft, wenn es summarisch heißt: er tůt an allen dingen / daz beste zallen ziten. / sus lobte man in witen (K 272–274). Damit gelangt die Erzählung der Vorgeschichte von der Geburt bis zur fränkischen Königsherrschaft ans Ende – die Handlung ruht. Die erneute Handlungsauslösung, das Anstoßen eines neuen Syntagmas und seiner paradigmatischen Besetzung oder, je nach Perspektivierung, eines neuen Paradigmas und seiner syntagmatischen Entfaltung geht von der Herrscherfigur aus: Nů gedahte der gewære / an die endelosen swære, / diu den heiden solde geschehen (K 275–277). Nicht ein äußeres Ereignis oder ein göttlicher Auftrag (wie in der Chanson de Roland) löst Handlung aus, sondern Karls Wunsch nach Seelenrettung. So fordert er wie im Rolandslied die Heidenmission von Gott ein – nů mante er got vil verre (K 284) –, der ihm die Mission gewährt und in einer Engelsrede seinen Weg bis zum Spanienfeldzug vorzeichnet: Die weiteren Schritte zum Herrschaftserwerb mit den Etappen der Krönung zum römisch-deutschen König und schließlich Kaiser sowie Kriege, Eroberungen und die Rolle Rolands werden Karl offenbart. Diese Stationen auf dem herrscherlichen Lebensweg werden vom Erzähler komprimiert abgeschritten, um dann den Spanienfeldzug mit seinen syntagmatischen Implikationen einzuleiten. Dieser ist wie im Rolandslied für Karl höchst heilsrelevant,765 so stellt der Engel den Lohn für sein Engagement in Spanien in Aussicht: unt dine nach dem lone / der ewigen chrone. / di soltů ze himelriche tragen (K 385–387). Der Spanienfeldzug ist damit nicht substituierbar oder in seiner Bedeutung für Karls Seelenheil äquivalent vertreten, es gibt kein konkurrierendes Syntagma. Darin unterscheidet er sich von allen anderen im Text erzählten Kriegen, die Karl vor dem Zug nach Spanien geführt hat. Auf diese Weise wird er in seiner unikalen Funktion in Karls Leben integriert, d. h. als Syntagma in das Makrosyntagma der Vita eingegliedert. Das Ende des Spanienfeldzugs und der damit verbundenen Handlungen – die Konversion der Brechmunda (Juliane), Karls Stiftungen in Roncesvalles, Alites Tod sowie die Flucht, der Prozess und die Hinrichtung Geneluns – fällt nicht exakt mit dem Textende zusammen. Denn zunächst kontrastiert der Erzähler Geneluns unsælde, indem er auf ein in Anlehnung an den Römerbrief des Paulus (Rm 5,12–21) geschöpftes Sprichwort zurückgreift,766 mit Karls sælden-Fülle, die andere Menschen zu Gott führt. Auf diese Weise wird ein Bogen zum Prolog gespannt, der den heiligen Herrscher nicht nur für seine Zeitgenossen, sondern auch und im Besonderen für die Nachwelt als Vermittler vor Gott auszeichnet. Damit werden Textanfang und -ende paradigmatisch aufeinander bezogen und die dazwischenliegende Erzäh-

765 Bastert sieht in Karls ‚heiligem Krieg‘ in Spanien das Hauptargument für seine Heiligenverehrung (vgl. ders., Helden als Heilige, S. 187). 766 Vgl. K 12026–12029. Vgl. zur Orientierung am Römerbrief bereits Kapitel III.6.5.

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lung führt gewissermaßen den Beweis für Karls anfangs reklamierte und endlich erzählerisch erwiesene sælde. Dann läutet der Stricker förmlich das Ende seiner Erzählung ein: nů wil ich disem mære / ein ende machen, des ist zit (K 12042 f.). Doch zuvor fügt er einen Ausblick auf die genealogische Fortentwicklung des Konflikts zwischen Christen und Heiden an. Der Kampf wird als alte[s] herze ser (K 12049) auf Lůdwich und Terramer (K 12050), auf die nächste Generation, übertragen.767 Für Bastert ist es plausibel, dass „der Karl einen offenen Schluss besitzt, wie ihn ebenfalls die Chanson de Roland, nicht aber das Rolandslied bot“.768 So sucht der Stricker Bezüge zur französischen Heldenepik, tilgt in diesem Zuge auch die „auf deutsche Heldenepen zielenden Schnittstellen des Rolandslieds“ und begründet so „einen um den Karlstoff zentrierten Proto-Zyklus in deutscher Sprache“.769 In diesem Sinne erhält der Verweis auf Ludwig und Terramer als Verbindung zum Willehalm-Zyklus seine Bedeutung.770 Es ist aber festzuhalten, dass es sich um eine andere Form der Öffnung handelt als in der Chanson de Roland: Diese verweist mit dem ‚Bire‘-Auftrag auf eine Branche des Karlszyklus, der Stricker hingegen verbindet zwei differente Zyklen, indem er auf den Willehalm-Zyklus anspielt. Zudem ist der genealogische Ausblick nicht – wie der ‚Bire‘-Auftrag in der Chanson – das Ende des Textes, denn – und das ist ein kategorialer Unterschied – Karls Tod und seine Heiligkeit werden noch vor Textschluss verhandelt. Karls Tod steht dabei unter dem Eindruck des zu vererbenden religiösen Konflikts: mit also chreftiger not / was Karl, unz im der lip erstarp (K 12052 f.). Das

767 Kellner und Bulang untersuchen paradigmatische Strukturen und ihr reflexives Potential in Wolframs Willehalm und erklären, dass mit Blick auf die Konfliktweitergabe „[d]as Genealogische [...] primär als ein Zusammenhang des Leides, ein Vehikel des Verderbens dargestellt [wird]“ (Beate Kellner, Tobias Bulang: Wolframs Willehalm: Poetische Verfahren als Reflexion des Heidenkriegs. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 124–160, hier S. 150). Willehalm erscheint in diesem Sinne gegenüber Ludwig/Loys als der eigentliche Erbe Karls: „Was Willehalm von Karl – sozusagen jenseits der Blutslinie – geerbt hat, ist die Aufgabe des Heidenkampfes: Die Schlachten von Alischanz stehen in der Sukzession von Karls Kriegen“ (ebd., S. 149). 768 Bastert, Helden als Heilige, S. 188. 769 Ebd. 770 „Karl und Willehalm erscheinen somit als zunächst noch distinkte, thematisch jedoch zusammengehörige Branchen eines einheitlichen Erzählkontinuums, das vom langwierigen Kampf zwischen der christlichen Karolinger- und der heidnischen Pâligân/Terrâmer-Sippe oder metaphorisch gewendet: vom überzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse handelt“ (ebd.). Vgl. zum Karl-Willehalm-Zyklus als „sequenzielle[m] Zyklus“ ebd., S. 189 f. Strickers Karl und Wolframs Willehalm werden gemeinsam und zwar unmittelbar aufeinander folgend überliefert in Handschrift C (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857, 2. Drittel 13. Jhd.) und Y (Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. germ. 19, um 1400–1430) des Karl. Vgl. dazu Singer, Kommentar, S. 392 (mit weiterer Literatur). Ott erkennt in dieser gemeinsamen Überlieferung eine „Art ‚historische Familiengeschichte‘ der Karolinger“ (ders., Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften, S. 99), eine „‚karolingische[] Chronik‘“ (ebd., S. 102).

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Ende des irdischen Lebens bedeutet den vollständigen Erwerb des Seelenheils und die Eingliederung in das Reich Gottes: da mit er [Karl; F. B.] vollechliche erwarp / den stůl der ewigen jugent (K 12054 f.). Mit der Beschließung von Karls Leben ist der Erzählgegenstand abgearbeitet, sodass keine Handlungsstränge offenbleiben oder angestoßen werden – das Ende des Lebens bedeutet hier nun das Ende der Erzählung. Der Stricker erzählt innerhalb der untersuchten Textreihe erstmals Karls gesamtes Leben. Er umgreift es von der Geburt bis zum Tod, wodurch Anfang, Mitte und Ende des herrscherlichen Lebens den Text als Makrosyntagma strukturieren. In diesem Zuge wird auch der Spanienfeldzug der Zentrierung der Figur und ihrer Biographie unterworfen. Bastert bemerkt, dass der Stricker mit der Elterngeschichte zu Beginn und „Karls Aufnahme in den Kreis der Heiligen [...] sogar noch über den eigentlichen Lebensweg des Frankenkaisers hinaus[geht]“.771 So werden wesentliche Elemente einer Vita des Herrscherheiligen erzählt und abschließend wird seine kanonisierte Heiligkeit festgestellt. Der Stricker präsentiert göttliches Heilswirken, weist mit seiner Erzählung von verschiedenen Modi der passio und compassio Wege der Heilsaneignung und demonstriert über seine Taten im Dienste Gottes für die Christenheit die Kultwürdigkeit und Hilfsfähigkeit des heiligen Karl.772 Nů helf uns got durch sine tugent, / daz wir ewichliche mFzzen sehn, / wie sande Karle ist geschehen (K 12056–12058),773 schließt der Erzähler mit der Hoffnung auf eine Vergemeinschaftung mit Karl im Himmel.

7.4 Karls Heiligenvita (Buch vom heiligen Karl) In dem zit bi seben hundert jaren nach der geburt unsers herren (BhK 3,1 f.) setzt das Buch vom heiligen Karl chronikalisch bei Karls Großeltern an – auch die Urgroßeltern finden kurze Erwähnung – und entwirft einen Lebenslauf des Herrschers, der

771 Bastert, Helden als Heilige, S. 187. 772 Vgl. für die genannten konstitutiven Elemente einer Heiligenvita Kunze, Art. Vita, S. 786 f. Die ‚Mindestanforderungen‘ für zu kanonisierende Heilige sind in Ableitung aus der Kanonisation Ulrichs von Augsburg im Jahre 993 die folgenden: „Ein Mensch gilt erstens als heilig, wenn er einen frommen, tugendhaften und vorbildlichen Lebenswandel geführt hat, und zweitens, wenn nach seinem Tod mehrere durch ihn gewirkte Wunder nachgewiesen werden können (die späteren Verfahren fordern mindestens zwei)“ (Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 1). Hammer erklärt den kultischen Anschluss des Strickerschen Textes, den er als Heiligenvita begreift: „Als Heiliger bleibt Karl der Große nicht nur in der Erinnerung ‚lebendig‘, sondern ist weiterhin überall präsent, kann über das Gebet und insbesondere die rituellen Vollzugsformen des Heiligengedenkens allezeit persönlich in die Gegenwart geholt werden“ (ders., Erinnerung und memoria, S. 258). 773 „Das Attribut der sanctitas in diesem und nur in diesem Vers, dem Schlußvers des ‚Karl‘-Epilogs, referiert eindeutig auf die (in den Augen des Erzählers rechtmäßige und durch die Rede erneut unter Beweis gestellte) Kanonisation Karls des Großen und enthüllt die dem Stoff innewohnende hagiographische Grundrichtung“ (Singer, Eingang von Strickers ‚Karl dem Großen‘, S. 97).

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in der Chanson de Roland nicht angelegt ist, im Rolandslied angedeutet und in Strickers Karl signifikant ausgebaut wird. Nun kommt er im Buch vom heiligen Karl voll zur Entfaltung – und zwar als dominantes Makrosyntagma der Vita,774 dem sich alle weiteren syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen unterordnen. Neben der jeweiligen Nennung von Karls erreichtem Alter trägt auch die Angabe exakter Jahreszahlen und Daten dazu bei, seinen Lebenslauf in den größeren Zusammenhang der sich linear entfaltenden Heilsgeschichte einzubetten – die Zeitachsen erscheinen syntagmatisch synchronisiert.775 Durch diese zeitliche Einordnung wird die historische Einmaligkeit des biographischen Verlaufs ausgedrückt, ohne dass das Makrosyntagma der Vita zeitlich hochauflösend determiniert wäre. Die Erzählung lässt ausreichend Spielraum für die Einbindung und Anlagerung paradigmatischer Episoden, die Charakteristisches für Karls Leben, vor allem für seine Herrscherlichkeit und Heiligkeit, entfalten. Der Text beginnt – nach Erwähnung der Urgroßeltern – eine Großelterngeschichte (Flore und Blanscheflur); dann folgen eine Elterngeschichte (Pippin und Berchte), Kindheits- und Jugendgeschichten sowie eine Reihe weiterer Erzählungen, die zwar syntagmatisch mit Karls Herrschaftserwerb verbunden sind, dabei aber recht frei kombinierbar anmuten. Das Makrosyntagma der Karlsvita organisiert seine paradigmatischen Besetzungen in diesem und im letzten Teil des Textes auf syntagmatischer Achse nicht durchgehend in kausaler Verbindung oder in strikter chronologischer Linearität. Die fixierte Vitenstruktur bildet so die kohärenzstiftende Grundlage für Paradigmatisches, sodass bestimmte Aussagen zu Karls Heiligkeit beliebig oft paradigmatisch artikuliert werden können (vgl. z. B. die dreifache Sündenepisode)776. Die lineare Erzählrichtung kann also über digressiones ohne Kohärenzverlust in der Vertikalen erweitert werden. Dem Spanienfeldzug wird als Kernstück der Erzählung der größte Raum geboten, bis ein die Kompilation beschließender Teil unter der Überschrift etlich getet und leblich stritt und wunderwerck von dem wirdigen keyser Karlus (BhK 94,5 f.) Anekdoten, Legenden und Historisches bietet sowie unter anderem Karls Tod, miracula post mortem, seine Kanonisierung und die Übertragung von Teilen seiner Reliquien nach Zürich

774 Bastert bezeichnet das Buch vom heiligen Karl als „hagiographisch-legendarische[] Karl-Vita“ (ders., Helden als Heilige, S. 225, Anm. 130). 775 „Indem Beginn und Ende der Handlung exakt datiert werden, wird das Erzählte mit einem quasi objektiven Faktizitätsanspruch versehen, der durch die historische Bedeutung des Protagonisten noch bekräftigt wird. Seine verschiedenen Regierungsämter werden mit genauer Angabe der Amtsdauer aufgelistet. Daten und Zahlen belegen die historische Existenz des prominenten Protagonisten, die pars pro toto die Faktizität der gesamten Erzählung gewährleistet. Den Bezugspunkt für die Datierungen bildet Christi Geburt, weitere historische Fakten werden nicht in den Blick genommen“ (Schmitt, Inszenierungen von Glaubwürdigkeit, S. 165 f.; hier finden sich auch die Textbelege zu den Zeitangaben). 776 Vgl. zur Sündenepisode im Buch vom heiligen Karl bereits Kapitel III.5.5.

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erzählt. Es ergibt sich also folgende vierteilige Gliederung für das Buch vom heiligen Karl:777 I. II. III. IV.

Geschichte von Karls Großeltern Flore und Blanscheflur (BhK 3,1–15,30) Karls Geburt, Jugend, Aufstieg zum Kaiser und weitere Taten (BhK 15,31–27,14) Spanienfeldzug (BhK 27,15–94,6) Karls (und Rolands) Heidenkämpfe, (Rolands und) Karls Tod, Herrscherporträt, Heiligsprechung und miracula post mortem (BhK 94,7–114,14)

Der Herausforderung, diskursiv einen Anfang von Karls Heiligkeit zu setzen und ihn als instrumentum Dei zu einem Teil der Heilsgeschichte zu machen, begegnen die Texte mit unterschiedlichen Strategien.778 Das Rolandslied verlegt den Anfang der Prädestination Karls in den Mutterleib als Sakralität ante partum: dô du in dîner muoter beslozzen wære, / dô erwelt er [Gott; F. B.] dich im ze ainem cnechte (RL 7003 f.). Der Stricker modelliert Karls Gottesnähe als Ausweis von Sakralität erzählerisch mit der frühen ‚Adoption‘ des Jungen durch Gott nach Pippins Tod. Das Buch vom heiligen Karl nun arbeitet aufwendig an einer frühen Setzung von Karls heiligkeitsbegründender Gottesnähe, indem die Elterngeschichte vom Stricker und die Determination ante partum vom Pfaffen Konrad in der Großelterngeschichte kombiniert und damit genealogisch noch weiter nach hinten verlegt werden. Die Vorgeschichte des Herrschers läuft also im Buch vom heiligen Karl determiniert durch göttliche Vorsehung über zwei Generationen auf Karl zu. So erfahren seine Großeltern, Flore und Blanscheflur, als Gefangene im Turm des Amirals über ihre Zukunft, dass ihr Enkel durch die Bekehrung vieler Länder zum ‚Nutzen der Christenheit‘ handeln wird.779 Flore und Blanscheflur stehen damit am Anfang einer providentiell durchformten genealogischen Reihe, die Karls Funktion als nücz der Christenheit prädestiniert und das Thema ‚Heidenmission‘ aufruft. Mit dieser göttlichen Vorbestimmung wird das Leben seiner Vorfahren in den Dienst der Erfüllung von Heilsgeschichte gestellt. Dann wird die Prophezeiung konkret umgesetzt und die vagen Angaben werden als ‚syntagmatische Platzhalter‘ paradigmatisch aufgefüllt: Der Zeitpunkt der Geburt der Tochter ist das 30. Lebensjahr der Mutter Blanscheflur, die Tochter trägt den Namen „Berchta“, sie heiratet im Alter von 15 Jahren den Frankenkönig Pippin und ihr gemeinsamer Sohn heißt Karl, der vorgreifend als kanonisierter heiliger König, als sant köng Karlus bezeichnet wird.780 Auch die Prädestination Karls als Diener Gottes und die damit

777 Vgl. für eine dreigeteilte – die Abschnitte II. und III. werden zusammengefasst –, detailliert aufgefächerte Gliederung und eine eingehende Diskussion der Quellen des Buchs vom heiligen Karl Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl. Vgl. zu Gliederung und Quellen auch Bachmann/Singer, Einleitung, S. XIV–XXIV. 778 Karls Vorgeschichte und die göttliche Prädestination seines Schicksals im Buch vom heiligen Karl und den anderen Texten werden in Kapitel III.2 besprochen. 779 Vgl. BhK 10,29–32. 780 Vgl. BhK 15,24–30.

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verbundene Passion sind bereits in den Prätexten angelegt. Zwar klammert die Chanson de Roland genealogische Dimensionen dieser Prädestination aus, doch legt ihr Ende die schicksalhafte Bestimmung und die damit verbundene Notwendigkeit einer passio Karls als vie penuse nahe.781 Das Buch vom heiligen Karl scheint hingegen einen Grundstein für Karls Passion bereits in der Großelterngeschichte zu legen. So spricht die himmlische Stimme im Turm des Amirals prophezeiend zu Flore und Blanscheflur: Aber ir müessent noch vil liden, e daz geschicht (BhK 10,32 f.), also bevor sie eine Tochter bekommen werden, die Karl gebiert. Das ‚Leiden‘ wäre in diesem Verständnis genealogisch und traditional begründet. Es wird von Generation zu Generation weitergegeben und Karl vererbt den leidvollen Konflikt mit den Heiden schließlich an Ludwig: Daz [die Tötung Paligans durch Karl; F. B.] stuond ungerochen, uncz daz ir beder kind erwuossend, Paligans sun Terramere und Karlus sun Löys oder Ludwig (BhK 94,1–3). In der Elterngeschichte wird Karl auch Pippin und Berchte als ‚Nutzen der Christenheit‘ angekündigt und sein bis zum Ende der Welt fortdauernder guter Ruf, seine fama perennis, vorausgesagt: Damit ist die Memoria des Herrschers durch göttlichen Ratschluss pränatal garantiert und das Erzählen von seiner Passion und Heiligkeit final motiviert. Im nächsten, vornehmlich paradigmatischen, aber dem Makrosyntagma der Vita unterworfenen Erzählabschnitt folgen Karls Geburt, die Beschreibung seiner Brüder und Schwestern und die Erzählung von seinem Exil in Spanien samt Rückkehr nach ‚Kaerlingen‘, wo er mit 25 Jahren König wird.782 Das Syntagma des Spanienfeldzugs wird hier – ebenso wie im Rolandslied und in Strickers Karl – durch Karls Wunsch nach Heidenmission aufgerufen.783 Doch seine Entfaltung wird zunächst aufgeschoben, indem verschiedene Kriege und Karls Wahl zum Kaiser inseriert werden. Über die paradigmatischen Episoden vergeht (syntagmatisch) Zeit,784 Karl ist mittlerweile 52 Jahre alt und gedenkt noch immer der Heiden und der Notwendigkeit ihrer Errettung. Eine mit Karls Wunsch korrespondierende Engelsbotschaft eröffnet ihm seine Zukunft und strukturiert die weitere Handlung vor – wieder wird der Spanienfeldzug als Thema ins Spiel gebracht.785 Zunächst wird über Tatenberichte, die keiner strikten Chronologie folgen, paradigmatisch Karls Nutzen für die Christenheit demonstriert: Seine baulichen Tätigkeiten (die Rheinbrücke sowie Kirchen und Bistümer) und ein Kreuzzug zum Grab Jesu samt Reliquiengewinnung in Konstantinopel legen Zeugnis von seinem herrscherlichen und religiösen Engagement ab.786 Der größte Abschnitt in diesem paradigmatischen Teil –

781 Vgl. ChdR 4000. 782 Vgl. BhK 19,10. 783 Vgl. BhK 19,14–16. 784 Vgl. zur Beziehung von paradigmatischem Erzählen und Zeit auch Richter, Spiegelungen, S. 10. 785 Vgl. BhK 20,4 u. 20,10–21,19. 786 Vgl. BhK 22,3–23,9.

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der anfangs durch den Missionswunsch und abschließend die Durchführung des Spanienfeldzugs eingeklammert wird – ist Karls Sünden gewidmet.787 Die drei kapitalen Sünden (Nekrophilie mit der Ehefrau, Tötung des Sohnes als Strafe ohne vorhergehenden Prozess, Inzest mit der Schwester) werden, ohne kausal aufeinander bezogen oder linear fest in den Lebenslauf Karls integriert zu sein, vom Bearbeiter aneinandergereiht. In diesem formalen Arrangement steckt eine Aussage, eine poetische Funktion als Korrelation von Semantik und Textstruktur: Karl ist ausgezeichnet durch Gottesgnade, die auch bei drei schweren Sünden unverbrüchlich bleibt. Die einzelnen Sünden sind substituierbar und ihre Positionen sind austauschbar, doch wird durch ihre Akkumulation und ihren (mikro)syntagmatisch identischen Ablauf von ‚Sünde – Unkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit – Aufklärung über die Sündhaftigkeit – Buße und Wiederherstellung des Verhältnisses zu Gott‘ Karls heiligkeitsbegründende Gottesgnade umso deutlicher inszeniert. Diese paradigmatisch organisierten Partien des Buchs vom heiligen Karl interferieren nicht mit dem linearen Makrosyntagma der Heiligenvita, sondern treffen als eigene Erzählabschnitte Aussagen zu Karls Heiligkeit, die auch paradigmatisch bearbeitet letztlich unergründliches Gnadengeschenk bleibt. Der Text erprobt somit verschiedene Modi der diskursiven Verarbeitung und Hervorbringung von Heiligkeit. Der sich hieran anschließende Spanienfeldzug – der wie im Rolandslied und in Strickers Karl dem Erwerb des ewigen Lebens dient –788 ist hingegen in das Makrosyntagma der Herrscherbiographie integriert. Entscheidend ist, dass das Ende des (Meso-)Syntagmas ‚Spanienfeldzug‘ samt all seinen Implikationen nicht mit dem Textende zusammenfällt. Dabei wird die proverbiale Redeform von der desaströsen Auswirkung der Unseligkeit und der erlösenden Folgen der Seligkeit eines einzigen Menschen für ein Kollektiv im Anklang an Rm 5,12–21 aus dem Strickerschen Karl übernommen. Der Bearbeiter des Buchs vom heiligen Karl ergänzt das Sprichwort, um Symmetrie herzustellen und die Antithese zwischen Genelun und Karl zuzuspitzen: ‚Von eines mensches unselykeit vil menschen unselig werdend‘, also spricht man widerumb: ‚Von eines menschen selikeit vil menschen selig werdent.‘ Daz wort ward wol war an dem durchluchtigen keyser Karlus, won vil menschen von im selig sind worden. (BhK 93,29–33)

Die zurückliegende Erzählung wird mit den Sprichwörtern förmlich eingefasst und Karl und Genelun werden zu paradigmatischen Vertretern der Gültigkeit beanspruchenden Aussagen über Seligkeit. Damit wird das Syntagma des Spanienfeldzugs beschlossen und ein Resümee betont die besonderen Verdienste Karls um die Christenheit. So sei kein Heiliger so ‚nützlich‘ wie Karl,789 denn er hat an massen vil heiden bekert und vil landen erstritten, und hat im got vil grosser gnade gethan, alß

787 Vgl. BhK 23,10–27,14. Vgl. ausführlich zu Karls Sünden Kapitel III.5. 788 Vgl. BhK 20,31 f. 789 Vgl. BhK 93,33 f.

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III Literarische Herrschersakralität

ir ein teyl gehört hand und hernach werdend hören (BhK 93,34–37). Damit ist der Horizont umrissen für das weitere und im Folgenden zu erzählende Wirken des heiligen Karl in göttlicher Gnadenfülle und für die Christenheit. Ebenso wie in der Bearbeitung des Strickers wird der Konflikt zwischen Karl und Paligan auf die nächste Generation übertragen, auf Paligans sun Terramere und Karlus sun Löys oder Ludwig (BhK 94,2 f.). So eröffnet sich eine aus der Wurzel der altfranzösischen Chanson de geste-Zyklen stammende Traditionsreihe des Konflikts zwischen Christen und Heiden, die genealogisch geknüpft wird. Bastert attestiert dem Bearbeiter die Formung „eine[s] ambitionierten organischen Zyklus“.790 Dabei wird über die Vererbung des Konflikts die Zyklusbildung zwischen dem Buch vom heiligen Karl und dem Buch vom heiligen Willehalm explizit.791 Beide Texte werden gemeinsam in zwei Textzeugen des letzten Viertels des 15. Jahrhunderts überliefert, in der Zürcher Handschrift Ms. Car. C 28 und der Schaffhausener Handschrift Cod. Gen. 16.792 Damit werden nicht nur „die meisten (ober)deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen“ vereinigt, sondern beide Handschriften „stehen auch in Bezug auf zyklische Konzeptionalität innerhalb der deutschen Chanson de geste-Tradition auf einer sonst unerreichten Stufe“.793 Nach dieser inserierten ‚epischen Schnittstelle‘ beginnt nun der vierte und letzte Teil des Buchs vom heiligen Karl, der – gewissermaßen nach kausaler Grundlegung – eine Verdichtung des ‚Heiligkeitsdiskurses‘ vornimmt.794 Der Bearbeiter bietet eine Fülle an Episoden über den heiligen Karl, die durch das Makrosyntagma der Vita zusammengehalten werden. Es handelt sich um die oben bereits zitierten etlich getet und leblich stritt und wunderwerck von dem wirdigen keyser Karlus (BhK 94,5 f.).795 In der Abfolge der Episoden deutet sich bisweilen eine lineare Entwicklung und damit eine zeitliche Progression im Leben des Herrschers an, während paradigmatisch bestimmte Facetten seiner Heiligkeit abgebildet werden, die auf der Zeitachse als Vergangenheit oder Gleichzeitigkeit zu bereits Erzähltem positioniert sind. Obgleich die Ereignisse „zu seinen Lebzeiten, während seines Ster-

790 Bastert, Helden als Heilige, S. 230. 791 Vgl. ebd., S. 230–233. Vgl. zum Buch vom heiligen Willehalm und seiner Zyklizität ebd., S. 220–224. 792 Ein weiterer zyklischer Überlieferungszusammenhang ist die Verbindung vom Buch vom heiligen Karl mit Morgant in der Zürcher Handschrift Ms. A 121 von 1551 (vgl. dazu ebd., S. 232 f.). Siehe zu den Handschriften bereits Kapitel II.1.3. 793 Ebd., S. 232. 794 Vgl. ebd., S. 227. 795 Nach Bastert ahmt das Buch vom heiligen Karl mit dieser „Wendung [...] exakt die lateinische Überschrift in der Aachener Vita Karoli Magni“ nach, die als Quelle auch für die folgenden Erzählungen dient (ebd.). Die Überschrift lautet: De sanctitate meritorum et gloria miraculorum beati Karoli magni ad honorem et laudem nominis dei (Die Aachener „Vita Karoli Magni“ des 12. Jahrhunderts. Auf der Textgrundlage der Edition von Gerhard Rauschen unter Beifügung der Texte der Karlsliturgie in Aachen neu hrsg., übers. u. eingel. von Helmut und Ilse Deutz. Siegburg 2002 [Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen. 48], S. 56).

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bens und nach seinem Tod“ stattfinden und auch die Handlungsorte disparat sind, sodass „die Branche mithin keinen kohärenten Erzählfluss besitzt, lässt sich gleichwohl auch in ihr eine durchdachte Struktur ausmachen“.796 Diese ‚durchdachte Struktur‘ und das Verhältnis von Episodischem und linearer Progression sollen im Folgenden in den Blick genommen werden. Im Abgleich mit den Quellen, soweit sie bekannt sind, soll ein Bearbeitungsprofil des Buchs vom heiligen Karl erstellt und der These nachgegangen werden, dass die heterogene Bearbeitungsform, das heißt die spezifische Synthese syntagmatischen und paradigmatischen Erzählens, Ausdruck der Bemühung um ein Konzept von Herrscherheiligkeit darstellt. Dafür spricht auch, dass der Text zunächst scheinbar unmotiviert in die Zeit vor den Spanienfeldzug zurückgreift, um die blutigen Heidenkämpfe als Kontrastfolie für eine Rolands Tod voraussetzende Konversion des Herrschers zur geistlichen Vita zu platzieren. Die Einflechtung eines sinn- und kohärenzstiftenden Konversionsnarrativs in die episodische Darstellung hat dabei auch keine Vorlage in den lateinischen Texten, die dem Zürcher Buch vom heiligen Karl zugrunde liegen. Die wichtigsten Quellen für die Episoden sind Einhards Vita Karoli Magni,797 der Pseudo-Turpin798 und die Aachener Vita Karoli Magni.799 Die Handschrift Ms. 245

796 Bastert, Helden als Heilige, S. 227. Vgl. zu Techniken der Kohärenzstiftung im vorliegenden Abschnitt auch Dietl, Kohärenzstiftung ‚von oben‘, S. 292–295. „Kohärenz kann durch den Erzählgegenstand, die Figuren und durch Handlungs- oder Zeitstrukturen auf der Ebene der Narration, sie kann durch den Erzähler, durch Stil und Textstrukturen oder durch den Rezipienten und die Pragmatik des Textes gestiftet werden“ (ebd., S. 285). 797 Zitiert nach Holder-Egger (Hrsg.), Einhardi Vita Karoli Magni. 798 Zitiert wird der Pseudo-Turpin nach Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische Pseudo-Turpin in den Handschriften aus Aachen und Andernach ed., komm. u. übers. von Hans-Wilhelm Klein. München 1986 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters. 13). Der Codex Calixtinus enthält den Liber Sancti Iacobi, dessen viertes Buch die Turpinsche Chronik, der Pseudo-Turpin, darstellt. Letzterer ist vermutlich um 1130/1140 entstanden und liegt breit überliefert in etwa 200 Hss. vor (vgl. Hans-Wilhelm Klein: Einleitung. In: Ders. [Hrsg.]: Die Chronik von Karl dem Großen und Roland, S. 10–12). Eine Handschriftengruppe (HA) strahlt bis nach Zürich aus, wohin eine Kopie der Version aus Aachen im Jahre 1233 gelangt (vgl. ebd., S. 16–18). Kapitel 1–20 berichten von Karls wunderbaren Taten in Spanien und von seiner historisch nicht verbürgten Befreiung des Jakobsgrabs. Kapitel 21–33 (sowie die Appendices A und B) entsprechen dem Rolandstoff und behandeln u. a. Karls Tod (vgl. ebd., S. 12f.). Die Bedeutung des Pseudo-Turpin ist groß, denn „auf diesem Stoff und nicht auf dem der Chanson de Roland, beruhen fast alle bildlichen und plastischen Darstellungen um Karl und Roland im Mittelalter [...]. Auch für Chronisten des gesamten Mittelalters galt diese Chronik als gültige historische Quelle“ (ebd., S. 12). Vgl. auch Klaus Herbers: Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der „Liber Sancti Jacobi“. Studien über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Stuttgart 1984 (Historische Forschungen. 7); ders. (Hrsg.): Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin. Tübingen 2003; zuletzt zum Apostel Jakob Maximilian Benz: Apostolizität und Ort: Die politische Funktionalisierung Jakobs des Älteren in Spanien. In: Julia Weitbrecht u. a.: Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter. Berlin 2019 (PhSt. 273), S. 65–85. 799 Zitiert nach Deutz/Deutz (Hrsg.): Die Aachener „Vita Karoli Magni“. Die Aachener Vita entsteht um 1170–1180, nimmt die ersten sieben Kapitel aus dem Pseudo-Turpin auf (vgl. Helmut Deutz, Ilse

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(entst. 1493) aus der Stiftsbibliothek Einsiedeln teilt sich eine unbekannte, aber in Zürich vermutete Vorlage mit dem Buch vom heiligen Karl und dient der Forschung als Referenz zur Einschätzung der Bearbeitung des Buchs.800 Für die Quellendiskussion einschlägig sind die Studien von Kletzin und Folz.801 Nahezu alle Episoden sind dem Thema ‚Glaubenskampf zwischen Christen und Heiden‘ verpflichtet, sodass Karl stets in einem ähnlichen Setting der bewaffneten Mission anzutreffen ist und sich fortwährend als Herrscher von Gottes Gnaden bewährt. Die erste wundersame Episode (BhK 94,7–94,33) wird nach einem im Folgenden wiederkehrenden Muster eingeleitet: Der wirdig keyser Karlus hat uf ein zitt gestritten mit den heiden (BhK 94,7 f.).802 Die zeitliche Unbestimmtheit uf ein zitt markiert den exemplarischen Charakter der Begebenheit und lässt ihren paradigmatischen Status deutlich werden als Nachweis von Karls Gottesnähe – ein Wiesel weist dem Herrscher den Weg zu einem verborgenen Schatz, do lopt Karlus got, won got die sinen nüt lat (BhK 94,33).803 Analog wird die zweite kurze Episode (BhK 94,34–95,20) eröffnet: Ze einer zitt, do der wirdig küng Karluß strit und facht wider den ungelouben (BhK 94,34 f.).804 Karl versucht im Kampf gegen König Fure in Navarra vergeblich, von Gott zum Martyrium ausersehene Christen vor ihrem Tod im Kampf zu bewahren. Dem Herrscher werden belehrend seine Grenzen aufgezeigt: So wolt ouch got Karlus erzogen, daz wider sin urteil nieman mag sin (BhK 95,19 f.). Die dritte Episode (BhK 95,21–98,2) erzählt, indem sie bezüglich des Personals und des Handlungsraumes an die zweite Episode anknüpft, vom Kampf zwischen Roland und dem Riesen Ferecutus, der aus dem Geschlecht Goliaths stammt und

Deutz: Einleitung. In: Dies. [Hrsg.]: Die Aachener „Vita Karoli Magni“, S. 1–54, hier S. 31) und stellt diese an den Anfang des dritten Buchs, aus dem das Buch vom heiligen Karl insgesamt für die eigene Gestaltung der Episoden als Vorlage schöpft. Die Vita wird gemeinsam mit dem Pseudo-Turpin und auch mit Einhards Vita überliefert (vgl. ebd., S. 33). 800 Zur Einsiedelner Handschrift Ms. 245 siehe Bachmann/Singer, Einleitung, S. XXII; Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl, S. 53; Folz, Le Souvenir, S. 478. Ms. 245 wird im Handschriftenverzeichnis der Stiftsbibliothek in der Rubrik Vitae Sanctorum geführt und beschrieben (vgl. Catalogus codicum manu scriptorum qui in bibliotheca monasterii Einsidlensis O. S. B. servantur. Descripsit P. Gabriel Meier O. S. B. Bibliothecarius. Tomus I: Complectens centurias quinque priores. Leipzig 1899, S. 201 f. [mit weiterer Literatur]). 801 Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl, bes. S. 52–61; Folz, Le Souvenir, S. 469–479. Siehe auch Bachmann/Singer, Einleitung, S. XXI–XXIV; Bastert, Helden als Heilige, S. 226–229. 802 Die Quelle der Episode ist unbekannt (vgl. Folz, Le Souvenir, S. 476); Bachmann/Singer weisen auf thematisch verwandte Geschichten hin (dies., Einleitung, S. XXI). 803 „Durch die vage temporäre Bestimmung uf ein zitt (BhK, S. 94,7), mit der die dritte Branche eröffnet wird, versuchte der Redaktor jedoch ganz offenkundig, die vom Schema der Heiligenvita dominierte narrative Struktur dieser Branche mit den Anforderungen zyklischen Erzählens zu vermitteln, indem die exemplarischen Belege der sanctitas Karls als eine Art Rückblende präsentiert werden“ (Bastert, Helden als Heilige, S. 228 f.). 804 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 16.

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Fure dient.805 Roland siegt schließlich mit Gottes Hilfe. Über die Verbindung der beiden Episoden wird Kohärenz hergestellt und ein zeitliches Fortschreiten suggeriert. Dabei stellt es offensichtlich für das Erzählen kein Problem dar, dass Roland im zuvor erzählten Spanienfeldzug in Roncesvalles bereits gefallen und sein Leichnam ins Frankenreich verbracht worden ist. Dies unterstreicht auf den ersten Blick einmal mehr den Charakter einer losen Sammlung paradigmatischer Episoden. Der Blick auf weitere Bezugnahmen in den folgenden Episoden wird jedoch ein zweites kleineres ‚Roland-Syntagma‘ aufdecken, das vom Heidenkampf über die Wundererzählung zu Rolands Tod fortschreitet. Auch die vierte Episode (BhK 98,3–102,4) ist im spanischen Heidenkrieg verortet und zeitlich nicht fixiert: Der küng Karlus hat ze einer zitt gar ein grossen strit mit den heiden und mit dem fursten Agalandas in Yspanian land (BhK 98,3 f.).806 Es ereignen sich Wunder unter den Christen, als in die Erde gesteckte Lanzen über Nacht erblühen und Karls Herrschaft wird – ohne Vorlage im Pseudo-Turpin – durch eine Differenzierung der Gefolgschaftsmodi beleuchtet. Karl benötigt Hilfe, da Ayolandus ein großes Heer gegen ihn aufgebracht hat: Do daz Karlus vernam, do sant er ouch und bad und flecht, won er zwang nieman ze stritten umb den glouben. Wol sust, wer in not angangen, so het er sin undertanen bezwungen; wer aber umb den glouben im half stritten, der muost es durch got tuon. (BhK 99,32–36)

Wenn es eine Notlage erfordert, dann müssen Karl seine ‚Untertanen‘ zwingend folgen. Doch im Glaubenskampf greift Karl zur Herstellung von Gefolgschaft nicht auf Machtmittel zurück, sondern setzt auf das einmütige Streben nach Gottesdienst. Diese Zwang- und Gewaltlosigkeit ist – mit Weber gesprochen – Ausdruck ‚echter Herrschaft‘, mit der Karl erfolgreich hier und auch weiterhin agiert: Und füer also umb und umb in den landen und schuof großen nücz der Cristenheit an allen enden (BhK 102,3 f.). Die fünfte Episode (BhK 102,5–103,20) resümiert zu Beginn knapp das kaiserliche Vorgehen bei der Heidenmission. Genannt werden ‚Heiden‘ und ‚Sarazenen‘ und die Optionen, die Taufe zu empfangen oder getötet zu werden, bevor der neue Konflikt nach dem bekannten Muster eingeleitet wird: Nun kament ze eyner zitt an massen vil heiden mit eim mechtigen küng her uber mer (BhK 102,9 f.).807 Karl zieht in dem namen gocz und des heilgen Sant Servacien (BhK 103,6 f.) in den Kampf, den die Christen gewinnen. Daraufhin legt ihm das Gefolge die besondere Servatius-Ver-

805 Vgl. ebd., Kapitel 17. 806 Ayolandus wird erwähnt ebd., Kapitel 6, 8, 12 und 14 sowie in der Aachener Vita Karoli Magni III,6 und III,7. 807 Die Aachener Vita Karoli Magni streift die Servatius-Thematik (vgl. ebd., S. 232); als Vorlage für das Buch vom heiligen Karl wird der Oberdeutsche Servatius gehandelt (entst. um 1190). Der entsprechende Karlsteil der Legende findet sich zwischen Vers 2001–2294 (Servatius. Hrsg. von Moriz Haupt: In: ZfdA 5 [1845], S. 75–192).

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ehrung ans Herz und Sant Karlus (BhK 103,15) begibt sich nach Maastricht, wo er das Münster Sankt Servatii großzügig mit einem kostbaren Hostienkelch bedenkt.808 So zeigt sich hier exemplarisch Karls Einsatz für die Christenheit als Verbindung zwischen wiederholter kämpferischer Bewährung gegen heidnische Gegner, die er mit Hilfe Gottes und seiner Heiligen besiegt, und der Institutionalisierung des christlichen Glaubens über die Förderung regionaler Heiligenverehrung und Gotteshäuser. Die sechste Episode (BhK 103,21–104,27) wird ähnlich wie die fünfte eingeleitet, indem von Karls Heidenmission mit den Optionen von Taufe oder Tod die Rede ist und der Kaiser durch Italien sowie die Gebiete der Friesen und Sachsen schließlich nach Spanien gelangt. Hier kommt es zu einer Auseinandersetzung mit zwei heidnischen Königen namens Marsirius und Beligandus; ein Genelanus tritt als Unterhändler auf.809 Das Auftauchen von Figuren, die im dritten Teil des Buchs vom heiligen Karl – im Spanienfeldzug nach dem Rolandslied und Strickers Karl – eine wesentliche Rolle spielten, und ihre dortigen Beziehungen zueinander hindern den Bearbeiter nicht an der Aufnahme der Episode in seine Kompilation. Die Könige schicken Karl Gaben, darunter Wein und Frauen. Gegen Karls Willen betrinken sich Teile seines Heeres und fielend in sünd mit den heidischen frowen und ouch mit den cristnen frowen. Und daz zurnt got großklich (BhK 104,8 f.). Die Schar wird in einen Hinterhalt gelockt und aufgerieben, bis auf Roland, seinen Bruder Baldawinus sowie Turpin und Genelanus, die sich das ewige Leben verdienen. Mit den trunkenen Sündern hat Gott ein Nachsehen und befreit sie aufgrund ihrer Verdienste im Glaubenskampf von ir sund und ir schuld (BhK 104,22). Karl folgert mit Unterstützung des Heiligen Geistes, dass das Heer in Zukunft keine Frauen mehr bei sich haben dürfe – darumb wolt er furbaß niemer mer by den sinen, wen sy stritten woltend, kein frowen lassen (BhK 104,26 f.). Die Episode zeigt Gottes Wirken und seine Begnadung der Glaubenskämpfer, wobei von der Unerhörtheit des wenig asketischen Treibens in Karls Heer ein gewisser Reiz ausgegangen sein mag. Die siebte Episode nun (BhK 104,28–105,17) setzt Gottes Gnade ins Bild, die Roland und Karl gleichermaßen zuteilwird.810 Der Bearbeiter wählt aus der Fülle der ‚Wunderwerke‘ ein besonders bemerkenswertes aus und macht damit explizit auf die paradigmatische Dimension der Episode aufmerksam: Das grosser stritten und wunderwerkes got gewurckt hat mit Ruolandus, das kan nieman alles geschriben, won got ist alß wol mit im gesin mit sinen gnaden als mit Karlus. Daz ist guot ze merkon an vil wunderwercken, die got mit im gewurckt hat, sunder an disem, das ich hie schriben will. (BhK 104,28–32)

808 Vgl. BhK 103,15–20. 809 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 21. 810 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 36; auch die Einsiedelner Hs. 245 überliefert diese Episode auf fol. 46 f. (vgl. Bachmann/Singer, Einleitung, S. XXII).

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Karl ruft Roland um Hilfe, doch dieser ist mit der Belagerung von Granopolis beschäftigt. Ein Wunder, das Roland aufgrund seiner Askese und seiner frommen Gebete von Gott gewährt wird, löst die dilemmatische Situation auf. Gott lässt die Mauern der Stadt fallen, Roland dieselbe erobern und daraufhin dem bedrängten Karl zu Hilfe eilen. Das Fallen der Stadtmauern ist mit dem Fall der Mauern Jerichos biblisch abgesichertes Wunderwirken.811 Mit dieser siebten Episode wird Roland besonders fokussiert. Die nächste Episode übernimmt diesen Schwerpunkt, sodass sich syntagmatisch eine Roland-Sequenz bildet. Die achte Episode (BhK 105,18–106,13) verhandelt schließlich eine Vision zu Rolands Tod:812 Es ist ouch ze wüssen (BhK 105,18) – so leitet der Erzähler eine weitere paradigmatische Episode ein –, dass Karl von zwei Bischöfen mit dem Namen Turpin umgeben war. Der eine ist der mit Roland im Kampf gefallene, alß da for stat (BhK 105,20); der anaphorische Verweis auf den zurückliegenden Spanienfeldzug zeugt hier von einem Bearbeiter, der um die Struktur des Textes weiß. Der andere Turpin hingegen hält sich stets in Karls Nähe auf und hat während der Messe eine Vision, die von Rolands Tod und seiner Aufnahme ins Himmelreich kündet. Er berichtet Karl davon, der zum Schlachtfeld reitet und von Rolands Bruder Baldawinus,813 der ihm entgegenkommt, erfährt, dass Roland tot ist. Doch Karl eilt weiter nach Roncesvalles und trifft Roland noch lebend an. Geschehen sei all dies an einem 16. Juli.814 Diese Episode wäre im Syntagma des vorausgehenden Spanienfeldzugs an jene Stelle einzufügen, an der Karl durch Rolands Hornblasen von sei811 Vgl. zum „Mauerfallwunder“ von Jericho Ios 6,20. 812 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 25. 813 Im Rolandslied und in Strickers Karl hat Roland keinen Bruder namens Baldawinus. Die anderen Handschriften des Pseudo-Turpin überliefern entsprechend: super equum Rotolandi. Die Aachener Handschrift HA 5 (nach 1400) liest fälschlicherweise frater statt super, das equum ist dann weggefallen (vgl. Hans-Wilhelm Klein: Kommentar. In: Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische Pseudo-Turpin in den Handschriften aus Aachen und Andernach ed., komm. u. übers. von dems. München 1986 [Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters. 13], S. 138–177, hier S. 165). Handschriften der Gruppe HA sind, wie bereits erwähnt, nach Zürich gelangt, dementsprechend kennt das Buch vom heiligen Karl spätestens von dort Baldawinus als Rolands Bruder. 814 Vgl. BhK 106,11–13. Nach dem Pseudo-Turpin, Kapitel 25, hat der Bischof die Vision am XVI. Kalendarum Iulii (Klein, Kommentar, S. 108). Das Buch vom heiligen Karl macht daraus irrtümlich den 16. Tag des Juli. Doch auch die Angabe des Pseudo-Turpin erschließt sich nicht unmittelbar, denn die historische Schlacht von Roncesvalles habe am 15. August (Marien Himmelfahrt) stattgefunden, obgleich einzig ein Epitaph des in der Schlacht gefallenen Truchsessen Eggihard das Datum überliefert (vgl. Einhards Vita Karoli Magni, S. 12, Anm. 4; Brall-Tuchel, Das Herz des Königs, S. 55). Dieses Datum gibt Klein in seiner Übersetzung von XVI. Kalendarum Iulii korrigierend an. Allerdings könnte „eine liturgische Rolandverehrung [...] um 1130 in Santiago de Compostela aufgekommen [...] sein“, die hier den 16. Juni als Gedenktag des heiligen Roland ausmacht (Ulrich Mölk: Der hl. Roland: Französisches Rolandslied und lateinischer Pseudo-Turpin im Vergleich. In: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin. Hrsg. von Klaus Herbers. Tübingen 2003, S. 86). Besondere Bedeutung und Verbreitung scheint dem Gedenktag allerdings nicht zuge-

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nem nahenden Tod erfährt und nach Roncesvalles zurückkehrt. Und genau dort wird Baldwin auch erwähnt und es wird auf sein späteres Zusammentreffen mit Karl verwiesen,815 das nun in der vorliegenden Episode erzählt wird. Damit nimmt der Bearbeiter eine ‚epische Schnittstelle‘ auf, die er zuvor selbst markiert hat – so offenbart sich ein sorgsames Arrangement der Materialfülle, die der Bearbeiter zu verwalten hat. Roland ist nun tot und es zeigt sich damit eine lineare Progression, denn in den vorausgehenden Episoden hatte er noch an der Seite Karls für den Glauben gekämpft. Er taucht nun nicht mehr auf, einzig als Lichtwunder erscheint er dem Kaiser noch einmal. Zugleich rückt mit seinem Tod auch Karls Ende in das Blickfeld der folgenden Episoden. So handelt die neunte Episode (BhK 106,14–108,12) von der Erscheinung des heiligen Jakob und der Eroberung von Pampilone (Pamplona).816 Das Makrosyntagma der Vita scheint durch, wenn Karls Handeln zeitlich und ‚räumlich‘ merklich auf ein Ende zuläuft: Do der würdig kunigk Karolus vil jaren gestrytten hat (BhK 106,14), gelangt er nach Gallicia, das da ist ein end der welt (BhK 106,17). Hier liegt der Apostel Jakob begraben und Karl gewinnt eine Einsicht über sein Leben: da was er betrachten, das er so vil jaren gestrytten hat und nun alt wer. Und wolt nit mer strytten und zoch wider heym mit synem volk (BhK 106,20–22). Die geographische Begrenzung als ‚Ende der Welt‘ wirft Karl auf das Ende seines Lebens zurück und führt zur Umkehr: Karl wünscht sich nun eine Heimkehr statt fortwährenden Heidenkrieg.817 Mit dem Verweis auf Karls hohes Lebensalter wird ein Fortschreiten auf der syntagmatischen Achse der Vita indiziert. Doch zuhause angekommen, erscheint ihm des Nachts, ohne dass Karl ihn identifizieren kann, der heilige Jakob, der ihn auffordert, den Weg zu seinem Grab zu sichern. Mit diesem Auftrag – man fühlt sich an den abschließenden ‚Bire‘-Auftrag in der Chanson de Roland erinnert – muss der Herrscher, den es nicht mehr nach Glaubenskampf verlangt, nun erneut im Dienste der Religion aufbrechen. Karl bittet Gott um Aufklärung und wird im nächsten Traum nochmals zu Hilfe gerufen: rum mir myn straß, das ich ouch geeret werd von den Cristenen, so wil ich mit dir syn und wil dir darzuo erwerben daz ewig leben (BhK 107,10–12). Dann gibt sich der Sprecher auf erneute Nachfrage Karls als Sant Jacob (BhK 107,15) zu erkennen. Am nächsten Tag bricht Karl mit einem Heer auf nach Galicien und belagert drei Mo-

kommen zu sein: „Auf den 16. Juni als Tag des heiligen Roland stoßen wir, nicht in Frankreich, sondern im deutschen Kaiserreich, erst wieder im 15. Jahrhundert“ (ebd., S. 87). 815 Vgl. BhK 68,5–7. 816 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 1–5; Aachener Vita Karoli Magni III,2 f. und III,5 (Bau und Ausstattung von Jakobskirchen durch Karl). 817 Die Selbstbetrachtung Karls und ihre Situierung am ‚Ende der Welt‘ fehlen in den lateinischen Vorlagen, aber seine Erschöpfung vom Heidenkrieg und sein Verlangen nach Muße sind dort bereits angelegt (Pseudo-Turpin, Kapitel 1, S. 29: Tanto igitur sudore ac gravi fatigatus labore, ut requiem sibi daret, nec amplius bellum iniret, proposuit; identisch in der Aachener Vita Karoli Magni III,1; S. 204,29 f.).

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nate lang erfolglos Pamplona. Doch nach einem Gebet an Jesus Christus kommt es zum göttlich gewirkten Fall der Stadtmauern – wie in der siebten Episode, in der die Mauern von Granopolis fielen, bildet der Fall der Mauern Jerichos an dieser Stelle einen sakralisierenden Bezugspunkt: Und do er von dem gebett uffstund, do fiellent dye muren von in selbs nyder on aller menschen tuon (BhK 107,30–32). Gott unterstützt mit diesem wunder (BhK 107,34) das Unternehmen des Herrschers, der seinem Herrn lobend dankt. Die Stadtbewohner begeben sich ob des Wunders in Karls Gewalt und empfangen die Taufe. [D]as groß wunder (BhK 108,1) verbreitet sich in ganz Galicien, woraufhin sich viele Heiden bereitwillig taufen lassen und jene, die nicht zur Konversion bereit sind, lassen Karl zumindest ungehindert durch das Land ziehen. Anders als in den lateinischen Vorlagen verläuft die Exkursion hier nun – wie Karl es wünschte – ohne Krieg und Blutvergießen.818 Dieser Wandel ist bemerkenswert, denn noch in der vorausgehenden fünften und sechsten Episode stellt Karl die Heiden vor die Alternative, getauft oder getötet zu werden. So hatte der Kaiser am Tag des heiligen Servatius ein Blutbad angerichtet.819 Jetzt, nach seinem Entschluss, das Kämpfen aufzugeben, gelangt der Kaiser ohne Blutvergießen zum Grab. Am Münster des heiligen Jakob angelangt, lässt er Kirche und Grab wieder aufbauen. Karl sorgt für die Pflege der Memoria des Heiligen durch einen Bischof und erschließt damit die Pilgerstätte für die Christen – [u]nd fuor do wider heym (BhK 108,12). Als Lohn für die Erfüllung seines Wunsches verspricht der heilige Jakob daz ewig leben (BhK 107,12) und er wird sich in der zwölften Episode tatsächlich entscheidend für die Rettung von Karls Seele im Partikulargericht einsetzen.820 Die zehnte Episode (BhK 108,13–109,25) verhandelt die himmlischen Vorzeichen von Karls Tod und die Vorbereitungen des Herrschers auf sein Lebensende.821 Damit wird das Makrosyntagma der Vita deutlich profiliert und das in der JakobEpisode aufgerufene hohe Alter Karls linear auf das Ende des Lebens bezogen, womit beide Episoden syntagmatisch verknüpft werden. Der Eingang der vorliegenden Episode bilanziert Karls Leben und verortet die Handlung, obgleich Karl zuvor dem Kampf und der Heidenmission den Rücken kehren wollte, nun in einem (letzten) Glaubenskampf – vom Blutvergießen ist allerdings auch hier keine Rede mehr:

818 Itaque Sarracenos [...], qui renuereunt, gladio feriendoes tradidit (Aachener Vita Karoli Magni III,3, S. 208,9–11). Illos autem, qui ad fidem Christi converti noluerunt, aut gladio interemit aut sub Christianorum imperio captivavit (ebd. III,3, S. 208,22 f.); identisch im Pseudo-Turpin, Kapitel 3, S. 31. 819 Also fuor Karlus mit den sinen aber an den strit in dem namen gocz und des heilgen Sant Servacien. Und ward aber ein stritten, daz man in dem bluot wuot uncz an die anklawen. Und ertottend die Cristnen die heiden alsament, daz keyner lebend dannan kam (BhK 103,6–10). 820 Vgl. BhK 111,24–29. 821 Vgl. Einhards Vita Karoli Magni, Kapitel 32; Pseudo-Turpin, Kapitel 32; Aachener Vita Karoli Magni III,12; siehe auch die Einsiedelner Hs. 245, fol. 6 f. Die Aachener Vita überschreibt das Kapitel III,12 mit De celestibus presagiis augustalis transitus preambulis (S. 242).

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Do nun der wirdig keyser Karlus, eyn merer und ein beschirmer des cristenen glouben, gerichßnet hatt und kunigk was gesin zuo Franckrich XLIIII jar und in Ytalia XXXVI jar und XI jar keyser was gewesen und im LXVIII jar synes alters, do hette er gethan gar ein grossen stryt mit den heyden. (BhK 108,13–17)

Karls Funktion als ‚Mehrer und Beschützer der Christenheit‘ wird benannt und seine Lebens- und Herrschaftszeiten werden rekapituliert. Diese Angaben konkretisieren die Handlung und legen sie zeitlich etwas genauer fest, als es die vorangehenden paradigmatischen Episoden taten, die zumeist unbestimmt im Leben des Herrschers liegen. So wird hier nun die Einmaligkeit der Vorgänge ausgedrückt, der Charakter des Paradigmatischen gedämpft und ein nicht-wiederholbares biographisches Syntagma profiliert. Eine solche Übersicht über Karls bisheriges Leben findet sich in den entsprechenden Kapiteln der lateinischen Vorlagen nicht; möglicherweise ist sie an die Inschrift des Bogens über dem Karlsgrab angelehnt.822 Im Folgenden gestaltet das Buch vom heiligen Karl die aus den Quellen übernommenen himmlischen Vorzeichen auf eigene Weise, ändert ihre Reihenfolge und schafft so neue Sinnzusammenhänge.823 Einhard hingegen erzählt zunächst von Karls Tod (Kapitel 31) und reicht dann die himmlischen Vorzeichen nach (Kapitel 32); diese Darstellung übernimmt der Pseudo-Turpin. Das Buch vom heiligen Karl folgt jedoch im Anschluss an den Aufbau in der Aachener Vita Karoli Magni einem ordo naturalis und erzählt in dramatischer Steigerung erst von den Vorzeichen und abschließend von Karls Tod. Diese Anordnung erlaubt eine Reflexion der Vorzeichen durch Karl, kommt einem linearen Verlauf des Herrscherlebens näher und ermöglicht die Einflechtung eines Konversionsnarrativs.824 Das Buch vom heiligen Karl platziert eine Begebenheit, die die Quellen in die Mitte (Einhard und Aachener Vita Karoli Magni) oder ans Ende der Vorzeichen (Pseudo-Turpin) stellen, gleich am Beginn und gibt ihr damit größeres Gewicht. Als sich Karl eines Tages nach der Auseinandersetzung mit den Heiden auf den Heimweg machen möchte, ereignet sich ein Wunder, das in seiner Inszenierung und Funktion an das Konversionserlebnis des Paulus auf dem Weg nach Damaskus erinnert:825 Der Himmel verdunkelt sich und ein hell leuchtender ‚Meteor‘ (ein schoß; BhK 108,19)826 erscheint, der Karl derart erschreckt, dass er vom Pferd fällt. Daraufhin springt sein ‚Rittergürtel‘ (ryt-

822 Vgl. Einhards Vita Karoli Magni, Kapitel 31 (S. 35,25–36,2). 823 Vgl. zur bisweilen ‚freien‘ Arbeitsweise des Bearbeiters auch Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl, S. 57 f. Bastert erkennt insgesamt einen „literarisch versierte[n] Redaktor“ (ders., Helden als Heilige, S. 225, Anm. 130). 824 Vgl. zum Konversionsnarrativ in germanistisch-mediävistischer Perspektive zuletzt Udo Friedrich, Ulrich Hoffmann, Bruno Quast (Hrsg.): Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters. Berlin/Boston 2020 (LTG. 21). 825 Vgl. zum Damaskusgeschehen Act 9,3–9. 826 Übersetzung nach Albert Bachmann, Samuel Singer: Namen- und Wörterverzeichnis. In: Dies. (Hrsg.), Deutsche Volksbücher, S. 501.

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terlich gürttel; BhK 108,23) auf und bricht, die Ringe an seinen ‚Rittersporen‘ zerbrechen (rytterlichen sporen; BhK 108,24) und sein Bogen springt davon und gräbt sich sieben Fuß tief in die Erde.827 Diese radikale ‚Entwaffnung‘ und die Zerstörung der ritterlichen Ausrüstung bedeuten symbolisch die Abkehr vom ritterlichen Leben – der Text betont dies durch die Wiederholung der Qualifikation der Dinge als ‚ritterlich‘. In den zur Rede stehenden Quellen findet sich dieser für das Buch vom heiligen Karl zentrale Aspekt der Ritterlichkeit nicht. Karl der Ritter wird – gleich seinem Bogen, der sieben Fuß unter der Erde liegt – sprichwörtlich zu Grabe getragen. Es handelt sich um eine intrareligiöse Konversion, die eine Veränderung des modus vivendi bedeutet, nämlich die Aufgabe der ritterlichen zugunsten einer geistlichen, friedfertigen Lebensform.828 Karl ist sich der Bedeutung der Vorgänge, die als transzendenter und damit göttlicher Eingriff in sein Leben zu verstehen sind, bewusst: By disen dingen allen verstuond Karlus, daz syn strytten und fechten nit me was und us solt syn, das er vil jaren hett getan wider den unglouben und ander ongerechtigkeytt, wan er gestreytt nye durch muotwyllen oder umb zyttlich guot. Er bekant ouch by disen dingen, das er sich hynnenhyn zuo got solt lan und geistlich ein rytter gocz solt syn und syn wyllen in den wyllen gocz. (BhK 108,29–35)

Von diesem Wandel Karls geschweige denn von einer Reflexion des Vorfalls erzählen weder die anderen Bearbeitungen des Textcorpus noch die Quellen des Buchs vom heiligen Karl. Karl erkennt, dass er die militärische vita activa aufgeben muss und sich Gott als ‚geistlicher‘ Ritter verpflichten soll. Damit möchte Karl in eine friedliche vita contemplativa wechseln, die ihn von drängenden herrscherlichen, besonders den militärischen Pflichten befreit. Daheim erstellt Karl sein Testament, teilt sein Erbe auf, verteilt Almosen und bedenkt Klöster und Kirchen mit reichlichen Gaben.829 Im Besonderen stattet er das Spital in Roncesvalles aus: Und sunderlich begabt er den spyttal, den er gebowen

827 Bei Einhard (Vita Karoli Magni, S. 36,15–37,1) befindet sich Karl in dieser Episode auf seinem letzten Feldzug gegen die Sachsen. Er verlässt in der Frühe das Heerlager, dann fällt eine gleißend helle Fackel vom Himmel, die von anderen bestaunt wird, während Karl vom Pferd fällt. Fibel und Schwertgurt gehen zu Bruch. Dem entwaffneten und mantellosen Karl (exarmatus et sine amiculo; S. 36,25) wird aufgeholfen, sein Wurfspieß liegt über zwanzig Fuß weit entfernt – den führte er sonst immer tapfer in der Hand (tunc forte manu tenebat; S. 36,26). Damit endet die Darstellung. Die Aachener Vita Karoli Magni hält sich genau an Einhard; auch hier erfolgt keine weitere Kommentierung der Handlung. Im Pseudo-Turpin wird der Kontext des Sachsenfeldzugs getilgt und die Begebenheit wird auch zeitlich unspezifisch: Cumque ipse de loco ad locum die quadam pergeret (ebd., S. 128). Insgesamt wird bei Einhard und in der Aachener Vita auf ausschmückende Details verzichtet: Karl stürzt vom Pferd, doch verliert bis auf den Wurfspieß keine weitere Ausrüstung oder Waffe. Man hilft ihm schnell auf, eine Reflexion bleibt aus. 828 Die Konversion bahnt sich bereits in der vorangehenden neunten Episode an, in der Karl, am Ende der Welt angekommen, einsieht, dass er nicht mehr kämpfen, sondern nach Hause möchte. 829 Vgl. zu Karls Testament Einhards Vita Karoli Magni, Kapitel 33; die Aufteilung von Erbe und Almosen ist in Anlehnung an Einhard ausführlich erzählt in der Aachener Vita Karoli Magni III,13–15.

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hatt uff den steyn, daruff Ruoland starb (BhK 109,2–4). Über diesen anaphorischen Verweis wird das Bemühen des Bearbeiters deutlich, ausgewählte Fäden zur Kohärenzstiftung des Gesamttextes aufzunehmen und so Aspekte des Erzählten, die ihm bedeutsam erscheinen, in Erinnerung zu rufen. Karl erkrankt daraufhin an einem Fieber (frörer; BhK 109,5), seine Füßen schwellen an. Er laboriert drei Jahre an der Krankheit und bekant alle zyt syn gegenwürttigen tod (BhK 109,7), bis Zeichen den nahenden Tod ankündigen: Do nun daz zytt kam, daz er sterben solt, do geschachen vil wunderzeichen, die do erczeigten, das keyn keyser nach im komen solt, der die dingk tett oder mocht gethuon, die er gethan hatt, und daz ein groß liecht der Cristenheytt undergieng, wen er stürb; wan man spricht gemeynlich, das er der Cristenheyt als nücz sy gesyn als kein czwelffbott. (BhK 109,9–14)

Die ‚Wunderzeichen‘ verbürgen, dass Karl ein einmaliger Idealherrscher ist, dessen Taten unnachahmlich bleiben werden. Seine Erhöhung wird sprichwörtlich im kollektiven Gedächtnis verankert und zur communis opinio, denn Karl entscheidet einen Vergleich mit den Aposteln im tertium comparationis des ‚Nutzens für die Christenheit‘ für sich. So hätten die Zwölf Apostel kraft des Heiligen Geistes mit dem Wort missioniert, Karl habe ebenso mit der krafft gocz (BhK 109,17) und mit dem Schwert missioniert. Zudem habe er so viele Kirchen gebaut, wie es Buchstaben im Alphabet gibt: daz münster unßer frouwen zuo Ach daz erst und Zürich das hynderst (BhK 109,24 f.).830 Über die Kirchenstiftungen wird ein Bogen von Karls Machtzentrum Aachen nach Zürich geschlagen, dem Entstehungs-, Handlungsund primären Rezeptionsort des Buchs vom heiligen Karl. In der elften Episode (BhK 109,26–111,3), die mit der zehnten fast nahtlos verbunden ist, werden neben Karls Tod weitere diesen ankündigende Zeichen behandelt. Es scheint, als seien mit Karls Ende auch die mit ihm verbundenen Dinge in Auflösung begriffen, wodurch im übertragenen Sinn seine im Besonderen charismatisch fundierte Herrschaft nicht in eine Veralltäglichung und traditionale Perpetuierung transformiert werden kann. Mit dem ‚Licht‘ der Christenheit erlöschen nämlich auch seine besonderen herrschaftlichen Spuren, sodass allein die Memoria die Errungenschaften des Herrschers zu konservieren vermag. Das erste Zeichen besteht in einem Brand, der auf unerklärliche Weise die von Karl erbaute Rheinbrücke bei Mainz vernichtet. Das zweite Zeichen ist der Einsturz prächtiger Vorhallen, die Karl erst jüngst errichten ließ: Ein schonen schopf hat er kürczlich gebuwen vor sym palast und eyn vor dem münster, geczierdt mit guldinen knopfen und aller hand gecziert; die fielend nyder (BhK 109,33–35). Mit diesem Kollaps irdisch-herrscherlicher Prachtentfaltung sowohl an zentralen weltlich-politischen als auch an geistlichreligiösen Manifestationen der kaiserlichen Macht wird Karls Herrschaft abgetragen und als ephemeres Phänomen ausgewiesen. Auch seine Krone zerbricht: Syn dryvaltig kron [...] zerreyß sich von einander; darby Karlus vol verstuond syn tod und 830 Folz weist auf eine lokale Tradition als Quelle hin (ders., Le Souvenir, S. 477).

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das alle ere und guot zorgatt (BhK 109,35–110,3).831 Karl begreift, dass er sterben wird und gewinnt Einsicht in die Eitelkeit irdischer Dinge. Sechs Tage vor seinem Tod ereignen sich weitere Zeichen. So erlöschen Sonne und Mond und ein Sonnenfleck ist zu sehen, der nye mer gesechen was (BhK 110,5). Die Halterungen und Holzverstrebungen im Saal, in dem Karl sich aufhält, krachen und bewegen sich auseinander; eine goldene Kugel, die auf der Spitze seines Palastes thront, fällt vom Blitz getroffen uf des obersten bischofs tach (BhK 110,10).832 Diese Akkumulation verschiedener exzeptioneller Zeichen, die an jene im Kontext des Todes Christi erinnern,833 läuten dramatisch die letzte Nacht des Herrschers auf Erden ein. Karl liegt mit schwerer Krankheit im Bett, do kam ein schöner wunneklicher clarer schin in den sal (BhK 110,11 f.). Diesen Lichtschein können die Anwesenden zwar sehen, doch einzig Karl ist es vergönnt, auch die im Schein befindliche Gestalt zu identifizieren. Es handelt sich um Roland, der Karl ermutigt, mit dem Tod das ewige Leben zu gewinnen und auf dem Weg dorthin die Teufel nicht zu fürchten. Die lateinischen Quellen des Buchs vom heiligen Karl kennen die Lichterscheinung Rolands nicht.834 Damit schlägt Karl nun die stund synes endes (BhK 110,21) und er schickt nach seinem Bischof. Er legt die Beichte ab, empfängt als Viaticum den Leib Christi und die Letzte Ölung. Dann segnet er Gesicht, Herz und Körper, legt seine Hände gekreuzt über sein Herz, schließt die Augen und singt den zur Komplet gehörigen Vers „In manus tuas, domine, commendo spiritum meum“ (BhK 110,27 f.; vgl. Ps. 30,6).835 Der Text verwendet – im Anschluss an die gegenüber Einhard und Pseudo-Turpin ausführlichere Darstellung der Aachener Vita Karoli Magni –836 große Sorgfalt auf die Darstellung der formalen Seite des ‚rechten Sterbens‘, sodass der Tod des Herrschers ein ‚guter‘ christlicher ist. Der Erzähler datiert Karls Tod genau: Und nach dem verschiede er in dem jar, do man zalt von Cristus gepurdt acht hundertt und XIIII jar an dem funfften tag des monads February (BhK 110,28–30).

831 Eine Vorlage für dieses Kronen-Zeichen ist nicht bekannt (vgl. Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl, S. 58). 832 Die zurückliegenden Zeichen – bis auf die zerbrechende Krone – finden sich in Einhards Vita Karoli Magni, Kapitel 32, ebenso in der Aachener Vita Karoli Magni III,12 und reduziert auch im Pseudo-Turpin, Kapitel 32. Das Abbröckeln der Inschrift Karolus princeps an einer Kirchenwand, das alle lateinischen Quellen bieten, lässt das Buch vom heiligen Karl aus. 833 Vgl. hierzu Mt 27,45.51; Lk 23,44 f.; Mk 15,33. 834 Kletzin vermutet eine – jedoch unbekannte – deutsche Verslegende über Roland als Vorlage (vgl. dies., Das Buch vom heiligen Karl, S. 59–61). 835 Vgl. für Karls Tod Einhards Vita Karoli Magni, Kapitel 30; Pseudo-Turpin, Kapitel 32; Aachener Vita Karoli Magni III,16. 836 Bei Einhard ist das Sterbeprotokoll kurz, ein Ablativus absolutus genügt: sacra communione percepta (ders., Vita Karoli Magni, S. 35,10 [Kapitel 30]).

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Damit wird irrtümlich der 5. Februar – und nicht der 28. Januar –837 814 als Todestag angegeben. Es folgt ein Nachruf: Und was künigk gesin in Franckrich XXXXVII jar und hat darzuo gehan das kunigkrich in Ytalia XXXVIIII jâr und was XIIII jar keyser gesin. Und diß alles hat er wol und erlich ußgericht gen got und gen der welt, won er ist gesin ein milter, erbarmhercziger, warhaftiger mensch und ein gerechter richter. Und ist gesin LXXII jar alt, do er starb. (BhK 110,30–36)

Neben den Herrschaftsbereichen und der -dauer wird auch die Qualität der Amtsausübung angesprochen, da Karl als freigebiger, barmherziger und aufrichtiger Mensch und als gerechter Richter zelebriert wird. Die allgemeine Klage um seinen Tod ist groß und kommt von Herzen. Sein Leichnam wird nach Aachen verbracht und im dortigen von ihm errichteten Münster in einem Grab beigesetzt, das er zu Lebzeiten bauen ließ. Karls Tod bedeutet den Eintritt ins himmlische Leben und als Beweis für seine Heiligkeit sind gemäß dem Makrosyntagma einer Heiligenvita miracula post mortem zu erwarten. Die zwölfte Episode (BhK 111,4–32) ergibt sich aus Karls Tod und widmet sich dem Verbleib seiner Seele, sie schließt sich damit syntagmatisch an.838 Der Bischof Turpin hat während seines Gebets eine Vision, die sich synchron zu Karls Sterben ereignet, sodass er die Auseinandersetzung von Dämonen um die Seele des Kaisers verfolgen kann.839 Er schaut die Vorgänge des Partikulargerichts nicht unmittelbar, sondern befragt in der Vision einen der ‚schwarzen Ritter‘, die Karls Seele für den Teufel gewinnen wollten. Dieser berichtet von der zu diesem Zeitpunkt abgeschlossenen Seelenwägung Folgendes: ‚Wir hand nütt geschafft. Wir legten syn böse werck uf ein wag und die guotten dergegen, und hett unser teyl schier fürgeczogen; do kam eyner on houpt von Gallicia, genant Jacobus, und leyt so vil steynen und holcz daruf, das es fürwag. Und da komend die engel und namend in uns und hand in mit fröden gefüertt in das paradiß, und sind wir umb in komen.‘ (BhK 111,23–29)

Turpin lobt Gott dafür, als ihn ein Ritter erreicht, den Karl selbst noch zu ihm geschickt hatte, um seinen Tod anzuzeigen. Der Bischof erklärt dem Ankömmling, dass Karls Seele gerettet und nun im Paradies ist. Der Ablauf des Partikulargerichts wirft einen kritischen Blick auf Karls Rechtschaffenheit, da es der Intervention eines Heiligen bedarf, um seine Seele vor der Hölle zu bewahren. Doch diesem

837 Wie bereits in der achten Episode löst der Bearbeiter auch hier die Angaben nach dem römischen Kalender falsch auf. Die lateinischen Quellen geben mit V. Kal. Februarii (ebd., S. 35,13 f.), V Kalendas Februarii (Pseudo-Turpin, S. 126) und quinto Kalendas Februarii (Aachener Vita Karoli Magni, S. 260,26) alle den 28. Januar an, das ist der fünfte Tag vor den Kalenden des Februar, nicht etwa der fünfte Tag des Monats Februar. 838 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 32. 839 Gemeint ist hier freilich der ältere Bischof, der bereits eine Vision zu Lebzeiten Karls hatte (vgl. BhK 105,20–22) und nicht jener, der an der Seite Rolands in Roncesvalles gefallen ist.

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Stigma wird das Charisma der besonderen Begnadung Karls durch das Wirken des heiligen Jakob und damit durch göttliche Einflussnahme an die Seite gestellt. In der neunten Episode versprach der Apostel, Karl mit dem ewigen Leben zu belohnen und hält nun Wort. Über Bezüge wie diese und das wiederholte Auftreten von Figuren wird zwischen den Episoden Kohärenz gestiftet. Die folgende dreizehnte Episode (BhK 111,33–112,16), in der wieder der heilige Jakob eine Rolle spielt, wird ein Kirchenschänder namens Altumajor bestraft.840 Zu Lebzeiten hat Karl als Beschützer der Kirchen dafür Sorge getragen, dass niemand darin dhein unzucht tedt (BhK 111,34 f.), doch nach seinem Tod vergehen sich viele an den Gotteshäusern. So auch Altumajor, der die Kirche am Grab des heiligen Jakob aufsucht. Karl hatte sie – wie die neunte Episode erzählte – mühevoll und aufwendig restauriert, doch der Heide verwuost, was do was, und stalt syne roß darin und thet onzymlich werck uf dem altar (BhK 112,2 f.). Daraufhin straft Jakob den Kirchenschänder mit Krankheit. Doch der Gestrafte bittet bei Gott und den Heiligen um Vergebung, gelobt, sich nicht wieder am christlichen Glauben zu vergehen, und gesundet. Wortbrüchig schändet er dann jedoch die Kirche des heiligen Romanus – und damit die Grablege Rolands und anderer vornehmer Fürsten –, zerschlägt eine Säule und erstarrt schließlich als gespiegelte Strafe selbst zuo einer sull (BhK 112,12). In dieser Gestalt stehe er nun in heidnischem Gewand in der Kirche und zeige mit der Absonderung von Gestank an, wenn ein Ungläubiger die Kirche betritt.841 Die Episode beklagt zwar den ernsten Umstand, dass nach Karls Tod der Schutz der Gotteshäuser nicht ausreichend gewährleistet ist und dass der Unglaube aufblüht, doch sie bewältigt den Missstand durch die verhöhnende Instrumentalisierung des Heiden mit einer gewissen Komik. Aus einem linearen Fortschreiten ausgekoppelt ist dann die folgende vierzehnte Episode (BhK 112,17–113,30), die vielmehr eine descriptio darstellt. Sie fasst biographische Leitlinien und Detailbeschreibungen in einem Herrscherporträt zusammen.842 Der erste Abschnitt widmet sich Karls Gestalt und beschreibt – auf Schönheit abzielend – seine Physiognomie. Der Herrscherkörper wird sukzessive vermessen, indem stets Länge und Breite des jeweiligen Körperteils angegeben werden – wie das folgende Beispiel zeigt:843 Syns libs lenge ist VIII schuoch langk, syn

840 Vgl. Pseudo-Turpin, Kapitel 38 bzw. Appendix B (Ausgabe Klein); ähnlich gelagert sind auch die Kapitel 9, 14 und 18. Die Episode findet sich auch in der Einsiedelner Hs. 245, fol. 46 f. Dieser Almansor von Córdoba bzw. Altumaior Cordube (gest. 1002) hat „im Jahre 997 Compostela überfallen und geplündert“ (Klein, Kommentar, S. 176). 841 Vgl. BhK 112,14–16. 842 Vgl. Einhards Vita Karoli Magni, Kapitel 22 (unter Hinzuziehung von Kapitel 19 und 24); aber vor allem Pseudo-Turpin, Kapitel 20 (De persona et fortitudine Karoli), dem das Buch vom heiligen Karl hier im Aufbau folgt und die Darstellung erweitert. 843 Vgl. zum Herrscherkörper sowie zu familialen Beziehungen Karls auch Lundt, Kaiser Karls dritter Körper.

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antlüt anderhalb span langk, und syn styrn hatt eyns füeßes breyti, und syn obren prawen warent einer halben span breytt (BhK 112,19–22). Das Beschriebene wird beharrlich für ‚schön‘ und ‚wohlgestalt‘ befunden gemäß dem einleitenden Satz der descriptio, der Karl vorstellt als schon hupsch man mit einem wolgefar antlütt unnd ein wolgestalten lib von allen lidmasen (BhK 112,17–19). Eine Zwischenbilanz hält fest, dass der Herrscher starck an allen synen glidren und fest in sym gemüett und eyn manlicher rytter (BhK 112,29 f.) war. Nach der Erwähnung seiner Ausdrucksweise und Stimme leitet der Erzähler mit einer letzten Bemerkung zum prächtigen Herrscherkörper zu Karls Lebenswandel über. Dann kommt nach seinen maßvollen Essund Trinkgewohnheiten und seinem Schlafverhalten Karls Kraft zur Sprache, die es ihm erlaubt, mit einem Schwertstreich einen Ritter samt Pferd zu durchtrennen oder einen Ritter in voller Rüstung mit nur einem Arm in die Höhe zu heben. Diese beiden Machtdemonstrationen, die sich nicht bei Einhard finden, fallen unter Karls vil naturliche[] gaben (BhK 113,10), die ihm Gott in seiner Gnade zugeteilt hat. Die Beschreibung wendet sich dann den Familienverhältnissen des Herrschers zu:844 So ist vom wirdigen keyser Sant Karlus (BhK 113,12 f.) bekannt, dass er vierzehn Kinder hatte, die er sehr liebte, und dass er sich Frauen gegenüber höflich verhalten habe. Alle Kinder habe er in den Sieben Freien Künsten, die Söhne dann in der Ritterschaft und die Töchter in Arbeiten, die den frowen zuohörtind (BhK113,19 f.), unterweisen lassen. Stets umgab er sich mit seinen geliebten Kindern. Schließlich – und dieses Detail ist wieder ohne lateinische Vorlage – artikulieren sich Karls Frömmigkeit und seine demütige Haltung der Kirche gegenüber darin, dass er zu Fuß und nicht zu Pferd zur Kirche kam und an Festtagen, wen er in die kilchen kam, so thet er syn kronen ab und syn schwertt von im und hörtt erwirdigklichen und diemüettigklichen gocz dinst (BhK 113,28–30). Die fünfzehnte Episode (BhK 113,31–114,3), die treffender als ‚Bericht‘ zu bezeichnen ist, widmet sich Karls Heiligsprechung, der Übermittlung von Reliquien und der Etablierung seines Kultes in Zürich: Do nun der würdig keyser Sant Karlus tod was und drühundertt und funfczig jar in dem ertrich gelegen was, do ward er erhept und cononisiertt under dem würdigen keyser Fridrich und under dem seyligen bapst Gregorio. Und wartt syn hystoria, die man jerlich sol syngen und lesen von im, und ouch syns heylthumps här gen Zürich gesant mit versigolten briefen von dem capittel der kilchen, genant aquensis ecclesia, das ist ouch dem erwirdigen probst Zürich, genant her Ruodolf von Hottingen, und synen chorhern in dem jar, do man zalt von Cristus geburtt tusent czwey hundertt und XXXIII jar an der würdigen heyligen tag Cosme und Damiany. (BhK 113,31–114,3)

Karl wird somit drühundertt und funfczig jar nach seinem Tod (28. Januar 814) erhoben (elevatio) und kanonisiert – das wäre dann im Jahre 1164 bzw. (wenn ein erfülltes ganzes Jahr addiert wird) 1165. Die Kanonisierung am 29. Dezember 1165 erfolgte

844 Hier folgt die Darstellung wieder Einhards Vita Karoli Magni, u. a. Kapitel 19.

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unter Friedrich I. Barbarossa und dem Gegenpapst Paschalis III.845 Mit Gregorio meint der Bearbeiter Papst Gregor IX. (1227–1241) und mit Fridrich den BarbarossaEnkel, Kaiser Friedrich II. (1220–1250). In ihre Amtszeit fällt die Einrichtung des Zürcher Karlskultes und der Text fokussiert dieses Ereignis aus lokaler Perspektive scheinbar als eigentliche Kanonisierung.846 Eine hystoria über Karl den Großen sowie Reliquien mit beglaubigenden Schriftstücken werden am 27. September 1233, am Gedenktag der Heiligen Cosmas und Damian, von Aachen nach Zürch übermittelt.847 Damit ist die Etablierung einer Zürcher Karlsliturgie, gestützt auf die jährlich zu singende und zu lesende hystoria, angesprochen und die Stadt wird als besonderer Ort der Karlsverehrung präsentiert.848 Der Bearbeiter spannt mit dieser Wendung einen Bogen zu den in Zürich stattfindenden Ereignissen um die Richtglocke am Anfang des Buchs vom heiligen Karl und weist den Text, der die Tradition der Karlserzählungen spezifisch fortschreibt, als Beitrag zur Zürcher Karlsverehrung aus. Die letzte und sechzehnte Episode (BhK 114,4–14) ist paradigmatischen Charakters und erzählt das erste im Besonderen auf Karl bezogene miraculum post mortem als signum sanctitatis:849 Ein Ritter hat zu Lebzeiten Karls Gunst verloren und begibt sich nach dessen Tod nun nach Aachen zu einer nach Angabe des Erzählers noch heute dort befindlichen Steinstatue des Heiligen, die er verspottet, indem er dem Dargestellten Machtlosigkeit unterstellt. Doch – und das bekräftigt die zuvor berichtete Kanonisierung Karls – der Heilige ist mit Gott im Bunde und vermag

845 Vgl. zur Kanonisierung u. a. Odilo Engels: Des Reiches heiliger Gründer. Die Kanonisation Karls des Großen und ihre Beweggründe. In: Karl der Große und sein Schrein in Aachen. Eine Festschrift. Hrsg. von Hans Müllejans. Aachen 1988, S. 37–46; Knut Görich: Kanonisation als Mittel der Politik? Der heilige Karl und Friedrich Barbarossa. In: Fuchs/Klein (Hrsg.), Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft, S. 95–114. „Der damalige Gegenpapst Paschalis III. autorisierte die Kanonisation, die später von der Kurie stillschweigend geduldet wurde. Barbarossa begründete sie mit Karls Verdiensten für den christl[ichen] Glauben (Privileg für Aachen vom 08.01.1166)“ (Dietlinde Munzle-Everling, Art. Karlskult. In: 2HRG 2 [2012], Sp. 1645–1649, hier Sp. 1646; mit weiterer Literatur). Vgl. dagegen zur Form und Rechtsgültigkeit der Kanonisation Karls Helmut Deutz, Ilse Deutz: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Die Aachener „Vita Karoli Magni“, S. 15–23. 846 Vgl. zur ‚erneuten‘ Kanonisierung Karls durch Papst Gregor IX. Folz, Études, S. 44 f. Die Quellen für die Einrichtung des Zürcher Karlskultes, dazugehörige Chorbücher sowie einen Altar, Reliquien und bildliche Darstellungen (u. a. Siegel und Statue) bespricht Folz, ebd., S. 44–49. Die Texte der Karlsliturgie und ihre Quellen stellt ebd., S. 96–100 dar. Vgl. hierzu auch Bastert, Helden als Heilige, S. 114 f. 847 Die Heiligen Cosmas und Damian haben am 26. und 27. September ihren Gedenktag; für den 27. spricht die Handschrift Ms. 245 Einsiedeln in einem Bericht mit dem Titel Apparitio reliquiarum Karoli Magni in Thuregum (fol. 8) (lateinisches Zitat nach Folz, Études, S. 44). Siehe dazu auch Gerhard Rauschen: Die Legende Karls des Großen im 11. und 12. Jahrhundert. Leipzig 1890 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. 7), S. 11 f. 848 Vgl. zur Karlsverehrung in Zürich auch Dietl, Kohärenzstiftung ‚von oben‘, S. 294 f. 849 Eine Quelle für die Episode ist nicht greifbar.

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seine Macht zu entfalten: Das wolt got nütt vertragen, und das steyne pild Sant Karlus zoch daz schwerdt halbes uß, das er uf der schoß hat. Und das sach der rytter und erschrack übel, also daz er nyder fyel und starb (BhK 114,11–14). Mit diesem ehrfurchtgebietenden Bericht schließt die Erzählung und damit das Buch vom heiligen Karl. Die wundersame Bewegung der Steinstatue beweist die stete Anwesenheit des heiligen Karl. Das Kunstwerk repräsentiert nicht einen Abwesenden, sondern manifestiert seine ubiquitäre Präsenz. Die vorliegende Episode, die ihren Schauplatz in Aachen hat, weist einen realhistorischen Bezug zum Zürich des 15. Jahrhunderts auf:850 Ob eine steinerne Karl-Skulptur im 15. Jahrhundert oder früher in Aachen existiert hat, ist ungewiss. Sicher ist dagegen, dass am Zürcher Großmünster um 1470 eine solche Skulptur angebracht wurde, die den sitzenden Kaiser in Richterposition mit halbgezogenem Schwert darstellt; möglicherweise hatte diese Skulptur noch einen älteren Vorläufer.851

Blickt man von dieser letzten Episode um die wundersam wirkmächtige Karlsskulptur auf den Text zurück, zeigt sich also, dass die als Makrosyntagma arrangierte Vita des heiligen Karl – eingebettet in die sich linear vollziehende Heilsgeschichte – geschlossen von Geburt, Leben, Tod, Heiligsprechung und Reliquienüberführung des Herrschers samt postmortalen Wundern erzählt. Die Figur des Heiligen erscheint als Ordnungsschema und als kohärenz- und sinnstiftender Bezugspunkt, an dem sich alle dem Makrosyntagma untergeordneten paradigmatischen und syntagmatischen Erzählbausteine anlagern – auch im letzten, episodischen Teil des Buchs, in dem der Bearbeiter seine Prätexte nach eigenen Vorstellungen aufbereitet. Diese Vorstellungen gehen jedoch weit über das hinaus, was Bastert als ‚durchdachte Struktur‘ im Sinne einer Abbildung des Lebenswegs Karls erkannt hat.852 Die Struktur des abschließenden Erzählteils zeichnet sich nämlich durch die Konfrontation von Lebensmodellen im Konzept ‚Herrscherheiligkeit‘ aus: So lassen sich die insgesamt sechzehn Episoden sinnhaft in zwei Gruppen von jeweils acht Episoden unterteilen. Rolands Tod, der in der achten Episode erzählt wird, scheint dabei eine Scharnierfunktion zu erfüllen. Standen zunächst die kämpferische Bewährung im Heidenkampf und die Gemeinschaft der Helden, Karl und Roland, im Vordergrund, sind für die restlichen Episoden eine Profilierung des heiligen Karl und die Institutionalisierung seines Kultes prägend. Beide Episodengruppen zeichnen sich jedoch durch eine wechselseitige Imprägnierung aus: Bereits der bisweilen überaus blutige Heidenkampf stellt Karls Gottesnähe unter Beweis; ebenso lässt auch das Herrscherheiligenporträt keinen Zweifel

850 Vgl. Folz, Le Souvenir, S. 477, Anm. 50. Vgl. zur Präsenz Karls in Zürich Kletzin, Das Buch vom heiligen Karl, S. 3; Holger Deifuß: Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm. Kritische Edition und Untersuchung einer frühneuhochdeutschen Prosaauflösung. Frankfurt a. M. u. a. 2005 (Germanistische Arbeiten zur Sprach- und Kulturgeschichte. 45), S. 213. 851 Bastert, Helden als Heilige, S. 228, Anm. 134 (mit weiterer Literatur). 852 Ebd., S. 227 f.

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an der physisch-heldischen Idealität des von Gott Begnadeten. Auch die Konversion zur geistlichen Ritterschaft, die erst nach Rolands Tod möglich geworden zu sein scheint, ist Ausdruck der ständigen Doppelverpflichtung des Herrscherheiligen. Die beschriebene Struktur des abschließenden Teils des Buchs vom heiligen Karl spiegelt eine Integration syntagmatischen Erzählens von Herrschaft und paradigmatischen Erzählens von Heiligkeit. Dabei wird nicht zuletzt der Effekt erzielt, dass Heiligkeit in ihrer Konstruktion offengelegt wird, so als syntagmatisch erzählbares Phänomen erscheint, und herrschaftliche Bewährung durch das isolierende Herausgreifen aus einem auf Dauer gestellten Handlungskontext und der so erwirkten sozialen ‚Anschlusslosigkeit‘ herrscherlichen Handelns zur paradigmatischen Episode wird. Der Text endet mit der letzten Episode zum wunderbaren Wirken der steinernen Karlsstatue ohne Epilog und förmlich-hermetischen Abschluss und er eröffnet so eine Schnittstelle zur Ansippung weiterer Episoden, die miracula post mortem um das Heiligenwirken von Sant Karlus verhandeln. Im Besonderen im Entstehungsund primären Rezeptionsraum Zürich bietet sich das Buch vom heiligen Karl mit diesem offenen Ende zur Kopplung mit dem außertextuellen Wirkraum des heiligen Herrschers und damit als Medium der Karlserinnerung und -verehrung an.853

7.5 Zwischenergebnis Leitend für die Auseinandersetzung mit Karls Herrschersakralität war in diesem Kapitel die These, dass ein auf den Spanienfeldzug konzentriertes Erzählen überführt wird in ein auf die Figur Karls des Großen konzentriertes Erzählen, sodass sich die Figur vom historischen Ereignis emanzipiert und selbst als strukturbildendes Erzählzentrum erscheint. Der Spanienfeldzug wird zur Episode in einer Vita. Diese Fokusverschiebungen sind an inhaltlichen und formalen Veränderungen verifiziert worden, die die Anlage der Texte, ihre Funktion und Gattungseinschreibung betreffen und damit sowohl intra- und als auch intertextuell bedeutsam sind. Im Hintergrund steht dabei die narratologische Frage, wie sich eher syntagmatisch abzubildende Herrschaft und eher paradigmatisch abzubildende Sakralität miteinander koordinie-

853 Deifuß identifiziert den Textzeugen Ms. Car. C 28 als „typische Gebrauchshandschrift des 15. Jahrhunderts, die sich aufgrund des weitgehend fehlenden Handschriftenschmucks als Serienprodukt spätmittelalterlicher Schreibstuben qualifizieren läßt“ und so ist „davon auszugehen, daß der Band intensiv in den Alltag der Besitzer und Leser einbezogen war“ (ders., Hystoria, S. 61). Dietl ordnet das Buch vom heiligen Karl in den Kontext des Alten Zürcherkriegs und damit in die Stadtgeschichte und die Verehrung Karls als Schutzherr ein: „Die pragmatische Kohärenz des Textes ist daher mit Sicherheit im erneuerten Einschreiben des heiligen Karl in die Zürcher Geschichte zu sehen und in der Verortung Zürichs in der Heilsgeschichte“ (dies., Kohärenzstiftung ‚von oben‘, S. 295).

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III Literarische Herrschersakralität

ren und kohärent erzählen lassen. Der Blick auf die diachrone Textreihe Chanson de Roland – Rolandslied – Strickers Karl – Buch vom heiligen Karl offenbart eine Komplexitätssteigerung der Texte, nicht zwingend in intertextueller, zyklischer, aber in intratextueller Hinsicht: Die Texte werden länger, der Umfang des jeweils verarbeiteten Materials steigt durch die Einverleibung der Prätexte, die je aufs Neue umschlossen, doch auch in ihrer narrativen Struktur bearbeitet und spezifisch fortgeschrieben werden. Zudem wirken disparate Entstehungskontexte und kommunikative Horizonte als außertextuelle Veränderungen des Heiligenstatus Karls des Großen auf den Diskurs ‚literarische Herrschersakralität‘ ein – um 1100 erzählt es sich in Frankreich anders von Charlemagne als im ausgehenden 15. Jahrhundert in Zürich als Ort des Kultes vom kanonisierten Herrscherheiligen. Freilich sind die Bearbeitungsschritte der untersuchten Texte nicht notwendiger, sondern kontingenter Natur, sodass eine generische Transformation vom altfranzösischen Heldenepos zur Zürcher Heiligenvita keiner Teleologie folgt. Mit der Unterscheidung von Syntagma und Paradigma als formalem Instrument, das nicht von vornherein mit Gattungserwartungen operiert, ist eine Gesamtschau und eine Segmentierung der Texte in Bausteine unternommen worden. Veränderungen im Umgang mit diesen Bausteinen konnten im Durchgang durch das Textcorpus nachgezeichnet und ihre jeweiligen Kompositionen intra- wie intertextuell gedeutet werden. Es ergibt sich folgendes Bild: Die Chanson de Roland setzt ohne Prolog in medias res ein, platziert den Spanienfeldzug als primäres Syntagma, das auserzählt wird, und stößt mit einem Engelsauftrag ein zweites unabgeschlossenes Syntagma an als Verweis auf die Paradigmatisierung der syntagmatischen Achse gemäß dem Äquivalenzprinzip. Mit dieser ‚epischen Schnittstelle‘ weist die Chanson auf einen Karlszyklus als Sinnhorizont für das erinnernde Erzählen von ‚unserem Kaiser‘ – nostre emper[er]e (ChdR 1) – hin und über eine geschlossene Form hinaus. Zugleich wird mimetisch das endlose Leiden Karls als göttlich verfügte vie penuse abgebildet und reflektiert.854 Die formale Komposition der Chanson stützt nicht nur, sondern artikuliert damit das ‚Passionsleben‘ Karls des Großen im Dienste Gottes. Das Rolandslied erzählt den Spanienfeldzug als unikalen, nicht wiederholbaren und damit nicht-paradigmatischen Einzelfall im Leben Karls, der, wie der Prolog angibt, den Weg des Herrschers in Gottes Reich begründet. Darüber wird der Spanienfeldzug syntagmatisch fixiert, funktional und – da sein Ausgang feststeht – auch final in Karls Leben integriert, dessen Verlauf allerdings nur angedeutet wird. Die gegenüber der Chanson hinzugefügte Vorgeschichte artikuliert eine grundlegend andere Haltung des Kaisers zu seinem ‚Lebensschicksal‘ und bietet damit auch eine andere Handlungsmotivation: Der Kampf für den Glauben ist keine von Gott auferlegte Bürde, sondern geht auf den Wunsch des Herrschers zurück und bedeutet ein von Gott gewährtes Privileg. Der Spanienfeldzug mündet in Geneluns Hinrichtung

854 Vgl. ChdR 4000.

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als Wiederherstellung der Ordnung im Reich. Die Handlung kommt damit in Aachen zur Ruhe und das Syntagma wird für Karls Heil verbindlich und alternativlos geschlossen, ohne dass es einen Ausblick auf weitere Taten des Herrschers gibt; auch deshalb ist das Rolandslied nicht wie die Chanson in einen Karlszyklus integriert. Die formale Komposition des Rolandslieds spiegelt die inhaltlich hergestellte Ordnung: Genelun ist als Mann des Teufels hingerichtet, die Märtyrer und Karl sind – auf unterschiedlichen Wegen – ins Reich Gottes gelangt. Auf diesem Fundament gründen schließlich der in Handschrift P überlieferte Epilog und die Hoffnung der einmütigen Erzähler-, Mäzenaten- und Rezipientengemeinschaft auf Gottes Gnade. Das Erzählen beim Stricker hat gemäß dem Prolog die Funktion einer Heilsvermittlung, denn Karl als heiligen Fürsprecher kennenzulernen, helfe, zu Gott zu finden. Der Text liegt generisch auf der Grenze zwischen Herrscher- und Heiligenvita. Sowohl Herrschafts- als auch Heiligkeitsaspekte werden verhandelt, aber es fehlen beispielsweise Wunder post mortem, die Karls Heiligkeit beweisen, sodass zwar im konventionellen Gattungssinn nicht von einer vollgültigen Heiligenvita gesprochen werden kann, obgleich Karl dem Text selbst als Heiliger gilt. Karls Leben bildet zweifelsohne den Bezugspunkt für alle paradigmatischen und syntagmatischen Strukturen des Textes, und so organisiert sich die Erzählung linear in chronologischer Orientierung am ordo naturalis des Herrscherlebens. Die gegenüber dem Rolandslied hinzugefügte Eltern-, Kindheits- und Jugendgeschichte beweist Karls Gottesnähe seit frühester Kindheit, wodurch paradigmatische Heiligkeit in das Syntagma der Biographie integriert wird. Nach Karls Bewährung als Ritter und seinem Herrschaftsantritt im Frankenreich stößt er selbst die Handlung an, indem es ihn nach Heidenmission verlangt – wie im Rolandslied stimmt der Herrscherwunsch mit Gottes Plan überein. Die Erzählung schreitet rasch Karls weiteren Lebensweg ab, bevor der Spanienfeldzug mit seinen syntagmatischen Implikationen eingeleitet wird: Wie im Rolandslied ist er für Karl höchst heilsrelevant und da kein konkurrierendes Syntagma vorliegt, wird er in seiner unikalen Funktion in Karls Leben integriert, das heißt als Syntagma in das Makrosyntagma der Vita eingegliedert. Am Textende gilt Karls im Prolog angesprochene sælden-Fülle, die auch seine erfolgreiche Vermittlung vor Gott bedingt, als bewiesen – der Text wird darüber eingefasst und die Narration als Beweisführung begriffen. Über den Hinweis auf die genealogische Fortentwicklung des Konflikts zwischen Christen und Heiden öffnet sich der Karlszyklus in intertextueller Perspektive für den Willehalm-Zyklus, doch fällt diese Öffnung nicht mit dem Textende zusammen – wie es ja in der Chanson mit dem ‚Bire‘-Auftrag der Fall ist –, sondern Karls Tod und Heiligkeit werden angeschlossen. Das Ende des Lebens, das mit Karls Passion im Dienste Gottes stand, bedeutet hier nun das Ende der Erzählung und verleiht dem Herrscher seine kanonisierte Heiligkeit. Die Hoffnung auf eine Vergemeinschaftung mit sande Karle in Gottes Reich beschließt den Text, der sich – wie im Prolog ausgeführt – als Beitrag zur gelingenden Kommunikation mit dem heiligen Herrscher versteht.

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III Literarische Herrschersakralität

Das Buch vom heiligen Karl setzt chronikalisch bei Karls Großeltern an und bezieht die Vita als dominantes Makrosyntagma ein, wobei der Lebenslauf über zeitliche Verweise in die Heilsgeschichte eingebunden ist. Die fixierte Vitenstruktur, die sich insgesamt linear am Leben des Herrschers ausrichtet, bildet die kohärenzstiftende Grundlage für paradigmatische Episoden, die Karls Herrschaft und insbesondere seine Heiligkeit profilieren. Dass die lineare Erzählrichtung über digressiones ohne Kohärenzverlust in der Vertikalen erweitert werden kann, verdankt sich den entsprechenden Eingriffen des Bearbeiters und zeigt sich besonders im letzten episodisch-paradigmatischen Teil des Textes. Karls Heiligkeit und sein ‚Nutzen für die Christenheit‘ gehen auf göttliche Vorsehung zurück, werden über die Vorgeschichte begründet und syntagmatisch bewältigt; auch Karls Leiden scheint so genealogisch begründet zu sein. Die Erzählung seiner Kindheit, Jugend und des Wegs zur Königs- und Kaiserherrschaft ist dem Makrosyntagma der Vita unterworfen, ohne einer strikten Chronologie zu folgen; ebenso zeigen anschließende Tatenberichte paradigmatisch Karls Nutzen für die Christenheit. Auf sein ganzes Tun bezogen wird Karl später vom Erzähler als nützlicher für die Christenheit eingeschätzt als die Zwölf Apostel. Ob nun syntagmatisch oder paradigmatisch gewendet, bleibt Karls Heiligkeit – das zeigt besonders die dreiteilige Sündenepisode – unergründliches Gnadengeschenk Gottes. Der anschließende Spanienfeldzug dient wie im Rolandslied und in Strickers Karl dem Erwerb des ewigen Lebens und wird hier in das Makrosyntagma der Heiligenvita integriert. Der Konflikt zwischen Christen und Heiden wird wie beim Stricker vererbt und trägt zur Bildung eines Karl-Willehalm-Zyklus bei. Der letzte Teil des Buchs vom heiligen Karl bearbeitet dann über paradigmatische Episoden das Thema von Karls Glaubenskämpfen mit den Heiden und profiliert nicht zuletzt seine Herrscherheiligkeit. Die Episoden sind zwar recht frei auf der Zeitachse platziert, aber insgesamt zeichnet sich eine zeitliche Progression im Leben des Herrschers ab, zu deren Profil auch ein sinn- und strukturgebendes Konversionsnarrativ beiträgt. Zwischen den Episoden wird Kohärenz hergestellt, indem die selben Figuren wiederholt auftreten, Handlungsräume konstant bleiben oder Ortsveränderungen nachvollziehbar beschrieben werden. Durch Rückgriffe auf bereits Erzähltes und das Auffüllen entsprechender Stellen im Syntagma verbindet der Bearbeiter diesen Teil des Textes mit Karls Vorgeschichte und dem Spanienfeldzug. Stets zeigt sich Karls und Rolands besondere Gottesnähe in ihrem unermüdlichen Glaubenskampf. Gott und seine Heiligen unterstützen beide durch kriegsentscheidende Wunder und Karl revanchiert sich durch die Förderung von Heiligenkulten und Kirchen. Die siebte und achte Episode bilden eine Roland-Sequenz, die von seinen Kämpfen und seinem Tod berichtet, den der Bischof Turpin in einer Vision schaut. Mit Rolands Fortgang rückt auch Karls Ende in den Fokus und das Konversionsnarrativ wird angestoßen. Angekommen in Galacien, am ‚Ende der Welt‘, besinnt sich Karl – auch eingedenk seines fortgeschrittenen Alters – und möchte den Heidenkrieg aufgeben. Das Makrosyntagma der Vita wird deutlich und der Wandel des Herrschers zeitigt Fol-

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gen, denn seitdem vergießt Karl kein Blut mehr und missioniert einzig auf Drängen Gottes und des heiligen Jakob. An den Anfang der Episoden, die die Vorzeichen zu Karls Tod behandeln, stellt das Buch vom heiligen Karl gegen seine lateinischen Vorlagen ein Erlebnis Karls, das dem Damaskusgeschehen der Apostelgeschichte verwandt ist. Damit wird sein bereits angedeuteter Gewaltverzicht vertieft. Karl reflektiert das Himmelszeichen, seinen Sturz vom Pferd und die Auflösung seiner ritterlichen Ausrüstung. Er streift an dieser Stelle sein ritterliches Wesen ab, konvertiert intrareligiös durch eine Veränderung des modus vivendi und verpflichtet sich der friedlichen vita contemplativa als ‚geistlicher‘ Ritter Gottes. Eine Reihe von Vorzeichen – u. a. Brand der Rheinbrücke, Einsturz prächtiger Vorhallen, Zerbrechen der Herrscherkrone, Sonnen- und Mondfinsternis – präfiguriert das Ende von Karls charismatisch fundierter Herrschaft, die sich einer traditionalen Perpetuierung durch Zerstörung zu entziehen scheint. Die gegenüber den lateinischen Quellen hinzugefügte Lichterscheinung Rolands bereitet Karl auf seinen Tod vor, der ausführlich dargestellt wird. Logisch-syntagmatisch schließt sich die Vision Turpins vom Partikulargericht an und zeigt, dass Karls Seele durch das Zutun des heiligen Jakob in Gottes Reich gelangt. Es folgt die erste nach Karls Tod angesiedelte Episode, die gewissermaßen die unmittelbaren Auswirkungen seines Fehlens dokumentiert, indem auf den mangelnden Schutz der Gotteshäuser hingewiesen wird; erst Gott legt dem Kirchenschänder Altumajor das Handwerk, indem er ihn zu einer Säule erstarren lässt. Eine descriptio, die eine potentielle Reihe paradigmatischer Wunderepisoden unterbricht, beschreibt eingehend den idealen Körper des Herrschers, seine Schönheit und Stärke und informiert über Karls Lebensgewohnheiten. Nach diesem Herrscherporträt blickt der Text auf die Heiligsprechung Karls, auf die Übermittlung von Reliquien aus Aachen und die Etablierung seines Kultes in Zürich. Auf diese Weise wird ein Bogen zu jenen ersten Erzählungen am Textanfang geschlagen, die von Karls Wirken in Zürich handelten. Abschließend führt ein miraculum post mortem die Wirkmacht des Heiligen vor Augen und bietet mit der ihr Schwert ziehenden Steinstatue des Kaisers einen Anknüpfungspunkt an die Karlsstatue der Zürcher Stiftskirche. Über solche Strategien schreibt sich das Buch vom heiligen Karl in die lokale Karlsverehrung ein – es ist Produkt dieser Verehrung und befördert sie zugleich. Der Text schließt ohne Epilog und eröffnet mit der letztgenannten paradigmatischen Episode eine Schnittstelle zur Anfügung weiterer Wundererzählungen. Das Buch vom heiligen Karl behandelt das gesamte Leben des Herrschers, von der Geburt bis zum Tod, sowie seine Kanonisierung und miracula post mortem und kompiliert nicht bloß eine Fülle an Material, sondern arrangiert es spezifisch. Zum einen erscheint eine Orientierung am Lebensweg als ‚durchdachte Struktur‘ für den letzten Erzählteil. Zum anderen wird das Konzept ‚Herrscherheiligkeit‘ vor Augen geführt, wenn man die ersten acht Episoden als Karls und Rolands gemeinschaftliche Bewährung im blutigen Heidenkampf und die letzten acht Episoden nach Rolands Tod als Profilierung des heiligen Karl

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III Literarische Herrschersakralität

und Institutionalisierung seines Kultes versteht. Alle Episoden sind verbunden durch die unterschiedlich perspektivierte Demonstration von Karls Gottesnähe und physisch-heldischer Idealität. Karls Konversion setzt den Schwerpunkt auf geistliche Ritterschaft, lässt aber die Doppelverpflichtung des Herrscherheiligen weiterhin aufscheinen. Damit liegt im abschließenden Teil des Buchs vom heiligen Karl der Versuch der Integration syntagmatischen Erzählens von Herrschaft und paradigmatischen Erzählens von Heiligkeit vor. Es entsteht dabei sogar der Eindruck einer Inversion, indem sich Heiligkeit als syntagmatisch-verstetigtes Phänomen und Herrschaft als paradigmatisch-ephemere Besetzung im Fortgang der Episoden ausprägt. Mit Blick auf den Entstehungskontext der vorliegenden Heiligenvita erscheint Karls herrscherliches Handeln zu Lebzeiten im Spiegel seiner ewigen, institutionell im Zürcher Kult befestigten und gefeierten Heiligkeit tatsächlich als akzidentielles Phänomen – Karl war Herrscher und ist Heiliger.

IV Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat nach der literarischen Inszenierung der Herrschaft und Sakralität Karls des Großen anhand spezifischer Konzepte von Herrschersakralität gefragt. Die Analyse literarischer Herrschersakralität erfolgte am Beispiel der Inszenierung der Figur des Frankenherrschers in einer auf die altfranzösische Chanson de Roland (um 1100) zurückgreifenden oberdeutschen Bearbeitungsreihe, die das Rolandslied des Pfaffen Konrad (1170/1185), Strickers Karl (zwischen 1215/1220 und 1233) und das Zürcher Buch vom heiligen Karl (1475) umfasst. Im ersten Teil des Grundlagenkapitels (II.2.1) wurde die Kohärenz des Corpus der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen begründet und die Einzeltexte wurden mit einem Referat der Forschungslage vorgestellt. Die These einer zunehmenden „Hagiographisierung des Epischen“1 und Transponierung der generischen Zugehörigkeit vom heldenepischen Text zur Heiligenvita bildete die Diskussionsgrundlage und den Rahmen für die vergleichenden Analysen. Ziel dieser Studie war es, jenseits summarischer, ‚großer‘ Bearbeitungstendenzen über ein close reading die spezifischen Darstellungsverfahren der Texte zu profilieren und unterschiedliche Modellierungen literarischer Herrschersakralität zu beschreiben. In Anbetracht seiner bisher zurückhaltenden, zumeist kursorischen Erforschung stand dabei im Besonderen das Zürcher Buch vom heiligen Karl im Fokus der Untersuchung. Unter ‚Herrschersakralität‘ wurden Konfigurationen herrscherlicher Praxis und Legitimation in ihrer Kombination mit einer sakralen Auszeichnung und religiösen Funktion verstanden. Es sollten literarisch inszenierte Herrschaft, Sakralität und Heiligkeit sowie ihre spezifischen Verbindungen mit Blick auf die Figur Karls des Großen gedeutet werden. ‚Herrschaft‘ artikuliert sich, wie gezeigt wurde, als Produkt von Domination und Subordination im sozialen Gefüge. Als soziale Praxis weist sie eine performative Dimension auf, sie muss kommuniziert und ihre Geltung aufrechterhalten werden. Damit ist ihre Legitimation angesprochen. Mit Weber wurden als Heuristik legale, traditionale und charismatische Herrschaft unterschieden, um die Legitimitätsgeltung und den Legitimitätsgrund literarisch inszenierter Herrschaft bestimmen zu können – je größer das Legitimitätseinverständnis zwischen Herrscher und Beherrschten, umso stabiler ist die Herrschaft einzuschätzen. Über eine Skizze des mittelalterlichen Herrschaftsdiskurses sind diese formalen Bestimmungen im Sinne eines Erwartungshorizontes inhaltlich ergänzt und historisch eingebettet worden, um so als ‚Präfiguration‘ für Karls literarisch entfaltetes Herrscherhandeln dienen zu können. Eine Folie zur Beschreibung literarischer Herrschersakralität bildete das Gottesgnadentum als Modell göttlich legitimierter Herrschaft, das nach Erkens folgende Merkmale aufweist: Das Königtum ist von Gott geschaffen, der Herrscher von Gottes Gnaden gilt als Stellvertreter Gottes und übernimmt eine priesterähnliche Ver1 Bastert, Helden als Heilige, S. 269. https://doi.org/10.1515/9783110768541-004

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IV Zusammenfassung

antwortung für die ihm von Gott Anvertrauten.2 Die weitreichenden Kompetenzen eines Herrschers von Gottes Gnaden, die sich auch auf das Seelenheil der Beherrschten erstrecken, erfordern eine einschlägige Legitimation des Amtes und/oder der Person. Als besondere, legitimierende Qualität ist in Anlehnung an die Terminologie Webers herrscherliches ‚Charisma‘ profiliert worden, das sich als Sakralität (herrscherlich-amtliches Charisma) und Heiligkeit (persönliches Charisma) ausprägen kann.3 Für die Aufrechterhaltung der Herrschaft ist eine Bewährung des Charismas entscheidend und darin liegt ein dynamisches Potential von Herrschaft, das sich – wie die Analysen zeigten – auch literarisch abbilden lässt. Also bezieht sich die Sakralität eines Herrschers auf seine hierarchische Stellung, auf seine in der Vertikalen erhöhte Position in einer geschichteten Gesellschaftsordnung, und wird analog zur Formensprache religiöser Heiligung, die ebenso auf valorisierende Unterscheidungen setzt, artikuliert. Heiligkeit eines Herrschers ist eine spezifische, persönliche Ausprägung der Charisma-Funktion und kann herrscherliche Sakralität legitimatorisch steigern, besonders in Form kirchlich kanonisierter Heiligkeit. Eine imitatio Christi als Orientierung an seinen Tugenden und Martyriumsbereitschaft sowie die göttliche Determination des Schicksals des Heiligen können in den Texten verhandelt werden, die Anzeichen für seine Heiligkeit sammeln und ihre Geltung nahelegen. Das Verhältnis von Herrschaft und Heiligkeit ist dabei nicht zwingend komplementär und harmonisch, denn persönliche (christliche) Heiligkeit kann eigene Logiken entfalten und mit den Anforderungen von Herrscherlichkeit kollidieren: So lassen sich Konzepte von ‚Askese‘, ‚Passion‘ und ‚Heimlichkeit‘ des Heiligen den herrscherlichen Anforderungen von ‚Präsenz‘, ‚Sichtbarkeit‘, ‚Politik‘ und ‚Kampf‘ gegenüberstellen. Auch narratologisch gesehen unterscheiden sich Heiligkeit als eher paradigmatisches plötzliches und Herrschaft als eher syntagmatisches nach Verstetigung strebendes Phänomen. Die Analyse der literarischen Inszenierung von (sakraler) Herrschaft und Heiligkeit in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen und ihr Umgang mit dem komplexen Spannungsfeld einer Herrscherheiligkeit standen im Zentrum der Arbeit. Wesentlich für die Untersuchung war die im theoretisch-methodischen Grundlagenkapitel entfaltete Annahme, dass das Verhältnis des Herrschers zu Gott das Verhältnis zu seinen Beherrschten beeinflusst und in der Folge eine wechselseitige dynamische Beziehung zwischen beiden Interaktionsbereichen besteht, die auf Vermittlungen zwischen Transzendenz und Immanenz – insbesondere durch die Herrscherfigur – basiert. So erscheint im Besonderen ein intakter Transzendenzbezug notwendig für Legitimation und Erhalt sakraler Herrschaft, die Gott in der christlichen Axiologie als höchste autorisierende Instanz begreift. Herr-

2 Vgl. Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 29. 3 Vgl. Weber (MWG I/23, S. 453 [vgl. auch WuG5, S. 124] u. MWG I/23, S. 492 [vgl. auch WuG5, S. 140]) sowie die Präzisierungen in Kapitel II.2.2.

IV Zusammenfassung

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schersakralität sollte im Folgenden aus verschiedenen thematischen Perspektiven betrachtet werden, wobei zugleich ein sukzessives Abschreiten der Texte angestrebt war. Das erste Kapitel (III.1) des Hauptteils untersuchte die Textanfänge der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen und richtete, da die Chanson de Roland und das Buch vom heiligen Karl ohne Prolog einsetzen, den Fokus auf die Prologe des Rolandslieds und des Strickerschen Karl. So sollten der Schreibanlass, die Vorstellung Karls und die Beziehung zwischen Text und Rezipienten betrachtet werden. Es zeigte sich, dass der Prolog des Rolandslieds auf eine wahre Darstellung von Karls Weg in Gottes Reich abzielt und die kaiserliche Herrschafts- und Heilsmethodik als zuträglich für das Seelenheil der Christen und der zu missionierenden Heiden erklärt – der Herrscher erscheint als Heilsstifter. Hierarchisch ist er einzig Gott subordiniert und vermittelt zwischen Transzendenz und Immanenz. Karl wird dabei im Rolandslied als sakraler Herrscher vorgestellt. Welcher Grad an persönlicher Heiligkeit ihm zukommt, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Zumindest wird er nicht als kanonisierter Heiliger, als sanctus bzw. sant, adressiert; auf seine Heilsvermittlung post mortem oder auf einen Kult wird nicht hingewiesen. Insofern wird auch kein expliziter Bezug zwischen Karl und den Rezipienten hergestellt, obgleich eine imitatio- bzw. eine exemplum-Funktion einiger ausgewählter Karlshandlungen vorausgesetzt wird, die in der anschließenden Narration wiederholt zutage tritt. Auch der Prolog des Strickerschen Karl bietet einen Wahrheit-Lüge-Diskurs mit Blick auf die Darstellung. Er tilgt den im Rolandslied für Karls Handeln zentralen Aspekt der Heidenmission. In seiner sælden-Fülle wird Karl den Rezipienten als wirkmächtiger Vermittler vor Gott auf einer persönlichen, das Seelenheil der Gläubigen betreffenden Ebene vorgestellt. Um den Heiligen kennenzulernen und eine gezieltere Ansprache und Verehrung zu ermöglichen (prodesse), wird die Erzählung im unterhaltenden höfischen Gewand (delectare) entfaltet. Intendiert zu sein scheint eine breitere Rezipierbarkeit Karls, die von der historischen Situierung und der Praxis der bewaffneten Mission, wie sie im Rolandslied für Karls Heils- und Herrschaftsmethodik wesentlich ist, losgelöst ist. Den außerliterarischen Hintergrund für diese Darstellung des heiligen Karl könnte die Etablierung seines Kultes in Aachen (1215) und Zürich (1233) bilden. Das zweite Kapitel (III.2) untersuchte dann Karls Verhältnis zur Transzendenz als entscheidendes Element für die Legitimation sakraler Herrschaft. Das erste Teilkapitel (III.2.1) widmete sich der genealogischen Herrscherlegitimation, die charakteristisch für traditionale Herrschaft ist, aber auch charismatisch gewendet werden kann. Die Chanson de Roland bietet keine genealogischen Informationen zu Karl, der als gottgelenkter, der Christenheit dienender Herrscher im Wissen der Rezeptionsgemeinschaft und in seiner Einbettung in einen Erzählzyklus seinen festen Platz hat. Das Rolandslied jedoch fügt eine genealogische Minimalinformation hinzu – Karl ist Pippins Sohn – und skizziert einen Lebensweg der Tugend, der in Gottes Reich mündet. Begründet wird Karls Auserwähltheit als instrumentum Dei zudem über eine pränatale Prädestination im Mutterleib. Der Stricker bietet dann

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IV Zusammenfassung

eine Biographie, die Karls Eltern, seine Kindheit und Jugend sowie seinen Weg bis zur fränkischen Königsherrschaft umfasst. Nach Pippins Tod ‚adoptiert‘ Gott beim Stricker den jungen Karl, der damit seit frühester Kindheit besonders begnadet ist. Das ist ein Versuch, seine Heiligkeit syntagmatisch-biographisch zu artikulieren. Nach persönlicher Bewährung als Ritter und standhafter Christ in der Fremde übernimmt Karl als Nachfolger Pippins die fränkische Herrschaft, womit traditionale und charismatische Herrschaftslegitimation gekoppelt werden. Das Buch vom heiligen Karl schließlich setzt bei Karls Großeltern an, um seine Geburt als Ergebnis göttlicher Vorausschau zu markieren, denn er wird seinen Vorfahren als ‚Nutzen der Christenheit‘ angekündigt. Damit ist Karls Schicksal, sich im Dienste Gottes zu bewähren, nach göttlicher Verfügung vorgezeichnet. Das Buch vom heiligen Karl kombiniert dabei herrschaftslegitimierende Genealogie und persönliche Bewährung mit göttlicher Prädestination und fügt diese chronikalisch in die Heilsgeschichte ein als Grundlegung für die Vita des heiligen Herrschers sant küng Karlus (BhK 15,27). Das zweite Teilkapitel (III.2.2) betrachtete Karls Beauftragung zur Herrschaft, zur Heidenmission und zum Gewinn des ewigen Lebens. Alle oberdeutschen Bearbeitungen definieren den Spanienfeldzug als ursächlich für Karls Eingang in Gottes Reich – aber nicht als Begründung für eine kanonisierte Heiligkeit. Ebenso zeigen alle Texte des Corpus als Sakralisierungsstrategie eine Übereinstimmung zwischen herrscherlichem Missionswunsch, der auch für die Handlungsmotivation entscheidend ist, und göttlicher Vorsehung. Der Gewinn des ewigen Lebens ist damit göttliches Gnadengeschenk und die Kommunikation über einen Engel beweist Karls Gottesunmittelbarkeit. Der Herrscher wird von Gott zum Aufbau eines Reiches bestimmt und auch seine Beziehung zu Roland und die resultierende herrscherliche Herzenspassion nach dem Tod der Paladine sind Teil göttlicher Providenz. Damit wird das irdische Herrscherhandeln göttlich legitimiert und das Herrscherleben als Teil des göttlichen Heilsplans sakralisiert. Dabei ergibt sich für das Textcorpus diachron die Tendenz einer zunehmenden Fokussierung der Karlsfigur, die sich als Erzählzentrum gegenüber dem Spanienfeldzug emanzipiert – im Buch vom heiligen Karl bindet der heilige Herrscher förmlich zentripetal Erzählmaterial, das sich in Episoden und Exkursen anlagert. Das dritte Kapitel (III.3) beleuchtete dann in Ergänzung und Fortschreibung des vorangehenden Kapitels die immanente Seite von Karls Herrschaft und betrachtete die Modalitäten, die zur Ausbildung von Gefolgschaft führen. Wie werden die prädestinierten und in der Engelsbotschaft skizzierten Herrschaftshandlungen praktisch umgesetzt? Damit sind das ‚Interesse am Gehorchenwollen‘, die Motive der zur Gefolgschaft Aufgerufenen gemeint und die Frage, ob es sich um eine ‚echte‘ Herrschaft im Sinne Webers handelt, die nicht auf Zwang und Machtmittel zurückgreift. Das erste Teilkapitel (III.3.1) beschrieb die Beziehungen zwischen Karl und seinen Gefolgsleuten im Vorlauf zum Kreuzzug, der den Teilnehmern die Möglichkeit bietet, das ewige Leben zu gewinnen. Die Herstellung von Gefolgschaft funktioniert hier nicht über Unterscheidungen, sondern über eine einmütige, axiologisch harmonisierte Bindung zwischen Karl und seinen Leuten. Karls Autorität beruht dabei als

IV Zusammenfassung

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charismatisch begründete maßgeblich auf der Stabilität der emotionalen Bindungen. Sein innerster Zirkel der Zwölf Paladine ist Karl überaus loyal ergeben und mit ihm affektiv-emotional harmonisiert. Besonders die Beziehung zwischen Karl und Roland wird in der Chronologie der oberdeutschen Bearbeitungen zusehends intensiviert. Schließlich erfassen den gesamten Verband eine kollektiv verbindliche christliche Axiologie und Ethik, die Einmütigkeit stiften und Gefolgschaft zum intrinsischen und freiwilligen Interesse machen. Legitimitätsanspruch und -glaube stimmen in allen Bearbeitungen überein, sodass Sozial-, Herrschafts- und Sakralitätsstruktur konvergieren. Indem Karl charismatisch eine göttliche Ordnung offenbart, erscheint der Karlsdienst als Form des Gottesdienstes: Besonders Karls priesterähnliche Verantwortung tritt hervor, wenn er nicht nur heilsindividuell selbst das ewige Leben in Spanien gewinnt, sondern für alle Christen heilskollektiv den Gewinn des ewigen Lebens qua Kampf und Martyrium ermöglicht: Herrschaft bedeutet hier Heilsverwaltung. Auf Grundlage dieser kollektiven Einmütigkeit und besonderen Kohäsion des Herrschaftsverbands um Karl betrachtete das folgende Teilkapitel (III.3.2) mit der kontroversen Verhandlung des Unterwerfungsangebots der Heiden die Probe und Bewährung dieses Zusammenhalts. Damit zeigt sich die dynamische Dimension von Herrschaft, die Spannungen im Inneren des Verbands bewältigen muss, um nach außen gerichtetes Herrschaftshandeln gelingen zu lassen. Die Texte präsentieren verschiedene Strategien der herrscherlichen Kontroll- und Ordnungsversuche in der hitzigen Ratsversammlung: Der Kaiser beschwört eine Einigung durch den Heiligen Geist, verknappt die Entscheidensressourcen, indem er seine Zwölf Paladine von einer Nominierung als Boten ausschließt und mahnt dringlich zu Einstimmigkeit und Einmütigkeit der Versammlung. Schließlich greift er auf Drohungen und Machtmittel zurück, indem er zum Konsens zwingt – ein kritischer Punkt in einer bisher als harmonisiert vorgestellten Gemeinschaft. Doch einzig die Desintegration Geneluns, dessen falsches, die christliche Axiologie verletzendes Verhalten besonders das Buch vom heiligen Karl betont, schützt vor einer weiteren Fragmentierung des Verbands. Damit wird deutlich, dass eine Konsensherstellung nur auf Basis einer gemeinsam geteilten Axiologie funktioniert – Einstimmigkeit braucht Einmütigkeit. So werden Formen konsensualer und charismatischer Herrschaft literarisch überblendet. In den zurückliegenden Kapiteln ist vor allem die interne Kommunikation von Herrschaft und diese zumeist in Erzählerrede betrachtet worden. Das vierte Kapitel (III.4) richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Karls herrscherliche Geltung in figuraler Wahrnehmung und Rede und eröffnete damit auch eine Außen- bzw. Fremdwahrnehmung, indem die Aussagen als intra- wie interreligiöse Beiträge zu einem Karlsdiskurs begriffen wurden. Das erste Teilkapitel (III.4.1) widmete sich einem intrareligiösen, ‚innerheidnischen‘ Karlsdiskurs, dessen zentrale Aussage, die in allen oberdeutschen Bearbeitungen konstant tradiert wird, eine militärische Unbesiegbarkeit des Kaisers darstellt: Karlus mag nieman widerstan (BhK 32,3 f.). Diese Unüberwindbarkeit wird immanent erklärt und die Legitimation für Karls Mission, die als Gewaltexpansion begriffen wird, geht autoreferentiell auf den Herrscher

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selbst zurück – ein Transzendenzbezug fehlt. Da demnach keine Möglichkeit besteht, Karl militärisch zu besiegen, bleibt einzig der Versuch, den Herrscher über sein Herz – gewissermaßen Karls ‚Achillesferse‘ – anzugreifen, indem die herrschaftsstützenden emotionalen Bindungen zu den Zwölf Paladinen und insbesondere zu Roland zerstört werden. Damit wirkt sich der Diskurs unmittelbar auf die Figurenhandlung und die Motivation des Geschehens aus. Das zweite Teilkapitel (III.4.2) untersuchte die Hof- bzw. Heerlagerszene, in der die im innerheidnischen Diskurs profilierte Episteme der heidnischen Boten unmittelbar mit Karl konfrontiert wird, der über ein Herrscherporträt epiphan gezeichnet und mit einem sakralisierenden Set an Attributen versehen wird. Im Rolandslied wird Karl dabei in ein typologisches Verhältnis zu Salomo, David und Christus gesetzt. Der Stricker kürzt die höfische Herrschaftsrepräsentation des Rolandslieds und verstärkt Karls persönliche Heiligkeit. Dieser Bearbeitungstendenz folgt das Buch vom heiligen Karl, es kürzt die Szene um das Heerlager wiederum stark und streicht die typologischen Referenzen. Diese Tilgung trägt nicht etwa Karls Heiligkeit ab, der Herrscher erscheint vielmehr als um seiner selbst willen akzeptierter Heiliger. Die Zurücknahme des heiligkeitsbegründenden Darstellungsaufwandes findet in Zürich als Ort des Karlskultes und der Entstehung des Textes ihren außertextuellen Rückhalt. Karls strahlendes Haupt blendet die heidnischen Boten und schafft eine Aura der Heiligkeit des Herrschers, die über religionsspezifische Diskursgrenzen hinweg Geltung beansprucht. Einen Gegensatz zwischen der lichten Erscheinung des aufrichtig handelnden und kommunizierenden Karl und dem hypokritischen Vorgehen der Heiden inszenieren alle oberdeutschen Bearbeitungen, wobei das Rolandslied die epistemologische Grenze zwischen Christen und Heiden besonders deutlich zieht. Das dritte Teilkapitel (III.4.3) widmete sich der interreligiösen dialogischen Behandlung von Karls Herrschaft und der Hierarchisierung verschiedener Karlsdiskurse. Genelun belehrt Blanscandiz und Marsilie über das ‚wahre‘ Wesen des Herrschers und das Funktionieren seiner Gemeinschaft. Diese Dialoge folgen einem intensiven, auf variierende Wiederholung angelegten Frage-Antwort-Schema, das sich im Stil einer ‚Karlslehre‘ als Mittel der ‚Diskurseinübung‘ auch an die Rezipienten wendet. Damit wird der innerheidnische auf Immanenz beruhende Karlsdiskurs christlich ‚korrigiert‘ und im interreligiösen Diskurs eine christliche Deutungshoheit installiert – Karl wird als Herrscher mit priesterähnlicher Verantwortung, als Heilskatalysator mit christomorpher Erlöserfunktion gepriesen. Karlsdienst und Gottesdienst werden harmonisiert und das Heilsinteresse der Beherrschten wird als intrinsisch motiviert ausgegeben. Entgegen der Annahme im innerheidnischen Diskurs wird Karl jedoch nicht als autokratisch Handelnder, sondern als Ausführer göttlicher Aufträge inszeniert, der aus höchster christlicher Autorisierungsquelle seine Herrschaftslegitimation schöpft. Auch Karls Unsterblichkeit und Unüberwindbarkeit gehen auf Gottes Gnade zurück. Schließlich eröffnet Brechmunda (Juliane), die am heidnischen und christlichen Karlsdiskurs partizipiert, religionsspezifische Perspektiven auf seine Herrschaft und ihre Legitimation. Ihre Hinwendung zur ‚wahren‘ christlichen Axiolo-

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gie korreliert mit einer Einsicht in das ‚wahre‘ Wesen von Karls Herrschaft – sie erhält als Konvertitin schließlich das ewige Leben. Die Verhandlung von Karls Status wird auf Diskursebene, in der militärischen Auseinandersetzung zwischen den Religionsgemeinschaften sowie anhand individueller Figurenschicksale entfaltet – der Karlsdiskurs ist auf allen Text- und Handlungsebenen virulent. Das fünfte Kapitel (III.5) griff auf die soziologische Stigma/Charisma-Theorie nach Lipp zurück, setzte Gottesbeziehung und Gefolgschaftsbindung ins Verhältnis und zeigte auf, weshalb sich Sünden herrschaftsgefährdend auswirken. Der sündige sakrale Herrscher verletzt göttliche und irdische Ordnung und gefährdet so auch das Heil seiner ihm von Gott Anvertrauten, für das er priesterähnlich verantwortlich ist. Die Texte fokussieren Karls Sündenbewusstsein und diskutieren darüber auch Fragen nach der Sündenvergebung. Durch den Kontakt mit der Transzendenz und dem heiligen Ägidius sowie die wunderbare Absolution der schweren, unsäglichen Sünde wird Karl charismatisiert. Es handelt sich um ein Modell, das einen Charismatisierungs- und Legitimationsschub durch temporäre (Selbst-)Stigmatisierung als Sünder generiert. Das Rolandslied und der Stricker formen Karls Selbststigmatisierung zu einem charakteristischen Zug der Figur, der auch in den Abschnitt des Spanienfeldzugs im Buch vom heiligen Karl übernommen wird. Karl erscheint als exemplum imitabile, indem er habitualisiert und vorbildlich beichtet. In allen oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen übernimmt er die Verantwortung für das Sterben der Christen in Roncesvalles und begreift das zu ertragende Leid als Strafe für seine Sünden. Doch weder der Erzähler noch die Figuren diskreditieren Karl als Sünder. Im Gegenteil: Der Herrscher kommt, indem er den Christen das Martyrium als heiligendes Leiden eröffnet, seiner besonderen, priesterähnlichen Verantwortung nach. Auch Karls Leiden wird nicht als Sündenstrafe, sondern als heiligende Passion codiert und ist damit göttlich gewährtes Privileg. Die dem Spanienfeldzug im Buch vom heiligen Karl vorgeschaltete dreiteilige Sündenepisode zeigt Karl frei von Introspektion und ohne Sündenbewusstsein gleichsam als Kontrafaktur seiner Selbststigmatisierung, wie sie das Rolandslied und der Stricker bieten. Im Zürcher Buch nehmen erstmals auch Figuren Anstoß am sündigen Handeln des Herrschers; die Beziehungen zu seiner Dienerschaft, zu Rittern und Landesherrn werden irritiert. Der Herrscher versäumt es nicht nur, die Gerechtigkeit zu schützen, sondern er verletzt sie sogar. Doch Karl kann – aufgrund seiner guten Werke – nicht aus Gottes Gnade fallen, obwohl er drei Todsünden begeht. Die unerschütterliche Gottesnähe ist sein Charisma und stabilisiert seine Herrschaftsposition – die paradigmatische, katalogische Bauform der Sündenerzählung unterstreicht diese Aussage. Im Buch vom heiligen Karl werden ein hagiographisches und ein unterhaltendes Anliegen kombiniert, indem bisweilen sogar humorvoll von Karls Sünden erzählt wird. Dieser möglicherweise popularisierende Zug belegt die unerschütterliche Geltung der Heiligkeit des Herrschers und ist Ausdruck der literarischen Lizenzen seiner Inszenierung im Zürich des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Das sechste Kapitel (III.6) untersuchte mit der Herzenspassion die Bewährung des sakralen Herrschers, in der seine charismatische Herrschaft, die besonders auf

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emotionalen Bindungen zu seiner Gefolgschaft basiert, erprobt wird. Karl muss sich geradezu, folgt man Weber, als Charismatiker zur Aufrechterhaltung seiner herrscherlichen Geltung bewähren.4 Damit werden die unterschiedlichen Anforderungen von Herrschaft und Heiligkeit offengelegt und gegeneinander ausgespielt. So stellt Karls vehemente Klage um Roland und die anderen Gefallenen die Frage nach der Vereinbarkeit von exorbitanter Trauer und rationaler Herrschaft. Das erste Teilkapitel (III.6.1) zeigte, dass das empfindsame Herz des Kaisers als affektiv-emotionales Zentrum vom Heiligen Geist erfüllt ist und als Kern der Herrschaftsbeziehungen Störungen innerhalb und außerhalb des Herrschaftsverbands registriert und Handlungsmotivationen eingibt. Karls Herzenspassion wird durch Rolands Nominierung zum spanischen Statthalter, bei ihrer Trennung sowie durch marternde Träume, die auf weiteres Leiden verweisen, befeuert. Das zweite Teilkapitel (III.6.2) betrachtete die Auswirkungen von Rolands wiederholten Hornstößen auf Karl. Es greifen hier zwei unterschiedliche Passionsmodelle, ein physisches bei Roland und den anderen Märtyrern und ein psychisches bei Karl und seinem Gefolge. Der Kaiser inkorporiert das körperliche Leiden der Kämpfer im Martyrium, das über Rolands Horn akustisch vermittelt wird, über sein Herz und leidet auf psychisch-emotionaler Ebene mit seinen Gefolgsleuten. So wird eine Passionskommunikation aufgebaut, die Karl und sein Gefolge das Martyrium der Kämpfer in Roncesvalles compassional nachvollziehen lässt; der herrscherliche Kummer erfährt hierbei stets eine besondere Profilierung. Rolands Tod wird dann als Christomimese gestaltet, wobei sich dieser Zug in der Chronologie der oberdeutschen Bearbeitungen verstärkt und die schwerste Phase der herrscherlichen passio cordis eröffnet, der sich die beiden Teilkapitel III.6.3 und III.6.4 zuwandten. Für Karl bedeutet der Verlust Rolands zunächst die Zerstörung seiner Herrschaft, womit die Kehrseite der Martyriumsideologie für eine funktionsfähige irdische Herrschaft reflektiert wird. In der Folge ist Karl aufgrund seiner Herzenspassion handlungsunfähig und wird von einem Engel und später von der konvertierten Brechmunda (Juliane) ermahnt – das Muster von exorbitanter Trauer und Ermahnung wiederholt sich: Damit setzen die Texte eine für Herrscherheiligkeit signifikante Spannung zwischen Rationalität und Emotionalität ins Bild, denn Karl muss getadelt werden, damit die Passion als Passion erkannt werden kann. Der Herrscher muss göttliche Ordnung verletzen, um als Heiliger profiliert zu werden. Damit bedeuten die Rügen einen Schub an religiöser Herrschergeltung. Mit dem Sieg über Baligan bewährt sich Karl mit Hilfe Gottes auch kämpfend als charismatischer Herrscher und erlöst mit der Entscheidung der Schlacht das Kollektiv. Seine individuelle Bewährung ermöglicht kollektive Heilspartizipation. Hier zeigt sich exemplarisch, dass Karls sakrale Herrschaft ohne Roland, aber nie ohne Gott funktioniert. Auf dem Weg zu Roland unterwirft sich Karl einer strengen Askese. Damit martert er seinen Leib aufgrund seiner passio cordis und vollzieht Rolands im Kampf

4 MWG I/23, S. 492 (Hervorhebungen übernommen). Vgl. auch WuG5, S. 140.

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durchlebte Leiden, die ihn in das Reich Gottes gelangen ließen, nach: Karls compassio bedeutet damit auch Heilspartizipation. Im Anschluss entfaltet sich eine Choreographie der Trauer bei Karl und seinem Gefolge, die durch kollektive Efferveszenzen eine Stabilisierung der Affektgemeinschaft der Christen befördert. Ein besonderer Fokus liegt auf der Pietà-Figuration avant la lettre zwischen Karl und Roland, die über die Bezüge zu Christus und Maria zu einer Sakralisierung beider Figuren und ihrer Beziehung beiträgt. Der Erzähler bindet die Rezipienten wiederholt durch Aufrufe zur compassio ein. Karls exorbitante Trauer manifestiert sich im Rolandslied und beim Stricker in den Blutstränen, die seinem Herzen entspringen: Damit fügt Karl dem unblutigen Martyrium Rolands sein Blut hinzu und seine Herzenspassion wird durch dieses Blutweinen körperlich komplettiert und in die Nähe eines Martyriums gerückt. Nicht der Baligan-Kampf, sondern die Trauer um Roland bildet – auch in der chronologischen Reihenfolge – den Höhepunkt des gesamten Glaubenskampfes und der herrscherlichen Passion. Blut verliert Karl nicht im Kampf, sondern einzig in der Trauer. Die Herzenspassion überbietet damit seine kämpferische Bewährung. Karls heiligende Passion lähmt jedoch sein Kollektiv und erst die Entfernung Rolands lässt ihn wieder seiner herrscherlichen Verantwortung nachkommen. Das letzte Teilkapitel (III.6.5) zielte dann auf die anschließende Phase der Heiligung und Begründung von Memoria, die einzig der Stricker und das Buch vom heiligen Karl bieten. Wunder an den Gräbern der Märtyrer weisen die Orte als heilig aus. Karl sichert die Memoria Rolands und der anderen Märtyrer durch Stiftungen ab, eine Kirche über dem ‚Passionsstein‘ fasst Rolands Tod und Karls compassionale Blutstränen als heilig ein. Erst nach der Ausschaltung Geneluns sind herrschaftliche und religiöse Anforderungen wieder vollgültig harmonisiert. Karls fortdauernde Herzenspassion begründet beim Stricker seine persönliche Heiligkeit. Sie scheint im Besonderen ein Phänomen charismatisch begründeter Herrschaft zu sein, indem religiöse Bewährung zugleich herrscherliche Prüfung ist, da Karls Herz Emotions-, Bindungs- und Herrschaftsorgan sowie vom Heiligen Geist erfülltes spirituelles Zentrum ist. So setzen die Texte anhand des Motivs der passio cordis das Wagnis charismatischer Herrschaft ins Bild, denn Karl muss sich temporär in besonderer Trauer oder im Kampf auf Leben und Tod vereinzeln, um sich als Herrscher von Gottes Gnaden zu profilieren. Im diachronen Durchgang durch das Textcorpus nimmt der Fokus auf die Karlsfigur zu, ihre heiligende Desintegration wird verstärkt und entwickelt sich zusehends zum Erzählzentrum. Die vermehrte Ausblendung des Kollektivs in den Trauerszenen färbt besonders das Buch vom heiligen Karl biographisch ein und lässt die heldenepische Form zugunsten einer legendarischen Vita des heiligen Karl zurücktreten. So spiegelt sich die ‚große‘ Bearbeitungstendenz einer Hagiographisierung, die sich in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen abzeichnet, in den Mikrostrukturen der passio cordis wider. Das letzte Kapitel (III.7) schlug dann einen Bogen zur Ausgangsfrage und griff die eingangs der Arbeit formulierte Annahme einer Transformation der heldenepischen Erzählung in eine hagiographische Vita als Bearbeitungstendenz der unter-

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suchten Textreihe auf.5 Damit wird ein auf den Spanienfeldzug konzentriertes Erzählen in ein auf die Figur Karls des Großen konzentriertes Erzählen überführt. Wurde Karl zunächst als sakraler Herrscher im Spanienfeldzug gezeichnet, bildet er schließlich als (kanonisierter) Herrscherheiliger selbst das Erzählzentrum. Mit der Unterscheidung syntagmatischer und paradigmatischer Strukturen hat das Kapitel eine Analyse der formalen Komposition, Handlungsmotivation und intra- wie intertextuellen Verknüpfungen unternommen: Die Chanson de Roland ist kommunikativ aufgehoben in einer Erzählkultur, die einen organischen Karlszyklus kennt. Ihre mit dem Spanienfeldzug syntagmatisch besetzte Achse wird durch die Andeutung eines erneuten Aufbruchs zum Kampf als letzte Sequenz des Textes paradigmatisiert. Die Komposition der Chanson spiegelt damit das in der Erzählung besprochene von Gott auferlegte ‚Passionsleben‘ (vie penuse)6 des Herrschers über die formal angedeutete Unabschließbarkeit und beliebige serielle Fortschreibung sowohl auf syntagmatischer als auch auf paradigmatischer Achse. Das Rolandslied fixiert den Spanienfeldzug als für das skizzierte Leben des Herrschers heilsrelevante, final motivierte Unternehmung, die das Syntagma konkurrenzlos besetzt. Der Spanienfeldzug und das damit verbundene Leiden Karls sind selbstgewählt und nicht von Gott auferlegte Prüfung, obgleich Karl schon im Mutterleib als Gottesdiener auserwählt ist. Die Ordnung der erzählten Welt entspricht der formalen Geschlossenheit des Textes – Prolog und Epilog rahmen die Erzählung und spannen sie in einen geschlossenen Sinn- und Deutungshorizont ein. In einen Karlszyklus ist das Rolandslied nicht integriert, es stützt sich gewissermaßen selbst. Karls Leben bildet in Strickers Karl den primären Bezugspunkt aller syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen des Textes und die Erzählreihenfolge orientiert sich am ordo naturalis des Lebenslaufs. Seine Heiligkeit wird durch die göttliche Adoption frühzeitig in das Syntagma der Vorgeschichte eingebracht. Der anschließende Spanienfeldzug gilt wie im Rolandslied als Karls persönlicher Wunsch und ist ebenso heilsrelevant. Zwar wird im Vorlauf zum Herrschaftserwerb von Kriegen erzählt, doch keiner ist in seiner Funktion äquivalent zum Spanienfeldzug. Es gibt damit kein konkurrierendes Syntagma oder Paradigma. Die zentrale Episode wird in das Makrosyntagma der Vita eingebettet und geschlossen erzählt, sodass Karls im Prolog postulierte sælde abschließend als bewiesen gilt. Der Stricker verortet seine Erzählung sodann in einem Karl-Willehalm-Zyklus und macht sie für eine Erzählgemeinschaft verfügbar. Der Text schließt mit Karls Tod. Seine Passion im Gottesdienst, wie sie im Spanienfeldzug dargestellt worden ist und die sich als passio cordis auch über den Konflikt hinweg vollzieht, sichert ihm die Aufnahme in den Stand der Heiligkeit. Wie im Rolandslied spiegelt auch beim Stricker die geschlossene Form den

5 Vgl. u. a. Klein, Strickers ‚Karl der Große‘, S. 323; Bastert, Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“, S. 97; ders., Helden als Heilige, S. 293. 6 Vgl. ChdR 4000.

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Sinn: dort der einmalige Heilsweg ins Gottesreich, hier der kanonisierte Heiligenstatus von sande Karl. Obgleich der Strickersche Karl nicht alle Merkmale einer vollgültigen Heiligenvita aufweist,7 deckt er die Spanne einer Vita ab und erfüllt wesentliche Gattungsmerkmale. Die Forschung ringt um die genaue Bezeichnung.8 Entscheidend ist, dass der Text selbst Karl als kanonisierten Heiligen begreift und damit auch vom Rezipienten so begriffen wissen möchte. In diesem Licht erscheint das Zürcher Buch vom heiligen Karl umso deutlicher als Heiligenvita. Es organisiert die Fülle des Erzählmaterials mit Bezug auf Karls Lebenslauf, der in die Heilsgeschichte integriert ist und durch chronologische Verweise sowie die Nennung seines jeweils erreichten Lebensalters als Strukturprinzip aufscheint. Paradigmatische Episoden, die seine Herrscherlichkeit und Heiligkeit verhandeln, können sich auf der stabilen syntagmatischen Achse unter Sicherung der Kohärenz ansiedeln. Seit zwei Generationen ist Karls Heiligkeit durch Gottes Vorsehung prädestiniert und sein Leben als instrumentum Dei wird sich als und im ‚Nutzen für die Christenheit‘ erschöpfen. An seiner Heiligkeit arbeitet sich der Text über verschiedene Darstellungsformen ab, so z. B. über die dreiteilige paradigmatische Sündenepisode. Wie in den anderen oberdeutschen Bearbeitungen ist auch im Buch vom heiligen Karl der Spanienfeldzug besonders heilsrelevant, erfolgt auf Karls Wunsch und bildet die zentrale Episode der Heiligenvita. Der letzte Teil des Buchs bietet paradigmatische Episoden zu Karls und Rolands Wirken im Glaubenskampf. Bei allem Springen auf der chronologischen Achse hat eine lineare Progression im Leben des Herrschers statt, womit das Makrosyntagma der Vita Kohärenz garantiert. Neben thematischen und chronologischen Verknüpfungsprinzipien wird über die Auffüllung syntagmatisch angebotener ‚Platzhalter‘ im Spanienfeldzug sowie über Vor- und Rückverweise zwischen den Textteilen eine Verfugung hergestellt. Unter diesen Strategien nimmt das Konversionsnarrativ eine besondere Stellung ein: Karl wendet sich im Alter, des Kampfes müde, vom Blutvergießen ab und möchte sich als ‚geistlicher Gottesritter‘ zurückziehen. Seine dezidiert charismatische Herrschaft löst sich schließlich als ephemeres Phänomen auf, wie die verschiedenen Vorzeichen, die seinen Tod ankündigen, beweisen. Mit Hilfe des heiligen Jakob gelangt seine Seele in Gottes Reich. Ein Herrscherporträt, der Bericht von seiner Kanonisierung und der Einführung des Kultes in Zürich sowie miracula post mortem vervollständigen die Heiligenvita. Der Text öffnet sich am Schluss für eine Fortschreibung durch paradigmatische Episoden, die Karls Heiligkeit beweisen. Ein Blick auf den abschließenden Teil des Buchs vom heiligen Karl offenbart dabei das spezifische Konzept von Herrscherheiligkeit. Die ersten acht Episoden fokussieren Karls herrscherliche Bewährung im blutigen Heidenkampf, die folgenden 7 Vgl. zum Fehlen von Merkmalen Ukena-Best, Providentia Dei, S. 330. 8 Vgl. hierzu Kapitel II.1.2. Ukena-Bests (Providentia Dei, S. 357) Bezeichnung „Herrschaftsroman“ hat zuletzt Federow „nachdrücklich unterstrichen“ (dies., Dynamiken von Macht und Herrschaft, S. 118).

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acht Episoden profilieren nach Rolands Tod den heiligen Karl und die Einrichtung seines Kultes. Beide Episodengruppen demonstrieren in unterschiedlicher Gewichtung und Perspektivierung sowohl Karls Gottesnähe als auch seine physisch-heldische Idealität. So bleibt auch nach seiner Konversion die Doppelverpflichtung des Herrscherheiligen bestehen. Dabei erweckt diese Integration des Erzählens von Herrschaft und Heiligkeit den Eindruck einer Inversion: Heiligkeit erscheint im Fortgang der Episoden als syntagmatisch-verstetigtes und Herrschaft hingegen als paradigmatisches, akzidentielles Phänomen. Dieser Textbefund fügt sich in das extratextuelle Milieu im Zürich von 1475, das Karl als kanonisierten Heiligen zelebriert. Im Rückblick auf die Traditionsreihe der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen in der Nachfolge der Chanson de Roland modelliert das Buch vom heiligen Karl folglich Herrscherheiligkeit als spezifische Form von Herrschersakralität und geht nicht mehr vom Ereignis des Spanienfeldzugs aus, sondern arbeitet als Heiligenvita am Kult von Sant Karlus. Die Arbeit zeigt somit, dass mit dem Konzept ‚Herrschersakralität‘, das eine Differenzierung in ‚Herrschaft‘, ‚Sakralität‘ und ‚Heiligkeit‘ erforderte, ein tragfähiger Zugriff zur Erforschung literarischer Texte vorliegt. So haben sich Möglichkeiten der präzisen Beschreibung literarisch inszenierter Herrschaft vor allem mit Blick auf ihre Legitimation eröffnet. Die besondere Herausforderung der Bewährung eines charismatischen Herrschers wurde dadurch offenbar, dass sich sakrale Herrschaft als Umsetzung göttlicher Ordnung versteht und ihre Legitimation aus dem Gottesbezug schöpft. Auf der Geltung des herrscherlichen Charismas beruht das Legitimitätseinverständnis und je einschlägiger sich das Charisma bewährt, desto gefestigter ist die Legitimation der Herrschaft. Dafür ist es nötig, dass der Herrschaftsverband bedroht wird und Krisen eintreten, die den Herrscher dann zur Bewährung herausfordern und seine das Wohlergehen der Beherrschten sichernde charismatische Kompetenz beweisen – kurz: Bewährung setzt Bedrohung voraus. Das Spannungsfeld wird komplexer und die Herrschaft umso fragiler, wenn das Charisma des Herrschers seine persönliche Heiligkeit darstellt. Denn auch dann muss sich diese über Formen bewähren, die der herrscherlichen Verantwortung zuwiderlaufen: Vereinzelung, Askese, exorbitante Trauer, Passion und emotionale Dissoziierung. Folglich braucht es, um die besondere Gottesnähe des Heiligen zu beweisen, eine Verletzung der göttlichen Herrschaftsordnung – das Charisma der Heiligkeit zeigt darin eine ‚asoziale‘ Struktur. Die Dialektik von individueller Auszeichnung und dem Kollektiv verpflichteter Verantwortung macht die Spannung charismatischer Herrschaft somit im Allgemeinen und, wie gezeigt, der Karlsfigur in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen im Besonderen aus. Damit verhandeln die Texte eine außerliterarische soziale Problematik und partizipieren auf diese Weise an einem Diskurs über ideale Herrschaftsmodelle in christlich geprägten Erzählgemeinschaften im Spannungsfeld von Religion und Politik.

V Literaturverzeichnis Abgekürzt zitierte Nachschlagewerke, Periodika und Reihen ABäG BBKL BLV BMZ

Der Neue Georges

DTM Euphorion FMSt GAG GRM 2 HRG

HWPh

IASL 2 Killy

LexMA

LTG 3

LThK

MGH MTU PBB PhSt 4 RGG

3

RLW

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https://doi.org/10.1515/9783110768541-005

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